Pharmakofictions - Spekulationen mit prekären Stoffen in zeitgenössischer Science-Fiction und Philosophie 9783839465837

In der Science-Fiction wimmelt es nur so von gentechnisch veränderten Materialien, nicht-menschlichen Stoffen sowie von

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Pharmakofictions - Spekulationen mit prekären Stoffen in zeitgenössischer Science-Fiction und Philosophie
 9783839465837

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit
II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe
III. Biopolitik prekärer Stoffe
IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe
V. Narkokapitalismus und Psychomacht
VI. Schluss: Übriggebliebene Vomitive und drastische Präparate der Philosophie
Quellenverzeichnis
Danksagung

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Georg Dickmann Pharmakofictions – Spekulationen mit prekären Stoffen in zeitgenössischer Science-Fiction und Philosophie

Wissen der Künste Band 4

Editorial Vor dem Hintergrund anhaltender Diskussionen um die sogenannte Wissensgesellschaft widmet sich die Schriftenreihe des Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“ den Bedingungen, Effekten und kritischen Potenzialen einer spezifisch künstlerischen Wissensgenerierung. Das Graduiertenkolleg war von 2012 bis 2021 eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte wissenschaftliche Forschungseinrichtung an der Universität der Künste Berlin. Auch nach Auslaufen der Höchstförderdauer wird die Schriftreihe mit Sammelbänden und Dissertationen fortgeführt. Dabei gehen wir von der These aus, dass die Künste entscheidenden Anteil an der Darstellung, der Legitimation und der Verbreitung von Wissensformen aus anderen sozialen und kulturellen Feldern haben und darüber hinaus selbst eigene Formen des Wissens hervorbringen. Im 20. und 21. Jahrhundert wird dieser Konnex in besonderem Maße wirksam. Einerseits nehmen Wissenskonzepte in der Begründung, im Selbstverständnis und in den Praktiken zahlreicher Künstler*innen einen zentralen Stellenwert ein. Darüber hinaus führen der Einsatz technischer Medien und wissenschaftlicher Verfahren wie Recherche, Experiment, Simulation oder Modellierung zur Herausbildung neuer Kunstpraktiken. Schließlich entsteht mit dem ‚Imperativ der Innovation‘ ein politischer Zusammenschluss von Künsten, Wissenschaften und Wertschöpfungsdiskursen, in dem die Figur des kreativen Künstlers zum Vorbild moderner Subjektivität avanciert. Mit dem Fokus auf die Künste öffnet sich ein Forschungsfeld, das in den traditionellen Ansätzen der Wissenssoziologie, Wissenschaftsgeschichte oder Kulturwissenschaften ein Desiderat darstellt. Unser Ziel ist es, die ästhetische Perspektive auf die Künste durch eine epistemische Perspektive zu ergänzen. Die vorliegende Schriftenreihe versammelt zu dieser Fragestellung Beiträge aus der Kunst- und Kulturwissenschaft, der Theater-, Film-, Musik- und Medienwissenschaft sowie der Philosophie, Architekturtheorie und der Pädagogik. In dieser transdisziplinären Perspektive werden die Aushandlungsprozesse erkennbar, in denen sich künstlerisches Wissen artikuliert und legitimiert. Barbara Gronau / Kathrin Peters

Georg Dickmann, geb. 1985, ist Lehrbeauftragter an der Universität der Künste Berlin. Der Literaturwissenschaftler und Philosoph war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) Berlin und promovierte am DFG-Graduiertenkolleg »Das Wissen der Künste« an der Universität der Künste Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Philosophien des neuen Materialismus, Posthumanismus und Autotheorien der Gegenwart.

Georg Dickmann

Pharmakofictions – Spekulationen mit prekären Stoffen in zeitgenössischer Science-Fiction und Philosophie

Die Publikation wurde gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Studio Laurens Bauer Umschlagabbildung: Studio Laurens Bauer Lektorat: Jan Wenke Korrektorat: Jan Wenke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839465837 Print-ISBN 978-3-8376-6583-3 PDF-ISBN 978-3-8394-6583-7 Buchreihen-ISSN: 2749-2222 Buchreihen-eISSN: 2749-2230 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung .......................................................................... 9 Zielsetzung der Arbeit ............................................................... 10 Wissenschaftlicher Kontext der Arbeit ............................................... 17 Der Aufbau der Arbeit ............................................................... 21 I. 1.1

1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

1.7

Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit .................................. 27 Welcher Substanzbegriff? Univoke Materie und die Differenz an sich selbst ..... 29 1.1.1 Das clinamen und die ursprüngliche Abweichung von Materie ........... 33 1.1.2 Ereignishafte Materie .................................................. 38 Relationaler Materialismus ..................................................... 41 Spekulative Kritik am relationalen Materialismus .............................. 47 Stoff statt Materie ............................................................. 51 Gemische und Gemenge ...................................................... 57 Die Narkoanalyse ............................................................. 61 1.6.1 Das Tropium: enteignend und exzentrisch .............................. 66 1.6.2 Sublimationen ........................................................ 73 1.6.3 (Tr)opium des Volkes: Heilung und Heiligung ............................ 77 Die Pharmakoanalyse .......................................................... 81 1.7.1 Drogenkörper und Drogengefüge: Athletik des Unvermögens ............ 89 1.7.2 Die Athletik des Drogenkörpers ........................................ 93 1.7.3 Das schwarze Loch der Droge und die zwei Gesundheiten ............... 97

Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe ......................... 103 H.P. Lovecrafts spekulative Substanzen in der Erzählung  Farbe aus dem All ............................................................ 103 2.1.1 Zersetzung des Humanen und Nichtwerden............................ 106 2.1.2 Zwischen Objekt, Stoff und Ding........................................ 115 2.2 Alex Garlands Auslöschung: Sympoiesis und Werden ........................... 116

II. 2.1

2.2.1 Der Schimmer: Repräsentation, Refraktion, Diffraktion................. 120 2.2.2 Das Zoopharmakon ................................................... 126 2.2.3 Sympoiesis ........................................................... 129 2.2.4 Ansteckung statt Abstammung: Blume-Werden ......................... 131 2.2.5 Der Schleimpilz als Modell für die queere Performanz der Natur........ 134 2.3 Area X als Hyperobjekt ...................................................... 136 III. 3.1 3.2 3.3

3.4 3.5 3.6 3.7

IV. 4.1

Biopolitik prekärer Stoffe ................................................... 139 Zirkulation und Kontrolle des Kleinen und Flüchtigen ......................... 139 Die Regierung der Körperstoffe ............................................... 147 Ökonomie, Drogen und Kontrolle in George Lucas THX 1138 .................... 150 3.3.1 Pastoralmacht und Beichte ........................................... 155 3.3.2 Das Andere des Panoptikums ......................................... 160 Immunologik der Macht: körpereigene und körperfremde Stoffe .............. 163 Drogen, Simulakra, Codes: Cyberpunk als Pharmakofiction .....................167 Das Cyberspace als kollektive Halluzination ...................................170 The Matrix als Drogenfilm und als Stoffgeschichte .............................176 3.7.1 Der klebrige Spiegel .................................................. 182 3.7.2 Bedeutungswirkungen: die Kekse des Orakels und die Sorge um Sich ... 186 3.7.3 Mit dem Menschen anstecken: Gift oder Heilung ........................ 191

Die Pharmapornografie prekärer Stoffe...................................... 197 Sich an C19 H28 O2 anschließen................................................ 200 4.1.1 Die Pille als essbares Panoptikum ..................................... 204 4.1.2 Exkurs: Jean-Luc Nancys Fremdkörper................................ 209 4.1.3 Pornomacht und die potentia gaudendi ................................. 214 4.1.4 Dem Stoff das Wort überlassen......................................... 217 4.1.5 Sich ent-schreiben ................................................... 222 4.2 »Wahrheit ist nicht metaphysischer, sondern chemischer Natur«. Viktor Pelewins pharmapornografisches Regime im Roman  Das fünfte Imperium ......................................................... 229 4.2.1 Diskurs und Glamour.................................................. 231 4.2.2 Pelewins Vampire als Kritik  an antisemitischer Kapitalismuskritik? ............................... 235 4.2.3 Vampirische Ökonomie ............................................... 237 4.2.4 Der Stoff Bablos als ökonomisches Elixier und der Text als Droge ...... 239

Narkokapitalismus und Psychomacht ....................................... 243 Soziale Narkose: Leif Randts  leicht unterkühlte Gemeinschaften in Planet Magnon.......................... 248 5.1.1 ActualSanity: der freundliche Big Brother.............................. 251 5.1.2 Magnon, Platin, Ketasolfin: drei (nicht) prekäre Stoffe ................. 257 5.1.3 Zur Thermik der Stoffe................................................ 262 5.2 Einschub: Diskurse des Thermischen......................................... 264 5.3 Coolness und Anästhetik: die Gesellschaft der Glätte ......................... 269 5.4 Der Planet Toadstool: kein Außen des Systems ............................... 275 V. 5.1

VI.

Schluss: Übriggebliebene Vomitive  und drastische Präparate der Philosophie .................................. 279

Quellenverzeichnis ............................................................... 295 Literaturverzeichnis............................................................... 295 Filmverzeichnis .................................................................... 311 Abbildungen ....................................................................... 311 Danksagung ...................................................................... 313

Einleitung

Von der klebrigen Aliensubstanz in H.P. Lovecrafts Die Farbe aus dem All (1927), der Glücksdroge Soma aus Aldous Huxleys Brave New World (1932) über die chemischen Bioadapter in Lana und Lilly Wachowskis The Matrix (1999) bis zu den Kollektivdrogen in Leif Randts Planet Magnon (2015) und dem seltsamen und alles verschlingenden Shimmer in Alex Garlands Auslöschung (2018) wimmelt es in der Science-Fiction von seltsamen Substanzen und Stoffen. Der Ausgangspunkt dieser Dissertationsschrift ist, dass die unscheinbaren Substanzen der Science-Fiction keineswegs marginal sind. Ausgestattet mit einer agency nehmen sie eine aktive und handlungsmächtige Position ein und erzeugen die literarischen und filmischen Welten, in denen sie zirkulieren mit. Sie infizieren, penetrieren und kontrollieren sowohl den Einzel- als auch den Kollektivkörper und evozieren damit zwangsläufig weitreichende sozialphilosophische, bio- bzw. pharmakopolitische Fragestellungen: Was und wie wird mittels potenter oder nicht potenter Substanzen regiert? Wie kommen Heilmittel und Gifte zum Einsatz – was sind ihre Wirkungen? Wie werden vor diesem Hintergrund Kräfte und Gegenkräfte in den ausgewählten Fiktionen mobilisiert? Und welche biotechnologischen Körper werden imaginiert? Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zu einer literarischen und filmischen Anthropologie und bespricht die Inszenierungsfelder und das Wissen des Körpers im Zeitalter seiner biotechnologischen Erweiterung. Dem vorangestellten Zitat von Gilles Deleuze zum Trotz geht die folgende Studie also davon aus, dass das Genre der Science-Fiction sich geradezu in besonderem Maße dafür eignet, auf gegenwärtige und noch zu kommende biopolitische Szenarien zu spekulieren, die anhand von Utopien oder Dystopien eine pharmakopolitische Zukunft projizieren.

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Pharmakofictions

Zielsetzung der Arbeit Entlang exemplarischer und komparatistischer Lektüren von Philosophie und Science-Fiction konzentriert sich die Arbeit auf das Verhältnis von Fiktion, der Biopolitik prekärer Stofflichkeiten und der Pharmakologie im Horizont aktueller Debatten um den Neuen Materialismus. Dabei wird vor allem das Verhältnis des neuen Materialismus zur Pharmakologie und zum Konzept des Stoffes in Abgrenzung bzw. als Widerstreit mit dem Materiebegriff von besonderem Interesse sein. Denn obwohl viele Positionen des neuen Materialismus auf die unbedingte Handlungsmacht von Materie abheben, bleibt in ihren Untersuchungen das Konzept des Stoffes bzw. des Wirkstoffes weitestgehend unangetastet oder zeigt sich nur latent. Gerade der Wirkstoff als ein biochemischer Agent, der per definitionem innerhalb der Pharmazie, Biologie und der Medizin Handlungsmacht besitzt, indem er bei seiner Gabe in die Prozesse des Organismus eingreift und mittels der jeweiligen Pharmakokinetik spezifische Wirkungen entfaltet und Reaktionen hervorruft, ist eine handlungsfähige Entität, die im Register des neuen Materialismus untersucht werden müsste. Die Arbeit macht erstens dieses Desiderat sichtbar und unternimmt im ersten Teil den Versuch, anhand des Wirkstoffbegriffs die Philosophien des neuen Materialismus um den Faktor des Pharmakologischen zu erweitern bzw. zu verschieben. Dies wird vor allem mithilfe pharmakologisch informierter Philosophien vorgenommen. Zweitens wird es mittels der Wirkstoff-Frage darum gehen, abseits ihrer pharmakologischen Dimension auch ihre materiell-semiotischen Effekte und Bedeutungen zu beleuchten. Diese Wechselseitigkeit wird folglich unmittelbar in die Welt der Stoffgeschichten und in das Pharmakofiktionale führen. Die ausgewählten Fiktionen und Theorietexte werden vor dem Hintergrund der giftigen, heilenden, mutierenden und erregenden bzw. sedierenden Stoffe interpretiert und nach ihrem epistemischen, ästhetischen und politischen Status befragt. In Anlehnung an Bruno Latours Konzept einer agency von Materie stellt diese Studie dabei die Frage, inwiefern es sich bei den prekären Stoffen der ausgewählten Fiktionen um aktive Artefakte handelt, die nicht nur ›in der Welt vor- bzw. zuhanden‹ sind, sondern diese maßgeblich durch ihre materielle Wirkmächtigkeit mitbestimmen. Die Arbeit geht dementsprechend davon aus, dass die ›harten Wissenschaften‹ nicht das einzige Milieu sind, in dem materielle und stoffliche Agenten produziert werden, sondern gerade der Science-Fiction-Film und die Science-Fiction-Literatur als Gegenlaboratorien bestehende und noch zu kommende Wirklichkeiten mit-

Einleitung

kreieren. Denn gerade das Wissen über die Zukunft, so die These, ist auf ein Narrativ bzw. auf Fiktionen angewiesen, da Vorstellungen von Zukünftigkeit konstitutiv von einer signifikanten Unschärfe geprägt sind und sich dadurch für Imaginationen, Phantasmen und Fiktionen öffnen: Fiktionen in dem Sinne, als sie mit ihren Bildern, Szenarien und Fantasien auf das Imaginäre einer Kultur einwirken und nicht nur als metaphorischer Überbau fungieren. Als Teil der sozialen Sphäre drücken derartige Fiktionen nicht nur repräsentativ etwas aus, sondern verhandeln darin kollektive Bilderwelten und Narrative selbst und stellen sie her. Die Vorstellung von Zukunft ist wesentlicher Teil des kollektiven Imaginären, welches sie poietisch mitkreiert. So heißt es bei Eva Horn: Ein Wissen von der Zukunft, ebenso wie eine Verständigung über sie, ist nicht möglich ohne Rückgriff auf Erzählungen, die von der Zukunft aus der Gegenwart »zurückblicken« oder die aus der Kenntnis bisheriger Verläufe eine Voraussage über das Kommende extrapolieren. Solche Narrative strukturieren die Art und Weise, wie wir Künftiges antizipieren, planen, aber vor allem auch zu verhindern suchen. Das Verhältnis zur Zukunft ist daher nicht denkbar ohne Metaphern, Bilder, Visionen oder hypothetische Szenarien möglicher künftiger Welten.1 Sie haben die Funktion, der Ungewissheit einen Ort zu geben, der einer Laborsituation gleichkommt. Varianten, Virtualitäten und Szenarien werden in einer Art Test arrangiert, gestaltet und zu einer Konstellation verdichtet, in der das Noch-Bekannte sich mit Schon-Unbekanntem vermengt. Zukunftsfiktionen sind damit Modelle, in denen die Verschränkung von Wissen und Nichtwissen zu einem (un)möglichen Universum hochgerechnet wird, indem etwas auf eine Art eingetreten sein wird, um das man im Jetzt noch nicht weiß. Mit John Locke gesprochen, beleuchtet die Science-Fiction bzw. die spekulative Zukunftsfiktion somit die »dunkl[e] Seite«2 des Wissens. Figuren der Überschreitung und Motive des Nichtwissens der Science-Fiction gehören jedoch nicht nur den filmischen und literarischen Genres an, sondern sind so-

1 2

Eva Horn: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M. 2014, S. 22-23. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. 2, Hamburg 1988, S. 205: »Da unser Wissen […] ziemlich beschränkt ist, werden wir vielleicht über den jetzigen Zustand unseres Geistes etwas Licht erhalten, wenn wir einmal nach der dunklen Seite blicken und unsere Unwissenheit überschauen. Diese ist nämlich unendlich viel größer als unser Wissen.«

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wohl in den Naturwissenschaften als auch insbesondere in der Philosophie beheimatet. Wenn ich hier also von Science-Fiction und vor allem von der Science-Fiction (SF) im Singular spreche, dann meine ich nicht die disziplinär eingehegte Form, die sich klassisch als wissenschaftlich-technische Spekulation innerhalb eines narrativen Genres beschreiben ließe, sondern vielmehr möchte ich mich mit dieser Arbeit um die Öffnung und die kritische Affirmation ihrer unscharfen Ränder bemühen, die vor allem Donna Haraway in ihrem 2016 erschienenen Buch Unruhig Bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän vornimmt und zu einem methodischen Knotenpunkt ihrer Arbeit macht: Eine allgegenwärtige Figur dieses Buches ist SF: Science-Fiction, spekulative Fabulation, Spiele mit Fadenfiguren (string figures), spekulativer Feminismus, science fact (wissenschaftliche Fakten), so far (bis jetzt). […] So verstanden ist SF eine Methode des Nachzeichnens, des Verfolgens eines Fadens in die Dunkelheit, in eine gefährlich wahre Abenteuergeschichte hinein, in der vielleicht klarer wird, wer für die Kultivierung artenübergreifender Gerechtigkeit lebt oder stirbt und warum. […] SF ist eine Praxis und ein Prozess, ein Werden-mit-anderen überraschender Aufeinanderfolge, eine Figur des Fortdauerns im Chthuluzän.3 Die SF ist nach Haraway eine instabile Konstellation und ein gespanntes Fadenspiel, in dem Fiktionen, Fabulationen, wissenschaftliche und nicht wissenschaftliche Aussagesysteme in Relation gesetzt und für ein »Werden-mitanderen« mobilisiert werden und dabei Allianzen mit anderen Narrativen, organischen und anorganischen Lebensformen und Materialien eingehen. SF bezeichnet weit mehr als einen festen Gattungsbegriff innerhalb der Künste, aber auch in anderen Milieus und Disziplinen. Der Begriff entspricht vielmehr den Visionen von William James, der sich eine Welt voller Teilgeschichten vorstellte, die parallel zueinander verlaufen. In seinen Vorlesungen zum Pragmatismus schreibt James, dass die Dinge selbst Geschichten erzählen.4 Der amerikanische Psychologe und Philosoph stellt sich eine Welt als ein, mit Betonung auf dem »ein«, als ein gespanntes Seil vor, »dessen einzelne Fa-

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Donna Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a.M. 2018, S. 11. Vgl. William James: Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen, Hamburg 2012, S. 89.

Einleitung

sern alle eine eigene Geschichte erzählen.«5 Jedoch sind dies Geschichten, die sich gegenseitig verflechten und an bestimmten Punkten wieder trennen, und sich damit auch nicht vollständig vereinheitlichen lassen können.6 So schreibt nach James die Welt der Materie selbst Literatur und hat damit eine poetische Qualität, ohne dass sie dafür einen Erzähler oder eine Erzählerin benötigt. In seinen Vorlesungen heißt es: »Die Welt ähnelt eher einer Erzählung als einem Drama.«7 Das Entscheidende bei James und bei Haraway ist somit, dass nicht nur das menschliche Subjekt Storytelling betreibt, sondern auch die Dinge, Materialien, Stoffe und andere nicht-humane Agent*innen eine Erzählinstanz bilden, jedoch dabei auf ein Erzählersubjekt verzichten. Geschichten zu erzählen ist somit nicht eine Fähigkeit, die dem Menschen vorbehalten ist: Die materielle Welt, die den Menschen enthält und umfasst, hat ihre eigenen Narrative. Dieser Definition möchte ich mich hier anschließen und die Spekulationen der SF-Geschichten als Verknäuelungen und Verkomplizierungen von Subjekt und Objekt, Natur und Kultur, Geist und Materie begreifen, die eine anthropozentrische Norm physischer Integrität überschreiten. Das Nichthumane, die Spekulation und die SF sind so nur sich wechselseitig aufeinander beziehend denkbar. Diese Wechselbeziehung könnte zugespitzt so beschrieben werden: Erst wenn der Versuch unternommen wird, das Humane spekulativ zu verlassen, befindet man sich in einem Raum des Posthumanen. Umgekehrt ist ein Sichbeziehen auf das Nichtmenschliche nur mittels einer Operation möglich, die sich dem konventionellen Erkenntnisvermögen entzieht.8 Auf der Suche nach Referenzen für eine mehr-als-menschliche Spekulation stößt man in der Philosophie nicht nur auf das intime Verhältnis, das poststrukturalistische Denker*innen zur Fantastik pflegen, sondern bereits in der Antike, dem Mittelalter und in der Neuzeit auf diverse Parallelen. Gemeint ist hier z.B. der Kugelmensch-Mythos,9 in dem laut Platons Schriften die Menschen ursprünglich kugelförmige Rümpfe hatten sowie vier Hände und Füße und

5 6 7 8 9

Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. dazu auch das Konzept des »Spekulativen Ästhetizismus« von Steven Shaviro: The Universe of Things: On Speculative Realism, Minneapolis 2014. Vgl. Platon: Symposion, zit.n.: Ute Schmidt-Berger: Zum griechischen Text [Anhang], in: Platon: Das Trinkgelage oder über den Eros, hg. u. übertr. v. ders., Frankfurt a.M. 1985, S. 189ff., hier S. 189e-190c.

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Pharmakofictions

zwei Gesichter mit je zwei Ohren auf einem Kopf, getragen von einem kreisrunden Hals. Später spekulierte Descartes in seinen Meditationen über einen bösartigen Dämon, der möglicherweise falsche Vorstellungen ins Bewusstsein implantierte, um die Menschen zu täuschen. Nicht zu unterschlagen ist sein Glaube an die Zirbeldrüse (Corpus pineale): ein fantastisches Organ im Gehirn, worin Descartes die Hauptinstanz der Seele vermutete.10 Ferner hat Leibniz’ Schrift zur Monadologie, die kurz vor seinem Tod erschien, eine winzige glitzernde Substanz ohne Ausdehnung zum Gegenstand der Untersuchungen: »Die Monaden, von denen meine Schrift handeln wird, sind nichts weiter als einfach Substanzen, welche in dem Zusammengesetzten enthalten sind. Einfach heißt, was ohne Teile ist.«11 Monaden fallen damit nicht eindeutig in die aristotelische Kategorie von Substanz und Akzidenz und bekommen durch Leibniz’ Beschreibungen viel mehr einen gespenstischen Charakter, in dem durch ihre ephemere Gestalt nicht klar ist, was Attribut und was Substanz ist. Sie haben keine Fenster, »durch die etwas hinein- oder heraustreten kann«,12 sondern vielmehr die Qualität eines Spiegels, woraus nach Leibniz folgt, »dass jede Monade ein lebendiger, der inneren Tätigkeit fähiger Spiegel ist, der das Universum aus seinem Gesichtspunkt darstellt und ebenso eingerichtet ist wie das Universum selbst.«13 Wie gegenüberstehende Spiegel, die sich gegenseitig ins Unendliche reflektieren, falten die Monaden ohne Ende Weltreproduktionen ineinander. Was für die Leibniz-Kennerin als philosophiehistorische Tatsache hinzunehmen ist, kann unter dem Blickwinkel der Fantastik als seltsam und geradezu bizarr erscheinen. Diese Beispiele zeigen, dass merkwürdige Materien, Stoffe, spekulative Körper sowie fantastische Substanzen immer wieder den Eingang in die abendländische Philosophie fanden und durch die Philosophiegeschichte hindurch in den Zentren logisch-rationalen Denkens lokalisierbar sind. Umgekehrt ist auch das Genre der SF bekanntermaßen von Experimenten durchzogen, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von seltsamen Körpern und

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Vgl. René Descartes: Meditationen: Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, Hamburg 2011, Sechste Meditation. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie und andere metaphysische Schriften, Hamburg 2011, S. 13. Ebd., S. 14. Gottfried Wilhelm Leibniz: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie, Hamburg 1982, S. 5.

Einleitung

fantastischen Substanzen literarisch oder filmisch austesten. Wie Rosi Braidotti betont, befragt die SF dabei insbesondere den reproduktiven Körper14 und entwirft Spekulationen über alternative Systeme der Fortpflanzung, über Körper jenseits von binär opponierten Geschlechtsmodellen sowie über XenoKörper, die sich mit klassisch humanistischen Bildern nicht mehr adäquat einholen lassen. Die SF betreibt, um es erneut mit Donna Haraway auszudrücken, eine Art hybride »Techno-Alchemie«.15 Sie erzeugt Fiktionen darüber, wie das Verhältnis zwischen Anorganischem und Lebendigem, dem Künstlichen und Natürlichen, zwischen Philosophie und Formen des Ästhetischen als Gemisch oder Gemenge, als neue Kartierung einer möglichen kommenden Welt fungieren könnte. So sind die ausgewählten Fiktionen nicht nur als reine Beispiele oder als Repräsentationen von Diskurs zu denken, sondern vielmehr als epistemisch-ästhetische sowie materiell-diskursive Medien, anhand deren die Wissensordnungen des Chemischen, Pharmakologischen bzw. des Biotechnologischen im Wechselspiel aus Diskursanalyse, wissenspoetologischer Literaturtheorie und close reading herausgearbeitet werden. Diese Arbeit verfolgt demnach nicht das Ziel, in einer mehr oder weniger beliebigen Auswahl von Literatur und Film illustrierende Beispiele für philosophisch-naturwissenschaftliche Theoreme zu finden. Eine der zentralen These ist folglich, dass die Fiktionen selbst mit einer theoretischen Intensität ausgestattet sind und damit nicht symbolisch, sondern explorativ funktionieren. Anstelle der konventionellen theoretischen Entmündigung des noch immer ›verfemten‹ Genres der SF geht es an dieser Stelle um die Sichtbarmachung der Verschränkungen von philosophischen, naturwissenschaftlichen und fiktiven Elementen. Den disparaten Wissensordnungen werden dabei jeweils die gleichen Machtbefugnisse zugesprochen, um eine gegenseitige Instrumentalisierung zu verhindern. Im Sinne der gegenseitigen Anteilnahme (Haraway) bzw. der maschinistischen Indienstnahme (Deleuze/Guattari) wird auf Verschiebungen auf allen Seiten spekuliert: Die künstlerischen Wissensordnungen der fantastischen Literatur und des Films, der Philosophie und der Pharmakologie der Stofflichkeiten werden sich gegenseitig affizieren und dabei Rückkopplungen herstellen. Um diese wissenspoetische Systematisierung der gegenwärtigen (pharmakofiktionalen) SF vornehmen bzw. diese fruchtbar

14 15

Vgl. Rosi Braidotti: Cyberfeminismus mit einem Unterschied, in: Armen Avanessian/Helen Hester (Hg.): dea ex machina, Berlin 2015, S. 107-144, hier S. 129. Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 40.

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miteinander verbinden zu können, werden Konzepte des »Wissens der Literatur und der Künste«16 herangezogen. Denn wie bereits angesprochen geht diese Arbeit davon aus, dass ›Wissen‹ keineswegs ein Patentprodukt der Wissenschaften darstellt, sondern auch von Literatur und Film produziert und in einen Diskurszusammenhang gestellt wird. In den Fokus der neueren literaturwissenschaftlichen bzw. filmtheoretischen Analysen geraten dabei poetologische Verarbeitungen von wissenschafts- und technikhistorischen Entwicklungen in den Blick, die mit sozialen, ästhetischen und kulturellen Praktiken verknüpft sind. Diese Untersuchungen bewegen sich derzeit zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite stehen Studien, die der Poetologie des Wissens folgen und in ihren Analysen literarische Texte oder Filme als Elemente von Diskursen begreifen. Auf der anderen Seite behaupten davon abweichende Ansätze, es gäbe ein spezifisches und privilegiertes anderes Wissen17 der Künste. An diese Konzepte schließt die vorliegende Studie an und verortet sich an der Schnittstelle zwischen Diskursivität und Eigenlogik eines literarischen und filmischen Wissens. Ich werde vor diesem Hintergrund von Pharmakofictions18 sprechen – und das in zweierlei Weise: Erstens fragt diese Studie danach, wie SF mit Wissenstypen der Pharmakologie bzw. der Biotechnologie verschränkt und an der Produktion der entsprechenden Kenntnisse beteiligt ist. Zweitens widmet sie sich der poetologischen Frage danach, ob und wie die ausgewählte Literatur selbst eine heilende oder giftige Wirkung erzeugen kann. Die seltsamen Objekte, toxischen Wirkstoffe, Drogen, Moleküle, Hormone und anderen kaum sichtbaren oder übermäßig präsenten stofflichen Agenten der gegenwärtigen SF, die Gegenstand der Arbeit sind, zirkulieren zum einen innerhalb der Einzel- und Kollektivorganismen, konstituieren und zersetzen sie; zum anderen regulieren sie das sensible Körpersystem, das die 16

17 18

Vgl. Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen, Berlin 2012; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Berlin 2004; Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, Göttingen 2010. Vgl. auch Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München 2010. Vgl. Kathrin Busch (Hg.): Anderes Wissen, München, 2016. Dieser Begriff stammt nicht von mir, sondern war Teil des transdiziplinären Symposiums und Festivals Pharmakos/n in den Uferstudius Berlin, das im September 2017 stattgefunden hat und von Stefanie Wenner organisiert wurde. Diese Veranstaltung, bei der ich einen Eingangsvortrag halten durfte, gab die entscheidende Inspiration für den Titel dieser Arbeit. Vgl. https://www.uferstudios.com/veranstaltungen/festivals/fes tival/95, aufgerufen am 28.07.2020.

Einleitung

Stoffe empfängt, in den Körper einbaut oder diese abstößt. Diese Vorgänge beinhalten, so die These der Untersuchung, nicht nur eine physio-biologische, sondern auch eine biopolitische Dimension. Denn die biopolitische Herstellung und Zerstörung von Subjektivität geschieht keineswegs nur über äußere Architekturen, sondern vielmehr auch über innerkörperliche Wirkungsweisen. Gegenstand der folgenden Arbeit ist demnach der durch prekäre Stoffe und (mikro-)technologisch bzw. pharmakologisch perforierte, durchdrungene und durchflutete Körper – die ›innere Seite‹ des (makro-)prothetisch erweiterten äußeren Körpers.19 Um dies sichtbar machen zu können, greift die Studie auf Philosophien und Forschungsliteratur zurück, die sich mit Konzepten des Stofflichen und des Materiellen im Kontext der Biopolitik und der Fiktion auseinandersetzen. Die Forschung zu diesem Konnex ist verstreut und bildet ein weites Feld aus zum Teil sehr heterogenen Positionen. Zu nennen sind hier neben ›poststrukturalistischen‹ Autor*innen wie Jacques Derrida, Avital Ronell oder Roberto Esposito vor allem die im Anschluss an Gilles Deleuze sowie Deleuze und Guattari formulierten neu-materialistischen Ansätze und wissenschaftstheoretischen Positionen von Donna Haraway, Jane Bennett, Timothy Morton oder Paul B. Preciado, die sich mit den vielfältigen Ein- und Ausgängen von prekärer Stofflichkeit, Wirkstoffen und Materialien auseinandersetzen und versuchen, abseits der Dichotomie von erkennendem Subjekt und erkanntem Ding bzw. Objekt ein Konzept von Stofflichkeit zu erarbeiten, das als materiell-semiotisches ›Etwas‹ die Zwischenräume zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Kultur besetzt und mit einer Intentionalität und Handlungsmacht ausgestattet ist, die sich nicht auf das erkennende Subjekt reduzieren lässt.

Wissenschaftlicher Kontext der Arbeit Obwohl in den letzten Jahren vor allem durch die Vertreter*innen des Neuen Materialismus Stoffe, Substanzkreisläufe, Metabolismen und leiblich-gegenständliche Objekte zu einem zentralen Thema der Literatur-, Kulturwissenschaften und Philosophie wurden, bleiben die prekären und prekarisierenden

19

Die Kulturgeschichte der Prothese wurde von Karin Harrasser herausgearbeitet. Ihre Arbeiten thematisieren wie angedeutet technische Erweiterungen des Körpers, die von außen aufgetragen werden. Vgl. Karin Harrasser: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld 2013.

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Stoffe und Materien der Fantastik und im besonderen Falle der dystopischen SF chronisch unterbeleuchtet oder sind in der kulturwissenschaftlichen Forschung nur zerstreut vorzufinden.20 Direkt an das Handbuch Literatur und Wissen von Borgards anknüpfend lassen sich jedoch drei Publikationen hervorheben, die sich im gleichen Fahrwasser bewegen und psychotrope Substanzen und ihre Wirkungen auf den Einzel-, den Bevölkerungskörper und auf Medien aus kulturtheoretischer bzw. kulturhistorischer Sicht beleuchten. Die Studie Neues von der anderen Seite. Die Wiederentdeckung des Psychedelischen (2015) von Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter behandelt die heutige Renaissance des Psychedelischen und des Rausches. Die Arbeit porträtiert aus kulturhistorischer Sicht die Angst der westlichen Gesellschaften vor veränderten Bewusstseinszuständen und den normativen Effekten und die Tabus, die damit einhergehen. Gleichzeitig stellen die Autoren Fragen nach dem Nutzen und den Gefahren des Rauschs und wie man eine Tabuisierung vermeiden kann.21 Hans Christian Danys Arbeit Speed. Eine Gesellschaft auf Droge (2015) erzählt die Geschichte des Amphetamins und ihre schillernde Wirkung im Sinne des Pharmakonkonzepts. Von der extremen Leistungssteigerung im 19. Jahrhundert bis zur schnellen Abhängigkeit und Zerstörung in der Gegenwart. Das Hauptmotiv der Arbeit ist Geschwindigkeit, Leistungssteigerung und Körpergestaltung als Überschreitung der Grenzen des Humanen.22 Jeannie Moser verfolgt mit ihrer Arbeit Psychotropen. Eine LSDBiographie (2013) anhand der halluzinogenen Wirkung von LSD die Entstehung eines transdisziplinären Wissensraums, der von dieser Droge forciert wird. Ihre wissenschaftshistorischen und philologischen Analysen verbinden LSD-Versuchsberichte aus der pharmakologischen Grundlagenforschung mit literarischem Wissen und dem Wissen der counter culture. Moser spricht dabei in Anlehnung an Bennett Kravitz auch von einem homo pharmaceuticus der Gegenwart, an dem sich ein Trend des pill-taking-life23 abzeichnet, als eine

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Im Handbuch zu Literatur und Wissen ist das Wissen des Chemischen bzw. des Pharmakologischen nicht vertreten. Materialität als Topos des Literarischen ist zwar vorhanden, jedoch nicht im Kontext von pharmakologischen Substanzen und Wirkstoffen. Vgl. Roland Borgards (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013. Vgl. Paul-Philipp Hanske/Benedikt Sarreiter: Neues von der anderen Seite. Die Wiederentdeckung des Psychedelischen, Berlin 2015. Vgl. Hans Christian Dany: Speed. Eine Gesellschaft auf Droge, Berlin 2015. Vgl. Jeannie Moser: Psychotropen. Eine LSD-Biografie, Konstanz 2013, S. 14.

Einleitung

auf Dauer gestellte pharmakologische Verbesserung des menschlichen Körpers. Dabei bezieht sie sich wesentlich auf die großen Ausmaße des Neuroenhancements, das mittlerweile Konsens geworden zu sein scheint. In ihrer Studie spielen die 1970er Jahre eine zentrale Rolle als die Blütezeit der Psychopharmakologie in den psychiatrischen Anstalten. Moser stellt die These auf, dass Melancholie, Depression und Traurigkeit als chemisches Ungleichgewicht definiert wird, das pharmakologisch korrigiert werden kann, und verweist auch darauf, dass bereits in den 1940er Jahren die Psyche als eine Entität wahrgenommen wurde, die modelliert, geheilt und umcodiert werden kann – nicht zuletzt deswegen, weil der US-amerikanische Geheimdienst CIA LSD als Kampfstoff erprobte. Die Geschichte der Psychopharmakologie wird nach Moser jedoch nicht nur von den daran unmittelbar angrenzenden Disziplinen wie Psychiatrie, Medizin, Neurologie und Chemie geschrieben, sondern auch von der counter culture. Rauschwissen ist nicht für die harten Wissenschaften und Disziplinen reserviert, sondern das Wissen von der Droge und der Psychopharmaka mischt sich mit anderen Wissensmilieus bzw. wird von denen mitproduziert: »Die Wissenskulturen und ihre Beschreibungsapparate vernetzen sich«24 Das Experimentalsystem, das durch die Erforschung von LSD oder anderen Stoffen in Gang gesetzt wurde, erzeugte demnach zugleich epistemische Nebenprodukte oder entwickelt eine Anschlussstelle für andere daran angrenzende Wissensordnungen, die Geschichten und Narrative über und mit den Stoffen erzählen, die in ein Experiment eingespannt sind. Als herausragende und davon auszunehmende Untersuchung ist schließlich die Arbeit Poetopharmaka. Heilmittel und Gifte der Literatur 25 von Leonhard Fuest zu nennen, die sich sowohl den poetologischen als auch den biopolitischen Aspekten des Pharmakologischen widmet. In Fuests Studie finden sich immer wieder kurze Analysen und Beispiele zu ›pharmakopolitischen‹ Konfigurationen der SF, die dieses Dissertationsprojekt inspiriert haben. Das Buch befragt die Digitalisierung der Kultur, in der sich das Lesen und Schreiben in einem neuen pharmakopoetischen Gewand präsentiert. Die zentralen Fragestellungen sind dabei: Wie wirkt Literatur heute? Gibt es neue Mischungen und Rezepturen oder auch Rezeptionen? Dafür macht Fuest episodisch das therapeutische Wissen der Literatur sichtbar und mischt zugleich selbst mittels sprachlicher Pharmaka experimentell neue poetologische Essenzen an. Fuests Studie legt somit eine Fährte in Richtung des Zusammenhangs von 24 25

Ebd., S. 18. Vgl. Leonhard Fuest: Poetopharmaka. Heilmittel und Gifte der Literatur, Bielefeld 2015.

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prekären Stoffen und SF, ohne diese ausführlicher weiterzuverfolgen. Diese Spur wird von der vorliegenden Arbeit aufgegriffen und weiterverfolgt, ohne dabei jedoch die SF als geschlossene Gattung zu untersuchen. Eine Bestandsaufnahme der SF und der SF-Forschung wird vor dem Hintergrund des Forschungsinteresses dieser Arbeit somit nicht in aller Ausführlichkeit vorgenommen. Es gibt bereits eine umfangreiche Studie zur Forschungsgeschichte und dem aktuellen Stand der SF-Studies von der Medientheoretikerin Jiré Emine Gözen. Im ersten Kapitel von Cyberpunk-Science-Fiction. Literarische Fiktionen und Medientheorie26 (2014) rekonstruiert Gözen Theoriebildung und die einzelnen Traditionen der akademischen SF-Forschung und bietet einen weitsichtigen Überblick über den Diskurs, die Geschichte und die Gattungen der SF. Da die Lektüren dieser Arbeit stark diskurstheoretisch geprägt sind, sind für mich poststrukturalistische Positionen zum Cyberpunk besonders anschlussfähig. Hier sind z.B. Gary Wolfe und Damien Broderick zu nennen. Sie gehen davon aus, dass die SF grundlegend intertextuell und transdisziplinär zu begreifen ist, und verstehen das Genre als einen »mega-text«.27 Im Anschluss daran stellt vor allem Brian McHale fest, dass postmoderne Theorien und SF der 1980er Jahre verschwistert sind. Cyberpunknarrative alternativer Weltentwürfe, soziale Dystopien des Zusammenbruchs moralischer und gesellschaftlicher Orientierung sowie destabilisierte Identitätskonzeptionen werden Ausdruck von Subversion und grenzen sich gegenüber traditioneller SF ab. Es ist also kein Zufall, dass die Arbeiten Haraways, Deleuzes und McHales zeitnah mit den ersten Cyberpunkwerken entstehen und damit den postmodern turn der akademischen SF-Kritik markieren.28 Insbesondere Carl Freedman betont in diesem Zusammenhang die Philosophizität und das kritische Denken der SF. Freedman begreift SF-Literatur als eine literarische Form der kritischen Theorie und des Marxismus.29 Was sich jedoch deutlich in der SFForschung abzeichnet, ist, dass es einer wissenspoetischen Systematisierung gegenwärtiger SF und prekärer Stofflichkeit ermangelt. Und da es auch keine vergleichenden und exemplarischen Monografien zu dem Verhältnis von prekärer Stofflichkeit und SF gibt, die hinreichend wären, antwortet diese Arbeit

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Vgl. Jiré-Emine Gözen : Cyberpunk Science Fiction. Literarische Fiktionen und Medientheorie, Bielefeld 2014. Vgl. Damien Broderick: Reading by Starlight. Postmodern Science Fiction, Abingdon 1994. Vgl. Brian McHale: Postmodernist Fiction, London 1987; Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Vgl. Carl Freedman: Science Fiction and Critical Theory, Indianapolis 2000.

Einleitung

auf einen Konnex von Desideraten der literaturwissenschaftlichen, filmanalytischen und philosophischen Forschung und Theoriebildung.

Der Aufbau der Arbeit Diese Studie vollzieht eine Bewegung von der Makro- zu einer Mikroperspektive prekärer Stoffe und gliedert sich dabei in fünf Teile: 1. Zu einer Philosophie prekärer Materialität, 2. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe, 3. Biopolitiken prekärer Stoffe, 4. Ökonomie und Pharmapornografie prekärer Stoffe und 5. Narkokapitalismus und Psychomacht. Die Segmentierung der Arbeit in fünf Teile ist jedoch von heuristischer Natur, da die Philosophien, Ökologien und die Politiken prekärer Stoffe nur als Wechselwirkungen denkbar sind und damit auch nicht reduzierbar auf einen der fünf Bereiche. So basiert auch die Auswahl der Fiktionen nicht auf dem Vorhaben, eine ganzheitliche und lückenlose Taxonomie der prekären Stoffe der SF mittels einer sauberen Komparatistik zu erstellen, sondern vielmehr darauf, die verstreuten Verweise der ausgewählten Philosophie und der SF sichtbar zu machen, ihnen zu folgen und eine Kartierung vorzunehmen, die statt starrer Systematiken Felder und Milieus anlegt, in denen die komparatistischen Lektüren möglich werden. Bevor ich mich den wechselseitigen Valenzen des Pharmakofiktionalen in Philosophie und SF zuwende, wird es zunächst darum gehen, das Feld mit einem begrifflichen Überflug zu öffnen, um das theoretische Koordinatensystem zu erstellen, in dem sich diese Arbeit bewegen kann. Der erste Abschnitt des ersten Teils der Arbeit (1.1 bis 1.5) ist der Versuch, eine Theorie bzw. eine Philosophie prekärer Materialität zu bündeln, um die weiteren Schritte und Untersuchungen begrifflich und konzeptionell vorzubereiten. Diese Theorie ist hauptsächlich angeleitet von gegenwärtigen spekulativen Theorien und neuen Ontologien, die im Anschluss an die spinozistischen Immanenztheorien von Deleuze sowie Deleuze und Guattari den Versuch unternehmen, Materie und Dinge als wirkmächtige und subjektunabhängige Entitäten bzw. als irreduzibel oder in Relation mit dem Menschen stehend zu begreifen. Wie bereits in der Einleitung skizziert, wird es darum gehen, an dieser Stelle die neu-materialistischen Philosophien mit pharmakologisch-interessierten Philosophien zu kreuzen und damit auch den Materiebegriff um den Faktor des Stofflichen bzw. Wirkstofflichen ausgehend vom Pharmakonkonzept zu erweitern. Dabei wird deutlich werden, dass gerade die Frage nach dem Wirkstoff, der Droge

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oder anderen stofflichen Entitäten als blinder Fleck der Theorien des neuen Materialismus sichtbar wird. Der zweite Abschnitt des ersten Teils (1.6 und 1.7) widmet sich folglich, an die makrologisch angelegten Überlegungen einer Philosophie bzw. Ontologie, den mikrologischen und verflüssigten Formen von prekärer Stofflichkeit. Ausgehend von dem Konzept des Pharmakons geht es im zweiten Abschnitt hauptsächlich darum, eine Philosophie des Wirkstoffs und der Droge anhand von Avital Ronells Begriff des Tropiums und Deleuzes und Guattaris Begriffs der Pharmakoanalyse zu erarbeiten. Da vor allem der Begriff der Pharmakoanalyse in der Forschung bisher kaum Beachtung findet, ist es zentral, diesen zu rekonstruieren und für die Lektüren und Filmanalysen operabel zu machen. Sowohl mit dem Begriff des Tropiums bei Avital Ronell als auch mit dem Begriff der Pharmakoanalyse bei Gilles Deleuze und Félix Guattari wird sich ein Konzept von prekärer Stofflichkeit ausmachen lassen, das mittels des Konzepts des Wirkstoffs und seiner Pharmakokinetik auch den Körper miteinbezieht, der mit den giftigen, heilenden und spekulativen Eigenschaften von Stoffen ein Gemisch bildet. Nach den im ersten Teil angestellten Überlegungen zu einer ersten begrifflichen Klärung der prekären Stofflichkeit und ihrer Wechselwirkungen mit dem Körper widmet sich der zweite Teil dem Zusammenkommen, dem Begegnen und dem Kollidieren des Menschlichen mit fremdartigen Stoffen und Akteur*innen, die einerseits eine enge Verbindung mit dem Menschlichen suchen und andererseits durch ihre radikale Fremdartigkeit das Humane übersteigen, parasitieren und auslöschen. Dies wird anhand zweier verwandter Stoffspekulationen in Lovecrafts Erzählung Die Farbe aus dem All (1927) und dem Spielfilm Auslöschung (2018) von Alex Garland vorgenommen (2.1 und 2.3). Der Begriff der Ökologie soll hier vor allem deswegen verwendet werden, da sie, wie Félix Guattari es definiert, den Segmentierungen von Natur und Kultur, Mensch und Maschine, Kunst und Philosophie vorausgeht und damit ein transversales queering dieser kategorialen Unterscheidungen vornimmt – Ökologie als ein Phänomen, das weniger an Dichotomien und mehr an kollektiven Entitäten interessiert ist. Die ökologischen Zusammenhänge zwischen Kunst und Philosophie sind damit auf dem Gebiet der SF von besonderem Interesse für dieses Projekt. Dieser Teil der Arbeit wendet damit einerseits die zuvor vorbereitete Begrifflichkeit der Ontoepistemologie an, die anhand der ausgewählten Fiktionen getestet wird, und andererseits zeigt er, wie ästhetische Spekulationen mit prekären Stoffen mit Fragen nach dem Epistemologischen und Ontologischen umgehen und zweierlei Ökologi-

Einleitung

en sichtbar machen. Die Analysen der beiden Fiktionen dienen dabei jedoch nicht der Repräsentation, sondern sollen im Sinne einer ökologischen Lesart als kompositorische, konstellative und analytische Reflexionsmedien und Knoten begriffen werden. Die Fiktionen, wie bereits zu Beginn der Einleitung skizziert, sind als Teil des diskursiven Zusammenhangs zu verstehen, da sie im Sinne eines Wissens der Künste nicht nur ein Wissen über prekäre Stoffe repräsentieren, sondern dieses im Modus der ästhetischen Spekulation auch herstellen. Der dritte Teil der Arbeit visiert folglich die politischen Fragestellungen prekärer Materialität und Stofflichkeit in Philosophie und SF an. Die Frage nach Kreisläufen, Milieus und den Vermischungen unterschiedlicher Lebensformen, die der Ökologie eigen sind, werfen auch die Frage nach der Regierung, Kontrolle und Steuerung des Lebendigen und Nichtlebendigen auf. Das Wissen der Ökologie ist damit eng an das Wissen der Biopolitik gebunden. Wie Florian Sprenger ist seiner Studie Epistemologien des Umgebens (2019) feststellt: »Ökologie ist nie unschuldig, rein, immun oder natürlich«,30 sondern stets eine umkämpfte Umgebung, die immer wieder neu verhandelt und gestaltet wird und damit auch die Nähe zu Technologie und ihren Machteffekten sucht. Der dritte Teil der Arbeit untersucht somit ausgehend von Foucaults Biopolitikkonzept, seiner Kritik durch Deleuzes Begriff der Kontrollgesellschaften und der Aktualisierung der beiden Denker durch Preciados Analyse des pharmapornografischen Regimes die Kontrolle und Regulation des Einzelund Gesellschaftskörpers durch pharmakologische Stoffe. Dieser Teil gliedert sich auch hier in zwei Abschnitte. Der erste Abschnitt (3.1 und 3.2) erarbeitet ausgehend von der Kritik Preciados, Foucaults Machtanalyse könne den heutigen soziokulturellen Ausformungen der Gegenwart nicht gerecht werden, eine Perspektive auf Foucaults Machttheorie, die das Flüssige, Kleine und Stoffartige der Macht mit einklammert. Dem folgend skizziert der zweite Abschnitt (3.3) Deleuzes kontrollgesellschaftliche Ordnungen, in denen das Biotechnologische und das Pharmakologische als Regierungstechniken das erste Mal explizit auftauchen und in Beziehung zur SF gesetzt werden, ohne auf diese Verbindung näher einzugehen. Wie diese von Deleuze ausgeklammerte Beziehung aussehen kann, wird anhand der SF-Dystopie THX 1138 (1971) von George Lucas aufgezeigt. Lucas’ Spekulationen mit der biotechnologischen

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Florian Sprenger: Epistemologien des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher environments, Bielefeld 2019, S. 11.

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Kontrolle nehmen bereits Anfang der siebziger Jahre die Thesen Deleuzes vorweg und schlagen einen Begriff der Macht vor, der nicht als ein chronologisches Phasenmodell hintereinander das jeweils andere ablöst (Souveränität, Disziplin, Kontrolle), sondern avant la lettre ein Modell der Kontrolle vorschlägt, in dem kontrollgesellschaftlich-pharmakologische Formen der Macht sich mit denen der Disziplinargesellschaften verbinden und gerade durch die Mischung der Regime eine noch effizientere Machtform ausbilden. Diese Vermischung der Machtdispositive wird vor dem Hintergrund einer Machtanalyse als eine Schwelle interpretiert, die einen Übergang zwischen Disziplinargesellschaft und Kontrollgesellschaft markiert und damit auch ein weiteres biopolitisches Dispositiv ästhetisch-spekulativ vorbereitet: das Immunologische. Anhand der Theorien von Donna Haraway, Roberto Esposito und JeanLuc Nancy widmet sich folglich das Unterkapitel Immunologik der Macht (3.4) den Beziehungen zwischen eigen und fremd, Stoff und Körper als einer dialektischen Wechselbeziehung, die den Gesetzen des Pharmakons folgt. Dies wird vor allem mithilfe exemplarischer Lektüren der Cyberpunk-SF und speziell anhand Lana und Lilly Wachowskis The Matrix (1999) vorgenommen, um damit auch ein intertextuelles Verweissystem für daran anschließende Fiktionen und ihre prekären Stoffe zu öffnen, wie z.B. die Disney-Verfilmung von Alice im Wunderland (1951). In diesem Teil der Arbeit (3.7) werden auch die versteckten und strategisch wichtigen Substanzen und Stoffe lokalisiert und ihre Wirkungen und Funktionen herausgearbeitet. Es wird gezeigt, dass die Stoffe und Drogen des Cyberpunk besonders als Medien für die Adaption an diverse Technologien in Erscheinung treten. Anhand des Films The Matrix (1999) wird klar, wie die Stoffe strategisch wichtige Schaltstellen besetzen und damit als instabile Übergänge und Schwellen zwischen Realität und Virtualität dienen. Die Studie nimmt diese viel diskutierte Fiktion deswegen erneut auf, denn obwohl The Matrix Anfang der 2000er Jahre eine Welle an theoretischen Auseinandersetzungen ausgelöst hat, bleibt sein pharmafiktionales Potential bisher weitestgehend unbeachtet. Im Zentrum des vierten Teils zur Biopolitik prekärer Stoffe steht Paul B. Preciados Theorie-Fiktion Testo Junkie und sein Begriff des pharmapornografischen Regimes, der auf der einen Seite Foucaults und Deleuzes Machtanalysen aktualisiert und auf der anderen Seite kritisch überschreitet, um den Fokus auf pharmakologische Kontrolle verengen zu können. In diesem Teil wird es erstens darum gehen, die sozialphilosophischen Thesen Preciados heraus zu präparieren, um sie für die Biopolitikdebatte fruchtbar zu machen, und zweitens wird Preciados Text, insbesondere seine theorie-fiktionalen Anteile,

Einleitung

als ein literarischer Text wahrgenommen, der poetologisch die eigene Situierung in das Regime thematisiert und das Verhältnis von Intoxikation, Materialität und Theorie textperformativ auslotet. Daran anschließend vertausche ich erneut die Karten und wage anhand der Dystopie Das fünfte Imperium (2009) von Viktor Pelewin und artverwandter Fiktionen eine literarische Spekulation auf prekäre Stoffe, die sich anknüpfend an Preciado mit dem Verhältnis von Begehren, Ökonomie und Materialität auseinandersetzen und letztlich einen metafiktionalen Vergleich des Textes als Droge bemühen (4.2). Der letzte und fünfte Teil der Arbeit wendet sich in Abgrenzung zu den beschleunigenden und die Wahrnehmung befördernden Stoffen des Cyberpunk und der russischen Gegenwartsdystopien dem Sedativ und der Anästhesie ausgewählter SF zu. Leif Randt entwickelt in seinem Roman Planet Magnon (2015) eine literarische Hemmung bzw. Unterbindung starker Sensibilität mittels diverser Toxine und fiktiver Drogen. Hier wird nochmals die bipolare Axiomatik des Pharmakons aufgerufen, und die Drogensemantiken werden mit gesellschaftskritischen Überlegungen kurzgeschlossen. Anhand der Fiktion von Randt schälen sich die Funktionsweisen der sedierten Kollektive heraus, die die Gift- und Gegengiftsemantiken mit der Semantik der Thermik verschränken. Die prekären Stoffe in Randts Fiktion werden so vermöge der Gift-Heilmittel-Dialektik auch als eine thermische Dialektik von Kälte und Wärme lesbar. Die dystopische Fiktion Planet Magnon nimmt somit eine besondere Position in der Arbeit ein. Denn Randt spekuliert literarisch auf eine Gesellschaftsformation, die postimmunologisch organisiert ist und sich damit von den Dystopien des Cyberpunk absetzt. Anhand von Kategorien wie Eigenes und Fremdes, Herr und Knecht, Freiheit und Gewalt wird sich herauskristallisieren, dass in dieser Fiktion Freiheit und Gewalt ununterscheidbar werden und ein neues politisches Dispositiv markieren, das über das Biopolitische hinausgeht. Planet Magnon verschiebt das biopolitische Paradigma und spekuliert auf eine sich verändernde Form des Sozialen und eine sich verändernde Form der Macht, die den Begriff der Biopolitik ins Wanken bringt.

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I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit Was könnte queerer sein als ein Atom? Und ich meine damit nicht bloß seltsam. Die eigentliche Natur des Seins eines Atoms, eben seine Identität, ist Unbestimmtheit selbst. Karen Barad1

Die Realität verschwindet nicht hinter dem Vorhang des Geistes, der sie verund enthüllt. Sie lässt sich selbst dann nicht abziehen oder entfernen, wenn man sie aisthetisch auf Distanz hält: Sie bleibt durch eine Vielzahl der Stoffe, Dinge, Materialien an uns haften. Sie geht uns an, durchdringt uns und besetzt wichtige Schaltstellen unserer Körper. Und dennoch kann man aufgrund der Grenzen unseres Wahrnehmungsvermögens nicht anders über die Realität der materiellen Welt nachdenken als in der idealistischen Spaltung des wahrnehmenden Subjekts vom wahrgenommenen Objekt, das immer nur durch das Subjekt vermittelt wird. So oder so ähnlich könnte die Minimaldefinition des Problemfeldes aussehen, dem sich die jüngst herausgebildeten Formen des neuen Materialismus aus Sicht der feministischen Theorie, der politischen Theorie, der Medientheorie, der Literaturwissenschaft und vor allem der Philosophie widmen. Ihre gemeinsame Grundfrage lautet: Wie sieht ein Denken der Materie aus, das erstens nicht im Paradigma eines postmodernen Konstruktivismus verharrt und zweitens nicht in eine konservative und idealistische Substanzmetaphysik zurückfällt. Obschon die Ansätze heterogen sind, liegt ihre gemeinsame Fluchtlinie bei der Kritik an einem semiotisch-orientierten Verständnis der Welt und dem linguistic turn, der bei der Produktion von diskursiven Bedeutungshorizonten materielle Entitäten und ihre Assemblage mit anderen Dingen und Entitäten außer Acht lassen würde. Das bedeutet nicht, dass die strukturalistische und poststrukturalistische 1

Karen Barad: Verschränkungen, Berlin 2015, S. 145.

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Tradition in Gänze von den Anhänger*innen des neuen Materialismus verworfen wird, sondern vielmehr finden theoretische Aktualisierungen, Pfropfungen und Aneignungen statt, die von vitalistischen Konzepten über systemtheoretische Ansätze bis zu Aktualisierungen von evolutionstheoretischen Überlegungen reichen. Der neue Materialismus ist als eine dreifache philosophiehistorische Kritik denkbar: erstens als Kritik an einer rein sprachlichen Repräsentation der materiellen Welt, zweitens als Kritik am Substanzessentialismus und Idealismus der Dinge und drittens als eine Kritik an der marxistischen und postmarxistischen Tradition, die die Zusammenhänge von Gesellschaft, Kultur und Ökonomie immer nur vom Menschen aus denkt. Die Kritik richtet sich insofern gegen einen Anthropozentrismus, als hier gesellschaftliche Prozesse nicht als vermittelnde Kräfte einer passiven Materie aufgefasst werden, sondern Materie selbst eine subjektunabhängige Intentionalität und Wirkungsmacht zugesprochen wird, die in den gesellschaftlichen Prozess eingreift und dabei Dinge, Stoffe, Tiere und Menschen relational in Beziehung setzt. Es geht hier also um eine zunehmende Verlagerung von einer Auffassung vom Objekt als Werkzeug und Gestell des menschlichen Handelns zugunsten seiner Bestimmung als autonome und eigensinnige Entität. Vor dem Hintergrund der neu ausgerufenen und in der Forschung sehr umstrittenen geologischen Epoche des Anthropozäns,2 die sich wesentlich durch die Abschöpfung, Optimierung, Machbarkeit und Kontrolle der Umwelt und des Lebens auszeichnet, gilt es, für den neuen Materialismus einen Materiebegriff zu etablieren, der nicht als bloß für das Subjekt zu verbrauchende Ressource existiert, sondern als ein Akteur in einer Ökologie aus menschlichen und nicht menschlichen Agenzien. Mit der Konzeption einer relationalen Materie muss der neue Materialismus von den material culture studies unterschieden werden. Es geht nicht um die Frage, wie in einer Kultur oder Gesellschaft Apparate, Dinge, Werkzeuge, Waffen oder Kleidung hervorgebracht werden, denn dies impliziert, dass der Ursprung der Hervorbringung immer schon der Mensch ist. Genau dieser Ansatz, der letztlich ein anthropologischer und anthropozentrischer ist, wird von den neu-materialistischen Strömungen insofern in Frage gestellt, als es nicht um ein soziales und menschliches Leben der Dinge geht, sondern um eine wandelbare,

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Für einen Überblick über das Problemfeld vgl. Bernd Scherer/Jürgen Renn (Hg.): Das Anthropozän. Der Stand der Dinge, Berlin 2015. Für eine umfassendere theoretische Auseinandersetzung mit dem Anthropozän vgl. McKenzie Wark: Molekulares Rot. Theorie für das Anthropozän, Berlin 2017.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

dynamische und plastische Materialität, die sich sowohl einem materialistischen als auch anthropozentrischen Essentialismus widersetzt. Der neue Materialismus ist damit vor allem ein Post- bzw. ein Transhumanismus. Wie Thomas Lemke bezugnehmend auf den neuen Materialismus formuliert, ist: »das menschliche Subjekt eher das Ergebnis denn der Ausgangspunkt einer epistemischen Erfahrung.«3 Der neue Materialismus richtet sich somit gegen einen kritischen und dialektisch-historischen Materialismus, in dem die Dualismen von Gegensatz, Hierarchie, Entfremdung und Befreiung auf eingefaltet werden. Van der Tuin und Dolphijn bezeichnen diesen Materialismus auch als eine immanente und monistische Philosophie der Differenz.4 Ohne dass Gilles Deleuzes Differenzphilosophie hier von Dolphijn und van der Tuin referiert wird, ist der Begriff der monistischen Differenz eine implizite Anspielung an das, was Deleuze als »Univozität des Seins« und als »Differenz an sich selbst«5 bezeichnet, womit er auch die theoretische Vorarbeit für die Grundpfeiler des neuen Materialismus leistet. Es ist somit unabdingbar, bei der Skizze einer Philosophie prekärer Stofflichkeit bei Deleuzes Substanzbegriff anzusetzen, an dem sich bereits eine Indifferenz zwischen Materie und Stoff abzeichnet.

1.1

Welcher Substanzbegriff? Univoke Materie und die Differenz an sich selbst

In seiner frühen Studie Differenz und Wiederholung (1969) betont Deleuze, dass die Identität des Seins (Substanz) mit sich selbst ein simulierter oder auch ein optischer Effekt eines tiefer liegenden Spiels von Differenz und Wiederholung ist.6 Obwohl der Begriff der Tiefe zunächst eine Hermeneutik suggeriert und auf eine Hierarchisierung von Sein und Seiendem hindeuten könnte, begreift Deleuze Substanz nicht als ein Zugrundeliegendes in Abgrenzung zum Attributiven, sondern als die Ursache ihrer selbst. Die Modi der Substanz befinden sich alle auf einer horizontalen Ebene, die Deleuze als Immanenzfeld oder 3

4 5 6

Thomas Lemke: Einführung [Kap. 8: »Neue Materialismen«], in: Susanne Bauer/Torsten Heinemann/ders. (Hg.): Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Berlin 2017, S. 551-573. Vgl. Iris van der Tuin/Rick Dolphijn: The Transversality of New Materialism, in: Women: A Cultural Review 21 (2), 2010, S. 153-171, hier S. 155. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 76. Vgl. ebd., S. 11.

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auch als eine Univozität des Seins bezeichnet. Univozität ist jedoch nicht mit Identität gleichzusetzen: »Alles Seiende ist im Gegenteil vielfach und different, immer von einer disjunktiven Synthese hergestellt, es ist selbst disjunkt und divergent, membra disjuncta.«7 Laut Deleuze differenzieren sich die Attribute der Wirklichkeit innerhalb einer unendlich ausgedehnten Substanz aus. Diese Unendlichkeit erscheint uns bzw. wird vom Subjekt jedoch nur in zwei Formen erkannt und festgesetzt: Ausdehnung und Denken. Spinoza versucht diese apriorische Hierarchisierung zu vermeiden, indem er von einem Kontinuum des Seins ausgeht, in dem das Intelligible dem Körperlichen nicht vorgeschaltet ist. Das Ausgedehnte und das Denken sind also nur unterschiedliche Attribute eines unendlich mannigfaltigen Seins, das sich über die Einzeldinge hinweg erstreckt. Deleuze nimmt zu Beginn des ersten Kapitels von Differenz und Wiederholung eine Unterscheidung zwischen der Differenz von zwei Dingen und der Differenz an sich selbst vor: Die Indifferenz hat zwei Aspekte: den undifferenzierten Untergrund, das schwarze Nichts, das unbestimmte Lebewesen, indem alles aufgelöst ist – aber auch das weiße Nichts, die wieder ruhig gewordene Oberfläche, auf der unverbundene Bestimmungen wie vereinzelte Glieder treiben, Kopf ohne Hals, Arm ohne Schulter, Augen ohne Stirn. Das Unbestimmte ist völlig indifferent, ebenso unbestimmt aber sind frei treibende Bestimmungen im Verhältnis zueinander. Vermittelt die Differenz zwischen diesen beiden Extremen? Oder ist sie nicht das einzige Extrem, der einzige Moment von Präsenz und Präzision? Die Differenz ist jener Zustand, in dem man von DER Bestimmung sprechen kann. Die Differenz »zwischen« Dingen ist bloß empirisch, und die entsprechenden Bestimmungen sind nur äußerlich. Stellen wir uns aber anstatt eines Dings, das sich von einem anderen unterscheidet, etwas vor, das sich unterscheidet – und doch unterscheidet sich das, wovon es sich unterscheidet, nicht von ihm.8 Mit dieser Unterscheidung, und vor allem mit diesem seltsamen und geradezu monströsen Ding, sticht Deleuze direkt ins Herz der abendländischen Philosophie. Er beantwortet die Frage danach, ob das materielle Sein eins oder vieles ist und formuliert damit gleichzeitig eine differenztheoretische Agenda, die bis zu den Ansätzen des neuen Materialismus fortwirkt. Die Philosophie, die ein derartiges Materieverständnis forcieren will, müsse es sich 7 8

Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt a.M. 1993, S. 223. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 49.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

zur Aufgabe machen, die Differenz von ihrem Fluch zu befreien und dieses Differenz-Ungeheuer aus der Höhle ans Tageslicht befördern.9 Mit dem Fluch der Differenz meint Deleuze hier jene Differenz, die im klassischen marxistischen Sinne als Widerspruch gedacht und damit immer schon im Dienste der Identität verhandelt wird. Diese Identität verdecke die tobenden Kräfte einer weitaus radikaleren Form der Differenz, die keine von außen herangetragenen Oberbegriffe und Ordnungsmuster kennt. Die mit Identität kontaminierte Differenz ist der »modernen Welt« nicht angemessen, welche sich nach Deleuze eher als ein »Simulacrum« fassen lässt.10 Diese Welt als (dt.) Trugbild, ist nämlich »jenes System, in dem sich das Differente mittels der Differenz selbst auf das Differente bezieht.«11 Obwohl Deleuzes »moderne Welt« sozialwissenschaftlich unterbestimmt bleibt, wird deutlich, dass es ihm nicht wie Platon darum geht, den Dingen, wie sie scheinbar sind, eine Absage zu erteilen, um mit rationalen Mitteln des Denkens eine den Trugbildern vorhergehende Welt beschreiben zu können. Es ist vielmehr das Sein der Dinge, der Identitäten und der Substanz selbst, das simuliert und durch das Spiel von Differenz und Wiederholung erst durch eine eigenständige, unvermittelte und wirkmächtige Differenzbewegung hervorgebracht wird. Gerade anhand der oben zitierten Stelle, die Deleuze strategisch an Hegels Lichtmetapher aus Wissenschaft der Logik anlehnt, wird der Unterschied zwischen einem dialektisch-historischen Materialismus und einem vitalistischen Materialismus Deleuzes deutlich. So heißt es bei Hegel, man könne im reinen Licht ebenso wenig sehen wie in vollkommener Dunkelheit: »Reines Licht und reine Finsternis sind zwei Leeren, welche dasselbe sind.«12 Während Hegel die Ununterscheidbarkeit von Sein und Nichts als Basis für eine Struktur der dialektischen Vermittlung begreift, die letztlich alles Seiende in einem absoluten »An-und-für-sichSein« aufhebt und damit eine ontologische Rangfolge installiert, betont Deleuze stattdessen die Differenz an sich als das einzige Extrem, das keine hierarchisch vereinheitlichte Vermittlung kennt: »Die Herkunft ist die Differenz in der Herkunft, die Differenz in der Herkunft ist die Hierarchie, die Rangfolge, d.h. das Verhältnis einer herrschenden zu einer beherrschten Kraft,

9 10 11 12

Vgl. ebd., S. 50f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 373, 346. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, Berlin 1833, S. 92.

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eines Willens, der Gehorsam will zu einem, der gehorcht.«13 Statt eines letzten Prinzips gibt es für Deleuze nebeneinanderstehende und sich gegenseitig bedingende Vielheiten, deren Motor die differentiellen Verschiebungen und Variationen sind. Hegel trifft also der Vorwurf, die Negativität und die damit verbundenen Prozesse der Differenzierung auf eine (gegensätzliche) Identität zu reduzieren, die für Deleuze bloßer Schein ist.14 Die hegelsche Differenz, die von außen zwei Dinge voneinander scheidet, zielt nach Deleuze letztlich auf ein harmonisierendes (transzendentales) Drittes und verdeckt dadurch eine: »intensive Tiefe, die die Matrix des gesamten Raumes und die erste Affirmation der Differenz darstellt; im Zustand freier Differenzen regt sich und brodelt in ihr, was erst in der Folge als lineare Beschränkung und planer Gegenstand erscheinen wird.«15 Der binären Unterscheidung geht also eine tiefer liegende und inkommensurable Differenz voraus, die kein bloßer Umweg zur Selbstvermittlung des Einen ist. Diese stellt sich Deleuze als ein Fließen von Singularitäten vor, die den Gegensatz bzw. Widerspruch mit einer Latenz erst ermöglichen bzw. erst sichtbar werden lassen. Metaphorisch gesprochen sind die Singularitäten in der Differenz mit permeablen Membranen ausgestattet, durch die alles diffundieren kann. Es gibt keine klar geränderten Formen bzw. Organe, die jeweils eine Funktion erfüllen und damit von anderen geschieden sind, sondern »orgisches«16 Fließen, in dem das klassischontologische Substanz-Attribut-Schema nicht mehr greift. Kurt Röttgers betont, dass es in der deleuzeschen Ontologie weder ein erstes noch ein letztes Prinzip gibt, sondern nur das permanente »Anders-Werden« auf einer Konsistenzebene, die sowohl eine Subjekt-Objekt-Spaltung als auch das mechanische Verhältnis von Phänomen und seiner Repräsentation in der Idee aufgibt.17 Entsprechend hat keine rigide Ordnung von sich aus Bestand und ist somit auch keine ousia, im Sinne einer beständigen und zeitunabhängigen Entität. 13 14 15 16 17

Gilles Deleuze: Einsame Insel. Texte und Gespräche 1953-1974, Frankfurt a.M. 2003, S. 12. Vgl. ebd., S. 171. Vgl. ebd., S. 77. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 67. Kurt Röttgers: Es wiederholt sich, in: Friedrich Balke/Marc Rölli (Hg.): Philosophie und Nicht-Philosophie. Gilles Deleuze – aktuelle Diskussionen, Bielefeld 2013, S. 209-226, hier S. 216. Hier ist die Verabschiedung dieser Spaltung nicht gleichzusetzen mit der Verabschiedung des Subjekts. Entgegen vieler zu kurz gegriffener Kritiken lässt Deleuze das Subjekt nicht verschwinden, sondern beraubt es seines Anthropozentrismus und fragt vielmehr nach neuartigen Subjektivierungsweisen.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

1.1.1

Das clinamen und die ursprüngliche Abweichung von Materie

Obwohl Deleuze bzw. Deleuze und Guattari unter anderem als theoretische Nachfahren Spinozas gehandelt werden, ist ihre Beschäftigung mit Materie, Substanz und Stofflichkeit wesentlich auch von atomistischen bzw. postatomistischen Theorien beeinflusst. In der antiken Naturphilosophie bilden für Deleuze und Guattari insbesondere die Schriften Demokrits, Epikurs und Lukrez’ einen wichtigen Anknüpfungspunkt, der heute erneut für den neuen Materialismus eine strukturbildende Rolle spielt. Für das materialistische Weltbild der epikureischen Naturphilosophie, das der römische Dichter Lukrez in seinem Lehrgedicht De rerum natura beschreibt, spielt Materie als Ereignis in Form einer Bewegung der Abweichung (clinamen) eine zentrale Rolle. In De rerum natura beschreibt Lukrez das metaphysisch-kosmische Anfangsbild dieser atomistischen Philosophie als die Leere, durch welche die einzelnen Atome wie ein Regen, streng parallel zueinander fallen. Mit dem Begriff des clinamen bezeichnet der Naturphilosoph die Abweichung von dieser Bewegung, die zu einer Kollision von Atomen und zur Herausbildung der Formen der Welt führt.18 Im Atomismus findet sich somit eine Konzeption von Materie als Differenzgeschehen und als Abweichung, die dort für Formbildung und mit Bezug auf menschliche Subjekte auch für deren freien Willen steht. Das clinamen wird nach Deleuze zum Keim eines dynamischen Materialismus, bei dem ein kontingentes Geschehen am Anfang steht und nicht ein unbewegter Beweger. Das clinamen ist jederzeit gegenwärtig. Es ist keine sekundäre Bewegung, die sich in irgendeinem Augenblick oder an irgendeiner Stelle einfinden würde. Es ist die ursprüngliche Bestimmung der Richtung der Atombewegung.19 Deleuze greift im Anschluss an den Begriff der Univozität der Materie aus Differenz und Wiederholung das Theorem des clinamen bei Lukrez vor allem in Logik des Sinns als eine Denkfigur, die mittels der ursprünglichen Abweichung gegen eine Substanzmetaphysik und einen platonischen Idealismus opponieren soll. Im letzten Kapitel, »Lukrez und das Trugbild«, aus Logik des Sinns heißt es: »Die Natur ist keine kollektive, sondern eine distributive; die Naturgesetze verteilen Anteile, die sich nicht totalisieren. Die Natur ist nicht attributiv, sondern konjunktiv: sie drückt sich in

18 19

Vgl. Lukrez: Über die Natur der Dinge, übertr. u. komment. v. Klaus Binder, München 2017, S. 77-80. Vgl. Deleuze: Logik des Sinns, S. 328ff.

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einem ›und‹ und nicht in einem ›ist‹ aus.«20 Natur drückt sich somit nach Deleuze in einer Konjuktion statt in einem präsenzmetaphysischen »ist« aus, das auch immer ein binäres Entweder-oder impliziert. Die Konjunktion ist ein methodischer Operator im Denken von Deleuze.21 Disparate Verbindungen, Heterogenitäten, Assemblages, Gefüge, Akkumulationen werden nur mittels Konjunktion möglich, um damit eine Öffnung und Relationalität der Entitäten zu ermöglichen, die sich gegen die Identität wendet. Deleuze spricht an einer anderen Stelle in Logik des Sinns auch von einer »Quasi-Ursache« oder auch »Gegen-Verwirklichung« der ursprünglichen Abweichung.22 Natur hat vor dem Hintergrund des clinamen keinen Anfang, da sie sich in einer Gleichzeitigkeit aus Materialisierung und Dematerialisierung befindet. Sie existiert als ein feststeckendes, im Virtuellen verbleibendes Werden, das sich nicht von etwas zu etwas entwickelt, sondern im Dazwischen oszilliert. Damit weist Deleuze die Kausalität der Dinge nicht in Gänze zurück, sondern behauptet, dass es im oder mit dem clinamen eine Pluralität der Ursachen gibt, die sich weder ontologisch noch epistemologisch aufteilen lassen. Hier ist also der Nukleus für dasjenige angelegt, das, wie ich später zeigen werde, Barad als Onto-Epistemologie bezeichnet. Diese Onto-Epistemologie der Abweichung reaktualisiert Deleuze ausgehend von Spinoza und Lukrez als demokritschen Substanzessentialismus, um diesen gegen einen aristotelischen Hylemorphismus in Stellung zu bringen – also der Unterscheidung von Stoff und Form, die letztlich auf eine Wesenheit zurückgeht, als Substanz verstanden in ihrer Dynamisierung und der affizierenden Kraft, die sie ausstrahlt. Wenn man von einer so gearteten Ontologie ausgeht, dann setzt das ein Substanzkonzept voraus, das sich wesentlich durch eine Prekarität des Seienden auszeichnet – das heißt durch seine generelle Abweichung, Prozesshaftigkeit, Unabgeschlossenheit und Brüchigkeit. Obwohl Deleuze ausgehend von Spinoza auf dem Begriff der Substanz und auch auf dem Begriff der Ontologie beharrt, desubstanzialisiert er durch die pluralistische und dynamisierende Vorstellung eine traditionelle Substanzontologie durch eine (In)Differenz, die nicht im Dienst der Identität steht und keine von außen herangetragenen Ordnungsmuster und Begriffe kennt. Dies machen Deleuze und Guattari immer wieder mit literarischen Bezügen klar – vor

20 21 22

Ebd., S. 325 Vgl. dazu Mirjam Schaub: Das Wörtchen ›und‹. Zur Entdeckung der Konjunktion als philosophische Methode, in: Balke/Rölli: Philosophie und Nicht-Philosophie, S. 227-253. Deleuze: Logik des Sinns, S. 187.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

allem anhand von Schriften Henri Michauxs. Michauxs meskalininduzierte Phantasmen unterlaufen immer wieder das Substanz-Attribut-Schema. In seinen Erzählungen besitzen Räume, Worte und Bilder keinen Referenzpunkt und geraten dadurch, wie Michaux selbst schreibt, in eine »Turbulenz im Unendlichen«.23 Der, wie es bei Michaux heißt, »schizophrene Tisch«, den Deleuze und Guattari später im Anti-Ödipus exemplarisch für ihr Denken der Maschine aufgreifen, steht beispielhaft für eine unheimliche und geradezu fantastische Substanz, die sich nicht von anderen unterscheidet, sondern sich und mit sich unterscheidet: Hatte man ihn einmal wahrgenommen, so ging er einem nicht mehr aus dem Kopfe. Er schien gewissermaßen, ich weiß nicht recht, aber zweifellos seiner eigenen Bestimmung zu folgen […]. In Erstaunen versetzte, dass er, wiewohl nicht einfach, so doch auch nicht wirklich verwickelt, gleichsam auf Anhieb und vorsätzlich kompliziert entworfen worden war. Dass er vielmehr die Einfachheit in dem Maße verloren hatte, wie er hergestellt worden war […]. Wie er da stand, war es ein Tisch mit Zusätzen, so wie gewisse überladene Zeichnungen Schizophrener gemacht sind, und war er vollendet, so in dem Maße, wie die Mittel nicht mehr vorhanden waren, ihm noch etwas hinzuzufügen, Tisch, der immer mehr von einem Haufen, immer weniger von einem Tisch an sich hatte […]. Auf keinen Gebrauch war er zugeschnitten, auf nichts, was gewöhnlich von einem Tisch erwartet wurde. Schwer, sperrig, kaum von der Stelle zu rühren. Man wusste nicht, wie ihn nehmen (sowohl geistig als auch manuell). Die Tischplatte, der nützliche Teil, zunehmend an Umfang verlierend, verschwand, stand zu diesem unhandlichen Gestell so wenig in Beziehung, dass man das Ganze als einen Tisch nicht mehr zusammenbrachte, vielmehr als ein gesondertes Möbelstück ansah, dessen Verwendung noch nicht hätte angegeben werden können. Ein Tisch, der von menschlichen Spuren nicht mehr zeugte, bar jeder Schnörkelei, der nicht bürgerlich, nicht rustikal war, der kein Tisch vom Lande, kein Küchenund kein Arbeitstisch war. Der für nichts sich hergab, sich verteidigte, sich jeglichem Dienst, jeder Kommunikation verweigerte.24

23 24

Vgl. Henri Michaux: Turbulenz im Unendlichen. Die Wirkungen des Meskalins, Frankfurt a.M. 2018. Henri Michaux zit.n.: Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M. 1974, S. 12f.

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Dieser sich in Auflösung befindende Tisch scheint jede Eigenschaft und jedes Attribut abzuwerfen: ein wertloser und überflüssiger Rest, der aus jeglichen Zirkulationen ausscheidet und die Subjekt-Objekt-Relation zu sprengen droht. Es ist ein seltsames Ding, das sich einem Objektstatus verweigert. Er ist absolut diffus und lässt sich nicht auf ein etwas reduzieren. Ein hybrider und sich im Akt des Lesens selbst zersetzender »Haufen« ohne Verwendung. Dieses eigentlich ontologisch unmögliche Objekt ist transformativ und degenerativ zu gleich, jedoch nicht im Sinne einer Verwandlung von etwas in etwas, sondern als ein auf Dauer gestellter Zersetzungsprozess. Das Zwischen dieser Metamorphose ist das Entscheidende: Es verweigert eine Referenz, die dieses Ding als ein Ganzes erfassen lässt. Es ist nicht klar, was Zusätze und was fehlende Teile sind, weil es in seinem Zerfall auf halbem Weg zwischen dem einen und dem anderen Ding verharrt. Man kann hier also nicht von einem collagierten Objekt sprechen, da es keine Mereologie eines Teil-GanzesVerhältnisses gibt. Die Teile besitzen keine präexistente und mit sich selbst identische Existenz. Es ist kein Objekt, das sich wie ein Modell verhält, bei dem man nach Bauplan Teile abnehmen und hinzufügen kann. Gleichzeitig besteht der schizophrene Tisch auch nicht aus komplett zufälligen Teilen, sondern ist ein nicht dualistischer Prozess, der sich zwischen der Materialisierung und der Dematerialisierung abspielt. Deleuze und Guattari sprechen dabei auch von De- und Reterritorialisierungen bzw. von Assemblagen, die sich als ein Feld von heterogenen Anteilen verhalten und als eine ontologische Vielheit im Sinne der Univozität von Materie. Diese Multiplizität beschreibt Verkettungen, die semiotisch, materiell und gesellschaftlich zugleich sein können. Die assemblierte und vor allem »unorganisierte Masse«25 wird zu einer abjekten Horrorvision des kantschen Ding[s] an sich – das keine originäre, erste Materie ist, sondern die unbekannte und nicht ausdifferenzierte Rückseite unseres Verstandes, die, wie Deleuze und Guattari betonen, als Indifferenz dafür sorgt, dass uns überhaupt etwas erscheint und dennoch äußerlich bleibt. Michauxs delirierender/delirierter Tisch wird damit singulär. Er verschließt sich erstens geradezu dem Zugang durch eine subjektive Wahrnehmung und zweitens verliert er seinen Objektstatus und wird zu einem Stoff, zu einer diffundierenden und klebrigen Masse, deren Aggregatzustand irgendwo zwischen fest und flüssig verharrt. Er wird zu einem sich im Zerfließen befindenden Etwas, das von nichts unterschieden werden kann. 25

Ebd., S. 14

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

Somit ist er nicht ein Gegenstand oder Objekt unter anderen, der – mit Saussure gesprochen – seine Bedeutung aus der Differenz zu anderen Entitäten gewinnt, sondern er ist selbst die immanente Schwelle und Prekarität, die bei einem Versuch des wahrnehmenden Zugriffs aus der Hand gleitet. Er ist, wie Derrida schreibt, weder tot noch lebendig und damit eher »Erscheinung einer seltsamen Kreatur, die Front macht vor den anderen, vor ihresgleichen: gleichzeitig Leben, Ding, Tier, Objekt, Ware, Automat – mit einem Wort: Gespenst.«26 Nach Deleuze ist jede abschließende Begründung des Seins der Versuch der Austreibung und Ersetzung der Iterabilität durch Nützlichkeit und Identität. Dieser Schließung widersetzt sich dieser referenzlose Gegenstand, da er die Frage nach dem substantivischen »Was ist« in eine »Wie«-Frage verwandelt, die sich eher als eine Vielstimmigkeit der Fragen beschreiben ließe. Der schizophrene Tisch ist eine besondere Form einer abfälligen und vor allem überzähligen Gegenständlichkeit, der gerade mit seiner Gegenstandslosigkeit Kategorien wie Materie und Form sowie Substanz und Attribut unterläuft, aber zugleich mit einer eigenen materiellen Intentionalität ausgestattet ist, die die Beobachterin dadurch herausfordert, dass er durch die Abwesenheit einer Ausdehnung im Sinne der cartesianischen res extensa gerade eine enorme Präsenz erzeugt. Mit Joseph Vogl, der sich in Bezug auf Deleuze mit den fantastischen Welten bei Jorge Luis Borges auseinandersetzt, könnte man hier auch von einem »poetischen Objekt« sprechen, das eher von einer stofflichen und »manieristische[n] und exzentrische[n] Art«27 ist.

26

27

Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die Internationale, Frankfurt a.M. 2005, S. 22. Und weiter heißt es: »Hier – oder dort, dort unten – haben wir also ein Ding, das unnennbar ist oder doch fast: etwas zwischen Ding und Person, zwischen wem auch immer und was auch immer, ein Etwas, dieses Ding da, ›this thing‹, und trotzdem dieses Ding und nicht ein anderes; dieses Ding, das uns ansieht, angeht, spottet der Semantik ebenso wie der Ontologie, der Psychoanalyse ebenso wie der Philosophie. […] Dieses Ding, das keines ist, dieses Ding, das zwischen seinen Erscheinungen unsichtbar ist – auch wenn es wieder erscheint, sieht man es nicht in Fleisch und Blut. Dieses Ding erblickt dagegen uns und sieht uns, wie wir es nicht sehen, selbst wenn es da ist.« Ebd. Joseph Vogl: Was ist ein Ereignis?, in: Peter Gente/Peter Weibel (Hg.): Deleuze und die Künste, Frankfurt a.M. 2007, S. 67-83, hier S. 70.

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1.1.2

Ereignishafte Materie

In Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte Tlön Uqbar, Orbis Tertium findet sich eine ästhetische Spielart dieser seltsamen Art von Materie. Borges entwirft darin ein radikal kontingentes Universum, in dem es kein Zusammentreffen von Dingen im Raum gibt, sondern nur Aneinanderreihungen und Assemblagen von unabhängigen und heterogenen Handlungen, Umständen und Dingen. Die Erzählung handelt erstens von einem fiktiven Land, Tlön, in dem es keine Kontinuität von Materie und der im Raum verteilten Einzeldinge gibt. Zweitens gibt es keinen Unterschied zwischen Fiktion und Realität innerhalb der Erzählung: Die Dinge der Vorstellung erzeugen die Dinge innerhalb der Welt und andersherum. Auf diese Weise entdecken die Tlöner ihre Welt immer wieder neu, weil sie diese immer wieder aufs Neue miterzeugen. In dieser spekulativen und fantastischen, jedoch auch unheimlichen Welt gibt es keine empirische Festigkeit. Die Objekte und Dinge haben einen zweifelhaften Charakter, sie sind unbeständig und inkonsistent. Das macht sich vor allem an den Sprechakten der Tlöner bemerkbar. Denn sie vermeiden weitestgehend die Verwendung von Substantiven. Folglich kommt es zu einer Inflation des Adjektivischen, wodurch nochmals unterstrichen wird, dass diese Welt nur instabile Umstände, sich auflösende Identitäten und Dynamiken kennt: In der mutmaßlichen Ursprache Tlöns, von der die heutigen Sprachen und Dialekte herstammen, gibt es keine Substantive: Es gibt unpersönliche Verben, die durch einsilbige Suffixe (oder Präfixe) adverbieller Art näher bestimmt werden. Zum Beispiel gibt es kein Wort, das dem Wort »Mond« entspräche, aber es gibt ein Verbum, das »monden« oder »mondieren« lauten würde. »Der Mond ging über dem Fluss auf« lautet: »Empor hinter dauerfließen mondet es.«28 Alles das, was grammatisch Objekte und Eigenschaften bestimmt, ist in Tlön nichts anderes als eine temporäre Konstellation von Verbformen: Konstellationen, die existieren und im nächsten Augenblick schon im Auflösungsprozess sind. Statt Substantive sind Infinitive, Partizipien und Gerundien die grammatischen Elemente und Operatoren, in denen sich diese, wie Vogl schreibt, »poetischen Gegenstände«29 artikulieren. Sprachtheoretisch bedeutet es, dass Dinge und Begriffe einander nicht mehr im Sinne einer 28 29

Ebd., S. 21f. Vogl: Was ist ein Ereignis? S. 70.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

semantischen Extension entsprechen, sondern sich, mit Deleuze gesprochen, intensional verhalten.30 Das bedeutet, dass keine Prädikate zusammengezogen werden, um eine allgemeingültige Qualität des Dings beschreiben zu können, sondern Merkmale oder Eigenschaften, die eine ekstatische Konstellation formen, die kein Substanz-Ganzes bilden, sondern dieses gerade durch die Überzahl bzw. Unterzahl von Eigenschaften überschreiten. Intensionale Begriffe zerschneiden die Kopula bestehend aus Subjekt und Prädikat. Alle Prädikate werden auf diese Weise zu losgelösten Singularitäten, die kein bestimmtes Sein identifizieren. Mit Rückgriff auf Borges’ Kurzgeschichte ist es nicht der aufgehende Mond, der beschrieben wird, sondern das Monden; also ein singuläres und verflüssigtes Geschehen ohne Substantive, ausgestattet mit einem sich im Partizip befindenden Zustand. Das hat zur Folge, dass die Dauerhaftigkeit und Festigkeit einer Aussage nicht existiert. Sprachliche Äußerungen sind in Resonanz mit anderen zu denken. Nach Deleuze gehören solche Phantasmen dem Typ Grinsen ohne Katze31 an, also Ereignissen, in denen kein Begriff und kein Ding mit sich selbst identisch sind. Diese gespenstische Quasi-Existenz ist erstens die Ablösung der Sprache von einem Objekt und zweitens verschwindet darin ein aktiv handelndes und sprechendes Subjekt. Das Grinsen verweist nicht auf jemanden, der oder die spricht, sondern auf ein vorsubjektives und intentionsloses Geschehen ohne Deixis. Deleuze bezeichnet das auch als »Paradox des Absurden«,32 innerhalb dessen man Sinn und Unsinn nicht mehr voneinander trennen kann. Das Grinsen ist nach Deleuze ein reines Sprachereignis: eine reine Sprache ohne Referenz, die nichts repräsentiert. Dieser absurde Sprechakt umfasst dasjenige, was Deleuze als Sinn bezeichnet. Der ist aber nicht in der Prädikation – also im Modus des Seins – lokalisierbar, sondern in der Konjunktion, der Prozessualität und dem Anschluss von sich ausschließenden Sätzen.33 Eine deiktische Struktur wie »Ich-jetzt-hier/Ich-jetzt-dort« nimmt für sich eine präsentische Identität in Anspruch. Das Sprachereignis des Grinsens ohne Katze teilt demnach die Gegenwart unendlich auf, wodurch eine mit sich selbst

30

31 32 33

Die traditionelle Logik versteht unter der Extension eines Begriffs alle die Dinge, auf die er sich bezieht. Z.B. ist die Extension des Begriffs Mensch die Gesamtheit aller Menschen. Deleuze bezieht sich damit auf Lewis Carrolls Geschichte Alice im Wunderland, anhand derer er seinen Ereignisbegriff destilliert. Deleuze: Logik des Sinns, S. 222. Vgl. ebd., S. 57.

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identische Sprechersituation unmöglich wird. Diese disjunktiven Synthesen bzw. Sprachereignisse – in der das eine, wie das andere zugleich möglich werden – unterlaufen das Raum-Zeit-Gefüge. Deleuzes virtueller Raum ist nicht ausgedehnt, sondern definiert sich durch das mögliche Nebeneinander von völlig heterogenen Sätzen oder Dingen. Und genau wie der Raum – der reines spatium ist, organisiert durch das pure Intervall – ist auch die Zeit des Ereignisses in einer Doppelstruktur zu denken. Denn sie partizipiert sowohl an der Vergangenheit als auch an der Zukunft. Das Ereignis fällt aus einer chromatisch gedachten Zeit heraus – also einer Welt der Dingzustände, Sachverhalte und ihrer Zusammenstöße: »Das Ereignis ist nicht, was eintritt (Unfall), es ist in dem, was eintritt, das reine Ausgedrückte, das uns Zeichen gibt und auf uns wartet.«34 Das Ereignis ist in seiner Virtualität etwas der linear verlaufenden Zeit Vorhergehendes. Ausgehend vom Ereignis unterscheidet Deleuze damit zwei ineinandergreifende Zeitformen, die er als Chronos und Äon definiert. Chronos bezeichnet die erfüllte Gegenwart, für die Vergangenheit und Zukunft zeitliche Dimensionen sind. Äon steht dagegen für die disruptive Zeit des Ereignisses ohne Gegenwart. Das Äon ist eine Zwischen-Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig gegenwärtig sind und das Vorher-Nachher-Prinzip der chronologischen Zeit auflösen. Deleuze bezeichnet diese Zeitform auch als »der ganz flache Augenblick ohne jede Ausdehnung, der jede Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft unterteilt«.35 Als eine punktuelle Zäsur trennt das Äon Vergangenheit und Zukunft und setzt diese neu zueinander ins Verhältnis. Die Zeit des Äons ist somit leer: »Stets bereits vergangen und ewig noch bevorstehend ist Äon die ewige Wahrheit der Zeit: reine leere Zeitform.«36 Man kann sich dies anhand der lebensweltlichen Beobachtung verdeutlichen, dass, wenn ein Ereignis eintritt, die Zeit normal weiterzulaufen scheint (Chronos), Vergangenheit und Zukunft aber neu zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Das Ereignis darf folglich nicht mit einem Zwischenfall vermengt werden, es ist nicht die Ausnahme der Regel. Ereignisse sind vielmehr »ideelle Singularitäten«.37 Deleuze schlägt sich dabei weder auf die Seite einer raum-

34 35 36 37

Ebd., S. 187. Ebd., S. 206. Ebd., S. 207. (Herv. i. O.) Ebd., S. 77.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

zeitlichen »Verwirklichung in einem Dingzustand«38 noch auf die Seite der sprachlichen Repräsentation.

1.2

Relationaler Materialismus

Von Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Materialismus der Univozität profitierend, radikalisiert der Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour den deleuzeschen Ereignismaterialismus insofern, als er das Übergewicht der Sprache, das bei Deleuze sowie bei Deleuze und Guattari eine zentrale Rolle spielt, mehr auf die Dinge verlagert. Daraus möchte er nicht nur ontologische bzw. epistemologische Schlüsse ziehen, sondern vor allem eine politische Agenda generieren, die für einen demokratischen Umgang zwischen Menschen, Tieren und unbelebten Dingen plädiert. Latours groß angelegtes und bereits viel rezipiertes Projekt der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) kritisiert nicht nur den radikal konstruktivistischen Ansatz, wie es Deleuze tut, sondern reklamiert den Materialismus als einen sich kaschierenden Idealismus und stellt die zentrale Frage danach, wie sich Dinge, Materien, Stoffe, Tiere und andere nicht menschliche Artefakte nicht als Wahrnehmungsobjekte des menschlichen Geistes – also als konstruktivistisch vorgeformte und durch das Subjekt sinnlich produzierte Gegenstände – denken lassen. Denn selbst Philosophien, die von sich selbst behaupten würden, sie seien ›materialistisch‹, wären dennoch dem veralteten cartesianischen Schnitt und der Spaltung verfallen. Latour spricht demgemäß etwas tautologisch von einem »materiellen Materialismus«,39 den er für die Soziologie fruchtbar machen will. Daraus ergibt sich für ihn vor allem, dass der Begriff der Gesellschaft als eine Beziehung von rein menschlichen Akteur*innen nicht haltbar ist, weil sie »kein Ding unter anderen ist«,40 sondern sich durch kollektive Praktiken und aus Gefügen herstellt, die menschliche und nicht menschliche Agenzien gleichermaßen einschließt, um ein gleichberechtigtes »Parlament der Dinge«41 zu ermöglichen. Latour stellt mit der ANT die Frage, was die Bedingungen der Möglich-

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Ebd., S. 41 Bruno Latour: Can We Get Our Materialism Back, Please?, in: Isis 98 (1), 2007, S. 138-142. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007, S. 17. Vgl. Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M. 2001.

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keit für eine Herausbildung der Relata und der Relationen der materiellen Welt sind. Obwohl er die Relata und Relationen als Phänomene des Sozialen begreift, sind sie für ihn dennoch keine Subjekte, sondern Versammlungen von Quasi-Objekten, Hybriden und Konstellationen. Der Begriff des Akteurs ist nicht an das menschliche Subjekt gebunden, Handlungsmacht ist nicht auf das menschliche Subjekt zentriert, sondern als dezentriert und verteilt konzeptualisiert. Handlung ist damit auch nicht von den Netzwerken zu trennen, in denen sie sich ereignet, sondern nur als durch und in ihnen relational hervorgebracht und strukturiert verstehbar. Nach Latour sind Akteur*innen somit immer Akteur-Netzwerke. Auf ähnliche Weise argumentiert auch Jane Bennett in ihrem Buch Vibrant Matter (2010) und schlägt ebenfalls vor, eine neue Soziologie zu entwickeln, in der die Agentialität nicht auf menschliche Akteur*innen reduziert ist. Bennett geht im Anschluss an die durch Bergson angestoßenen Strömungen einer Lebensphilosophie von einer zu Grunde liegenden Vitalität der Materie mit eigenständigen machtvollen Neigungen und Tendenzen aus.42 In ihren ebenfalls stark von Deleuze und Guattari beeinflussten Analysen interessiert sich Bennett vor allem für Abfall, überzählige Dinge und Reste als Materie, die gerade durch ihr Ausscheiden aus ökonomischen Kreisläufen auffällig und widerspenstig werden. Im Zentrum ihrer Analysen stehen deren Anhäufungen, die nicht ein Ganzes bilden, sondern eine lebendige Assemblage, die das Subjekt affiziert. Bennett beschreibt gleich zu Beginn des ersten Kapitels Abfälliges auf der Straße, das ihren Blick sucht: einen Arbeitshandschuh, Eichenbaumpollen, eine tote Ratte, eine Mütze und einen Stock aus Holz.43 Diese bleiben ihr jedoch nicht gegenübergestellt, sondern affizieren und lassen ein Gefüge entstehen: At the very least, it provoked affects in me: I was repelled by the dead (or was it merely sleeping?) rat and dismayed by the litter, but I also felt something else: a nameless awareness of the impossible singularity of that rat, that configuration of pollen, that otherwise utterly banal, massproduced plastic water-bottle cap.44 Bennett erkennt in dieser Assemblage eine Spontanität und Lebendigkeit. Dabei ist das eine dem anderen nicht vorgängig und damit hierarchisch höher

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Vgl. Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham/London 2010, S. 40. Vgl. ebd., S. 4. Ebd.

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oder niedriger, sondern im Sinne von Deleuzes Univozität des Seins auf einer Immanenzebene verortet. Programmatisch heißt es somit auch zwei Seiten weiter: »[T]he garbage hills are alive«.45 Gerade durch die Ansammlung und die gleichzeitige Zersetzung von Form und Materie ist es nach Bennett unmöglich, Dinge als Einzeldinge zu betrachten. Dinge sind immer nur als Gefüge begreifbar, die sich zusammensetzen und wieder zerfallen und gerade durch diese Auflösungsdynamik ihre Dauer und Zeitlichkeit erhalten. Sowohl Latours als auch Bennetts Theorien liegt somit der Gedanke zu Grunde, dass Umwelt, Gegenstände, Menschen, Hybride, Ereignisse und Narrative heterogene offene und nicht hierarchisch organisierte Gefüge sind. Entgegen der Vorwürfe, dass neu-materialistische Materiekonzeptionen Gefahr liefen, in einen klassischen Atomismus zu kippen, zeigt sich hier, dass es gerade nicht um eine Regression und eine Reduktion von Materie auf kleinste und unteilbare Eigenschaften geht, sondern um die Irreduzibilität von Verschränkung des Materiellen, die sich als eine instabile Seinsweise ereignet, die entangled ist, aber auch jederzeit wieder zerfallen kann, um neue Verbindungen einzugehen. Verschränkungen sind so nicht als Menge, die aus Teilmengen besteht, zu verstehen, sondern als eine Ökologie der Dinge, Tiere, Materien und Subjekte. Mit dem Konzept der Ökologie sind damit ebenso wenig dualistisch verstandene und klar vom menschlichen Subjekt geschiedene Systeme gemeint, die im Sinne der kybernetischen Systemtheorie den Unterschied zwischen System und Umwelt letztlich immer nur im System treffen. Der Begriff bezeichnet vielmehr relationale und, wie Donna Haraway in Unruhig Bleiben (2018) in Abgrenzung zur Kybernetik betont, als »sympoietisch«46 zu begreifende Seinsweisen der Dinge, die sich zunächst einmal im Prozess ihrer Materialisierung ereignen; zudem spielt sich dieser Prozess diesseits der sprachlichen Zuschreibungen und Konstruktionen ab. Haraways als Gegensatz zur systemtheoretischen Autopoiesis in Anschlag gebrachter Begriff der Sympoiesis ist hier vor allem als Kritik an der Individualität des Organismus zu verstehen und argumentiert vor dem Hintergrund der Endosymbiontentheorie für geteilte Organismen, die als Interfaces für weitere Organismen und Anschlüsse fungieren. Es geht Haraway bei diesem Theorem somit um ein Mithervorbringen von Welt durch eine einschließende Gegenseitigkeit unter der Prämisse, dass 45 46

Ebd., S. 6. Zum Begriff der Sympoiesis bei Donna Haraway vgl. Kapitel 3 in: Haraway: Unruhig Bleiben, S. 85-99.

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die Andersartigkeit des Anderen bewahrt wird. Darin äußert sich auch eine Kritik an den Modellorganismen des Labors, das die Organismen von ihrem Milieu und ihrer Umgebung isoliert. Nach Haraway gibt es keine ›objektiven‹ und isolierten Modellorganismen, Dinge, Objekte und Stoffe, sondern nur assemblierte Entitäten, die als ökologisches Gefüge existieren. Sie problematisiert damit das Verhältnis von innen und außen und damit auch das zentrale Element der Autopoiesis der Systemtheorie, insofern diese ein System immer nur als ein zwar situiertes, doch gleichwohl letztlich geschlossenes begreift, mit den entsprechenden auch biopolitischen Konsequenzen. Denn ein geschlossenes System, das abgesteckt und klassifiziert ist, lasse sich effizienter regieren und regulieren als eine konstitutiv offene Entität.47 Zusammenfassend und im Anschluss an die skizzierten Theorien lässt sich mit dem relationalen Materialismus eine methodologische und erkenntnistheoretische Gewichtsverlagerung beobachten, die sich von der sprachlichen Bedingtheit zur materiellen Bedingtheit des Seins verschiebt. Diese Verschiebung hat Konsequenzen für den Seinsbegriff, der weder substanzontologisch noch sprachlich-repräsentativ zu beschreiben ist. In diese Richtung argumentiert auch die einerseits von Haraway und andererseits von quantentheoretischen Überlegungen inspirierte Theorie des agentiellen Realismus (2012) von Karen Barad. Barad kritisiert scharf das inflationäre Übergewicht und den Repräsentationalismus der Sprache in den Wissenschaften und spitzt das Verhältnis von Relation und Relata des Materiellen zu. Im theoretischen Register des Strukturalismus und seiner poststrukturalistischen Nachfolger*innen, die sich am linguistic turn abarbeiten, sei Materialität nicht anders denkbar denn in ihrer sprachlichen Vermitteltheit und Repräsentation. Language has been granted too much power. The linguistic turn, the semiotic turn, the interpretative turn, the cultural turn: it seems that, at every turn lately, every »thing« – even materiality – is turned into a matter of language or some other form of cultural representation … There is important sense in which the only thing that does not matter anymore is matter. […] Matter is not a suport, location, referent, or source of sustainability for discourse. Matter is not immutable or passive. It does not require the mark of an

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Zu dem Verhältnis von Ökologie und Biopolitik vgl. die instruktive Studie von Sprenger: Epistemologien des Umgebens.

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external force like culture or history to complete it … Matter is substance in ist intra-active becoming – not a thing but a doing, a congealing of agency.48 Das Plädoyer Barads besteht nun darin, die Materie in ihrer Materialität und Wirkmächtigkeit ernst zu nehmen, die sich nicht auf rein semiotische Prozesse reduzieren lässt und zu lange dem Diktum der Sprachkritik und der Diskursanalyse unterworfen gewesen sei. Gegen die Reduktion durch Diskursanalyse und Sprachkritik des Poststrukturalismus ist der agentielle Realismus motiviert durch den Versuch, Sein und Wissen sowie Materie und Diskurs in einen onto-epistemologischen Zusammenhang zu stellen. Dabei versteht Barad Materie nicht als die Gesamtheit interagierender, distinkter und klar identifizierter Dinge, sondern als ein immanentes und prozesshaftes Geschehen, das entgegen der letztlich spaltenden und dichotomen Interaktion mittels der ›Intraaktion‹ sich selbst und anderes hervorbringt. Die Materialität ist folglich Materialisierung (mattering), eine performative Kraft, die Bündel und Knoten der Materialität mittels bestimmter und unbestimmter Differenzen produziert. Materialisierungsprozesse und Diskurspraxis sind dabei nicht voneinander zu trennen und enthalten sich gegenseitig: Sein ist nicht einfach anwesend, dort um gefunden zu werden, bereits gegeben. Es gibt keine starre Essenz oder Substanz, die zum Messen da ist. Teilchen sind nicht inhärent gebundene und mit Eigenschaften versehene Entitäten, die sich in der Leere bewegen. Beim Materialisieren (mattering) handelt es sich um das (kontingente und temporäre) Bestimmt-Werden (und Unbestimmt-Werden) von Materie und Bedeutung ohne Fixierung, ohne Schließung.49 Entgegen der allgemeinen poststrukturalistischen Tendenz, Materialität als Produkt von Diskurspraktiken zu begreifen, verweist Barad auf die Gegenseitigkeit von Diskurs und Materie.50 Dabei sind Prozesse der Materialisierung

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Karen Barad: Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 28 (3), 2003, S. 801-831. Barad: Verschränkungen, S. 71-115, hier S. 92. (Herv. i. O.) Mit der Kritik an der Passivität der Materie im Denken des Poststrukturalismus adressiert Barad vor allem die Gendertheoretikerin und politische Philosophin Judith Butler, die die Produktion von Materialität und Körperlichkeit wesentlich durch performative und diskursive Akte realisiert sehe. An dieser Stelle lässt sich nicht hinreichend klären, ob Barads Einschätzung korrekt ist. Es wäre sicherlich gewinnbringend, diesbezüglich

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nicht als bloße Attribute eines eigentlich tiefer liegenden ›substantiellen‹ diskursiven Geschehens zu begreifen, sondern als intraaktive Verschränkung. Während die Interaktion klar zählbar-definierte Dinge, aber vor allem zwischenmenschliche Relationen in Beziehung setzt, geht die Intraaktion davon aus, dass die Relata den Relationen nicht vorausgehen. Ausgehend vom beobachtenden Subjekt gedacht gibt es so keine cartesianische Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Beobachterin und Beobachtetem Nach Barad existiert keine Beobachterin vor dem Beobachteten: Sie spricht auch in Anlehnung an den Quantentheoretiker Niels Bohr von »Beobachtungsinstanzen«,51 um eine Untrennbarkeit von Apparaten, ihren materiellen Bedingtheiten und der Semiotik hervorzuheben. Beispielhaft wäre eine Laborsituation, in der das Messen eines Dings von seiner gleichzeitigen Hervorbringung nicht zu trennen ist. Es handelt sich dann um keine Entdeckung, sondern im Messen oder auch im archäologischen Ausgraben konstituieren sich beide Relata überhaupt. Barad spricht dabei auch von agentiellen Schnitten.52 Die Einführung des Begriffs des agentiellen Schnittes hat bereits Latour avant la lettre in seiner Untersuchung der Hervorbringung des Milchsäureferments bei Louis Pasteur vorweggenommen. Latour betont, dass es weder eine Entdeckung war, die mittels des Experiments sichtbar gemacht wurde, noch hat das Experiment den Stoff konstruktiv produziert. Vielmehr artikuliert sich in dem Experiment das korrelative Verhältnis von Pasteur und Milchsäureferment.53 Damit verschiebt sich der Fokus auch von einem auktorialen Subjekt, das die Welt mittels wissenschaftlicher Apparate empfängt und sie versteht, zu einem nicht unschuldigen und in die Prozesse zwischen Materie und Bedeutung involvierten und vor allem situierten Subjekt, das in materiell-diskursive Praktiken feinmaschig eingewoben ist.54 Das Agens ist damit keine Kategorie, Eigenschaft oder Eigentum des Menschen, das durch subjektive Intentionalität angetrieben wird, sondern eine allgemeine und vor allem disseminierte Potenz der weltlichen Veränderungen zwischen den Dingen, aber auch in den Dingen.55

51 52 53 54 55

kritisch die Position Barads zu hinterfragen und die Frage danach zu stellen, inwiefern Butlers Theorie eine material agency enthält. Ebd., S. 28. Vgl. dazu Karen Barad: Agentieller Realismus, Frankfurt a.M. 2012. Vgl. Latour: Das Parlament der Dinge, S. 137-147. Vgl. Barad: Agentieller Realismus, S. 43. Zu einer Definition der agency im Sinne des relationalen Materialismus vgl. Rick Dolphijn/Iris van der Tuin: New Materialism: Interview & Cartographies, Ann Arbor 2012, S. 54.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

1.3

Spekulative Kritik am relationalen Materialismus Das »Ko-«, (der Mit-Gebung, der KoRelation, der Gleich-Ursprünglichkeit, der Mit-Präsenz etc.), dieses »Ko-« ist die dominante Partikel der modernen Philosophie, ihre regelrechte »chemische Formel«. Quentin Meillassoux56

Seit der Kritik am sprachlichen Repräsentationalismus sowie der weitreichenden Kritik an der Diskurstheorie durch den relationalen Materialismus bei Haraway, Latour, Bennett und Barad hat sich das Feld des so genannten material turn noch weiter ausgedehnt. Wenn Kijan Espahangizi und Barbara Orland in ihrem Sammelband Stoffe in Bewegung. Zu einer Wissensgeschichte der materiellen Welt (2014) am kleinsten gemeinsamen Nenner dieser vielfältigen Positionen festhalten, das nämlich Materialität nicht mehr als autonom und von der Gesellschaft abgelöst gedacht werden kann, dann scheint selbst diese vermeintliche Konstante im Zuge der immer weiter wuchernden spekulativen Realismen und der object oriented ontologies mit ihrer scharfen Kritik an einer bedingungslosen Relationalität von Materie und an Netzwerklogiken nicht mehr haltbar zu sein.57 Im Zentrum des objektaffinen und antirelationalen Denkens aus dem Lager des spekulativen Realismus steht zweifelsfrei Quentin Meillassouxs spekulative Kritik des Korrelationismus. Unter diesem Begriff fasst Meillassoux in seinem mittlerweile kanonisch gewordenen Werk Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz (2013) das in der abendländischen Philosophie immer noch nicht überwundene kantische Erbe eines reflexiven Subjekt-Objekt-Verhältnisses, das den strukturalistischen und poststrukturalistischen Versuchen ihrer Dezentrierung zum Trotz nach wie vor erstens vom Subjekt her denkt und zweitens die Modi des Denkens

56 57

Zum Begriff des verteilten Handelns vgl. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 76-88. Quentin Meillassoux: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Berlin 2008, S. 19. Vgl. Kijan Espahangizi/Barbara Orland: Pseudo-Smaragde, Flussmittel und bewegte Stoffe. Überlegungen zu einer Wissensgeschichte der materiellen Welt, in: dies. (Hg.): Stoffe in Bewegung. Beiträge zu einer Wissensgeschichte der materiellen Welt, Zürich 2014, S. 11-38, hier S. 22.

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und des Seins niemals unabhängig voneinander begreift.58 Meillassoux polemisiert, dass jede Philosophie, die nicht naiver Realismus ist, seit Kant zu einem Korrelationismus geworden sei. Während bis Kant die wesentlichen Probleme der Philosophie sich um die Frage nach der Substanz drehten, kreise die neuzeitlich-moderne Fragestellung um die Relation zwischen den Relata Substanz und Subjekt, Noesis und Aisthesis usw.: Der Korrelationismus besteht in der Zurückweisung aller Versuche, die Sphären der Subjektivität und der Objektivität unabhängig voneinander zu denken. Man muss nicht nur behaupten, dass wir niemals einen Gegenstand »an sich« unabhängig von seiner Beziehung zum Subjekt, begreifen können, sondern auch, dass wir niemals ein Subjekt erfassen können, das nicht immer-schon in Beziehung zu einem Gegenstand steht.59 Nach Meillassoux ist ein korrelationistisches Denken nicht in der Lage, etwas zu denken, das dem Denken äußerlich ist. Als ein anschauliches Beispiel dafür könnte Kants Ding an sich fungieren, das uns immer nur in seiner Erscheinung, also nur als ein gedachtes Ding zugänglich ist. Der französische Philosoph ist der Überzeugung, dass mittels eines spekulativen Zugangs ein Denken möglich sei, das etwas anderes als sich selbst denken könne. Es geht Meillassoux jedoch nicht darum, Menschenunmögliches zu denken, sondern um die Möglichkeit eines dezentrierten Denkens, das nicht immer nur auf sich selbst verweist. Denn das subjektzentrierte Denken habe die Tendenz, sich durch reflexive Schleifen nur in sich selbst zu bewegen, wodurch ihm Kontingenz und die Möglichkeit einer subjektunabhängigen Materie verschlossen blieben. Entgegen der newtonschen Mechanik geht Meillassoux davon aus – bzw. versucht ausgehend vom Necessitäts-Schluss60 zu beweisen –, dass sich Materie jederzeit anders verhalten und ihre Regelhaftigkeit abwerfen könne, da es keinen hinreichenden Grund für die Kausalität und Stabilität der Welt gäbe: Wir werden nach und nach entdecken, dass das nicht-kausale Universum genauso kohärent ist wie das kausale Universum, genauso in der Lage wie Letzteres, über unsere gegenwärtigen Erfahrungen Rechenschaft abzulegen; darüber hinaus werden wir herausfinden, dass es ein von den der physikalischen Notwendigkeit anhaftenden Rätseln befreites Universum ist.

58 59 60

Vgl. Meillassoux: Nach der Endlichkeit. Ebd., S. 18. Vgl. ebd. S. 128.

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Anders gesagt, wir werden nichts verlieren, wenn wir von einem kausalen zu einem nicht-kausalen Universum übergehen, nichts außer Rätsel.61 Der zentrale Ansatz ist es, dass die Beständigkeit der Naturgesetze, die sich jeden Tag aufs Neue phänomenal feststellen lassen, nicht die Widerlegung der Kontingenz ist, sondern möglicherweise Teil eines nicht notwendigen kosmologischen Geschehens. Seiner Philosophie liegt das Vorhaben zu Grunde, ein Denken der Notwendigkeit und der Kausalität zu verabschieden. Den bereits skizzierten Positionen nicht unähnlich, nimmt sich Meillassoux vor, die Subjekt-Objekt-Relation nicht mehr vom Subjekt aus zu denken, indem er in Abgrenzung zur subjektiven Reflexion nach anderen spekulativen Szenarien des Denkens sucht. Dafür findet er Beispiele, vor allem in den ästhetischen und poetischen Milieus der SF bzw. der Extro-Science-Fiction (XSF). Anhand einiger literarischer Beispiele arbeitet Meillassoux den Unterschied heraus zwischen einer in letzter Konsequenz Regeln befolgenden Natur, die die bekannten Gesetzmäßigkeiten in die antizipierte Zukunft bloß extrapoliert (SF), und einer Natur, die die uns bekannten Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzt (XSF).62 Nicht die Natur und ihre Objekte bzw. Entitäten sollen sich so an den Verstand des Subjekts richten, sondern andersherum. Dabei betont Meillassoux die Anzestralität der Objekte. Damit meint er ein materielles Sein vor dem bewussten Sein.63 Es geht ihm somit weder um die Welt als Erscheinung, die unerkennbar bleibt, noch um eine Rückkehr zu einer metaphysischen Notwendigkeit oder causa sui. Kontingenz ist nach Meillassoux das einzig Notwendige im Kosmos, das jedoch selbst kein Seiendes ist. Diese Kontingenz wird vor allem von H.P. Lovecraft und seiner ästhetischen Spekulation mit Alienstoffen vorgenommen, denen ich im kommenden Kapitel nachspüren werde. Während Objekte bei Meillassoux einem wahrnehmenden Subjekt den Zugang verweigern, hebt der Denkverwandte Graham Harman in seiner

61 62

63

Ebd., S. 126. Vgl. Quentin Meillassoux: Science-Fiction und Fiktion außerhalb der Wissenschaft, in: Armen Avanessian/Björn Quiring (Hg.): Abyssus Intellectualis. Spekulativer Horror, mit einer Einl. v. Armen Avanessian, Berlin 2013, S. 125-168. Eine ausführliche Besprechung der beiden Typen findet sich in dem Artikel: Felix Laubscher: To Jupiter and beyond … Stanley Kubricks »2001: A Space Odyssey« – eine Fiktion außerhalb der Wissenschaft, in: Kathrin Busch/Georg Dickmann/Maja Figge/ders. (Hg.): Das Ästhetisch-Spekulative, Paderborn 2021, S. 155-178. Vgl. Meillassoux: Nach der Endlichkeit, S. 13-47.

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objektorientierten Ontologie die Subjekt-Objekt-Spaltung auf, indem er allen Entitäten der Welt den Objekt-Status verleiht und sich entsprechend den Objekt-Objekt-Verhältnissen widmet. Sein Grundsatz besteht darin, Objekte aus sämtlichen Wahrnehmungs- und Kausalbeziehungen herauszudestillieren, denn die Philosophie habe sich zu lange mit der SubjektObjekt-Beziehung beschäftigt. Es sei eine Beschäftigung, die von Kant über die Phänomenologie bis zur Dekonstruktion ausschließlich zugunsten des Subjekts ausgefallen sei. Mit dieser These ist er folglich in guter Gesellschaft mit Meillassoux. Für Harman hat das Objekt zwei Seiten: eine sinnliche Seite, die dafür da ist, mit anderen Objekten in Kontakt zu treten, und eine reale Seite, die unerkannt bleibt, weil sie sich allen Relationen und Bezugnahmen verschließt. Um seinen Objektbegriff zu exemplifizieren, wählt Harman im Anschluss an Arthur Stanley Eddington das Modell des dritten Tisches: Neben dem Tisch des Alltäglichen gibt es den dazu in Konkurrenz stehenden ›wissenschaftlichen Tisch‹. Beide sind für Harman Ergebnis von reduktionistischen Prozessen und vor allem das Ergebnis der großen Trennungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Der reale (dritte) Tisch steht genau zwischen den beiden und ist ein »Zwischenwesen, das man weder in der subatomaren Physik noch in der Humanpsychologie findet, sondern in einer Zone, wo die Dinge einfach sie selbst sind«.64 Dieses An-sich-Sein des Tisches findet sich nach Harman singulär in der Kunst, verstanden als ein poetisches Objekt, das sich nicht aktualisieren lässt und damit in seiner Virtualität verbleibt.65 Der ›schizophrene Tisch‹ Michauxs kann exemplarisch für eine sich so verhaltende Materie stehen. Folglich könne man laut Harman Kunstobjekte lieben, jedoch nicht hermeneutisch bzw. phänomenologischreduktionistisch durchdringen.66 Meillassouxs Ansatz verschiebend, konzentriert sich Harman damit nicht auf die Gräben zwischen Subjekt und Objekt bzw. einer dem Subjekt vorgängigen Anzestralität der Objekte, sondern auf die Gleichzeitigkeit von Präsenz und Abwesenheit der Objekte – seien sie belebt oder unbelebt.67 Er flankiert damit insofern Meillassouxs Ansatz, als er die Objekt-Objekt-Beziehung in das Zentrum seines Denkens stellt. Die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Präsenz und Entzug der Objekte ist

64 65 66 67

Graham Harman: The third table = Der dritte Tisch, Ostfildern 2012, S. 24. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. Graham Harman: Guerilla Metaphysics, Chicago 2005, S. 20.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

zentral für Harmans Ansatz, da dadurch etwas Seltsames zu Tage tritt, das er als ein Mehr-als-Objekt definiert.

1.4

Stoff statt Materie

Obwohl Espahangizi und Orland sich, wie es die skizzierten Positionen der object oriented ontology (OOO) zeigen, bezüglich eines kleinsten gemeinsamen Nenners neuer Theorien der Materialität irren, ist die Beobachtung, dass die materielle Kultur in der gegenwärtigen Forschung wesentlich als Ding- oder Objekt-Kultur gedacht wird, vor dem Hintergrund der Theorien von Meillassoux und Harman, aber auch zum Teil Latours Ansatz, richtig. Obwohl sich diese Positionen von dem anthropozentrischen Agens des Subjekts abwenden, können sie dennoch nur Verdinglichtes erfassen, so Espahangizi und Orland.68 Wenn man die zentralen Operatoren der OOO aufruft, wie z.B. die Anzestralität von Objekten, wird deutlich, dass es sich vornehmlich um Dinge und Objekte handelt, die in klar abgrenzbarer Form begriffen werden und nicht in einer subtileren – stofflichen – Form.69 Die Ding- und Objektzentriertheit würde nach Espahangizi und Orland die Frage nach der Stofflichkeit aufschieben und diese so verwischen, denn: »Stofflichkeit äußert sich nicht nur in Persistenz, sondern auch im Wandel; diese grundlegende Binarität ist aller Stofferfahrung eingeschrieben.«70 Jens Soentgens Minimaldefinition des Stofflichen in seiner Studie Das Unscheinbare (1997) unterstützt die Unterscheidung bzw. die Problematisierung der Binarität von Dingen und Stoffen: »Die Existenz eines Stoffes weist nicht die dieselbe Geschlossenheit auf, wie die Existenz eines Dinges.«71 Dinge werden vor allem als eindeutig abgegrenzte Entitäten wahrgenommen, während Stoffe vielmehr einer eindeutigen Identifizierung entgleiten. Sie lassen sich nicht ohne weiteres beseitigen, da sie keine klar zu identifizierbaren Seiten haben und damit auch keine eindeutige Form, die sie zu klaren umgrenzten Dingen machen könnte.72 Auch wenn Stoffe konkret sind wie Dinge oder Objekte, unterscheiden 68 69 70 71 72

Vgl. Kijan Espahangizi/Barbara Orland: Vorwort, in: dies.: Stoffe in Bewegung, S. 7-10, hier S. 9. Vgl. ebd. Espahangizi/Orland: Pseudo-Smaragde, S. 19. Jens Soentgen: Das Unscheinbare. Phänomenologische Beschreibungen von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden, Berlin 1997, S. 90. Vgl. Espahangizi/Orland: Pseudo-Smaragde, S. 18.

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sie sich doch in ihrer Gestalt. Wie Espahangizi und Orland nachdrücklich betonen, könne man Dinge abzählen, Stoffe jedoch nur portionieren.73 Stoffe sind somit assimilierbar und inkorporierbar. Sie können unterschiedliche Aggregatzustände annehmen und durch ihre Nichtlokalität an mehreren Orten gleichzeitig auftreten, während Dinge an ihre Raum-Zeit-Position in der Welt gebunden sind. Solche nicht klar geränderten Entitäten, deren Ausdehnung bzw. Transitivität und Permeabilität über subjektiv wahrnehmbare Kategorien von Raum und Zeit hinausgehen, bezeichnet Timothy Morton als Hyperobjekte.74 Morton verwendet in seiner Theorie den Begriff des Objekts, und dennoch meint er damit eine Prozesshaftigkeit und Stofflichkeit von Materie und keine identitär abgegrenzte Einheit. Denn Hyperobjekte sind assemblierte, viskose und relationale Entitäten, deren massive und globale Ausdehnung über die Vermögen der subjektiven Wahrnehmung hinausgehen. Sie breiten sich wie Stoffe diffundierend in Raum und Zeit aus.75 Morton hat mit diesem Begriff Klimaphänomene, kosmische Ereignisse, Rohstoffzirkulationen oder radioaktive Strahlung im Sinn. Obwohl wir sie als Einzelsubjekte nicht in Gänze wahrnehmen können, drängen sich uns Hyperobjekte jedoch paradoxerweise durch Phänomene wie Klimakatastrophen, Müll in den Meeren oder durch die zerstörerischen Eigenschaften der nuklearen Strahlung auf, weil, wie Morton schreibt, sie nicht auf wundersame Weise von der Erde verschwinden: »The clue ist hat hyperobjects, such as global warming and plutonium, never leave us alone«.76 Das heißt, einerseits übersteigen sie unsere Wahrnehmung unendlich und andererseits haften sie irreduzibel an uns, durchsetzen und durchfluten unsere Körper und erzeugen dadurch ein ambivalentes Distanz-Nähe-Verhältnis. In diesem Spannungsfeld strapazieren sie auch eine idealistische Konzeption der Natur als Spiegel des menschlichen Geistes und sind nach Morton wesentlich ausgezeichnet durch Relationalität und Interobjektivität.77 Hyperobjekte sind Indikatoren für die Interobjektivität von Materie, wodurch Intersubjektivität nur ein anthropozentrischer

73 74 75 76 77

Vgl. ebd. Vgl. Timothy Morton: Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis/London 2013. Vgl. Timothy Morton: Zero Landscapes in the Time of Hyberobjects, in: GAM. Graz Architecture Magazine 7, 2011, S. 79-87, hier S. 80 u. 82. Ebd., S. 81. Vgl. Morton: Hyperobjects, S. 81.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

und ein sehr kleiner Bereich eines größeren inter- oder auch intra-objektiven Zusammenhangs ist.78 Damit ist im Gegensatz zu Meillassouxs Ansatz der Anzestralität der Objekte nicht etwas gemeint, das der Intersubjektivität historisch vorgängig ist, sondern ein kopräsentes Geflecht, das Morton als mesh79 bezeichnet: Meshes are potent metaphors for the strange interconnectedness of things, an interconnectedness that does not allow for perfect, lossless transmission of information, but is instead full of gaps and absences. When an object is born it is instantly enmeshed into a relationship with other objects in the mesh. Heidegger calls this mesh the contexture of equipment, a term that has roughly the same metaphorical provenance. Ontologically speaking (from the standpoint of OOO), the mesh does not subtend things, but rather it floats »on top of« them, »in front of« things.80 Hyperobjekte sind Netze aus Objekten und somit nicht lokal, da man aufgrund der Beschränkungen unseres Wahrnehmungsvermögens nur Teile ihrer Ausformung vorfindet. Das zweite Axiom der Hyperobjekte ist die Viskosität. Die Klebrigkeit der Hyperobjekte stört fundamental das Subjekt-Objekt-

78 79

80

Vgl. ebd. Ebd., S. 83. Morton changiert bei der Beschreibung des Geflechts zwischen dem Begriff Objekt und Ding hin und her und verweist dabei wie Harman auf Heideggers Konzept des Zeugzusammenhangs. Irritierend ist, dass Morton gerade diesen Begriff auswählt, um eine Verwandtschaft zwischen Heideggers Denken und seiner Theorie zu markieren. Denn in Sein und Zeit (1927) bestimmt Heidegger das Zeug als etwas, das dem Subjekt dienlich ist. Das Zeug steht dabei in einem funktionalen Zusammenhang für das Subjekt (z.B. der Hammer, um den Nagel in die Wand zu schlagen). Der Zeugzusammenhang Heideggers meint damit eben nicht eine Interobjektivität der Dinge, sondern definiert sich durch den menschlichen Gebrauch – die »Zuhandenheit« für das Subjekt. Erst in seinen späteren Schriften stellt Heidegger Überlegungen über eine Eigenständigkeit und »die Dingheit des Dings« an, die dem ähnelt, was Morton als Hyperobjekt bezeichnet. In seinem Aufsatz Das Ding (1950) begreift Heidegger Dinge als autonome Entitäten, die nicht einfach für uns als Werkzeuge und Erkenntnisobjekte verfügbar sind, passiv und stumm daliegen, sondern uns unmittelbar in ihrer Materialität angehen. Anhand eines Kruges verweist Heidegger darauf, dass das runde Gefäß nicht auf das Vorgestellt-Gegenständliche reduzierbar ist. Vgl. dazu Martin Heidegger: Das Ding [1950], in: ders.: Gesamtausgabe, Abt. 1: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Bd. 7: Vorträge und Aufsätze (1936-1953), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 2000, S. 167-187, hier S. 168. Morton: Hyperobjects, S. 83.

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Verhältnis, in dem sie dem Subjekt anhaftet und dennoch radikal fremdartig bleibt. Das ideologische und romantische Konstrukt eines Subjekts, das die Welt objektiviert, wird von Morton nicht durch eine irreduzible Relationalität ersetzt, sondern gerade durch die Widersprüchlichkeit des Nähe-DistanzVerhältnisses. Anhand der Viskosität des Hyperobjekts deutet sich noch einmal deutlich ihre verflüssigte, also eher stoffliche Dimension an. Was Morton mit dem Begriff des Hyperobjekts versucht zu greifen, ist eigentlich eine Hyperstofflichkeit, die sich mit dem Begriff des Objekts, das auch immer eine Abgrenzung zum Subjekt sucht, nicht mehr erfassen lässt. Die Plastizität, das Fließen, die Unübersichtlichkeit und Mehrdimensionalität ihrer Ausbreitung sowie ihre Diffusionsfähigkeit sind alles Eigenschaften des Stoffes und nicht des Objekts. Weitere Gesetzmäßigkeiten der Hyperobjekte bzw. der Hyperstoffe sind – als drittes und viertes Axiom – Nichtlokalität und zeitliche Dehnung bzw. Quetschung. Bei Hyperobjekten handelt es sich somit um zutiefst paradoxe und nahezu verflüssigte Phänomene. Obwohl sie uns jederzeit und an jedem Ort umgeben sind sie dennoch in der Zeit und im Raum massiv verstreut, so dass wir sie unmöglich als solche wahrnehmen oder erkennen können. Der Grund für dieses Verhalten der Hyperobjekte ist ihre Transdimensionalität, so Morton. Er bezeichnet dieses fünfte Axiom auch als phasing: »Hyperobjects are phased: they occupy a high-dimensional phase space that makes them impossible to see as a whole on a regular three-dimensional human-scale basis.«81 Wir können dadurch z.B. die gestörten ökologischen Kreisläufe nicht erkennen, da sie raumzeitlich verstreut und nur verflüssigt daliegen. Sie entziehen sich damit einer Lokalisierung in der Zweidimensionalität von Raum und Zeit. Nach Morton müssten wir also, um ein ökologisches Denken entfalten zu können, vom subjektiven Beobachtungsstandpunkt auf eine Skala wechseln, die das Dreidimensionale der humanen Wahrnehmung übersteigt: »Phasing is an indexical sign of an object that is massively distributed in a phase space that is higher dimensional than the equipment (our ears, the top of my head, a weather vane) used to detect it.«82 Das schließt unmittelbar an das an, was Karen Barad mit dem Begriff der OntoEpistemologie83 der materiellen Welt beschreibt. Ähnlich wie Karen Barads agentieller Realismus sind auch Mortons Hyerobjekte bzw. Hyperstoffe nur

81 82 83

Ebd., S. 70 (Herv. i.O.). Ebd., S. 77. Vgl. dazu Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007.

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auf relationale Art und Weise denkbar. Ortsgebundenheit ist so nur ein Epiphänomen einer Intraaktivität der Materie, welche die Grenzen zwischen innen und außen sowie zwischen Selbst und Welt unzuverlässig werden lässt.84 Die vermeintlich transzendenten Phänomene wie Klimaveränderung, Strahlung, Evolution oder das Kapital werden so zu diskreten Objekten oder auch zu Stoffen, da man sie in partikularer Form überall in Raum und Zeit gleichzeitig vorfindet.85 Diese raumtheoretische These hat jedoch ebenfalls Konsequenzen für die Zeitlichkeit der Assemblagen einer sich im Werden befindenden Materialität. Wenn jede Begegnung, Interferenz, Überlagerung, Stabilisierung oder Destabilisierung von Materie neue Verbindungen im Raum knüpft, dann können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auch nicht außerhalb dieser Konzeption gedacht werden. Hyperobjekte als assemblierte und vor allem ›stoffliche‹ sowie inter- und intra-objektive Phänomene, die ununterbrochen Begegnungen schaffen, müssen in ihrem phasing auch temporal gedacht werden. Wenn man der radikalen Immanenztheorie des hier skizzierten Materialismus folgen will, dann ist Zeit ebenso wie Raum keine modale Kategorie des Seins, sondern eine Kategorie des Werdens. Materielle Assemblagen befinden sich nicht in der Zeit als Punkte eines modalen und monokausalen Fortlaufens, sondern sie produzieren erst in ihrem Agens und ihrer Valenz so etwas wie Zeitlichkeit. Somit sind Assemblagen, mereologisch betrachtet, nicht als identifizierbare Teil-Ganzes-Verhältnisse vorstellbar, in denen auch Zwischenräume, Löcher und Lücken existieren, sondern nur als Raum-Zeit-Relationen gegenseitiger Hervorbringung und des Aufeinandertreffens. Jede neue Konstellation und Verhaltensweise schafft wieder neue Relationen, Differenzen und Frequenzen zwischen den Entitäten und damit eine Eigenräumlichkeit, die weder im Containerkonzept des Raums aufgeht noch in einem Konzept chronometrischer Zeit.86 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind so Effekte einer emergenten und wesentlich horizontalen Raum-Zeit-Verschränkung. Es gibt nicht Dinge, Objekte und Stoffe in Raum und Zeit, sondern diese werden in intraaktiven Materialisierungsprozessen, in denen die Relata nicht vorher schon definiert sind, erst hervorgebracht. Der in diesem ersten Teil der Arbeit angestellte Versuch, eine Philosophie prekärer Stofflichkeit nachzuvollziehen und zu entwickeln, ist, wie sich zeigt, geprägt von einer begrifflichen Unschärfe. Anhand des Werdegangs, den ich 84 85 86

Vgl. Barad: Agentieller Realismus, S. 40f. Vgl. Morton: Zero Landscapes, S. 84. Vgl. Barad: Agentieller Realismus, S. 90.

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bisher nachzuzeichnen versucht habe, besteht die Unschärfe darin, dass die Begriffe Substanz, Materie und Stoff nicht klar voneinander geschieden werden können. Während der relationale Materialismus Materie als Materialisierung und als Prozesshaftigkeit denken, die sich nicht unabhängig vom Subjekt denken lässt, bestehen die spekulativen Ausformungen von Meillassoux, Harman und Morton auf Materie, die dem Subjekt entweder völlig indifferent gegenübersteht oder sich ihm durch ihren radikalen Entzug aufdrängt. Beide Positionen bilden somit keine Kontrapunkte – oder jedenfalls nicht in Gänze und in Absolutheit. Der Punkt, in dem sie sich treffen, ist, Materie als eine handlungsmächtige und wirkungsvolle Kraft zu begreifen, die im Diskurs allein nicht aufgeht bzw. nicht aufgehoben werden kann. Dabei sind die Unterschiede dieser Theorien als Skala zu verstehen: Es gibt entweder mehr oder weniger an Handlungsmacht und Wirkungskraft von Materie. Damit wird jedoch auch deutlich, dass beide Theoriestränge, obwohl sie den Ansatz einer Wirkung von Materie in Stellung bringen, den Begriff und das Dispositiv des Wirkstoffs dabei nicht vor Augen haben. Eine Theorie des Wirkstoffs bleibt in den Ansätzen des neuen Materialismus latent. In Mortons Theorie der Hyperobjekte zeichnet sich jedoch bereits ab, dass der Begriff des Objekts oder der Begriff der Materie für Phänomene stofflicher Natur nicht mehr hinreichend ist, um eine Agentialität von Stoffen zu erklären. Denn die Agentialität von Materie, so die Annahme hier, wird erst durch den Begriff des Wirkstoffs erklärbar, wodurch sich die Kategorien des Subjekts und Objekts, an denen sich vor allem die Vertreter*innen des spekulativen Materialismus abarbeiten, nicht mehr halten lassen. Es wird im Folgenden darum gehen, die Begrifflichkeit anzupassen, sie fließen zu lassen in Richtung eines Stoffbegriffs, den ich im Bereich des Pharmakologischen verorten möchte. Mit dem Stoffbegriff gelangt auch der Körper stärker in den Fokus dieser Arbeit, mit dem der Wirkstoff in Austausch tritt und ohne den der Wirkstoff wirkungslos bleiben würde. Dafür wird es vor allem anhand einer Re-Aktualisierung und Re-Lektüre aus Sicht einer neu-materialistischen Position darum gehen, den Begriff des Pharmakons als eine mögliche Spielart von agentieller und prekärer Stofflichkeit zu besprechen, die sich erstens nicht nur, im Sinne von Derridas Platon-Lektüre, in einem parasitären Spiel aus Signifikat und Signifikant erschöpft und zweitens auch nicht nur als medizinisches Präparat aufzufassen ist, sondern als etwas, das als ein materiell-diskursives Gravitationsfeld und als eine Assemblage funktioniert, das unterschiedlichste Wirkbereiche und Milieus zusammenzieht. Dabei soll davon ausgegangen werden, dass nicht nur chemische

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

Substanzen und Drogen, ob natürlicher oder synthetischer Herkunft, das einzelne oder kollektive Nervensystem affizieren können, sondern, ausgehend von Avital Ronells Begriff des Tropiums und Paul B. Preciados Untersuchungen zur Gegenwart der Pharmapornografie, auch Literatur, Kunst und Filme auf die gleiche Weise Teil von Subjektivierungsprozessen sein und als wirksame Lesestoffe fungieren können.87

1.5

Gemische und Gemenge

Michel Serres Abhandlung Die fünf Sinne. Philosophie der Gemenge und Gemische (1993) fungiert hier als Öffnung und Auftakt zu einer Agentialität und Plastizität von Stofflichkeit, die kategoriale, rigide und definitorische Versuche, sich dem Stoff zu nähern, radikal in Frage stellt: Reine Stoffe sind mehr als unwahrscheinlich […]. Die Namen der Gemische ändern sich, die Namen der Allianzen. […] Ich umarme dich als Eisen und verlasse dich als Bronze; du umarmst mich als Neusilber und lässt von mir als Vermeil. […] Niemand vermag Verändern anders denn über Gemische zu denken. Wer versuchte, sie über Elemente zu denken, der stieße nur auf Wunder, Sprünge, Mutationen und Auferstehungen bis hin zur Transsubstantiation.88 Wenn Serres also behauptet, dass es nichts außerhalb des Gemischten gibt, dann bezieht er damit auch die Wechselbeziehungen zwischen Stoffen und Körpern in seine Überlegungen mit ein. Das hybride Gemenge sei die elementare Form der materiellen Welt, während das taxonomisch geordnete und Geschiedene nach Serres zum Ausnahmefall wird. Die Unentscheidbarkeit der Übergänge zwischen den Entitäten steht im Vordergrund seiner Sinnestheorie. Auch der Stofftheoretiker Jens Soentgen betont, dass Materien und Stoffe dazu tendieren, sich zu mischen: »[S]ie sind nicht nur keine neutralen 87

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Vgl. Paul B. Preciado: Testo Junkie. Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornografie, Berlin 2016, S. 426. Siehe dazu auch z.B. Johannes Türks Untersuchung zu der Immunität von Literatur, in der er systematisch das literarische Wissen der Literatur nachverfolgt und dabei herausarbeitet, dass die Rezeption von Literatur eine Strategie der Immunisierung gegen die Zumutungen der Welt sein kann. Johannes Türk: Die Immunität der Literatur, Frankfurt a.M. 2011. Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemische und Gemenge, Frankfurt a.M. 1998, S. 26.

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Massen, die wir unseren Handlungsplänen in der einen oder anderen Weise einspannen können, sondern aktive Einheiten, die aus sich heraus produktiv sind.«89 Wie Barbara Orland dies unterstützend argumentiert, können gebräuchliche Komposita wie Wertstoff, Rohstoff, Nährstoff, Stoffwechsel oder der Wirkstoff, der für diese Arbeit von zentraler Bedeutung ist, entsprechend nicht auf der Ding- bzw. Objektebene lokalisiert werden. Sie verweisen einerseits auf eine Pluralität der materiellen Welt und andererseits – mit Timothy Morton gesprochen – auf eine hyperobjektive bzw. hyperstoffliche Welt, die sich nicht in abzählbaren, quantifizierbaren Entitäten erschöpft, sondern eine dynamische Ökologie darstellt, die einer einfachen Lokalisierung entgleit.90 Die im 18. Jahrhundert aufkommende Wissensfigur des Stoffwechsels, die eine Ökologie des Kreislaufs, des Austauschs und des Transits sowohl in Bezug auf den Einzelorganismus als auch auf den Kollektivkörper der Gesellschaft bis heute im Spiel hält, ersetzt ein statisches Materiewissen durch Transformation, Mobilität, Zirkulation und einen Metabolismus, der Natur, Kultur, Mensch und Umwelt in einen Austausch bringt.91 Insbesondere das Kompositum Wirkstoff in seiner entgrenzt-dynamischen Textur und als Gewebe, das Mischungsverhältnisse zulässt und eine inhärente Fluidität gegenüber dem Ding aufweist, ist ein zentraler Operator dieses dynamischen Verhältnisses. Gemeinhin können alle Stoffe, die eine physiologische Wirkung entfalten oder im Organismus spezifische Reaktionen hervorrufen, als Wirkstoffe begriffen werden. Insbesondere wird der Begriff in der Pharmazie und in der Biologie gebraucht. Dazu gehören jedoch auch Lebensmittel und damit verbundene Metabolismusprozesse sowie Kosmetika. Darüber hinaus umfassen ebenso immunologische Mechanismen den Wirkstoffbegriff. Eine beein-

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Jens Soentgen: Stoffe, in: Helmar Schramm/Jan Lazardzig/Michael Lorber (Hg.): Spuren der Avantgarde: Theatrum Alchemicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin 2017, S. 198-319. Dazu vor allem Viola Balz/Alexander von Schwerin/Heiko Stoff/Bettina Wahrig (Hg.): Precarious Matters/Prekäre Stoffe. The History of Dangerous and Endangered Substances in the 19th and 20th Centuries, Berlin 2008; oder auch spezifischer zum Wirkstoffbegriff: Heiko Stoff: Wirkstoffe. Regulatoren des Leistungsbetriebes. Eine Geschichte der Institutionalisierung, Standardisierung, Aktivierung und Prekarisierung der Hormone, Vitamine und Enzyme, 1920-1970, Stuttgart 2012. Vgl. dazu Barbara Orland: Die Erfindung des Stoffwechsels. Wandel der Stoffwahrnehmung in der Naturforschung des 18. Jahrhunderts, in: Espahangizi/dies.: Stoffe in Bewegung, S. 6994.

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druckende Studie zur Geschichte des pharmazeutischen Wirkstoffs hat Heiko Stoff vorgelegt und diesen als Schnittstelle von Experimentalsystemen, wissenschaftlich-industriellen Forschungsnetzen und den wandelnden Körperkonzepten herausgearbeitet. In Wirkstoffen seien, so Stoff, epistemische, technische und pharmaindustrielle Waren und zugleich wirkungsmächtige Metaphern am Werk. Anhand des Stoffs werde deutlich, dass die Geschichte von Vitaminen, Enzymen und Hormonen von Beginn an mit politischen, ökologischen und sozialen Fragen verknüpft ist: Die Geschichte der Wirkstoffe ist die der Institutionalisierung, Standardisierung, Aktivierung und Prekarisierung leistungsstarker, in kleinsten Mengen wirksamer, in Bezug auf die Behebung von Mangelzuständen, Mangelsituationen und Mangelkrankheiten etablierter chemischer Agentien zur biologischen Regulierung leistungsfähiger Körper.92 Vor dem Hintergrund der emporsteigenden Möglichkeiten für die Regulierung, Leistungssteigerung und Optimierung aufgrund des Einflusses von Wirkstoffen verweist vor allem der Begriff des Prekären auf die biopolitische Dimension der anbrechenden Moderne, da es sich einerseits um gefährdende und andererseits um gefährdete Materien handelt, die den Kollektivkörper steuern und ihn beeinflussen. Wirkstoffe wie Arzneimittel, Gifte, Psychotropen und Isotope zeichnen sich so durch eine Reihe von schillernden Eigenschaften aus: Uneindeutigkeit, Ambivalenz, Instabilität und Fragilität sind zentrale Merkmale von Prekarität. Sie sind sowohl Erkenntnisgegenstand der Lebenswissenschaften als auch Mittel der experimentellen und medizinisch regulierenden Manipulation von lebenden Körpern und Organismen.93 Paul Preciado kommt in seiner Auseinandersetzung mit den Kontrollmechanismen des Pharmakologischen insofern zu ähnlichen Ergebnissen, als er die These formuliert, dass Biomacht nicht nur mit disziplinarischer Härte von außen zuschlägt, sondern mit einer intimen, kleinen, verflüssigten und kontrollgesellschaftlichen Form operiert, die nicht mit institutionellem Zwang, sondern vor allem mit Privatheit und Freiheit auf die Einzel-, aber auch auf die Kollektivkörper einwirkt.94 Die Regulierung der Körper vollzieht sich dann wie ein, aber auch als Molekül oder Hormon,

92 93 94

Stoff: Wirkstoffe, S. 11 Vgl. dazu Bettina Wahrig/Heiko Stoff/Alexander von Schwerin/Viola Balz: Precarious Matters. An Introduction, in: Balz u.a.: Precarious Matters, S. 9-14, hier S. 9f. Vgl. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 261.

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das sich an die Immunsysteme der Bevölkerung heftet, um sie von innen zu regieren.95 Somit kommen chemischen Agenzien zwielichtige Aufgaben bei der Erzeugung von Wissen zu. Mit Rheinberger ließe sich aussagen, dass sie als Wissensobjekte ihre Funktion in experimentellen Systemen zwischen epistemischen und technischen Dingen finden, die nicht unabhängig von den Techniken, Praktiken und Institutionen, aber auch von den Aussagesystemen existieren, die sie hervorgebracht haben. Experimentalsysteme sind die eigentlichen Arbeitseinheiten der gegenwärtigen Forschung. In ihnen sind Wissensobjekte und die technischen Bedingungen ihrer Hervorbringung unauflösbar miteinander verknüpft. Sie sind zugleich lokale, individuelle, soziale, institutionelle, technische, instrumentelle und, vor allem, epistemische Einheiten. Experimentalsysteme sind also durch und durch mischförmige, hybride Anordnungen.96 Wenn man sie an Rheinbergs Definition anschließend und im Sinne Serres und Latours als Quasi-Objekte begreift, sind Wirkstoffe in ein Experimentalsystem eingespannt, dessen Versuchsanordnung so angelegt ist, dass nicht klar ist, ob es letztlich eine Wirklichkeit dieses oder jenes Wirkstoffes gibt. Denn solange die getesteten Substanzen sich im Labor befinden, haben sie einen virtuellen Status. Wie Latour betont, gibt es im biochemischen Experiment zunächst nur Effekte, Spuren und »Eigenschaften auf der Suche nach der Substanz, deren Eigenschaft sie sind.«97 Die Prekarität der Stoffe besteht demnach erstens in ihrer Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit, zweitens im Spiel ihrer Wirkung im und mit dem Körper, also zwischen nützlich und damit gesund auf der einen Seite und gefährlich und unkontrollierbar auf der anderen. Drittens – und das ist zentral für diese Arbeit – erzeugt die Offenheit, Ambiguität und Unabgeschlossenheit prekärer Stofflichkeit eine enorm hohe semiotische und ästhetische Energie und damit auch ein Gravitationsfeld für Fiktionen, Narrative und mediale Phantasmen. Real existierende und virtuelle, vorexistente Stoffe sind Wissensobjekte der Chemie, Biologie, der Pharmakologie und der Wissenschaftshistorie, gleichzeitig werden sie literarische und ästhetische Wissensobjekte zahlreicher Essays, autobiografischer

95 96 97

Vgl. Preciado: Testo Junkie, S. 381. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 8. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 144.

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Erfahrungsprotokolle und fiktiver und vor allem, wie ich zeigen werde, fantastischer Texte. Stoffe sind somit nicht nur Gegenstände der harten Wissenschaften, sondern sie schreiben Geschichten und befragen die Verschränkungen und Wechselwirkungen von wissenschaftlichen und ästhetischen Milieus. Wie Irmela Marei Krüger-Imhof bezüglich des Verhältnisses von Medizin und Literatur betont, besitzen diese vermeintlich disparaten Wissensordnungen einen gemeinsamen Code oder auch, mit Stephen Greenblatt ausgedrückt, »eine Reihe ineinander verschränkter Tropen und Ähnlichkeiten, die nicht nur als Gegenstände, sondern auch als Bedingungen der Darstellung fungieren.«98 Diese Aussage unterstützend, arbeitet Joseph Vogl bezüglich Foucaults methodischer Arbeit Archäologie des Wissens eine Wissenspoetik heraus, die mit dem Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich auch ihre Form und ihre Inszenierung entstehen lässt.99 Stoffkreisläufe prägen seit der Industrialisierung die Wissensgesellschaft und sind die Grundlage der Wertschöpfung westlicher Gesellschaften. In diesem Sinne ist sowohl der Alltag als auch das Arbeitsleben von Stoffen bestimmt, wodurch sie, wie es Jens Soentgen beschreibt, auch Teil von Erzählungen und Fiktionen werden.100 Darin spiegelt sich ebenso eine postfordistische Situation wider, die in die kapitalistische Konsumtionssphäre nicht nur rein materielle Zirkulationen integriert, sondern auch künstlerische. Die Sphäre der Stoffkreisläufe ist somit ebenso die der Zeichenzirkulation, wodurch Produkte der Chemie sowie kulturelle und fiktionale Erzeugnisse Kurzschlüsse erzeugen, die zu materiell-semiotischen Verschränkungen führen.

1.6

Die Narkoanalyse

In der Struktur der Prekarität der Wirkstoffe und ihrer ästhetischen und materiell-realen Kreisläufe hallt, so bereits angedeutet, das Vexierspiel zwischen Gift und Heilmittel als Pharmakon nach. Eine Auseinandersetzung mit wirksamen und biopolitisch aktiven Stoffen der SF und der Philosophie führt folg-

Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990, S. 85. Vgl. auch Irmela Marei Krüger-Imhof: Vernetzte Körper. Zur Poetik der Transplantation, in: Jürgen Barkhoff/Hartmut Böhme/Jeanne Riou (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Böhlau 2004, S. 107-126. 99 Vgl. Joseph Vogl: Einleitung, in: ders: Poetologien des Wissens um 1800, S. 7-18, hier S. 13. 100 Vgl. Jens Soentgen: Geschichten über Stoffe, Berlin/Hildesheim 2005, S. 14. 98

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lich an philosophischen Konzepten des Pharmakons und des Pharmakologischen nicht vorbei. Als ein prekärer Wirkstoff soll das Pharmakon abseits der rein literatur- und sprachtheoretischen Ansätze Derridas auch mit Donna Haraway als ein materiell-semiotischer Akteur und Erzeugungsknoten verstanden werden, in dem »das Textuelle, das Technische, das Mythische/Ornische, das Organische, das Politische und das Ökonomische«101 sich begegnen und vielfältige Verschränkungen eingehen, die sich jedoch nicht als machtfreier Raum, sondern vielmehr als ein umkämpftes und sich ständig im Wandel befindendes Plateau begreifen lassen. So können die Zirkulationen, Ökologien und Widersprüche des Pharmakons mit Haraway als eine Techno-Alchemie aufgefasst werden, die einerseits Möglichkeiten zu eröffnen vermag und andererseits auch Grenzen einziehen kann, um Herrschaftsverhältnisse wieder herzustellen: Aus einer Perspektive könnte die [Techno-Alchemie] dem Planeten ein endgültiges Koordinatensystem der Kontrolle aufzwingen […]. Aus einer anderen Perspektive könnte die [Techno-Alchemie] gelebte soziale und körperliche Wirklichkeit bedeuten, in der niemand mehr seine Verbundenheit und Nähe zu Tieren und zu Maschinen zu fürchten braucht […]. Der politische Kampf besteht darin, beide Blickwinkel zugleich einzunehmen, denn beide machen sowohl Herrschaftsverhältnisse als auch Möglichkeiten sichtbar, die jeweils aus der anderen Perspektive unvorstellbar sind. Einäugigkeit führt zu schlimmeren Täuschungen als Doppelgesichtigkeit oder medusenhäuptige Monstren.102 Im Folgenden wird es also nicht darum gehen, das Konzept des Pharmakons präzise und hinreichend ausgehend von der Forschungslage zu rekonstruieren, sondern philosophische Konzepte des Stoffes bzw. des Pharmakologischen zu untersuchen, die bisher in der Forschung unterbelichtet geblieben sind und vor dem Hintergrund der SF so wie der bereits skizzierten neu-materialistischen Konzeptionen die politischen, ontologisch-erkenntnistheoretischen und ästhetischen Gifte und Heilmittel aufzuspüren, die sich nicht als gereinigte Destillate oder Essenzen verhalten, sondern als unreine Mischungen und als monströse Hybride. Das Pharmakon als ein Signifikant ist eine unentschiedene Entität, die mehrere Bedeutungen in sich trägt und sich sowohl einer Bedeutungseinfalt 101 Haraway: Die Neuerfindung der Natur, S. 141. 102 Ebd., S. 40.

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als auch der klassisch aristotelischen Substanzdefinition als Hyle widersetzt. Das Pharmakon besitzt nach Jacques Derridas Definition, die hier vorangestellt sei, kein festes Wesen und keine ideale Identität. Sie ist, wie Derrida weiter ausführt, »aneidetisch«,103 also nicht den Gesetzen der Binarität von Form und Materie folgend: also weder eine atomistische Identität noch etwas Zusammengesetzes, sondern die vorgängige Mitte und ein gehaltenes Dazwischen, das Derrida in seinen späteren Schriften auch als chôra104 – als die Amme allen Werdens – bezeichnet. Das Pharmakon ist somit eine unsaubere Mischform, ein Gemenge aus logos und mythos, aus dem Intelligiblen und dem Sinnlichen, das durch eine strukturelle Offenheit gekennzeichnet ist: Das pharmakon wäre eine Substanz, mit allem, was dieses Wort wird konnotieren können, nämlich für okkulte Mächte geeigneter Stoff, die kryptisch verschlossene Tiefe, die der Analyse ihre Ambivalenz nicht preisgibt und bereits den Raum der Alchimie vorbereitet, wenn wir nicht weiter unten dahin kommen sollten, sie als die Anti-Substanz schlechthin anzuerkennen: als das, was jedem Philosophen widersteht, was als Nicht-Identität, NichtWesen, Nicht-Substanz endlos darüber hinaus geht und ihr gerade dadurch die unerschöpfliche Gegenwendigkeit ihres Fundus und ihres Mangels an Tiefe verschafft.105 Derrida bezeichnet diese fundamentale Indifferenz auch als ein BastardDenken, das nicht auf einen Ursprung verweist, sondern immer schon eine

103 Jacques Derrida: Platons Pharmazie, in: ders.: Dissemination, Wien 1998, S. 69-190, hier S. 141. 104 Um diesen Begriff einzuführen, weist Derrida darauf hin, dass es zunächst um die Frage geht, wie wir ü ber dieses Wort sprechen, und dass es sicherlich relevant ist, ob wir von der chôra oder von chôra reden. Er betont insbesondere die Lesart ohne den bestimmenden Artikel, da es sich wie bereits angedeutet um eine Entität handelt, die sich gerade einer definitiven Bestimmung entzieht: »Es gibt chôra – die chôra aber existiert nicht.« Jacques Derrida: Chora, Wien 1990, S. 24. Diesem Gedanken geht Derridas Theorie der differance voraus, welche jegliche Präsenz des Sinns oder auch eine Definition, welche den Sinn auf eine Bedeutung festlegt, verwirft. Platons chôra als das nicht Identische und Ununterscheidbare scheint mit Derridas differance zu korrespondieren, da Platon genau wie Derrida die Unmöglichkeit einer Festlegung auf eine Bedeutung oder eine Funktion starkmacht. Genau wie Derrida fordert Platon die binäre Logik heraus, indem er chôra jenseits von kategorialen Oppositionen positioniert. Beide Denker betonen den Zwischenraum, der sich verstandesmäßig nur schwierig fassen lässt. 105 Derrida: Platons Pharmazie, S. 78.

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hygienische Reinheit der Gattung und des Seins unterläuft.106 Das Pharmakon wird so zu einem Gemenge aus disparaten Entitäten, die sich nicht auf eine Identität reduzieren lassen. Es problematisiert eine strenge Gattungszugehörigkeit, indem es in mehreren Registern gleichzeitig spielt und damit, wie Derrida in Bezug auf die Gattung feststellt, einen »klassifikatorischen Taumel«107 auslöst. Als ein Spiel mit dem Schein sowie ein Spiel mit der radikalen Unbestimmtheit und der Uneigentlichkeit ist das Pharmakon nach Derrida ausgehend von Platon einerseits ein medizinisches und andererseits ein textuelles und diskursives Phänomen, das auch in seinen späteren Schriften bis ins Politische hineinreicht.108 Primär beschäftigt sich Derrida mit dem Pharmakon als einem Phänomen der Schrift. Die Frage nach der Schrift ist für Derrida eng an die Frage nach der Droge geknüpft. Schrift sei eine uneigentliche und verfälschende Form des Sprechens: »Die Schrift ist die Verantwortungslosigkeit selbst […]. Die Schrift ist nicht nur Droge, […] sie ist ein schlechtes Spiel, wenn sie nicht mehr von der Sorge um die philosophische Wahrheit gelenkt wird.«109 Ohne hier auf den vielfältigen und kaum überschaubaren Forschungskonnex zu diesem Begriff einzugehen, soll nur festgehalten werden, dass dem Pharmakon eine unreine Polysemie zu Grunde liegt, die sich je nach Kontext wandelt und Gesetzen der Mehrwertigkeit unterliegt. Denn als Gift ist es toxisch, lähmend und letal. Als Arznei und in der richtigen Dosierung gilt es als ein Heilmittel. Derrida bezeichnet die Ambiguität des Pharmakons auch als eine parasitäre Schwellensubstanz, die Droge, Heilmittel, Gift und Zaubertrank zugleich sein kann. Darüber hinaus kann das Pharmakon, so wie es Platon beschreibt, eine Vielzahl anderer Dinge sein, wie Bildfarbe, Malerpigment, Kosmetik, Parfüm, magischer Talisman oder auch entspannendes Rauschmittel. Auf diese Weise kann nach Derrida »[d]as schlechte pharmakon […] stets das gute pharmakon befallen […]. Dieser Befall von Parasiten ist zugleich zufällig und wesentlich.«110 Von Platon wird das Pharmakon als eine Schrifttechnik mit dem Adjektiv künstlich herabgestuft. Er polemisierte damit gegen die gedächtniszerstörende Schrift. Diesen Aspekt kritisiert Derrida in Platons

106 Vgl. ebd., S. 170. 107 Jacques Derrida: Das Gesetz der Gattung, in: ders.: Gestade, Wien 1994, S. 245-284, hier S. 254. 108 Vgl. dazu Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M. 2003. 109 Jacques Derrida: Die Rhetorik der Droge, Wien 1998, S. 247. 110 Derrida: Platons Pharmazie, S. 247.

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Pharmazie, indem er auf den infektiösen Charakter des Pharmakons verweist und damit betont, dass es kein Außen dieser sich gegenseitig ansteckenden Struktur gibt, da das Gedächtnis nur als Schrift und als Text existiert. Avital Ronell schließt mit ihrer Theorie-Fiktion Drogenkriege. Literatur, Abhängigkeit, Manie (1994) an Derridas Pharmakonbegriff an und erweitert ihn. Sie plädiert dafür, die Literatur und Kultur der Moderne überhaupt als Medien und Vehikel der Droge zu begreifen. Insbesondere die Betonung der Artenverwandtschaft von Droge und Literatur bzw. auch anderen poetischen und ästhetischen Erzeugnissen ist zentral für Ronell und auch für die Überlegungen dieser Studie. Ronells Untersuchungen beginnen mit einer Reihe von kurzen, zugespitzten und aphoristischen Besprechungen der Droge und des Topos des Berauscht-Seins bei Nietzsche, De Quincey, Heidegger, Benjamin, Baudelaire, Flaubert, Burroughs u.a. Ronells Engführung des ›Schusses‹, also der intravenösen Injektion einer Droge oder einer drogenähnlichen Substanz, mit dem literarisch-philosophischen Aphorismus führt gleich zu Beginn eine der zentralen Thesen ihres Textes performativ vor – dass nämlich Sprache und Drogen eine poetologische bzw. metafiktionale Verwandtschaft aufweisen. Westliche Kommunikationssysteme, Gesellschafts- und Kulturformen sind ihrer Ansicht nach auf das Engste mit der Frage nach Sucht und der Droge verbunden. Drogen und der Drogendiskurs seien nicht nur Teil einer, wie sie schreibt, »beschränkten«111 , also geschlossenen bzw. ausgeschlossenen Ökonomie des ›Auf-Droge-Seins‹, die in Differenz zu ›nicht auf Droge sein‹ auftritt und damit immer auch schon eine moralisierend-dichotome Dimension (legal/illegal, gut/böse, giftig/heilsam) mitträgt, sondern das ›AufDroge-Sein‹ umfasst das Soziale als biopolitische Größe in Gänze. Vor diesem Hintergrund bricht eine einfache Dichotomie von Nicht-auf-Droge-Sein und Auf-Droge-Sein auf, da die Droge als Strukturelement unserer Gesellschaft der Beeinflussung des Einzelsubjekts durch chemische Prothesen vorausgeht. Laut Ronell stehen wir damit immer schon unter dem Einfluss und in der Abhängigkeit von Sprache, Pharmatechnologie und Medien. Drogen seien nicht einfach biotechnische Prothesen unter anderen, sondern ein irreduzibler Teil der gesellschaftlichen und kulturellen Konstitution. Entsprechend fragt sie: »Was aber, wenn ›Drogen‹ der Name einer besonderen Form der Sucht wäre oder der Struktur, die philosophisch und metaphysisch unserer Kultur zu-

111

Avital Ronell: Drogenkriege. Literatur, Manie, Abhängigkeit, Frankfurt a.M. 1994, S. 25.

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grunde liegt?«112 Und im gleichen Kapitel zuvor heißt es auch: »Sucht wird unsere Frage sein: Ein bestimmter Typus des ›Berauscht-Seins‹, der in jeder Hinsicht mit dem schlechten Gewissen unserer Ära zu tun hat.«113 Die Redewendung »auf Droge sein«, im Original Being on Drugs, impliziert eine doppelte Bedeutung: einerseits das ›Drauf-Sein‹, ›Breit-Sein‹ des Subjekts und andererseits ein ›Sein auf Droge‹, ein Sein, das kein Außen der Droge kennt. Mit dem Verweis auf Nietzsches Begriff der Schuld und des schlechten Gewissens, den er in der Genealogie der Moral und in der Fröhlichen Wissenschaft als Movens der Zivilisation herausarbeitet, wird gemäß Ronell die Herkunftsgeschichte von Macht und Moral in Kategorien der Wirkung, der Nebenwirkung und der Abhängigkeit denkbar. So wurde die Droge Crack, die in den 1970er Jahren in den USA entstand, zu einer »technologischen Artikulation des Rassenunterschieds«114 und damit auch zum Nukleus eines biopolitischen Dispositivs und einer rassistischen Agenda. Der Buchtitel verweist insofern indirekt auf den Begriff war on drugs, der im Rahmen der US-Drogenpolitik 1972 von Richard Nixon geprägt wurde. Crack stehe so stellvertretend für alle Drogen und »beleuchtet eine innere Dimension des polemos – es öffnet den apokalyptischen Horizont der Drogenpolitik«.115 Damit bringt Ronell die Zuschreibungen und Projektionen auf diese Droge zur Sprache, die nach wie vor ein enormer Faktor bei der Konstruktion der Dichotomien von weiß/nicht weiß, legal/illegal und reich/arm ist, wodurch sich rassistische Ressentiments etablieren konnten, die bis heute in den USA fortwirken.

1.6.1

Das Tropium: enteignend und exzentrisch

Drogen zeichnen sich nach Ronell vor allem erstens durch eine exzentrische und zweitens durch eine enteignende Struktur aus: »Sie werden von etwas außerhalb beseelt, das bereits innerhalb ist«.116 Endorphine »verbinden internes Sekret mit der äußeren Chemikalie.«117 Der menschliche Körper fungiert somit als eine Schwelle: als eine semipermeable Membran, in der ein Austausch der Stoffe stattfindet und wo das Außen mit dem Inneren kongruiert. Mit

112 113 114 115 116 117

Ebd., S. 25. Ebd., S. 13. Ebd., S. 31. Vgl. ebd. (Herv. i. O.) Ebd., S. 41. Vgl. ebd.

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der Betonung auf das Diffusionsverhältnis von Chemikalie und Körper lässt Ronell der Immanenz der Droge den Vorrang vor der Transzendenz: »Bei Drogen, so stellt sich heraus, dreht es sich nicht so sehr um die Suche nach einer äußeren, transzendentalen Dimension – einer vierten oder fünften Dimension – sie erkunden vielmehr fractale Innerlichkeiten.118 Intoxikation und Drogengebrauch sind demnach keine Flucht oder ein naiver Eskapismus in eine irreale Welt, die Alain Badiou auch als »eine Metaphysik der Entkopplung«119 kritisiert, sondern vielmehr eine Intensivierung des Verhältnisses zum Diesseits. Die fractale[n] Innerlichkeiten sind als unbegrenztes Inneres zu verstehen, das keinem höherstufigen Prinzip unterworfen ist, sondern der flachen Logik der Immanenz. Das Außen der chemischen Substanz tritt so in ein Korrespondenzverhältnis zu den Substanzen des Körpers, in dem beide eine Mischung bilden. Das Exzentrische der Droge ist damit nicht ätiologisch organisiert, sondern affektiv und nur in der Verschränkung von Innen und Außen denkbar. Die Kritik an der vereinfachten Vorstellung, dass die Einnahme von Drogen eine Suche nach Transzendenz sei, findet sich so auf anderer Ebene in der Kritik einer eindeutigen Festsetzung der Droge durch den Begriff. So gibt Ronell zunächst eine allgemeine Definition, nur um sie im nächsten Moment wieder fallen zu lassen: (1) Produkte natürlichen Ursprungs, oft bekannt in der Antike; (2) Produkte, die aus der modernen pharmazeutischen Chemie hervorgegangen sind; und (3) parapharmakologische Substanzen oder Produkte, die vom und für den Süchtigen hergerichtet worden sind.120 Die US-amerikanische Philosophin betont im nächsten Zug die nicht eindeutig zu identifizierende Form der Droge. Sie zeichne sich vor allem durch ihren virtuellen und flüchtigen Charakter aus und hat entsprechend nur vorläufigen, parasitären und nomadischen Status: Drogen widersetzen sich der Festnahme durch den Begriff. Niemand hat daran gedacht, sie in ihrem Wesen zu definieren, was nicht heißt, dass sie nicht existieren. Im Gegenteil. Weil sie überall in der einen oder anderen Form verabreicht werden, liegt ihre Stärke in ihren virtuellen und flüchtigen Formen. Sie schließen ihre Kräfte nicht mit einem äußerlichen Feind zusammen (der einfache Ausweg), sondern sie haben ein heimliches Kommunikationsnetz mit dem verinnerlichten Dämon. Etwas sendet Signale 118 119

Ebd., S. 27. (Herv. i. O.) Alain Badiou: Das Abenteuer der französischen Philosophie seit den 1960ern, Wien 2015, S. 55. 120 Ronell: Drogenkriege, S. 67.

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aus, ruft die Drogen nach Hause. […] Drogen können nicht sicher innerhalb der Grenzen traditioneller Disziplinen angesiedelt werden: Anthropologie, Biologie, Chemie, Politik, Medizin oder Jura könnten nicht einzig aufgrund der Stärke ihrer jeweiligen Epistemologie den Anspruch erheben, dass sie sie fassen oder ihnen entgegenwirken können. Indem man sich überall mit Drogen beschäftigt, agieren sie als ein radikaler nomadischer Parasit, den der Wille der Sprache losgelassen hat.121 Ronell weist daraufhin, dass die Droge nicht erschöpfend begrifflich oder auch disziplinär umrissen oder eingehegt werden kann. Die Droge sei etwas, das dem Willen der Sprache, also einer Ordnung von Signifikat und Signifikant, entgleitet und damit ontologisch einen prekären Status einnimmt, da sie als solche, als eine Entität nicht Erscheinung tritt und somit auch die Frage nach dem Was der Droge unterläuft und vielmehr nach einem Wie oder Wieviel der Droge fragt. Die Frage nach der Droge ist somit immer auch eine Frage nach der dósis.122 Als ein Objekt des Wissens ist die Droge auch epistemisch prekär, da die Disziplinen, die sie thematisieren, keinen eindeutigen oder privilegierten Zugriff haben, der die Droge in einer klaren disziplinären Kaste verorten ließe. Im Sinne der von Joseph Vogl entwickelten Poetologie des Wissens verlaufen Drogen oder auch andere Wissensobjekte oder prekäre Stoffe entlang den Äußerungsweisen unterschiedlicher Wissensordnungen und können im wissenschaftlichen Experiment, in einer staatlichen Verordnung oder auch im literarischen Text gleichermaßen erscheinen.123 Das Pharmakon kann so nur als eine dialektisch nicht aufhebbare und aporetische Drittheit 124 existieren, die sich zu keiner eindeutigen Form synthetisieren lässt und dennoch nicht Nichts ist. Daran anschließend ist die Droge ebenfalls ein Phänomen der Mischung und der Unreinheit, die eine Integrität eines mit sich selbst identischen Körpers gefährdet und dementsprechend Eigenschaften von Verschmutzung aufweist.125 Im Unterschied zu Ronell bezieht sich das Pharma-

121 122 123 124

125

Ebd., S. 68f. Vgl. Gisela Ecker: Giftige Gaben. Über Tauschprozesse in der Literatur, München 2008, S. 13. Vgl. Vogl: Einleitung, S. 11. Zur Figur der Drittheit im Kontrast zu der Dreiheit oder zur Drei als eine Synthese oder Summe aus eins plus zwei siehe auch Eva Eßlinger/Tobias Schlechtriemen/Doris Schweitzer/Alexander Zons (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Frankfurt a.M. 2010. Vgl. Derrida: Platons Pharmazie, S. 144.

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konkonzept Derridas in seiner dekonstruktiven Lektüre Platons wesentlich auf das Medium der Schrift als ein nicht festzuschreibendes Spiel der »différance der Differenz«126 und gerade eben nicht auf die pharmakologischen Substanzen der materiellen Welt. Ronell verschiebt dieses Konzept, indem sie Derridas Spiel der Differenzen nicht nur im Medium der Schrift und des Textes verortet, sondern pharmazeutische Erzeugnisse der Chemie ernst nimmt und sie als disziplinäre Machtdispositive begreift, die sich mit semiotischen Prozessen verbinden. Denn wie aus der eben zitierten Stelle deutlich wird, ruft die Droge als Heilmittel therapeutische Disziplinen wie die Medizin und die Pharmakologie auf den Plan, die für die Differenzen zwischen Gesundheit und Krankheit zuständig und, wie Leonhard Fuest in seiner Studie Poetopharmaka auch in Bezug auf Ronell betont, verpflichtet sind, die besten Gaben zu geben.127 Gleichzeitig rufen sie die Seite des Toxischen und Gefährdenden auf und verlangen, so Fuest weiter, nach »Detektionen, Klassifizierungen aber auch Präventionen und Prohibitionen.«128 Chemische Erzeugnisse und ihre Zirkulation in der Gesellschaft sind von den Regulierungen und den Kontrollmechanismen nicht zu trennen. Nach Ronell ist die Droge damit ein wesentlicher Bestandteil von verschiedenen Aussagesystemen und von komplexen und heterogenen Ensembles und Disziplinen wie Medizin, Chemie, Pharmakologie, Jura, wissenschaftlichen Aussagen oder auch moralischen Lehrsätzen. Es handelt sich also ganz im Sinne Foucaults um eine ambivalente Machtassemblage, die den einzelnen und den Kollektivkörper ebenso fürsorglich wie gewaltsam regiert. Drogen können auf diese Weise Teile von Dispositiven sein oder auch, wie ich anhand der Analysen Paul B. Preciados zur Biopolitik von pharmakologischen Substanzen zeigen werde, selbst zu einem Dispositiv werden, dem gegenüber man sich widerständig verhalten kann. Die zweite Funktion der Droge nach Ronell, wie bereits mit ihrer parasitären Struktur angedeutet, ist somit die Enteignung. Damit bringt Ronell auch die Literatur und den geschriebenen Text ins Spiel. Die Autorin stellt heraus, dass, wenn wir die Worte und die Sprache anderer verwenden, um uns verständlich zu machen, wir uns die Sprache der anderen wie eine Droge verabreichen. In seinen Untersuchungen zum Haschisch eignet sich laut Ronell Benjamin Baudelaires Buch Die künstlichen Paradiese an. Bei Ronell heißt es auch, dass Benjamin sich Baudelaire wie einen Fremdkörper einspritzt, 126 127 128

Ebd., S. 143. Vgl. Fuest: Poetopharmaka, S. 19. Ebd., S. 20.

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um »seine innere Erfahrung auszudrücken.«129 So könnte man vor dem Hintergrund dieser Überlegung sagen, dass Auf-Droge-Sein so zu einem AufSprache-Sein wird. Weiter stellt Ronell fest, dass dies keineswegs eine Seltenheit ist, denn auch De Quincey zitiert Wordsworth, um seine persönlichen Erfahrungen mit dem Opium zum Ausdruck zu bringen. Bei Ronell heißt es entsprechend: »Die Texte sind über-einander. Eine textuelle Kommunikation, die auf Tropium basiert.«130 Das Tropium als ein semantisches Amalgam bzw. Neologismus bestehend aus der Trope, also dem Überbegriff für bestimmte rhetorische Stilmittel, und der Substanz Opium, die allgemein als Heroin bekannt ist und als das am weitesten verbreitete illegale Morphinderivat gilt, ist in der Kombination aus Text und chemischem Stoff eine metafiktionale Substanz, die das Berauscht-Sein und die Abhängigkeit von der Droge mit dem Berauscht-Sein und der Abhängigkeit von Literatur und Texten gleichsetzt. Die Droge, die dem Organismus hinzugefügt wird und ihn ergänzt, wird so durch den Begriff des Tropiums, der selbst eine Trope ist, mit Mechanismen der Intertextualität kurzgeschlossen. Schreiben bedeutet in diesem Sinne andere Texte wie chemische Stoffe in den eigenen Textkörper einzubauen, sie miteinander reagieren zu lassen oder sie zu überschreiben und zu ersetzen. Die Droge und die Literatur befinden sich laut Ronell auf der gleichen Ebene: Sie liegen auf derselben Linie, hängen von ähnlichen Technologien ab und stehen manchmal unter der analogen Fuchtel des Gesetzes. Sie fixen mit Fiktionen, unterbrechen dabei ein ganzes herrschendes Bewusstseinssystem. Irgendjemand hat einmal gesagt, dass Literatur als ein modernes Phänomen, das zurückgeht auf das 16. oder 17. Jahrhundert, zur gleichen Zeit wie die europäische Drogensucht entstanden sei.131 Durch den metafiktionalen Vergleich von Droge und Text drängt sich vor allem dasjenige auf, was Derrida in der Grammatologie als die »Logik des Supplements« der gesprochenen Sprache und der Schrift bezeichnet.132 Sowohl Sprache als auch Schrift haben nach Derrida Supplementcharakter, wodurch er versucht, eine Ursprünglichkeit des jeweils anderen zu dekonstruieren. Weder das gesprochene Wort noch die Schrift haben eine Vorgängigkeit, sondern existieren nur in ihrer aufgepfropften und sich überlagernden Struktur,

129 130 131 132

Ronell: Drogenkriege, S. 41. Ebd. (Herv. i. O.) Ronell: Drogenkriege, S. 102. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974. S. 248-251.

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die eine Metaphysik der Präsenz unterlaufen soll. Somit gibt es auch kein repräsentierbares Außen des Hinzugefügten, sondern alles ist bereits ins Unendliche supplementiert. Dementsprechend handelt nach Ronell die Literatur nicht nur von Drogen oder thematisiert sie beiläufig, sondern sie ist auf Drogen und wird auch beim Lesen, also dem Konsumieren von Literatur, selbst zur Droge.133 Ronell erinnert uns somit daran, dass Literatur als ein Genre gilt, das in historischer Perspektive als ein Gegenstand der Zensur und Reglementierung gedacht werden muss. Auf juristischer Ebene wurde Literatur als eine unzulässige und gefährliche Droge gehandelt. Diese Immanenzstruktur und die Gefahr der Verführung, die mit der Droge der Moderne verbunden war, entdeckte nach Ronell vor allem Gustave Flaubert mit seinem Roman Madame Bovary (1860): Die Struktur der Sucht, und sogar speziell der Drogensucht, ist jeder empirischen Verfügbarkeit von Crack, Ice oder Straßenstoff vorgängig. Diese Struktur und Notwendigkeit entdeckt Flaubert und stellt sie dar. Als Beben in der Geschichte des Wahnsinns (dem keine Vorschrift und Verschreibung der Vernunft einfach und strikt entgegengesetzt werden kann) antwortet die chemische Prothese, der Pilz oder die Pflanze, auf eine grundlegende Struktur und nicht andersherum.134 Dass Ronell Flaubert einen besonderen Zugang zur Struktur der Sucht und der Stofflichkeit zuspricht, ist keine Überraschung. Unterschiedlichste Stoffe in unterschiedlichen Aggregatzuständen spielen in Madame Bovary eine zentrale Rolle und fließen durch den gesamten Roman. Emma als die Protagonistin der Erzählung ist einerseits eine strickende Figur, die sich mit Tex-

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Vor dem Seienden jeder konkreten oder auch phänomenologisch wahrnehmbaren Droge gibt es, wenn wir Ronell folgen wollen, eine vorgängige Seins-Struktur eines »Süchtig- bzw. des Abhängig-Seins« (Ronell: Drogenkriege, S. 47-62), die die amerikanische Philosophin, vergleichend mit Heideggers Begriffen Hang, Drang und Gestell, zusammenzudenken versucht. In Heideggers Sein und Zeit heißt es auch entsprechend: »Hang und Drang sind Möglichkeiten, die in der Geworfenheit des Daseins wurzeln.« Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 196. Obwohl Sein und Zeit zunächst rein intuitiv und vorkritisch nicht unbedingt als eine Philosophie der Droge und der Sucht auffällig wird, sind in Heideggers phänomenologischer Ontologie Anlagen dazu vorhanden, die Ronell herausarbeitet. Sie betont, dass Heidegger zwar über Sucht und Drogentechnologie nicht nachgedacht hat, die jedoch in seinem Technikbegriff avant la lettre sichtbar werden. Ronell: Drogenkriege, S. 131.

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tilien und Stoffen im ganz materiellen Sinne umgibt, und andererseits mit Textstoffen, in denen sie sich verstrickt, sie wie eine Droge gegen die Langeweile einnimmt und sich letztlich damit auch vergiftet. Darüber hinaus sollen Kleider ihr Verlangen nach Luxus substituieren. An den dabei entstehenden Schulden bereichert sich der Stoffhändler Lhereux, und schließlich finden sich chemische Stoffe und Substanzen in der Apotheke von Homais, der ihr Präparate zur Linderung ihrer Leiden verabreicht. Im Roman Flauberts fließen somit Stoffe, Materialien und chemische Substanzen hinein, die auf verschiedenen Ebenen des Romans, aber auch außerhalb des Textes, nämlich in seiner metafiktionalen Dimension, verhandelt werden. Madame Bovary illustriert so, wie im Zuge der Industrialisierung und des Zur-Ware-Werdens von Ideen, Dienstleistungen und Dingen, ein allgemeines Klima des Rausches herrscht. Diese Beobachtungen lässt Flaubert sein Lesepublikum vor allem durch die Augen des Apothekers Homais machen, der zusammen mit Madame und Monsieur Bovary vor seiner Apotheke einen betrunkenen Kutscher betrachtet und daraufhin wutentbrannte Kommentare gegen den Alkohol abgibt.135 Gleichzeitig versorgt der Apotheker durch den Roman hindurch Emma mit Medikamenten, mit denen sie sich letztlich auch suizidiert. Der Literaturwissenschaftler Russel Williams schreibt in seinem Text Writing and Intoxication sich auf Flaubert beziehend von einem rauschhaften Begehren nach den Versprechen des modernen Marktes, mit denen Frau Bovary vom Kaufmann Lhereux verführt wird.136 Die konsumorientierten Begehren korrespondieren so mit der Sucht nach Alkohol und anderen Substanzen und letztlich mit Emmas Begehren nach ›schlechter‹ Literatur, die ihr als Antidot gegen ihre ländliche Langeweile immer wieder verabreicht wird. Wie William Burroughs bereits zugespitzt formuliert hat, verlangt Junk nach noch mehr Junk, und so scheint es sich auch mit der Literatur und der Sprache zu verhalten: Wörter verlangen nach noch mehr Wörtern. Sprache sei wie ein »virus from another planet«,137 der immer mehr Sprache einfordert. Vor diesem Hintergrund besitzt Emmas Lesesucht in letzter Konsequenz kein reales Objekt, sondern vielmehr eine Serie von nicht substantiellen Anderen, die als transzendentales Signifikat unerreicht bleiben. Medien und Drogen sind

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Vgl. Gustave Flaubert: Madame Bovary, München 2012, S. 214. Vgl. Russell Williams: Writing and Intoxication: Drunken Philosophers, Crack Addicts and the Perpetual Present, in: Eugene Brennan/ders. (Hg.): Literature and Intoxication. Writing, Politics and the Experience of Excess, London 2015, S. 25-51, hier S. 37. William Burroughs: The Algebra of Need, Buffalo 1971.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

auch nach Friedrich Kittler reziprok zu verstehen und verweisen aufeinander. Aufschreibesysteme wie z.B. die Literatur seien im Kern psychedelisch. Sie sind zwischen Haschisch, Marihuana, magischen Pilzen, LSD und Meskalin angesiedelt. Anhand von fragmentierten Interpretationen von Goethes Werk verweist Kittler darauf, dass vor allem deutsche Dichtung wie ein Halluzinogen funktioniere: »Die Bücher, vordem nur reproduzierbare Buchstabenmengen, reproduzieren fortan selber. Aus dem gelehrtenrepublikanischen Kram in Fausts Studienzimmer ist eine psychedelische Droge für alle geworden.«138 Sowohl Ronell als auch Kittler scheinen der Rauschmetapher des Opiats den Vorzug vor allen anderen möglichen Stoffen zu geben. Ob Alkohol oder psychoaktive Substanzen – alles wird auf eine sedierende und betäubende Wirkung des Opiats zurückgeführt, das Kittler vor allem anhand Anton Reisers referenziert: »Signifikate erregen eine solche Begierde zu lesen, das Reiser alsbald von Luft und Signifikanten leben kann, ohne einen Bissen zu essen – die Lektüre, ›ein Opium‹ auch in dieser Hinsicht, überspielt den Hunger«.139 Drogenkundlich interessant scheint hier das Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant zu sein. Während das Signifikat als das abwesende (Drogen-)Objekt die nicht zu erreichende Transzendenz der Sucht zu sein scheint, ist das Einnehmen der Signifikanten ein weltliches Substitut, das die Sucht temporär zu befriedigen scheint, jedoch nach immer mehr verlangt. Weiter heißt es bei Kittler: »Lesen wird ein Bedürfnis, das nach der Einsicht einer zeitgenössischen Fibel sich selber voraussetzt und steigert.«140 Die Literatur fungiert nach Kittler und vor dem Hintergrund des Tropiums bei Ronell als eine Substitutionstherapie, die jedoch nicht das Original kopiert, sondern immer nur weitere Kopien und Simulakren erstellt.

1.6.2

Sublimationen

Obwohl Madame Bovary als ein programmatischer Roman des bürgerlichen Realismus nur schwer in das Register des Fantastischen und der SF zu integrieren ist, nimmt der Schluss des Textes Züge eines unheimlichen Kunstmärchens an. In dieser Textstelle heißt es: »Dann beugten sie sich über sie, um ihr den Brautkranz aufzusetzen. Man musste den Kopf etwas anheben,

138 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900, München 1995, S. 148. 139 Ebd., S. 94. 140 Ebd., S. 144.

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und dabei quoll ein Schwall schwarzer Flüssigkeit aus ihrem Mund, als erbräche sie sich.«141 Auffällig ist, dass Avital Ronell in ihren Analysen nicht genauer auf die schwarze Flüssigkeit eingeht, denn anhand der schwarzen Substanz wird deutlich, dass die Tropiate des Romans eine nicht endende Sublimation durchlaufen. Schematisch formuliert: Die Sublimation beginnt mit der Tinte Flauberts, geht über in die im Roman vorkommenden Substanzen und Flüssigkeiten, findet dann ihren Weg in Emmas Organismus hinein, um – nach der Einnahme des giftigen Arsens – durch ihren Mund als eine seltsame schwarze Flüssigkeit wieder hinauszutreten. Ronell deutet den Tod von Emma Bovary erstens als einen letzten Kommentar zu ihrem Leben und zweitens als das Wiederheraustreten des toxischen Restes, der sie ein Leben lang vergiftet hat. Der Ausfluss der Flüssigkeit sei der letzte Kommentar auf das restriktive System und das Gift, das sie, aber auch andere Figuren der Moderne (De Quincey, Balzac, Baudelaire u.a.) ein Leben lang schlucken mussten: »In einer bestimmten Weise bewussten Überwachens weigerten sie sich zu essen – und doch verschlangen und tranken sie immer nur den giftigen Schutt der Anderen.«142 Damit deutet sich bereits an, dass es nicht nur um die Ingestion und das Einverleiben der Droge, des Rests oder der Literatur geht, sondern auch um die Ent-Äußerung: um ein dynamisches Verhältnis von Ausflüssen und vor allem Einflüssen von Stoffen in Flauberts Roman. Die Auslegung Ronells erschöpft sich somit an dieser Stelle nicht, sondern unterliegt ebenfalls den Gesetzen einer hermeneutischen Sublimation, die hier weitergetrieben werden kann. Im Sinne dessen, was Ronell als Tropium definiert, nämlich des Aufeinander-Sein der Texte, fließt auch Baudelaire in Flauberts Text hinein. Denn die Szene mit dem Heraustreten der schwarzen Flüssigkeit erinnert an den Körper der verwesenden Frau aus den Blumen des Bösen. Aus dem geöffneten Bauch der Frauenleiche tritt wie eine gallertartige Flüssigkeit »die schwarze Schar«143 von Larven heraus. Beide Frauenkörper, sowohl Emma Bovary als auch die tote Frau aus Baudelaires Gedicht, sind den voyeuristischen Blicken der Beistehenden ausgeliefert und die jeweiligen Situationen changieren zwischen sexuellem Begehren, Abscheu und – wie Menninghaus in seiner Untersuchung zum Ekel herausarbeitet – einer geburt-

141 Flaubert: Madame Bovary, S. 448. 142 Ronell: Drogenkriege, S. 85 143 Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen, Frankfurt a.M. 1976, S. 49.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

ähnlichen Szene hin und her.144 Das, was Emma hier mit dem Erbrochenen gebiert, ist jedoch kein aufgehobenes Ergebnis von Reproduktion, sondern ein nicht zu vermittelnder Rest, der aus Anteilen der Literatur, der Tinte und der anderen Gifte, die sie zu sich nimmt, besteht. Dieses Übriggebliebene, das sich nicht mehr integrieren lässt, wird zu einem hybriden und intertextuellen Stoff, der nicht säuberlich und kategorisch einsortierbar ist. Vor dem Hintergrund des aufkommenden Industriekapitalismus und der Verbreitung der Dampfmaschine ist der Ausfluss der schwarzen Flüssigkeit jedoch nicht nur ein Herausbrechen eines metaphorischen Giftes, das Emma Bovary von anderen aufnehmen musste, sondern auch ein Hineinbrechen der Moderne in Form von Öl, das als wichtigster Energieträger der Industrie zum einen in die Bereiche des Ökonomischen und des Technologischen hineinfließt, zum anderen aber auch das Soziale, Kulturelle und das Literarische affiziert: »In some sense, modernity is the story of how oil got into everything«,145 so Timothy Morton, der Öl als das perfekte Schmiermittel der Moderne und des aufkommenden industriellen Kapitalismus definiert. Die Sublimation und die Zirkulation der Stoffe und der Drogen enden jedoch auch hier nicht, denn sowohl das Hochzeitskleid Emmas als auch das Laken ihres Totenbettes sind durch die seltsame Flüssigkeit verdreckt, wodurch das Schwarze der Flüssigkeit und das Weiße des Lakens wie Tinte auf Papier treffen. Hier konvergieren als weiteres Element der Ökonomie der schwarzen Flüssigkeit Autor-Ich und Protagonistin des Romans und weisen erneut poetologische bzw. metafiktionale Elemente auf. In einem Brief Flauberts an Louise Colet vom 14. August 1853 heißt es auch: »L’encre est mon élement naturel. Beau liquide, du reste, que ce liquide sombre! et dangereux! Comme on s’y noie! Comme il attire!«146

144 Vgl. Wilfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M. 2002, S. 210; und auch Maria Wendt: Essgeschichten und Es(s)kapaden im Werk Goethes, Würzburg 2006, S. 99. 145 Morton: Hyperobjects, S. 54. Morton verweist damit vor allem auf die Schriften Reza Negarestanis. In seiner Theorie-Fiktion Cyclonopedia. Complicity with Anonymous Materials beschreibt er die Entfesslung des Öls in unserer hyperkapitalistischen Gesellschaft. Dabei bekommt das Öl in seinem Narrativ, das sich immer wieder mit philosophischen Analysen mischt, eine nicht humane und geradezu dämonische Entität, die in jeden Bereich der Welt eindringt und alles Lebendige zu inkorporieren beginnt. Vgl. dazu Reza Negarestani: Cyclonopedia. Complicity with Anonymous Materials, Melbourne 2008. 146 Gustave Flaubert: A Louise Colet [14 aout 1853], in: ders.: Oeuvres completes de Gustave Flaubert; 13-16, Correspondance 1850-1859, S. 382-386, hier: S. 385.

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Hinter der schwarzen Flüssigkeit und dem Schreib-Mittel verbirgt sich demnach auch ein gefährliches Schreib-Gift. Flaubert forciert mit der Tinte als Gift und Heilmittel ein literarisches Wissen der Sucht, das z.B. Don Quijote dazu bringt, durch den exzessiven Konsum von Ritterromanen selbst waghalsige Abenteuer zu bestreiten, oder eben Emma Bovary dazu anstiftet, durch den übermäßigen Konsum von romantischen Romanen und Horrorliteratur Selbstmord durch das Gift Arsen mit dem, wohlgemerkt: »scheußliche[n] Tintengeschmack«147 zu begehen. Und obwohl Arsen geruchs- und geschmacklos ist, setzt Flaubert bewusst diesen Kategorienfehler in seinen Text ein, um die irreduzible Verbindung von Gift und Tinte und somit auch die poetologische Verschränkung des Mediums Literatur mit der Droge sichtbar zu machen. Diese krude Substanzmischung in ihrer stofflichen, aber auch nicht stofflichen Form als Essenz des Romans erreicht mit dem Tintenfleck ihre finale Sublimation. Friedrich Kittler deutet den Tintenklecks in seiner Medienphilosophie als einen möglichen Zugang zum medialen Unbewussten der anbrechenden Moderne und tangiert damit wiederum mit einem Rückgriff auf die romantische Fantastik dasjenige, das Flaubert literarisch mit der schwarzen Substanz formuliert. Bei Kittler heißt es entsprechend: Nichts Geringeres als Wahnsinn besagt ein Tintenklecks. […] Dem Ideal einer schön gerundeten, kontinuierlichen und daher individuellen Handschrift gegenüber setzt der Fleck die Metapher einer Pollution. Er verzeichnet die Spur eines Begehrens, das, statt über die vielen Kanäle, Leitungen, Umwege von Sprache und Bücherwelt zu laufen, sie wie ein Kurzschluss durchschlägt.148 Unter Bezug auf den Tintenklecks, den der Student Anselmus aus E.T.A. Hoffmanns Novelle Der Goldene Topf (1819) auf das heilige Pergament bringt, betont Kittler ausgehend von Foucault und Lacan, dass Tintenkleckse die symbolische Ordnung verunreinigen, sie abrupt zerfallen lassen und damit ein Ausdruck des Wahnsinns sind.149 Darin drücke sich das »unmöglich Reale«150 aus, das nach Kittler Foucault mit zwei sich widersprüchlichen Sätzen ver-

147 Flaubert: Madame Bovary, S. 607. 148 Kittler: Aufschreibesysteme, S. 130. 149 Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1993, S. 128. 150 Kittler: Aufschreibesysteme, S. 131.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

deutlicht: »Ich schreibe. Ich deliriere.«151 »Das unmöglich Reale« des Tintenkleckses, das Kittler von Lacan borgt, ist somit das Nichtrepräsentierbare, das weder in Form einer Symbolisierung noch des Imaginären ans Tageslicht tritt, sondern als das Herausfließen einer Blockade der Sprache und als ein nicht signifikantes Stottern, das nicht geschrieben werden kann, das jedoch auch nicht aufhört, sich nicht zu schreiben.

1.6.3

(Tr)opium des Volkes: Heilung und Heiligung

So insistiert Avital Ronell darauf, dass es ein Weiterleben und ein Weiterzirkulieren der Stoffe des Romans nach dem Tod Emmas gibt, nämlich mit dem Fokus auf der Apotheke, »jenen Laden, […] von dem Emma das selbstmörderische Gift bezogen hat.«152 Dieser kehrt wieder, »um den Schauplatz des Romans zu besetzen«.153 Denn die Apotheke in Madame Bovary garantiert die Erhaltung einer leichenhaften Gegenwart, während sie zugleich den Ort ihrer Andersheit gegenüber sich selbst markiert. Die Apotheke stellt einen legalisierten Tadel der unkontrollierten oder Straßendrogen dar, aber zugleich tritt sie ein für die Notwendigkeit einer gewissen Drogenkultur. […] Es gibt keine Kultur ohne eine Drogenkultur, sogar wenn diese in Arzneimitteln sublimiert werden muss.154 Ronell betont hier erneut, dass es kein Außen der Droge der Moderne gibt, sondern eine unauflösbare Spannung zwischen der unkontrollierbaren Substanz und der polizeilichen Apotheke als den Versuch, diese Entfesselung mittels der ›legalen‹ pharmakologischen Erzeugnisse wieder einzuhegen. Es ist somit nicht die Droge, die Sucht erzeugt, vielmehr ist es eine toxische Verfasstheit der Existenz, die die Drogen überhaupt erst hervorbringt. Der Literaturwissenschaftler Gerhard Poppenberg definiert Sucht auf ähnliche Weise: »Sucht entsteht, so kann man dann vielleicht in einer ersten Annäherung sagen, wenn die psychische Ökonomie nicht durch einen substantiellen Ande-

151 152 153 154

Foucault, zit.n.: ebd. Ronell: Drogenkriege, S. 120. Ebd. Ebd., S. 122.

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ren konfiguriert wird.«155 Poppenberg betont den Entzugscharakter der Droge, die sich nicht durch eine klar geränderte Identität in Abgrenzung zu anderen auszeichnet, sondern durch ihre anwesende Abwesenheit und den auf Dauer gestellten Entzug. Emma Bovary, als eine Figur, die im Kloster aufgewachsen ist und durch den Roman hindurch bürgerliche Sitten, Moralvorstellungen und die Gesetze der Religion verletzt, wird dadurch auch zu einer Repräsentantin der Krise der Transzendenz und der Religion. Die Profanierung und das Fehlen der ordnenden Kraft der Religion in Flauberts Roman wird folglich zu einem literarischen Symptom des Übergangs von der Vormoderne zur Moderne. So wird die Moderne (personifiziert in Emma) als eine entfesselte Sehnsucht und Suche ohne ein intentionales Objekt des Begehrens dargestellt. Als weltliches Analogon zur Religion wird die Droge hier zu dem Medium oder dem Vehikel dieser Suche. An Emma Bovary leuchtet gewissermaßen der geläufige Zusammenhang von Droge und Sucht auf, der nach Peter Sloterdijk keineswegs selbsterklärend ist, sondern ein typisch modernes und vor allem ein polizeiliches Phänomen ist. Während die Substanzen der Vormoderne, laut Sloterdijk, einen pharmako-theologischen Hintergrund haben, in dem die Stoffe und Substanzen »Elemente, Akteure und Mächte des geordneten Kosmos [sind], in den die Subjekte sich um ihres Überlebens willen zu integrieren versuchen«,156 sind die Substanzen der Moderne chemisch-pharmazeutisch bzw. medizinisch definiert. Heilung und Heiligung sind nach Sloterdijk die zwei Kehrseiten der Medaille der Vormoderne und können nicht separat voneinander betrachtet werden. Die Substanzen sowie die Praktiken, die mit der Einnahme verbunden sind, sind somit Vehikel des Glaubens, die in einer ritualisierten Form zu Gott führen sollen und nicht zu einer privaten Berauschung.157 Nach Sloterdijks Einschätzung wurden Menschen, die Substanzen als Offenbarungshelfer eingenommen haben, berauscht, jedoch nicht süchtig. Erst durch das Verschwinden der Transzendenz, der religiösen Offenbarung und eines teleologischen Absoluten in der Moderne, das mittels Substanzen angesteuert wurde, entstehe das Phänomen der Sucht. Die Götter seien »uninformativ« und »offenbarungsmüde«158 geworden, wodurch die sakralen Substanzen heute eine Profanierung erfahren und das Überwältigende

155 156 157 158

Gerhard Poppenberg: … une irréalisable envie d’une volupté plus haute … Madame Bovary und die Moderne, in: PHin. Philologie im Netz 53, 2010, S. 33-61, hier S. 56. Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, Frankfurt a.M. 1993, S. 128. Vgl. ebd., S. 129. Ebd., S. 141.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

einer transzendentalen Ekstase verloren ginge: »Zu den tragischen Lektionen der Droge gehört es, dass sie es dem Menschen verbietet, ein Privatverhältnis zum Überwältigenden aufzubauen.«159 Sloterdijk zieht daraus den Schluss, dass der Mensch, je undurchlässiger er für das Göttliche wird, umso anfälliger für die weltlichen Verführungen der Gifte und die Drogen ist: Aus dem göttlichen Pharmakon, das die Teilhabe an der Seinsweise der Unsterblichen vermittelte, ist in der protestantischen Welt ein narzisstisches Gift geworden, das die Seelen mit Trugbildern von Mission und Auserwählung verdirbt.160 Drogen seien also nur Ersatzdrogen für ein reineres, ursprünglicheres Verhältnis zur Transzendenz. Während Menschen der ›alten Zeit‹ Substanzen zu sich nahmen, um laut Sloterdijk existentielle und metaphysische Informationen einzuholen, sei der moderne Drogensüchtige ein Mensch, der von dieser Erfahrung abgeschnitten sei. Davon abgesehen, dass es unklar bleibt, um welchen Menschen es sich in Sloterdijks Erzählung handelt, ist die Hypostasierung der göttlichen Substanzen und die Abwertung des PharmazeutischChemischen sowie der eingezogene Binarismus zwischen einem privaten und einem öffentlichen Gebrauch sicherlich zu dichotom gedacht, wenn man z.B. an kollektive Ekstasen der Klubkultur denkt, die sowohl die Transzendenz/ Immanenz-Dichotomie auflösen, als auch eine trennscharfe Unterscheidung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Gebrauch unterlaufen. Insbesondere bei der Überhöhung einer religiösen Rauscherfahrung ist, wie es Marx schrieb, Vorsicht geboten, denn die Religion selbst kann zu einer Droge werden, die gerade die Trugbilder produziert, von denen sich Sloterdijk mit einer kulturkonservativen Drogenphilosophie so vehement zu distanzieren versucht. Denn auch die Religion selbst kann zu dem »Gnadensubstitut«161 werden, das Sloterdijk so undifferenziert anmerkt und dadurch, obwohl er das Polizeiliche des Begriffs der Droge kritisiert, durch die Hintertür wieder einführt. In der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) parallelisiert Marx bekanntlich die Droge mit der Religion: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist

159 Ebd. 160 Ebd., S. 135. 161 Ebd.

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geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.«162 Die Religion als Droge ist laut Marx ein Modus des falschen Bewusstseins, der mittels eines revolutionären Klassenbewusstseins überwunden werden kann. Das heißt, das illusorische Glück, das von dem »Opium des Volkes« ausgeht, müsste notwendigerweise enden, sobald die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Entfremdung und Ausbeutung des Menschen durch den Klassenkampf aufgehoben würden. Obwohl der Ausdruck »leichenhaft[e] Gegenwart« bei Ronell und der Ausdruck »Geist geistloser Zustände« bei Marx nahezu deckungsgleiche Bestrebungen sind, die Moderne als eine Erfahrung der Leere, der Abwesenheit und des Mangels zu beschreiben, die sich als Scheintod oder auch als Sucht ohne Suchtobjekt begreifen lassen, sind sie dennoch konstitutiv verschieden. Denn gemäß Ronells Flaubert-Lektüre gibt es keine Alternative zur Droge, kein Anderes des Entfremdeten oder kein Gegenstück zum ›falschen Bewusstsein‹ oder zu einer ›heiligen Droge‹, die Erlösung und Kommunikation mit dem Göttlichen verspricht. Die Droge nach Ronell ist demnach kein Attribut oder Substitut zu einem ›wahren‹ oder, wie Sloterdijk sagen würde, theologisch informierten Leben, sie ist jedoch auch nicht nur Teil eines entfremdeten Verblendungszusammenhangs, so wie es Marx formuliert, sondern vielmehr ein unausweichliches und immanentes Phänomen, das wie ein Gefüge heterogene Bereiche zusammenzieht, ohne diese zu hierarchisieren. Paradigmatisch führt Flaubert mit der Figur Emmas den Leser*innen die Immanenz der Droge vor Augen, die kein Außen kennt: »Sie hielt es mehr mit dem Vergessen als mit der Wahrheit. Das wurde ihr nie vergeben. Es war nicht von Belang, ob sie Esswaren, Rauchbares oder Schießbares nahm; sie war eine Halluzinierende, eine Kreatur des Simulacrums par excellence.«163 Der schweizerische Künstler Rémy Markowitsch hat die metafiktionale und stoffliche Dimension der Tinte bei Flaubert in seiner Installation liquides noirs aufgegriffen, die 2011 in der Galerie EigenART in Berlin ausgestellt wurde. Die Installation bestand aus drei Teilen; eine Skulptur aus Marmorköpfen von Flaubert und Emma Bovary, die vertikal zueinander liegen und durch die schwarze Flüssigkeit, die aus Emmas Mund in Flauberts Mund fließt, verbunden sind und somit auch die Skulptur stabilisieren; daneben eine kleine Skulptur eines bronzenen Giftfroschs, der in unregelmäßigen Abständen

162

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Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 1 [1839-1844], Berlin 1956, S. 203-333 [Kritik des Hegelschen Staatsrechts], 378-391 [Einleitung]. Ronell: Drogenkriege, S. 100.

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Tinte auf im Ausstellungsraum im Kreis angebrachte Papierbögen spritzt. So entsteht im Verlauf des Ausstellungstages ein action painting. Diese Konstellation wird musikalisch begleitet von dem Song »Madame Bovary c’est moi«, gesungen von Emanuela Hutter. Der Szene im Roman entgegengesetzt fließt die Flüssigkeit durch die vertikale Anordnung der Figuren, bei der Emma (die doppelt fiktional auch das Abbild der Sängerin Emanuela Hutter ist) oben und Flaubert unten platziert ist, so in Flauberts Mund zurück. Markowitsch lässt Flaubert durch Emma von seiner eigenen Medizin kosten, indem Emma ihm das Gift, das er in sie hineingepumpt hat, zurückgibt. Die fiktive Figur des Schriftstellers beschenkt ihn mit dem Stoff, den er selbst geschaffen hat. Das Gift fungiert im Markowitschs Arbeit somit auch als eine Intervention und ein Akt der Widerständigkeit der Protagonistin des Romans, die nicht einfach nur unter ihrer Last zusammenbricht, sondern sich gegen den »Schutt der Anderen«164 zur Wehr setzt.

1.7

Die Pharmakoanalyse Wenn Drogenexperimente jeden gezeichnet haben, auch diejenigen, die keine Drogen nehmen, so deshalb, weil sich dadurch die Wahrnehmungskoordinaten von Raum und Zeit geändert haben und uns in ein Universum von Mikrowahrnehmungen führen, wo Arten des Tier-Werdens durch Arten des Molekül-Werdens ersetzt werden. Gilles Deleuze/Fèlix Guattari165

Isabelle Stengers formuliert die Ununterscheidbarkeit, Kontextabhängigkeit und Polyvalenz des Pharmakons in ihrem Buch Cosmopolitics I um und löst das Pharmakon von seiner Justierung in einem Schriftdiskurs oder seinem literarischen Diskurs, den Ronell fokussiert. Stengers betont, ähnlich wie Ronell, den abstrakten prekären Status der Droge oder eines pharmazeutischen

164 Ebd., S. 85. 165 Gilles Deleuze/Félix Guattari:Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1993, S. 339.

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Erzeugnisses in dem Sinne, als es ihm an eindeutigen Merkmalen und Eigenschaften ermangelt, um Bezugspunkte und Wirkungen eindeutig bestimmen zu können: The lack of a stable and well determined attribute is the problem posed by any pharmakon, by any drug whose effect can mutate into it’s opposite, depending on the dose, the circumstances, or the context, any drug whose action provides no guarantee, defines no fixed point of reference that would allow us to regognize and understand it’s effects with some assurance.166 Der Einsatz des Pharmakons ist nach Stengers von den Umständen abhängig, in denen es sich befindet. Als eine virtuelle Entität kann es demnach nur immer wieder aktualisiert werden, was eine Einheit mit und feste Positionierung in Raum und Zeit verunmöglicht. Dadurch wird klar, dass die Abwesenheit der Sicherheit auch ein Risiko mitbringt. Das Pharmakon besetzt ein riskantes Terrain, das vor dem Hintergrund des Zeitalters des Anthropozäns immer wichtiger zu werden scheint. Gleich zu Beginn von Stengers In Catastrophic Times heißt es: [T]he epoch has changed; that is to say of giving this observation the power to make us think, feel, imagine, and act. But such an attempt is formidable in that the same observation can serve as an argument to prevent us from thinking, and to anesthetize us.167 Diese Beobachtung macht jedoch auch Deleuze in seiner Kritik an den Regierungsformen der Disziplinargesellschaften bereits vor den Ansätzen des neuen Materialismus und der Theorie des Anthropozäns. Er signalisiert Veränderungen der Sozialstrukturen, die Foucault nicht abzusehen vermochte. In der kurzen, jedoch einflussreichen Studie Gilles Deleuzes Postskriptum über die Kontrollgesellschaften erscheint das Pharmakon in seiner biopolitischen und biotechnologischen Dimension auf der Bühne der politischen Theorie, die entsprechend artverwandt ist mit dem, was Haraway als Techno-Alchemie bezeichnet. Deleuze schreibt, man bräuchte keine SF, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der »in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt, Tier in einem Reservat, Mensch in einem Unternehmen (elektronisches Halsband).«168 Auch elektronische Karten, die den individuellen Zugang zu Städten, Vierteln und Wohnungen ermöglichen

166 Isabelle Stengers: Cosmopolitics I, Minnesota 2010, S. 10. 167 Isabelle Stengers: In Catastrophic Times. Resisting the Coming Barbarism, London 2015, S. 27. 168 Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 261.

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oder regeln, gehören nicht mehr der Fiktion an, sondern seien bereits Realität.169 Es sei ferner nicht nötig, um das »neue Monster« der Kontrolle zu bezeichnen, »die außergewöhnlichen Pharmaerzeugnisse anzuführen, die Nuklearformationen, Genmanipulationen, auch wenn sie dazu bestimmt sind, in den neuen Prozess einzugreifen«.170 Ohne weitere Präzisierung beweist Deleuze eine Sensibilität für das Verhältnis von Zukunftsfiktion und den neuen Regierungs- bzw. Subjektivierungsweisen durch pharmakologische und biotechnologische Verfahren. Biopolitische Zukunftsfiktionen und Dystopien unterscheiden sich seines Erachtens kaum mehr von der gesellschaftlichen Realität der Kontrollgesellschaften. Ohne im Einzelnen auf die Verschränkungen von Pharmakologie und SF einzugehen, hat Deleuze durchaus eine richtige Intuition für die Verstricktheit von Fiktion und den aufkommenden Subjektivierungsweisen durch biotechnologische Verfahren. Er sensibilisiert uns für die Fabulationen der Künste, die insbesondere innerhalb der Fantastik unsichtbare Kräfte sichtbar machen, welche dem gesellschaftlichen Bewussten entgehen. Die literarische, filmische oder künstlerische Äußerung bekommt dadurch sowohl eine symptomatische als auch diagnostische Qualität.171 Als Teil der sozialen Sphäre drückt sich in der ästhetischen Äußerung nicht nur repräsentativ etwas aus, sondern das Gesellschaftliche wird dort erst verhandelt und prognostiziert. Bevor Deleuze jedoch das Ästhetische bzw. Literarische der Droge und das des Pharmakologischen im Bereich einer biotechnologischen Regierungsweise verortet, unternehmen Deleuze und Guattari als Autorenduo im Zuge der Programmatik der Tausend Plateaus bereits 1980 den Versuch, das Pharmakologische im Kontext ihrer Immanenz- und Körpertheorie als einen philosophischen Gegenstand zu untersuchen. Dies geschieht vor allem im Rahmen einer programmatischen Verabschiedung der Psychoanalyse als einem Repräsentationssystem von ödipalen Mustern. Im Unterkapitel »Erinnerungen eines Moleküls« des »1730 – Intensiv-Werden, Tier-Werden, UnwahrnehmbarWerden« – also nahezu zwei Jahrzehnte vor dem Postskriptum-Text – schlagen Deleuze und Guattari in Abgrenzung zur Psychoanalyse das Konzept der Pharmakoanalyse vor. Obwohl dieses Konzept nur einmal im ganzen Buch erwähnt wird und auch bisher kaum Beachtung in der Deleuze/Guattari-Forschung

169 Vgl. ebd. 170 Ebd. S. 255. 171 Vgl. dazu auch Gilles Deleuze: Kritik und Klinik, Frankfurt a.M. 2000.

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findet,172 ist es einerseits ein neuralgischer Punkt in der Entwicklung der Argumente in Tausend Plateaus und andererseits ein Knotenpunkt für die weiteren Überlegungen dieser Studie. Gilles Deleuze und Félix Guattari bestehen mit dem Begriff der Pharmakoanalyse darauf, molekulare Bewegungen, Diffusionen und Ansteckungen zwischen Menschen, Maschinen, Fiktionen, Tieren und Dingen beschreibbar zu machen, anstatt sich auf die Omnipräsenz eines rein textlich verfassten Pharmakons oder einer psychoanalytisch-theatralen Repräsentation zu konzentrieren. Die Pharmakoanalyse soll in ihren Arbeiten als Ergänzung bzw. als eine wichtige Komponente der Schizoanalyse fungieren und wendet sich polemisch gegen die reduktionistischen Ansätze der Psychoanalyse. Eine pharmakoanalytische Untersuchung dringe viel weiter in die Sphäre des Einzel- und des Kollektivkörpers vor im Vergleich zu psychoanalytischen Methoden. Denn das deleuze/guattarische Unbewusste ist nicht wie bei Freud wie eine Sprache strukturiert, die signifikant ist oder signifiziert, sondern liege zwischen zwei Punkten in den »Mikrointervallen«173 als ein spatium. In dieser Konzeption des Unbewussten wird die Unterscheidung bewusst/unbewusst zugunsten einer unendlichen Kette rekursiver und relationaler Systeme aufgegeben bzw. aufgehoben. Ein psychoanalytisches Unbewusstes, in dem feste Punkte, Markierungen und sprachliche Repräsentationen dominieren, soll in ein nicht dichotom organisiertes Differenzgeschehen überführt werden, das molekular strukturiert ist: Wir meinen, dass das Drogenthema nur auf der Ebene verstanden werden kann, auf der das Begehren direkt die Wahrnehmung besetzt und die Wahrnehmung molekular wird, während zugleich das Unwahrnehmbare wahrnehmbar wird. Drogen erscheinen also als Agens dieses Werdens. Hier müsste eine Pharmakoanalyse ansetzen, die mit der Psychoanalyse verglichen, ihr aber gleichzeitig auch entgegengesetzt werden müsste. Denn die Psychoanalyse muss gleichzeitig als Modell, Gegensatz und Verrat aufgefasst werden. Die Psychoanalyse kann in der Tat als Bezugsmodell aufgefasst werden […]. Aber dieses kausale Schema bleibt einem Organisationsplan verpflichtet, der niemals als solcher zu erfassen ist, der immer aus etwas anderem abgeleitet wird, der dem Wahrnehmungssystem entzogen 172

173

Eine Ausnahme bildet Anna Powell: Deleuze. Altered States and Film, Edinburgh 2007. In ihrer hauptsächlich filmwissenschaftlich angelegten Studie untersucht Powell die Mobilisierungs- und Zersetzungsbewegungen im gegenwärtigen Film durch Drogen und andere chemische Präparate. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 382.

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bleibt und als Unbewusstes bezeichnet wird. […] Die Ebene des Unbewussten bildet einen molaren Gegensatz zum Wahrnehmungs- und Bewusstseinssystem und ist – da das Begehren auf diese Ebene übersetzt werden muss – selber an große Molaritäten gefesselt, die so etwas wie der verborgene Teil eines Eisbergs sind.174 Das Molekulare ist eines der zentralen Prinzipien und Begriffe in Deleuzes und Guattaris Werk. Es ist als eine spekulative Kritik an geschlossenen und molaren Ordnungssystemen zu verstehen. Mit der Molar-MolekularDifferenz ist in der Chemie eine numerische Masse eines Atomverbundes in einer Lösung gemeint. Sie benennt die Mikrostruktur eines kleinstmöglichen Teilchens, Elements oder einer Elementsynthese. Bei Deleuze und Guattari weist sie jedoch über das Chemische hinaus und wird als ubiquitäres Prinzip begriffen, das sich sowohl in der Kunst und im Sozialen als auch in der Politik ereignet: Die in Strömen, Schichten und Zusammensetzungen vorkommenden Elemente können auch in einer molaren oder molekularen Weise organisiert sein. Die molare Ordnung korrespondiert mit der Bedeutung, die Objekte, Subjekte, Repräsentationen und ihre Referenzsysteme definiert, während die molekulare Ordnung eine der Ströme, des Werdens, der Phasenübergänge und der Intensitäten ist.175 Innerhalb der großen Gefüge, in denen bedeutende und historische Größen und Protagonisten aufeinander prallen, gibt es subtile, kapillare und subkutane verflüssigte Prozesse, die unterhalb des Molaren molekulare Zirkulationen, Flüsse oder Ökonomien einrichten oder schon immer eingerichtet haben. Nach Deleuze und Guattari – zwei Autoren, die sich im Anti-Ödipus und in Tausend Plateaus, wie man zweifellos beobachten kann, dem biochemischen Denken verschrieben haben – bilden diese Strukturen ein zirkuläres und segmentiertes System, das ein Element oder Molekül vom Anderen zu trennen versucht. Molekulare Strukturen dagegen sind permeabel. Sie sind in der Lage, zu diffundieren und heterogene Verbindungen einzugehen.176 Strukturgleich sei auch das Unbewusste konzipiert: nicht als Ort der Repräsentation und auch nicht als Ort der Dichotomie von biologischen und psychischen

174 175 176

Ebd., S. 386. Félix Guattari: The Anti-Oedipus Papers, Los Angeles 2006, S. 418. Vgl. ebd., S. 662.

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Vorgängen, sondern als ein biochemisches bzw. molekulares Geschehen. Deleuze und Guattari begreifen das Unbewusste – in Abgrenzung zu Freud – als eine produktiv-materielle Wunschmaschine,177 die auf molekularer Ebene operiert. Diese wird nicht durch den Mangel angetrieben, sondern von positiven und produktiven Wünschen. Somit ist das Unbewusste keine Bilderwelt des Einzelsubjekts, sondern existiert im Einzel-, im Kollektivsubjekt und in den technischen und gesellschaftlichen Maschinen gleichermaßen.178 Die Pharmakoanalyse soll gegenüber der Psychoanalyse das bessere Beschreibungsinstrument sein und diese ersetzen: Subjekte, Gemeinschaften, kollektive Wünsche und Dinge sind damit irreduzibel miteinander verschränkt und werden von den beiden Autoren damit auch als prekär eingestuft, weil sie nicht solipsistische und klar abzugrenzende Entitäten mit jeweils ihren eigenen Unbewussten sind, sondern vielmehr ephemere Versammlungen mikroskopischer Kräfte, die in der Lage sind, sich kurzzeitig zu formieren und wieder auseinanderzufallen. Nach Deleuze und Guattari sind damit die sichtbaren (molaren und damit auch normativen) Formen nur Effekte eines »wilden Wucherns«179 unterhalb der sichtbaren Grenzen der Körper. Während die Psychoanalyse in einem repräsentativen Verhältnis zum Seelischen verbleibt, soll die Pharmakoanalyse im Gegensatz zum Un- bzw. Bewusstseinssystem, das vor allem im menschlichen Gehirn lokalisiert wird, die Begehrensdynamiken des Somatischen untersuchen, die für die Psychoanalyse unzugänglich seien. Deleuze und Guattari kritisieren die Psychoanalyse insofern, als sie, also die Psychoanalyse, nach wie vor das Verhältnis von Psyche und Körper nur dichotom denken kann. Die Kritik besteht also erstens darin, die Vorrangstellung der Psyche herauszuarbeiten, die immer wieder im Gehirn lokalisiert wird, und zweitens ihre Ödipalisierung. Das kritische Vorhaben des Anti-Ödipus liegt darin, die Möglichkeitsbedingungen des Ödipuskomplexes freizulegen. Der Ödipuskomplex bzw. die Ödipalisierung des Unbewussten wird als ein repressives Moment der Psychoanalyse beschrieben, das sich über die Praxis des Psychoanalytischen hinaus in die Sphären des Sozialen hineinbegibt. Die Annahme der Psychoanalyse, der Ödipus sei im Unbewussten verankert und hätte eine unmittelbare Nähe, die selbstverständlich scheint, wird in Zweifel gezogen: »Wir sind dermaßen durch Ödipus formiert, dass wir Mühe ha-

177 178 179

Vgl. Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus. Vgl. ebd., S. 512. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 15.

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ben, einen anderen Gebrauch uns vorzustellen.«180 Anstatt das Unbewusste aus der ödipalen Enge zu befreien, wird es »der Logik der Person unterworfen, imaginiert, strukturalisiert.«181 Der Ödipus erhebt das Phallische zum Ursprung und zum Signifikanten des Subjekts, »aus welchem durch Mangelbestimmungen die ganzen Personen entspringen.«182 Das ödipale Konstrukt ist dominiert von der Vorstellung, dass sich die Entwicklung des Subjekts zwischen der Trias von Vater-Mutter-Kind vollzieht. Die These, die Deleuze/ Guattari dieser Vereinfachung entgegenhalten, ist, dass die Ödipalisierung nur ein Ausschnitt eines viel komplexeren Prozesses ist. Subjekte wachsen in Sozialisationsfeldern auf, in denen Mutter und Vater nur Momentaufnahmen eines tiefer greifenden Mechanismus sind. Das »familiäre Dreieck« vergesse die libidinösen Besetzungen des gesellschaftlichen Feldes, was für Deleuze/Guattari ein »logisches Primat«183 dieser Strukturen ist. Der unbewusste Apparat wird demnach auch aus der Enge des in sich geschlossenen und vielleicht auch solipsistischen Subjekts herausgenommen. Das Unbewusste selbst sei ein Produkt des gesellschaftlichen Diskurses und ist damit irreduzibel verwoben. Die zugespitzte These von Deleuze und Guattari lautet somit: In Wahrheit ist die gesellschaftliche Produktion allein die Wunschproduktion selbst unter bestimmten Bedingungen. Wir erklären, dass das gesellschaftliche Feld unmittelbar vom Wunsch durchlaufen wird, dass es dessen historisch bestimmtes Produkt ist und Libido zur Besetzung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse keiner Vermittlung noch Sublimation, keiner psychischen Operation noch Transformation bedarf. Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaftliche, nichts sonst.184 Es sei ein Trugschluss, den Wunsch über die ödipale Repression bestimmen zu wollen. Deleuze und Guattari stellen dabei fest, dass Freud zwar die Dynamik des Wunsches entdeckt hat, diese jedoch zu schnell auf die familiären 180 181 182 183 184

Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, S. 97. Ebd., S. 69. Ebd., S. 94. Ebd., S. 461. Ebd., S. 39. Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass aufgrund des Primats des gesellschaftlichen Feldes Fantasieproduktionen für Deleuze immer schon kollektiv sind. Das Unbewusste des Subjekts lässt sich dadurch nicht durch die Psychoanalyse repräsentativ herauslösen, sondern wird zu einem geteilten. Das Wünschen ist nicht eine persönliche Ausdrucksproduktion, sondern eine unbewusste Besetzung des gesellschaftlichen Feldes.

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Instanzen verteilt und sie in ein Korsett der Bürgerlichkeit gesteckt hat. Das ödipale Bewusstsein bei Freud kreise um ein ursprünglich Verdrängtes und soll durch die psychotherapeutische Praxis repräsentativ wieder hervorgeholt werden.185 Die damit verbundene Logik der Repräsentation greift jedoch zu kurz und funktioniere als eine ödipale Zäsur. Mit der psychoanalytischen Verdrängung des Wunsches in das Private, verliert der Wunsch die Fähigkeit der Assoziation, die ihn in ein soziales Gefüge einwebt. Um die Trennung zwischen der gesellschaftlichen Produktion und dem produktiven Unbewussten zu unterlaufen, bringen die beiden Autoren die Schizoanalyse bzw. die Pharmakoanalyse in Stellung, die den Wunsch wieder fließen lassen soll, um die Grenzen des Ödipus zu durchschlagen. Die Schizophrenie sei somit nicht, wie man im medizinisch-therapeutischen Kontext behaupten würde, ein Krankheitsbild der Psyche, sondern ist für Deleuze und Guattari »das Universum des Wunsches«,186 das sich gerade gegen eine Pathologisierung der Medizin richtet. Die Aufgabe der Wunschmaschinen ist es, permanent Synthesen, Konjunktionen und Disjunktionen zu bilden. Sie funktioniert jedoch nicht im Sinne eines Austausches bzw. einer Ersetzung des Einen durch das Andere, sondern bildet Anschlüsse, die auch wieder zerfallen können. Es handelt sich um einen sich selbst hervorbringenden Prozess, der die dabei entstehenden Produkte nicht abspaltet, sondern sie immer wieder in den Produktionsprozess einspeist.187 Die Wunschmaschine öffnet sich anderen Maschinen und geht mit ihnen diverse Gefüge bzw. wie bereits skizziert eine Assemblage ein. Diese Gefüge sind nur möglich, weil sich die Grenzen der einzelnen Maschinen wie permeable Membranen verhalten, wodurch der Wunsch strömen kann. Die Maschine fungiert damit auch als etwas, das unter anderem den Anspruch hat, als binär und heteronormativ konstruierte Zweigeschlechtlichkeit zu unterminieren: überall eine mikroskopische Transsexualität, die bewirkt, dass die Frau ebenso viele Männer umfasst wie ein Mann, und der Mann ebenso viele Frauen, die alle in der Lage sind, miteinander in die Verhältnisse der Wunschproduktion einzutreten, die die statistische Ordnung der Geschlechter umstürzt. Sich zu lieben heißt nicht, es nur einmal, oder selbst

185 Vgl. ebd., S. 32. 186 Ebd., S. 11. 187 Während das ödipale Innere permanent ein transzendentales Außen schafft, sind die Funktionen der Wunschmaschine immanent.

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zweimal, sondern es hunderttausend Mal zu treiben. So sind die Wunschmaschinen, ist das unmenschliche Geschlecht also nicht ein, nicht zwei, sondern n… Geschlechter.188 Das freudianisch theatral-repräsentative Unbewusste wird mit diesem Konzept in ein produktiv-maschinisches überführt, das die Grenzen zwischen Mensch, Tier, Maschine übersteigt: »Das Unbewusste weiß nichts von Personen«, es gibt nur hybride »Beziehungen und Agenten«189 : »Der Mensch wird mit der Maschine, oder mit anderen Dingen zu einem Stück (einer Einheit), um so eine Maschine zu konstituieren«.190 Das maschinische Prinzip ist folglich nicht als ein technisches Gebilde zu verstehen, sondern als ein konjunktives und abstraktes Prinzip, das heterogene Teile aneinanderkoppelt und wieder zerfallen lässt. Die Produktionen der Maschine sind damit nicht klassisch fordistisch in der Fabrik lokalisiert, sondern durchziehen sämtliche Sphären des Sozialen und der Natur. Oder anders ausgedrückt: Die Produktionen der Fabrik sind von universellem Charakter, die sowohl in der Kultur, im Sozialen und in der Psyche gleich wirksam sind. Vor dem Hintergrund der Skizzen neu-materialistischer Ansätze erlaubt es die Pharmakoanalyse, das Spiel der Wechselwirkungen zwischen disparaten Elementen sichtbar zu machen. Sie verortet die Quellen der Wirksamkeit und Agentialität nicht nur bei ausschließlich menschlichen Akteur*innen und ihrer einzelnen Psychen, sondern betont eine verteilte Handlungspotenz, die sich nicht auf einzelne Subjekte, Elemente oder Entitäten reduzieren lässt.

1.7.1

Drogenkörper und Drogengefüge: Athletik des Unvermögens

Vor dem Hintergrund dieser spekulativen Kritik an der Psychoanalyse und der Affekttheorie Spinozas, der sich Deleuze und Guattari verpflichtet fühlen, argumentieren sie, dass, wenn das Begehren die einzige bewusste Vorstellung der Wirkung eines äußeren Körpers auf unseren eigenen ist, die Psychoanalyse, was die Frage nach der Droge angeht, zu versagen scheint, weil sie keine adäquate Antwort auf die spinozistische Frage geben kann, was ein Körper zu leisten vermag. Verstehen wir den Körper nach Deleuze und Guattari als einen Raum der Resonanz von unterschiedlichen auf ihn einwirkenden Kräften, dann zeichnet sich dieser Körper durch eine strukturelle Offenheit aus. 188 Ebd., S. 381. (Herv. i. O.) 189 Ebd., S. 58. 190 Ebd., S. 498.

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Die Haut als die äußere Grenze des Körpers entpuppt sich als eine durchlässige Membran, die den Austausch mit anderen Organismen ermöglicht. Wir können laut Deleuze nicht wissen, zu was ein Körper befähigt ist, denn »ein Körper kann alles mögliche sein, er kann ein Tier, ein Klangkörper, eine Seele oder eine Idee, ein linguistischer Corpus, ein geschlossener Körper, eine Kollektivität sein.«191 Diese Reihung fortsetzend kann der Körper auch unter dem Einfluss chemischer Substanzen und Drogen stehen. Nach Deleuze und Guattari begegnet der menschliche Körper durch die Einnahme von Drogen einem anderen Körper bzw. produziert einen anderen Körper im Selben, der nicht in symbolischen Formen oder in konsistenten Mustern der Signifikation und Repräsentation aufgeht. Im Falle der Einnahme von Drogen umgeht dieser andere Körper die symbolische Ordnung und besetzt laut den beiden Denkern sowohl das Wahrnehmen als auch das Wahrgenommene: Alle Drogen haben zunächst mit Geschwindigkeiten und Geschwindigkeitsveränderungen zu tun. Trotz aller möglichen Unterschiede kann man ein allgemeines Drogengefüge beschreiben, weil es eine Linie der Wahrnehmungskausalität gibt, die dazu führt, dass 1. das Unwahrnehmbare wahrgenommen wird; 2. die Wahrnehmung molekular ist; 3. das Begehren direkt die Wahrnehmung und das Wahrgenommene besetzt.192 Zunächst ist zu konstatieren, dass Drogen von Deleuze und Guattari nicht in moralischen Kategorien gedacht werden, sondern als eine Sache der Kontrolle der bei der Einnahme entstehenden Kräfte und Geschwindigkeiten, die sowohl auf den Körper einwirken als auch von ihm selbst produziert werden. Weder Verbot noch seine Übertretung sind dabei von Interesse, sondern die Frage danach, wie man mittels Drogen ein Werden erzeugen kann, dass die Wahrnehmung verändert, die in der Lage ist, »Mikro-Phänomene zu erfassen«,193 ohne sich selbst dabei erstens zu stark zu entgrenzen und zweitens nicht in eine neoliberale Logik der Optimierung zu verfallen. Drogeninduzierte Geschwindigkeit ist somit nicht einfach als immer schneller werdende Akzeleration des Körpers zu verstehen, die als ein prothesenartiges Update denkbar ist. Ähnlich den bebenden und verzerrten Körpern Francis Bacons,194

191 192 193 194

Gilles Deleuze: Short Cuts, Frankfurt a.M. 2001, S. 126. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 384. Ebd., S. 384. Vgl. Gilles Deleuze: Logik der Sensation, München 1995.

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steht der Drogenkörper vielmehr auf der Stelle und ist doch absolut beschleunigt, wodurch es sich eher um einen unproduktiven, nicht ökonomisch verwertbaren Körper handelt. Diese Form der Geschwindigkeit ist etwas, das Deleuze und Guattari als Intensität bezeichnen, also ein Phänomen der Geschwindigkeit, das in der Bipolarität von Schnelligkeit und Langsamkeit nicht zu summieren ist. Gleichzeitig fordert diese Konzeption ein chromatisches Modell einer Vorher-jetzt-nachher-Zeit heraus, indem es durch so etwas wie eine ereignishafte Zeit unterlaufen wird – das Ereignis als eine tote ZwischenZeit, in der nichts geschieht und auch nichts mehr messbar ist.195 Der Drogenkörper ist ein Körper der Dauer und auf diese Weise ist er eingefaltet in einer seltsamen Eigenzeitlichkeit, die sich nicht als Punkt auf einer kausal und teleologisch voranschreitenden Zeit einreiht. Der Drogenkörper verhält sich wie ein Intervall oder auch wie eine bereits in sich gespaltene Gegenwart, die die Kausalität außer Kraft setzt, oder, wie Deleuze in dem kurzen Text Zwei Fragen zur Droge pointiert, eine eigenständige und »spezifische Kausalität«196 entwickelt. Die Droge besitze somit nicht nur ein chemisches UrsacheWirkungs-Prinzip einer Pharmakokinetik, sondern sei vielmehr ein Drogenensemble, das verschiedene Wirkbereiche zusammenzieht: Es ginge vielmehr darum, ein Gebiet einzukreisen oder den Umriss eines Drogen-Ensembles zu zeichnen, das einerseits im Innern mit den verschiedenen Arten von Drogen und andererseits äußerlich mit den allgemeineren Kausalitäten in Zusammenhang stünde.197 Mit der Kausalität der Droge meint Deleuze, die Droge habe den Effekt, dass der damit verbundene Wunsch »unmittelbar das Wahrnehmungssystem besetzt.«198 Die Droge produziert Wahrnehmungen, die unmittelbar mit dem Unbewussten verknüpft bzw. mit dem Unbewussten immer schon in irgendeiner Weise verschwistert sind. Diese Verwandtschaft steht dem ödipalen Wunsch entgegen. Die Droge ermöglicht ›nicht molare‹, mikropolitische Effekte, also eine Aktivierung intensiver Bewegungen und Wahrnehmungen. Der Drogenkörper erreicht also einen Grad höchster Intensität durch nahezu passive Akte und durch ein körperliches Unvermögen. Von ihm geht eine nicht voluntaristische Wirkungsmacht aus, die sich nicht

195 Vgl. Gilles Deleuze: Was ist Philosophie, Frankfurt a.M. 2000, S. 184. 196 Gilles Deleuze: Zwei Fragen zur Droge, in: ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995, hg. v. Daniel Lapoujade, Frankfurt a.M. 2005, S. 144-147, hier S. 144. 197 Ebd. 198 Ebd.

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gegen die Diskurse und Anschließungsmechanismen wendet, sondern innerhalb dieser ein absolutes Nichts kreiert, das weder null noch eins ist. Diese geradezu antikinetische Figur, die Deleuze auch in seinen Untersuchungen zu Francis Bacon als Athletik199 beschreibt, zeichnet sich durch ein gegenläufiges und doch additives Verhältnis aus. Zum einen beinhaltet sie eine Kraft, die auf den Körper einwirkt und ihn dadurch verzerrt, und zum anderen eine Prozessstruktur, die ihren Anfang im Körper hat und nach außen drängt. Nur um uns kurz die Arbeiten Bacons vor Augen zu führen: Auf seinen Gemälden sind Figuren mit fehlenden Körperteilen zu sehen, ineinander geschweißte Körper oder auch Körper, bei denen die Gliedmaßen durch Prothesen ersetzt worden sind. Die fast bis zur Unkenntlichkeit deformierten Teile sind zumeist Gesicht, Geschlechtsorgane oder der Bewegungsapparat. Typisch menschliche Eigenschaften sind verwischt und driften zunehmend ins Tierische oder Anorganische. Die Malerei Bacons ist nach Deleuze keine Repräsentation von ›etwas‹ und sie fragt auch nicht nach dem ›Was‹ (also dem Seinsmodus) des Dargestellten. Es geht wesentlich darum, die Schichten unterhalb der bloßen Repräsentation ausfindig und die latenten Kräfte, Affekte, Sensationen und Ereignisse sichtbar zu machen, die bisher ungesehen blieben.200 Die Körper Bacons versuchen durch eine Kontraktionsbewegung sich selbst zu entkommen.201 Diese immanente Transgression vollzieht sich durch die Prothesen, Mutationen und durch die neu hinzugefügten oder weggenommenen Teile des Körpers; also durch das, was Deleuze als das Figurale202 bezeichnet. Das Figurale entsteht erst in einem Rhythmus und der Kontraktion von Diastole und Systole, Entspannung und Anspannung. Man kann sich diese Figur auch mit einem Beispiel aus der Raumfahrt verdeutlichen. Es braucht einerseits die Kraft, die auf den Körper einwirkt – also den Astronauten in der Zentrifuge durch hohe Gravitationskräfte zusammenpresst –, und andererseits die Kraft, die der Astronaut aufbringen muss, um sich aus dem Sitz der Zentrifuge befreien zu können. Die Gesamtheit der auf den Körper einwirkenden und von ihm ausgehenden Kräfte ist die Athletik eines unorganisierten (organlosen) und in der Schwebe gehaltenen Körpers. Die dadurch erzeugte Bewegung ist jedoch dauerhaft unterbrochen und kommt nicht von der Stelle.

199 200 201 202

Vgl. Deleuze: Logik der Sensation, S. 15. Vgl. ebd., S. 27 Vgl. ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 9.

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1.7.2

Die Athletik des Drogenkörpers

Die Athletik des Drogenkörpers, so lässt sich daraus schließen, folgt den Gesetzmäßigkeiten des Figuralen. Entgegen der Verwendung des Begriffs Athletik im Kontext des Sports, entzieht sich der athletische Drogenkörper der geläufigen Bedeutung des vermögenden, kräftigen und wettbewerbsfähigen Körpers. Vielmehr zeichnet sich der Drogenkörper durch eine Dysfunktionalität aus, die das Optimierungsdispositiv zu unterlaufen versucht. Mit der Droge soll sich der Körper von seiner organisierten Form lösen – also der Vorstellung, dass jedes Organ eine ihm fest zugewiesene Funktion erfüllt (z.B. Gehirn = Denken, Herz = Fühlen usw.). Deleuze und Guattari sprechen in diesem Zusammenhang auch vom organlosen Körper, dessen Dimensionen sich über den Schizo-, den hypochondrischen, den paranoischen, den masochistischen und letztlich den drogensüchtigen Körper erstrecken können.203 Die Vorstellung eines Körpers ohne Organe ist zunächst furchterregend und aus medizinisch-biologischer Hinsicht gar unmöglich. Deleuze und Guattari kümmern Kreisläufe oder Notwendigkeiten, die im Körperinneren ablaufen, wenig. Ihr Interesse gilt vielmehr den Potentialitäten einer nicht organisch organisierten Produktion. Sie wenden sich damit weniger gegen den konkreten Körper als gegen eine bestimmte Vorstellung von Strukturen des Körperlichen. Was Deleuze und Guattari zurückweisen, betrifft eine hierarchisierende Ordnungsstruktur der Organe mit ihrer ja nur behaupteten Naturhaftigkeit, die sich in unser Denken eingeschlichen, ja förmlich als Sediment ihre Ablagerung und Einbettung darin gefunden haben soll. Entscheidend für das Konzept des organlosen Körpers ist somit nicht das tatsächliche Auflösen der Organe, sondern das Entreißen des Unbewussten aus Signifikanz, der Repräsentation und Interpretation. Der Kopf bzw. das Gehirn wird mit dem Ich assoziiert und ist die Kontrolleinheit, welche den Rest des Körpers steuert. Der Körper als Träger einer Persönlichkeitsstruktur wird marginalisiert, und in dieser Marginalisierung schon liegt die Möglichkeit für hierarchische Gliederungen, sich einschleichen zu können: Erst schwebt, dann festigt sich die Trennung von Körper und Geist, Natur und Kultur. Den beiden Autoren geht es vor allem um Psychoanalyse bzw. Psychiatriekritik, die das Selbst auf dem Hintergrund einer Funktionalität konstruieren. Die Patientin wird so immer wieder auf ein festes Ich rückgeführt – es wird also stets und unaufhörlich der Versuch 203 Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 208.

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unternommen, der Patientin sich selbst (wieder-)finden zu lassen. Anstelle der Forderung nach einem ganzheitlichen und unversehrten Selbst soll nach Deleuze und Guattari eine solche Festschreibung vermieden werden. Dem mit sich selbst identischen Subjekt, das sich qua Logik nur im anderen Ich (Psychiater*in) erkennt, schlagen Deleuze und Guattari nichtreduktionistische und sich entgrenzende Subjektivierungsweisen vor. Der Körper habe selbst ein Begehren danach, sich zu entgrenzen. Deleuze spricht bereits in seiner frühen Arbeit Differenz und Wiederholung auch von dem Verlangen des Körpers, »[o]rgisch zu werden«,204 das heißt von einem Organismus, der dem äußeren Zwang der permanenten Segmentierung, Ränderung und Umstellung, ja letztlich taxonomisch vollständigen Einteilung entgleiten will, um sich ins Unendliche auszudehnen und alle Ortbarkeit abzustreifen; eine amorphe Masse zu produzieren, aus der sich die Organe herauslösen. Im Anti-Ödipus zitieren sie dazu Artaud: »Die Organismen sind die Feinde des Körpers.«205 Dieser Körper entflieht einer harmonischen Produktion, in der jedem Organ eine spezifische Funktion auferlegt ist. Der organlose Körper erscheint dagegen als eine antiproduktive Instanz, die sich jedoch permanent im Wandel befindet und als amorpher Lebensstrom in eine andere (werdende) Produktion übergeht: »Der organlose Körper und seine Intensitäten sind im wahrsten Sinne des Wortes die Materie selbst.«206 Auf den Weg zum organlosen Körper müssen die Grenzen und ihre Überschreitungen immer wieder durch Drogen neu eingeübt werden, mittels dieser man – wie oben zitiert – das »Unwahrnehmbare wahrnehm[en]« kann. Das bedeutet, sich mit dem (organlosen) Drogenkörper den Intensitäten und Geschwindigkeiten auszusetzen. Dieser andere Körper ist eine transgressive und zugleich immanente Figur, die versucht, ihre materielle Struktur zu überschreiten, ohne diese zu transzendieren. Körperlichkeit ist hier als ein exzessiver Sinnüberschuss zu verstehen, der nicht durch das, was man gemeinhin als Subjekt bezeichnen würde, einzuhegen ist. Der Drogenkörper lässt sich demnach in seinem delirierenden Zustand als ein infiniter Initiationsprozess verstehen – eine dynamis, die nicht auf energeia zu reduzieren ist.207 Es sei hier darauf hingewiesen, dass diese Potenzstruktur nicht mit

204 205 206 207

Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 330. Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, S. 14. Ebd., S. 365 Vgl. den Begriff der energeia und dynamis bei Aristoteles: Metaphysik, Bücher VII-XIV, Hamburg 1989. Vor allem im Kontext der Passivitätsforschung aufgegriffen und bear-

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dem Begriff des Möglichen zu verwechseln ist, da sie nicht danach strebt, wirklich zu werden. Dieser Körper befindet sich somit in einer unentschiedenen und virtuellen Gleichzeitigkeit von Entstehen und Zerfall und verlässt die molare Form Mensch. Er geht in ein ununterscheidbares Kontinuum über, in dem die Wahrnehmung selbst molekular wird. Eine anonyme, nicht humane und atomare Wahrnehmung, die abgelöst ist von der organischen und ›natürlichen‹ Wahrnehmung. Hier wird jedoch auch deutlich, dass der drogensüchtige Körper einem gefährlichen Prinzip der Zersetzung ausgesetzt ist. Die Selbstzersetzung macht ihn zu einer prekären Größe, die im Falle des Missbrauchs oder im Falle des ›falschen‹ Gebrauchs in die Selbstzerstörung gleiten kann: Wir sind nicht mehr, er ist nicht mehr Herr über die Geschwindigkeiten. Statt einen organlosen Körper zu erzeugen, der voll oder reich genug für den Durchlass von Intensitäten ist, schaffen die Drogen einen leeren oder gläsernen Körper, einen von Krebs befallenen Körper: die kausale Linie, die kreative Linie oder Fluchtlinie verwandelt sich sofort in eine Todeslinie, eine Linie der Vernichtung. […] Der Fehler der Drogensüchtigen besteht darin, immer wieder bei Null anzufangen, entweder um Drogen zu nehmen, oder um sie aufzugeben, während es richtig wäre, eine Zwischenstation zu machen, »in der Mitte« anzufangen, in der Mitte eine andere Richtung einzuschlagen. Man muss sich betrinken können, aber mit klarem Wasser (Henry Miller). Man muss sich berauschen, aber durch Enthaltung […]. An den Punkt gelangen, an dem es nicht mehr darum geht, Drogen zu nehmen oder nicht, weil die Droge die allgemeinen Bedingungen der Wahrnehmung von Raum und Zeit so sehr verändert hat, dass es denjenigen, die keine Drogen nehmen, gelingt, die Löcher in der Welt zu durchqueren und auf die Fluchtlinien zu jenem Ort zu gelangen, an dem andere Mittel als Drogen erforderlich sind. Nicht die Drogen garantieren die Immanenz, sondern die Immanenz der Drogen macht es möglich, darauf zu verzichten.208 Deleuze und Guattari begreifen die Droge somit als ein strukturelles bzw. alles durchdringendes Phänomen – sprich: Alles kann zu einer Droge werden. Dabei bleiben sie teilweise Platons und auch Derridas Dialektik des ›guten‹

beitet von Juliane Schiffers, vgl. Juliane Schiffers: Passivität denken. Aristoteles – Leibniz – Heidegger, München 2014. 208 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 388f. (Herv. i. O.)

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und des ›schlechten‹ Pharmakons treu. Das einzige Unterscheidungskriterium ist die Dosierung, die darüber entscheidet, ob man ›Herr der Geschwindigkeiten‹ bleibt bzw. »in der Mitte« anfängt oder ob man das falsche Molekül wählt bzw. auf das falsche Pferd setzt.209 Um es mit den Begrifflichkeiten der beiden Autoren zu fassen: Die Droge befördert Eingrenzung und Segmentierung (Reterritorialisierung) als auch Entgrenzung der Ströme (Deterritorialisierung) – sie ist subjektivierend und de-subjektivierend zugleich. Auf dieser prekären Linie bewegt sich der Drogenkörper. Deleuze und Guattari feiern damit nicht einfach unkritisch die Entfesselung der Transformationsflüsse, die durch Drogen induziert werden, sie bewerten Drogen jedoch auch nicht moralistisch. Drogenkonsum wird so nicht in Gänze abgelehnt. Sie kritisieren jedoch eine Abhängigkeit von Drogen, wenn diese die Toleranz eines Organismus übersteigt. In Abécédaire spricht Deleuze mit Claire Parnet über die möglichen negativen Auswirkungen der Sucht anhand des Alkohols.210 Deleuze gibt vor dem Hintergrund seines eigenen damals überwundenen Alkoholismus das Beispiel des ›letzten Glases‹. Es sei nicht das letzte Glas, das über Abhängigkeit entscheidet, weil es das tödliche Glas ist. Es sei vielmehr das vorletzte Glas, das erlaubt, weiterzutrinken, weiterzuleben und auszuhalten.211 Ein Drogensüchtiger hört nach Deleuze mit dem vorletzten Glas auf, also immer einen Schritt vor der eigenen Auslöschung, um – wie es eben weiter oben heißt – immer wieder bei Null anzufangen, entweder um Drogen zu nehmen, oder um sie aufzugeben. Sucht und Abhängigkeit sind somit die Kehrseite des Drogengebrauchs und ermöglichen nichts. Sie verschließen und versiegeln nach Deleuze ein schöpferisches Werden und eine Fluidität des Subjekts, die es braucht, um zu neuen oder anderen Subjektivierungsformen zu kommen.

209 Vgl. ebd., S. 389. 210 Unter dem Buchstaben B wie Boisson findet sich im Gespräch zwischen Parnet und Deleuze eine kurze biografische Bemerkung zu Deleuzes Alkoholsucht. Vgl. Gilles Deleuze: Abécédaire. Gilles Deleuze von A bis Z, Paris 1996. 211 Auf die Droge Alkohol kann hier nicht genauer eingegangen werden, da sie auch in Deleuzes Werk einen geringen Anteil hat und zudem bereits kursorisch erarbeitet wurde. Mit dem Verhältnis von Sucht, Intoxikation und Alkohol in den Arbeiten von Gilles Deleuze setzt sich Gary Genosko präziser auseinander, vgl. dazu Gary Genosko: Drinking Animals: Sobriety, Intoxication and Interspecies Assemblages, in: Colin Gardner/Patricia MacCormack (Hg.): Deleuze and the Animal, Edinburgh 2017, S. 295-310.

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1.7.3

Das schwarze Loch der Droge und die zwei Gesundheiten

In Zwei Fragen zur Droge spitzt Deleuze die Dialektik der vitalen Form und der selbstzerstörerischen Form der Droge zu, indem er nochmals klar macht, dass eine deterritorialisierende Fluchtlinie nicht per se befreiend wirkt, sondern auch jederzeit in ein, wie er es nennt, ›schwarzes Loch‹ führen kann: Die Droge erzeugt ihre aktiven Fluchtlinien. Aber diese Linien rollen sich ein, beginnen in schwarze Löcher zu trudeln, jeder Süchtige in sein Loch, ob Gruppe oder Individuum, wie eine Strandschnecke. Eher »down« als »high«. […] [U]nd es beginnt das System der abscheulichen Abhängigkeit, Abhängigkeit vom Produkt, von der Einnahme, von den phantomatischen Produktionen, Abhängigkeit vom Dealer usw. Abstrakt müsste man zwei Dinge unterscheiden: den ganzen Bereich der vitalen Experimente und den der tödlichen Unternehmungen. Ein vitales Experiment ist, wenn dich irgendeine Versuchung packt, von dir Besitz ergreift, immer mehr Verbindungen herstellt, dich für Verbindungen öffnet. […] Ein selbstmörderisches Unternehmen ist dagegen, wenn alles auf einen einzigen Strom reduziert wird: »meine« Einnahme, »meine« Sitzung, »mein« Glas. Es ist das Gegenteil der Verbindungen, es ist die organisierte Trennung.212 Isolation und die damit verbundene Handlungsunfähigkeit und Abhängigkeit können demnach also neben den befreienden Wirkungen auch ein zerstörerisches Resultat von Drogeninduzierung sein. Rosi Braidotti schreibt, ohne die Bezugnahme auf diese Überlegung von Deleuze und Guattari auszuweisen: »Die Droge »sperrt« das Subjekt in ein schwarzes Loch innerer Fragmentierung ohne Begegnungen mit anderen. Das schwarze Loch ist der Punkt, hinter dem die Fluchtlinie des Werdens implodiert und sich zersetzt.«213 An dieser Stelle sei zusätzlich angemerkt, dass Deleuzes und Guattaris Appell an die Mitte und ein Nicht-zu-weit-Gehen nicht mit Tendenzen einer neoliberalen Obsession für das Gesundheitsmanagement und der Mäßigung zu vereinbaren ist. Denn Deleuze und Guattari geht es eben nicht um hygienisch saubere, funktionale und effiziente Körper, die zwanghaft und konsumorientiert nach einer Optimierung von Gesundheit streben, sondern um eine andere Form der Gesundheit, die nicht als zu optimierendes Lebenskapital definiert ist. Deleuze begreift das Phänomen der Gesundheit nicht als das Gegenstück zur 212 213

Deleuze: Zwei Fragen zur Droge, S. 146. Rosi Braidotti: Politik der Affirmation, Berlin 2018, S. 34.

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Krankheit, sondern spricht eher von der »kleinen und großen Gesundheit«, die sich nicht gegenüberstehen, sondern als Vektoren aufeinander verweisen oder sich begegnen können: Nicht, dass der Schriftsteller zwangsläufig eine große Gesundheit besitzen würde; er genießt vielmehr eine unwiderstehliche kleine Gesundheit, die daher rührt, dass er Dinge gesehen und gehört hat, die allzu groß, allzu mächtig für ihn sind, ihm den Atem verschlagen und ihn erschöpfen, wenn er sie durchlebt – wobei sie ihm dennoch Werdensprozesse gewähren, die im Bann einer üppigen Gesundheit unmöglich gewesen wären.214 Obwohl Deleuze den Begriff der Gesundheit hier ausschließlich auf die Literatur bezieht, lässt sich sein Konzept der Gesundheit auch auf das Gefüge der Droge übertragen, da Deleuze die Sprache als einen Organismus begreift, der durch ein Hinzutun von anderen Texten und Sprachen zu »delirieren« beginnt: »Der Schriftsteller reißt die Sprache aus ihren gewohnten Bahnen heraus und lässt sie delirieren.«215 Und für die Literatur gilt: »Die Literatur entwirft in der Sprache eine Art Fremdsprache, die weder eine andere Sprache noch wiederentdeckter Dialekt, sondern ein Anders-Werden der Sprache ist, eine Minorisierung der großen Sprache, ein Delirium, das sie fortreißt.«216 Sowohl bei der Rezeption von Literatur als auch bei der Konsumtion der Droge geht es somit um die Evokation von neuen Wahrnehmungsweisen, die jedoch nicht zu einem ›größeren‹ oder zu einem ›Mehr‹ an Wissen führen, sondern vielmehr die epistemischen Grenzen, in denen sie sich bewegen, austesten – ein prekäres Unterfangen, das auch jederzeit in das Gegenteil umschlagen kann. In beiden Fällen, also dem Textkörper und dem realen Subjektkörper, geht es darum, den Organismus aus den »gewohnten Bahnen herauszureißen«,217 um ihn delirieren zu lassen. Das Gleiche gilt auch für die Philosophie, wenn Deleuze fragt, wie wir Erfahrungen mit Begriffen machen können. Begriffe werden so auf ähnliche Weise wie Drogen und literarische Stoffe eingenommen, um neue oder andere Wahrnehmungsfelder zu eröffnen. Das, was Avital Ronell später mit der Kompositionsmetapher des Tropiums beschreibt, ist bei Deleuze somit bereits angelegt.

214 215 216 217

Vgl. dazu Deleuze: Kritik und Klinik, S. 14. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

Vor dem Hintergrund der Theorie des glatten und des gekerbten Raumes bei Deleuze und Guattari ließe sich auch der Drogenkörper, dieses ›Drogengefüge‹, als ein Körper begreifen, der unter dem Einfluss von Drogen geglättet, aber zugleich auch wieder gekerbt wird. Die Droge hat die Eigenschaften, zu deterritorialisieren, Vektoren der Befreiung einzurichten und diese gleichzeitig zu reterritorialisieren, sie einzuhegen und damit dem Körper zu schaden, wenn man sich das Phänomen der Sucht vor Augen führt. Optimierung und Zerstörung befinden sich somit, ohne in moralische Kategorien von ›gut‹ gegen ›böse‹ zu verfallen, nach Deleuze und Guattari immer auf einer immanenten Linie und sind nicht voneinander zu trennen. Entsprechend lautet der letzte Satz von Tausend Plateaus auch: »Man sollte niemals glauben, dass ein glatter Raum genügt, um uns zu retten.«218 Vor dem Hintergrund dieser Annahmen sind Droge und Körper nicht binär oder vertikal-hierarchisch organisiert, sondern relational aufeinander bezogen. In diesen relationalen Verbindungen sind damit sowohl kreative als auch zerstörerische Kräfte am Werk. Es gibt somit keine Essenz oder einen Kern der Funktionsweise der Droge, sondern die Droge ist immer ein Drogengefüge: eine Drogenassemblage, die sich nicht auf die eine oder andere Eigenschaft reduzieren lässt. In Proust und die Zeichen (1993) gibt es eine prägnante Stelle, wo Deleuze in Bezug auf die Künste beschreibt, dass die Essenz nur als eine Differenz zu verstehen sei: Was ließe sich mit der Essenz, welche die äußerste Differenz ist, anderes tun, als sie wiederholen, kann sie doch durch nichts ersetzt werden, kann doch nichts an ihre Stelle treten? […] In Wirklichkeit sind Differenz und Wiederholung die beiden Vermögen der Essenz, untrennbar und korrelativ.219 Darauf bezugnehmend stellt Leonhard Fuest richtig heraus, dass es sich bei der Essenz der Droge im deleuzeschen Sinne um eine Dissenz handelt – also eine Substanz, die dem aristotelischen Verständnis von Form und der sich dazu verhaltenden Materie zuwiderläuft.220 In diesem Sinne gibt es ein Immanenzfeld221 des Drogengefüges. Die Essenz, von der Deleuze hier spricht, 218 219 220 221

Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 693. Deleuze: Proust und die Zeichen, Berlin 1993, S. 42. Vgl. Fuest: Poetopharmaka, S. 49. Das Immanenzfeld ist ein zentraler Begriff und Operator in Deleuzes Werk. Vor allem vor dem Hintergrund des organlosen Körpers und des Drogengefüges meint das Immanenzfeld eine Fläche, die weder im Ich zu verorten ist noch im Außen, sondern in der Falte der beiden, die nach Deleuze so etwas wie ein absolutes Außen darstellt,

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ist nicht zu verwechseln mit einer metaphysisch vorgängigen Substanz oder auch mit dem Wesentlichen in Abgrenzung zum Unwesentlichen, sondern sie ist eine schwache Verbindung heterogener Elemente. Deleuze und Guattari bezeichnen dies auch als »Diesheit«.222 Diese Diesheit bestimmt sich über die jeweiligen Verhältnisse von Bewegung und Ruhe zwischen ihren Elementen und über das jeweilige Vermögen der Elemente, von anderen Elementen affiziert zu werden oder selbst andere Elemente zu affizieren. Es gibt demnach kein höherstufiges Prinzip, das diese Prozesse steuert, sondern ein asubjektives Geschehen, das sich nur anhand von Intensitätsgraden messen lässt. Die Diesheit der Essenz ist weder substantiell noch diskursiv, sondern eine kontinuierliche Variation der beiden, die sich zwischen Entstehen und Zerfall befindet. Wenn alles eine Droge sein kann, da sich die Essenz von Dingen durch das Spiel und die Gleichzeitigkeit von De- und Rerterritorialisierungsbewegungen auszeichnet – und sie sich sowohl wie Gift als auch wie ein Heilmittel verhalten –, dann befinden sie sich erstens in einem ontologischen Schwellenzustand und zweitens verlaufen sie quer zu dem klassisch-metaphysischen Verständnis von Substanz und Attribut. Toxische/heilende Essenzen sind – wenn man Deleuze und Guattari weiter folgen will – paradoxerweise anti-essentialistisch, weil ihr ontologischer Status nur aus dem Kontext ihrer Gefüge heraus zu destillieren ist. Die agency der Droge ist somit keine Trägerschaft, an der Droge haften keine Eigenschaften, sondern die Handlungsmacht verteilt sich auf Drogen und Körper, die nur im Plural denkbar sind, wodurch weder ein Anthropozentrismus hinterrücks eingeführt wird noch eine Hypostasierung des Objekts oder der Ding-Vitalität, die sich rein auf die Eigenständigkeit der Materie verlässt. Was ist also die Pharmakoanalyse? Die Pharmakoanalyse ist sowohl Methode als auch Gegenstand der Untersuchung – sie ist deskriptiv und präskriptiv zugleich, da sie einerseits ein analytisches Instrumentarium für das Phänomen des kollektiven, konnektiven und ›molekularen‹ Unbewussten bereithält, und andererseits ist ihr der Aufruf zum Widerstand gegen ›molare‹ – also autoritäre – Strukturen wie Rasse, Geschlecht und den auf Kastrationsängsten basierten Nationalstaat eingeschrieben. Die Leistung einer Pharmakoanalyse als Gegenmodell zur Psychoanalyse besteht darin, soziale

auf dem das Innen und das Außen gleichermaßen »Bestandteil der Immanenz« sind. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 215. 222 Gilles Deleuze: Die Immanenz: ein Leben, in: ders.: Schizophrenie und Gesellschaft, S. 365370, hier S. 368.

I. Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit

Gefüge und Individuen als sich selbst immanente molekulare Bewegungen und Diffusionen zwischen Menschen, Maschinen, Tieren und Dingen zu begreifen. Diese biotechnologische Funktionsweise umfasst das, was Deleuze und Guattari bekanntlich als Werden bezeichnen. Vor dem Hintergrund der Seltsamkeit der Materie hat das Werden bei Deleuze und Guattari, wie es scheint, unterschiedliche Vektoren bzw. Fluchtlinien. Erstens beschreibt die Pharmakoanalyse Prozesse des Werdens, die mit dem Begriff der Metamorphose nicht zu vereinbaren sind. Beide Autoren distanzieren sich von einer sichtbaren Verwandlung von einem Materiezustand in einen anderen. Was sie meinen ist wesentlich »ein Gleiten hin zu anderen Möglichkeiten«.223 Der Begriff des Molekularen ist dabei zentral und bezieht sich nur indirekt auf tatsächliche chemische bzw. biologische Prozesse. Das Molekulare ist vor allem eine Trope, welche die Hierarchien von Materie/Form und molar/molekular bzw. geschlossene und reduktionistische Ordnungssysteme (z.B. Psychoanalyse, Strukturalismus) sichtbar machen soll. Subjekte, Gesellschaften und Stoffe bekommen einen prekär-offenen Status, weil sie kontingente und konnektive Versammlungen mikroskopischer Kräfte darstellen, die sich zwischen den großen Formen vollziehen bzw.: Die großen, sichtbaren Formen sind nur Effekte eines wilden molekularen Treibens unterhalb der sichtbaren Grenzen der Körper. Jedoch zeichnet sich vor allem anhand der eben bereits skizzierten zerstörerischen, sich zersetzenden Formen eine dunkle und seltsame Seite des Werdens ab, die, wie es auch Andrew Culp in Dark Deleuze (2017) betont, sich nicht in den »Kanon der Freude« und der radikal affirmativen und »fröhlichen Tätigkeit der Kreation«224 integrieren lässt, sondern auch als destruktive Kraft der Negativität wirksam wird. Wie ich bereits am Beispiel des Drogenkörpers herausgestellt habe, ist die Negativität in Deleuzes und Guattaris Denken immer schon eingeschrieben und wird, wie Culp richtig beobachtet, in der Forschung oftmals nur in eine sehr affirmative ›positive‹ Richtung gelesen. Die dunkle und zerstörerische Seite der Pharmakoanalyse und des Werdenskonzepts bei Deleuze und Guattari wird vor allem an ihrem Umgang mit den Künsten und der Literatur deutlich. Um genauer zu sein, ist es vor allem ein Autor, den Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus nur vereinzelt aufrufen, der dennoch zentral ist für eine ›dunkle‹ Seite des Werdens – nämlich H.P. Lovecraft. Deleuze und Guattari berufen sich insgesamt sechs Mal 223 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 371. 224 Andrew Culp: Dark Deleuze, Hamburg 2017, S. 7.

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auf Lovecraft, der zusammen mit Autor*innen wie Virginia Woolf und Herman Melville seine Erwähnung findet, jedoch eigentlich nichts mit Melville und Woolf gemein hat.225 Anhand der Erzählungen von Lovecraft wird deutlich, dass man mit der Pharmakoanalyse zu kurz greifen würde, wenn man sie nur als Beschreibungsapparat des frei flotierenden und entgrenzten Werdens beschreiben würde. Werden nach Deleuze und Guattari beinhaltet auch den metaphysischen Horror, die entfremdende und albtraumhafte Materie, den organlosen Körper, der das Subjekt zu zersetzen sucht. Im Folgenden möchte ich beide Seiten der Pharmakoanalyse beleuchten, denn der Assemblage steht auch immer ein Nichtwerden gegenüber, genau so wie der Komplexität und der fröhlichen Intensität der Gefüge auch Kataklysmus, Ressentiment und die Gewalt gegenüberstehen können. Im Folgenden werde ich ausgehend von dieser Annahme zwei dunklen Ökologien folgen, die die Gleichzeitigkeit dieser Bewegung anhand von zwei prekären Stoffen ästhetisch nachvollziehbar machen und exemplifizieren. Die Untersuchungen der zwei weird fictions, die sich transversal und überschneidend zueinander verhalten, werden aufzeigen, wie mittels ästhetischer Spekulation mit prekären Stoffen auf zweierlei Weise der Anthropozentrismus aufgebrochen und eine Agentialität der Materie sowie zwei unterschiedliche Ökologien der Gemische und Gemenge inszeniert werden.

225 Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 103, 327, 334, 339, 342f.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

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H.P. Lovecrafts spekulative Substanzen in der Erzählung  Farbe aus dem All 1 Das Klebrige erscheint mir wie eine im Alptraum gesehene Flüssigkeit, deren Eigenschaften sich alle mit einer Art Leben beseelen und gegen mich richten. Das Klebrige ist die Rache des An-Sich. Jean-Paul Sartre2   Wenn wir durch die schleimige Schmiere aus Moralität, Politik und Körpersäften waten, liegt nichts Unschuldiges in der spielerischen Stimulation der Angstreaktion. Ein Aggregat aus Angst und Schrecken arbeitet unter der Oberfläche und sickert bei günstigen Bedingungen ans Licht. Furcht und Moralismus ergeben ein ätzendes Gebräu. Karen Barad3

1

Die ersten Vorarbeiten zu diesem Teil, die hier erweitert und ausgearbeitet vorliegen, gehen zurück auf einen bereits erschienenen Aufsatz. Vgl. Georg Dickmann: Literarische Hyperobjekte. H.P. Lovecrafts Spekulationen mit seltsamen Substanzen, in: Busch u.a.: Das Ästhetisch-Spekulative, S. 133-154.

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Autoren wie Arthur Machen, William Hope Hodgson und in ganz besonderer Weise H.P. Lovecraft, der als Erfinder der weird fiction gilt, erzeugen in ihren Fiktionen humane Welten, die konfrontiert sind mit einem monströsen, absoluten und nicht überschaubaren Außen, dass die Welt und alle, die darin enthalten sind, in Gänze bedroht. Die Protagonisten innerhalb der Narrative metaphysischen Horrors sind permanent Seltsamkeiten und verstörenden kosmischen Indifferenzen ausgesetzt, die sie nicht bewältigen können. Es sind hyperchaotische Welten, die stabile Naturgesetze abstreifen und die Subjekte mit einer radikalen Kontingenz der Natur konfrontieren. Die Struktur des Horrors, die alle Fiktionen dieser Couleur zu verbinden scheint, so wie es Nick Land in seinem Essay No Future beschreibt, ist nicht die Furcht vor dem, was noch kommen könnte, sondern die Gegenwart eines grauenhaften und leeren Universums, von dem wir schon die ganze Zeit umgeben sind.4 Es ist also kein korrelatives Weltmodell, in dem das Grauen mit dem Menschen interagiert bzw. von ihm ausgeht, sondern das Grauen ist metaphysischer Natur. In der Weird-fiction-Forschung spricht man entsprechend auch vom kosmischen Pessimismus,5 also der Begegnung mit einem radikal Unmenschlichen. Eugene Thacker, der sich mit dem Horror des Philosophischen auseinandersetzt, bezeichnet die Begegnung mit dem radikalen Außen des Kosmos auch als eine Begegnung mit der Welt An-sich, die dem Menschen gleichgültig entgegensteht: Die Sicht des kosmischen Pessimismus ist eine seltsame Mystik der Weltohne-uns, eine Hermetik des Abgrunds, ein noumenaler Okkultismus. Es geht um den schwierigen Gedanken einer absolut unmenschlichen, den Hoffnungen, Wünschen und Bemühungen menschlicher Individuen und Gruppen gegenüber gleichgültigen Welt. Der Grenzgedanke des kosmischen Pessimismus besteht in der Idee des absoluten Nichts, und diese

2

3 4 5

Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften. Bd. 3), hg. v. Traugott König, übers. v. Hans Schöneberg u. Traugott König, Hamburg 1993, S. 1042. Barad: Verschränkungen, S. 119. Vgl. Nick Land: No Future, in: Avanessian/Quiring: Abyssus Intellectualis, S. 207-215. Die Forschung zum Bereich der weird fiction fällt vielfältig und heterogen aus. Es würde zu weit führen, diese hier zu diskutieren. Rezente literaturwissenschaftliche und philosophische Forschungsarbeiten zu diesem Bereich wurden kürzlich von Emily Alder und Daniel Illger vorgelegt, vgl. Emily Alder: Weird Fiction and Science at the Fin de Siècle, Edinburgh 2020. Vgl. Daniel Illger: Kosmische Angst, Berlin 2021.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

Idee kommt unbewusst in den vielen populären Medienbildern von Atomkriegen, Naturkatastrophen, globalen Pandemien und den verheerenden Auswirkungen des Klimawandels zum Ausdruck.6 Der Unterschied zum menschlichen Pessimismus besteht darin, dass die kosmische Ausprägung eben nicht die allzumenschliche Verzweiflung oder das Leiden an der Welt einzelner Subjekte ist, die sich dann in Pathologien wie Depression oder Burnout äußert, sondern der Pessimismus besteht darin, dass das Denken überhaupt an seine absolute und metaphysische Grenze stößt, die kein positives Wissen produzieren kann. H.P. Lovecraft ist wahrscheinlich der prominenteste Autor aus dem Universum des kosmischen Pessimismus. Seine Erzählungen exerzieren immer wieder aufs Neue fremdartige Welten, die eine humane Integrität des menschlichen Subjekts bedrohen. Anhand von verdrehten Naturgesetzen, die anderen Regelhaftigkeiten folgen, lässt Lovecraft die Raum- und Zeitstrukturen der menschlichen Welt kollabieren. Entsprechend münden viele seiner Erzählungen, wie hier explizit erwähnt werden soll, in xenophoben Regressionsfantasien. Immer wieder finden kulturkonservative Vorstellungen sowie rassistische Äußerungen den Eingang in Lovecrafts Geschichten, die vermuten lassen, dass das bedrohliche und monströse Außen die Fremdenfeindlichkeit im Inneren des Autors reflektiert. Dass einige Vertreter*innen des neuen Materialismus, die sich explizit mit Lovecraft beschäftigen, in ihren Bezugnahmen diesen Umstand unterschlagen, lässt sich auch nicht mit dem Hinweis Robert Blochs, eines Briefpartners Lovecrafts, entschuldigen, dass dessen Rassismus im Kontext der Zeit zu betrachten sei. Die Frage nach Ontologie und Ökologie prekärer und seltsamer Stoffe in der Literatur führt, wie ich in der folgenden Lektüre zeigen werde, dennoch nicht an Lovecraft vorbei. Gleichwohl wäre die Frage danach zu stellen, ob die Fremdartigkeit der Stoffe Lovecrafts als Ausformung seines Rassismus zu lesen ist und zugleich, wie zu Beginn bereits angedeutet, darauf hinweist, dass schöpferisches Werden eine Kehrseite hat und nicht zwangsläufig emanzipatorische Effekte auslöst.7 Obschon der Pulp- und Horrorautor Lovecraft bekennender Atheist und Materialist ist, wimmelt es in seiner Erzählwelt von mythischen und rätselhaften Wesen sowie Stoffen, die 6 7

Eugene Thacker: Im Staub dieses Planeten. Horror der Philosophie, Berlin 2020, S. 28. Für eine ausführliche Besprechung des Topos des Rassismus in Lovecrafts Texten siehe z.B. Michel Houellebecq: Gegen die Welt, gegen das Leben, Hamburg 2007, S. 110-116; oder auch Simon Godart: Lovecraft. Seltsame Sprachlosigkeiten, in: Enter – Ausst.-Kat. (= Toupet 1), Berlin 2014, S. 14-17.

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sich den irdischen Taxonomien entziehen. In seinen Fiktionen werden die bekannten Kategorien von Form, Stoff oder Substanz und Akzidenz sowie die euklidischen Gesetze, denen die Menschenwelt unterworfen ist, infiltriert von bereits vor Jahrmillionen auf die Erde gekommenen kosmischen Wesen und Materien, die das weltliche Koordinatensystem über Bord werfen. Ausgehend von den vorangestellten Überlegungen zu einer Prekarität von Materie werde ich von den zersetzenden Stoffen ausgehen, die das humane Subjekt auflösen oder die humane sinnliche Wahrnehmung übersteigen. Denn sowohl Die Farbe aus dem All (1927) als auch gegenwärtige Aktualisierungen des new weird, wie Alex Garlands Verfilmung Auslöschung (2018) des gleichnamigen Romans von Jeff VanderMeer, sind Phantasmen über Aliensubstanzen, die durch ihre radikale Fremdartigkeit die abgesicherte und integre Körperlichkeit menschlicher Subjekte bedrohen, dabei jedoch durch zwei diverse Strategien ästhetischer Spekulation und auch vor dem Hintergrund der Pharmakoanalyse Deleuzes und Guattaris zwei unterschiedliche Werdensprozesse porträtieren.

2.1.1

Zersetzung des Humanen und Nichtwerden

Lovecrafts Erzählungen inszenieren immer wieder abgründige und gigantische Alteritäten, an denen das Humane scheitert. Nahezu alle seine Geschichten handeln von einem fremdartigen Außen, das in das Humane einbricht und Wahnsinn hervorruft. Lovecraft lässt Welten entstehen, in denen menschliche Gesetzmäßigkeiten mit Anomalien aus weit entfernten Gegenden des Universums und mit grotesken Verdrehungen der Raum- und Zeitstrukturen konfrontiert sind. In seiner mythisch-wissenschaftlichen Erzählwelt, in der es von ekelerregenden und übermächtigen Monstergottheiten wimmelt, beschreibt der Autor aus Providence Wesen und Stoffe, die sich bekannten Taxonomien entziehen. Kategorien wie Form und Inhalt oder Substanz und Akzidenz werden verwischt, sobald diese bereits vor Jahrmillionen auf die Erde gekommenen kosmischen Wesen in das weltliche Geschehen eingreifen. So handelt auch Lovecrafts Die Farbe aus dem All von einem Zersetzungsprozess des Humanen im Angesicht eines kontingenten und nicht kooperierenden »großen Außen«, das sich nicht relational zu uns verhält, ob wir es nun denken oder nicht.8 In dieser Kurzerzählung wird eine nicht näher beschriebene Kleinstadt in Massachusetts von einer außerirdischen Substanz, der so genannten Farbe, heimgesucht, die alles Organische vergiftet 8

Meillassoux: Nach der Endlichkeit, S. 21.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

und es sterben lässt. Ein intern-fokalisierter Erzähler berichtet von Ereignissen, die sich einige Jahrzehnte zuvor ereignet haben sollen: Nachdem ein Meteorit auf dem Farmgrundstück seines Nachbarn eingeschlagen ist, geschehen dort seltsame Dinge. Es wachsen abnorm große oder ungenießbare Früchte und unbekannte Pflanzen. Die Menschen und Tiere aus dem Dorf verändern sich sukzessive und werden letztlich wahnsinnig oder mutieren. Beobachtbare Symptome bei Kontakt mit der giftigen Farbe sind: Halluzinationen, Paranoia, Gleichgültigkeit, Appetit- und Geschmacksverlust, soziale Isolation, Abbau der körperlichen Kräfte, im späteren Stadium animalisches Verhalten und zuletzt der Zerfall des Körpers zu einer unorganischen Masse. Zwei herbeigerufene Wissenschaftler von der fiktiven Miskatonic University versuchen den nicht klassifizierbaren Meteoriten einer geologischen und chemischen Untersuchung zu unterziehen: Sie hatten etwas freigelegt, das wie die Seite einer großen, gefärbten Kugel aussah, die in die umhüllende Substanz eingebettet war. Die Farbe, die einigen der Bänder in dem sonderbaren Spektrum des Meteors ähnelte, war fast nicht zu beschreiben; und man konnte sie eigentlich nur aufgrund einer Analogie als Farbe bezeichnen. […] Abgesehen davon, daß es ebenso leicht zu verformen, heiß und magnetisch war, daß es leuchtete, sich in konzentrierten Lösungen leicht abkühlte, ein unbekanntes Spektrum hatte, sich an der Luft auflöste und Silikonzusammensetzungen mit dem Resultat gegenseitiger Zerstörung angriff, besaß es keinerlei identifizierende Eigenschaften; und am Ende ihrer Untersuchungen mussten die Wissenschaftler sich eingestehen, daß sie den Stein nicht einordnen konnten. Er war nicht von dieser Erde, sondern Bestandteil des unendlichen Alls, und besaß als solcher außerirdische Eigenschaften, die außerirdischen Gesetzen gehorchten.9 Die Ontologie der Farbe mit dem unbekannten Spektrum wird durch seltsame Umstände und vor allem durch eine »Analogie« verzerrt und verunklart, statt durch präzise adverbiale Bestimmungen eine Definition des Dings zu gewähren. Bereits die Verdinglichung der Farbe als einer Qualität Farbe bringt das Substanz-Akzidenz-Verhältnis durcheinander, weil Farbe vornehmlich attributiv und als Modus der Substanz gedacht wird. Lovecraft verdreht dieses Verhältnis, indem er Substanz und Attribut in eins fallen lässt. Dieses ›Etwas‹ 9

H. P. Lovecraft: Die Farbe aus dem All, in: ders.: Das Ding auf der Schwelle. Unheimliche Geschichten, Frankfurt a.M. 1967, S. 47-81, hier S. 54.

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ohne wissenschaftlich fassbare Eigenschaften macht das nicht Darstellbare einerseits sichtbar und annulliert das Sichtbare im gleichen Moment, da es seine Eigenschaften im Moment ihrer sprachlichen Benennung sofort wieder abwirft. Die Farbe als Bestimmung von etwas als etwas entgleitet so im Moment ihrer Identifizierung. Lovecraft spekuliert mit dem aristotelischen bzw. dem klassisch newtonschen Verhalten von Materie und imaginiert mit der seltsamen Farbe, die nicht menschlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, eine unscharfe Materialität, mit der eine dichotome Spaltung in Substanz und Akzidenz bzw. Stoff und Form unmöglich wird. Die scheiternden Versuche der Vermessung und Qualifizierung der Farbe weisen jedoch auch auf die sehr weltliche Krise des mechanistischen Weltbildes in der Physik des frühen 20. Jahrhunderts hin. Lovecraft gibt mit den ratlosen Wissenschaftlern von der fiktiven Miskatonic Universität im fiktiven Arkham Einblick in den Streit zwischen der von Newton geprägten Physik und der aufkommenden Quantenmechanik. Das wird vor allem dadurch deutlich, dass die unheimliche Farbe sich nicht in elementare Bestandteile zergliedern lässt und sich auch keine Eigenschaften des Stoffes bestimmen lassen, so wie es Newtons Mechanik verlangen würde. Laut Newton muss Materie messbar und in ihre kleinsten Teile (Atome) zerlegbar sein, damit man etwas über sie erfahren kann. Denn nur in diesem Fall folgt sie den Regeln der Kausalität, Lokalität und der Chronologie. Wie jedoch Werner Heisenberg zu Beginn der 1920er Jahre, also in der literarischen Wirkungszeit Lovecrafts, herausfand, ist es nicht möglich, die Lage und die Geschwindigkeit eines Atoms gleichzeitig zu bestimmen, womit er die Gültigkeit der von Newton aufgestellten Regeln in Frage stellte. Denn jede Messung vermag nur das eine oder das andere zu erfassen. Ein auktorialer Blick auf den Versuchsaufbau wird dadurch verzerrt. Zur Ungewissheit der Messung kam hinzu, dass sich Materie, von der man glaubte, sie ordne sich gemäß den oben erwähnten newtonschen Parametern an, vor dem Hintergrund der Quantentheorie widersprüchlich verhält; nämlich – gemäß der heisenbergschen Unschärferelation – einerseits als Teilchen und andererseits als Welle.10 Experimente, die auf die Teilchenstruktur, und solche, die auf die Wellenstruktur von Materie verweisen, schließen sich aufgrund ihrer grundverschiedenen Anordnung aus, wodurch eindeutige Bestimmungen unmöglich werden. Dem Materieverhalten, wie es die Quantentheorie beschreibt, nicht unähnlich ist 10

Vgl. dazu z.B. Arthur Haas: Einführung in die theoretische Physik. Mit besonderer Berücksichtigung ihrer modernen Probleme. Bd. 2, Berlin/Leipzig 1930, S. 49-54.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

Lovecrafts Farbe aus dem All somit keine Substanz im klassisch newtonschen bzw. atomistischen Sinne – also kein autonomes Seiendes bzw. ein unbewegter Beweger –, sondern eine stoffliche Intensität, die sich weder in Registern der anthropozentrischen Kausalität noch in substanzmetaphysischer Vorgängigkeit denken lässt. Darüber hinaus rufen das omnipräsente Leuchten (die Phosphoreszenz der Farbe) und die damit verknüpften bizarren Mutationen von Flora und Fauna Assoziationen mit radioaktiver Strahlung auf: Jetzt, da das Licht der Lampe fehlte, wurde offenbar, dass eine schwache Phosphoreszenz das ganze Zimmer zu durchdringen begann. Sie glimmte an den breiten Bodendielen und dem kleinen Fleckerlteppich und schimmerte auf den Rahmen der kleinen Fenster. Sie lief an den freiliegenden Eckbalken auf und ab, funkelte um den Kaminsims und infizierte sogar Türen und Möbel.11 Obwohl diese Aliensubstanz ihre Eigenschaften mit jedem menschlichen Zugriff abstreift, ist das Phänomen der Phosphoreszenz erstens als das, was in der Physik als radioaktive Leuchtfarbe bezeichnet wird, erkennbar und weist zweitens biologische Eigenschaften eines Virus auf, das nicht nur Organisches, sondern auch Anorganisches ›infiziert‹. Gerade die Infektion von Anorganischem durch die Farbe ist der Versuch, mittels einer Hyperbel eine spekulative Denkfigur zu entwerfen, die eigentlich vor dem Hintergrund virologischer Eigenschaften nicht denkbar ist. Das Leuchten bei der Phosphoreszenz ist dadurch zu erklären, dass bei Zerfall eines radioaktiven Stoffes Energie in dieser Form abgegeben wird. Lovecraft greift sicherlich bei der Inszenierung der Aliensubstanz auf die Entdeckung des Radiums im Jahr 1896 zurück, insbesondere des Radiumsalzes, das im Dunkeln leuchtet und sowohl in den USA als auch in Europa als Heilmittel gegen Krebserkrankungen eingesetzt wurde.12 Bewusst spielt Lovecraft mit den Wissensordnungen der Physik sowie der Biologie und besetzt das nukleare Leuchten zusätzlich mit tierlichen Adjektiven, um die unheimliche Lebendigkeit der leuchtenden Farbe hervortreten zu lassen, die einerseits das humane Leben radikal bedroht, andererseits

11 12

Lovecraft: Die Farbe aus dem All, S. 75. Zu der therapeutischen Verwendung des radioaktiven Radiumsalzes im frühen 20. Jahrhundert vgl. Wilhelm Falta: Die Behandlung innerer Krankheiten mit radioaktiven Substanzen, Berlin 1918, S. 66ff. Zu der durch Radiumsalz hervorgerufenen Strahlung und der Auswirkung dieses Stoffes auf den Körper vgl. Jacques Denne: Das Radium, Nikosia 2016, S. 33.

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jedoch lebendiger zu sein scheint als alles Organische und Nichtorganische im Dorf. Der Horror der radioaktiven Strahlung wird eben durch diese exzessive und dadurch bedrohliche Lebendigkeit erzeugt. Denn selbst der Energieerhaltungssatz in Bezug auf die Dynamiken der Farbe scheint nicht gültig zu sein. Dieses fremdartige und alles zersetzende Etwas unterliegt nicht den Gesetzen der Thermodynamik, da es sich – so scheint es – wie aus eigenem Antrieb immer weiter fortbewegt, alles befällt und infiziert, ohne dabei Energie einzubüßen. Darin spiegelt sich der Widerstreit des newtonschen mechanistischen Weltbildes, das vor allem Vorhersagbarkeiten der Energieerhaltung ermöglicht, und der neuen quantenphysikalischen Paradigmen, die ein dynamisches und nicht lokales Verhalten von Materie behaupten. Erneut wird dies abseits eines verzerrten Substanz/Form-Verhältnisses durch die Verwendung von tierlichen und pflanzlichen Komponenten und Eigenschaften verstärkt. Die Farbe aus dem All als ein alles zersetzendes Pharmakon folgt Gesetzmäßigkeiten einer nicht weltlichen und fremden Ökologie: Es war eine Szene aus einer der Visionen von Fuseli, und über allem anderen herrschte dieser Aufruhr leuchtender Formlosigkeit, dieser fremdartige, dimensionslose Regenbogen kryptischen Giftes aus dem Brunnen – brodelnd, tastend, schlürfend, greifend, glitzernd, zerrend und bösartig blubbernd in seinem kosmischen, unbestimmbaren Chromatismus […]. Es war kein Hauch von den Himmeln, deren Bewegungen und Dimensionen unsere Astronomen vermessen oder ihnen zu unendlich für irgendeine Messung erscheinen. Es war eine Farbe von außerhalb allen Raumes – ein fürchterlicher Sendbote aus formlosen Bereichen der Unendlichkeit jenseits aller uns bekannten Natur.13 Das »kryptisch[e] Gif[t]«, von dem Lovecraft spricht, ist ein Pharmakon, das eben nicht dem Diktum der Dialektik von Gift und Heilmittel zu folgen scheint. Wenn man auf die Figuration des Pharmakons als Gabe zurückgreift, als eine Frage nach Tauschformen und nach einer ›reinen‹ Gabe, dann ist Lovecrafts Aliengabe als giftige, asymmetrische und schlechte Gabe geradezu entgegengesetzt dazu. Lovecraft entwickelt eine ungleiche Gabensituation, die bei aller ontologischen Unentschiedenheit am Ende dennoch das Humane bedingungslos zu zerstören sucht. Mit Rückgriff auf Timothy Mortons Kritik an dem durch westliche Wissenschaftskulturen idealisierten Naturbegriff könnte man hier anhand der giftigen Stofflichkeit Lovecrafts von einer 13

Lovecraft: Die Farbe aus dem All, S. 76.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

dark ecology sprechen, die auch die abgedunkelten Ecken und verstörende Elemente der Natur beleuchtet: »The ecological thought includes negativity and irony, uglyness and horror.«14 Neben der Seltsamkeit einer dunklen Ökologie der Farbe aus dem All und den damit verknüpften räumlichen und materiellen Ausnahmezuständen bringt die Aliensubstanz zusätzlich einen »unbestimmbaren Chromatismus«15 mit – eine Eigenzeitlichkeit, die weder dem historischen Chronotopos16 der menschlichen Wahrnehmung folgt noch den kantischen Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit, die nach Kant notwendige Formen der Erkenntnis darstellen.17 Dieser »unbestimmbar[e] Chromatismus« des Alienstoffes richtet sich gegen eine überzeitliche und mit den Wahrnehmungen des Subjekts korrespondierende Zeitlichkeit. Mit Meillassoux könnte man bezugnehmend auf Lovecrafts Zeitentwurf auch von einer für die Physik undenkbaren Zeit [sprechen »G.D«], da sie imstande ist, ohne Ursache und ohne Grund jedes physikalische Gesetz zu zerstören […] Eine Zeit, die fähig ist, selbst das Werden zu zerstören und, vielleicht für immer, das Fixe, das Statische, den Tod hervorzubringen.18 Das ist eine der Wissenschaft unzugängliche Zeitlichkeit, die Meillassoux auch in einer anderen Schrift in Beziehung mit der SF und dabei eine Unterscheidung zwischen SF und XSF trifft. Typische kausal-organisierte SF, die z.B. mittels noch nicht existierender Wissenschaft und Technik eine Fiktion erschafft, die eine Extrapolation der bereits vorhandenen technischwissenschaftlichen Artefakte darstellt, ist eine Fiktion, die innerhalb der Regeln der uns bekannten Naturgesetze verbleibt, weil sie die vorhandenen Mittel kausal in die Zukunft verlegt. Die XSF dagegen als eine Fiktion außerhalb der Wissenschaften beschreibt eine Fiktion, welche die uns bekannten Naturgesetze unterminiert bzw. diese auf ihre Gültigkeit hin befragt und

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Timothy Morton: The Ecological Thought, Cambridge/London 2010, S. 17. Lovecraft: Die Farbe aus dem All, S. 76. Vgl. dazu Michail M. Bachtin: Chronotopos. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a.M. 2008. Zum Verhältnis von Raum und Zeit bei Kant vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Bd. 1, Frankfurt a.M. 1974, S. 69-96. Meillassoux: Nach der Endlichkeit, S. 92.

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gleichzeitig überschreitet.19 Lovecrafts Farbe aus dem All ist, alles deutet darauf hin, eine XSF. Die Farbe als eine von der Wissenschaft nicht bestimmbare Stofflichkeit ist kein Versuch Lovecrafts, eine bekannte Entität oder eine Form zu kreieren, die in der Zukunft oder einer fantastischen Parallelwelt sich dieser ähnlich verhält. Vielmehr spekuliert Lovecraft im Medium der Sprache und literarischen Rhetorik auf eine Entität, die sich der Form und der wissenschaftlichen Einhegung gänzlich verweigert. Auf der sprachlichen und rhetorischen Ebene werden diese ausgreifende Formlosigkeit und Eigenzeitlichkeit der Farbe durch asyndetische Reihungen von Adjektiven nochmals hyperbolisch gesteigert (»brodelnd, tastend, schlürfend, greifend, glitzernd, zerrend und bösartig blubbernd«), was auch den Effekt einer sich aufdrängenden, klebrigen, gleichzeitig aber auch dem Subjekt widerstehenden und sich entziehenden Materialität forciert. Das Klebrige der Farbe scheint paradigmatisch für die Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz der Farbe zu sein. Insbesondere die Eigenschaften schleimig und blubbernd deuten auf eine Zähflüssigkeit des Stoffs hin. Gleichzeitig betont Sartre lange vor dem material turn im letzten Kapitel seines Werks Das Sein und das Nichts eine Intentionalität und Agentialität des Klebrigen, das sich mit Lovecrafts Farbe nahezu deckungsgleich verhält. Als eine »Substanz zwischen zwei Zuständen« beschreibt Sartre das Klebrige als »Agonie des Wassers; es bietet sich selbst als ein werdendes Phänomen dar, es hat nicht wie das Wasser die Permanenz der Veränderung, sondern stellt im Gegenteil so etwas wie einen Schnitt in einer Zustandsänderung dar.«20 Ähnlich wie Sartre versucht auch Lovecraft das Stoffliche eines unmöglichen Dings zu erfassen und sprachlich zu ertasten; jedoch nicht im Sinne einer phänomenologischen Reduktion, die das Ding in die Wahrnehmungsökonomie des Subjekts zurückführt, sondern als spekulativer Versuch, den seltsamen Stoff von seiner Materialität her zu denken. Lovecrafts Farbe stellt so nicht eine Singularität in einer eigentlich regelhaften Natur dar, sondern infiziert das Humane mit einer ganz anderen Natur, die einerseits dem Humanen radikal äußerlich bleibt, es aber andererseits durchdringt und langsam zersetzt. Ihre Eigenschaften (schleimig, blubbernd und schlürfend) deuten jedoch auf eine Zähflüssigkeit hin. Als ein Ding, das sich weder in einem flüssigen noch

19

20

Vgl. dazu Quentin Meillassoux: Science Fiction and Extro-Science Fiction, Minneapolis 2015. Für eine genauere und ausführlichere Untersuchung der beiden Science-FictionTypen vgl. auch Laubscher: To Jupiter and beyond. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 1039.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

festen Aggregatzustand befindet, strapaziert die gallertartige Struktur der ›Farbe aus dem All‹ die ontologischen Grenzen der materiellen Welt, die sie heimsucht. Die klebrige, gallertartige und dadurch kryptische Stofflichkeit der Farbe annihiliert nicht nur das Subjekt, indem es sich ästhetisch dem Objekt zuwendet, sondern zeigt einen seltsamen Bereich zwischen Objekt und Ding. Die bereits genannten Attribute der Farbe aus dem All (schleimig, bösartig blubbernd, schlürfend, greifend usw.) lassen die vibrierende Substanz exzessiver und noch lebendiger erscheinen als das irdische Leben selbst. Die fremdartige Farbe aus dem All scheint die Fähigkeit zu besitzen, mit allem, ob Lebewesen oder nicht, eine Allianz zu bilden, bzw. verweist in ihrem seltsamen ontologischen Status auf die Verschwommenheit der Trennlinien von Tier und Mensch oder organisch und anorganisch.21 Die schleimig-schmierige Farbe aus dem All ist nicht nur einfach eine aktive Substanz, der die gleiche Handlungsmacht zugesprochen werden könnte wie dem menschlichen Subjekt, sondern ist darüber hinaus geradezu besessen von der Handlung.22 Wie Harman betont, ist es so, als ob sich bei Lovecrafts Stoffen ein Riss auftut, der das Objekt von seinen Eigenschaften trennt bzw. es unterbricht: »Bei Lovecraft wird die Relation zwischen einem Ding und seiner Oberfläche […] von Unregelmäßigkeiten unterbrochen, die sich unserem unmittelbaren Verständnis entziehen, als ob das Objekt an einer merkwürdigen neurophysiologischen Krankheit leiden würde.«23

21

22

23

Susanne Wedlich verweist in Bezug auf den Schleim, dass es das perfekte Material des Übergangs ist, das tierische, menschliche und gänzlich fremdartige Elemente miteinander verbindet. Vor dem Hintergrund von Lovecrafts Schriften ist das Schleimige aber vor allem ein Verfallsprodukt bzw. ein Produkt, das den Verfall anregt und damit auch den Verfall der taxonomischen Ordnung im Narrativ vorantreibt. Vgl. dazu Susanne Wedlich: Das Buch vom Schleim, Berlin 2019, S. 25; zum Topos des Schleims vgl. auch Ben Woodard: Slime Dynamics, Generation, Mutation and the Cree of Life, Hants 2012. Vgl. dazu die Kritik von Tim Ingold an Jane Bennetts Begriff der material agency. Ingold betont im Gespräch mit Petra Löffler und Florian Sprenger, dass weder Menschen noch Dinge Handlungsmacht besitzen. Sie sind vielmehr beide von ihr besessen. Seine Kritik basiert darauf, dass Bennett, indem sie das Prinzip der Handlungsmacht einfach objektorientiert umdreht, immer noch im kausalen Paradigma von Ursache und Wirkung verbleibe. Vgl. Tim Ingold/Patra Löffler/Florian Sprenger: Eine Ökologie der Materialien, in: Zeitschrift für Medienwissenschaften. Heft 14: Medienökologien, 8 (1), 2016, S. 87-94, hier S. 89. Graham Harman: Horror der Phänomenologie: Lovecraft und Husserl, in: Avanessian/ Quiring: Abyssus Intellectualis, S. 83-105, hier S. 98.

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Harmans unentschiedene Verwendung von Objekt und Ding deckt sich mit Lovecrafts terminologischer Unschärfe, die er in der Erzählung bewusst einsetzt, um den Effekt des Unklassifizierbaren zu steigern. Auch in anderen Erzählungen finden sich ähnliche Beschreibungen von monströsen Milieus oder Gegenständen, die dem Subjekt durch ihren Dingcharakter nicht zugänglich sind. In Cthulhus Ruf, einer der prominentesten Kurzerzählungen Lovecrafts, findet sich eine Stelle, wo ein schleimiges und tentakelartiges Wesen, das vor Jahrmillionen bereits auf die Erde gekommen ist, nun durch eine Schiffsmannschaft wieder zum Leben erweckt wird. Vor der Begegnung erscheint das Ding in den Träumen des Protagonisten: ein gigantisches Ding, »Meilen hoch«, ein Umhergepolter und Getapse. Nie beschrieb er genau den Gegenstand, aber gelegentlich hervorgestoßene Worte, die Dr. Tobey wiederholte, überzeugten den Professor, dass er mit der unaussprechlichen Monstrousität [sic!] identisch sein müsse, die der junge Mann in seiner Traumskulptur bildlich darzustellen versucht hatte. Wenn er dieses Objekt erwähnte, so bedeutete das das Vorspiel für einen unweigerlichen Rückfall in Lethargie, fügte der Doktor hinzu.24 Innerhalb nur eines kurzen Absatzes wird das Monster mit vier unterschiedlichen Begriffen belegt. Die Materialität des Cthulhu verharrt so in der Gleichzeitigkeit aus Ding, Gegenstand, Skulptur und Objekt: »Ein fleischiger, mit Fangarmen versehener Kopf saß auf einem grotesken, schuppigen Körper mit rudimentären Schwingen«.25 Als ein Wesen, das man mit J.J. Cohen als »fleischgewordene Differenz«26 bezeichnen kann, verweigert es eine eindeutige Klassifikation, entwickelt aber zugleich eine hohe semiotische Energie, die stets auf etwas anderes verweist. Als eine ›abnorme‹ Oberfläche oszilliert dieser Monsterkörper zwischen einer aufsässigen Äußerlichkeit und einem sich entziehenden semantischen Inneren.

24 25 26

H.P. Lovecraft: Cthulhus Ruf, in: ders.: Cthulhu. Geistergeschichten, Frankfurt a.M. 2012, S. 193-239, hier S. 200f. Ebd., S. 196. Jeffrey Jerome Cohen: Monster Culture (Seven Theses), in: ders.: Monster Theory: Reading Culture, Minneapolis 1996, S. 3-25, hier S. 7.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

2.1.2

Zwischen Objekt, Stoff und Ding

Diese immer wieder auf die Spitze getriebene Unbestimmtheit und die verzerrte Oberfläche bleiben jedoch nicht folgenlos für die ontologische Konstitution der seltsamen Substanzen Lovecrafts. Denn die Ununterscheidbarkeit der Farbe und des Cthulhu als Ding und Objekt wirft die Frage danach auf, ob es sich dabei um etwas handelt, das nicht nur das Subjekt-Objekt-Verhältnis strapaziert, sondern dieses Verhältnis auf eine Objekt-Ding-Beziehung verschiebt. Ironischerweise und entgegen der Korrelationismuskritik der OOO ist gerade Kant derjenige, der mit der Spannung zwischen Objekt und Ding eine eigene Variante des objektorientierten Denkens in seiner Philosophie mitführt. Objekte bezeichnen nach Kant Gegenstände der Erfahrung, die durch unsere Aufmerksamkeit und sinnliche Aufnahme zu Gegenständen der Erkenntnis werden. Gegenstände sind dementsprechend Elemente der Erfahrung, sofern sie den Regeln der Anschauung folgen, »denn mit andern Gegenständen, als denen, die zu einer möglichen Erfahrung gehören, haben wir es nicht zu tun, eben darum, weil sie uns in keiner Erfahrung gegeben werden können«.27 Das Ding als Grenzbegriff entzieht sich zwar der Sinnlichkeit, hat aber nach Kant eine logische Notwendigkeit, ohne die wir Gegenstände und Objekte nicht denken können. Wir können diese Notwendigkeit Kant zufolge nur feststellen und darüber hinaus nichts weiter darüber aussagen. Das, was Graham Harman in Bezug auf die Stoffe Lovecrafts ahnt, jedoch nicht ausformuliert, beobachtet Eugene Thacker anhand spukhafter Medien des übernatürlichen Horrors und stellt fest, dass sowohl Subjekt-Objekt- als auch Objekt-Objekt-Beziehungen nur Nebenprodukte einer »grundlegenderen Beziehung zwischen Objekt und Ding« sind.28 Wie ich versucht habe zu zeigen, ist die spekulative Beziehung von Objekt und Ding sowie die damit verbundene allmähliche Zersetzung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses ein zentrales Anliegen von Lovecrafts literarischer Materiespekulation. Dabei handelt es sich nicht um ein fröhliches schöpferisches Werden, sondern um eine zerstörerische Ding-Ontologie.

27

28

Immanuel Kant: Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik 1 (= Werkausgabe. Bd. 5), hg. v. Wilhelm Weischeidt, Frankfurt a.M. 1977, S. 113-267, hier S. 208. Eugene Thacker: Vermittlung und Antivermittlung, in: Erich Hörl (Hg.): Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Frankfurt a.M. 2011, S. 306-333, hier: S. 322.

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Lovecrafts Kategorie des Dings ist insofern nicht einfach unerkennbar und eine bloße logische Notwendigkeit, wie Kant sie beschreibt, sondern tritt als eine flimmernde Oszillation zwischen dem Objekt für uns und dem Ding an sich an der Oberfläche hervor. Und anstatt diese schimmernde Entität sprachlich zu evozieren, sucht und tastet Lovecrafts Sprache akribisch, sukzessive und seriell den Grund der Formlosigkeit ab, findet dabei jedoch immer wieder nur weitere Unformen, die sich nicht synchronisieren oder dialektisch aufheben lassen. Lovecrafts Kurzerzählung strapaziert insofern nicht nur eine korrelationistische Subjekt-Objekt-Beziehung, als sie eine Objektorientierung aufweist, sondern sie öffnet darüber hinaus eine seltsame und zutiefst abgründige Dimension zwischen Objekt und Ding. Diese führt, wie es scheint, über den Umweg des Posthumanen einen gewaltsamen Anthropozentrismus ein. Lovecraft beschwört mit dem Dämonischen der Farbe aus dem All einen Inhumanismus, der letztlich die Gefahr eines Faschismus birgt. Lovecrafts Korrelationismus- und Anthropozentrismuskritik mündet letztlich in Regression und Xenophobie. Sie bildet im wahrsten Sinne – und damit greife ich auf das dem Kapitel vorangestellte Zitat Karen Barads zurück – ein moralistisches und »ätzendes Gebräu«.29

2.2

Alex Garlands Auslöschung: Sympoiesis und Werden Nichts ist mit allem verbunden; alles ist mit etwas verbunden. Donna Haraway30

Alex Garland, inspiriert von Jeff VanderMeers gleichnamigen Roman aus der Southern-Reach-Trilogie,31 greift in seinem Spielfilm Auslöschung (2018) auf die seltsame Stofflichkeit der Farbe aus dem All Lovecrafts zurück. Sowohl das Narrativ als auch einige Elemente des Films wirken geradezu wie ein groß angelegtes Zitat der Kurzgeschichte des Horrorautors. Genau wie in der Farbe aus dem All steht eine klandestine Substanz im Zentrum des Films. Auslöschung erzählt die Geschichte von vier Wissenschaftlerinnen, die in den USA in ein fik-

29 30 31

Barad: Verschränkungen, S. 119. Haraway, Unruhig bleiben, S. 48. Vgl. Jeff VanderMeer: Southern-Reach-Trilogie (Akzeptanz, Auslöschung, Autorität), aus dem Engl. v. Michael Kellner, München 2017.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

tives Gebiet geschickt werden, das an die Atlantikküste erinnert, und als Area X bezeichnet wird. Dort treffen sie auf ein Ökosystem, das den bekannten naturwissenschaftlichen Gesetzen und Prozessen nicht zu folgen scheint. Seit vor einigen Jahren ein Meteorit in dieses Gebiet eingeschlagen ist, wuchert in einem Radius von dreißig Kilometern hinter einer permeablen Stofflichkeit mit dem Namen the shimmer eine fremdartige und giftige Natur, die in der Flora und Fauna, aber auch bei Menschen, die dieses Gebiet durchschreiten, seltsame Transmutationen und Verfall hervorrufen. Die fünf Wissenschaftlerinnen sollen als zwölftes Expeditionsteam nicht nur die veränderte Flora und Fauna untersuchen, sondern auch die Herkunft des entstandenen Habitats nachvollziehen. Nach dem Eintritt in die Area X verlieren die Wissenschaftlerinnen zunächst das Gefühl für Raum und Zeit und nehmen dann auch zunehmend seltsame Veränderungen an sich selbst und an der Umgebung wahr. Area X, die umgeben ist vom prismaartigen Schimmer, fungiert so als ein Habitat für eine andere Natur und als eine Art Refraktionsglocke umgeben von der irdischen Natur. Innerhalb dieser halbdurchlässigen Kuppel werden physische und mentale Zustände sowie die molekulare Zusammensetzung von Tieren, Menschen und Pflanzen, selbst von leblosen Organismen durcheinandergebracht und wieder auf andere Weise zusammengesetzt. Wie es scheint, entsteht unter dieser Glocke eine unaufhörliche, aus sich selbst motivierte Beugung, Brechung und Überarbeitung von Materie/Geist/NaturGefügen, die zu rhizomatischen Potenzen und unmöglichen und transversalen Verbindungen führen. In VanderMeers Roman von 2014 ist diese Grenze ein Etwas, »das man mit bloßem Auge nicht erkennen konnte«.32 Die Grenze zur Area X im Roman ist unsichtbar und verwehrt sich einer Repräsentation, was mit der Unmöglichkeit korrespondieren würde, das kosmische Grauen der Farbe Lovecrafts darzustellen. Man findet im Roman aber auch andere Textstellen – insbesondere das Motiv des Turms, das immer wieder auch als Tunnel und gleichzeitig als Höhle von den Protagonistinnen dokumentiert wird –, die sich einer Übersetzung ins Bild widersetzen. Garland tut es dennoch und findet mit dem Schimmer eine elegante Lösung, das nicht Darstellbare darzustellen. Area X verschränkt Ökosysteme, die in einer den Naturgesetzen folgenden Welt nur in größerer Entfernung voneinander auftreten würden. Darin sind sich die eigentlich so unterschiedlichen Ökosysteme und Habitate seltsam nah (Dschungel, Sumpf, Sand, offenes Meer). Diese Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Habitate scheint im Forscherinnenteam be32

Jeff VanderMeer: Auslöschung, aus dem Engl. v. Michael Kellner, München 2017, S. 16.

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reits nach einem Tag Orientierungslosigkeit und Verwirrtheit auszulösen, da präzise Positionsbestimmungen ins Leere laufen und sich das Gefühl einer nicht chronisch verlaufenden Zeiterfahrung ausbreitet. Die fremdartige Umgebung in Area X mutet auf diese Weise einerseits ortlos und zeitlos an und andererseits maßlos, obwohl sie in einem abgegrenzten Gebiet verortet ist. Obschon die Wissenschaftlerinnen versuchen, sich anhand eines Kompasses zu orientieren, entgleitet der Raum einem festen Koordinatensystem, sobald sie versuchen sich darin zurechtzufinden. Das monströse Areal erzeugt so bei den Expeditionsteilnehmerinnen eine abjekte Spannung aus Faszination und Abwehr, wodurch das wissenschaftlich nicht einholbare radikale Andere sich einerseits mit der Welt verschränkt und ihr andererseits als externer Horror doch äußerlich bleibt. Die Ortlosigkeit der Area X und die Unmöglichkeit der Orientierung der Wissenschaftlerinnen wird immer wieder von Zonen und Bereichen eingeklammert, die kartografisch leer bzw. nur schwierig zu erfassen sind: regenwaldartiger Dschungel, Sumpflandschaften oder auch ein Meer, das unmittelbar an den Sumpf anschließt. Die Area X zeichnet sich so durch das Fehlen stabiler topografischer Markierungen und Eigenschaften aus. Während der Erkundung des Gebiets geraten die Protagonistinnen somit immer wieder von einem nicht lokalen bzw. einem, mit Deleuze/Guattari gesprochen, »glatten Raum«33 in den nächsten. Das Fehlen von Punkten und Geraden wie auch die unvermittelten Räume lassen innerhalb der Area X alles maßstabslos erscheinen. Diese »kontinuierliche Variation«34 des Areals lässt die Wahrnehmung der Wissenschaftlerinnen an den Oberflächen dieser Materie abgleiten. Das vermeintliche Festland wird so zu einer sich ständig verändernden Ökologie, die eine klare topografische Vermessung unmöglich macht, da man statt exakten Punkten und Linien nur Effekte der Veränderung vorfindet. Die Gesamtheit dieses Areals kann in keiner bestimmten lokalen Manifestation identifiziert werden. Diese Tatsache ruft bei den Protagonistinnen der Fiktion Schwindel und komplette Orientierungslosigkeit aus. Die Wissenschaftlerinnen, die das toxische Gebiet betreten, sind jedoch nicht wie in den Erzählungen H.P. Lovecrafts einfach reduziert auf ihre Funktion als gesichtslose Forscherinnen, sondern haben ihre je eigene Motivation und einen singulären Grund, weshalb sie dort auf Mission sind. Sie alle

33 34

Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 658. Ebd., S. 689.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

teilen jedoch die Erfahrung des Traumas. Die Geologin Cassie sagt an einer Stelle zu der Biologin Lena: »We’re all damaged goods here«.35 So wird nach und nach klar, dass die Begegnung mit der andersartigen Natur auch zu einer Begegnung mit dem Abgrund des Selbst wird. Und genau wie ihre singulären Motivationen, den Schimmer betreten zu wollen, erfahren die Wissenschaftlerinnen auch ihre spezifischen und je eigenen Mutationen in der Area X. Die Mutationen unterscheiden sich jedoch von denen bei Lovecraft. Während die toxische Farbe Lovecrafts als eine alles infizierende Alterität das Band zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen Leben und Nichtleben zu zerschneiden versucht, um damit letztlich wieder ein ›allzumenschliches‹ Phantasma der Auslöschung des Humanen heraufzubeschwören, hat der prismaartige Schimmer aus Garlands biotechnologischer Fiktion eine affektive und affizierende Dimension. Mit Marie-Luise Angerers Definition des Affekts ließe sich argumentieren, dass der Schimmer verbindet und trennt, dass er durchmischt und interferiert zugleich, anstatt einfache Dichotomien und binäre Schnitte hervorzubringen.36 Die Fiktion Garlands zeigt so weder ein rein affirmatives Bild des Posthumanen noch sucht die Fiktion die Hoffnung in der Figur des Menschlichen und seiner entschiedenen Dezision von Natur und Kultur, von menschlichem Subjekt und der ihm zur Verfügung stehenden Technik. Garlands Fiktion bietet sich vor diesem Hintergrund vor allem als eine Erzählung an, die als Kritik an menscheninduzierten Phänomenen wie Ozonloch, Artensterben oder ozeanischem Plastik gelesen werden kann. Eine solche Erzählung, die in gegenwärtigen HollywoodKatastrophenszenarien eine sich gegen den Menschen wendende Natur porträtiert, verleitet erstens zu der bereits in Shelleys Frankenstein ausformulierten und verkürzten Annahme, dass das Monster letztlich der Mensch selbst sei und nicht das Alien, und zweitens dazu, Natur in zeitgenössischen Fiktionen hauptsächlich als Bedrohung darzustellen und als das Ende des menschlichen Seins. In Eva Horns Untersuchung zur Zukunft als Katastrophe schreibt sie: »Ausgerechnet im Anthropozän, in der Epoche, in der der Mensch unauslöschlich in die Erdgeschichte eingegangen sein wird, ergeht er sich im Erfinden von Welten, in denen er nicht mehr vorkommt.«37 Eine eschatologische Vision von Apokalypse bleibt jedoch, entgegen der Suggestion des Titels,

35 36 37

Alex Garland (Regie): Auslöschung, USA 2018, 1:15:31. Vgl. Marie-Luise Angerer: Affektökologien. Intensive Milieus und zufällige Begegnungen, 2018. Horn: Zukunft als Katastrophe, S. 11.

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in Auslöchung aus. Die Fiktion kommt ohne einen invertierten Anthropozentrismus aus, sondern erzeugt in seinen Bildern eine transhumane Vibration, die sich weder in die eine noch in die andere Richtung auflösen lässt. Denn die durch den Schimmer ausgelösten Transmutationen ereignen sich gerade an der Schnittstelle bzw. an der schillernden Schwelle zwischen Mensch und Natur, Stoff und Subjekt sowie von Fantasie und Wissenschaft.

2.2.1

Der Schimmer: Repräsentation, Refraktion, Diffraktion

Diese Unentschiedenheit und Gleichzeitigkeit der trennenden und verbindenden Funktion des Schimmers wird anhand der changierenden und sich bewegenden Farben des Stoffs sichtbar, welches an das durch Refraktion entstehende Farbenspiel eines Benzinfilms in einer Pfütze erinnert. Optische Prinzipien werden als Leitmotiv des Films exzessiv durchexerziert. Vor dem Eintritt in die Area X tastet die Kamera die schimmernde und halb durchlässige Oberfläche des Schimmers vorsichtig ab, die sich wie eine lebendige und semipermeable Membran zu verhalten scheint. Die Farbe des Schimmers lässt sich dabei nicht klar bestimmen, jedoch erinnert sie eindeutig an das fluoreszierende und indifferente Leuchten der Farbe aus dem All Lovecrafts. Auf den ersten Blick scheint es einen prismatischen Effekt zu besitzen, wobei man nicht genau sagen kann, welches der optischen Prinzipien hier am Werk ist (vgl. Abb. 1)

Abb. 1: Auslöschung (2018), R: Alex Garland, 16:03 min.

Garland stellt die optischen Prinzipien in unterschiedlichen formalen und inhaltlichen Varianten vor, um die Unbestimmbarkeit des Schimmers sowohl

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene durchzuspielen. Bereits zu Beginn des Films, wenn der verschollene Ehemann der Biologin, der zuvor in die Area X geschickt wurde, verändert zurückkehrt, wird das Prinzip der Refraktion anhand des Lichteinfalls auf die Hände der beiden durch ein Glas vorgestellt (vgl. Abb. 2). Die Refraktion ist die Änderung der Ausbreitungsrichtung einer Welle des Mediums, das die Welle durchläuft. Vor allem durch die sich berührenden Hände deutet sich anhand des physikalischen Prinzips auch die Brechung einer subjektiven Integrität an, die ab dann in Frage gestellt wird.

Abb. 2: Auslöschung (2018), R: Alex Garland, 09:33 min.)

Garland fiktionalisiert hier optische Prinzipien, wie die Reflexion, die Refraktion und vor allem die Diffraktion, gerade Letztere nimmt eine besondere Stellung innerhalb der Fiktion ein. Diffraktion bedeutet in der Physik Beugung und ist, wie es Deuber-Mankowksy im Anschluss an Barad und Haraway formuliert, »die Abweichung einer Wellenbewegung von der ursprünglichen Ausbreitungsrichtung der Wellennormalen«,38 die nicht durch Brechung oder Reflexion hervorgerufen wird, sondern durch im Weg stehende Hindernisse. Donna Haraway und Karen Barad greifen in ihren Arbeiten methodisch auf 38

Astrid Deuber-Mankowsky: Diffraktion statt Reflexion. Zu Donna Haraways Konzept des situierten Wissens, in: Zeitschrift für Medienwissenschaften. Heft 4: Menschen & Andere, 3 (1), 2011, S. 83-91, hier S. 90.

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die Auseinandersetzungen der Physik mit der Diffraktion zurück, um Figurationen der Beugung gegen eine repräsentative Logik des Spiegels in Stellung zu bringen. Die Beugung entspricht so im Sinne von Haraway und Barad nicht der Spiegelmetaphorik, ist damit also nicht im Register des Abbilds und der Repräsentation zu verstehen. Diffraktion beruht, vor allem im Anschluss an Haraways Definition, nicht auf dem Unterschied zwischen Original und Kopie, sondern ist gekennzeichnet durch die Nachträglichkeit von Ereignissen.39 Bei Haraway heißt es entsprechend: »Die Beugung bringt nicht – wenngleich verschoben – das Selbe hervor, wie Spiegelung und Brechung es tun. Die Beugung bildet die Überlagerung ab, nicht die Replikation, Spiegelung oder Reproduktion.«40 Die Diffraktion ist somit eine differenztheoretische und nicht reproduktive Methode, die am gleichen Ort nicht dasselbe hervorruft, sondern nachträgliche Effekte einer Differenz. Sie beugt dasselbe und das Repräsentative so weit, dass etwas anderes entsteht, das nicht mit der Frage: »Was ist …?«, sondern vielmehr mit einem Fragenkomplex wie »Wo? Wann? Wie viele?« adressiert werden kann. Nach der Beugung tritt nicht ein Etwas oder ein mit sich selbst identisches Wesen hervor, das einem metaphysischen Prinzip der Einheit folgt, sondern nur Intensitäten, Differenzen und Singularitäten, die gestreut vorliegen und eine Aufteilung oder Bifurkation der Welt in innen und außen verkomplizieren. Haraway schöpft bei der Diffraktion auch aus den differenztheoretischen Ansätzen von Deleuze, die ebenfalls mit der Unterjochung der Differenz unter die Logik desselben41 zu brechen versuchen, im Sinne einer nicht binären, eingefalteten Differenz mit sich selbst, die das Theater der Repräsentation zu kritisieren versucht. Haraway meint damit Interferenzmuster, wodurch eine klassische Vorstellung von Relationalität von zwei Relata, die aufeinander bezogen sind, unterlaufen wird. Der Relation gehen so die Relata nicht voraus, sondern entstehen erst im Prozess der Diffraktion, also in einem Dazwischen ohne zu Grunde liegende Entitäten. Karan Barad spricht auch, wie ich bereits skizziert habe, von agentiellem Realismus oder einer relationalen Ontologie, die Wissen und Sein radikal als Verschränkung und als Interferenz denkt.42 Dinge, Objekte und feste Entitäten sind nur die molaren Formen einer wesentlicheren Ebene und

39 40 41 42

Vgl. ebd. Donna Haraway: Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays, Hamburg 1995, S. 21. Vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 52. Vgl. Barad: Agentieller Realismus

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

der »mutual constitution of entangled agencies«.43 Aus einer so radikal eingefalteten Verfasstheit von Sein und Denken, von innen und außen und von Materialität und Subjekt folgt für Barad, dass Praxis und Intentionalität nicht notwendigerweise menschlich motiviert sein müssen. Interaktion ist demnach in Wirklichkeit eine Intraaktion, die einen Prozess beschreibt, der sich in dauerhafter Hervorbringung und Ko-Konstitution befindet, wodurch sich Materie, Subjekte und Bedeutung gegenseitig bedingen und keine der Entitäten der anderen vorgängig ist. Wissen ist damit auch nicht in kantischer Manier an die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes gebunden, sondern nur in Beziehungen denkbar, als »matter of differential responsiveness (as performatively articulated and accountable) to what matters«.44 Im Anschluss an Haraways Abkehr von ›objektivem Wissen‹ denkt Barad Wissen radikal in Beziehungen. Dem Objekt des Wissens kommt, wie ich auch bereits im ersten Kapitel, »Zu einer Philosophie prekärer Stofflichkeit«, dargelegt habe, dabei eine aktive Rolle im Sinne eines material-semiotischen Akteurs zu, wie Haraway ihn beschreibt: »This unwiedly term is intended to portray the object of knowledge as an active, meaning-generating part of apparusses of bodily production«.45 Gegen die Machtbeziehungen einer Wissenschaft des weißen, kapitalistischen Patriarchats, das letztlich auf Naturbeherrschung und Kolonialisierung fußt, setzt sie emphatisch gegenseitige Verstrickung in ein geteiltes Dispositiv der Wissensgenerierung. Wissen als Intraaktion ist so also nicht nur menschlich oder diskursiv vermittelt, sondern spielt sich als Prozess der Materialisierung von Phänomenen in einem Wechselspiel füreinander empfänglicher Körper ab, ob menschlich oder nicht. Materielle Gegebenheiten, Naturgesetze, kollektive Subjektivitäten oder Diskurse sind auf diese Weise untrennbar miteinander verflochten und kristallisieren in technischen Apparaten oder Dispositiven. Die materielle Seite dieser verschränkten Wirkungen der »naturalcultural forces«46 bilden eine spezifische Topologie, die – gerade unter den Vorzeichen des so genannten Anthropozäns – die Frage nach Maßstäben neu stellt: »[T]hat rework the terms of the local and the global«.47 In den lokalen Natur-Kulturlandschaften, die ihre Stabilität ständiger iterativer

43 44 45 46 47

Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 33. Ebd., S. 149. Donna Haraway: Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspectives, in: Feminist Studies. Bd. 14, 1988, S. 575-599, hier S. 592. Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 242. Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 240.

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(Re)Produktion verdanken, zeigt sich so auch, was Barad als »spatiality of capitalism«48 bezeichnet. Sie sind also informiert von Strukturen und Kräften, die unter Umständen selbst sinnlich nicht unmittelbar zugänglich sind. Bei dem Schimmer handelt es sich offensichtlich um so eine diffrakte Figuration, die Singularitäten und Differenzeffekte hervorbringt, die einer eindeutigen Lokalisierung entgleiten. Die seltsame Stofflichkeit ist ein permeabler und diffundierender Stoff, an dem nicht nur Radiowellen, GPS-Signale oder Licht gebeugt werden, sondern auch die organische Masse der menschlichen, tierlichen und pflanzlichen DNS. Beim Eintreten in die Area X werden so die Partikel der DNS durch den Schimmer abgelenkt und in ihre kleinsten Teile defragmentiert und anders wieder zusammengesetzt. Die DNS-Partikel können sich dann sowohl in organischer als auch in anorganischer Materie einlagern, diese verändern und bizarre Phänotypen ausbilden. Doch weder die Beugung bzw. Zerstörung der körperlichen Integrität noch der Verlust des Selbst noch die Replikation wird von einigen der Protagonistinnen als zerstörerisch wahrgenommen. Das Prinzip der Diffraktion wird in Auslöschung im Sinne von Haraway als instabile Verstricktheit und als Begegnung und Berührung sichtbar – oder, wie es Levinas formuliert, als eine Beziehung zu einer radikalen Alterität, die irreduzibel fremdartig bleibt, jedoch genau wegen der radikalen Fremdartigkeit des Anderen nach einer umso größeren Verantwortung verlangt.49 Im Unterschied zum kontaminierten und sich zersetzenden Dorf bei Lovecraft, das der Toxizität der Farbe schutzlos ausgeliefert ist, sind die Wissenschaftlerinnen aus Garlands Fiktion der anderen Natur nicht einfach entgegengestellt, sondern bilden mit ihr eine prekäre und relationale Assemblage. Sie sind immer schon mittendrin, sie besetzen also keinen auktorialen Ort und sind keine neutralen Beobachterinnen des fremden Geschehens. Insbesondere die bereits angedeutete Desorientierung bei Eintritt in die Area X zeugt neben der Unmöglichkeit einer alles wissenden und überblickenden Gottperspektive vor allem von einer niemals unschuldigen Verstricktheit, die nach einem Weiterstricken verlangt und zu einem Anderswerden anreizt. Denn die fremde Natur des Schimmers als ein Alienpharmakon baut das Humane genau so in sich ein, wie die Menschen die Natur. Auslöschung inszeniert so gerade eben nicht die Auslöschung des Humanen, wie es

48 49

Ebd., S. 243. Vgl. dazu Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i.Br. 2002.

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der Titel falsch suggeriert, sondern betont vielmehr die Allianz kategorial verschiedener Naturen oder Lebensformen. Denn die Wissenschaftlerinnen begegnen während ihrer Expedition bisher unbekannten Pflanzenarten, einem Alligator mit Haifischzähnen und einem bärähnlichen Wesen mit biomimetischen Eigenschaften, die daraus bestehen, menschliche Laute aufzunehmen und sie wie ein Echo zurückzugeben, um die Menschen als Beute anzulocken. Andere seltsame Allianzen sind Pflanze-Mensch- und Pflanze-MineralVerbindungen, die geradezu unmögliche Kombinationen und Hybride aus Organischem und Anorganischem produzieren. Nach Gilles Deleuze und Félix Guattari seien solche Transformationen geradezu genredefinierend. In Tausend Plateaus heißt es: »In der Science-Fiction-Literatur gibt es eine Entwicklung, die vom Pflanze-, Mineral- oder Tier-Werden zu Arten des Bakterie-, Virus-, Molekül- und Unwahrnehmbar-Werdens führt.«50 Diese Entwicklung scheint auch in Auslöschung am Werk zu sein, denn die DNS-Partikel können sich in den unterschiedlichen Organismen der Lebewesen, aber auch in nicht lebendiger Materie einlagern und auf diese Weise synthetisiert werden. Die Beugung beim Eintritt in den Schimmer führt letztlich durch die entstehenden genetischen Interferenzen zu artenübergreifenden Transmutationen, die selbst vor der Grenze zum komplett Leblosen nicht haltmachen, wie man es anhand der kristall- bzw. mineralartigen Bäume vermuten kann (vgl. Abb. 3)

Abb. 3: Auslöschung (2018), R: Alex Garland, 1:24:34 min.

Vor dem Hintergrund der feministischen und neu-materialistischen Konzeption sowie vor allem mit Deleuzes und Guattaris Theorem der Immanenz 50

Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 339.

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ließe sich diese Dynamisierung und Prozesshaftigkeit des humanen Körpers als ein kontinuierlicher, aber zugleich auch immer wieder unterbrochener Strom eines Lebens beschreiben, das erstens kein Außen kennt und sich zweitens nicht in moralische Kategorien wie gut und böse zwängen lässt. Die Betonung liegt hier auf dem unbestimmten Artikel einem. In Deleuzes Text Immanenz. Ein Leben … verwendet er den Artikel als Zahl. Darin drückt sich die Ökologie eines Werdens aus. Segmentierungen, Zäsuren und Taxonomien, die das Leben in Ordnung bringen wollen, sind nur präpositionale Versuche, das Leben, das sich wesentlich für das Subjekt darstellt, in Ordnungen zu drängen. Das, was Deleuze jedoch mit der Immanenz und mit dem einen Leben meint, ist das subjektüberschreitende und »unpersönliche Leben«,51 welches das solipsistische Subjekt durch eine Relationalität und Beziehungen zu anderen Subjekten, Dingen, Objekten, Tieren und Stoffen eröffnet: »Das Leben solcher Individualität erlischt zugunsten des singulären Lebens, das einem Menschen immanent ist, der keinen Namen mehr hat, auch wenn er sich nicht mit einem anderen verwechseln lässt.«52

2.2.2

Das Zoopharmakon

Was sich anhand der Kurzerzählungen Lovecrafts nur andeutet bzw. letztlich in Zerstörung mündet, tritt in Garlands Auslöschung deutlich als eine relationale Beziehungsweise hervor; nämlich auch als die Verschränkung von GiftHeilmittel-Semantiken und Semantiken des Tierlichen und des Pflanzlichen. Die substanzinduzierte Transformation des Humanen ist, wie es im deleuzeschen Immanenzbegriff und in der Pharmakoanalyse anklingt, auch ein molekulares Geschehen des Tier-Werdens. Leonhard Fuest bezeichnet diese Art von Verschränkung auch als das Zoopharmakon und bezieht sich bei der Aufbereitung dieses Begriffs auf Derridas Auslegung des Pharmakons bei Platon.53 Bei Derrida heißt es: »Gleichzeitig und/oder Zug um Zug versteinert und erweckt, anästhetisiert und sensibilisiert, beruhigt und ängstigt das sokratische pharmakon.«54 Er erwähnt in diesem Kontext die Selbstzuschreibungen des Sokrates als »narkotischer Zitterrochen« oder als »Kuhfliege« und folgert daraus: »Die gesamte Konfiguration des Sokrates fügt sich somit zu einem Bes-

51 52 53 54

Deleuze: Die Immanenz, S. 369. Ebd. Fuest: Poetopharmaka, S. 85. Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, S. 69.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

tiarium.«55 Das Zoopharmakon beschreibt eine Wirkungsweise, die sich auch mit Michel Serres als parasitär deuten lässt, der ebenfalls pharmakologische Semantiken mit Tiersemantiken verbindet. Zum Parasiten schreibt Serres: »Er produziert Gifte, Entzündungen, Fieber. […] Das Phänomen der Ausbreitung ist sein eigentliches, eigentümliches Geschäft. Seine Aneignung.«56 Der Parasit präferiert damit weder Mensch noch Fauna oder Flora noch Maschine, sondern besetzt die Zwischenbereiche und die Stoffe, die zwischen ihnen zirkulieren.57 Er umfasst kollektive, transhumane und disseminale Phänomene, deren Wirkungsbereich in der Ausbreitung, der Übertragung und der Ansteckung liegt. Das Zoopharmakon, wie es Fuest ausgehend von Deleuze und Guattari begreift, ist eine schwellenartige Nichtsubstanz, die sich durch molekulare und kaum sichtbare Bewegungen zwischen den molaren, großen Entitäten bewegt, sie konstituiert und reguliert. Bei Deleuze und Guattari heißt es auch entsprechend: Tier werden kann man nur, wenn man, durch welche Mittel und Elemente auch immer, Korpuskeln aussendet, die in ein Verhältnis von Bewegung und Ruhe der Tierpartikel eingehen, oder, was auf dasselbe hinausläuft, in die Nachbarschaftszone des Tier-Moleküls. Man wird nur auf molekulare Weise ein Tier.58 Anschließend an Gabriel Tardes Mikrosoziologie und die Affinität zum biochemischen Denken unterscheiden Deleuze und Guattari das Molare – also die großen, harten und gewaltsamen Wirkungsweisen der Macht – von den Molekularen, die unterhalb der großen Einheiten wie Staat, Kirche, Schule, Militär, Psychiatrie usw. operieren. Mit dem Molaren ist z.B. ein Körper gemeint, der in der Öffentlichkeit angerufen werden kann – also ein rigides, fixes und anthropozentrisches Modell. Es gibt jedoch gemäß dem Konzept des Werdens bei Deleuze und Guattari kein Molekular-Sein, sondern immer nur ein Molekular-Werden. Dadurch, dass das Molekulare nicht als dichotom zum Molaren gedacht werden soll, tritt es nicht in eine Vergleichssituation und lässt sich auch nicht mit Begriffen wie Analogie und Repräsentation beschreiben, sondern zeichnet sich durch eine Zone der »Nachbarschaft

55 56 57 58

Ebd. Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt a.M. 1987, S. 217. Vgl. Fuest: Poetopharmaka, S. 104. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 374

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Pharmakofictions

oder Kopräsenz eines Partikels«59 aus. Die molaren Formen des Tieres und der Pflanze, aber auch des Menschen, als geränderte und voneinander getrennte evolutionäre bzw. ontologische Größen, unterliegen bei Deleuze und Guattari der molekularen Bewegung der Deterritorialisierung. Eine Ähnlichkeitsbeziehung zum Tierischen soll vermieden werden und eine regressive Ausdifferenzierung zum Einheitsprinzip verhindert: »Denn es geht ja nicht um die Reproduktion von Figuren, sondern um die Produktion eines Intensitätskontinuums in einer a-parallelen und nichtsymmetrischen Evolution, in welcher der Mensch ebenso Affe wird wie der Affe Mensch.«60 Aus Sicht der klassischen Biologie lässt sich dasjenige, das die beiden Autoren als Tier-Werden bezeichnen, nicht in den gängigen Mustern der Evolution erfassen – also mit so etwas wie einer kohärenten Entwicklung durch Abstammung. Das Konzept des Tier-Werdens, im Gegensatz zur evolutionären Genese, ist nicht evolutiv, sondern involutiv strukturiert: Fluchtlinien unterhalb oder auch zwischen den sichtbar-molaren Ausformungen wie bewusst/unbewusst, Mensch/Tier, Natur/Kultur.61 Diese affektiven Verbindungen basieren auf einer onto-epistemologischen Umorientierung, die Deleuze und Guattari bekanntermaßen als Rhizom bezeichnen und Donna Haraway, implizit auch ausgehend von dem Involutionsbegriff von Deleuze und Guattari, mit dem Konzept der Sympoiesis kurzschließt.62 Statt einer statischen Einteilung nach dem Stammbaummodell und der Deduktion von Gattung und Art suchen sowohl Deleuze und 59 60 61 62

Ebd., S. 371. Deleuze/Guattari: Kafka, S. 21. Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 321. Das Schema bzw. die Genealogie des Baumes durchdringe tief das abendländische Wissen. Der Baum des Wissens ist ein klassisches Ordnungssystem, das auf Platons Dihairesis zurückzuführen ist. Ausgezeichnet durch sein vertikal-hierarchisches Modell stellt es Denkoperationen der Deduktion und Kausalität dar. Verallgemeinert lässt sich sagen, dass es hier eine Entfaltungslogik vom Zentralen zum Peripheren gibt. Die noch sehr dichten Äste führen in die Randzone des Baumes, wo es dann zu genaueren Erkenntnissen kommt. Es zeigt eine monohierarchische und teleologische Struktur auf. Weitere Abspaltungen weisen jedem Element eine und nur eine Ordnungsebene zu. Dabei gibt es keine Querverbindungen, welche die Hierarchie übersteigen oder Verbindungen zu anderen Elementen herstellen können. Dieser Baum sei »den Menschen in den Kopf gepflanzt worden«, wodurch die Dominanz dieses Diagramms nicht nur als bloße Repräsentation oder Visualisierung des Denkens, sondern auch als ein vorherrschendes Epistem deutlich wird. Dieses alte Denken bestimmen die beiden Autoren als das »Wurzel-Buch«, in dem die Wurzel als Metapher für ein dichotomisch organisiertes System steht. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 14.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

Guattari als auch Haraway nach Überschneidungen und lebendigen Fluchtlinien, die sich überkreuzen, völlig heterogene Elemente in Relation setzen, ohne sich dabei einem höherstufigen Prinzip unterzuordnen. Sie betonen in diesem Kontext, dass die Künste auf besondere Art und Weise dazu befähigt sind, derartige Fluchtlinien zu produzieren.63

2.2.3

Sympoiesis

Diese affektiven und ereignishaften Allianzen einer rhizomatischen Involution werden durch den Schimmer innerhalb der Area X provoziert, wodurch die dabei entstehenden genetischen Interferenzen zu artenübergreifenden Transmutationen führen. Der Schimmer ermöglicht so transversale Zustände und Möglichkeiten, sich auf einer Fluchtlinie fortzubewegen. Das TierWerden bzw. das Pflanze-Werden der Wissenschaftlerinnen hat somit nichts mit Ähnlichkeit zum Tier oder zur Pflanze zu tun, sondern vollzieht sich mittels Symbiosen, Nachbarschaftszonen und parasitärer Komplizenschaft, die Deleuze und Guattari auch als »widernatürliche Anteilnahmen« bezeichnen.64 Die Wissenschaftlerinnen sind vor dem Hintergrund der Toxizität der Area X sowohl ausgeliefert als auch von einer Neugier und einem je eigenen Begehren danach getrieben, weiter darin zu operieren. Sie sind so nicht einer passiven Natur entgegengestellt, sondern sind Teil der »widernatürlichen Anteilnahme«65 , wie es bei Deleuze und Guattari heißt, an einem lebendigen Organismus, der sowohl Leben nimmt, indem er die Radiowellen, Stimmen, Körper und menschliche DNS einsaugt, um überleben zu können, als auch neues Leben erschafft, das sich jedoch nicht in gängige menschliche Taxonomien einordnen lässt. Garlands Fiktion ist mit dieser Herangehensweise überaus sensibel, da sie weder die alles auslöschende Apokalypse beschwört, die auch immer ein Zurück zur ›wahren‹ oder ›unbeschadeten‹ und damit idealisierten Natur impliziert, noch ein ›neoliberales‹ Körper-Update im Sinn hat, um ein more than human zu erreichen. Vielmehr geht es in der Fiktion um ein Leben und Überleben innerhalb der fremden Natur, das sich nur in der Relation und in der Allianz von Mensch, Pflanze und Tier innerhalb der Area X vollziehen kann. Insbesondere die Flora bildet Phänotypen aus, die

63 64 65

Vgl. Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, S. 488; Haraway: Unruhig Bleiben, S. 96. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 329. Ebd., S. 327.

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in einer monströsen Gleichzeitigkeit des Weder-noch und Sowohl-als-auch verharren. Im Sinne Donna Haraways sind die Wissenschaftlerinnen aus Garlands Fiktion situiert, indem sie mit dem Schimmer eine transhumane Allianz eingehen und nicht von einem erhöhten Punkt auf das außerirdische Phänomen zugreifen bzw. dieses zu objektivieren versuchen, sondern sich mit ihm verschränken. Haraway radikalisiert mit dem Begriff der Sympoiesis als MitVerweltlichung das Konzept der Autopoiesis insofern, als dass die Sympoiesis der Autopoiesis vorausgeht und diese erst ermöglicht: »Nichts macht sich selbst, nichts ist wirklich autopoietisch oder selbst-organisierend […] Sympoiesis umfasst Autopoiesis, erlaubt ihre Entfaltung und erweitert sie«.66 Sich selbst organisierende und kybernetische Systeme sind nach Haraway immer schon zunächst mitorganisierend. Damit meint Haraway nicht-menschliche Lebewesen, die sie als Kritter bezeichnet und mit denen man sich als Mensch verwandt machen soll: »Kritter gehen ihren Beziehungen nicht voraus; sie bringen einander durch semiotisch-materielle Involutionen, Ein- und Umstülpungen, hervor, die wiederum aus vorangegangenen Verstrickungen hervorgegangen sind.«67 Nur mittels eines komplizenhaften und eines unruhigen ›Mit-Werdens‹, das jedoch nicht zu verwechseln ist mit so etwas wie harmonischem ökologischen Gleichgewicht oder einer friedlichen Balance, ist es möglich, innerhalb der Area X zu existieren. Das Tier- und Pflanze-Werden innerhalb der Area X folgt damit einem nicht anthropozentrischen Prinzip, das wie eine auf Dauer gestellte Mutation funktioniert. Vor allem die Aussage: »It’s like they’re stuck in a continuous mutation«,68 und gerade das ›Steckenbleiben‹ beschreibt einen konflikthaften Seinszustand eines Ineinander-verheddert-Sein, eines Verschränkt-Seins, das über den Tod oder das Leben eines Einzelorganismus hinausgeht. Statt eine transzendentale Fremdheit oder ein Bote einer höheren Dimension zu sein – wie wir es in den Erzählungen Lovecrafts sehen –, steht der Schimmer für ein differentielles Prinzip des terrestrischen Lebens, nämlich als grundlegende Trennung und Verbindung, als eine Mischung und Mutation ohne Metamorphose, die einen mit sich selbst identischen Phänotypen ausbildet. Mensch-Tier- oder PflanzeMensch-Verhältnisse verlaufen auf diese Weise quer zu evolutionären Prozessen. Das Bündnis, das die Wissenschaftlerinnen innerhalb der Zone einge66 67 68

Haraway: Unruhig bleiben, S. 85. Ebd., S. 6. Garland (Regie): Auslöschung, 1:21:26.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

hen, findet auf molekularer und affektiver Ebene statt. Damit ist nicht ein Mitgefühl füreinander gemeint, sondern die Auswirkung der Kraft der fremden Natur auf die Subjekte, die sie betreten. Erst diese Kraft setzt Mechanismen eines molekularen Tier-Werdens (und Pflanze-Werdens) in Gang. Dabei handelt es sich bei diesem rhizomatischen Bündnis weder um ein Fortschreiten von einer weniger zu einer höher differenzierten Lebensform noch um Strukturen genetischer Abstammung durch Filiation. Das Molekular-Werden innerhalb der Area X scheint so kein Prozess der Ausdifferenzierung und auch keiner der Regression zu sein. Sowohl Tier und Pflanze als auch Mensch bewegen sich somit zwischen den molaren Formen des Tierlichen, Pflanzlichen und des Humanen. Die Fiktion Garlands fungiert als eine Lupe, die diesen onto-epistemischen Bereich fokussiert, um die nahezu unsichtbaren Verschiebungen und sich lateral bewegenden Verzweigungen sichtbar zu machen. Auslöschung stellt die Frage danach, wie eine Mannigfaltigkeit und Prozessualität des Werdens gedacht werden kann, ohne in eine vorgängige Einheit eines genetischen Vorfahren zu fallen.

2.2.4

Ansteckung statt Abstammung: Blume-Werden

Vom Sein zum Werden kommt man innerhalb der Area X also nicht durch ausdifferenzierende Reproduktion, sondern durch transversale Verschränkungen und durch die Ansteckung und Infektion. Garlands Auslöschung ist eine filmische Inszenierung von Körpern, deren Haut nicht mehr die absolute Grenze zwischen innen und außen darstellt, wodurch jede Gattung und jede Art immer wieder durchkreuzt werden kann, wodurch genetische Interferenzen entstehen. Reproduktion durch Vererbung und die damit verbundene Starrheit der epistemologischen Tableaus werden so unterlaufen. Der Schimmer und die darin sich immer weiter ausbreitende Area X, die zu seltsamen Symbiosen, Nachbarschaftszonen und Natur-Mensch-Komplizenschaften führen, folgen somit dem Prinzip der Epidemie, wie es Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus formulieren: Wir stellen der Epidemie die Abstammung gegenüber, die Ansteckung der Vererbung, die Bevölkerung durch Ansteckung der geschlechtlichen Fortpflanzung und der sexuellen Produktion. Menschliche und tierische Banden vermehren sich durch Ansteckungen, Epidemien, Schlachtfelder und Katastrophen. So wie Zwitter, die selber unfruchtbar sind und durch eine sexuelle Vereinigung zustande kommen, die selber nicht reproduziert wird,

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sondern jedes mal von vorn beginnt und dabei an Terrain gewinnt. Widernatürliche Anteilnahmen oder Vereinigungen sind die wahre Natur, die die Tier- und Pflanzen-Reiche durchzieht.69 Aus medizinischer Sicht ist die Infektion bedrohlich für den Organismus. Insbesondere in Zeiten einer globalen Pandemie, wie sie durch das Virus SARSCoV-2 und die von ihm ausgelöste Erkrankung Covid-19 hervorgerufen wurde, ist es kontraintuitiv und nahezu fahrlässig, die virale Ansteckung als ein Phänomen der relationalen Ökologie zu betrachten, wenn man an die damit verbundenen menschlichen, sozialen und ökonomischen Krisen denkt. Deleuze und Guattari legen jedoch deshalb eine positive Deutung der Ansteckung vor, weil sie diese als ein politisches Prinzip und vor allem als eine Denkfigur extremer Lebendigkeit begreifen, die abseits der genetischen Abstammung Verbindungen herstellt. Diese Form der Vereinigung gehen auch einige die Protagonistinnen der Fiktion ein. Kurz bevor die Physikerin Josie eine rhizomatische Allianz mit einer transmutierten Pflanzenart bildet, sagt sie zu der Biologin Lena: »Ventress wants to face it, you want to fight it. But I dont think I want either of those things.«70 Die Äußerung der Physikerin ist Ausdruck der Affirmation und der Akzeptanz der infektiösen und affektiven Anteilnahme an der fremden Natur. Im Sinne von Deleuze und Guattari, die die Ansteckung nicht als das katastrophale Ende einer Wissensgemeinschaft begreifen, sondern als einene mutierten Anfang, begreift auch die Physikerin diesen Transformationsprozess nicht als zerstörerisch, sondern einfach nur als eine Tatsache der Veränderung, die das binär organisierte Verwandtschaftssystem verunreinigt und mittels genetischer Interferenzen neue Formen des Lebens kreiert. Die ›widernatürliche Anteilnahme‹ ist hier die Vermischung von nur scheinbar getrennten Bereichen des Pflanzlichen und des Menschlichen, die sich in organischer Wandlung befinden (vgl. Abb. 4). Josie als Mischwesen wird jedoch auch zu einer monströsen Allegorie aus Frau und Blume. Die traditionelle Versinnbildlichung der Blume als weibliche Schönheit verkehrt sich in dieser Szene. Das ›unschuldige‹ und sehr typisch vom männlichen Blick geprägte Frau-Blume-Bild kippt vor dem Hintergrund der alternativen Reproduktion durch Ansteckung in eine uneindeutige und monströse Form der Blume-Frau-Verbindung, die sich nicht in eine klar

69 70

Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 329. Garland (Regie): Auslöschung, 1:21:07.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

Abb. 4: Auslöschung (2018), R: Alex Garland, 1:21:30 min.

identifizierbare Form bringen lässt.71 Die Frau-Blume-Verbindung ist dabei paradigmatisch, wenn man z.B. an einige Orchideenarten denkt, die keine Insekten brauchen, um sich zu reproduzieren, und als uneindeutige Wesen die binäre Aufteilung von männlich aktiven und weiblich passiven Formen der Reproduktion in Frage stellen. Auslöschung inszeniert damit eine invasivkreative und nicht reproduktive oder repräsentative Struktur der Epidemie, die weder mimetisch noch metaphorisch funktioniert, sondern, wie es Deleuze und Guattari betonen, eher vampirisch: Der Vampir pflanzt sich nicht fort, er steckt an. Der Unterschied liegt darin, dass die Ansteckung, die Epidemie, ganz heterogene Terme ins Spiel bringt, wie zum Beispiel einen Menschen, ein Tier und eine Bakterie, einen Virus, ein Molekül und einen Mikro-Organismus. […] Kombinationen, die weder genetisch noch struktural sind, Zwischenreiche, widernatürliche Anteilnahmen; aber nur so geht die Natur vor, sogar gegen sich selber.72 Area X ist dieser Vampir, der durch Brechung und Beugung aller DNA seltsame Zwischenbereiche kreiert und eine, wie bereits anhand Deleuzes univokem Verständnis des Seins verdeutlicht, Differenz an sich selbst, die sich nicht

71

72

Vgl. zu der literaturhistorischen Beziehung und den monströsen Mischungen von Frauen und Blumen Isabel Kranz: »Strange Peril in Either Shape«. Monstrosität und Allegorie in Nathaniel Hawthornes Erzählung Rappaccini’s Daughter (1844), in: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld 2009, S. 439-460, hier S. 459. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 330.

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durch die Identität und Dualität einer binären Reproduktion, sondern durch eine doppelt identische und damit potenzierte Unbestimmtheitszone auszeichnet. Es gibt keine genetische Ausdifferenzierung vom Zentrum ins Marginale, sondern nur ein Spiel aus Deterritorialisierungen und Reterritorialisierungen, das heterogene Organismen verkettet und auch wieder zerfallen lässt. Auslöschung verweist auf die Kontingenz und Konstruiertheit von Gattungsordnungen und vor allem auf den Bruch mit einer geschlossenen, als ›human‹ konnotierten Körperlichkeit. Es wirkt so, als ob sich die fremde Natur innerhalb des Schimmers des Naturbegriffs und allen Zuschreibungen des Humanen entledigen will, um ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten durchzusetzen. Das wechselseitige Verhältnis von Schimmer und organischer sowie anorganischer Materie ist damit mehr symbiotisch als parasitär, wobei es in einer Unentschiedenheit verbleibt, die paradigmatisch für die Fiktion Garlands ist. Sie verharrt in einem flechten-/pilzartigen Dazwischen.

2.2.5

Der Schleimpilz als Modell für die queere Performanz der Natur

Das Motiv der Flechte oder des Pilzes zieht sich durch den gesamten Film und begleitet die Forscherinnen beim Durchschreiten der Area X. Insbesondere die Szene in einem verlassenen Schwimmbad, wo der menschliche Körper eines Wissenschaftlers einer der früheren Expeditionen scheinbar nach seinem Tod als Wirt für eine Pilz- bzw. Flechtenart fungiert, verdeutlicht den Schleimpilz als ein Modell für eine queere und transversale Natur innerhalb von Area X (vgl. Abb. 5).

Abb. 5: Auslöschung (2018), R: Alex Garland, 48:13 min.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

Bei genauerem Betrachten dieses seltsamen Pilzgebildes wird deutlich, dass es sich um zwei unterschiedliche Arten handelt. Die gelben Strukturen erinnern vor allem an gelbe Schleimpilze. Schleimpilze sind einzellige Organismen, die tierliche und pflanzliche Eigenschaften vereinen, dabei jedoch zu keiner der beiden Gruppen tatsächlich gehören. Erst durch nacheinander erfolgende symbiogenetische Vorgänge entstehen diese eukaryotischen Lebewesen. Dabei durchlaufen sie mehrere Stufen und manche Ansätze der Biologie gehen von einer Verschachtelung von mindestens sechs ursprünglich selbstständigen Organismen aus. Die gelb leuchtenden Fasern, die sich aus dem Zentrum netzwerkartig nach außen winden, erinnern an eine ganz bestimmte Schleimpilzart: physarum polycephalum. Dieser Superorganismus ist, obwohl er hybrid ist, zugleich auch singulär. Er gehört zu der Familie der Amöbozoa, die nur aus einer einzigen Zelle bestehen, sich jedoch bis zu einer Fläche von zwei Quadratmetern ausbreiten können. Diese faserige Entität, die sich auch gemäß der gegebenen Räumlichkeit anpasst und schneller wächst, sobald es eine Nahrungsquelle ausmacht, erinnert auch an Flechten, die ebenfalls komplexe Doppelwesen sind, bestehend aus Pilz und Alge. Auch sie sind nicht nach einem höherstufigen Prinzip organisiert, sondern bilden prekäre und in alle Richtungen ausgreifende Allianzen. Denn es gibt keinen Schleimpilz, der mit sich selbst identisch ist, sondern nur ein Schleimpilz-Werden, das einem auf Dauer gestellten Transformationsprozess unterworfen ist. Das Schleimpilz-Werden ist eine sich unentschieden verhaltende Lebensform, die zwischen unterschiedlichen Lebensweisen hin und her gerissen ist. Mit Karen Barad ließe sich auch von einer queeren Performativität der Natur sprechen, die nicht nur den Schleimpilz physarum polycephalum in seiner Vielheit einschließt, sondern diesen als Modellorganismus für Sein überhaupt begreift. Denn, so heißt es bei Barad, »in diesem agentisch realistischen Ansatz, werden alle Körper, nicht bloß menschliche Körper, durch die Performativität der Welt – ihre iterative Intraaktivität – materialisiert und bedeutend.«73 Mit dem Begriff queer in Bezug auf den Schleimpilz könnte man in Rückgriff auf Barads Überlegungen sagen, dass sich in seiner Struktur nicht nur eine subversive Bewegung ausdrückt, die ein binär-dichotomes Geschlechterverhältnis unterläuft, sondern auch die Queerness von Materie als biologische und physikalische Unbestimmtheit, die sich genauso in der Sphäre des Sozialen auffinden lässt:

73

Barad: Verschränkungen, S. 130.

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Soziale Amöben unterwandern [queer] die Natur von Identität, indem sie die Binarität von Individuum/Gruppe infrage stellen. Die soziale Amöbe genießt bezüglich des Unterlaufens von Identität sogar mehrere Unbestimmtheiten und hintergeht erfolgreich die andauernden, naturwissenschaftlichen Versuche der Feststellung ihrer Taxonomie, da ihre Art sich sowohl der Klassifizierung nach Phylum/Stamm aber auch jener nach Reich entzieht.74 So wird der Verrat, dieses ›Hintergehen der Natur‹, in Garlands Fiktion anhand der monströsen Überschreitungen von Taxonomien sichtbar. Area X wird zu einem eigenständigen und sich in permanenter Transformation befindenden Organismus, der die Regelmäßigkeit der Naturgesetze in Frage stellt, in dem er sie ›queert‹ und damit durcheinanderbringt. Die Natur wird auf diese Weise selbst queer, weird und spekulativ, weil sie der kausalen und taxonomischen Schließung eine amöbenhafte Offenheit verleiht.

2.3

Area X als Hyperobjekt

Area X, so lässt sich im Anschluss an Timothy Morton sagen, ist eine Ökologie ohne Natur – eine nicht idealisierte und durch das menschliche Subjekt naturalisierte Natur, die auf Distanz gehalten, und auch nicht eine Natur, die unter einem konstruktivistischen Diktum, als Reflexion des menschlichen Geistes, objektiviert wird.75 Sie ist ein unruhiges Habitat und kein gleichgewichtiges Milieu oder eine friedliche Umgebung. Sie befindet sich ununterbrochen im Umbruch und verschränkt Ökosysteme, die in einer den Naturgesetzen folgenden Welt nur getrennt voneinander auftreten würden. Darin sind sich die eigentlich gegenseitig fremden Ökosysteme, Milieus und Habitate seltsam nah: Der Dschungel geht scheinbar nahtlos in einen Sumpf über, der wiederum ebenfalls ohne Vermittlung in ein offenes Meer mündet. Es handelt sich um ein Areal, das der menschlichen Wahrnehmung durch die schiere Größe und Unübersichtlichkeit einerseits entgleitet und gegenübergestellt bleibt und sich andererseits durch seine überwältigende Fremdheit geradezu aufdrängt und an den Protagonistinnen haftet. Die Wissenschaftlerinnen sind so eingebettet in ein Objekt, das eine nichtdichotome Natur beinhaltet und eine Gegenüberstellung von innen und außen, Mensch und Natur, Subjekt

74 75

Ebd., S. 118. Vgl. dazu die Untersuchungen zu Mortons Hyperobjects aus dem ersten Teil der Arbeit.

II. Ökologien und Ontoepistemologien prekärer Stoffe

und Objekt implodieren lässt. Das fremde Habitat wird so zu einem Hyperobjekt, dessen Ausdehnung über das Subjektive und die dichotome Ordnung von Raum und Zeit hinausgeht. Die Wissenschaftlerinnen sind darin eingelassen und existieren zugleich unabhängig davon, da Hyperobjekte, wie sie Morton definiert, so »riesig und dauerhaft sind, dass sie die menschlichen Vorstellungen von Zeit und Raum sprengen«.76 Sowohl Raum als auch Zeit werden vor dem Hintergrund dieser Annahmen nicht als Behälter begriffen, sondern als »raumzeitliche Mannigfaltigkeit, die zutiefst im und vom Universum existiert und sich nicht ontologisch außerhalb desselben befindet«.77 Auf diese Weise verhält sich auch die Zone der Area X als eine düstere, seltsame und unzuverlässige Ökologie, die sich einem Verstehen widersetzt und sich zugleich irreduzibel mit dem Menschen verbindet. Garlands Fiktion ist eine ästhetische Spekulation über die Möglichkeit der Überwindung einer idealistischen Natur-Mensch-Dichotomie, indem die Fiktion klar vor Augen führt, dass es nicht um eine einfache bzw. einfältige Subjekt-Objekt-Beziehung geht, die immer nur vom Subjekt her gedacht wird. Eine solche Sichtweise führe, wie es auch Morton immer wieder betont, zu einer Hypostasierung des Begriffs der Natur als einer reinen und dem Subjekt gegenüberstehenden und passivischen Entität. Dieses Verständnis verhindere ein ökologisches Denken, das nur in Zusammenhängen, Kreisläufen und Zirkulationen denkbar sei. Auf diese Möglichkeit einer Ökologie ohne Natur spekuliert Garland mit seiner Fiktion, indem er eine, wie Morton einfordert, Null-Person-Perspektive inszeniert, die nicht auf der ersten oder dritten Person basiert, da deren Wahrnehmungsweisen eine Distanz zur Welt aufrechterhalten und dadurch eine Subjekt-Objekt-Spaltung reproduzieren, sondern eine disjunktive Verschränkung dieser vornimmt.78 Denn scheinbar gibt es in dieser seltsamen Zone keine Dichotomie zwischen der Welt und dem von außen darauf schauenden Subjekt. Die Subjekte, die diese Zone betreten, verschränken sich mit den darin ablaufenden Prozessen, die ein eigenes Agens aufweisen, das nicht von den Konstruktionen des menschlichen Geistes abhängt. Einerseits übersteigt das Hyperobjekt Area X die Wahrnehmung der darin agierenden Subjekte unendlich und andererseits haften sie irreduzibel daran und gehen sympoietische Bindungen mit ihr ein, die nicht den kausalen oder teleologischen Ordnungen einer irdischen Reproduktion folgen. Die ereignishafte Genese 76 77 78

Morton: Zero Landscapes, S. 80. Ebd. Vgl. ebd., S. 81.

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der Verbreitung durch Ansteckung innerhalb dieses seltsamen Habitats ersetzt die diachrone Genese durch Vererbung. Durch die Omnipräsenz dieser Ökologie wird scheinbar alles möglich. So repräsentiert am Ende des Spielfilms die gebündelte Energie des Schimmers im Inneren des Leuchtturms, von wo aus die Mutation begann, eine alternative Idee der Reproduktion, die nicht in kausalen oder teleologisch-evolutionären Modellen zu erfassen ist, und verdeutlicht zugleich, dass die Auslöschung als ein Begriff der Physik nicht Zerstörung meint, sondern Entstehung. Auslöschung meint die Kombination und das Aufeinandertreffen eines Teilchens mit seinem Gegenstück (wie z.B. eines Elektrons und eines Positrons). Dieses Aufeinandertreffen führt anschließend zu einer völligen Umwandlung der Teilchen in reine Energie. Als die Biologin Lena dieser Aliensubstanz zu nahe kommt, gelangt ihr Blut in das Innere der Energiequelle, was dazu führt, dass diese fremdartige Energie eine Kopie von ihr erstellt. Nach einem Kampf zwischen Lena und ihrer Alienkopie wird die Kopie von Lena vernichtet. Der Schimmer und die Area X verschwinden und Lena kehrt genetisch verändert zurück ins Lager und der Film lässt offen, inwieweit sie nun selbst zu einem diffraktiven Alienwesen geworden ist.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

3.1

Zirkulation und Kontrolle des Kleinen und Flüchtigen

Wissen um die Ökologie der Substanzen, der Stoffe und auch die Frage nach dem onto-epistemologischen Status von Gattung und Art, einem und vielem, Eigenem und Fremdem, sind ebenso Fragen der Regierung und damit auch der Gestaltung, Komposition und Modifikation des Lebendigen und der Materie. Kurzgefasst handelt es sich um Mechanismen, die Leben und Politik in einer Verschränkung denkbar werden lassen. Foucault bezeichnet diese Prozesse bekanntlich als Biopolitik. In seinen Vorlesungen am College de France (1974-1976) postuliert Foucault mit diesem Begriff eine Zäsur in der Geschichte der Machttechniken. Das erste Mal in der Historie verschränke sich das Biologische mit dem Politischen. Foucaults zentrale These lautet, dass sich seit dem späten 17. Jahrhundert eine neue Regierungsform herausgebildet hat, die auf das individuelle und kollektive Leben selbst abzielt.1 Während sich die Souveränitätsgesellschaft dadurch auszeichnete, Macht repressiv auszuüben – also mittels eines Souveräns, der in blutrünstigen Ritualen seine Macht über Leben und Tod zur Schau stellte, operierten die darauffolgende Disziplinargesellschaft und die Gesellschaft der Biopolitik mit einer Macht, die Leben produziert, es ausschließend/einschließend verwaltet, anleitet und zu erhalten versucht, statt es zu zerstören. Auf dem Spiel steht dabei nichts Geringeres als die Autonomie des Subjekts und der epistemische Status des Menschlichen selbst. Der Begriff der Biopolitik und die damit verbundenen sozialtheoretischen Fragestellungen gehören in den Sozial- sowie Kulturwissenschaften

1

Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France (1974-1976), Frankfurt a.M. 2009.

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seit geraumer Zeit zu einer festen Größe.2 Dabei lässt sich die Biopolitikforschung sehr grob und nur heuristisch in zwei Lager aufteilen. Einerseits ist das marxistisch geprägte Interesse an Makro-Phänomenen der Macht des Operaismus und Postoperaismus zu erwähnen, die sich mit den Beziehungen zwischen Staat, Empire und der subversiven Multitude auseinandersetzen.3 Unmittelbar daran anschließen ließe sich auch das Homo-Sacer-Projekt von Giorgio Agamben, der ebenfalls die molaren Formen der Macht anhand der Kategorien von Recht, Leben und Politik fokussiert.4 Auf der anderen Seite lassen sich Positionen verorten, die Makro- und Mikrophänomene der Macht zu vermitteln und zu bearbeiten versuchen. Gilles Deleuze, Donna Haraway, Roberto Esposito und jüngst die Arbeiten von Paul B. Preciado untersuchen entsprechend die mikropolitischen Einsätze der Macht. Für diese Studie ist vor allem das zweite Lager von Interesse, das nicht so sehr daran interessiert ist, Subjektivierungsweisen und biopolitische Kontrolle als einzig intersubjektives und auf den Menschen zentriertes Geschehen zu beschreiben, sondern ebenso die nahezu unsichtbaren, affektiven, materiellen, nicht menschlichen und anorganischen Verbindungen zu beleuchten. Insbesondere die an dem Verhältnis von Biopolitik und Biotechnologie bzw. Pharmakologie interessierte Theorie von Paul B. Preciado steht im Zentrum der Überlegungen. Preciado kritisiert Foucaults Biopolitikbegriff in zweierlei Weise. Dieser stelle erstens keine Instrumente für die gegenwärtigen biopolitischen Entwicklungen bereit, da er in seinen Untersuchungen zur Macht nur in der Moderne verbleibe. Nach Preciado macht die foucaultsche Vorstellung eines integralen Körpers, der von äußeren Machtstrukturen erfasst und modifiziert wird, einer Macht Platz, die sich wie und als ein Molekül, eine Droge, ein Hormon oder eine andere prekäre Stofflichkeit an das einzelne und das kollektive Immunsystem heftet und es von innen regiert. Die biopolitische Herstellung und Zerstörung von Subjektivität werde so nicht nur über äußere 2

3 4

Es gibt eine unübersichtliche Vielzahl an Publikationen zum Begriff der Biopolitik ausgehend von Michel Foucault. Es wäre ein zu großes Unterfangen, durch die Diskussionen, Themen und Abgrenzungen dieses riesigen Diskursfeldes im Kontext dieser Studie zu navigieren. Eine Versammlung der wichtigsten Positionen findet sich jedoch in einem von Thomas Lemke und Andreas Folkers zusammengestellten Reader, vgl. Andreas Folkers/Thomas Lemke (Hg.): Biopolitik. Ein Reader, Frankfurt a.M. 2014. Vgl. dazu vor allem Michael Hardt/Antonio Negri: Empire, London 2000. Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002; auch: Giorgio Agamben: Ausnahmezustand: Homo Sacer II, Frankfurt a.M. 2004.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

Architekturen und abstrakte Machtformationen (Schule, Psychiatrie, Gefängnis) vorgenommen, sondern vielmehr über innerkörperliche und materielle Wirkungsweisen (Drogen, pharmakologische Präparate, Hormontherapie). Zweitens gäbe es davon ausgehend auch keinen Begriff von Materialität und Stofflichkeit, der in seiner Biopolitik verankert wäre, da er sich in seinen Analysen letztlich immer nur auf soziale Prozesse des Humanen beziehen würde. Auch die bereits im ersten Kapitel der Arbeit skizzierte Theorie des agentiellen Realismus nach Karen Barad ist als eine Kritik an Foucaults Diskurs bzw. Machtbegriff angelegt. Obwohl Foucault Macht als eine Beziehungsweise und als relationale Praxis beschreibe, wäre er dennoch blind für die diffizilen Verhältnisse von diskursiven Praktiken und materiellen Phänomenen.5 Wie in Judith Butlers Theorie der Macht sei Materie laut Barad nur als passive Materie gedacht worden, die nachträglich durch soziale Akte von Subjekten zum Leben erweckt werde. Das Phänomen der Macht bleibe damit in einem Anthropozentrismus verhaftet, da Materie, aber auch andere nicht menschliche Aktanten letztlich nur vom Subjekt bzw. von sozialen und diskursiven Praktiken her gedacht werden und dabei Diskurs und Materie als sich gegenseitig hervorbringende Materialisierungen verkennen. Doch entgegen dieser Kritik wird anhand der foucaultschen Begriffe der Gouvernementalität und Biopolitik deutlich, dass er implizit eine Formation der Macht beschreibt, die erstens mit produktiven und eher sanften bzw. nahezu unsichtbaren Mitteln operiert und in der zweitens Materialität als steuernde und gesteuerte Größe in Ansätzen angelegt ist. Diese Ansätze hat Thomas Lemke in seinem Artikel zu Foucaults Government of Things herausgearbeitet, in dem er diese Kritik als eine zu verkürzte Kritik zu entlarven versucht. Karen Barads kritische Lektüre von Foucaults Machtkonzeption sei vor dem Hintergrund seiner Idee einer »Regierung der Dinge«,6 die Foucault in seinen Vorträgen über Gouvernementalität nur kurz skizziert, nicht haltbar. Durch die Betonung der irreduziblen Verstrickung von Menschen und Dingen, lässt sich mit Lemke Foucaults Projekt als eines lesen, das abseits seiner Subjekttheorie auch eine neu-materialistische Lesart erlaubt, die die Wechselbeziehungen von Menschen und Dingen zulässt und damit nicht nur

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Vgl. Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 200. Vgl. dazu auch Barad: Posthumanist Performativity, S. 820. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität. Bd. 1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a.M. 2004, S. 146.

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die Regierung des organischen, biologischen und subjektiven Lebens, sondern auch die Regierung des Unbelebten fokussiert.7 Lemke stellt überzeugend dar, dass Foucault in seinen Gouvernementalitätsvorlesungen die Regierungskunst nicht als Interaktion zwischen den zwei molaren Größen ›Menschen‹ und ›Dinge‹ beschreibt, sondern einen relationalen und auch an Materie interessierten Ansatz verfolge. Die Idee einer »Regierung der Dinge« bei Foucault beruhe so nicht auf einer ordnenden Unterscheidung von Subjekten und Objekten. Foucault stelle vielmehr die Idee eines aktiven Subjekts, das im Kontrast zum Objekt stehe, in Frage.8 Es würde an dieser Stelle zu weit führen, Lemkes Argumentation bis zum Schluss zu folgen, um Foucaults Position als eine neu-materialistische lesbar zu machen. Es sei lediglich auf ein Beispiel Foucaults verwiesen, das das relationale Verhältnis von Macht und Materie verdeutlicht. Foucault benutzt im Kontext der gouvernementalen Regierungskunst das Handelsschiff als Beispiel für eine Regierungskunst, die Subjekte und Dinge gleichermaßen in die Machtpraxis einschließt: Ein Schiff zu steuern und zu regieren bedeutet nicht nur, für die Matrosen an Board verantwortlich zu sein, sondern auch für die Ladung des Schiffes sowie die Pflege und Wartung seiner materiellen Beschaffenheit. Das Schiff sei damit ein politisches Symbol für die Regierungskunst des Gouvernementalen. Es sei ein offenes Vehikel, das den weiten Raum des Ozeans erschließt und dabei zugleich einen geschlossenen Innenraum darstellt, der die Dinge und Subjekte arrangiert, diese anleitet und kontrolliert, ohne diese jedoch zu besitzen oder zu beherrschen.9 Bezogen auf die Kritik, dass Foucaults Machtanalyse in der Moderne stehen geblieben wäre, gibt es ebenfalls einige Indizien dafür, dass Foucault weit in die Gegenwart hineingedacht hat, ohne dies explizit zu machen. Im Kontext einer Konferenz in Kyoto entsteht ein Interview mit Foucault, in dem er explizit die Funktionsweise der bedingungslosen Disziplinargesellschaft in Bezug auf die damals gegenwärtigen biotechnologischen Entwicklungen in Frage stellt: »Die herrschende Klasse ist stets durchdrungen von der alten Technik. Es ist jedoch evident, dass wir uns in der Zukunft von der Diszipli-

7 8 9

Thomas Lemke: New Materialisms: Foucault and the ›Government of Things‹, in: Theory, Culture and Society, 32 (4), 2015, S. 3-25. Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 11.

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nargesellschaft von heute trennen müssen.«10 Nach Foucault formieren sich im 18. Jahrhundert bekanntlich aufgeweichte Machtmechanismen und sorgen für eine Zäsur in einer sich veränderten historischen Situation, in der aufgrund des Bevölkerungswachstums und der Armee, der Schulen, Krankenhäuser und der aufkommenden industriellen Revolution ein neuer Typus der Bevölkerungsregulation gebraucht wird, der den Einzel- und den Kollektivkörper als nutzbare Kraft entdeckt. Das, was Foucault methodisch vollzieht, ist ein Verfahren zur Untersuchung von Machtprozessen in ihrer historischen Immanenz, also eine Analyse von Machtfigurationen ohne einen klar zuzuschreibenden Machtagens bzw. eine Machtquelle. Dementsprechend folgt Macht auch nicht den moralischen Kategorien von gut und böse, sondern ist ein Geflecht aus Handlungen und Wirkungen, die andere Handlungen und Wirkungen anreizen und/oder unterbinden können. Foucaults Machtbegriff ist eine dynamische und nicht an ein handelndes Subjekt gebundene Kippfigur, die zwischen Repression und Produktivität hin und her pendelt, wodurch die Vorstellung eines*r Drahtzieher*in oder eines*r gewaltsamen Usurpator*in überflüssig wird. Jedes Subjekt individualisiert sich in der Disziplinargesellschaft durch die Instanzen und Institutionen, die es durchläuft (von der Schule z.B. in das Militär, oder sei es die Psychiatrie oder das Gefängnis). Was für diese Untersuchung, also für die Frage nach der Biopolitik von prekären Stoffen, interessant ist, ist nicht Foucaults Machtanalyse in Gänze, sondern die Beschreibung eines Blickes der Macht, der die Subjekte in ihrer teilchenförmigen Verfassung anstrahlt. Die Subjekte sind einer feinmaschigen Beobachtung unterworfen, die jede Kleinigkeit menschlicher Verhaltensweisen reguliert. Foucault spricht dabei auch von einer diskreten Macht – einer verfeinerten Technologie, die den Körper als Quelle der Wertschöpfung ansieht und dafür effizient optimiert. Foucault legt bereits in Überwachen und Strafen die Betonung darauf, dass es sich dabei um kleine und nahezu unscheinbare Abrichtungsmaschinen handelt. Die Kleinlichkeit der Reglements, der kleinliche Blick der Inspektionen, die Kontrolle über die kleinsten Parzellen des Lebens und des Körpers werden im Rahmen der Schule, der Kaserne, des Spitals oder der Werkstätten jenem

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Michel Foucault: Die Disziplinargesellschaft in der Krise, in: ders.: Analytik der Macht, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Frankfurt a.M. 2005, S. 144-147, hier S. 145.

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mystischen Kalkül des unendlich Kleinen und Großen bald einen weltlichen Inhalt, eine ökonomische oder technische Rationalität verleihen.11 In diesem Sinne heißt es weiter: »Die großen Gittertore, die schweren Ketten und Schlösser verschwinden«12 und an ihrer Stelle erscheint eine mikrologische, kleinliche und auch elegantere Form der Regulation des Einzel- und des Kollektivsubjekts. Foucault bezeichnet diese Regierungsformation auch als die Mikrophysik der Macht. Der Zusammenhang zwischen der Erfindung des Mikroskops, der Infinitesimalrechnung und der disziplinarischen Regierungstechniken im 17. Jahrhundert ist somit kein Zufall. Auf einmal erscheinen wissenschaftliche Disziplinen, die das unendlich Kleine und das Korpuskulare in den Fokus nehmen, bzw. entsteht eine Sensibilität für Phänomene, die dem Blick bisher entgangen sind. Die minutiöse und durchdringende Beobachtung von Molekülen, Teilchen und Details zieht nach Foucault auch neue, feinmaschigere Machttechniken nach sich. Es werden Institutionen, Verfahren, aber auch dementsprechend Rezeptionen, Perzeptionen und vor allem auch Rezepte entwickelt, die den diszipliniert-disziplinierenden Menschen einerseits zu einem Insekt unter der Lupe machen und andererseits zu einer durchlässigen und durch z.B. Medikamente oder andere medizinische Apparate steuerbaren Größe.13 Die herausgebildeten Disziplinen selbst beschreibt Foucault in diesem Sinne als »die Gesamtheit der winzigen technischen Erfindungen.«14 Und weiter: »Aus diesen Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten ist der Mensch des modernen Humanismus geboren worden.«15 Das Aufkommen der ökonomischen, biologischen und technischen Rationalität, das sich hier auch als das Programm der Aufklärung beschreiben ließe, markiert nach Foucault den Eintritt des Lebens in die Geschichte bzw. die Politik und stellt damit automatisch die Frage nach politischen und ökonomischen Lösungen. Der Begriff der Biopolitik, der die Reichweite dieser Mechanismen umfasst, ist einerseits ein Operator der Disziplinarmacht, andererseits überschreitet er diese. Während die reine Disziplin im Gefängnis oder

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14 15

Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994, S. 178. Ebd., S. 260. Vgl. zum Topos des Kleinen und Insekthaften bei Foucault auch Marianne Schuller/ Gunnar Schmidt (Hg.): Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen, Bielefeld 2015, S. 15. Ebd., S. 283. Ebd., S. 181.

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in der Psychiatrie sich auf den individuellen Körper richtet, zielt die biopolitische Regulation auf die Bevölkerung ab. Beide Formationen existieren nach Foucault jedoch gleichzeitig und sind nicht voneinander zu trennen. Die Biomacht des Biopolitischen, die von Foucault oft mit der Mikrophysik der Macht synonym verwendet wird, ist ein »zweiter Zugriff der Macht, nicht individualisierend, sondern massenkonstituierend, wenn Sie so wollen, der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an den Gattungsmenschen richtet.«16 Foucault definiert Bevölkerung dabei als eine von »biologischen Prozessen und Gesetzen« bestimmte Menschenmenge, die »eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyramide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand«17 aufweist. Das Charakteristische ist, dass sie nicht als staatliche Herrschaft das physische Leben der Bürger*innen einfach aufs Spiel setzt, indem sie die Körper während der Arbeit verschleißt und im Krieg verbraucht. Wie Petra Gehring präzise herausstellt, entdeckt diese neue Machtform am Leitfaden der Disziplinen der Ökonomie und der Biologie, dass das physische Leben der Individuen einer Gesellschaft eine steigerbare Größe bzw. Ressource ist, die im Medium der Fruchtbarkeit und der biologischen Fortpflanzung optimiert werden kann. Die Biomacht ›entdeckt‹ nach Foucault zum ersten Mal in der Geschichte die Bevölkerungspolitik, die sozialhygienische Gattungsverbesserung, die genetische Qualität des Einzelnen und der Art.18 Nicht mehr der Tod, sondern vielmehr das Leben des Individuums und der Bevölkerung erscheint am Horizont des Politischen. Foucault spricht auch von einer diskreten Macht – einer verfeinerten Technologie, die den Körper als Quelle der Wertschöpfung ansieht und dafür optimiert. Der medizinische, militärische und juristische Zwang der Institutionen gegenüber dem Einzelsubjekt transformiert sich so zu einer Gouvernementalität des Kollektiven – das auch die Regierung der Dinge miteinschließt. Diese sich im 18. Jahrhundert herausbildende und zunehmend ›flüssigere‹ Regierungsform ist somit weniger am Modell des Rechts als vielmehr an der freien Zirkulation des Marktes interessiert. Die liberale Regierungsform erschöpft sich nicht in einer Effizienzideologie, die die Subjekte verschleißt, sondern fragt danach, ob bestimmte Regierungspraktiken nützlich, überflüssig oder gar schädlich sein können. Obwohl sowohl Deleuze als auch später Preciado

16 17 18

Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 286. Ebd. Vgl. Petra Gehring: Was ist Biomacht? Über den zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Berlin 2006, S. 18.

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Foucaults Machtkonzept für nicht zeitgemäß halten, wird deutlich, dass sich die Figurationen der Biomacht bzw. der Gouvernementalität im Begriff der Kontrolle wiederfinden lassen und sich überlagern und sich eben nicht systematisch und auch nicht historisch klar voneinander abgrenzen. In Deleuzes Schrift Postskriptum über die Kontrollgesellschaften beschreibt er die Kontrolle in Abgrenzung zur Disziplin wie folgt: »Die Kontrolle ist keine Disziplinierung. Wenn man zum Beispiel Autobahnen baut, schließt man die Leute nicht ein, aber vervielfacht zugleich die Mechanismen der Kontrolle. Die Leute haben freie Fahrt […] und werden doch perfekt kontrolliert. Das ist unsere Zukunft«.19 Die Öffnung von restriktiven Systemen, die Deleuze hier am Beispiel der Autobahn skizziert, findet sich auf ähnliche Weise bei Foucault, und zwar dort, wo er sich dem Begriff der Sicherheit widmet. Sicherheit hat zum Ziel, Bewegungen zu leiten und zu kanalisieren, anstatt sie zu unterbinden. Es geht nach Foucault darum, die Sphären der Zirkulation zu organisieren, also »das, was daran gefährlich war, zu eliminieren, eine Aufteilung zwischen guter und schlechter Zirkulation vorzunehmen und, indem man die schlechte Zirkulation verminderte, die gute zu maximieren«.20 Foucault bleibt somit mit seinen Analysen nicht in der Moderne stehen, sondern markiert in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität ein Intervall, das einen Übergangsraum von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft sichtbar werden lässt. Er erahnt und präfiguriert gewissermaßen selbst in seinen Lektüren der liberalen Ökonomie die sich ankündigende Krise der Einschließungsmilieus. Petra Gehring fasst diese Veränderung so zusammen: Das aus sich selbst heraus produktive biologische ›Leben‹ wird seinerseits produktiv gemacht. Denkt man dies weiter, dann fügt sich die Zirkulationsthese gut dazu. Unter dem Zugriff einer solchen Biomacht werden nicht nur die menschlichen Verhaltensweisen unter die Gebote der Lebensproduktion und der Lebensverbesserung gestellt. Es werden auch die Körper als solche kapitalisiert.21 Insbesondere der Begriff der Zirkulation verweist auf die Freisetzung der Subjekte und auf die partiell durchlässig werdenden Körpergrenzen, die vor dem Hintergrund der neueren Biotechnologien laut Deleuze zu: »Dividuen 19 20 21

Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 259. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 37. Gehring: Was ist Biomacht?, S. 34.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

und Stichproben, Daten, Märkten oder Banken«22 werden. Die Kritik an Foucault ist jedoch insofern richtig, als er die Entwicklungen der Biomacht nicht explizit an den Stoffbegriff knüpft, sondern dieser nur latent in seinem Text zur Regierung der Dinge mitläuft.

3.2

Die Regierung der Körperstoffe

Den Körper als solchen zu kapitalisieren, bedeutet, wie es Petra Gehring im Anschluss an Foucault behauptet, vor allem, eine Regierung und Kontrolle der Körperstoffe einzurichten, die nicht nur darin besteht, chirurgisch und maximal invasiv einzudringen, sondern sie insbesondere pharmakologisch zugänglich zu machen und den Körper damit als eine zu regulierende Größe zu behandeln. Speziell die Tatsache, dass mit den gegenwärtigen biotechnologischen Möglichkeiten die Körpergrenze überwunden wird bzw. heute eine Kommunikation der Körper stattfindet, verweist darauf, dass der Körper hauptsächlich Körperstoff ist, der abgeschöpft, getauscht, gereinigt und medizinisch bzw. pharmakologisch gepflegt werden kann. Petra Gehring fasst einige wichtige Körperstoffe, die dazu geführt haben, das Körperinnere für medizinisch-ökonomische Verwertungen zugänglich zu machen, in historischer Reihenfolge zusammen. Das Blut stellt den ersten Stoff dar, der mittels Transfusion auf andere Körper übertragen wurde, wodurch die Haut nicht länger als die absolute Grenze des Körpers betrachtet werden konnte. Die damit verbundene Entdeckung der Blutgruppen machte es möglich, mit diesem Stoff die körpereigene Abwehr zu überwinden und eine Haltbarmachung einzurichten, so dass bis heute Blutkonserven verwertet und die Bestandteile (Plasma, Blutkörper usw.) verwaltet werden können und Blut zu einem der wichtigsten Rohstoffe wurde, das einerseits zwischen den Individuen und andererseits als Ware auf den Märkten zirkuliert.23 Direkt daran anschließend entwickelt sich die Praxis der Organtransplantation, wodurch das Organ nicht mehr als mit dem Körper verwachsen begriffen wird, sondern als ein austauschbarer Stoff, der entnommen und woanders eingesetzt werden kann. Wie ich später in diesem Kapitel genauer erläutern werde, entsteht mit der Organtransplantation auch die Idee des Immunsystems, das, wie Gehring 22 23

Deleuze:Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 258. Vgl. Gehring: Was ist Biomacht?, S. 19f. Wie Gehring zu bedenken gibt, hat es natürlich Techniken des Aderlasses und der Infusion bereits vor dem 20. Jahrhundert gegeben.

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feststellt, »als Antwort auf die Erfahrung der Abstoßung fremder Organe entwickelt wurde.«24 Die körpereigenen Widerstände werden somit regulierbar, der Körper kann mtihin für den neuen Stoff und das neue Organ angepasst werden. Auch dafür sind pharmakologische Pflege in Form der Immunsuppressiva nötig, die verhindern, dass der Körper den neuen Stoff abstößt oder zerstört. An diese beiden Stoffe schließen sich Fortpflanzungssubstanzen, Stammzellen und letztlich damit verbundene Biodaten an – also Stoffe die für die Reproduktion und Produktion von Leben zuständig sind und diese zu kontrollieren vermögen.25 Bereits in Deleuzes Postskriptum über die Kontrollgesellschaften erscheint im Zuge der Mechanismen der Kontrolle, Zirkulation und der Stoffe auch das biotechnologische Pharmakon auf der Bildfläche der neuen Regierungsformen. Mit dem Konzept der Kontrollgesellschaften entwickelt Deleuze die These, dass sich eine tiefgreifende Veränderung der Machttechnik ankündigt, in der, wie Gehring bezüglich der gegenwärtigen Entwicklungen analysiert, die Biologie und Fortpflanzungsmedizin zu einem umfassenden Feld der Politik und der Regierung geworden sind. Körperstoffe werden somit Gegenstände der politischen Ökonomie. Die damit entstandenen Mechanismen der Kontrolle sind im Vergleich mit der Disziplinarmacht zu einer permanenten Modulation fähig. Sie können ihre Macht unentwegt verändern, verflüssigen und wieder verhärten. Die unterworfenen und ausgenutzten Körper Foucaults und die damit verbundenen somatischen Habitualisierungen werden nach Deleuze von einer fluiden und gasförmigen Seele abgelöst.26 An die Stelle einer durch fortgesetzte Prüfung, zellulare Segmentierung und Verteilung der Kräfte erzeugte Individualität, deren Norm mit den Erfordernissen der arbeitsteiligen Produktion korrespondiert, treten nun wesentlich flexiblere Mechanismen. Deleuze spricht von dem Subjekt bzw. von der Masse als einer »sich selbst verformenden Gussform«,27 die unaufhörlich die einzelnen, aber auch die kollektiven Körper entsprechend ihren gesellschaftlichen Funktionen modelliert. Während die Institutionen der Disziplin die Schule, die Kaserne oder das Gefängnis waren, steht in der Kontrollgesellschaft eine feste Institution selbst auf dem Spiel. Anstatt des panoptischen Gefängnisses nennt Deleuze das moderne Unternehmen als einen paradigmatischen

24 25 26 27

Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 21-24. Vgl. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 256. Ebd.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

Kulminationspunkt der neuen Machtformen, dessen Hauptinstrument der sozialen Kontrolle das Marketing ist.28 Insbesondere die kapitalisierten und verwertbaren Körperstoffe wie Blut, Organe, Sperma usw. werfen dabei das Licht auf das Pharmaunternehmen und das Pharmamarketing. Wie Deleuze zwar nicht explizit auf die Pharmaindustrie feststellt, ist die Operationsweise des Marketings durch Kurzfristigkeit und die Orientierung an schnellen Umsätzen gekennzeichnet, die in der Pharmaindustrie dadurch erreicht werden, dass sie die Vermarktung von Präparaten an PR-Firmen auslagern, die durch gezielte Strategien das Produkt bzw. das Präparat modifizieren. Das kann z.B. bedeuten, dass die Darreichungsform modifiziert wird: Die unangenehm zu schluckende und zu große Tablette wird durch ein weiches und besser schmeckendes Gel ersetzt. Oder analog dazu kann auch das Anwendungsspektrum erweitert werden. Schmerzmittel sollen dann nicht nur die Kopfschmerzen lindern und die Grippesymptome abschwächen, sondern auch das Wohlbefinden steigern. Das humanistisch-geschlossene Subjekt weicht nach Deleuze einem wesentlich kybernetisch-offeneren und vor allem postfordistischen und mikropolitisch durchdrungenen Subjekt der Gegenwart, das sich der Funktion einer globalen Modulation aussetzt. Mit Modulation meint Deleuze wesentlich eine Praxis der Manipulation und Gestaltung von Relationen, Dingen, Objekten oder Subjekten. Diese ist so angelegt, dass die Parameter der Veränderung selbst veränderlich werden. Wie Yuk Hui daran anknüpfend betont, besteht die Modulation nicht darin, der Materie eine Form zu geben. Das Modulierende und das Modulierte stehen in einem reziproken und sich gegenseitig hervorbringenden Verhältnis zueinander.29

28 29

Vgl. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 260. Vgl. Yuk Hui: Modulation after Control, in: New Formations, 84/85, 2015, S. 74-91.

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3.3

Ökonomie, Drogen und Kontrolle in George Lucas THX 1138 I believe I can see the future ’Cause I repeat the same routine I think I used to have a purpose But then again, that might have been a dream Every day is exactly the same Every day is exactly the same There is no love here and there is no pain Every day is exactly the same Nine Inch Nails: Everyday is exactly the same

Obwohl Deleuze die SF hier aufgrund der Offensichtlichkeit der Transformation der Machtstrukturen für obsolet erklärt, ist es gerade die wissenschaftliche Fantastik der 1970er und 1980er Jahre, die die Modulationen der Kontrollgesellschaft vorbereitend skizziert und ästhetisch auf eine Kontrollform spekuliert, die sich von den Einschließungsmilieus der Disziplinargesellschaft abgrenzt. Das Erstlingswerk von George Lucas mit dem Titel THX 1138, das auf den gleichnamigen Roman von Ben Bova30 zurückgeht, imaginiert eine zukünftige unterirdische Gesellschaft, die einer kompletten kybernetischen Kontrolle in Verbindung mit Medikamenteneinfluss ausgesetzt ist. Kontrolliert durch einen gesichtslosen Polizeiapparat werden konforme und uniform gekleidete Menschen in aseptischen Räumen gehalten, die statt Namen Nummern tragen und von einem staatlichen Drogenprogramm anästhetisiert werden. Die in der unterirdischen ›Schale‹ lebenden Individuen sind, so ließe sich mit Deleuzes These der Kontrollgesellschaft sagen, zu Dividuen, zu Codes und Daten geworden, wodurch ihre subjektive Integrität auf Kosten einer kybernetisch kontrollierten Masse verlorengeht. 31 Die verschiedenen Psychopharmaka, die verabreicht werden, dienen vor allem zu einer Stabilisierung und Leistungssteigerung der Subjekte und dazu, starke Affekte wie Trauer, Wut oder Begehren sowie sexuelle Praktiken zu unterbinden.

30 31

Vgl. Ben Bova: THX 1138 – Das Drogenparadies, München 1979. Vgl. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 258

III. Biopolitik prekärer Stoffe

THX 1138 ist der Protagonist und einer von vielen in Weiß gekleideten, konform gehaltenen und entfremdeten Arbeiter*innen innerhalb der unterirdischen Gesellschaft, die nur als Mittel zum Zweck existieren. Dieser Zweck ist vor allem auf Produktionssteigerung ausgerichtet, ohne dass die Rezipientin erfährt, wofür die Produktion gut sein soll. So ist die ideologische Parole der unterirdischen Gesellschaft: »Let us be thankful we have an occupation to fill. Work hard. Increase production. Prevent accidents. And be happy.«32 Als die Mitbewohnerin LUH 3417 die Medikation von THX abzusetzen beginnt, entwickelt er Gefühle für sie. Die emotionale und sexuelle Beziehung der beiden bleibt durch die kontinuierliche Kontrolle der omnipräsenten Kameras von Control nicht unbemerkt. Beide werden vor Gericht gestellt und kommen wegen »drug evasion« und »sexual perversion« in ein Gefängnis. Mithilfe eines materialisierten Hologramms (SRT) kann THX aus dem Gefängnis letztlich entkommen und durch die Tunnel der Stadt zu einem Schacht fliehen, der ihn an die Erdoberfläche führt. Der Mithäftling SEN reist dagegen an den Rand der Stadt, wo er dann feststellen muss, dass er das System nicht verlassen kann. SRT verunglückt letztlich, während THX aus der Unterwelt an die Oberfläche fliehen kann. Der Film endet mit einer Allegorie auf Platons Höhlengleichnis: THX entkommt dem Simulacrum der Abbilder und der technologisch-entfremdeten Unterwelt und gelangt in die Freiheit. Für die Überlegungen dieser Arbeit sind das Machtdesign und die ökonomischen Überlegungen des Spielfilms von besonderem Interesse. Es handelt sich nämlich um eine ästhetische Spekulation auf eine Regierungsformation, die sich im Anschluss an die skizzierten Ausformungen der Macht bei Deleuze und Foucault als Kreuzung von neuzeitlichen, modernen und postmodernen Regimen lesen lässt. In den Begrifflichkeiten von Foucault und Deleuze gefasst, inszeniert Lucas experimentell eine Überlappung von vormodernen, disziplinarischen und kontrollgesellschaftlichen Mechanismen. Denn in THX 1138 laufen die Machtpraktiken der Neuzeit als auch die der Moderne zusammen und weisen zugleich über sich hinaus – auf die neuen kybernetischpharmakologischen Kontrollformen, wie sie Deleuze beschreibt. Für die Frage nach einer sich verschiebenden Machtsituation ist einerseits das Gefängnis relevant, das ein unendlicher weißer und aseptischer Raum ist, in dem es scheinbar weder einen Eingang noch einen Ausgang gibt, andererseits die omnipräsente Überwachungssituation, die den bzw. die Überwacher*innen unsichtbar werden lässt, die aus der Ferne zuschauen können, ohne selbst 32

George Lucas (Regie): THX 1138 [Director’s Cut], USA 1971, 0:11:44.

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gesehen zu werden. Gleich zu Beginn des Films wird die exzessive und grenzenlose Überwachung explizit gemacht anhand der Vielzahl der Bildschirme und der Situation, in der Arbeiter*innen innerhalb der Fabrik, die die verchromten Roboterpolizisten herstellen, auf Bildschirmen beobachtet werden, die wiederum von anderen Beobachter*innen beobachtet werden. Es ergibt sich ein Kreislauf aus Objektivierungsprozessen, die scheinbar kein Außen kennen. Insbesondere der Strichcode auf den Körpern der Arbeiter*innen verdeutlicht das Prinzip einer lückenlos transparenten Macht, die den Menschen zu einem Warenobjekt degradiert, der wiederum Waren produziert. Kontrolle und Normierung sind somit verschränkt mit ökonomischen Verfahren, gleichzeitig aber auch als eine historische Referenz auf die faschistische Praxis der Nummerntätowierung der Inhaftierten in den Konzentrationslagern, womit der Film einerseits Kritik am Totalitarismus und am faschistischen Regime übt und andererseits an einem amerikanischen Konsumkapitalismus. Die unterirdische Gesellschaft ist eindeutig an der lückenlosen Ökonomisierung der Menschen interessiert. Harte Arbeit, Erhöhung der Produktion sowie die Wartung und Überwachung eines reibungslosen Funktionierens der Maschinerie werden so im Kontext der Dystopie zu einem marxschen Kapitalalbtraum, da die Maschine selbst als ein gesichtsloses Konglomerat von für das menschliche Subjekt undurchsichtigen Prozessen zum Motor der Produktionsweise wird. Oder mit Marx ausgedrückt: zum »Mittel zur Produktion von Mehrwert«.33 Marx spricht auch vom Kapital als dem »sich selbst verwertenden Wert«34 – aus Geld wird Kapital, indem der ursprünglich investierte Wert einen Mehrwert erhält. Durch die Verlängerung des Arbeitstags und die Intensivierung der Arbeit gilt es demnach, nicht ein Äquivalent für den Wert der Arbeitskraft zu schaffen, sondern einen Überschuss zu produzieren, der wiederum zu einer Akkumulation des Kapitals führt.35 Die Maschine als Mittel dieser Produktionsweise ist folgernd nicht dazu vorgesehen, die Mühen

33 34 35

Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 23: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1962, S. 391. Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, S. 209. Vgl. Marx/Engels: Das Kapital, S. 329. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, in die konkreten Marktanalysen und in die Verwandlung von Geld in Kapital nach Marx und Engels einzusteigen. Es geht mir hier nur darum, kurz die Zirkulation des Kapitals zu skizzieren.

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der Arbeiter*innen zu erleichtern, sondern trägt dazu bei, vor dem Hintergrund der Verlängerung der Arbeit ihre Ausbeutung zu maximieren. THX 1138 inszeniert diese Arbeitsweise auf bedrückende Art und Weise und wird zu einem ambivalenten Verhandlungsraum von Arbeit und Maschine zwischen Fordismus und Postfordismus (vgl. Abb. 6)

Abb. 6: THX 1138 (1971), R: George Lucas, 0:04:22 min.

THX 1138 hypostasiert eindrücklich die marxsche Idee einer Perfektion und der Steigerung der Produktivkraft durch die Maschine, die nicht einfach nur Werkzeug in der Hand eines einzelnen Subjekts ist, sondern Werkzeug eines transsubjektiven und strukturell agierenden Mechanismus, der die humane Grenze überschreitet. Denn während der Begriff der Maschine in seinem alltäglichen Gebrauch auf ein technisches Objekt verweist und durch seine Determiniertheit, Zweckmäßigkeit und Abgeschlossenheit als künstlich hergestelltes Mittel zum Zweck begriffen werden kann,36 wird aufgrund des rasanten Entwicklungsprozesses der Naturwissenschaften und den damit entstehenden technischen Apparaten im 17. und 18. Jahrhundert die Maschine im 19. Jahrhundert zu einem ökonomischen Dispositiv. Der technische Apparat ist Marx zufolge nicht als Werkzeug des Menschen zu begreifen, sondern

36

Vgl. dazu Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1999, S. 542; aus dem Griechischen: μηχανή, mechané: ›Werkzeug, künstliche Vorrichtung, Mittel‹.

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als ein Mittel zur Erhöhung der Produktivität und zur damit einhergehenden Optimierung der Ausbeutung. Nach Marx verliert der Arbeitsprozess dabei die Kontrolle über die Produktion der Maschine. Die Arbeit wird zu einem Teil, einem Organ eines überwältigenden und souveränen mechanischen Organismus. Die Maschine bekommt einen lebendigen Körper, die die Arbeiter*innen in den Prozess der Maschinerie mit einspeist: Der Produktionsprozess hat aufgehört, Arbeitsprozess in dem Sinn zu sein, dass die Arbeit als die ihn beherrschende Einheit über ihn übergriffe. Sie erscheint vielmehr nur als bewusstes Organ, an vielen Punkten des mechanischen Systems in einzelnen lebendigen Arbeitern; zerstreut, subsumiert unter den Gesamtprozess der Maschinerie selbst, selbst nur ein Glied des Systems, dessen Einheit nicht in den lebendigen Arbeitern, sondern in der lebendigen (aktiven) Maschinerie existiert, die seinem einzelnen, unbedeutenden Tun gegenüber als gewaltiger Organismus ihm gegenüber erscheint.37 Nach Marx ist Abkopplung des handwerklichen Geschicks von der Arbeiterin oder dem Arbeiter ein Moment der Emanzipation der Maschine von der »organischen Schranke«38 der Physis des arbeitenden Subjekts. Mit dem so genannten Maschinenfragment39 nimmt Karl Marx Analysen von der Verwandlung des Arbeitsmittels als Werkzeug in technische Maschinen und die Maschinerie vor, die als ein ubiquitäres Prinzip begriffen wird und nicht nur reduziert auf das Technische und das Werkzeughafte der Maschine. Das sich im Werkzeug entfaltende Potential wird von dem Geschick der Arbeiter*innen nahezu ›befreit‹ und das Hindernis für die Akkumulation des Mehrwerts aufgehoben. Wie Michael Heinrichs einführend in Marx’ Politische Ökonomie schreibt, nennt man eine solche Maschinenproduktion auch Fabrik.40 THX 1138 zeichnet damit eine Welt, in der das Arbeitsmittel nicht die Verlängerung der Arbeiter*innen ist, sondern ein sich selbst antreibender Prozess hin

37 38 39

40

Marx/Engels: Das Kapital, S. 584ff. Ebd., S. 394. Das so genannte Maschinenfragment bezeichnet Teile von Heft VI und VII der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 42: Ökonomische Manuskripte 1857/1858, Berlin 1983, S. 19-875, hier 590-609 [Maschinenfragment]. Vgl. Michael Heinrichs: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 2005, S. 108.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

zu einem automatischen System der Maschinerie. So ist auch THX nur dafür da, um ein kleines Teilelement in die Maschine einzusetzen, und mehr nicht. Bei Fehlern und Unfällen werden Menschen wie Maschinenteile ausgetauscht, um die Effizienz der Produktion beizubehalten. Das Soziale des Arbeitsprozesses in Lucas’ Fiktion wird in der Arbeitsteilung so von dem Maschinensystem geschluckt. So etwas wie eine »organische Herkunft«41 der Arbeit z.B. in der Handwerkskunst ist innerhalb der dystopischen Stadt nicht vorhanden. Die zerstreuten und vereinzelten Arbeiter*innen sind, wie es im Maschinenfragment heißt, subsumiert unter den Gesamtprozess der Maschinerie selbst und werden somit selbst mechanische Zahnräder eines technokratischen Systems42 – nicht als Zweck, sondern als Mittel bzw. als ein organisches, lebendiges Interieur eines unüberschaubaren Leviathans. Einerseits spiegelt das den Fabrikkapitalismus des 19. Jahrhunderts, der seine Effizienz durch die Konzentration der Arbeitskräfte und durch Eigentum gewinnt, andererseits deutet sich bereits der »Kapitalismus der Überproduktion«43 an, von dem Deleuze in Abgrenzung zu Marx spricht.44

3.3.1

Pastoralmacht und Beichte

Die Maschine in THX 1138 ist damit nicht nur in der Fabrik lokalisiert und beutet und entfremdet die Subjekte auf eine rigorose und harte Art und Weise aus, sondern geht Verbindungen mit viel subtileren Machtpraktiken ein. Sie wird in Lucas’ Fiktion zu einem umfassenden Phänomen, das verschiedenste Beziehungen zu sozialen Komponenten unterhält, wovon das Technische nur eine Teilmenge bildet. Im Sinne von Deleuzes und Guattaris Maschinenkonzept kann sie überall Konnexionen herstellen und an allen Prozessen der Subjektivierung beteiligt sein. So bleibt es in THX 1138 nicht nur bei nur einer Subjektivierungsform durch die Fabrik, sondern unterschiedliche Machttechniken und Gesellschaftstypen verbinden sich. THX 1138 zeichnet eine Gesellschaft in der sich die foucaultschen Machttypen überlagern bzw. miteinander interferieren und zu einem Gefüge werden: 41 42 43 44

Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 594. Vgl. ebd. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 259. Es wird hier jedoch deutlich, dass mit dem Begriff des Organismus und dem Konzept der Maschinerie im Gegensatz zur Maschine bereits in Marx’ Denken ein Maschinenbegriff herumgeistert, der den kontrollgesellschaftlichen Mechanismen näher ist, als Deleuze es behauptet.

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Jeden Gesellschaftstyp kann man selbstverständlich mit einem Maschinentyp in Beziehung setzen: einfache oder dynamische Maschinen für Souveränitätsgesellschaften, energetische Maschinen für Disziplinargesellschaften, Kybernetik und Computer für die Kontrollgesellschaften. Aber die Maschinen erklären nichts, man muss die kollektiven Gefüge analysieren, von denen die Maschinen nur ein Teil sind.45 Die Kontrolle als Gefüge aus unterschiedlichen Machttechniken wird vor allem durch eine Beichtinstanz deutlich. Verfehlungen, Unsicherheiten und Unwohlsein werden einem virtuellen Beichtvater berichtet, der nur mittels einer Computerstimme mit den Beichtenden der Unterwelt kommuniziert, um sie dann mittels pharmakologischer Anpassung wieder zu korrigieren. Gehorsam als Grundlage der christlichen Ethik verbindet sich in THX 1138 mit Machtmechanismen einer kybernetischen Kontrolle. Soziale, moralische und religiöse Disziplinierung kulminieren im virtuellen Beichtstuhl ohne ein fleischliches Subjekt, das die Beichte abnimmt.

Abb. 7: THX 1138 (1971), R: George Lucas, 0:10:16 min.

Assoziationen mit Strafgefangenen wachrufend geht der kahlrasierte Protagonist in einen Beichtraum, der zunächst wie eine Telefonzelle aussieht, um Control seine Fehler bei der Arbeit zu gestehen. Auf der anderen Seite der Beichtkabine spricht die sanfte Computerstimme von Control zu ihm und auf der Oberfläche der Kabine erscheint das Porträt des Segnenden Jesus (1481), gemalt von Hans Memling, das der Stimme ein Bild verleiht. Abgebildet ist das Gesicht von Jesus, das nur teilweise sichtbar ist, ohne 45

Gilles Deleuze: Kontrolle und Werden, in: ders.: Unterhandlungen, S. 243-254. hier S. 251.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

den Segensgestus der Hand, der die Dreifaltigkeit symbolisiert. Das nur im Ausschnitt gezeigte Porträt Jesus’ ist starr nach vorne schauend und adressiert mit dem in sich ruhenden Blick den*die Rezipient*in des Films, während der Protagonist im Profil zu sehen ist und mit einem leeren Blick in den Raum hineinstarrt (vgl. Abb. 7). Die Unterhaltung zwischen Control und THX gibt Aufschluss über eine hybride Machtsituation: [THX:] Letzte Nacht habe ich etwas Pinoral gebraucht. Ich habe das Gefühl, dass etwas [Beichtvater:] »Ausgezeichnet!« [THX:] Seltsames mit mir passiert. Etwas das [Beichtvater:] »Ja!« [THX:] das ich nicht verstehen kann. [Beichtvater:] »Könntest du das näher erklären?« [THX:]Die Sedativa – ich nehme Ethrazin. Aber das ist anscheinend nicht stark genug. Ich kann mich nur schwer konzentrieren. [Beichtvater:] Du bist ein wahrhaft Gläubiger. Du hast den Segen des Staates. [THX:] »Bitte vergib mir« [Beichtvater:] Du hast den Segen der Massen. Von den Massen für die Massen. Lass uns dankbar sein, dass wir einen Beruf haben, der uns ausfüllt. Arbeite hart, erhöhe die Produktion. Verhüte Unfälle und sei glücklich.46 Pastorale Machttechniken verbinden sich hier mit kybernetisch-pharmakologischer Kontrolle, nicht als ein chronologisches Phasenmodell, das sich durch ein modales Nacheinander auszeichnet, sondern vielmehr als Simultanität ihre volle Wirkung erzielt. Christliche Beichtpraktik, eine psychoanalytische Sprechsituation und die Regulation durch Pharmaka verschmelzen zu einem Regierungsdispositiv. Auch in den öffentlichen Räumen hallt die machtvolle Adressierung immer wieder durch die Lautsprecher nach, die dazu auffordert, die Vergehen telefonisch zu melden und die Medikamente einzunehmen: »Wenn du das Gefühl hast, dass du nicht richtig sediert bist, dann ruf sofort die Nummer 348-844 an. Unterlassung kann zur Verfolgung wegen strafbarer Drogenumgehung führen.«47 Die souveräne Macht der Zerstörung 46 47

Lucas (Regie): THX 1138, 0:10:56. Ebd., 0:06:30.

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und die disziplinäre Macht der Hemmung werden auf diese Weise zu einer ›kommunikativen‹ und ›vermittelnden‹ Macht, die nicht das Schweigen produziert, sondern vielmehr sprechen lässt und nicht mit dem Tod droht.48 Diese Form der Macht ist effizienter und stabiler, da sie den äußeren Zwang mit einer Koinzidenz von Freiheit und Unterwerfung kaschiert. Man könnte hier auch von einer stillen Effizienz oder auch einer Semantik der Macht sprechen, die auf Vermittlung setzt und mit Vorstellungen und Ideen auf die Gesellschaft einwirkt, statt mit dem Schwert des Souveräns. Die Effekte der Macht in THX 1138 wirken, um es erneut mit Foucault auszudrücken, »in der ganzen Dicke und auf der ganzen Oberfläche des sozialen Feldes gemäß einem System von Relais, Konnexionen, Transmissionen, Distributionen etc.«49 In Wille zum Wissen heißt es auch, dass Macht als eine »Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen« auftritt, die »ein Gebiet bevölkern und organisieren«.50 Lucas’ Fiktion inszeniert eine Transformation der Macht, die sich nicht nur auf den Körper richtet, sondern auch auf den Geist. Die Macht, die den Geist als regulierbare Größe entdeckt, ist für Foucault wesentlich die Macht des Gesetzes, das als »Signifikantensystem«51 ausgestreut wird und durch »eine sichtbare, eine geschwätzige Strafe, die alles sagt, die erklärt, sich rechtfertigt, überzeugt«,52 immer wieder aktualisiert wird. Schrifttafeln, Plakate und Texte sind dabei die Medien der Macht, die diese in Umlauf bringen und durch die Gesellschaft kreisen lassen.53 Unter dem Deckmantel einer Vernunft des Gesetzes lässt es die Macht sinnvoll erscheinen und nicht mehr grausam wie die Macht der Souveränität. Anhand von THX 1138 und insbesondere der Beichtszene des Protagonisten wird deutlich, dass anstelle einer Errichtung von Blockaden die Macht in Lucas’ Fiktion ein intimes Beziehungssystem zu Control als ein Kommunikationsnetz eröffnet, das auf subtile Art und Weise mit Zeichen und Bedeutungen Befehle gibt. Emotionale Zustände wie Ängste und Wünsche der Arbeiter*innen der technokratischen Unterwelt 48

49 50 51 52 53

In Wahnsinn und Gesellschaft analysiert Foucault die Archäologien des Wahnsinns und der psychischen Devianzen und betont die repressive Form der Macht, die den Wahnsinn zum Schweigen bringt, ihn einschließend ausschließt. Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Michel Foucault: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 114. Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1977, S. 113. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 166. Ebd., S. 145. Vgl. ebd., S. 396.

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werden so nicht unterbunden, sondern zum Sprechen gebracht und bedeutend gemacht, um daraus eine kontrollierbare Größe zu machen, die mittels Psychopharmaka verstärkt bzw. aufrechterhalten wird. Einerseits werden Körper innerhalb der unterirdischen Stadt makroprothetisch überwacht und kontrolliert, andererseits aber auch mikrotechnologisch, telekommunikativ und pharmakologisch regiert. Macht wird so von außen zugefügt und durch Pharmazeutik verinnerlicht. Diese Subjektivierungsmaßnahmen konvergieren in der Beichte, die Foucault auch als Pastoralmacht bezeichnet. Pastoralmacht lässt sich minimaldefinitorisch als das sorgende Verhältnis von Hirte und Herde beschreiben, das sich sowohl um das Individuum als auch um das Kollektiv kümmert.54 Vor allem durch die Sanftheit der Stimme, die Wiederholungen und die kleinen Unterbrechungen (»Ja«, »Ausgezeichnet«), die Verständnis und Involviertheit suggerieren sollen, drückt sich die Sorge der Macht von Control aus. Mit Foucault ließe sich hier die Formulierung omnes et singulatum anbringen – übersetzt: »Ein wachsames Auge auf alles und auf jedes haben« –, die sowohl die Macht des Pastorats als auch die modernen Machttechniken der Bevölkerungsregulierung impliziert und zugleich auch das panoptische Blickregime der Disziplin aufruft. Die Pastoralmacht wird in THX 1138 zu einem Operator biopolitischer Kontrolle. Sie ist individuierend und massenkonstituierend zugleich. Bei Deleuze heißt es analog dazu: Die Disziplinargesellschaften haben zwei Pole: die Signatur, die das Individuum angibt, und die Zahl oder Registrierungsnummer, die seine Position in einer Masse angibt. Denn für die Disziplinierungen bestand nie eine Inkompatibilität zwischen beidem, die Macht ist gleichzeitig vermassend und individuierend, das heißt konstituiert die, über die sie ausgeübt wird, als Körper und modelt die Individualität jedes Glieds.55 THX 1138 exemplifiziert dieses Prinzip – es gibt in der unterirdischen Welt keinen Souverän, dem sich die Arbeiter*innen unterwerfen, sondern die Maxime der Produktionssteigerung und des Kapitals, die die Kräfte nicht hemmen, sondern anreizen. Die Abschöpfung und Ausbeutung der arbeitenden Körper innerhalb der unterirdischen ›Schale‹ ist nur ein Element unter den vielen Machtpraktiken, die vor allem an der Steigerung, Verstärkung und der effizienten Kanalisierung von Kräften interessiert sind. So besteht auch

54 55

Vgl. Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1, S. 23-36. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 258.

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das Ende des Arbeitstages von THX darin, die sexuelle Energie effizient abzuführen. Mithilfe eines pornografischen Hologramms und einer Maschine, die ihm die Selbstbefriedigung abnimmt. Die Maschinisierung der Sexualität und die Simulation von Sex dient schon fast anachronistisch als ein medizinisches Hilfsmittel, um eine ›abnorme‹ Sexualität und den nicht zu kontrollierenden Exzess durch Entspannung zu substituieren. Drogen dienen hier als Korrektiv für Begehren. Sex wird durch maschinenangeleitete Selbstbefriedigung ersetzt, die als Teil der Sedierungsmaßnahme das Subjekt beruhigen soll. In THX 1138 wird Sexualität in ein Nützlichkeitsprinzip implementiert, statt sie zu verurteilen und einfach nur zu unterdrücken. Bei Foucault heißt es, bezugnehmend auf den Übergang der Souveränitätsmacht zur Biomacht: »Der Sex, das ist nicht nur eine Sache der Verurteilung, das ist eine Sache der Verwaltung. Er ist Sache der öffentlichen Gewalt, er erfordert Verwaltungsprozeduren […]. Der Sex wird im 18. Jahrhundert zu einer Angelegenheit der ›Polizei‹.«56 Sex ist, wie es Foucault spezifisch dem 18. Jahrhundert zuschreibt, auch in THX 1138 nicht eine private, sondern eine Angelegenheit des Staates und der Bevölkerungskontrolle. Die Zukunft einer Gesellschaft hängt nach Foucault im 18. Jahrhundert nicht nur von der Familienorganisation, den Spielregeln der Heirat und der damit verbundenen Reproduktion ab, sondern auch vom Gebrauch des Sexes. Sex wurde so mit gesellschaftlichen Institutionen verbunden und zu einem zu bewirtschaftenden Feld zwischen Individuum und Staat.57 So findet Reproduktion an diesem dystopischen Ort auch nur unter biotechnologisch-kontrollierten Bedingungen statt. Die inquisitorische Praxis der Buße verbindet sich in THX 1138 mit Elementen der Biomacht und der Korrektur und Besserung. Control operiert auf diese Weise sowohl mit Souveränitätspraktiken als auch mit modernen Praktiken der Strafe und der Disziplinierung. THX ist folglich sowohl der vormoderne Sünder als auch der klinisch-kranke Delinquent, der gesetzeswidrig gehandelt hat und nun aus dem Nützlichkeitskalkül herausfällt.

3.3.2

Das Andere des Panoptikums

Der gesichtslosen Macht in THX 1138 und der totalitären und zugleich nicht hierarchischen Form des Systems entspricht auch ein Raumsetting, das an Foucaults Panoptikum erinnert, sich jedoch teilweise davon unterscheidet. 56 57

Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1, S. 36. Vgl. ebd., S. 38.

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Nur um es kurz in Erinnerung zu rufen, das Panoptikum zeichnet sich durch eine konzentrische und polygonale Struktur aus: In der Mitte des Gefängnisses befindet sich ein Aufseherturm, der abgedunkelt ist, und um den Turm sind in einem Kreis einzelne Häftlingszellen angeordnet, die für die Aufseher*innen maximale Sichtbarkeit ermöglichen. Die Inhaftierten sehen jedoch weder die Mitinhaftierten noch die Aufseher*innen. Es gibt in dieser Architektur einen zentralen Punkt – das Auge der Macht –, von dem aus ein Blick alle Vorgänge in dieser Disziplinierungsmaschinerie erfassen kann und wodurch die Delinquent*innen absoluter Beobachtbarkeit unterworfen sind. Die Delinquent*innen werden demnach nicht einfach weggesperrt, sondern gerät vielmehr zunehmend ins Licht der Kontrolle. Der machtpraktische Clou besteht also darin, dass die Inhaftierten, die Arbeiter*innen, die Patient*innen, die Schüler*innen mit einer beständigen Aufmerksamkeit durch Sichtkontakt rechnen müssen, auch ohne eine tatsächliche Anwesenheit der Beobachter*innen. Die permanente Sichtbarkeit auf der Seite der Überwachungsinstanz erzeugt eine Vielheit, während die Delinquenten parzelliert und vereinzelt werden.58 Der Panoptismus operiert somit in Abgrenzung zur souveränen Gewalt mit einer intimen Macht, die in die Körper eindringt, sie gelehrig macht und sie produziert, statt sie einfach zu zerstören.59 Joseph Vogl spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Gesellschaft der Platzanweisung bzw. der Platzzuweisung, in der jedes Individuum möglichst effizient ›gebessert‹ wird. Durch die architektonische Anordnung dieses Gefängnismodells wird nach Foucault ein Agens der Macht überflüssig bzw. verschwindet. Die Delinquent*innen stützen den Machtmechanismus, da die Überwacher*innen unsichtbar bleiben und dadurch austauschbar, jedoch omnipräsent sind. Foucaults Beobachtung der Machtverschiebung in Richtung des Kleinen und

58 59

Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 253. Vgl. dazu ebd. Die Feudalmacht glänzt dagegen nicht durch Abwesenheit, sondern durch die maximale Sichtbarkeit des Souveräns, der sich als Agens der Macht an der absoluten Spitze der Hierarchie befindet. Jedes verübte Verbrechen richtet sich demnach gegen den Souverän selbst, dessen absolute Macht dadurch in Zweifel gezogen wird. Während die Disziplinarmacht durch ein Verbrechen keine Wiederherstellung des Machtvakuums braucht, weil sie automatisiert und ohne Subjekt funktioniert, muss der Souverän seine Macht durch ein Gewalt- und Grausamkeitsspektakel in der Öffentlichkeit re-installieren: Die Körper der Gemarterten werden in aller Öffentlichkeit geöffnet, gebrochen, verbrannt und verstümmelt (vgl. ebd., S. 44). Foucault lokalisiert diese klassische Körperstrafe im Ancien Régime, das sich durch die Demonstration der absoluten Verfügungsgewalt des Souveräns definiert.

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Flüchtigen weist darauf hin, dass der französische Philosoph mehr als nur sensibilisiert für die flüssigen und molekularen Regierungstechniken war. Foucault beschreibt mit dem Panoptischen einen Mechanismus der Macht, der nicht ausschließlich von außen auf die Subjekte einwirkt, denn die milde Form der Strafe soll dauerhaft von den Delinquent*innen inkorporiert werden – sie operiert eben nicht mit roher Gewalt, die den Körper zerstört, sondern implementiert eine Instanz des Gewissens, die automatisch und ohne unmittelbare Intervention von außen wirkt. Das Bewusstsein über eine mögliche Beobachtung ist für Foucault und Bentham die notwendige Grundlage für eine Besserung, die sich in der Seele der Delinquent*innen vollziehen soll. Macht manifestiert sich somatisch und im Bewusstsein der Subjekte und aus der externen und orthopädisch-operierenden Kontrolle der Körper wird Selbstkontrolle. In THX 1138 findet sich dieses Prinzip in invertierter Form wieder. Nachdem THX und seine Zimmergenossin gegen das Sexverbot verstoßen sowie ihre Drogenration abgesetzt haben, wird THX verurteilt und muss in eine Gefängnisanlage, die ohne Mauern auskommt und dennoch einschließt.

Abb. 8: THX 1138 (1971), R: George Lucas, 0:43:15 min.

Es handelt sich um einen weißen, geradezu klinisch reinen und aseptischen Raum, der in jede Richtung offen zu sein scheint und damit räumliche Unendlichkeit vermittelt (vgl. Abb. 8). Gerade diese Unform des Raums und dessen Nichtexistenz eines Außen erzeugt absolute Hoffnungslosigkeit, wodurch sich effizienter regieren lässt. Das Panoptikum, so wie es Foucault beschreibt, erzeugt durch die Parzellierung und durch die Mauern, obwohl es ein einschließender Ausschluss ist, immer noch ein Außen des Gefängnis-

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ses, während der grenzenlose Raum über seine radikale Immanenz und hoffnungslose Unendlichkeit wirkt. Das weiße Gefängnis ist geradezu eine AntiArchitektur im Vergleich zum klar definierten und rigiden Raum des Panoptikums. Obwohl Lucas im Anschluss an Bovas Roman das Aufkommen vielfältiger Transformationen der Produktionstechnologien und die damit sich verändernden Subjektivierungsregime ahnt, ist seine Fiktion dennoch technophob und subjektzentriert. Sie beschwört letztlich eine humanistische Nostalgie eines sich aus den Fängen der Technokratie und der Maschine befreienden Subjekts, das an die Oberfläche gelangt, die als kitschiges Naturbild repräsentiert ist. Mit dem Ende des Spielfilms führt Lucas somit doch eine Dichotomie zwischen Individualität und Masse, Technik und Natur sowie Subjekt und Objekt ein. Wie aus Platons Höhle der Irrtümer und Simulacra gelangt der Mensch an die Oberfläche der Wahrheit. Lucas zeichnet ein klassisches Ideal des Menschen, der mittels Verstand und Willenskraft seine Sklaverei überwindet. Wie Luce Irigaray aufgezeigt hat, ist das Abstraktum des Humanen darüber hinaus vor allem ein Männliches: Denn das Subjekt der menschlichen Gattung ist, wie es auch THX 1138 inszeniert, ein ›aufgeklärter‹ Er, der mittels Willenskraft und Vernunft aus seiner Unmündigkeit emporsteigt.60 Lucas’ Fiktion stellt auf zweierlei Weise eine Schwelle dar: als eine noch nicht definierte Zukunftsspekulation zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft, die letztlich doch in ein sicheres Terrain des humanistischen Weltbildes kippt, und als ein Übergang von der klassischen SF zum Cyberpunk – der sich nicht durch die Binarität von Mensch und Technik sowie eigen und fremd definiert, sondern durch eine Implosion des Dichotomen und durch ein immunologisches Verhältnis, das das Licht auf das Pharmakon zurückwirft.

3.4

Immunologik der Macht: körpereigene und körperfremde Stoffe

Immunologie als ein disziplinübergreifendes Gefüge aus Pharmakologie, Biochemie und Genetik ist die Lehre von biochemischen Grundlagen der körperlichen Aufnahme und Abwehr von Krankheitserregern und anderen Stoffen, die in den Organismus eindringen. Wie bereits mit den Ausführungen Petra Gehrings angedeutet, trat mit der Entdeckung des Immunsystems ein Konzept hervor, dass körpereigene Widerstände gegen fremdartige Stoffe und 60

Vgl. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1973.

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Organe, die z.B. transfusioniert oder auch transplantiert werden, reguliert und pharmakologisch beeinflusst werden können, um eine Abstoßung des fremden Stoffes zu verhindern. Dadurch wird der Körper nicht als eine überzeitlich konstante Substanz gedacht, dessen absolute Grenze die Haut ist, sondern als eine offene und auch historisch geformte Entität, die permanenten Veränderungen und Entdeckungen ausgesetzt ist.61 Wie Petra Gehring treffend analysiert, wird durch das Immunschema des Körpers die Substanzgrenze durch eine Funktionsgrenze abgelöst: Damit der Stoff von Individuum zu Individuum übertragen werden kann, führt die Medizin ein ganz bestimmtes Körperschema ein: das der zwar vorhandenen, aber unterdrückbaren Grenze. Nicht mehr die stofflich-sinnfällige, sondern die Immungrenze definiert, was zu welchem Körper gehört. Und im Kontinuum der Körperstoffe lässt sich die Immungrenze – im Prinzip jedenfalls – willkürlich ziehen. Die Idee der Regulation lässt die Substanzgrenze in den Hintergrund treten, um sie durch eine Funktionsgrenze zu ersetzen.62 Abseits der Dimension eines medizinisch korrigierbaren Einzelorganismus gelangt die Immunologie auch in politische Gefüge oder Strukturen der Unternehmen oder des Managements. Postfordistische Organisationen scheinen die alten hierarchischen und starren Organisationsmuster durch flexible Netzwerke und strategische, kurzfristige und partikulare Allianzen zu ersetzen. Haraway unterscheidet in ihrem Cyborgmanifest die materiellen und ideologischen Dichotomien im Übergang von den »bequemen, alten, hierarchischen Formen der Unterdrückung zu den unheimlichen, neuen Netzwerken«, die sie auch als »Informatik der Herrschaft« bezeichnet.63 So sind das Immunsystem und die Immunologik nach Haraway »Ikone[n] symbolischer und materieller Differenz«64 des 20. Jahrhunderts, die sich nicht nur in Biotechnologie und Politik, sondern auch in der Literatur und im Film auf gleiche Weise äußern. Gleich zu Beginn ihres Manifests steht die Unterscheidung zwischen Repräsentation und Simulation, die nach Haraway eine literarische Entsprechung hat: auf der einen Seite der bürgerliche Roman des Realismus,

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Zu der Historizität des Körpers vgl. Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte der Körpers 1765-1914, Frankfurt a.M. 2001. Gehring: Was ist Biomacht?, S. 21. (Herv. i. O.) Haraway: Die Neuerfindung der Natur, S. 48. Ebd., S. 162.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

der noch der Moderne anhängt, und auf der anderen Seite die SF, welche die postmoderne Simulation und somit auch eine polymorphe, computerbasierte Informationsgesellschaft ankündigt: Repräsentation                                                          Simulation Bürgerlicher Roman                                 Science Fiction Realismus und Moderne                          Postmoderne Reproduktion                                                  Replikation Mikrobiologie, Tuberkulose                   Immunologie, AIDS Weißes kapitalistisches Patriarchat         Informatik der Herrschaft65 Die Tabelle, die neben diesen sechs Gegenüberstellungen neunundzwanzig weitere aufweist, ist nicht der Versuch, Evidenz herzustellen, sondern hebt Tendenzen epistemologischer, ontologischer, kultureller und politischer Aspekte hervor, die eine Grenzsituation zwischen Moderne und Postmoderne problematisieren sollen. Mit dem Immunologischen ruft Haraway damit die Frage nach einem Organismus auf, der als eine reizbare, offene und sensible Entität auf körperfremde und eindringende Substanzen reagieren muss. Neben den Stoffkreisläufen, Wirkstoffen und Zirkulationen kommt also eine weitere Dimension prekärer Stofflichkeit hinzu, nämlich die der Gabe und des Austauschverhältnisses mit dem sensiblen und reizbaren Organismus, der nicht nur im Diskurs der Medizin und der Biologie verortet ist, sondern als eine wirkmächtige Metapher fungiert, die auf soziale Systeme übertragbar wird.66 Die Metapher der Immunologie macht politische Konflikte, Dissense und Widersprüche sowie das dynamische und relationale Verhältnis von eigen und fremd sichtbar. Gleichzeitig wird daran erkennbar, dass anhand der Struktur des Immunologischen ein essentialistisches oder gar ontologisch stabiles Körpermodell verabschiedet wird. Der Körper, den George Lucas in seiner dystopischen Fiktion zeichnet, nämlich letztlich als eine passive Einschreibefläche für die von außen kommenden Regulationsmechanismen, die als anthropologische Konstante auf sie aufgetragen wird, weicht einem durchlässigen Körperset, das sensibel ist für die Einschreibungen der Umwelt

65 66

Ebd., S. 48f. Auf diese Übertragung verweist insbesondere Daniel Loick, vgl. Daniel Loick: Immunität und Ansteckung. Roberto Espositos Kritik des Sicherheitsdenkens, in: Rüdiger Voigt (Hg.): Sicherheit versus Freiheit. Verteidigung der staatlichen Ordnung um jeden Preis?, Wiesbaden 2012, S. 25-35.

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und ihrer Materien oder auch im Sinne der Kybernetik ein sich selbst regulierendes System darstellt, das sich zugleich niemals als eines, das mit sich selbst identisch ist, definieren ließe. Das Immunsystem ermöglicht es, insofern einen neuen Blick auf das Verhältnis von Selbst und Anderen zu werfen, als die harte Grenze zwischen Selbst und Anderen durchlässig und flexibel wird und zugleich auch gesichert werden muss. Wie der Sozialwissenschaftler Thomas Lemke betont, wird die Dringlichkeit immunologischer Fragestellungen in Zeiten der Öffnung nationalstaatlicher, ethnischer und geschlechtlicher Grenzen, immer größer. Insbesondere die Frage nach Terrorismus als dem Phänomen einer nicht klar abgrenzenden Gefahr und als ›Fremdkörper‹, der den Gesellschaftskörper bedroht und damit die Frage nach dem FreundFeind-Verhältnis in seiner Immunologik aufwirft. Dieser Frage geht Jacques Derrida in seiner Schrift Schurken nach, indem er die staatlichen Souveränitätsentscheidungen als autoimmun zu greifen versucht. So wie eine Autoimmunerkrankung darin besteht, dass das Immunsystem körpereigene Stoffe als Fremdkörper erkennt und sich so selbst attackiert, so bestehen souveräne Entscheidungen Derrida zufolge immer – oder fast immer – darin, »sich zu schaden oder sich zu ruinieren, die eigenen Schutzmechanismen zu zerstören und es vor allem selbst zu tun, sich selbst zu töten oder wenigstens damit zu drohen.«67 Die Immunologik der Macht sowie die Verkomplizierung von Eigen- und Fremd-Verhältnissen ist paradigmatisch für das Genre des SF-Cyberpunk. Diese gilt es im Folgenden zu untersuchen, um abgrenzend von Lucas’ Fiktion, die letztlich im Anthropozentrismus mündet, eine SF-Spekulation zu erkunden, die mittels der immunologischen Verkomplizierung erstens einen Posthumanismus zu entwerfen versucht und zweitens dabei vor allem Drogen und andere seltsame Stoffe ins Zentrum der Narrative stellt.

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Derrida: Schurken, S. 70. Zu einem allgemeinen Immunologiediskurs in der politischen Theorie vgl. auch Thomas Lemke: Immunologik. Beitrag zu einer Kritik der politischen Anatomie, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 42, 2000, S. 399-411; Emily Martin: Flexible Bodies. Tracking Immunity in American Culture. From the Days of Polio to the Age of Aids, Boston 1994.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

3.5

Drogen, Simulakra, Codes: Cyberpunk als Pharmakofiction

Obwohl Avital Ronell sich in ihren Untersuchungen hauptsächlich in der Literatur der bürgerlichen Moderne bewegt, gibt es eine überraschende Textstelle in ihrer Theorie-Fiktion, die in die postmoderne bzw. gegenwärtige Situation hineinragt und nach dem Verhältnis von Drogen, SF und Politik fragt: Wenn man die Literatur der elektronischen Kultur in den Werken von Philip K. Dick oder William Gibson, in den Vorstellungen einer Cyberpunk Projektion oder in einem Reservat virtueller Realität verortet, dann ist es wahrscheinlich, dass elektronische Kultur ein entscheidendes Projekt mit der Drogenkultur teilt. Dieses Projekt sollte in Jean-Luc Nancys und Blanchots Sinn als désœvrement verstanden werden – als Projekt ohne Ende oder Programm, ein Rückgängigmachen und Nicht-Funktionieren, das nichtsdestoweniger geschieht, und mit der Lektüre dessen Konturen wir beginnen können.68 Mit dem Begriff des désœvrement, den wir hier nicht en détail weiterverfolgen können, ist nach Nancy und Blanchot ein Gemeinschaftskörper gemeint, der jedoch nicht als eine positive und klar geränderte Entität bestimmbar ist. Nancy versteht diesen Begriff als ein Entwerken, als eine dezentrierte Gemeinschaft, die nicht teleologischen Gesetzmäßigkeiten von Ursprung und Ziel unterliegt. Das Gemeinsame der Gemeinschaft ist nach Nancy immer schon zerteilt, geteilt oder auch verteilt. Es ist dem mit sich selbst identischen und präsentischen Werk gegenläufig – als etwas, das niemals bewerkstelligt wird: »Die Gemeinschaft ist weder ein herzustellendes Werk noch eine verlorene Kommunion, sondern der Raum selbst, das Eröffnen eines Raums der Erfahrung des Draussen, des Ausser-Sich-Seins.«69 Die Fährte, die Ronell mit dem Verweis auf den Cyberpunk und das désœvrement legt, jedoch nicht weiterverfolgt, gilt es hier also aufzunehmen. Denn vor allem mit William Gibson als einem*r der zentralen Autor*innen dieser doch sehr kurzlebigen literarischen Strömung der 1980er und 1990er Jahre, öffnet sich ein neues Vergiftungs- und

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Ronell: Drogenkriege, S. 92. Eine umfassendere Auseinandersetzung mit Philip K. Dicks Motiv der Droge als einem biopolitischen Dispostiv nimmt Chris Rudge vor, vgl. Chris Rudge: The Shock of Dysrecognition. Biopolitical Subjects and Drugs in Philip K. Dick’s Science Fiction, in: Alexander Dunst (Hg.): The World According to Philip K. Dick, Basingstoke 2015, S. 30-47. Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Berlin 1988, S. 45.

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Suchtszenario, das die künstliche, virtuelle und trans- und posthumane Dimension des désœvrement entdeckt. Denn in den negativen Utopien der Cyberpunknarrationen wird die implodierte Gesellschaft durch das System regiert. Die Regierung des Systems kann in unterschiedlichen Facetten ausfallen: als ein hartes diktatorisches Regime, eine existentielle Bedrohung durch Maschinen, eine verschwörerische Sekte oder auch als eine Herrschaft von gigantischen und multinationalen Konzernen, die sowohl marginalisierte Schichten als auch die Natur ausbeuten, was in den meisten Narrationen zu einer ökologischen Katastrophe führt, wenn sie sich nicht bereits ereignet hat. Der globale Schrecken wird nicht wie bei George Orwell durch die Dreiteilung der Weltmächte in Euroasien, Ostasien und Ozeanien organisiert, sondern durch die Omnipräsenz postindustrieller Konzerne, die technologische Körpererweiterungen verkaufen und damit die Schere zwischen den marginalisierten und den privilegierten Schichten immer größer werden lassen. Die gesellschaftliche Struktur unterliegt so einer stark dichotomen Struktur: Es stehen sich Hightech-Verlierer und Hightech-Gewinner gegenüber.70 Die handelnden Subjekte der Cyberpunknarrative sind auf der einen Seite Hacker*innen, Sexarbeiter*innen, Hehler*innen, Leibwächter*innen, Drogensüchtige und auf der postbiologischen bzw. post- bzw. transhumanen Ebene künstliche Intelligenzen und künstliche Menschen. Die zwischenmenschliche Ebene ist gekennzeichnet durch eine gegenseitige Instrumentalisierung, Abhängigkeit und Kurzfristigkeit, die letztlich in Isolation mündet. Der Cyberpunk ist zumeist eine soziale Dystopie und eine nahe Zukunftsfiktion, die sich in einem modalen Zeitschema des Vorher-Jetzt-Nachher nicht einordnen lässt. Die meisten Erzählungen spielen vielmehr in einer plausiblen und realistischen Zukunft, in der die Technologie das Subjekt eines am Abgrund stehenden Fortschritts und der Evolution geworden ist. Der Cyberpunk fragt demnach nicht danach, wann etwas ausgehend von einem Jetzt später geschehen könnte, sondern operiert vielmehr mit synchronen und implodierten Zeiten und Räumen, die koexistent sind. Dieses Untergenre der Fantastik und der SF ist dementsprechend auch eine Gegenerzählung zum Fortschrittsoptimismus und der Aufklärung der Moderne sowie zu einem klassischen Humanismus. In diesem Sinne ist Mary Shelleys Frankenstein oder der moderne Prometheus (1818) als eine paradigmatische Erzählung des Humanismus zu verstehen, die uns stets in ihrem Narrativ an die moralischen Glaubenssätze 70

Vgl. dazu Achim Bühl: Die virtuelle Gesellschaft. Ökonomie, Politik und Kultur im Zeichen des Cyberspace, Opladen 1997, S. 141.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

und an das humanistische Denksystem erinnert. Die menschliche Hybris, die das Diktum des Humanen überwinden will, wird durch die Geburt des Monströsen bestraft. Obwohl Frankenstein geradezu einen Rausch der Technik und des Fortschritts der Aufklärung repräsentiert, liegt darin eine latente Technikfeindlichkeit.71 Als Ebenbild Gottes ist der Mensch auch in Shelleys Narrativ die unangefochtene Spitze der Gattung, die nicht verändert, durchkreuzt oder modifiziert werden darf. Dies gilt auch als Frankenstein Barrier,72 von der aus sich die Cyberpunkbewegung abzusetzen versucht. Shelleys Roman entsteht in einer Zeit des Mobilitätsrausches. Technologien wie die Dampflokomotive oder das Gaslicht transformierten die Erfahrungswelt der westlichen Gesellschaften, woraus sich eine fortschrittsbejahende Euphorie entwickelte, die durch die aufkommende Wissenschaft und Technik den Menschen als Schöpfer*innen ins Zentrum rückt, der das Unmögliche möglich machen soll: So vieles also schon errungen worden, […] ich aber will noch mehr, weit mehr erreichen: Voranschreitend auf dem schon vorgezeichneten Pfade will ich der Menschheit bislang unbekannte Wege erschließen, will auch noch unentdeckte Kräfte entdecken und der Welt das tiefste Geheimnis der Schöpfung offenbaren.73 Dieses Vorhaben rächt sich bekanntermaßen mit der Geburt eines halb lebendigen, halb toten Wesens bestehend aus Leichenteilen anderer, das die entfesselte Vernunft des Menschen, nämlich sich selbst als Gott zu begreifen, wieder unterbindet und das zerstörte Gleichgewicht durch die Vernichtung des prometheischen Geistes wiederherstellt. Genau wie Viktor Frankensteins Überheblichkeit wieder durch die monströse Kreatur eingeebnet wird, werden auch postmoderne und gegenwärtige SFs wie Mars Attacks oder Independence Day, die das Szenario von Aliens durchspielen, die den Planeten erobern wollen, durch die »›höhere Moral‹ [der] moralische[n] Natur des Menschen besiegt.«74 Die Cyberpunkbewegung bricht einerseits entscheidend mit diesem Wertesystem, andererseits will sie mittels dieses Bruches eine Erneuerung der SF erzeugen, die sich kritisch und zugleich affirmativ zu der Tradition verhält. So geht es dem heterogenen Genre des Cyberpunk darum, auf der

71 72 73 74

Vgl. Gözen : Cyberpunk Science Fiction, S. 114. George Slusser: The Frankenstein Barrier, in: ders./Tom Shippey (Hg.): Fiction 2000: Cyberpunk and the Future of Narrative, Athens 1992, S. 46-71, hier S. 48. Mary Shelley: Frankenstein, oder der neue Prometheus, München 2008, S. 58. Gözen : Cyberpunk Science Fiction, S. 115.

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Pharmakofictions

Höhe der gegenwärtigen technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen zu agieren – mit diesen Entwicklungen spielerisch umzugehen, darin zu navigieren, anstatt sie moralisch einzuzäunen. Wie Bruce Sterling, einer der zentralen Autoren und Gründer der Movement Gruppe, betont, gibt es kein Monster, dass es abzuwehren gilt, weil wir bereits selbst dieses entgrenzte und mit der Technologie verschränkte Monster sind: »The Monsters of cyberpunk never vanish so conveniently. They are already loose on the streets. They are next to us. Quite likely we are them.«75 Technologie ist demnach nicht das Außen des Humanen, das den Menschen entfremdet und das es zu bezwingen und zu kontrollieren gilt, sondern Technologie ist etwas, das die Einzelund Kollektivkörper schon immer durchflutet und besetzt. Sie wird zu einem konstitutiven und nahezu selbstverständlichen Teil des Alltaglebens. So spiegelt sich die Implosion des Sozialen des Cyberpunk mit der Implosion von Technologie und Mensch, die durch die Ablehnung der Trennungen zwischen Subjekt und Objekt, Maschine und Mensch sowie Technologie und Natur auf die Abwesenheit einer metaphysischen Natur des Menschen verweist. Die nahen Zukünfte des Cyberpunk sind entsprechend besetzt von Biotechnologien, Prothesen, künstlichen Organen, Genmanipulation und virtueller Realität, innerhalb denen sich ein dezentriertes, minutiös kontrolliertes oder biotechnologisch aufgerüstetes Subjekt befindet. Der Cyberpunk pflegt jedoch nicht nur den Umgang mit Biotechnologien, sondern auch, und das ist von der Forschung bisher unterbelichtet, mit Pharmatechnologien und weist ein gigantisches Reservoir an Drogen, seltsamen Stoffen und prekären Substanzen auf, die innerhalb der düsteren Fiktionen als prothetische Schaltstellen, als Übergänge zwischen Wirklichkeit und Virtualität, zwischen Be- und Entschleunigung und Ästhetik und Anästhesie fungieren.

3.6

Das Cyberspace als kollektive Halluzination

Diese Zusammenhänge werden vor allem durch William Gibsons Roman Neuromancer (1984) definiert und konturiert. Neuromancer, aber auch die davor erschienenen Erzählungen wie Burning Chrome (1988) bereiteten bereits das vor,

75

Bruce Sterling: Cyberpunk in the Nineties, in: Interzone, 48 (Juni), 1991, S. 39ff.; online unter http://www1.lib.ru/STERLINGB/interzone.txt_with-big-pictures.html, aufgerufen am 01.06.2022 (Herv. i.O.).

III. Biopolitik prekärer Stoffe

was Gibson als Cyberspace bezeichnet hatte, wodurch das erste Mal innerhalb der SF und in dieser Dringlichkeit die Frage nach dem Simulacrum als einer konkreten virtuellen Welt aufkommt. Der Begriff Cyberspace, der heute seltsam und anachronistisch anklingt, ist Gibsons Metapher für eine sich rasant ändernde Medienrealität der 1980er Jahre, in die Gibson hinein- und an der er aber auch wesentlich mitschreibt. Das erste Mal erscheint der Begriff Cyberspace in Gibsons Erzählung Burning Chrome. Er beschreibt die mittels Computern erzeugte Kommunikations- und Erlebnisumgebung auch als eine konsensuelle Halluzination eines virtuell erzeugten grafischen Raums. Dieses in Burning Chrome angedeutete Konzept wird in dem dreiteiligen Roman Neuromancer ausgefeilt und als Matrix bezeichnet, mit der sich Menschen über neuronale Schnittstellen verbinden können. Der Begriff der Immersion, der in den letzten Jahren eine enorme Konjunktur erfahren hat, wird innerhalb Gibsons Erzählungen in den 1980er Jahren vorformuliert. Das Eintauchen in eine virtuelle Welt findet sich jedoch auch bereits 1964 in Stanislaw Lems Summa technologiae, was Lem auch als »periphere Phantomatik«76 beschreibt. Auch in Oswald Wieners Roman Die Verbesserung von Mitteleuropa (1969) finden sich Elemente der virtuellen Immersion, worin anhand seiner Ausführungen zum bioadapter sich auch bereits eine frühe Vorstufe dessen vorfinden lässt, was Haraway später auch als die Cyborg bezeichnet hat.77 Die Verbindung zu einer simulierten Welt, die chemisch hergestellt wird, wurde auf prominente Weise von Stanislaw Lem in seinem Roman Der Futurologische Kongress ausformuliert. Der sich in einer gewalttätigen Kryptochemokratie78 wiederfindende Protagonist der Geschichte stürzt mittels Psychopharmaka von einer Realitätsebene zur nächsten. Mittels »glaubentreibender und gnadenspendender Präparate«79 wird eine in der nahen Zukunft angesiedelte Gesellschaft unter Kontrolle gehalten, die an Huxleys Schöne neue Welt und die Droge Soma erinnert, aber auch an gegenwärtige Adaptionen wie Christopher Nolans Inception (2010) oder die jüngst von Netflix ausgestrahlte Miniserie Maniac (2018), in

76 77

78 79

Vgl. Stanislaw Lem: Summa technologiae, Frankfurt a.M. 1981, S. 331. Vgl. dazu Oswlad Wiener: Zur Verbesserung von Mitteleuropa, Salzburg 2013; vgl. auch Neal Stevenson: Snow Crash, New York 1992. Stevenson bezeichnet den Cyberspace auch als Metaversum. Vgl. Stanislaw Lem: Der futurologische Kongress. Aus Ijon Tichys Erinnerungen, Frankfurt a.M. 2016, S. 30. (Herv. i. O.) Ebd., S. 114.

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denen die drogeninduzierte Realität ebenfalls wie bei Lem einem Matrjoschkaprinzip (Traum im Traum im Traum) unterworfen ist. Auch in diesen aktuellen Fiktionen wird der Zugang zu anderen Realitäten mittels chemischer Mittel erreicht. Ich kann an dieser Stelle nur die Tendenzen und die symptomatischen Fiktionen skizzieren, jedoch nicht die gesamte Fülle der Beziehung zwischen pharmakologischer Kontrolle, Technologie und Simulation darstellen. Insbesondere das Verhältnis von Droge, Traum und SF wäre ein Forschungszusammenhang, den es zu erarbeiten gälte. Gibsons wegweisender Roman, der für weitere und enorme Veröffentlichungsmengen im Bereich des Cyberpunk und auch darüber hinaus gesorgt hat, schließt daran an und porträtiert eine toxische und ökologisch auf der Kippe stehende Welt, die zu einem monströsen Marktplatz für Technologie geworden ist, auf dem sich konkurrierende Konzerne gegenseitig bekriegen. In den überbevölkerten und neonleuchtenden Megastädten tummeln sich Abtrünnige und Verfemte, die mit menschlichen Erinnerungen als Software dealen. Der drogensüchtige und vom Cyberspace abhängige Protagonist Case reist in die Stadt Chiba (Japan), um sich sein zerstörtes Nervensystem reparieren zu lassen, das ihm von seinem ehemaligen Auftraggeber durch das Nervengift Mykotoxin so beschädigt wurde, dass er sich nicht mehr in den Cyberspace einloggen kann. Sich wiederum mit diversen pharmakologischen Substanzen über Wasser haltend bekommt er letztlich einen ominösen Auftrag, der ihm nach seiner Ausführung und durch eine Operation den Zugang zur virtuellen Welt wiederermöglichen soll. Bei der Operation wird seine Bauchspeicheldrüse so manipuliert, dass sie Amphetamine oder Kokain unmittelbar, bevor sie also ihre Wirkung entfalten können, wieder herausspült, um die Kontrolle zu übernehmen und ihn mittels Stimulanzien arbeitsfähig zu halten. Gleichzeitig sollen Giftkapseln, die sich langsam in seinem Blutkreislauf zersetzen, sein Nervensystem wiederherstellen. Der drogeninduzierte Körper des Protagonisten spiegelt sich geradezu innerhalb seiner sich zersetzenden und toxisch-holografisch leuchtenden Umwelt unter einem »giftigen Silberhimmel.«80 Dieser toxische Horizont zwischen Sucht und dem Virtuellen wird gleich zu Beginn und mit dem ersten Satz des Romans aufgespannt: »Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war. ›Ich bin ja kein User‹, hörte Case jemanden sagen, als er sich durch die Menge an der Tür des Chat drängte. ›Mein Körper

80

William Gibson: Die Neuromancer-Trilogie, München 2014, S. 15.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

leidet neuerdings einfach unter Drogenmangel […]‹«.81 Natur ist nicht das Außen des Humanen bzw. das passive Objekt des handelnden Subjekts, sondern ist ununterscheidbar geworden und verschmolzen. Der erste Satz von Neuromancer ist programmatisch für die literarischen Spekulationen über das Denaturalisieren und die Implosion von Natur und Technologie – vor allem aber speziell der Unterhaltungstechnologie. Der Himmel ist ein Fernseher, auf dem nichts sichtbar ist. Natürliche Phänomene können nicht getrennt von technologischen erfahren werden. Case ist entsprechend abhängig; abhängig von technologischen Erweiterungen, Prothesen und vor allem abhängig von der Matrix, dem virtuellen Raum, der semantisch mit Metaphern der Sucht und Droge parallelisiert wird. Die Engführung von Virtualität und Rauscherfahrung bzw. dem »Drogenmangel« als Rauschentzug ist zentral für Gibson, aber auch für unzählige andere Fiktionen. Drogen fungieren hier als ein Scharnier zwischen zwei ontologisch unvereinbaren Welten. Sie sind ein Bildspender für die Koexistenz zwischen verschiedenen Sphären, wie z.B. der realen und der simulierten Welt, die durch die Droge als Kontinuum denkbar werden. Wie Peter Deutschmann anhand von Brian McHales Definition eines postmodernen Erzählens herausarbeitet, sei die Droge als Transportmittel ein Signum des postmodernen Erzählens. Anhand der Droge könne bestimmt werden, welcher Epoche sie zuzurechnen ist.82 Für McHale ist das Charakteristikum eines Übergangs von Moderne zu Postmoderne das Interesse an Epistemologie oder Ontologie. Während sich in der Moderne hauptsächlich mit Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeiten von Wissen beschäftigt wurde, womit die Epoche der Erkenntnisfähigkeit des Subjekts zuzurechnen ist, das nach Wahrheit strebt, und deren symptomatische Erzählform die Detektivgeschichte ist, interessiere sich die postmoderne Erzählung nicht für die Wahrheit, sondern für ontologische Fragen. Das gilt insofern, als sie von einer Gleichzeitigkeit und Pluralität von verschiedenen Welten ausgeht, innerhalb derer das wahrnehmende Subjekt nur ein Teil eines Gefüges ist, das die großen Trennungen von Subjekt-Objekt, Natur-Kultur, Mensch-Technik implodieren lässt. So ist für McHale die SF und/oder das Genre Fantasy paradigmatisch für ontologische Fragen.83 Im Hinblick auf die Droge kann gelten,

81 82 83

Vgl. ebd., S. 9. Vgl. Peter Deutschmann: Der Text als Droge. Glosse zu einem metaliterarischen Vergleich, in: Plurale. Heft 8: Betäubung, 2010, S. 145-174, hier S. 149. Vgl. McHale: Postmodernist Fiction.

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so stellt Deutschmann heraus, dass die Moderne mit dem Motiv der Droge zumeist im Sinn einer Erkenntniserweiterung operiert, während innerhalb der postmodernen Erzählung die Droge »zeichenhaft«84 geworden ist und damit als metafiktionale oder semantische Konjunktion zwischen den Welten fungiert.85 Wie wir anhand der Untersuchung zu Avital Ronells Tropium und Flauberts Madame Bovary gesehen haben, stimmt die Einschätzung Deutschmanns nur zum Teil, da die »zeichenhafte« Droge bei Bovary nicht im Bereich der Semiotik verbleibt. Sie fließt in alle Richtungen hinaus und hat vielmehr, im Sinne Haraways, einen materiell-semiotischen Charakter, der sich weder in Richtung der Zeichenhaftigkeit noch in Richtung des Materiellen reduzieren lässt. Auffällig bei Deutschmanns Argumentation ist, dass er sich ausschließlich auf gegenwärtige Autoren*innen und nicht auf die Postmoderne bezieht. Er unterschlägt dabei ganz besonders die Fiktionen des Cyberpunk, innerhalb derer Drogen oder andere pharmakologische Stoffe erstens ausgehend von McHales These zwischen Erkenntniswerkzeug für eine transzendente Wissensebene und einer immanenten Implosion von Subjekt, Wissen und Objekt hin und her changieren. Und zweitens werden innerhalb des Cyberpunk die Droge, die Halluzination oder Formen der Sucht mit Technologie, Simulationen und virtueller Realität verschränkt, wodurch der Computer und der virtuelle Raum wie und vor allem als eine Droge eingenommen werden können. Die metafiktionale Verbindung zwischen Drogen und dem Virtuellen wird besonders prägnant in Gibsons Kurzgeschichte Johnny Mnemonic (1981) verdeutlicht. Im Jahr 2021 sind Informationen eine begehrte Handelsware. Die postnukleare Welt ist dominiert von den Kämpfen zwischen Hightech-Megakonzernen und Hackern, die sich gegenseitig gewaltsam wertvolle Daten stehlen. Zentral sind dabei Kuriere, die einen Teil ihres Gehirns zu einem Datenspeicher umfunktionieren lassen, um Daten zu speichern und zu übermitteln. Johnny ist ein solcher mnemonischer Kurier. Bei einem Auftrag überlädt er seinen Speicher, so dass eine Überlastung seines Gehirns droht. Um das zu vermeiden, muss er die Ware innerhalb von 24 Stunden an sein Ziel bringen. Es stellt sich heraus, dass eine Untergrundbewegung ihn engagiert hat und eine Firma namens Pharmacom ihn wegen dieser Informationen von Yakuza töten lassen will, weil er das Gegenmittel für NAS hat, eine Krankheit, die durch die übermäßige Nutzung elektronischer Apparate verursacht wird, an der ein Großteil der Bevölkerung erkrankt 84 85

Deutschmann: Der Text als Droge, S. 150. Vgl. ebd.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

ist. Pharmacom ist jedoch nicht gewillt, Heilmittel bereitzustellen, weil es das Ende ihrer Profite bedeuten würde, die sie durch Behandlungen dieser Krankheit verdienen. Der metaphorische Zusammenschluss von Kommunikationsmedium und der Droge als Pharmakon verkörpert durch den Megakonzern Pharmacom wirkt wie ein intertextueller Verweis auf Platons Schriftkritik, jedoch transportiert in eine postmoderne mediale Wirklichkeit. Die Abhängigkeit von Medien und dem virtuellen Raum wird letztlich in einem Sturz der Megakonzerne und der Befreiung der Gesellschaft aufgehoben. Im Sinne des Höhlengleichnisses von Platon und auch im Sinne der Dystopie THX 1138 von George Lucas befreit sich der Mensch aus den pharmakomedialen Fängen der Konzerne und somit auch aus dem falschen Simulacrum. Das deckt sich auch mit der soziokulturellen Realität in den USA. Denn in den 1980er Jahren kommt die Hippiebewegung sowie der New Wave, der sich, wenn man die Situation aus der Perspektive der Drogenkultur betrachtet, hauptsächlich um Halluzinogene drehte, scheinbar zum Erliegen. Selbst der US-amerikanische Psychologe und ›Guru‹ der Hippiebewegung, der in den 1960er Jahren den freien Zugang zu psychedelischen Drogen propagierte, findet in der Zeit nach dem Umbruch in den USA eine neue Droge: Timothy Leary erklärt den Computer zum LSD der 1980er Jahre: Computers are the most subversive thing I’ve ever done […] Computers are more addictive than heroin … People need some way to activate, boot up, and change disks in their minds. In the 60s we needed LSD to expand reality and examine our stereotypes. With computers as our mirrors, might not be as necessary now.86 Rudy Rucker, Mathematiker, Programmierer und Cyberpunkautor, bestätigt Learys Aussage und parallelisiert die Droge mit der aufkommenden Computertechnologie: »Computers are to the eighties what LSD was to the sixties.«87 Norman Spinrad, Mitbegründer der New Wave der SF hat diese paradigmatische Übergangsschwelle auch als den Konflikt zwischen der Figur des*r Hacker*in und der des Hippies bezeichnet. Ende der achtziger Jahre führte Timothy Leary ein Gespräch mit Gibson für das Kultmagazin Mondo 2000, das bis Mitte der neunziger Jahre recht verbreitet war (es kombinierte Werte der amerikanischen Gegenkultur wie Bewusstseinserweiterung und 86 87

Timothy Leary, zit.n.: Scott Bukatman: Terminal Identity. The Virtual Subject in Postmodern Science Fiction, Durham/London 1993, S. 139. Ebd.

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Gesellschaftskritik mit den neuen Technologien und brachte Artikel zu Cyberpunk, Gehirnimplantaten oder smart drugs). Für dieses Magazin interviewt zu werden, beweist den Popularitätsgrad, den Gibson in der Kultur des digitalen Undergrounds hatte. In diesem Interview beschreibt Gibson den Cyberspace als eine kollektive Halluzination, die in einem fiktiven Raum stattfindet: »Cyberspace is a consensual hallucination […]. It’s like, with this equipment, you can agree to share the same hallucinations. In effect, they’re creating a world. It’s not really a place, it’s not a real space. It’s notional space.«88

3.7

The Matrix als Drogenfilm und als Stoffgeschichte

Der ›Cyberspace‹ als eine gemeinschaftlich geteilte Halluzination sowie als ein Nichtraum, der eng an die Semantiken der Droge, der Intoxikation und der Gift-Gegengift-Semantik gekoppelt ist, wird vor allem in Lilly und Lana Wachowskis The Matrix (1999) lesbar. The Matrix, so könnte man hier behaupten, greift viele Elemente des Cyberpunknarrativs auf und versiegelt kurz vor der Jahrtausendwende dieses nur kurzlebige Genre, das jedoch bis in die Gegenwart Fäden zieht und gerade heute mit einer Vielzahl an NetflixProduktionen und Hollywoodspielfilmen Elemente, Motive und Themen des Cyberpunk aufgreift. Warum sich aber dennoch The Matrix zuwenden? Obwohl der Spielfilm bereits oftmals aus sozialphilosophischen, erkenntnistheoretischen und theologischen Perspektiven untersucht worden ist, ist in diesem Kontext sein pharmako-fiktionales Potential bisher unterbeleuchtet geblieben.89 Insbesondere hat Leonhard Fuest darauf hingewiesen, dass The Matrix nicht als dystopische SF zu analysieren wäre, sondern vor allem als Drogenfilm.90 Fuest erwähnt ähnlich wie Ronell einige der prominenten Stellen aus der Gibson-Adaption, die einen größeren Gift-Gegengift-Diskurs aufspannen, der sich in dem Film von den Wachowski-Schwestern auffinden lässt: 88

89

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Vgl. William Gibson/Timothy Leary: High Tech, High Life: William Gibson & Timothy Leary in Conversation, in: mondo2000.com, https://www.mondo2000.com/2017/11/29 /high-tech-high-life-william-gibson-timothy-leary-conversation-1989/, aufgerufen am 01.06.2022. Vgl. dazu z.B. Oliver Jahraus: Die Matrix des Mediums Film. Philosophische und religiöse Aspekte des Fantastischen in The Matrix (1999), in: ders./Stefan Neuhaus (Hg.): Der fantastische Film. Geschichte und Funktion in der Mediengesellschaft, Würzburg 2005, S. 145-158. Vgl. Fuest: Poetopharmaka, S. 110.

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Dann verläuft die Filmhandlung über zentrale Stationen der chemischen wie digitalen Drogeneinnahme (die rote und blaue Pille am Eingang des Kaninchenbaus [als wahre Realität], die Plätzchen des Orakels und Morpheus’ Intoxikation) und endet in der Transformation des sterblichen Subjekts in einen unsterblichen Superhelden.91 Auch hier möchte ich der Fährte folgen und diese zentralen Stellen erstens nachvollziehen, zweitens erweitern bzw. meine Linse schärfer stellen, um einen genaueren Blick auf die Aktivität und Stofflichkeit der Pharmaka der Fiktion zu werfen, und drittens einen größeren Diskurszusammenhang herstellen, der vor allem über die vielen intertextuellen Bezüge aufgerufen wird. Insbesondere vor dem Hintergrund des Wirkstoffbegriffs und dem Eigensinn sowie der Agentialität von Stofflichkeit bietet der Film vitale Bezugspunkte zwischen der Materialität wirkender Artefakte, Körperlichkeit und den objektbzw. stofforientierten Philosophien. Gleich zu Beginn des Films wird Neo als ein dealender Hacker von Daten und Programmen vorgestellt, die wie ein Drogenaustausch inszeniert werden. Er zieht aus einem als Buch getarnten Kästchen auf dem Simulacra & Simulation steht, eine Diskette heraus, die er dann an einen, wie sich kurz darauf herausstellt, verheißungsvollen Kunden Troy verkauft, der sich wiederum mit den Worten: »Halleluja. Du bist mein Erlöser«, bedankt und den Horizont zwischen Drogen, virtueller Realität und vor allem der Religion aufspannt, was sich kongruent mit den sakralen Elementen des Films verhält (vgl. Abb. 9).

Abb. 9: The Matrix (1999), R: Lana Wachowski/Lilly Wachowski, 0:08:30 min.

91

Vgl. ebd.

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Neo fragt Troy, bevor er dem ›weißen Kaninchen‹ in den Bau folgt, ob er jemals das Gefühl hatte, nicht zu wissen, ob man träumt oder wach ist. Troy entgegnet, dass er dieses Gefühl ganz genau kenne. Seine Antwort auf Neos Frage ist: »Meskalin, das Ticket zum Abheben«,92 das auch zugleich den Zugang zur Matrix durch das Tattoo eines weißen Kaninchens auf dem Oberarm von Troys Freundin markiert. Erstens ist es ein indirekter Verweis auf Henri Michauxs meskalininduzierte Phantasmen, wo Worte, Räume und Bilder keinen Referenzpunkt mehr besitzen oder, wie Michaux sagen würde, in eine »Turbulenz im Unendlichen«93 geraten, zweitens auf Lewis Carrolls Alice im Wunderland und drittens auf die Simulationstheorie von Jean Baudrillard, die bei Matrix als eine Droge inszeniert wird. Die Simulation als die Verwischung des Unterschieds zwischen Realität und Illusion verbindet sich mit Semantiken von Gift und Gegengift. Man denke an die prominente rote und blaue Pille am Eingang zum Kaninchenbau, zwischen denen Neo sich entscheiden soll. Also entweder die pharmakologische Induktion einer düsteren und schmerzhaften Wahrheit oder die scheinheilige Illusion der Matrix. Wie Slavoj Žižek in einigen Interviews betont, ist diese Unterscheidung nicht eine Unterscheidung zwischen Illusion und Realität. Denn diese konstruierte Binarität entspricht seines Erachtens nicht einer Realität, die um einiges komplexer ist; eine Realität, die nicht jenseits, also auf einer transzendenten Ebene, sondern vielmehr diesseits der platonischen Idee und ihrer realen bzw. ›wirklichen‹ Entsprechung liegt. Žižek fordert somit eine dritte Pille, die es einem nicht erlaubt, die Realität hinter der Illusion zu erkennen, sondern die Realität innerhalb der Illusion.94 Auch vor dem Hintergrund der Digitalisierung, so das damit verbundene interessante Argument, gibt es für Žižek keinen Grund anzunehmen, dass es eine authentische Realität gibt, die anstrebenswert wäre, sondern dass die Befreiung aus der illusionären Matrix in eine weitere Matrix hineinführt, da es kein Außen gibt, was sich mit Žižeks Lesart in Anlehnung an Lacan als der große Andere95 bezeichnen ließe. Gemeint ist eine virtuelle symbolische Ordnung, das Netzwerk, das die Wirklichkeit für

92 93 94 95

Lana Wachowski/Lilly Wachowski (Regie): The Matrix, USA 1999, 0:09:06. Vgl. Michaux: Turbulenz im Unendlichen. Vgl. Slavoj Žižek: »I Want A Third Pill«, in: youtube.com, https://www.youtube.com/wa tch?v=pUyrgEtzbvM, aufgerufen am 30.09.2022. Zu Lacans Begriff des großen Anderen im Kontext seiner Theorie des Unbewussten vgl. Jacques Lacan: Schriften I, Olten 1973.

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uns strukturiert und sich dabei jedoch als unzugänglich erweist. Somit deutet das Virtuelle nicht auf eine Realität hin, sondern immer nur auf weitere Virtualitäten, die mit der Realität irreduzibel verschränkt sind. Ebenso sind die Verweise auf Lewis Carrolls Alice im Wunderland reichhaltig und meinen ebenfalls das Spiel zwischen Realität und Virtualität. Das weiße Kaninchen, das Neo vor dem Bildschirm erscheint und seine Neugier weckt, ist das gleiche, das für Alice wie ein Funke funktioniert, der sie dazu motiviert, nach Wunderland zu reisen. Obwohl es hinreichend Forschung zu den intertextuellen und erkenntnistheoretischen Bezügen zwischen den beiden Fiktionen gibt, bleiben die Gifte und Gegengifte sowie ihre Stofflichkeit und Wirkung chronisch unbeleuchtet. Wenn man von Giften, Stoffen und ihren Wirkungen im Kontext von Carolls Alice im Wunderland ausgeht, dann wird schnell klar, dass diese Fiktion geradezu erst durch essbare oder trinkbare Substanzen, die seltsame Wirkungen entfalten, belebt wird. Vor allem die türöffnenden Substanzen gleich zu Beginn der Fiktion sind entscheidend für das Sujet und den Verlauf der Erzählung. Wenn man an die magischen Stoffe Drink Me und die unterschiedlichen Eat-me-Plätzchen denkt, die Alice benötigt, um auf ihrer Reise ins Wunderland weiterzukommen, wird es evident (vgl. Abb. 10 u. Abb. 11). Alice begegnet einer sprechenden Flasche, die sie zum Trinken auffordert. Nach kurzem Zögern nimmt Alice die Stoffe letztlich ein.

Abb. 10: Alice in Wonderland (1951), R: Geronimi/Jackson/Luske, 00:08:22 min. Abb. 11: Alice in Wonderland (1951), R: Geronimi/Jackson/Luske, 00:09:30 min.

Die verführerischen Stoffe bei Carroll sind so etwas wie chemische Adapter bzw. Türöffner, die Alice dabei helfen sollen, sich an die andere Realität anzupassen. Zugleich ermöglichen sie ihr aber auch den Übergang von ihrem tristen und restriktiven viktorianischen Alltag in eine fantastische Welt, in der alles und nichts zugleich möglich zu sein scheint. Ontologisch diffe-

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rente Welten werden so durch die magischen Substanzen koexistent und das Betreten der anderen Welt oder auch das Navigieren dazwischen hängt vom richtigen Gebrauch und der richtigen Dosis des magischen Pharmakons ab. Der richtige Gebrauch ist in Carrolls Fiktion jedoch nicht voluntaristisch und als eine bewusste Entscheidung Alice‹ denkbar, sondern ist vielmehr ereignishaft: Ursache-Wirkungs-Prinzipien sind nicht einer modalen Ordnung eines Vorher-Jetzt-Nachher unterworfen, sondern verhalten sich dissonant zueinander oder werden unterbrochen. Bereits Alice‹ Sturz in den Kaninchenbau ist auch zugleich ein Flug nach oben, wie es in der Disney-Verfilmung durch den neben ihr schwebenden Spiegel verdeutlicht wird. Denn während Alice weiter in den Abgrund stürzt, zeigt der Spiegel einen Aufstieg. In Kritik und Klinik, einem Buch das unveröffentlichte Schriften von Gilles Deleuze versammelt, weist der französische Philosoph in einem kurzen Text mit dem Titel Lewis Carroll darauf hin, dass Alice im Wunderland eine Erzählung ist, in der sich Abgrund, Aufstieg und Oberfläche vermischen: Bei Lewis Carroll beginnt alles mit einem schrecklichen Kampf. Es ist ein Kampf mit den Tiefen: Dinge bersten oder machen uns bersten, Schachteln sind zu klein für ihren Inhalt, Speisen sind giftig oder verdorben, Gedärm dehnt sich, Ungeheuer schnappen nach uns. Ein kleiner Bruder bedient sich seines kleinen Bruders als Köder. Die Körper mischen sich, alles mischt sich in einer Art Kannibalismus, der Essen und Exkrement vereint. Selbst die Wörter werden gegessen. Dies ist das Gebiet von Aktion und Passion der Körper: Dinge und Wörter verstreuen sich in alle Richtungen oder verschmelzen umgekehrt zu unzerlegbaren Blöcken. Alles ist schrecklich in der Tiefe, alles ist Unsinn.96 Als ein radikaler Denker des Ereignisses und als ein spekulativer Kritiker der begrifflichen Repräsentation versucht Deleuze stattdessen Immanenzfelder und Begriffsassemblagen zu installieren. An Alice im Wunderland interessieren ihn vor allem die Oberflächenwirkungen, mit denen Deleuze eine Hermeneutik der Tiefe zu suspendieren versucht; also Tiefe im Sinne einer zu Grunde liegenden Wahrheit, die durch eine Hermeneutik zu erreichen wäre. Deleuze sucht nach einer anderen Tiefe: eine Tiefe, die sich als Falte oder Kerbe auf der Oberfläche befindet und damit Sinn und Unsinn amalgamiert. Das Ereignis nach Deleuze, als der Kurzschluss aus Sinn und Unsinn, ist das Unkörperliche an der Oberfläche der Körper. Es existiert nicht, sondern substituiert oder 96

Deleuze: Kritik und Klinik, S. 35.

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insistiert, ohne eine kausal rückführbare Ursache für ein anderes Ereignis zu sein. Ein Aspekt, der hier besonders relevant ist und von Deleuze betont wird, ist, dass bei Carroll Sprechen und Essen irreduzibel miteinander verschränkt sind. Sie werden entweder vertauscht oder verwechselt, oder fallen in eins. Während Sprechen nach Deleuze innerhalb der Sprache und innerhalb des Sprachsystems Sinn erzeugt, indem es auf sich selbst verweist, ist das Essen hingegen eine körperliche Erfahrung, die nur im Körper Sinn erzeugt. Das Kollidieren oder die Anschlüsse zwischen Essen und Sprechen erzeugen Nonsens. Darüber hinaus, so bemerkt Gilles Deleuze in Logik des Sinns weiter, ist alles essbar: »Alles ist Nahrung, Exkrement, Trugbild, inneres Partialobjekt, giftige Mischung. Alice selbst ist eines dieser Objekte, sobald sie klein ist; als große verschmilzt sie mit deren Behältnis.«97 Alice nimmt die Stoffe zwar willentlich ein, doch das Weiterkommen scheint nicht von ihr abzuhängen und auch nicht einfach kausal oder konsequent im Sinne von Ursache und Wirkung damit zusammenzuhängen. Denn um durch eine viel zu kleine Tür zu kommen, trinkt sie die Flüssigkeit Drink Me, nur um dann, nachdem sie kleiner geworden ist, von der sprechenden Tür darüber informiert zu werden, dass sie verschlossen ist und Alice einen Schlüssel benötigt, um sie öffnen zu können. Um wieder größer zu werden, nimmt sie daraufhin die Eatme-Kuchen ein. Das Resultat ist bekannt; sie wächst zu sehr und passt gerade noch so in den Raum, in dem sie sich befindet. Ihre Verzweiflung über diese unmögliche Situation bringt sie zum Weinen, wodurch letztlich ihre Tränen, die zu einem reißenden Fluss werden, sie aus dem Raum herausspülen. Ihr elastischer Körper ist demnach in völliger Dissonanz mit den Räumen und Dingen in dieser Welt und hindert sie gewissermaßen mehr zu wissen, da sich Sinn und Unsinn auf das Engste verschränken. Dennoch führen spontane Ereignisse, bei denen Gesetze der Natur wie z.B. die Schwerkraft keine Rolle spielen, dazu, dass sie ihre Reise fortsetzen kann. Die magischen Getränke und das Essen, das sie einnimmt, hat somit nicht die Bedeutung von Nahrung im Sinne von überlebenswichtigen Stoffen, die den Metabolismus am Laufen halten. So bedeutet entsprechend das Größer- und/oder KleinerWerden von Alice nicht, dass sie jünger oder älter wird, sondern es geht nur um eine Transformation bzw. Transition, die weder das eine noch das andere ist. Entsprechend schmeckt die Drink-me-Substanz nach einer Vielzahl von Nahrungsmitteln, deren eigentlich gegensätzliche Geschmäcker (salzig/süß) und vor allem gegensätzliche Aggregatzustände (fest/flüssig) alle gleichzeitig 97

Deleuze: Logik des Sinns, S. 289.

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zur Geltung kommen: »[I]t had in fact, a sort of mixed flavour of cherry tart, custard, pine-apple, toffee, roast turkey, hot buttered toast«.98 In diesem Sinne gibt es in Alice im Wunderland keine richtige Mahlzeit, sondern nur Teile, dissimilierte Krümel, kleine Bissen, seltsame Getränkeflaschen und Kekse, die sich akkumulieren, aber kein Ganzes ergeben. Nicht zuletzt korrespondiert die Zerstreuung und Zerbröselung der Speisen mit der Zerstreuung ihrer Identität.

3.7.1

Der klebrige Spiegel

Das lässt uns wieder zu Neos Fall durch den Kaninchenbau in die Matrix zurückkehren. Nachdem er die rote Pille einnimmt, um sich der ›Wahrheit‹ zu stellen, durchläuft er einen seltsamen Abkopplungsprozess, der ihn aus der Matrix in die reale Welt befördern soll. Man erinnere sich dabei auch an die Regenerationsszene nach dem Ausscheiden aus der Matrix, die wie eine Entgiftungsprozedur von der falschen Realität inszeniert wird. Neo wird bei seiner Abkopplung wie ein Fremdkörper und wie ein Gift aus dem System der Matrix ausgeschieden und als Heilung, Gegengift und Erlösung innerhalb der ›realen‹ Welt re-installiert. Jedoch ist die Szene vor dem Sturz in die Realität entscheidend. Neo wird in eine Apparatur eingespannt, die sein Signal in der Matrix abschalten soll. Er sitzt mit Anschlüssen vor einem Spiegel, der ein wesentlicher Teil der Abkopplung ist. Sehr typisch für eine Cyberpunkerzählung wählt sich der Operator der Gruppe anachronistisch mittels eines Drehscheibentelefons in das System, um Neos Signal in der Matrix zu finden und zu entkoppeln. Die Abkopplungssequenz beginnt damit, dass der Spiegel neben Neo seine passive Eigenschaft zu spiegeln abwirft und auf einmal lebendig wird (vgl. Abb. 12). Abb. 12: The Matrix (1999), R: Lana Wachowski/Lilly Wachowski, 0:31:36 min. Abb. 13: The Matrix (1999), R: Lana Wachowski/Lilly Wachowski, 0:32:13 min.

98

Lewis Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland, London 1866, S. 11.

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Der Spiegel als das kollektive Imaginäre für Reflexion, Repräsentation, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Narzissmus sowie für komplexe phänomenologische Subjekt-Objekt-Relationen erzeugt im Anschluss an die Stoffe aus Alice im Wunderland eine seltsame Ambiguität im Verhältnis von Tiefe und Oberfläche. Es offenbart sich in der Suggestion der Tiefe, die hinter dem Spiegel liegen soll, eine monströse Eigenschaft, die jedes Versprechen einer Tiefe negiert. Der Spiegel ist eine glatte und farblose Oberfläche, die den Blick in die Fläche hinein-, aber zugleich hinaus auf sich selbst wirft und sich dadurch der Frage nach etwas Dahinterliegendem entledigt. Nach Deleuze sind eben die Immanenz und die Materialität der Oberfläche der Abgrund, in den wir hineinschauen, und nicht das der dunklen Tiefe. Man wird auch laut Merleau-Ponty sogar blind dafür, was auf der Oberfläche passiert, wenn man den Versprechungen eines ›Wahrheitsspiegels‹ folgt.99 In Logik des Sinns spricht Deleuze deshalb auch von den Oberflächenwirkungen, die von der Fläche ausgehen und nicht von der Tiefe: »Und wenn es hinter dem Vorhang nichts zu sehen gibt, dann deshalb, weil das Sichtbare oder eher das ganze mögliche Wissen eben die Fläche des Vorhangs ist und es ausreicht, ihr weit genug und eng genug, oberflächlich genug zu folgen«.100 Diese Oberflächenwirkung finden wir mit dem klebrigen Spiegel vor, der sich Neos bemächtigt, Vgl. dazu Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist: Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 26. 100 Deleuze: Logik des Sinns, S. 25. Hier deutet sich das Verhältnis Deleuzes zu Platon an. Deleuzes Analyse des platonischen Verhältnisses zwischen Idee, Abbild und Trugbild wird als eine ›Umkehrung des Platonismus‹ verstanden. Die Umkehrung ist jedoch nicht eine bloße dialektische Drehung, sondern vielmehr eine Forderung nach einer neuen ›Geographie des Denkens‹, die sich auf der Oberfläche abspielt. Das Trugbild bekommt bei Deleuze dabei den Vorzug. Das Abbild definiert sich durch eine Ähnlichkeit zum Urbild, während das Trugbild für Deleuze sich dem verweigert. Platons Vorhaben ist es, säuberliche Zweiteilungen der Kategorien Bilder/Idole, Ebenbilder/ Ikonen, Trugbilder/Phantasmen vorzunehmen. Dadurch entsteht ein hierarchisches Gefüge – in dem nach Deleuze die Abbilder bei Platon an der Spitze der dichotomen Hierarchie triumphieren. Die platonische Ordnung der Repräsentation positioniert die Dinge danach, ob sie sich den Ideen öffnen oder sich von ihnen entfernen. Das Spiegelbild täuscht damit nicht nur einen Ähnlichkeitseffekt vor, sondern erzeugt diesen künstlich. Deleuze weist dem Trugbild als eine degradierte Form oder als Mangel des Abbildes eine neue Dimension zu. Das Trugbild als positive Macht und als das ausgeschlossene Dritte weist über die Ordnung der Repräsentation hinaus, obwohl es dieser selbst angehört. Das Trugbild verneint sowohl das Original als auch das Abbild, da sich beide in der Struktur der Ähnlichkeit bewegen. Deleuze zentriert das marginalisierte Trugbild als eine Entität, die auf Unähnlichkeit basiert. Damit wird deutlich, dass die

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indem er aus dem Rahmen hinausgeht und in seinen Körper eingreift. Neo berührt den Spiegel und dieser bleibt an ihm haften. Die chromartige und silbrige Oberfläche des Spiegels verliert damit die ihm eigentlich zugewiesene Eigenschaft der Reflexion und wird zu einer eigenständigen Materie, die nicht Vermittlerin oder die Scharnierstelle zwischen den Realitäten ist, sondern zu einer, wie es Jane Bennett beschreibt: vibrant matter. Der starre Spiegel verwandelt sich in dieser Szene zu einer plastischen Materie, die sich nicht durch Stabilität und Unveränderbarkeit auszeichnet, sondern sich dynamisch und zugleich viskos verhält. Es ist also, worauf bereits Morton hingewiesen hat, nicht die Realität, die sich aufzulösen beginnt, sondern das Subjekt, das von der Realität penetriert wird.101 Mit Timothy Mortons Definition könnte man auch bei dem Spiegel von einem klebrigen Hyperobjekt sprechen, das sich nicht abschütteln lässt. Die Trennung von Spiegelung und dem, was gespiegelt wird, kann im Falle des klebrigen Spiegels in The Matrix nicht aufrechterhalten werden. Das Bild des Subjekts im Objekt wird nicht auf Distanz gehalten, sondern verbindet sich irreduzibel mit ihm und erzeugt eine seltsame Nähe zum Objekt. Vor dem Hintergrund der Hyperobjekte ist für Morton die Subjekt-Objekt-Distanz nur ein ideologisches Konstrukt, das dafür da ist, den Menschen vor der Nähe der Objekte und der Realität zu schützen.102 Er verwendet für die Anschauung einen Slogan, der fast auf jedem Fahrzeug in den USA am Spiegel zu finden ist: »Objects in mirror are closer than they appear.« Dieser Slogan realisiert sich in The Matrix auf sehr plastische Art und Weise.103 Der Spiegel selbst wird zu einer eigenständigen und handlungsmächtigen Substanz, die sich nicht reflexiv auf Distanz halten lässt, sondern durch die Zähflüssigkeit und Klebrigkeit haften bleibt.104 Mit Mark Fisher könnte man hier argumentieren, dass es sich eben nicht um ein unheimliches Objekt handelt, sondern vielmehr um einen seltsamen Stoff. Denn der Reiz des Seltsamen sei nicht vom Genuss an der Furcht motiviert, so Fisher, sondern vielmehr von der Faszination für das Außen, also für dasjenige, das jenseits der menschlichen Erfahrung und Erkenntnis liegt.105 Das Unheimliche als ein Begriff der freudschen Psychoanalyse habe den Drang

101 102 103 104 105

Umkehr des Platonismus nicht nur eine philosophiegeschichtliche Korrektur ist, sondern ein Angriff auf die gesamte Logik der Repräsentation. Vgl. Morton: Zero Landscapes, S. 83f. Vgl. Morton: Hyperobjects, S. 27. Vgl. Morton: Zero Landscapes, S. 83. Vgl. ebd. Vgl. Mark Fisher: Das Seltsame und das Gespenstische, Berlin 2017, S. 8.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

dazu, das Außen immer durch die Lücken und Sackgassen des Inneren abzuwickeln, während das Seltsame es uns erlaubt, das Innere durch die Perspektive des Außen zu sehen.106 Der gallertartige Spiegel ist der Farbe aus dem All Lovecrafts verblüffend ähnlich, da dieses beunruhigende Außen, das kein Korrelat subjektiver Erfahrung ist, sich dennoch gewaltsam in die SubjektObjekt-Relation einmischt. Die Spiegelszene inszeniert damit nicht nur die Auflösung des Subjekts, sondern vor allem das Insistieren der Materialität auf ihre Agentialität und Stofflichkeit. Der gallertartige Spiegel ist auf diese Weise eben nicht, wie es in den gängigen konstruktivistisch-motivierten Besprechungen betont wird, die Projektionsfläche des subjektiven Bewusstseins, das die Realität konstruiert, sondern die eigenständige Vitalität der Materialität, die auf das Subjekt einwirkt und mit ihm eine Assemblage bildet. Die seltsame Stofflichkeit des Spiegels ist damit keine passive Substanz, die unabhängig von subjektiven Wahrnehmungsprozessen existiert und darauf wartet, aktiviert zu werden, sondern ist vielmehr an dem Erkenntnisprozess beteiligt, den Neo durchläuft. Interessant ist, dass sich diese Materie bzw. Materialisierung des Körpers bemächtigt bzw. von Neo ähnlich wie in Alice im Wunderland oral eingenommen, ›gegessen‹ werden muss, um Transformationen auszulösen (Abb. 13). Die Erfahrung und Transgression von Realität wird so zu einer Einverleibung, zu einer materiellen Aneignung. Das heißt, obwohl Neo als der ›Auserwählte‹, als eben dieser posthumane Jesus außerhalb der Matrix, als der Erlöser und Befreier gehandelt wird, bringt er nicht einfach göttliche Eigenschaften von sich aus mit, sondern es bedarf Übungen und Stärkungen durch die Einnahme diverser Stoffe, um das zu werden, was er ist. Sein posthumaner Körper wird also nicht einfach vorausgesetzt und als stabile Entität inszeniert, sondern wird durch die Fiktion hindurch an zentralen Schaltstellen des Sujets als ein essender Körper: als ein Körper der Ingestion gezeigt, der sich im Akt der Aufnahme von Stoffen transformiert. Der essende Körper von Neo wird so zu einem transformativen Körper – zu einer, wie es Noëlle Châtelet beschreibt, »machine bouche«,107 welche die Grenzen zwischen der eingenommenen Substanz und dem einnehmenden Körper hinfällig werden lässt.

106 Vgl. ebd., S. 10. 107 Noëlle Châtelet: Le corps à corps culinaire, Paris 1977, S. 34.; vgl. zur transformativen Dimension von Essen auch Rick Dolphijn: Foodscapes. Towards a Deleuzian Ethics of Consumption, Delft 2004.

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3.7.2

Bedeutungswirkungen: die Kekse des Orakels und die Sorge um Sich

Im weiteren Verlauf des Films ist die Szene, in der Neo beim Orakel seine Prophezeiung erhält, ebenfalls an Stoffe geknüpft, die er einnimmt, um sich zu verändern. Das Orakel wird hier jedoch nicht als das geheimnisvolle Wesen oder die mystische Stätte der Antike inszeniert, sondern in den Bereich des Profanen herabgestuft. Sie wird als eine sympathische, rauchende und plätzchenbackende Hausfrau inszeniert, die nebenbei Zukunftsprognosen abgibt. Über ihrer Tür hängt der Spruch von Delphi »Erkenne dich selbst«. Erlösung kann also nur durch die Befreiung des eigenen Geistes und durch Selbsterkenntnis erreicht werden. Die Fragen, die in der Orakelszene kulminieren, werden in der Forschung vor allem im Zusammenhang mit erkenntnistheoretischen Phänomenen besprochen, die sich als zwei Fragen darstellen lassen. Erstens: Wer bin ich? Zweitens: Was kann ich erkennen? The Matrix ist ohne Zweifel in Bezug auf die Dramaturgie daran interessiert, mit einigen retardierenden Elementen einen Erkenntnisweg, der zur Wahrheit führt, nachzuzeichnen, der letztlich in der Befreiung des Selbst münden soll, ganz im Sinne von Platons Höhlengleichnis. Jedoch, wie ich zeigen möchte, ist Selbsterkenntnis auch hier an transformative Übungen geknüpft, die mit einem pharmakologischen enhancement des Körpers einhergehen. Vor allem die Kampfsportübungen und das Training im »Konstrukt« zu Beginn von Neos Abkopplung aus der Matrix weisen auf eine erkenntnistheoretische Verschiebung hin, die vor allem den transformierenden Körper im Fokus hat und nicht den erkennenden Geist. Entgegen der Macht der Matrix und der Unterdrückung der Menschen durch die Maschinen führt der Weg der Befreiung des Subjekts nicht über Selbsterkenntnis, sondern über das, was Foucault auch als Technologien bzw. Hermeneutik des Selbst bzw. als die Sorge um sich bezeichnet hat.108 Während Foucault, wie bereits im Kapitel zuvor skizziert, sich einer Macht zuwendet, die die Subjekte aussetzt, formt und zu Wahrheiten zwingt, ist sein Spätwerk von der Frage danach geleitet, wie das Subjekt sich selbst ins Verhältnis mit der Wahrheit setzt. Dabei ist die Arbeit an sich selbst und der Selbstbezug als ein widerständiges Gegenprinzip der Macht zu denken. Foucault kritisiert insbesondere in seiner späten Vorlesung Hermeneutik des Subjekts, dass der Spruch des delphischen Orakels »Erkenne dich selbst« 108 Michel Foucault : Hermeneutik des Subjekts, Vorlesung am Collège de France (1981/82), Frankfurt a.M. 2004.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

(gnothi seaton) in der Tradition der abendländischen Philosophie, aber insbesondere seit Descartes und Kant, als Selbsterkenntnis begriffen werde. Damit ziehe man eine Trennung zwischen dem Subjekt, wie es ist, und dem, wie es sein soll. Foucaults Auffassung nach ist der Spruch des Orakels jedoch nur im Kontext der Selbstsorge zu verstehen, als »Sorge um sich selbst« (epimeleia heautou).109 Das Subjekt könne sich demnach nur durch einen Selbstbezug, als »eine Lebenskunst, eine Existenztechnik«,110 selbst erkennen, die so etwas wie den blinden Fleck der Macht darstellt: Die techne tou biou füllt, glaube ich, in der klassischen griechischen Kultur jene Leerstelle aus, die weder der Staat noch das Gesetz, noch die Religion hinsichtlich der Lebensorganisation auszufüllen in der Lage sind. Für einen Griechen hatte sich die Freiheit des Menschen nicht sosehr und nicht allein in der Polis, auch nicht sosehr hinsichtlich Gesetz und Religion zu bestätigen, sondern in dieser techne (dieser Kunst, dieser auf das Selbst gerichteten Kunst), die man selbst in Anwendung brachte.111 Damit meint Foucault ein Set von Selbstpraktiken und vor allem Übungen, die nicht zu einer bewusstseinsmäßigen Erkenntnis führen sollen, sondern einer Erkenntnis durch die Transformation des Körpers. Dabei scheint der Titel der Vorlesungsreihe »Hermeneutik« des Subjekts falsch gewählt, da es Foucault nicht um eine exegetische Seinsmetaphysik im Sinne Heideggers geht, die die techne immer schon als Verstellung und Manipulation der Welt im pejorativen Sinne meint,112 sondern um eine immanente Selbstsubjektivierung,113 die zwar zielgerichtet ist, jedoch auch eine strategisch eingesetzte subversive Praxis, die sich nicht auf reine Teleologie reduzieren lässt. Bei der Praxis eines solchen Selbstbezugs spricht Foucault auch von »Athlet«, »Übung« oder auch »Asketik« und »Prüfung«.114 Dabei unterscheidet er zwischen Tatübungen und Gedankenübungen, die zur Transformation des Subjekts beitragen sollen. Die Selbstsubjektivierung ist somit kein Solipsismus und auch kein hegelsches Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes als eine reflexive und erkenntnisskeptische Praxis, die durch den Gegensatz und die Negation am Laufen

109 110 111 112 113 114

Ebd., S. 31. Ebd., S. 544. Ebd. (Herv. i. O.) Vgl. ebd., S. 592. Vgl. ebd., S. 259-287. Ebd., S. 536.

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gehalten wird. Foucault spricht dabei von Konversion115 und grenzt sich von einem platonischen Körper-Geist-Dualismus ab, es geht also nicht die Wiedererinnerung der Ideen und die Loslösung des Leibes, sondern um seine Intensivierung. Neo ist entsprechend keine Figur des gnothi seaton, sondern des epimeleia heautou. Dies wird vor allem in der Begegnung mit dem Orakel deutlich. In Analogie zu Platon lehrt Morpheus Neo, wie Sokrates den unsicheren Jüngling Alkibiades, sich bewusst zu machen, was er alles nicht weiß und wie er Selbstkontrolle erlangen kann. Nachdem das Orakel Neo prophezeit, dass er nicht der Auserwählte sei und dass er sich zwischen seinem Leben und dem Leben Morpheus’ entscheiden müsse, bietet sie ihm selbstgebackene Kekse an und sagt: »Wenn du diese gegessen hast, dann fühlst du dich gleich viel besser«.116 Und erst nachdem Neo das Gebäck des Orakels gegessen hat, transformieren sich sein Körper und sein Geist. Das plätzchenbackende Orakel bekommt dadurch Eigenschaften, die man ausgrenzend und abwertend ›Hexen‹ zuschreibt. Das Orakel – heteronormativ in der Küche lokalisiert – wird gemäß dem mittelalterlichen Bild der Frau als jemand, der für die Heilung und Pflege der Körper zuständig ist, inszeniert und als jemand, der Zugang zu pharmazeutischem und alchemistischem Wissen hat.117 Für eine lange Zeit galten Hexen als Wesen, die durch geheimnisvolle Tränke töteten oder krank machten. Diese Andeutung ist von den Wachowski-Schwestern also nicht zufällig gewählt. Denn das Anmischen von Substanzen und die Fähigkeit, Aussagen über die Zukunft zu treffen, laufen in der Figur des Orakels zusammen. Auch hier erscheint ein Vergiftungszusammenhang; nämlich insofern, als die Hexe als Produzentin von pflanzlichen Rauschmitteln sowohl eine Gefahr für das Einzelsubjekt darstellte als auch für den Kollektivkörper und das politische Gemeinwesen. Wie Johannes Dillinger betont, wird die Hexe im kollektiven Imaginären bereits um 1400 auch als Revolutionärin und Bedrohung staatlicher Ordnung begriffen, als »umstürzlerische Verschwörung, 115 116 117

Vgl. ebd., S. 33. Wachowski/Wachowski (Regie): The Matrix, 1:17:14. Die feministische Historikerin Silvia Federici hat eindrücklich darauf hingewiesen, dass die Hexenverfolgung der Versuch war, sich die Frauenkörper anzueignen und gleichzeitig den gemeinschaftlichen Gebrauch natürlicher Ressourcen zu zerstören. Diese führte nach Federici zur Enteignung dieses Volkswissens und zu der Kriminalisierung aller Praktiken. Vgl. dazu Silvia Federici: Caliban und die Hexe: Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, Berlin 2012. Avital Ronell und Paul Preciado sehen das Prinzip der Hexenverfolgung heute weitergeführt in der Verfolgung all jener, die Drogen produzieren, konsumieren oder vertreiben.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

die versuchte die staatliche wie die kirchliche Ordnung zu zerstören.«118 So scheint auch das Orakel in The Matrix eine Mixtur gefunden zu haben, mit deren Hilfe Neo einen Systemkollaps herbeiführen soll. Das magische Gebäck des Orakels, erneut erinnernd an die Kekse aus Alice im Wunderland, wo sie bei Alice Größenveränderungen hervorrufen, wird so für Neo zu einem pharmakologisch wirksamen Übungsmittel (vgl. Abb. 14).

Abb. 14: The Matrix (1999), R: Lana Wachowski/Lilly Wachowski, 1:17:20 min.

Interessant ist, dass es sich jedoch nicht um ein okkultes Zaubergebräu handelt, sondern um harmloses Gebäck, also eine Stoffverbindung, die zwar eine pharmakodynamische Wirkung erzeugt, jedoch in ihrer pharmakologischen Beschaffenheit völlig wirkungslos ist. Der süße Keks als eine medizinisch harmlose und eher inaktive Substanz wird in diesem Fall zu einem wirkstofffreien Präparat, das dennoch eine Wirksamkeit erzeugt. Das Gebäck des Orakels wird hier zu einem chemischen Aktanten, der zugleich auch ein wirkungsfreies Scheinmedikament zu sein scheint: ein Placebo. Bereits die Prophezeiung des Orakels, Neo sei nicht der Auserwählte, weist auf eine Suggestion hin, die ohne ein wirkliches ›materielles‹ Hinzutun eine Transformation des Protagonisten auslöst. Die Therapie des Orakels besteht somit darin, durch die Performanz der Wirkungslosigkeit Transformationen hervorzurufen, also durch einen Placeboeffekt. Die künstlich erzeugte Realität der Matrix 118

Johannes Dillinger: Kontinuitäten im Umbruch. Zum Wandel des Hexendiskurses um 1800, in: Maren Sziede/Helmut Zander (Hg.): Von der Dämonologie zum Unbewussten: Die Transformation der Anthropologie um 1800, S. 183-202, hier S. 193.

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hallt in der Wirkungslosigkeit und der Simulation des Placebos somit nach. Das verabreichte Gebäck wird zu einer wirkstofffreien, zu einer simulierten Scheinsubstanz, die dennoch Ereignisse herbeiführt. Somatik und Semantik laufen in dieser Gabe zusammen. Martin Andree spricht in seiner Studie zu Placeboeffekten auch von »Bedeutungswirkungen«.119 Und wie Ulrike Neumaier in ihrer Studie zur Wirksamkeit des Unwirksamen herausarbeitet, ist das Placebo eine schillernde und nur schwer identifizierbare Substanz, die weder materiell noch rein symbolisch wirkt. Als ein pharmakologisch inerter Stoff, wie z.B. Milchzucker oder Stärke, ist es pharmakodynamisch inaktiv. Neumaier betont im gleichen Zuge das sich aufdrängende Dilemma, das mit diesem unentschiedenen Seinsstatus des Placebos verbunden ist: Wie kann etwas Wirkungen erzeugen, wenn es faktisch wirkungslos ist? Einerseits wird in der Medizin für die Wirkung des Placebos die Erwartungshaltung der Patientin hineingerechnet, andererseits kann das Placebo auch negative Wirkungen haben und zu einem Nocebo werden, das der Definition der Erwartungshaltung entgegenstehen würde.120 Entgegen vielen anderen Präparaten und pharmazeutischen Mitteln fehlt es dem Placebo somit an Spezifität.121 Das Fehlen der Spezifität, also die Uneindeutigkeit und Prekarität, der Stoffe in The Matrix zieht sich somit wie ein roter Faden durch das Narrativ und erinnert nochmals an die bipolare Struktur des Pharmakon. Jedoch zeichnen sich zwei Fluchtlinien ab, die sich letztlich doch dichotom zueinander verhalten. Auf der einen Seite erzeugt die Einnahme des Gebäcks von Neo ein ›Mehr an Wissen‹. Auf der anderen Seite soll Wissen verhindert werden. Denn das polare Gegenstück zu der Szene, in welcher der Kollege Cypher bei einem geheimen Treffen mit Agent Smith (dem maschinischen Hüter der Matrix und dem Antagonisten Neos) die Gruppe der Widerständigen verrät und beim Essen eines Steaks darüber philosophiert zu wissen, dass dieses Steak nicht real sei, jedoch sage ihm die Matrix, dass es köstlich ist. Er entscheidet sich für das simulierte Steak und die Szene endet mit dem Satz: »Unwissenheit ist ein Segen.«122 Es stehen sich hier zwei epistemische Ordnungen gegenüber,

Martin Andree: Placebo-Effekte: Heilende Zeichen, toxische Texte, ansteckende Informationen, Paderborn 2018, S. 17. 120 Vgl. Ulrike Neumaier: Die Rache des Placebos: Zur Wirksamkeit des Unwirksamen in der evidenzbasierten Madizin und in der Wissenschaftsforschung, Bielefeld 2017, S. 14. 121 Vgl. ebd., S. 15. 122 Wachowski/Wachowski (Regie): The Matrix, 1:04:18. 119

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die über die Einnahme von Speisen und Drogen verdeutlicht werden. Während Neo und die Gruppe der Widerständigen letztlich eine platonische Idee der Wahrheit verfolgen und mittels roter Pille aus dem Labyrinth des Scheins entkommen wollen, sind die Maschinen dafür da, die Ordnung des Simulacrums aufrechtzuerhalten – das Spiel der Schatten in der Höhle nicht abbrechen zu lassen, um eine reibungslose Regierung der menschlichen Subjekte zu ermöglichen.

3.7.3

Mit dem Menschen anstecken: Gift oder Heilung

Mit Blick auf die Agenten der Matrix taucht das Pharmakon aber auch in einer infektiösen Gestalt auf. Die Agenten bezeichnen sich selbst als »cure«123 – als Heilmittel gegen das Virus, »das Geschwür«,124 das die Menschheit in ihren Augen für den Planeten ist. Agent Smith, der selbsternannte Heiler, offenbart Morpheus, der selbst unter der Wirkung eines starken Wahrheitsserums steht, dass er sich davor fürchte, sich mit dem Menschenvirus angesteckt zu haben (vgl. Abb. 15).

Abb. 15: The Matrix (1999), R: Lana Wachowski/Lilly Wachowski, 1:32:37 min.

Der Kampf zwischen Neo und Agent Smith wird hier als eine biologische, aber auch biopolitische Konfrontation der Arten inszeniert, in der das Leben der je eigenen Spezies auf dem Spiel steht. Beide wollen die Abhängigkeit der Matrix hinter sich lassen, sich selbst befreien. Die Befreiung geht 123 Ebd., 1:38:29. 124 Ebd., 1:38:20.

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aber auf Kosten des jeweils anderen, denn weder Agent Smith als Maschine noch Neo als Mensch erkennen sich gegenseitig als lebenswertes Leben an. Die Figuration der Biopolitik in The Matrix ist auch eine Thanatopolitik, die das Leben nicht produziert und fördert, sondern es auch zugunsten des eigenen Lebens vernichtet.125 Es handelt sich jedoch nicht wie in Wells Krieg der Welten (1898) oder Roland Emmerichs Independence Day (1996) um ein Modell radikaler Feindschaft und der absoluten Gegenüberstellung von eigen und fremd, die im 20. Jahrhundert, spätestens seit dem Ersten Weltkrieg, zu einer Ontologie der totalen Feindschaft 126 wird und ihre volle Wirkkraft im Kalten Krieg entfaltet. Insbesondere Wells Fiktion scheint der schmittschen Theorie der Feindschaft zu entsprechen. In der Konfrontation zwischen den Marsianern, die versuchen die Erde zu kolonialisieren, und den Menschen, die deren Übermacht ausgeliefert sind, geht es um eine existentielle Andersartigkeit des jeweils anderen. Nach Schmitt ist der Dualismus aus Selbst und Anderem die basale Figuration des Politischen, wobei die Fremdheit des Anderen »die Negation der eigenen Art Existenz«127 ist. Das Eigene (bei Wells ist es die Menschengattung) konstituiert sich durch den reaktiven Ausschluss des Fremden (die Aliens). The Matrix folgt hingegen einem differenzierteren immunologischen Abwehrschema, welches das Verhältnis von natürlich und künstlich nicht durch den reaktiven Ausschluss des Fremden aus dem Eigenen bestimmt, sondern durch seine unbedingte Hereinnahme (wie etwa bei einer Impfung). Roberto Esposito bezeichnet diese soziale Figur, wie bereits im Kapitel zuvor angedeutet, als immunitas:128 Das heißt, dass die Negation nicht mehr die Form einer gewaltsamen Unterwerfung hat, welche die Macht dem Leben von außen aufzwingt, sondern die intrinsisch antinomische Weise ist, in der sich das Leben durch die Macht erhält. Von diesem Blickwinkel aus lässt sich sagen, dass die Immunisierung ein negativer Schutz des Lebens ist.129

125 126 127 128 129

Zum Begriff der Thanatopolitik siehe die Arbeiten von Giorgio Agamben, vor allem unter der Berücksichtigung des Homo-Sacer-Projekts. Zum Begriff der totalen Feindschaft siehe Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin 1996. Ebd., S. 27. Vgl. Roberto Esposito: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Berlin 2004. Roberto Esposito: Das Paradigma der Immunisierung, in: Folkers/Lemke: Biopolitik, S. 337382, hier S. 338.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

Esposito betont, dass die westlichen Gesellschaften vom Paradigma der Immunisierung geprägt sind. Der Begriff der Immunisierung sei sogar der »interpretative Schlüssel« zum »Rätsel der Biopolitik«,130 den Foucault übersehen habe. Gesellschaft (communitas) und Immunität (immunitas) seien untrennbar miteinander verschränkt. Auf der einen Seite definiert Esposito die Gemeinschaft als eine Bürde und als eine gemeinsame Verpflichtung, also als schon immer offenen Aushandlungsprozess (communitas), und auf der anderen Seite zeichnet sich Gemeinschaft durch den Schutz und durch die Negation des Anderen aus, um eine Identität der Gemeinschaft zu schützen. Es gibt also eine Förderung und Anleitung des Lebens und ihre Zerstörung. Beide Seiten stehen sich nicht polar gegenüber, sondern sind ineinander gefaltet. Die Immunisierung der Gemeinschaft erfolgt dabei – gemäß Espositos Definition – pharmakologisch, wobei das Pharmakon die Bedrohung nachahmt und damit das Leben durch eine neutralisierende Hereinnahme des Anderen schützt, anstatt es auszuschließen. Dabei referiert Esposito erstens auf Derridas Pharmakonbegriff und zweitens auf Paracelsus. Das Pharmakon ist dasjenige, das dem Anderen nicht entgegengesetzt ist und es ausschließt, sondern das Andere einschließt: Das pharmakon ist zugleich das Übel und das, was sich ihm widersetzt, indem es sich seiner Logik beugt. Es selbst als das Andere und das Andere als es selbst – der Punkt, wo das Eine ins Zweifache eingeht und dabei doch Eines bleibt; das Ein-Zweifache, weder Eins noch zwei, und dennoch beide, die auf der Linie ihres Gegensatzes zur Deckung kommen.131 The Matrix bedient sich dieses Prinzips anhand der nur vordergründig antagonistischen Beziehung von Neo und Agent Smith. Obwohl im Film immer wieder versucht wird, die anthropozentrisch eingefärbte Trennung von Mensch/Maschine vorzunehmen, überlagern und infizieren sich Maschine und Mensch immer wieder gegenseitig. Während Neo durch seine transhumanen Fähigkeiten immer mehr zu einer Maschine wird, mutiert Agent Smith zu einem Menschen. In ihrer Unentschiedenheit teilen sie sich, um die Formulierung Espositos aufzugreifen, eine gemeinsame Fluchtlinie. Die Angst vor dem Krebsgeschwür ›Mensch‹ invertiert sich in der Figur des Agenten, da er vor allem im letzten Teil der Trilogie selbst metastasiert, sich selbst

130 Roberto Esposito: Bíos. Biopolitics and Philosophy, Minneanapolis/London 2008, S. 13. 131 Esposito: Immunitas, S. 178.

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reproduziert und zu einem Krebsgeschwür wird. Smith ist in der Lage, andere anzustecken, in sie einzudringen und sie zu Klonen zu machen. Bereits in der Investigationsszene mit Morpheus tritt seine Humanisierung hervor. Er erträgt den »Geruch« des Menschen nicht mehr und will entkommen aus »diesem Gefängnis, diesem Zoo«.132 Er entdeckt Sinneswahrnehmungen, Affekte und Gefühle, die er jedoch nicht erträgt, und sein Mensch-Werden mündet in Destruktion und Sadismus. Neo als der pharmakologische Antagonist von Smith droht in seiner Maschinen-Werdung in das Innere des Maschinischen einzudringen. Die Reaktion Smiths ist – wie Agamben mit seinem Theorem der anthropologischen Maschine skizziert – typisch: nämlich die radikale Tilgung des Eigenen aus dem Fremden.133 Das Maschinische als das Außen des Menschen fungiert als Spiegelung und als Verdrängung der Maschine im menschlichen Subjekt. Die Schwelle des körperlichen ›Außen‹ des Menschen wird im Inneren verortet, indem aber dieses ›innere Außen‹ als etwas Abartiges abgestoßen wird.134 Sowohl Neo als auch Smith bewegen sich auf einer Fluchtlinie zwischen Mensch, Übermensch und Programm – die jeweils eine eigene Erfahrung von einer Welt haben, mit der etwas nicht stimmt. Sie sind beide für den jeweils anderen Gift und Heilmittel zugleich. Die immunologische Logik von The Matrix dockt an dem homöopathischen Prinzip von Paracelsus an, wonach körperliche Leiden nicht mit ihrem Gegenteil – etwa Hitze mit Kälte und umgekehrt –, sondern vielmehr Gleiches mit Gleichem zu kurieren sei.135 Der Film bedient sich nicht des allopathischen Prinzips der Gegensätzlichkeit, sondern dessen, was Paracelsus das »homöopathische Prinzip der Ähnlichkeit« genannt hat: Wie es also einer solchen Anatomie entspricht, sollt ihr die Krankheiten zu untersuchen und zu erkennen wissen, damit ihr wisset, warum der Skorpion Skorpionengift heilt. Darum, weil er des anderen Anatomie hat. So entspricht der Anatomie des äußeren Menschen die des inneren, stets eines dem anderen. Denn so heilt Arsenik den Arsenik, so Realgar den Realgar, so Herz das Herz, Lunge die Lunge, Milz die Milz.136

132 133 134 135 136

Wachowski/Wachowski: The Matrix, 1:40:25. Vgl. Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M. 2004, S. 46. Vgl. ebd., S. 47. Vgl. Paracelsus: Das Buch Paragranum/Septem Defensiones, Berlin 2014, S. 19. Ebd., S. 433.

III. Biopolitik prekärer Stoffe

Die Gegenüberstellung von Krankheit und Gesundheit, repräsentiert durch Neo als den Heilsbringer und Agent Smith als das Gift, bricht vor dem Hintergrund dieses Prinzips zusammen. Neo muss also zwangsläufig zu einem pharmakologisch erweiterten Maschinen-Wesen werden, um die Menschheit von der Matrix zu heilen – denn gegen ein bestimmtes Gift hilft nur in erträglichen Dosierungen das Gift selbst.

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IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe1 Hormone wie Östrogen und Progesteron – später dann Testosteron – werden erst als Moleküle betrachtet und dann als Pharmakon, aus der stillen Kohlenstoffkette werden biopolitische Entitäten, die auf legale, institutionelle und intentionale Weise in einen menschlichen Körper eingeführt werden können. Hormone werden bio-Artefakte, gemacht aus Kohlenstoffketten, Sprache, Bildern, Kapital und kollektiven Wünschen. Paul B. Preciado2   Aber welcher ist der revolutionäre Weg? […] Sich vom Weltmarkt zurückziehen […]? Oder den umgekehrten Weg einschlagen? Das heißt mit noch mehr Verve sich in die Bewegung des Marktes, der Decodierung und der Deterritorialisierung stürzen? Gilles Deleuze/Félix Guattari3

1

2 3

Die ersten Vorarbeiten zu diesem Teil, die hier erweitert und ausgearbeitet vorliegen, gehen zurück auf einen bereits erschienenen Aufsatz, vgl. Georg Dickmann: Molekulare Prothesen. Intoxikation, Spekulation und Materialität in Paul B. Preciados ›Testo Junkie‹, in: Marie-Luise Angerer/Naomie Gramlich (Hg.): Feministisches Spekulieren. Genealogien, Narrationen, Zeitlichkeiten, Berlin 2020, S. 178-193. Preciado: Testo Junkie, S. 172. Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, S. 308.

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Was sich mit den Fiktionen des Cyberpunk andeutet und in der Immunologik der postmodernen Theorie kondensiert, wird von gegenwärtigen feministischen und neu-materialistischen Positionen aufgegriffen. Sie zeigen auf, dass die Mensch-Technik-Relationen der Kontrollgesellschaft nicht als AlterEgo-Verhältnisse gedacht werden können, sondern sich durch wechselseitige Hervorbringung und Modifikation auszeichnen und dabei zu einer engmaschig verwobenen politischen Ökonomie heranwachsen. Die große Trennung von Mensch und Maschine geht eine vitalistische Verbindung ein, die ebenso die Frage nach der Regierung des trans- bzw. posthumanen MenschMaschine-Körpers besonders virulent werden lässt.4 So versucht der spanische Philosoph und Queertheoretiker Paul B. Preciado nachzuweisen, dass die panoptische Gesellschaft der Platzzuweisung sowie die damit verbundene Herstellung von Subjektivität nicht über äußere und harte Architekturen wie das Gefängnis, sondern vielmehr über innerkörperliche und nahezu ›post-optische‹ Wirkungsweisen und Medien vollzogen werden. Wie es sich in George Lucas’ Fiktion THX 1138 bereits ankündigt und in den Fiktionen des Cyberpunk exerziert wird, zielt auch Preciados These darauf ab, dass der Körper der spätkapitalistischen Gesellschaft nicht hierarchisch, (makro-)prothetisch und vertikal regiert, sondern (mikro-)technologisch kontrolliert wird. Es geht vor allem darum, lustvoll und mit einem, wie es Braidotti schreibt, spielerischen Verhältnis zu Technik ein Verhältnis aufzubauen, das nicht in einem Rationalismus oder Funktionalismus mündet. Paul B. Preciados Philosophie lässt sich skizzenhaft mit dem Programm des Xenofeminismus erklären. Im xenofeministischen Manifest heißt es: Das wahre emanzipatorische Potenzial von Technik bleibt unrealisiert. Statt der endlosen Vermehrung technischer Spielereien liegt die eigentliche Aufgabe in der Entwicklung von Technologien, die den ungleichen Zugang zu reproduktiven und pharmakologischen Werkzeugen, ökologische Katastrophen, ökonomische Instabilität sowie gefährliche Formen der unbezahlten/unterbezahlten Arbeit bekämpfen können.5 Anstatt einer verkürzt-humanistischen Kritik sollen Technologien für geschlechter-politische Zwecke affirmiert werden; eine strategische Nutzung

4 5

Vgl. Rosi Braidotti: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt/New York 2015, S. 94f. Laboria Cuboniks: Xenofeminismus, in: Avanessian/Hester: dea ex machina, S. 15-34, hier S. 17.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

von Technologien, die bedeutet, dass man nur mit der Technologie durch sie hindurch navigieren kann. Die Frage ist vor diesem Hintergrund weniger: »Wie werden Körper sanktioniert?«, sondern vielmehr: »Was vermögen Techno-Körper?« Die Frage, die damit aufgeworfen wird, ist eine danach, wie man sich die technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts, die unrealisiert bleiben, im Sinne einer Transformation von Körpern gegenhegemonial aneignen und sie umgestalten kann. Während Technik sich heute dadurch zu definieren scheint, das Mögliche an Ressourcen auszuschöpfen, um Möglichkeitsräume zu schließen und dadurch spekulative Zukünfte berechenbar zu machen, macht Preciado den Vorschlag, diese mittels Umarmung und einer emanzipatorischen Kanalisierung und Umgestaltung der Werkzeuge zu transformieren. Preciados Grundüberzeugung ist, dass die einzige radikale politische Antwort auf den Kapitalismus nicht darin besteht, auf Entschleunigung zu hoffen, sondern dessen entfremdende Tendenzen aufzunehmen und zu steuern. Preciados Theorie weist eine Verwandtschaft mit Ansätzen des Akzelerationismus auf, die entgegen einer katastrophischen Zukunft ein »Zurück in die Zukunft«-Denken fordern, das die verfestigten Bahnen kapitalistischer Prozesse durch Navigation und Antizipation überkommen will: Wir mögen uns vielleicht schnell bewegen, aber nur innerhalb eines streng definierten Sets stabiler kapitalistischer Parameter. Wir erfahren nur die ansteigende Geschwindigkeit innerhalb eines beschränkten Umfelds, ein simples, hirntotes Versprechen anstelle einer Beschleunigung, die auch navigiert, die experimenteller Entdeckungsprozess innerhalb eines allgemeinen Möglichkeitsraumes ist. Die letztere Form der Beschleunigung halten wir für die wesentlichere.6 Die Strategie eines experimentellen Entdeckungsprozesses ist auch Preciados Strategie, die sich sowohl gegen den blinden Geschwindigkeitsrausch des Futurismus als auch gegen techniknihilistische Positionen wendet. Preciado widmet sich demnach Gegenstandsbereichen, die den Verlust humanistischer Gewissheiten weder betrauern noch naiv affirmieren, sondern innerhalb der Entfremdung immer wieder Elemente, Zwischenräume und Spalten der Befreiung finden. Obwohl Foucault und vor allem Deleuze bereits in Ansätzen eine Regierung des Flüssigen und Kleinen andeuten, worin sich auch Ansätze 6

Nick Srnicek/Alex Williams: #Accelerate. Manifest für eine akzelerationistische Politik, in: Armen Avanessian (Hg.): Akzeleration, Berlin 2013, S. 21-39, hier S. 25.

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einer Regierung des Pharmakologischen finden lassen, formuliert Preciado konsequent und weiterführend mit dem pharmapornografischen Regime eine an Haraway angelehnte ›immunologische‹ Machtform, die Foucault und Deleuze (obwohl sie diese bereits andeuten) so in der Breite nicht absehen konnten. Denn während das ›wilde molekulare Treiben‹ und das Konzept der Pharmakoanalyse bei Deleuze und Guattari in den Tausend Plateaus politischmaterialistisch und vor allem performativ unterbestimmt bleibt, erweitert Paul B. Preciado mit dem Buch Testo Junkie (2016) die Ansätze von Deleuze und Guattari und wertet sie performativ um.

4.1

Sich an C19 H28 O2 anschließen

In seinem ›Körperessay‹ verwebt Paul B. Preciado sozialphilosophische Analysen mit dem literarisch-dokumentarischen Bericht einer neun Monate andauernden Selbstintoxikation mit Testogel. Durch minimale Dosen von Testosteron, das von der Haut in den Blutkreislauf gelangt, beschreibt Preciado seine Transformation zu einem Körper, der in binären Kategorien des Geschlechts nicht zu denken ist. Die Frage, die Preciado damit aufwirft, ist, wie soziales Geschlecht und pharmazeutische Erzeugnisse miteinander zusammenhängen. Grundlage des Buchs ist eine Art Selbstprotokoll Preciados – damals noch Beatriz7 – ihrer*/seiner* 236 Tage andauernden Selbstbehandlung mit Testosteron (C19 H28 O2 ), das als Gel über die Haut aufgetragen wird. Dabei ist eine der Besonderheiten, dass Autor*in, Protagonist*in und Gegenstand des Buchs zusammenfallen: Und was mich angeht: weder testo-Girl noch techno-Boy, ich bin die Stelle, an die C19H28O2 angeschlossen werden kann. Aber gleichzeitig bin ich das Terminal eines staatlichen Kontrollapparats als auch ein Fluchtweg, durch den man dem Kontrollsystem entkommen kann. Ich bin das Molekül und der Staat, ich bin Laborratte und das wissenschaftliche Untersuchungsobjekt. Ich bin der Rückstand einer chemischen Operation. Ich bin der zukünftige Rückstand, gemeinsamer künstlicher Vorfahre der Entwicklung einer

7

Die englische und spanische Ausgabe von Testo Junkie ist unter dem Vornamen Beatriz erschienen. Da Preciado heute als Mann* lebt, habe ich mich in diesem Text für die männliche* Form entschieden.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

neuen Gattung in den nicht endenden aleatorischen Prozessen der Mutation und genetischen Drift. Ich bin T.8 Wird hier der Körper als mit techno-pharmazeutischen Schnittstellen versehen beschrieben, so handelt es sich bei Testo Junkie auch nicht einfach um einen Text, der einerseits aus einem Theorieteil und andererseits aus dem Tagebuch einer Selbstmedikation besteht. Das Buch ist vielmehr ein Textgewebe, das sich aus Genres, Stilen, Theorieschnipseln, Behauptungen und Disziplinen zusammensetzt, die zu einem monströsen Biotop heranwachsen. Programmatisch heißt es im ersten Kapitel: Bei diesem Buch handelt es sich nicht um meine Memoiren. Das Buch protokolliert die vorsätzliche Selbstvergiftung des Körpers und der Affekte von P.P. Eine Vergiftung mit synthetischem Testosteron. Ein Körperessay. Und dennoch, eine Fiktion. Wenn man es auf die Spitze treiben will: eine somapolitische Theorie des Selbst, oder eine Selbsttheorie.9 Testo Junkie ist neben dem Selbstversuchprotokoll eine queere Diskursgeschichte des Hormons, ein Postporno sowie eine sozialphilosophische Analyse einer pharmapornografisch operierenden Macht, die sowohl Michel Foucaults Theorem der Biopolitik als auch Deleuzes Konzept der Kontrollgesellschaft auf die Probe stellt. Das Ziel der Selbstverabreichung von Testogel ist jedoch nicht die Geschlechtsanpassung im Sinne eines medizinisch-korrigierenden Eingriffs, sondern vielmehr das kritische Ausloten einer chemischprothetischen Aufrüstung und die Verwindung eines binären Körpermodells. Der damit einhergehende geschlechtspolitische Einsatz besteht im Sinne Gilles Deleuzes und Félix Guattaris darin, ein »Molekular-Werden«10 in Gang zu setzen. Es geht also nicht darum, den molaren Wechsel von Frau zu Mann zu ermöglichen, sondern die molekularen Grundlagen, auf denen die Produktion des sexuellen Unterschieds basiert, mittels Testogel so zu manipulieren, dass diese Binarismen als »somapolitische Fiktionen«11 und als körperliche Effekte technischer Normalisierungsprozesse sichtbar werden. Konkret heißt das, dass sich Preciados Intervention gegen das Gesetz richtet, das Frauen untersagt, das Präparat zu erwerben bzw. ohne eine ärztlich unterstützte Hormontherapie einzunehmen. Das Testosteron wird 8 9 10 11

Preciado: Testo Junkie, S. 147. Ebd., S. 11 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 662. Preciado: Testo Junkie, S. 149.

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auf diese Weise erst illegalisiert und zu einer verbotenen Droge gemacht. Frei erhältlich für Frauen ist nur Östrogen, wodurch die Geschlechterdichotomie und die damit einhergehenden Normalisierungen und Machteffekte aufrechterhalten werden. Diese Normalisierung bezeichnet Preciado als das pharmapornografische Regime. Er greift mittels der Selbstbehandlung bewusst in den regulierenden Prozess des pharmapornografischen Regimes ein, um zu spekulativen Formen geschlechtlicher Verkörperung zu gelangen: Ich will mich mit Testosteron nicht in einen Mann verwandeln, ich will meinen Körper nicht transsexualisieren, ich nehme Testosteron, weil ich Verrat an dem üben will, was die Gesellschaft aus mir zu machen versucht. Ich will meiner low-tech-transgender Identität aus Dildo und bewegten Texten und Bildern eine molekulare Prothese hinzufügen.12 Laut Preciado – und das ist sein*/ihr* biopolitischer Einsatz – kristallisiert sich im Zuge von molekularen und »semiotechnischen Strömen«13 und Modulationen zu Beginn der 1960er Jahre ein neues technobiologisches Subjekt heraus, das zunehmend durch eine Technobiomacht 14 reguliert wird und auch in der Lage ist, sich selbst zu regulieren: Wenn sich in der Disziplinargesellschaft das Verhältnis von Körper und Macht nach dem Modell von Architektur und Orthopädie verstehen lässt, dann ist dieses Modell in der pharmapornographischen Gesellschaft das der auf den Körper zielenden mikroprothetischen Operationen: die Macht wirkt durch ein Molekül, das sich in unser Immunsystem integriert. […] Der Körper bewohnt nicht mehr den disziplinarischen Raum: er ist von ihm bewohnt, seine biomolekulare und organische Struktur ist der letzte Schlupfwinkel dieser biopolitischen Kontrollsysteme. Dieser Moment enthält all den Horror und Erregung des politischen Potentials des Körpers.15 Gemäß Preciado macht die foucaultsche Vorstellung eines integralen Körpers, der von äußeren Machtstrukturen erfasst, reglementiert und modifiziert wird, einer Macht Platz, die sich wie (aber vor allem als) ein Molekül,

12 13 14 15

Ebd., S. 17f. Ebd., S. 117. Vgl. Donna Haraway: Modest_Witness@Second_Millenium._FemaleMan-Meets:OncoMouse: Feminism and Technoscience, New York, 1997. Preciado: Testo Junkie, S. 82f.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

Virus, eine Droge, ein Hormon oder eine andere prekäre und auch prekarisierende Substanz an das einzelne und das kollektive und vergeschlechtlichte Immunsystem heftet und es von innen regiert.16 Preciado spricht dabei auch von einem »Panoptikum als Tablette«17 eingenommen und inkorporiert werden kann; eine Macht, die uns freisetzt und aussetzt, anstatt uns einzusperren. Entsprechend sei die gegenwärtige biopolitische Situation einerseits auf der biotechnologischen Ebene pharmakologisch und auf der semiotischen Ebene pornografisch bestimmt. Beide Ebenen sind eng an Prozesse des Ökonomischen geknüpft bzw. sind Elemente, mit denen Werte generiert werden: Die zeitgenössische Gesellschaft wird von toxisch-pornographischen Subjektivitäten bewohnt: Subjektivitäten, die sich durch ihren Stoffwechsel dominierende Substanzen definieren, durch kybernetische Prothesen, die ihre Bewegungen ermöglichen, durch die pharmapornographischen Wünsche, die ihre Handlungen antreiben. Wir sprechen nicht mehr von souveränen oder entfremdeten Subjekten, sondern von Prozac-Subjekten, Cannabis-, Kokain-, Alkohol-, Ritalin-, Cortison-, Silikonsubjekten, heterovaginalen Subjekten, Subjekten der Doppelpenetration, Viagra-Subjekten, $-Subjekten.18 Das Gegenwartssubjekt wird von Preciado als ein materiell-semiotischer Knoten für lebendige und nicht lebendige Artefakte und Wirkstoffe begriffen, die uns dauerhaft durchfluten. Der Begriff des Lebens, den Foucault ins Zentrum

16

17 18

Preciado, damals noch Beatriz, beschreibt bereits in früheren Arbeiten die Prozesse und Machteffekte des ›pharmapornografischen Regimes‹. In ihrem Buch Pornotopia liest Preciado den Playboy als elementaren Teil der sexuellen Revolution und als das heterosexuelle Pendant zur Emanzipation der Frauen und Homosexuellen im 20. Jahrhundert. Darin zeigt Preciado auf, wie Männer den Imperativ der Reproduktion umwerten und auf die Räume, in denen sie leben, übertragen. Dabei betont Preciado vor allem die Implosion des Privaten und des Öffentlichen, die in besonderer Weise am Bett von Hugh Heffner zum Vorschein kommt. Das Bett des Playboys ist nicht zum Schlafen und Ausruhen geeignet, sondern vielmehr zu einer ununterbrochenen Vernetzung: Vernetzung durch das am Bett befestigte Telefon und den Fernseher und auch die Vernetzung mit anderen Körpern. Das pharmapornografische Bett wird zu einer männlichen Schaltzentrale und zu einer Prothese, die man nicht mehr verlassen muss, um zu agieren. Vgl. dazu Beatriz Preciado: Pornotopia. Architektur, Sexualität und Multimedia im ›Playboy‹, Berlin 2012, S. 107-115. Preciado: Testo Junkie, S. 202f. Ebd., S. 37.

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seiner Biopolitikthese der Moderne stellt, ist laut Preciado heute vor dem Hintergrund der biotechnologischen Möglichkeiten archaisch geworden. Es ginge angesichts einer toxisch-pornografischen Subjektivität nicht mehr darum, das Leben anzuleiten und zu maximieren, sondern um die Kontrolle über das Gesamte des miteinander verbundenen Technolebens. Dieser Gedanke findet sich wie bereits im Kapitel zur Immunologie des Pharmakons ausgeführt bereits bei Donna Haraway. Die Wissenschaftstheoretikerin entwickelt anhand der Cyborgfigur strukturelle Verschränkungen von SF, Institutionen der Medizin und anderen sozialen Phänomenen und Einrichtungen. Sie spricht dabei auch in Erinnerung an Foucaults Konzept der Biopolitik von »CyborgPolitik«.19

4.1.1

Die Pille als essbares Panoptikum

Das 20. Jahrhundert ist für Haraway symptomatisch für ein Überkommen der großen Trennungen von Mensch/Maschine, Natur/Kultur, Frau/Mann, Ein-/ Ausschluss und Fiktion/Realität. Damit ist insbesondere ein Wechsel vom organischen zum kybernetischen Körper gemeint, der den integralen oder auch den von außen regierten Körper von Foucault ablösen soll: »Cyborgs sind kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion.«20 Haraway begreift Körper der Postmoderne nicht mehr als in sich abgeschlossene und fixierte Entitäten, sondern als flexible Codes mit durchlässigen Grenzen, die biotechnologisch – aber vor allem pharmakologisch – programmiert, reprogrammiert und in Wert gesetzt werden können. Preciado schließt direkt daran an und behauptet nah an den Beobachtungen Haraways, dass unsere globale Ökonomie von der Produktion und Zirkulation riesiger Mengen synthetischer Stoffe abhängig sei: von technisch transformierten Organen, Flüssigkeiten, Zellen (techno-Blut, techno-Sperma, techno-Ovarien etc.), von der globalen Verbreitung pornographischer Bilder, der Entwicklung und Verbreitung neuer legaler und illegaler synthetischer psychotroper Substanzen (Lexomil, Special K, Viagra, Speed, Ecstasy, Poppers, Heroin, Omeprazol…), von Zeichenströmen und digitalen Informationskreisläufen.21 19 20 21

Haraway: Die Neuerfindung der Natur, S. 34. Ebd., S. 34. Vgl. Preciado: Testo Junkie, S. 35.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

Die Antibabypille bekommt eine besondere Provenienz in Preciados Untersuchungen. Sie ist vor dem Hintergrund der endokrinologischen Experimente des Kalten Krieges geradezu ein Paradebeispiel für die biopolitischen Effekte des pharmapornografischen Regimes. Die Pille wurde proletarischen Frauen aus Puerto Rico in den 1960er Jahren systematisch verabreicht, um ihre Geburtenrate zu kontrollierten und um dadurch natürlich auch einen rassifizierten Anderen zu konstruieren.22 Nachdem die Geburtenrate rapide fiel, wurde das Verhütungsmittel dann in den USA verfügbar. Als Instrument biotechnischer Kontrolle sollte es Frauen ermöglichen, ihre eigenen Körper zu regieren und gar zu befreien. Mittels der Pille sei ein neues Paradigma der Subjektkonstitution der Frau realisiert, durch deren Einnahme eine biologische Rekonfiguration und ein spezielles Körperdesign erreicht, das dem hormonellen Management unterstellt wird. Paul B. Preciado erinnert uns zu Recht daran, dass die Pille die am meisten verwendete chemisch hergestellte Substanz in der Geschichte der Menschheit ist. Es braucht keine institutionelle Macht, um den Einzel- bzw. den kollektiven Körper zu regieren, sondern alles geschieht in Eigenregie mittels Blick auf den Kalender, der das hormonelle Management und das Design des eigenen Körpers konstruiert – und damit natürlich sexuelle oder nicht sexuelle Aktivitäten programmiert. Die Pille dient demnach also zum einen der Regulierung der Bevölkerung insgesamt bzw. der Normalisierung der individuellen Sexualität, die damit einhergeht, binäre Geschlechtsmodelle zu reinstallieren, und zum anderen öffnet die Pille einen Möglichkeitsraum der Befreiung und den Ausgang aus hegemonialen Körpermodellen. Anhand von David P. Wagners DialPak-Dosierer zeigt Preciado, dass die Pille der sechziger Jahre das Resultat zweier Operationen war, nämlich: Verräumlichung der Zeit und Camouflage. Der Dosierer verräumlicht Zeit, in dem er die Daten der Tabletteneinnahme auf einer zirkulären Box sichtbar macht. Wie die Telefonwählscheibe, das populärste KommunikationsTool der Jahre des Kalten Krieges, etabliert die Drehbox abstrakte Verhältnisse zwischen drei Systemen – Löcher, Zahlen und vernetzte Telefone im Falle des Telefons; Löcher, Pillen und Daten des Menstruationszyklus für den DialPak. Der Dosierer teilt Dauer in sukzessive Segmente, jedes von ihnen indiziert eine bestimmte Zeit.23

22 23

Vgl. ebd., S. 194. Ebd., S. 198.

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Hiermit ruft Preciado Foucaults Analyse »gelehrsamer Körper«24 auf, die – wie ich bereits dargestellt habe – im Panoptikum einem anatomisch-chronologischen Handlungsschema unterworfen waren, das Gefängnisarchitektur und Körperbewegungen miteinander synchronisierte. Preciado wendet dieses Prinzip nun auf den Macht-Wissen-Komplex der Pille an und erweitert Foucaults Machtbegriff damit. Die Hauptaufgabe des Kontrazeptivums bestand darin, durch den Dosierer ›Vergesslichkeit‹ zu reduzieren: »In dieser Hinsicht produziert die Technik der DialPak-Verpackung mehr als nur eine Pille, sie produziert auch Erinnerung und Zeit, Verantwortlichkeit und Vertrauen.«25 Die Pille wird dadurch zu einem hormonalen, privaten Dispositiv, das durch den chemischen Kalender eine ›Normalität‹ und damit eine Notwendigkeit der Einnahme erzeugt. Diese häusliche Mikroprothese und die damit verbundenen Selbstüberwachungsmechanismen bleiben nahezu unbemerkt und produzieren fortwährend das fortpflanzungsfähige Subjekt. Darüber hinaus betont Preciado den verdeckten Charakter der Verpackung, in der »das weibliche Geheimnis bewahrt werden kann.«26 Wagner designte den Dosierer so, dass er die Größe eines Make-up-Sets hatte, den Frauen diskret in ihrer Handtasche mitführen können. Preciado erkennt Spuren des benthamschen Gefängnismodells im Design und den damit verbundenen Subjektivierungsmechanismen der Antibabypillenverpackung (vgl. Abb. 16). Das benthamsche Modell eines perfekten Gefängnisses kehrt hier also in einer Miniaturversion zurück. Das Panoptikum wird zu einer Tablette oder auch zu einer »häuslichen Mikroprothese«.27 Als leicht tragbares, individualisiertes und chemisches Dispositiv ist es jedoch nicht einem disziplinarischen Macht-Wissen-Komplex unterworfen, sondern es ist das materialisierte Modell einer neuen, biochemischen (Selbst-)Kontrolle: Das Individuum muss nicht mehr eingesperrt werden, um biochemischen, pädagogischen oder strafrechtlichen Tests unterzogen werden zu können, denn Experimente mit dem menschlichen Verstand können auch im individuellen Körper durchgeführt werden, vom Individuum selbst aufmerksam

24 25 26 27

Foucault: Überwachen und Strafen, S. 131. Preciado: Testo Junkie, S. 199 Ebd., S. 200. Ebd.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

und intim verfolgt. Und all das geht freiwillig vor sich, im Zuge der sexuellen Emanzipation des kontrollierten Körpers.28 Abb. 16: Das Design der Disziplinargesellschaft (rechts) und das des pharmapornografischen Regimes (links), Preciado: Testo Junkie, S. 206.

Die Prognosen, die Deleuze in Postskriptum über die Kontrollgesellschaften aufstellt, werden somit von Preciado aufgegriffen und auf ihre pharmapornografischen Eigenschaften geprüft. Die mikroprothetische Kontrolle erweitert und ersetzt nach Preciado die Milieus und Institutionen des Disziplinarischen. Ebenso deckt sich diese Aussage mit Donna Haraways Vorhersage einer Bedrohung, die durch die Möglichkeit entsteht, immer kleinere Bauteile mit immer mehr Leistung zu erschaffen (Speicherchips, Sender, Empfänger): Die Miniaturisierung hat […] unsere Erfahrungen im Umgang mit Automaten von Grund auf verändert. Miniaturisierung hat sich als Macht herausgestellt. Hier gilt nicht small is beautiful, denn klein zu sein bedeutet hier eine außerordentliche Gefahr, wie die Cruise Missiles zeigen.29

28 29

Ebd., S. 207. Haraway: Die Neuerfindung der Natur, S. 38. (Herv. i. O.)

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Laut Preciado konnte sich Macht nie so schnell im Gesellschaftskörper ausbreiten wie im Falle der Biomacht des Pharmakologischen. Denn diese Art der Kontrolle ist privat, demokratisch, essbar, trinkbar und leicht anzuwenden. Obwohl die Substanzen und prekären Stoffe von außen zugefügt werden, besteht der Ansatz Preciados in der Behauptung, dass der Körper selbst die Macht begehrt und danach sucht, sie »zu essen, sie zuzuführen, überzustreifen, mehr, immer mehr, durch alle Löcher, auf allen möglichen Anwendungswegen.«30 Diese sanften Technologien nehmen die Form des Körpers an, den sie durchfluten, sie werden Teil des Körpers, den sie kontrollieren. Interessant ist der Prothesenbegriff, der durch den Text hindurch geradezu inflationär gebraucht wird. Die Pille und auch andere chemische Erzeugnisse werden »hinzugefügt«,31 durch sie wird etwas »ausgelöst«,32 sie werden in den Körper »implementiert«,33 sie »kompensieren«34 und »modifizieren«35 ihn. Anhand der verwendeten Adjektive tritt hervor, dass es sich bei den chemischen Prothesen um Werkzeuge handelt, die von außen aufgetragen werden – die aber von innen eine körperliche Extension und Expansion ermöglichen sollen. Man könnte hier einerseits annehmen, dass Preciado ähnlich wie Sigmund Freud den Menschen als »Prothesengott« begreift, dessen »Hilfsorgane«36 ihm äußerlich bleiben, wodurch das Eigene und das Fremde sich nur dichotom begegnen.37 Andererseits und vor dem Hintergrund dessen, dass nach Preciado pharmapornografische Macht wie, aber auch als ein Molekül in unser System eindringt – also eben nicht äußerlich bleibt –, eröffnet sich auch hier ein immunologisches Prinzip des Prothetischen, welches das Eigenund Fremdverhältnis invasiv denkt und nicht als eine harte Aufstülpung des Einen auf das Andere oder andersherum. Die soziale und subjektive Immunisierung nach Preciado folgt, ähnlich dem Ansatz Roberto Espositos, dem Schema des Pharmakons, das nicht vom Ausschluss des Anderen aus dem Eigenen ausgeht, sondern von seiner Ingestion und seiner Verwaltung.38 30 31 32 33 34 35 36 37 38

Preciado: Testo Junkie, S. 208. Ebd., S. 13. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33. Ebd., S. 199. Ebd., S. 390. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M. 1974, S. 197-270, hier S. 222. Vgl. ebd. Vgl. Esposito: Das Paradigma der Immunisierung.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

4.1.2

Exkurs: Jean-Luc Nancys Fremdkörper

Im Kontext von Autofiktion und einer Theorie der Immunologie ist Preciados Testo Junkie jedoch nicht singulär. Jean-Luc Nancy setzt sich bereits Ende der 1990er Jahre mit dem verwaltenden und verschränkten Verhältnis von Eigen und Fremd auseinander und entwickelt eine Körpertheorie ausgehend von seiner zehn Jahre zurückliegenden Herztransplantation. Vor allem das Phänomen des Eindringens, das eine paradoxale Situation zwischen Innen und Außen schafft, ist ein zentrales Moment bei Nancy, das im Kontext dieser Arbeit die Logik und das Prinzip des Immunologischen verdeutlichen soll. In dem Essay Der Eindringling. Das fremde Herz (1999) untersucht der französische Theoretiker, dem sein »eigenes Herz fremd geworden ist«,39 das neue Herz als eine giftige und zugleich heilende Gabe. Der Eindringling ist jedoch nicht nur das neue Herz, sondern auch das alte. Das kranke Herz ist selbst fremd geworden und wird durch ein anderes fremdes ausgetauscht. Der Eindringling hat somit einen doppelt fremden Status bei Nancy, der die binäre Grenzziehung von innen und außen sowie eigen und fremd geradezu herausfordert. Das paradoxe Verhältnis von eigen und fremd, das Nancy in seiner kurzen autofiktionalen Theorie auf seine erkenntnistheoretischen und ontologischen Aporien abtastet, wird jedoch zuallererst von einer politischen Frage der Einwanderung angestoßen, die insbesondere heute, in Zeiten von Flucht und Migration, eine erneute Relevanz erhält. Denn wer Fremde empfangen würde, würde auch die Gewaltsamkeit ihres Eindringens und das Nicht-integrierbare erfahren. Würde man jedoch Fremde erwarten, ihnen von vornherein mit Gastlichkeit begegnen, beraube man ihnen direkt an der Schwelle ihrer Fremdheit. Nancy geht es hier um eine nicht lösbare Aporie der Gewaltsamkeit, die darin mündet, dass Fremde immer Fremde bleiben. Denn nachdem sie angekommen sind, hört ihr Ankommen nicht auf und verbleibt in einem auf Dauer gestellten Zustand.40 Ein solches Sich-selbst-fremd-Werden, das auch Preciado in seinem Intoxikationsprotokoll verfolgt, exemplifiziert Nancy anhand seiner eigenen Herztransplantationsgeschichte, die mit theoretischen, autobiografischen und poetologischen Dimensionen einen erschütterten Organismus untersucht, der für das eigene Überleben ein fremdes Herz benötigt:

39 40

Jean-Luc Nancy: Der Eindringling. Das fremde Herz, Berlin 2000, S. 7. Vgl. Ebd.

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Man hat ein schlagendes Herz gefunden. Ziemlich schnell löst sich die zweifelhafte Symbolik einer Gabe des anderen auf, einer geheimen, gespensterhaften Komplizität oder Intimität, die den anderen mit mir verbindet. […] Keiner kann daran zweifeln, dass die Spende von Organen zur elementaren Pflicht der Menschheit geworden ist, und dass sie die Möglichkeit der Vernetzung aller schafft, die, sieht man von der Unvereinbarkeit zwischen Blutgruppen ab, keine Grenzen kennt – keine sexuellen oder ethnischen Grenzen. In meinem Fall kann das Herz einer schwarzen Frau sein. […] Doch dauert es nicht lange, bis sich der Andere als Fremder kundtut. Nicht die Frau, nicht der Schwarze, nicht der junge Mann oder Baske, sondern der durch seine Immunität gekennzeichnete andere, der unersetzbar andere, den man ersetzt hat. Man spricht von einer Abstoßung. Mein Immunsystem stößt das des anderen ab. (Das bedeutet, dass ich zwei Systeme habe, dass meine Immunität aus zwei Identitäten besteht).41 Nancy kritisiert zu Beginn des angeführten Zitats eine vereinfachte, ›reine‹ Gabenkonzeption, da es im Falle der Herztransplantation um einen prekären Gabentausch geht, der die Grenzen zwischen gebendem Subjekt, empfangendem Subjekt und dem zu gebenden Objekt nicht durch klare Ränder voneinander unterscheidbar macht. Hier zeichnet sich ab, dass es sich bei der Herztransplantation nicht um eine idealisierte und unschuldige Gabe handelt, sondern vielmehr eine Gabe, die auch zugleich Gift sein kann. Und obwohl Nancy die positiven oder emanzipatorischen Elemente der Organspende hervorhebt, also die körperliche Verschränkung und Vernetzung aller abseits von Herkunft, Klasse und Geschlecht, kritisiert er diese im gleichen Zuge. Es gibt Diskrepanzen zwischen der intendierten Gabe als ethisch richtige Organspende und den Wirkungen und Nebenwirkungen, die damit verbunden sind. Der Struktur des Pharmakons folgend ist auch die ›Organgabe‹ ein ambivalentes Unterfangen, dessen Intention nicht unbedingt deckungsgleich mit den Effekten sein muss, die es auslösen kann. Gisela Ecker hat in ihrer Untersuchung zu giftigen Gaben und Austauschprozessen in der Literatur darauf hingewiesen, dass das Wortspiel von Gift und Gabe sich auf zwei Sprachen verteilt und bereits in der deutschen und englischen Sprachentwicklung eine doppelte Semantik aufweist. Im deutschen Gabe, engl. gift, und im englischen poison, dt. Gift.42 Der Zusammenhang von Gift/Gabe ließe

41 42

Ebd., S. 31 u. 33. Vgl. Ecker: Giftige Gaben, S. 12.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

sich, so Ecker, nicht etymologisch sauber auf einen Ursprung zurückführen. Im etymologisch diversen Zusammenhang drückt sich laut Marcel Mauss die »Unsicherheit bezüglich der guten oder bösen Natur der Geschenke«43 aus, da sich Gesellschaften aus Tauschsystemen konstituieren, die auch asymmetrische und gefährliche Gaben enthalten können. Ecker weist des Weiteren auf den Linguisten Émile Benveniste hin, der anhand der Sprachwurzel *dō-, die mit einer »eigenartigen semantischen Ambivalenz« ausgestattet ist, eine Reihe von Gabenaspekten summiert: die uneigennützige Gabe, die fordernde Gabe, die mit Verpflichtungen und Aufgaben verbundene Gabe, die Gabe als Belohnung, aber auch die Gabe im medizinischen und therapeutischen Bereich, als dósis.44 Petra Gehrings Definition nicht unähnlich definiert auch Nancy die Eigenschaften des Eindringlings abseits der molaren Formen von z.B. Mann oder Frau als Funktionsgrenze und nicht als Substanzgrenze. Der angegriffene oder mit dem fremden Organ besetzte Körper ist somit kein zu Grunde liegender, sondern Ergebnis der immunologischen Grenzziehungen und Konstruktionen. Entsprechend gibt es in Nancys autobiografischer Theorie unterschiedliche Begriffe des Fremden und des Eindringens. Erstens ist es das eigene Herz, das fremd geworden ist und »ausgestoßen«, sogar »erbrochen«45 werden muss, zweitens ist es das lebensrettende Organ des oder der Anderen, das sich nach der Transplantation als lebensbedrohlich erweist, durch Immunsuppressiva reguliert werden muss und diese aber wiederum Nebenwirkungen wie »Schüttelkrämpfe«46 auslösen und dadurch eine weitere Abstoßungsdynamik anstoßen, die das Eigen-fremd-Verhältnis noch weiter verkomplizieren. Drittens ist die Frage nach der prekär-offenen Immunsituation Nancys auch eine Frage nach Identität – die Nancy in seinem Text in einem Zwischen des Eigenen und des Fremden verortet. Das Ich des Textes ist ein dezentriertes und aus zwei Immunsystemen bestehendes Ich, das ein Sprechen über ein klar gerändertes Eigenes und Fremdes unmöglich macht: »Was ist dieses ›eigene‹ Leben, das man ›retten‹ soll? Das Eigene ist, wie man sieht, keine Eigenheit, die ›meinem‹ Körper angehört.«47 Etwas weiter im

43 44 45 46 47

Marcel Mauss: Gift-Gift, in: Stephan Moebius/Christian Pappiloud (Hg.): Gift – Marcel Mauss’ Kulturtheorie der Gabe, Wiesbaden 2006, S. 13-20, hier S. 13. Vgl. Ecker: Giftige Gaben, S. 13. Nancy: Der Eindringling, S. 17. Ebd., S. 35. Ebd., S. 29.

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Text heißt es: »Identität steht für Immunität«.48 Nancy dreht diese Aporie damit auf eine weitere Stufe, indem er nicht nur das eigene und fremde Herz als gleichzeitig fremd und eigen beschreibt, sondern auch den gesamten Organismus und seine Identität als ausgesetzt und angeschlossen sieht: Der Eindringling setzt mich unverhältnismäßig aus. Er bewirkt meinen Ausstoß, trägt mich heraus und enteignet mich. Ich bin die Krankheit und die Medizin, ich bin die kanzeröse Zelle und das verpflanzte Organ, ich bin die das Immunsystem schwächenden Kräfte und deren Palliative, ich bin die Enden der eisernen Fäden, die meinen Brustkorb zusammenhalten, und die Einspritzöffnung, die für den Rest meines Lebens unterhalb meines Schlüsselbeins angebracht worden ist, so wie ich früher bereits die Schrauben in meiner Hüfte und die Platte in meinem After war. Ich verwandle mich in den Androiden der Science-Fiction oder in einen Scheintoten, wie mein jüngster Sohn es einmal ausgedrückt hat.49 Während Irmela Marei Krüger-Imhof bei ihrer Besprechung dieser zentralen Stelle darauf abhebt, dass Nancy durch die wiederholte Verwendung der »Ich bin«-Formulierungen nah an einer christlichen Passionsgeschichte schreibt und das individuelle Leiden stark mache,50 scheint es mir hier vielmehr um ein strategisch eingesetztes Ich-bin zu gehen, das als ein immanentes Plateau von Auseinandersetzungen, Anschlüssen sowie Ein- und Ausflüssen fungiert. Mit Deleuze und Guattari argumentiert, ist Nancys Ich-bin eine Beschreibung eines zerrissenen und zugleich verschränkten organlosen Körpers; der Körper als ein reizbares, offenes und biotechnologische Gefüge, bestehend aus pharmakologischen Präparaten, die ihn stabilisieren, Prothesen, die anbzw. eingebaut werden, und einem Immunsystem, das immer ein geteiltes ist. Der Körper Nancys wird so zu einer Einschreibefläche und Schnittstelle für andere Körper sowie materielle, nicht menschliche Agenten als auch für semiotische Prozesse. In seinem Körper kulminieren Praktiken des Wissens und der Biopolitik, an denen sich auch die Bereiche des Normalen und des Pathologischen, die auch das Verhältnis von Selbst und Anderen definieren, ablesen lassen können. Das ›Selbst‹, von dem Nancy spricht, ist keine stabile Entität, sondern ein unfertiges Netzwerk aus Beziehungen zwischen menschlichen, nicht menschlichen und textuellen Erzeugnissen, die die Grenzen des 48 49 50

Ebd., S. 35. Ebd., S. 49. Vgl. Krüger-Imhof: Vernetzte Körper, S. 123.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

Körperlichen immer wieder verschieben und neu justieren und ausrichten. Als ein Wissensobjekt, das den Gesetzen der Immunität folgt, wird Nancys Körper im Sinne Haraways so zu einem materiell-semiotischen Erzeugungsknoten, der eine unscharfe und vorläufige Entität darstellt, die eine Geschichte von Dingen und ihren Spuren mitträgt. Weder seine Bedeutsamkeit noch seine Materialität sind dabei präexistent, sondern ein prekärer Prozess gegenseitiger Hervorbringung: »Epistemische Dinge sind die Dinge, denen die Anstrengung des Wissens gilt – nicht Objekte im engeren Sinn, es können auch Strukturen, Reaktionen, Funktionen sein.«51 Mit dem Wissensobjekt der Immunologie, das Nancy zum Thema seines Essays macht, ist ein Austragungsort und eine Materialisierung von kulturellen und biopolitischen Auseinandersetzungen diesseits einer starren Identität geschaffen. Insbesondere Nancys Verweis auf die SF und die Definition seines eigenen Körpers als Android ist hier interessant. Die Denkfigur, die Nancy sicherlich auch vor dem Hintergrund seiner Lektüren Haraways hier meint, ist die des bzw. eher der Cyborg. Der Eindringling handelt nämlich nicht von einem mimetischen Angleichungsprozess von Mensch und Maschine, der wiederum eine ontologische Entgegensetzung implizieren würde, sondern ist im Zuge der Struktur der Immunologie eine Implosion von Organischem, Technischem und Textuellem. Bei Haraway heißt es auch: »Cyborgs sind Text, Maschine, Körper und Metapher, die allesamt als Kommunikation gedacht werden und einer Praxis verpflichtet sind.«52 Die Praxis, von der Haraway spricht, findet sich in Nancys Schreibpraxis, der Erfahrung des offenen und von pharmakologischen Stoffen und Maschinen durchfluteten Körpers, wodurch er sich einer psychischen und physischen Desintegration aussetzt, poetologisch bzw. textperformativ Rechnung zu tragen. Nancy arbeitet dabei typografisch und schriftbildlich. Der Text ist durchzogen von Absätzen, die mit Sternchen den fließenden Text unterbrechen. Zugleich setzt Nancy Anführungszeichen, Leerzeilen, Einschübe und Klammern als stilistische Mittel ein.53 Der prekären Situation des Organismus, des Körpers, des corpus, wird auf diese Weise im Textkorpus Rechnung getragen. Auch dass es kein klassischer und trennscharfer analytischer Text ist, sondern ein Text, der eben

51 52 53

Rheinberger: Experimentalsysteme, S. 24. Haraway: Die Neuerfindung der Natur, S. 154. Zu Nancys Textproduktion als Transplantationspraxis vgl. auch Irmela Marei KrügerImhof:Verpflanzungsgebiete: Wissenskulturen und Poetik der Transplantation, München 2012, S. 201-205.

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durch die Unterbrechungen, Klammern und Einschübe sowie die vielen rhetorischen Mittel als Theorie-Fiktion bzw. als ein Essay gelesen werden kann/zu lesen ist, weist darauf hin, dass Nancy mit dem Eindringling auch den Versuch unternimmt, den glatt-analytischen Korpus der Philosophie durch Rupturen, Ein- und Ausflüsse sowie Aufpfropfungen anderer Textsorten durcheinanderzumischen. Nicht zuletzt ist es eine Dekonstruktion des Selbstverständnisses der Philosophie und das Plädoyer für eine essayistische Öffnung zum Fremden und dem Anderen des Denkens.

4.1.3

Pornomacht und die potentia gaudendi

Mit dem Invasiven und Penetrativen des pharmapornografischen Regimes eröffnet sich nach Preciado eine zusätzliche Regierungsdimension, die sich mit Ökonomien des Libidinösen und des Begehrens verbindet. Die postindustrielle Produktionsweise dieses Regimes produziert nach Preciado Subjektivität, Sex und Gender nicht nur biotechnologisch, sondern auch medientechnologisch. Während die Pharmaindustrie die Produktion von Pille, Prozac und Viagra betreibt, produziert die Pornoindustrie dazu komplementäre Bilder von Blowjobs sowie unterschiedliche Penetrationen und Stellungen. Die pharmakologische Kontrolle operiert somit auch auf einer semiotischen Ebene, die sich mit Prozessen der Materialität verbindet. Die pharmakologische Kontrolle der Reproduktion ist somit eng an sexuelle Praktiken geknüpft: »Entsprechend gibt es keinen Porno ohne Antibabypille und ohne Viagra. Oder umgekehrt, es gibt kein Viagra und keine Pille ohne Porno.«54 Im pharmapornografischen Regime werden sowohl die Psyche als auch die Kategorien Sex und Gender biotechnologisch designt bzw. wie oben zitiert in eine »Erregungsmaschinerie« eingespeist. Pornografie besteht dabei nach Preciado aus zwei Hauptkomponenten. Es ist einerseits ein virtuell-masturbatorisches Dispositiv und andererseits ein Spektakel der Kulturindustrie, das telemedial vermittelt wird bzw. sich im Telemedium ereignet. Porno ist nach Preciado eine zum Spektakel mutierte Sexualität. Obwohl der Porno nach wie vor verfemt ist, ist er laut Preciado dennoch Teil der Kulturindustrie, mit den Koordinaten Performance, Virtuosität, Theatralisierung, technische Reproduzierbarkeit, Digitalität und audiovisuelle Verbreitung.55 Ziel der semiotechnischen Dimension des pharmapornografischen Regimes ist es nicht, immer mehr Lust zu 54 55

Preciado: Testo Junkie, S. 51. Vgl. ebd., S. 265-272.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

produzieren, sondern die Verwaltung und Aufrechterhaltung von Subjektivität durch die Verwaltung des Erregung-Frustration-Erregung-Kreislaufs. Der Porno macht das Private zuallererst öffentlich. Er erzeugt Bilder mit stimulierenden Eigenschaften, die sowohl bei Produzent*innen als auch beim Konsument*innen biochemische und somatische Lustmechanismen freisetzen. Das Dispositiv des Pornos setzt sich damit aus einem biochemischen und einem optischen bzw. semantischen Teil zusammen, das zu einer unendlichen Erregung der Konsument*innen führen soll. Gerade durch bestimmte Schnitte wird eine Illusion der Erschöpfungslosigkeit erzeugt und der Eindruck vermittelt, dass es kein Ende gibt. Durch die Praxis des gangbang wird die Sexualfrequenz immer weiter erhöht. Es werden dabei immer mehr Körper und Partialobjekte addiert und verkettet. Wie sich aber laut Preciado herausstellt, ist es jedoch nicht mit den Orgien Marquis de Sades oder Georges Batailles zu vergleichen. Während Sade eine auf Dauer gestellte Überschreitung einfordert, die nicht nur im Sexakt zu finden ist, sondern genauso in der Sprache, erscheint die moderne Orgie spröde und produziert, wie Preciado es nennt, einen »spermatischen Platonismus«,56 in dem vor allem nur der cumshot real ist. Es ist demgemäß nach wie vor ein heteronormatives Genre, das von männlicher Penetration beherrscht wird. Batailles Überschreitung von Grenzen bedeutet dagegen, sich selbst zu überschreiten und damit die Grenzen des eigenen Selbst und auch die Grenzen der Sexualorgane lustvoll aufzugeben. Diese Lusterfahrung geht folglich auch mit einer Todeserfahrung und mit einer Erfahrung der möglichen Selbstauslöschung einher.57 Das umfasst dasjenige, das Bataille als Exzess bezeichnet, was den eigenen Körper, der zu zerreißen droht, in dieser unerträglichen Spannung hält. Preciados Beobachtungen sind durchaus nachvollziehbar. Denn die Prozesse und die Dramaturgie des Mainstreampornos im Vergleich zu Batailles Exzessen und Ausschweifungen sind nicht an der permanenten Selbstüberbietung und dem Halten einer Spannung interessiert, die sukzessiv erweitert wird, sondern vielmehr an einer monotonen und stumpfen Wiederholung, die mit der Überschreitung und dem Exzess nichts zu tun hat.58 Die Wiederholung im Mainstreamporno ist der bloßen Kopie zugeneigt, die keine differenzlogische Ebene besitzt. Jede spontane Aktivität erscheint bis ins letzte Detail durchgeplant und kodifiziert, um bei dem ›normalisierten‹ Konsu56 57 58

Ebd., S. 268 Vgl. Georges Bataille: Die Erotik, München 1994, S. 40ff. Vgl. Marquis de Sade: Justine oder die Leiden der Tugend, Berlin 1990.

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ment*innen immer wieder die gleiche Erregung aufzurufen. Stellungen und Körper, Sprache, Geräusche und Kameraeinstellungen unterliegen im Pornofilm einer Normalisierung und strengen Kanonisierung. Die Unmittelbarkeit und das Phantasma, dass es Sex überall gibt und auch einfach so zu kriegen ist, spiegelt sich in der Tatsache, dass die Akteur*innen immer und überall alles können. Und obwohl der Porno nach wie vor ein Tabu ist, besteht die Logik des Pornos nach Preciado nicht darin, Regelverletzungen, wie sie de Sade oder auch Bataille vollziehen, vorzunehmen und das Unerlaubte sichtbar zu machen, sondern das Erregungs-Frustrationspotential aufrechtzuerhalten. Dieser Kontrollform geht es letztlich darum, die orgasmische Kraft, die potentia gaudendi, zu regieren und diese in Wert zu setzen: Diese Kraft ist ein unendliches Vermögen, sie hat kein Geschlecht, sie ist weder männlich noch weiblich, weder menschlich noch animalisch, sie ist nicht getrennt in heterosexuell und homosexuell, in Gegenstand und Subjekt, sie kennt keine Differenz zwischen Erregt-Sein und erregen bzw. selbsterregen. Sie privilegiert kein Organ gegenüber anderen. […] Die orgasmische Kraft ist die Summe des Erregungspotentials, das jedem lebendigen Molekül inne wohnt. Die orgasmische Kraft ist nicht auf ihre sofortige Entladung aus. […] Im pharmapornographischen Kapitalismus zeigt die Arbeitskraft ihr gegenwärtiges Substrat: orgasmische Kraft. Der zeitgenössische Kapitalismus macht die reine Genusskraft produktiv, ob in pharmakologischer Form (als Molekül einer Tablette, das im Körper der Konsumierenden arbeitet), in pornografischen Repräsentationen (semiotechnisches Zeichen, das in digitale Datenträger gesendet werden kann).59 Im Sinne von Spinoza bezeichnet Preciado die potentia gaudendi als eine psychisch-somatische Kraft, die ohne Geschlechts- oder Organzugehörigkeit ein immanentes, unendliches und vor allem relationales Vermögen ist, das den Drang hat, alles in Genuss zu übersetzen; also eine Kapazität besitzt, erregt zu sein oder zu erregen, erregend zu sein und mit jemandem erregt zu sein.60 Das Vorhaben des Biokapitalismus nach Preciado besteht darin, aus dieser Kraft Wert zu schöpfen und den genussproduzierenden Körper in den Dienst der Produktion des Kapitals zu stellen.61 Die Einschätzung, dass Sex 59 60 61

Preciado: Testo Junkie, S. 42f. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 121.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

und Markt unbedingte Konvergenzen herstellen, teilt Preciado mit Dagmar Herzog und Eva Illouz, die ebenfalls darauf hinweisen, dass Sexualität im 20. Jahrhundert »nicht nur zu einem Schauplatz sozialer und kultureller Konflikte, sondern auch zu einem Motor der Wirtschaftsentwicklung, zu einem Fokus für die gesteigerte Bedeutung des Einzelnen und zu einem Ort der Verhandlung zwischen Staat und Bürgern«62 geworden ist. Diese Entwicklung erkennt man z.B. eindeutig am wirtschaftlichen Segment der Sexarbeit, wo diese Kraft segmentiert und in Ware transformiert wird. Die Relevanz und Dringlichkeit sexualpolitischer Fragestellungen verstärkt sich scheinbar in neoliberalen Diskursen. Die Philosophin und Queertheoretikerin Antke Engel schreibt, dass eine ›natürliche‹ Stimmigkeit zwischen sexuellem Pluralismus und Marktpluralismus, zwischen sexueller Freiheit und Marktfreiheit behauptet wird. Es geht dabei, so Engel, eben nicht um die Erschließung von neuen Konsument*innengruppen, sondern um die Suche nach sexuellen Subjektivitäten, die der neoliberalen Ordnung dienlich sein können.63 Wie auch bereits von Foucault prominent aufgezeigt, wird Sexualität nicht erst im Neoliberalismus instrumentalisiert, vielmehr ist die Herausbildung der Sexualität selbst als diskursives Dispositiv, als regierungstechnischer Effekt zu begreifen.64 Hierzu schreibt Joseph Vogl unterstützend: »Spätestens seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts werden ökonomische Subjekte durch eine Einverseelung des Mangels produziert, sie sind zu Automaten des Begehrens geworden, die notwendig wollen (müssen), was sie nicht bekommen.«65 Preciados These, dass nämlich neoliberale Formen der Sexualität vor allem im Bereich der Pornografie intensiv regiert werden, deckt sich hier sowohl mit Vogls als auch mit Herzogs und Illouz’ Analysen der neoliberalen Verschmelzung des monetären, symbolischen und erotischen Kapitals.

4.1.4

Dem Stoff das Wort überlassen

Macht und Widerstand existieren nach Preciado, ähnlich den Ansätzen Foucaults, auf einem immanenten Plateau und sind nur in ihrer Relationalität 62

63 64 65

Vgl. Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005, S. 312f.; oder auch Eva Illouz: Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey, Frankfurt a.M. 2013, S. 39. Vgl. Antke Engel: Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, Bielefeld 2009, S. 26. Vgl. Foucault:Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, Berlin 2010, S. 43.

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zu denken. Preciados dialektisches Verständnis von Macht und Widerstand erinnert an Foucaults Konzept einer Macht, die nicht von Einzelnen ausgeübt und dann von anderen erlitten wird. Vielmehr ist sie ein strukturelles Phänomen, das als Kraft von allen Seiten kommen kann. Wenn Macht das Zusammenwirken von Kräften ist, die sich ständig überlagern, dann muss es nach Foucault zwangsläufig auch Gegenkräfte geben. Im ersten Band von Sexualität und Wahrheit, Der Wille zum Wissen, schreibt er: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.«66 Und so wie jede Machtformation erweist sich auch das pharmapornografische Regime als brüchig. Die Kontrollformen und die Technik des Pharmakoregimes können nach Preciado gegenhegemonial und affirmativ in Anspruch genommen werden. Die Kritik am pharmapornografischen Regime erfolgt mittels Indienstnahmen der chemischen Vehikel, die dieses Regime zur Verfügung stellt. Das emanzipatorische Potential der (pharmakologischen) Technik, die uns der Biokapitalismus bereithält, bleibt vor dem Hintergrund der These Preciados unrealisiert. Dietmar Dath bezeichnet dieses unausgeschöpfte Potential auch als Maschinenwinter.67 Gegenwärtige Ausformungen der Technik seien wie »schlafende Pflanzen im Winter, deren Früchte man nicht mehr ernten kann.«68 Ähnlich dem Ansatz Daths oder auch den Untersuchungen der Xenofeministinnen von Laboria Cuboniks geht es Preciado darum, sich die nicht realisierten Möglichkeiten der pharmakologischen Werkzeuge anzueignen und sie gegen ihren Zweck der Produktivitätssteigerung zu nutzen. Testo Junkie erschöpft sich damit nicht in sozialphilosophischen Analysen, sondern ist – und darin liegt der performative Einsatz Preciados – ein Rezept und eine Gebrauchsanleitung für ein pharmapolitisches Widerstandshandeln. Macht und Gift scheinen vor dem Hintergrund der Theorie Preciados die gleichen Eigenschaften aufzuweisen: aus den Wirkungen und Nebenwirkungen von Macht und Gegenmacht im Sinne Foucaults wird bei Preciado Gift und Gegengift: ein politisches alexipharmakon.69 Die Affirmation dieser Machtkonstellationen besteht 66 67 68 69

Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1, S. 93f. Dietmar Dath: Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Frankfurt a.M. 2008, S. 131. Ebd. Dieser Begriff geht zurück auf das medizinische Lehrgedicht des Arztes und Dichters Nikander, der dort diverse Gifte und Gegengifte sowie ihre Wirkungen und Nebenwirkungen aufführt. Vgl. Nikander: Theriaka und Alexipharmaka, übers. v. M. Brenning, in: Allgemeine Medizinische Central-Zeitung, 4, Berlin 1904, S. 1-42. Eine ausführliche Aus-

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nun darin, die Pharmaka, Präparate und Substanzen in einer experimentellen Weise – und gegen den ärztlichen Rat – anzuwenden, sie neu zu codieren, um einen Shift des Regimes zu ermöglichen – also die Erzeugung eines Gegengifts gegen das Regime: Einige Monate nach deinem Tod, Del, gabst du mir – mein Meister im gender hacking – einen Karton mit 30 Tütchen, jedes enthält 50mg Testosteron, als Gel. Lange habe ich sie in einem gläsernen Kästchen aufbewahrt, als ob es sich um einen sezierten Käfer handeln würde, eine Mottenkugel, aus Kadavern gewonnen, der Fötus einer unbekannten Spezies, Vampirzähne, die einem an die Gurgel springen, wenn man sie anschaut. Damals verbrachte ich viel Zeit mit meinen transgender Freunden. […] Wir betrachten Sexualhormone als frei zugängliche Biocodes, deren Gebrauch nicht durch den Staat reguliert, aber ebenso wenig von den pharmazeutischen Unternehmen konfisziert werden darf.70 Preciado fügt sich damit ganz bewusst in eine Reihe mit Selbstintoxikationen von berühmten Intellektuellen ein: Freuds Kokain, Benjamins Haschisch und Henri Michauxs Meskalin. Mittels der Einnahme von niedrigdosiertem Testosteron wird damit, wie Daniel Loick konstatiert, eine Gegenübung71 praktiziert, die auch als ein Gegenwissen zum vorherrschenden Regime gedeutet werden kann – jedoch keinesfalls Beliebigkeit bedeutet, sondern die sorgfältige Protokollierung der eigenen Transformation: Als Körper bin ich die Plattform, auf der sich die politische Vorstellungskraft verkörpern lässt – und nur das ist es, was am Subjekt-Körper, am lebendigen, technoiden System zählt. Ein kurzer Moment bereits genügt dem Testosteronmolekül, um aus mir etwas zu machen, das sich radikal von einer cis-Frau unterscheidet. Das gilt auch dann, wenn diese vom Molekül her-

70 71

einandersetzung damit findet sich vor allem bei Louis Lewin: Die Gifte in der Weltgeschichte. Toxikologische allgemeinverständliche Untersuchungen der historischen Quellen, Berlin 1971; und in Christoph Friedrich/Wolf-Dieter Müller-Jahncke (Hg.): Gifte und Gegengifte in der Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 2012; und natürlich die Publikation Fuest: Poetopharmaka. Preciado: Testo Junkie, S. 57. Vgl. Daniel Loick: General Sex. Daniel Loick über »Testo Junkie« von Paul B. Preciado, in: Texte zur Kunst. Heft 98: Medien, 25 (Juni), 2015, S. 181-192, online unter: https://www.textezu rkunst.de/98/general-sex/aufgerufen am 01.06.2022.

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vorgebrachten Veränderungen sozial kaum wahrnehmbar sind. Ich bin mir selbst ein Versuchskaninchen in einem Experiment.72 Preciados Ansatz ist, wie ich es bereits angedeutet habe, eine Mixtur aus der Distanziertheit wissenschaftlicher Analyse, ihrer subjektiven Involviertheit in die Versuchsanordnung gekreuzt mit poetischen bzw. poetologischen Elementen. Durch die Einnahme der Substanz, Beobachtung und genauste Protokollierung des Transformationsprozesses wird Preciado sowohl zum Subjekt als auch zum Objekt dieses Selbstexperiments. Wie Kathrin Peters auf der im November 2018 abgehaltenen Tagung Ecologies of Gender an der Freien Universität Berlin in ihrem Vortrag »Politische Drogen« pointiert, ähnelt das Protokoll Preciados stilistisch an einigen Stellen einer tagebuchartigen Selbstvergewisserung. Dennoch betreibt Testo Junkie, so Peters weiter, keinen Identitätsdiskurs, sondern verfolgt einen differenztheoretischen Ansatz, indem Identität immer schon als komponiert gedacht wird.73 Diese Einschätzung trifft den Kern insofern, als es sich um eine mannigfaltige Entität handelt, bestehend aus chemischen Substanzen, Texten, Körpern und Bildern, die auch für Preciados Schreiben und den Umgang mit Theorie nicht folgenlos bleibt: »Ich habe keine Wahl, ich muss meine Klassiker revidieren und meine Theorien diesem Erdbeben des Testosterons aussetzen. Ich muss akzeptieren, dass die Verwandlung, die sich in mir ereignet, die Metamorphose einer Epoche ist.«74 Dieses »Erdbeben des Testosterons« münde, wie Peter Rehberg in seiner komparatistischen Analyse zu Preciados Testo Junkie und Maggie Nelsons Argonauten zu zeigen versucht, in Gewalt und somatischer Heimatlosigkeit des Autors. Preciados beschleunigter Körper bliebe »dem Register des Paranoiden« verhaftet und zeichne sich durch eine Härte und durch Figuren des Phallischen aus.75 Rehberg argumentiert damit gegen Preciados radikale Entgrenzung und für Momente der privaten Intimität, Nähe und Zugehörigkeit, die er in dem Text Nelsons lokalisiert. Er hat sicherlich Recht, was den Sexualitätsbegriff bei Preciado angeht, denn Testo Junkie macht an einigen Stellen klar, dass eine Privatheit der Intimität eine Verklärung ist und 72 73 74 75

Preciado: Testo Junkie, S. 146. Vgl. Kathrin Peters: Politische Drogen. Materialität in Testo Junkie, Vortrag auf der Tagung Ecologies of Gender, Freie Universität Berlin, 01./02.11.2018. Preciado: Testo Junkie, S. 23. Peter Rehberg: Queere Autofiktion als Körperprotokoll, in: Texte zur Kunst. Heft 115: Literatur, 29 (September), 2019, S. 93-117, hier S. 104, online unter: https://www.textezurkun st.de/115/queere-autofiktion-als-korperprotokoll/, aufgerufen am 01.06.2022.

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dass es nichts außerhalb des Politischen gibt: »Zur Romantik einer nicht öffentlichen Sexualität lässt sich nicht zurückkehren, einen intimen und nicht industrialisierten Körper gibt es nicht.«76 Auch in Bezug auf den Begriff der Liebe konstatiert Preciado trocken und geradezu systemtheoretisch unaufgeregt: »Liebe, das prothetische System psychosomatischer Informationen, verwandelt uns in ein abhängiges kybernetisches Monster. […] Liebe ist eine Kybernetik der Abhängigkeit.«77 Ebenso wie die Konfigurationen von Gender sind auch Sexualität und Liebe Dispositive der Macht, die hergestellt sind und eben keine Natürlichkeit besitzen. Jedoch bleibt es nicht bei dieser Definition, sondern Preciado setzt auch den Begriff der Liebe einer Transformation aus bzw. verwendet ihn polysem. Denn an anderer Stelle heißt es: »Ich schließe mich in das Badezimmer ein, um mir eine Dosis von T. zu geben. V. legt eine Dokumentation von Monterey ein: die Stimme von Janis Joplin eröffnet einen universalen Kanal musikalischer Vibrationen und auf einmal kann man Liebe atmen.«78 Preciado entwirft eine Junkieszenerie und lässt Liebe in drei Registern spielen: einerseits die Liebe als Droge, die Liebe zur Droge und schließlich eine Liebe, die sich nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen reduzieren lässt, sondern als ein universaler Kanal präsentiert, der nicht auf Subjekt-Subjekt-Relationen einzugrenzen ist. Rehberg stellt also richtig fest, dass es sich bei Preciado um eine Nichtzugehörigkeit im eigenen Körper und auch in der eigenen Sprache handelt. Es erscheint mir jedoch wenig sinnvoll, zwei queere Schreibprojekte so radikal dichotom zu porträtieren, dabei Preciados Text durch das Adjektiv paranoid zu pathologisieren und ihm dabei die poetische und »reparative Kraft des Weltbezugs«79 abzusprechen. Rehberg verklärt scheinbar in seiner Analyse den Begriff der Poetik zu einer in sich ruhenden, schöngeistigen Praxis, in der Momente der Entfremdung, Überforderung und Irritation keinen Platz finden. Sowohl Nelsons als auch Preciados Texte transportieren auf ihre je eigene Weise ein unruhiges und dekonstruktives Schreiben, das zu einer Selbstermächtigung führen soll. Sowohl das Protokoll der Schwangerschaft Nelsons und die Beschreibungen der Transition ihres Partners als auch das auf Dauer gestellte ›Anders-Werden‹ Preciados sind Formen der Transformation, deren Ausgang und Glücksversprechen ungewiss bleiben. Beide verfolgen ein politisches Projekt, das den

76 77 78 79

Preciado: Testo Junkie, S. 271. Ebd., S. 396. Ebd., S. 253. Vgl. Rehberg: Queere Autofiktion, S. 116.

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Solipsismus eines Tagebuchs oder eines Protokolls in ein Gefüge einspeist, um zu neuen Subjektivierungsweisen zu kommen.

4.1.5

Sich ent-schreiben

Das Ich in Testo Junkie ist entsprechend keine auktoriale Instanz, die sich bei dem solipsistischen Selbstversuch beobachtet und damit eine falsche Objektivität erzeugt. Es ist eine situierte und dezentrierte Subjektivität, die sich in einem immunologischen Spannungsfeld zwischen Subjekt und Objekt, zwischen eigen und fremd, zwischen Wirkstoff und Selbst einreiht und dadurch die Überschreitung der großen Trennungen und eines mit sich selbst identischen Subjekts sucht. Dieses transversale Subjekt ist zugleich eingelassen in das pharmapornografische Subjektivierungsregime, innerhalb dessen die eigenen hormoninduzierten somatischen und psychischen Veränderungen beobachtet werden – und zwar im Modus des Schreibens. Nicht nur auf der stilistischen bzw. semantischen Ebene, sondern auch auf der Seite der Syntax macht sich das affizierte und beschleunigte Schreiben Preciados bemerkbar. Dementsprechend behandelt Testo Junkie nicht nur Drogen und andere Substanzen auf einer Analyseebene, vielmehr werden Textproduktion und das Schreiben in ihrer metafiktionalen Performanz selbst als Droge konsumierbar. Die Wirkungen von Testosteron entfalten sich somit nicht nur im Körper bzw. werden von ihm verkörpert, sondern materialisieren sich auch im Text, der wiederum Wirkungen bei der Rezeption, also dem Konsum und der Intoxikation, entfaltet. Der spekulative Versuchsaufbau, in dem Preciado seinen eigenen Körper einspannt, stellt also durch die Engführung von Droge und Text die Frage danach, was passiert, wenn man den Stoffen, Substanzen und der Materialität das Wort überlässt. Welches neue und vielleicht widerständige Sprechen und Schreiben entsteht, wenn Materie in einer medialen Konstellation wirksam wird? In Testo Junkie verhält es sich so, dass weder Text noch Körper oder die chemischen Artefakte einfach gegeben sind. Vielmehr werden diese Elemente zu einem geteilten Gefüge, in dem nicht die Erfahrung von Intoxikation den Vorrang bekommt, die dann nachträglich protokolliert wird, sondern die Intoxikationserfahrung formiert sich erst in einem delirierenden, affektiv aufgeladenen und nicht repräsentativen Schreiben, das, wie es Nancy betont, »an den Körper rührt, anstatt ihn zu bezeichnen oder ihn dazu zu bringen, dass er bezeichnet.«80 Es ist also nicht das schreibende 80

Jean-Luc Nancy : Corpus, Berlin 2014, S. 14.

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Subjekt, das sich die Substanz für das Schreiben aneignet und sie signifiziert, sondern umgekehrt schreibt die Substanz das Subjekt. Schreiben und Textproduktion als eine ordnende Praxis, die den Gesetzen der Syntax und der Grammatik unterworfen ist, weisen nicht unbedingt die Nähe zu Affekten oder dem Affektiven auf. Man könnte sogar mit Erin Manning, bezugnehmend auf die Affekttheorie Massumis, noch weiter gehen und sagen, dass Affekte der Sprache gerade zuwiderlaufen, da sie sich in ihrem Entzug aus der Signifikanz und Präsenz, ihrem »Mehr als der Ausdrückbarkeit der Sprache«81 gegen die fixierenden und präpositionalen Eigenschaften der Sprache wenden. Doch genau in dieser Unvereinbarkeit scheint Preciado die produktive Dimension für sein Projekt zu sehen, wenn er* schreibt, dass er* seine* Mutation und sein* Molekular-Werden nur schreibend angemessen bezeugen kann: »Das Schreiben ist der Ort meiner heimlichen Sucht und hier ist es auch, wo, zur gleichen Zeit, ein Pakt möglich wird mit Vielen, mit einer Multitude.«82 Schreiben wird bei Preciado demnach nicht dem vermeintlich nicht zu beschreibenden Affekt entgegengesetzt, sondern zu einer relationalen Praxis, die nicht über den Körper schreibt (ihn also nicht als Objekt des Schreibens signifiziert), sondern den Versuch unternimmt, den affizierenden und affizierten Körper selbst zu schreiben. Der geschriebene Text materialisiert sich demnach nicht als Nachrangigkeit des Denkprozesses, sondern ist ein elastisches Einfalten und Mit-Schreiben, das dem Denkprozess nicht äußerlich ist. Deleuze nennt dies Ausdruck, also ein Schreiben, das nicht das Ergebnis von Affizierungen ist, sondern der umkämpfte Schauplatz, auf dem die möglichen Verbindungen zwischen Subjekten, Objekten und anderen Texten mit pharmakologischen Substanzen in ein Diffusionsverhältnis treten: Als ich mich für meine erste Dosis Testosteron entscheide, spreche ich mit niemandem darüber – als handele es sich um eine harte Droge. […] Ich habe kaum angefangen und benehme mich schon, als wenn ich von einer verbotenen Substanz abhängig wäre. Ich verstecke mich, beobachte und zensiere mich, ich übe mich in Zurückhaltung. Am nächsten Abend, fast zur gleichen Zeit, nehme ich zum zweiten Mal eine Dosis von 50mg. Am Tag danach wieder, das dritte Mal. […] Ich kann diesen Prozess nur schreibend angemessen

81

82

Vgl. Erin Manning: Das Ereignis des Schreibens: Brian Massumi und die Politik des Affekts, in: Brian Massumi: Ontomacht: Kunst, Affekt und Ereignis des Politischen, mit einem Vorw. v. Erin Manning, aus dem Engl. v. Claudia Weigel, Berlin 2010, S. 7-24, hier S. 10. Preciado: Testo Junkie, S. 57.

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bezeugen. […] In der vierten Nacht schlafe ich nicht […]. Um vier Uhr morgens schreibe ich noch, ohne das geringste Zeichen von Müdigkeit. Aufrecht vor dem Fenster sitzend, fühlen sich die Muskeln meines Rückens wie kybernetische Kabel an, die aus dem Boden der Stadt kommen, zunehmend größer werden, mein Hirn erreichen und mich mit den Planeten verbinden, die der Erde am weitesten entfernt liegen.83 Deutlich tritt ein Hybrid aus der Distanziertheit einer wissenschaftlichen Analyse, der eigenen Verstrickung in die Versuchsanordnung und einer literarisch-dokumentierenden Schreibweise hervor, die Preciado sowohl zum Subjekt als auch zum Objekt des Selbstexperiments macht. Auf der Ebene der Syntax sind es vor allem die vielen parataktischen Satzkonstruktionen in den Textteilen, wo es um Beschreibungen der Wirkungen von Testosteron geht, die geprägt sind von einem Notizstil, der durch Dehnung und Raffung die Erzählgeschwindigkeit variiert. Das erzeugt den Effekt eines pulsierenden Textes, der sich von einem Hauptsatz in den nächsten wirft und damit eine Mixtur aus dokumentarischer Präzision und der Zerrissenheit und Heterogenität des schreibenden Subjekts darstellt. Diese Textstrategie erzeugt vor allem einen Eindruck von Ruhelosigkeit, Dynamik, Atemlosigkeit und Exzess, der sich in rhetorischen Mitteln wie Aufzählungen, Ellipsen und Hyperbeln spiegelt. Die überstürzt hingeworfenen Sätze dienen erstens als ein rhetorisches Stilmittel, um einen Zustand höchster Erregung zu erzeugen. Zugleich, und das insbesondere innerhalb der pornografischen Stellen des Textes, auch für die Evokation von Drastik und Gewalt: Ich merke, wie die letzten vier Dosen Testosteron miteinander interagieren, zum ersten Mal bildet sich eine Art chemischer Block und ich bin ziemlich drauf. Die Haut im Inneren meines Mundes wird dick. Meine Zunge ist wie ein erigierbarer Muskel. Ich fühle, dass ich die Fensterscheibe mit meiner Faust einschlagen könnte. Ich könnte bis auf den Balkon meiner Nachbarin springen und die Nachbarin ficken. Dieses Mal pusht mich das Testosteron wie ein energetisches Biosupplement, aktiviert im Rahmen eines weiblichen Kulturprogramms.84 Preciado setzt drastische pornografische Elemente ein, um eine Wucht des Gegebenen und des Wahrhaftigen zu erzeugen. Drastische Darstellungen zei-

83 84

Ebd., S. 57f. Ebd., S. 101.

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gen auf eindringliche und auch eindringende Art und Weise das, was nicht gesehen werden will. Martin Saar schreibt zu dem Verhältnis von Drastik und Affekt, das sich Drastik auf etwas Reales beziehe: »[D]er Drastiker lügt nicht und spielt auch nichts vor«.85 Damit ist die Dimension des Wahrsprechens bzw. eines Aussprechens des Verfemten und Ausgeschlossenen gemeint, das mit einer Wucht des Affekts antrifft und dem man sich nicht entziehen kann. Mit Foucault ließe sich hier von einer parrhesia sprechen.86 Darunter versteht Foucault eine explizite, unverblümte und deutliche Wahrheit als Kritik am Bestehenden, indem sie das zu Tage fördert, das ausgeschlossen ist. Parrhesia von griech. pan (alles) und rhema (das Gesagte) bedeutet, ungeschützt seine Meinung zu äußern, frei zu sprechen und Kritik zu üben, auch wenn man riskiert, sich dadurch Gefahren auszusetzen. Dem folgend sind es nicht nur die Übertreibung, Zuspitzung, die Härte oder die pornografische Provokation, die in Testo Junkie schocken, sondern die Drastik der parrhesia über und mit einem sich entgrenzenden Körper. Das Testogel, das von Preciado auch als berauschende Droge87 in Dienst gestellt wird, kommt also nicht als kritisches Erkenntniswerkzeug zum Einsatz, das die Sinne erweitern soll, sondern als eine chemische Spekulation, die libidinöse Überschreitungsmomente, Verkettungen und eine immanente Reorganisation und Beschleunigung des Körpers bewirken soll. Das Testogel als ein »energetisches Biosupplement« wird somit auch Teil eines Libido-enhancement, das hier in der Drastik der Darstellung nicht buchstäblich und auch nicht kontextunabhängig gelesen werden sollte. Die Härte und das Phallische, das in der Balkonszene von Preciado imaginiert und von Rehberg im Gesamttext von Preciado als machistisch identifiziert wird, ist vor dem Hintergrund lesbischer Kultur nicht einfach

85 86

87

Vgl. Martin Saar: Zu viel. Drastik und Affekt, in: Polar. Heft 16: Kunst der Drastik, 9, (Frühjahr) 2014. S. 19-25, hier S. 19. Vgl. dazu die Spätschrift Foucaults; Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II, Vorlesungen am Collège de France 1983/84, Frankfurt a.M. 2012. Preciado betont hier auch eine leistungssteigernde und intensivierende Wirkung des Präparats, obwohl es keine pharmakodynamische Indikation dafür gibt. Pharmakodynamik ist die Lehre über die Wirkung von Arzneistoffen im Organismus und ein Teilgebiet der Pharmakologie. Die Pharmakodynamik beschreibt die Wirkungen auf den Körper, während die Pharmakokinetik die Verteilung und Verstoffwechselung im Körper behandelt. Im MSD-Manual, ein Handbuch für medizinisches Wissen, finden sich weder Hinweise auf eine psychoaktive noch auf eine aufputschende Wirkung des Testosterons.

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eine Ausformung von Gewalt oder der Verlust von Intimität, sondern eben auch Teil von lesbisch-queerer bzw. von einer Butch-Femme-Kultur, wodurch Preciado, der/die eher lesbisch als heterosexuell ist, als eine »non-uncomplicated she«88 begriffen werden müsste, anstatt rein toxisch maskulin und mit rein phallischen Logiken.89 Die Schwingungen und das Ausloten einer queeren (Nicht-)Identität wiederholen sich performativ im Schreiben Preciados. Das penible Selbstprotokoll schwankt zwischen einer präzisen und nahezu naturwissenschaftlich akribischen Dokumentation der Wirkungen des chemischen Experiments und einer narrativen und fabulierenden Dimension, in der das Selbst sowohl Subjekt als auch Objekt des chemischen Experiments zugleich ist. Testo Junkie wird so zu einem Text, der sich permanent in Bewegung befindet und sich scheinbar weder als eine Form des life writings, also einer theoretischen Biografie, noch als eine Autofiktion definieren lässt, sondern vielmehr diese Genres zu vereinnahmen und für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren sucht. Preciado selbst definiert, wie bereits zitiert, den eigenen Text als eine »somapolitische Fiktion«90 – also weder als eine reine philosophische Autobiografie noch als eine Theorie des Selbst, sondern gerade ihren verkörperten und experimentellen Kurzschluss. Preciados Testo Junkie stellt ein life writing dar, das weder einen sozialen oder diskursiv angeleiteten Bios, also ein persönliches Leben, noch ein rein unpersönliches und reines Leben als Zoë erzählt.91 Ausgehend von der Bios/Zoë-Unterscheidung trägt Testo Junkie dem Umstand Rechnung, dass life nicht nur den Bios der Biografie als ein soziales, diskursives und politisches Leben umfasst, sondern auch Zoë, als eine unpersönliche, formlose und transversale Vitalität, die allem Lebenden inhärent ist. Denn es erschöpft sich, so zeigt dies Preciados Text eindringlich, keine Biografie im Begriff des Bios. Genau wie eine Erzählung der Zoë es unmöglich macht, das ›reine Leben‹ zu erzählen bzw. dieses zu theoretisieren. Das Verhältnis von Bios und Zoë, Lebensform und Leben, koinzidieren und koexistieren in der somato-politischen Fiktion, die nur in der experimentellen sowie an sich selbst angewendeten und erprobten Selbsttheorie verwirklicht werden kann.

88 89 90 91

Vgl. dazu Judith Halberstam (Jack Halberstam): Female Masculinity, Durham 1998. Ich danke Naomie Gramlich sehr für diesen Hinweis und den Austausch darüber. Preciado: Testo Junkie, S. 119. Zu dieser Unterscheidung und der ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Bios/ Zoë-Diskurs vgl. Martin G. Weiß (Hg.): Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 2009.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

Das Konzept des Selbst, das dem Vorhaben Preciados zu Grunde liegt, ist nicht eine Form der Selbstoptimierung oder Beherrschung, sondern vielmehr eine Selbstentblößung; eine Theorie des Selbst, die auch über den Aspekt der Autofiktion hinaus mit einer Fülle von intertextuellen und literarischen Bezügen operiert. Mit der metaphorischen Engführung von Muskeln und »kybernetische[n] Kabel[n]« ruft Preciado einerseits Bilder von beschleunigten Biomaschinenkörpern des Cyberpunk auf den Plan, und andererseits ist es ein Verweis auf Daniel Paul Schrebers autobiografische Fiktion Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903). Bei Schreber sind es Nerven, die eine zentrale Rolle spielen und – nicht unüblich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinen Medien der Elektrizität – mit Kabeln gleichgesetzt werden, die in Schwingung gebracht werden können.92 Die Verschränkung des biotechnologisch und medial durchdrungenen Körpers, der zunächst mit der Stadt und dann mit dem Universum eine kosmologische Allianz eingeht, ist ein Bild, das Preciado Katsuhiro Otomos Cyberpunk-Anime Akira (1988) entlehnt. In einer der letzten Szenen des Anime mutiert der Protagonist Tetsuo zu einem kybernetischen Superwesen, das aus technologischen Trümmern, dem Asphalt der Stadt und aus dem Boden kommenden Rohren besteht. Akira untersucht ästhetisch die Potentiale von trans- und posthumanen Verbindungen, die in eine alternative Evolution führen sollen, um dem repressiven System NeoTokyos zu entkommen. Heranwachsend zu einer gigantischen Fötus-Amöbe verschlingt Tetsuo alles, was eine mögliche Nahrungsquelle sein könnte. Als Allegorie stellt der Protagonist eine Lebensform dar, die lebendiger ist als das Leben selbst – evolutionäre Revolution nicht durch filiative Ausdifferenzierung, sondern durch transversale, involutive Verbindungen und genetische Abkürzungen, die zu einer auf Dauer gestellten Mutation führen. Dieser Animefigur nicht unähnlich gerät auch Preciado durch die Intoxikation in eine rhizomatische Transformation, die ihn zu einer transversalen und transhumanen Mensch-Maschine-Kreatur werden lässt. So ist die vergleichende Redewendung von Muskeln als »kybernetische Kabel« nicht nur ein Verweis auf den Anime, sondern auch eine Zäsur, die das pharmapornografisch regierte Subjekt von dem fordistisch-modernen abgrenzen soll. Der chemisch aufgerüstete Körper93 korrespondiert so mit einer metafiktionalen Dimension der Schreibpraxis Preciados. Als eine Körperpraxis bedeutet Schreiben in diesem 92 93

Vgl. Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, 1903. Hier sei angemerkt, dass der Körper, der im pharmapornografischen Regime erweitert, aufgerüstet und damit aufgepumpt wird, ein Männerkörper zu sein hat.

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Sinne, andere Texte wie chemische Stoffe in den eigenen Textkörper einzubauen, sie miteinander reagieren zu lassen, sie zu überschreiben oder sie zu ersetzen. Testo Junkie wirkt. Es wirkt auf diese Weise als Text, als eine nicht substantielle Substanz, als ein literarisch-theoretisches Placebo und als Tropium, das eine Rezeptur für eine experimentelle Anmischung von eigenen Giften und Gegengiften bereitstellt, um neue aufbegehrende Körper und neue materiell-semantische Autoritäten herstellen zu können. Preciados somapolitische Fiktion wird so zu einer seiltänzerischen und prekären Text-KörperSpekulation, die das Wagnis eingeht, den eigenen Körper auf die Probe zu stellen, um sich einer kausalen, binären und männlich-kodierten Genesis zu widersetzen. Preciado wird so selbst zu einer ästhetisch-chemischen Prothese – zu einer Körperfiktion, die die großen Trennungen auszuhebeln versucht. Wenn Sara Ahmeds Behauptung, »theory can do more the closer it gets to the skin«,94 ein Aufruf dazu ist, Körpertheorie nicht nur zu (be)schreiben, sondern diese auch zu verkörpern und zu performen, dann ist Testo Junkie diese Körpertheorie – eine Körperfiktion, die sich nicht eindeutig in die Kategorien von Realität und Irrealität oder Diskurs und Materie hineinzwängen lässt. Dieser transhumane Körper wird mittels Injektionen und Infektionen selbst zu einer lebendigen ästhetisch-chemischen Prothese, da er sich nicht nur das Hormon oder das Molekül verabreicht, sondern ebenso die Idee, die Repräsentation dieses Hormons; also eine Reihe von Zeichen, Codes und Diskursen – den gesamten Prozess, den ein Präparat durchläuft, vom Labor über die Apotheke in den Organismus und wieder hinaus. Preciados Plädoyer für eine Widerständigkeit und immunologische Abwehr im Biokapitalismus ist demnach das experimentelle Anmischen eigener Gifte und Gegengifte, um damit neue Körper und neue materielle Autoritäten herstellen zu können. Preciados Körper wird somit selbst zur materialisierten Fiktion: zu einer Pharmakofiction.

94

Sara Ahmed: Living a Feminist Life, Durham/London 2017, S. 10.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

4.2

»Wahrheit ist nicht metaphysischer, sondern chemischer Natur«. Viktor Pelewins pharmapornografisches Regime im Roman  Das fünfte Imperium

Biopolitisches Wissen biotechnologischer und pharmakologischer Kontrollgesellschaften, wie es Preciado im Anschluss an Foucault und Deleuze formuliert, lässt sich auffällig oft in den dystopischen SF-Narrativen der postsowjetischen Literatur lokalisieren. An dieser Stelle soll eine paradigmatische Fiktion herausgegriffen werden, die sich als eine poetische und poetologische Aneignung von Preciados Theorie der pharmapornografischen Gegenwart avant la lettre lesen lässt und Preciados Gegenwartsbeobachtungen literarisch vorwegnehmen. Gleichzeitig soll diese nicht isoliert betrachtet werden, sondern als ein Teilstück eines größeren literaturtheoretisch-philosophischen Zusammenhangs. Während in der Sowjetunion das Genre der SF als technikbegeisterte Staatsutopie ideologisch unproblematisch war und sich ganz besonders in den Raumfahrtfiktionen ein soziales Glücksversprechen ausdrückte, scheint sich auf der gegenwärtigen Landschaft russischer Fantastik eher Ernüchterung auszubreiten, die vielmehr in Apokalypse und kataklystischen Phantasmen mündet. Im 20. Jahrhundert war, wie Ulrich Schmidt betont, das Gesellschaftsprojekt der Sowjetunion geradezu besessen von glücklichen Zukunftsfiktionen nicht nur für Russland, sondern auch für die gesamte Welt.95 Dieses Glücksgefühl habe sich transformiert in Erzählungen, in denen sich die um ihr Leben kämpfenden Protagonist*innen in einer Welt nach der Katastrophe zurechtfinden müssen. Alexander Etkind beschreibt diese Entwicklung auch als »Post-Soviet Hauntology«96 und meint damit eine Mixtur aus katastrophaler Vergangenheit, pathologischer Gegenwart und gefährlicher Zukunft. Beispielhaft sei für diese Art der Fiktion Dmitri Gluchowskis Roman Metro 2033 (2005) genannt. Im Jahre 2013 verwüstet ein Atomkrieg den Großteil der Welt. Die düstere Nachwelt organisiert sich nicht in Staaten und Ländern, sondern in unter der Erde eingerichteten Habitaten, die gegen mutierte Lebensformen auf der Erdoberfläche kämpfen müssen. Eine weitere Umsetzung dessen ist das Computerspiel S.T.A.L.K.E.R. Shadow of Chernobyl

95 96

Vgl. Leonid Heller/Michel Niqueux: Geschichte der Utopie in Russland, BietigheimBissingen 2003. Alexander Etkind: Warped Mourning: Stories of the Undead in the Land of the Unburied, Stanford 2013, S. 196.

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(2007). Angelehnt an das Nuklearunglück in der Nähe der Kleinstadt Pripjat und an Tarkowskis gleichnamigen Endzeitklassiker Stalker (1979) imaginiert das Spiel einen weitaus schlimmeren Atomunfall, der die kontaminierte Zone in ein von Mutant*innen und seltsamen giftigen Gegenständen bewohntes Niemandsland verwandelt. Der Protagonist des Spiels verliert sein Bewusstsein und muss sowohl innerhalb der kontaminierten Zone das Rätsel der nuklearen Katastrophe lösen, als auch seine verlorenen Erinnerungen und seine Identität wiederherstellen. Das Spiel sieht sieben unterschiedliche Enden vor, aber nur eines davon hat einen positiven Ausgang. Wie Ulrich Schmid betont, führen beide Fiktionen ein Stück weit die kulturelle Befindlichkeit Russlands vor, die das kommunistische Utopieversprechen in nacktes Überleben, Hoffnungslosigkeit und Angst verwandelt. Postsowjetische Gegenwart lässt sich so nicht als ein sich im Aufbruch befindendes Jetzt, das noch eine Zukunft vor sich hat, sondern als ein stillgestelltes Produkt einer katastrophalen Vergangenheit lesen: »Zeit wird nicht mehr als kontinuierliche Entwicklung wahrgenommen, sondern als eine Abfolge traumatischer Ereignisse, die bereits geschehen sind oder bald geschehen werden.«97 Schmid kommt zu der Einschätzung, dass das Gegenwartsbefinden einer verlorenen progressiven politischen Imagination und das nukleare Trauma – erstens – literarische Motive über das Monströse, Skurrile, Abjekte und Toxische hervorgebracht hat, in denen zumeist ein »nüchterner Beobachter« in eine »betrunkene Wirklichkeit« hineingeworfen ist,98 und – zweitens – Motive, die sowohl unmittelbar mit Toxizität als auch mit dem Verlust subjektiver Autonomie der russischen Gegenwart einhergehen: die Motive des Öls, des Blutes und der Droge. Insbesondere Öl als ein Hyperobjekt tangiert nicht nur die ökologische und ökonomische Sphäre, sondern durchdringt, wie bereits im ersten Kapitel gezeigt, nach Timothy Morton in seiner »Zähflüssigkeit, Quetschung, Nonlokalität und Transdisziplinarität«99 unsere Existenz in Gänze. 97 98

99

Ulrich Schmid: Technologien der Seele. Vom Verfertigen der russischen Gegenwartskultur, Frankfurt a.M. 2016, S. 319. Etkind: Warped Mourning, S. 235. Dies äußert sich ebenso in der polnischen Literatur, wie Yvonne Pörzgen anhand russischer und polnischer Gegenwartsliteratur in besonderer Berücksichtigung des Alkohols als Droge herausarbeitet. Innerhalb Pörzgens Dissertationsschrift spielen die Romane Pelewins zwar eine Rolle, jedoch bleibt der Roman Das fünfte Imperium ein Desiderat und in Bezug auf prekäre Stoffe und Drogen der interessanteste von allen. Vgl. Yvonne Pörzgen: Berauschte Zeit. Drogen in der russischen und polnischen Gegenwartsliteratur, Köln/Weimar/Wien 2008. Morton: Hyperobjects.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

Die Handlungsmacht und der Eigensinn von Öl – einem Stoff, der heute als eines der zentralen Elemente im Zeitalter des Anthropozäns in Stellung gebracht wird – wird bereits in den späten 1990er Jahren in der russischen Literatur literarisch vorweggenommen; das Motiv vermischt sich in poetischer und poetologischer Hinsicht mit den Motiven des Blutes und der Droge. Denn als flüssiges Organ des Körpers ist Blut nicht nur eine medizinische Kategorie, sondern auch Zeichengefüge, das mit einer Dignität und mit enormen semiotischen Energien ausgestattet ist. Als Lebenssaft oder auch als die »innerste Essenz des Menschen«100 ist der Stoff des Blutes auch ein Metaphernfeld, das in der russischen Literatur zum zentralen Topos geworden ist. Gleichzeitig und unabhängig von künstlerischer Tradition und Genrezugehörigkeit fungiert die Metaphorik des Öls als ›Blut der Erde‹ in vielen Texten der russischen Gegenwartsliteratur nicht nur als die wichtigste Energieressource der modernen Welt, sondern auch als Movens von Historie überhaupt und als Katalysator für kulturelle Erinnerung.101 In den Fiktionen der russischen Fantastik der späten 1990er und 2000er Jahre ist bereits ein Kristall dessen zu finden, was Preciado gegenwärtig als das pharmapornografische Regime bezeichnet. Pelewins Roman Das fünfte Imperium dockt gewissermaßen an diese Entwicklung an und stellt literarische Spekulationen über das Verhältnis von prekärer Stofflichkeit, Philosophie und Biopolitik an, wodurch das technoide Subjekt des pharmapornografischen Regimes von Preciado vor allem in der russischen Literatur eine Ausformung findet, die Stofflichkeit und Literarizität verschränkt.

4.2.1

Diskurs und Glamour

Das fünfte Imperium, untertitelt mit Ein Vampirroman, deutet – wenn man einige der russischen Dystopien kennt – bereits an, dass es sich nicht um einen klassischen Vampirroman handelt, sondern vielmehr um einen Hypertext, der seine literarische Intensität aus der Disparatheit und Hybridität der unterschiedlichsten Untergattungen der Fantastik gewinnt. Pelewin schreibt

100 Vgl. zur Semiotik und der sozialen und kulturellen Bedeutungsdimension des Blutes auch Hendrik Blumenrath: Blutbilder. Mediale Zirkulationen einer Körperflüssigkeit, Bielefeld 2004, S. 10. 101 Zu der metaphorischen Vermischung von Öl, Blut und kultureller Erinnerung vgl. Ilya Kalinin: Petropoetics, in: Evgeny Dobrenko/Mark Lipovetsky (Hg.): Russian Literature since 1991, Cambridge 2015, S. 120-145.

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eher von der Peripherie der Fantastik ins Innere hinein, statt sich fest in einem Genre zu verorten. Sein Roman beschreibt so auf vielen Ebenen die prekären Bedingungen von Literatur und Gesellschaft im Zeitalter der Krise der so genannten Postmoderne. Viele Stimmen der russischen Literaturkritik sprechen dementsprechend von einer Mixtur aus Fantasy, Cyberpunk-SF, postsowjetischem Surrealismus oder auch von intellektuellem Pop.102 Das literarische Erzählsetting des Romans ist eine kontrafaktische Geschichte des Menschen und ein alternativer Verlauf der Evolution. Unterschiedlichste Phänomene – die ersten Formen des Lebens, die Genealogie der Zivilisation, die politische Ökonomie sowie die postsowjetische Gegenwart – basieren in Pelewins Roman auf der Zirkulation flüssiger und nur äußerlich unterscheidbarer Substanzen. Die kontrafaktische Fiktion lässt sich wie folgt wiedergeben: Mit der zunehmenden Entwicklung von Leben nimmt auch die Produktion der verschiedenen Substanzen zu, die jedoch nicht ontologisch verschieden sind, sondern etwas ausbilden, das sich, wie bereits im ersten Kapitel zur Philosophie der prekären Stoffe erörtert, mit Deleuze als univoke Materie bezeichnen lassen. Die Substanz bleibt die gleiche, aber verändert ununterbrochen die Form und ihren Aggregatzustand, der letztlich eine Abstraktion erreicht, die das Materielle übersteigt. Die Geschichte der Welt in Pelewins Roman ist eine Geschichte der chemischen Sublimation, die sich sowohl auf ökonomischer Ebene als auch auf der semiotischen Ebene vollzieht. Die erste Kreatur dieser alternativgeschichtlichen Welt ist eine »Große Maus«, die sich vom Blut der Dinosaurier ernährt hat. Nach dem Einschlag des Meteoriten und dem damit verbundenen Energie- bzw. Nahrungsmangel durch die ausgestorbenen Landwirbeltiere war sie gezwungen, eine andere Überlebenstechnik zu entwickeln: Die Große Maus, die sich von deren roter Flüssigkeit nährte, sah sich dem Tode nah. Doch den Vampiren gelang es, einen Kern aus sich zu extrahieren – das, was wir heute die Zunge nennen. Eine Art übertragbare Speicherkarte mit den Persönlichkeitsmerkmalen. Das Hirnmark – wurmförmig, zu neunzig Prozent aus Nervenzellen bestehend. Dieses Individualitätsdepot siedelte sich nun in den Schädeln anderer, besser an die neuen Verhältnisse angepasster Lebewesen an und ging mit ihnen eine Symbiose ein. […] Lange Zeit überlebten wir in größeren Raubtieren […] Vor ungefähr einer halben

102 Vgl. Schmid: Technologien der Seele, S. 72.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

Million Jahren ereignete sich in der Welt der Vampire eine Revolution des Geistes.103 Durch weitere genetische Modifikationen und durch die damit verbundene Kolonialisierung der Arten und Gattungen bildet sich letztlich auch der Mensch als Ergebnis dieser Sublimierungsprozesse heraus. Damit entsteht auch eine neue Form von Vampiren, die versuchen, organische Substanzen wie Blut in energiereichere und abstraktere Substitute zu übersetzen. Der sowohl mit fantastischen als auch mit Cyberpunkelementen operierende Text arbeitet zusätzlich mit Mitteln des Entwicklungsromans und steigt in der Gegenwart eines postsowjetischen Russlands ein. Der neunzehnjährige Roma Schtorkin, der mit seiner Mutter lebt und als Aushilfskraft in einem Supermarkt arbeitet, wird auf der Straße auf eine verlockende Anzeige aufmerksam und gerät so in den Sog einer Gruppe von Vampiren, die ihn zum Anführer eines neuen Imperiums zu machen versucht. Um die Unsterblichkeit zu gewährleisten, gibt es einen neuronalen Bewusstseinsspeicher, materialisiert in dem Organ der Zunge, die von einem Körper zum anderen übergeht. Offen bleibt, was während dieses Vorgangs genau passiert. Mit dem etwas schräg angelegten Motiv, das den traditionellen Vampirbiss umcodiert, beginnt gleich zu Beginn des Romans die Transformation Romas zu Rama: Es gibt dafür einen speziellen Biss, führte er weiter aus, zu dem sich ein Vampir nur einmal im Leben in der Lage sieht. Und nur wenn seine Zunge mitspielt. Traditionell geschieht das am Tag der Sommersonnenwende. Du trittst vor mich hin, und meine Zunge geht in dich über. […] Die Zunge bemächtigt sich deiner Vergangenheit – sie muss alles über dich wissen. Ich musste an Tarkowskis Andrej Rubljow denken, die Hinrichtungsszene, wo sie einem Mönch flüssiges Metall in den Rachen flößen. Vor der Exekution hatte der Mönch seine Peiniger die ganze Zeit beschimpft, doch als sie ihm das Metall in die Gurgel kippten, trat augenblicklich Stille ein, nur der Körper zuckte.104 Anhand des Motivs der Zunge, die erstens einen ungewöhnlichen Vampirbiss darstellt und zweitens quer zu den typischen Funktionen im menschlichen Organismus zu liegen scheint, offenbart sich die metafiktionale Dimension

103 Viktor Pelewin: Das fünfte Imperium. Ein Vampirroman, München 2009, S. 169f. 104 Ebd., S. 13f. (Herv. i. O.)

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des Textes: Über das Motiv der Zunge reflektiert er seine sprachliche Verfasstheit und den eigenen fiktionalen Charakter. Denn Zunge (jazyk) ist im Russischen sowohl das Kommunikationsorgan als auch das Sprachsystem. Vor dem Hintergrund dessen, dass die Ausbildung Romas darin besteht, ihm die Kunst von Diskurs und Glamour zu lehren, die das dialektische Kampffeld der Vampire im alternativgeschichtlichen Moskau sind, liegt die Assoziation nahe, dass die Zunge als Sprache und als Kommunikationsorgan eine materialisierte Form von Macht und Diskurs ist. Der Wissen/Macht-Konnex des Diskurses wird hier jedoch nicht nur durch Sprache aufgenommen bzw. zirkuliert darin, sondern ist die konkretisierte Form des Körperteils selbst. Auch dass in den Bibliotheken der Vampire keine Bücher, sondern Blutproben einsortiert sind, verweist auf eine metafiktionale Dimension des Textes, in der Semiotik und Materie sich verzerren. Denn die Untoten eines ›moralisch verfallenen‹ und konsumistischen Moskaus haben die Fähigkeit, durch die Sammlung und Absorption menschlichen Bluts alles über die jeweiligen Personen zu erfahren. Pelewins Vampire haben somit die Fertigkeit, als biologische Archive zu agieren, in denen das Blut das Wissen substituiert. Das gesamte Wissen des Menschen wird so einerseits gespeichert und akkumuliert, andererseits – und da ist Pelewin durchaus sensibel für Foucaults Konzept des biopolitischen Diskurses – sind sie in der Lage, Macht/Wissen-Komplexe der Gesellschaft zu kontrollieren, zu kanalisieren und anzuleiten. Gleichzeitig gibt es eine strukturelle Abhängigkeit der Vampire, die Macht und Gegenmacht und vor allem Kapital und lebendige Arbeit im Sinne Paul B. Preciados als begehrenden Kapitalstrom und nicht als dichotome Relation denken lässt: Die pharmapornographische Produktion kennzeichnet heute eine neue Epoche weltweiter politischer Ökonomie und das nicht aufgrund quantitativen Übergewichtes, sondern aufgrund der Kontrolle, die die Produktion und Intensivierung der narkotisch-sexuellen Affekte zum Modell aller anderen Formen der Produktion gemacht hat. Die pharmapornographische Kontrolle infiltriert alle Kapitalströme und beherrscht sie, von der landwirtschaftlichen Biotechnologie bis zur hightech-Kommunikation.105 Nach Preciado können nur so kontinuierlich Begehren und Widerstand sowie Konsumtion und Zerstörung hergestellt werden. Anstatt die Kräfte polizeilich zu hemmen, reizt das Regime diese an, nur um sie wieder zusammenbrechen zu lassen. Analog zu diesem Modell besteht die verführerische 105 Preciado: Testo Junkie, S. 41.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

Macht des Vampirischen in Pelewins Roman nicht darin, wie z.B. bei Bram Stoker die viktorianische Triebdisziplinierung skandalös zu unterlaufen, sondern Begehren und Verführung als Modi des Ökonomischen zu begreifen: Allmählich bekam ich den Eindruck, vor einer Stereoanlage zu sitzen, bei der zwei zackige Vampire als Lautsprecherboxen dienen. Und was ich da hörte, stammte eindeutig aus der Schublade Psychedelics der Sixties – damals mochten es die Rock-Avantgardisten, den Sound so zu zersägen, dass der Konsument den Stereoeffekt in vollem Umfang genießen konnte. »Glamour ist Sex, der sich durch Geld artikuliert«, sprach die linke Box. »Oder wenn man so will: Geld, das durch Sex artikuliert wird.« »Und Diskurs ist sublimierter Glamour«, konterte die rechte Box. »Kannst du mit dem Begriff Sublimation etwas anfangen?« Ich schüttelte den Kopf. […] »Geld, artikuliert durch Sex, lässt sich darstellen als durch Geld artikuliertes Geld. Gleiches betrifft den Diskurs, nur mit einer Korrektur ins Imaginäre. »Diskurs ist ein schillerndes Spiel unbewusster Inhalte, die der Glamour hervorbringt, während er im blanken Neid auf kleiner Flamme vor sich hin köchelt«, sprach die linke Box.106 Begehren ist hier nicht ein Mittel zum Tabubruch innerhalb einer prüden Gesellschaft, sondern ein Antriebsmotor für ökonomische Ströme und Prozesse. Es löst die Zirkulation von Diskurs aus, während Glamour eine Form des Begehrens ist, die sich mit Geld verbindet und so etwas wie eine Basis bzw. eine Grundordnung für einen sozialen Austausch darstellt, der wiederum Diskurs produziert.

4.2.2

Pelewins Vampire als Kritik  an antisemitischer Kapitalismuskritik?

Bevor ich genauer auf die Ökonomien in Pelewins Text eingehe, sind einige Dinge in Bezug auf das Verhältnis von Vampirismus und Ökonomie auffällig, die bei der Untersuchung dieses Textes nicht außer Acht gelassen werden können. Es gibt eine lange Tradition und eine Auseinandersetzung mit dem Topos und den Eigenschaften des Vampirs als Verkörperung des modernen Antisemitismus. Vor allem taucht die Semantik des Vampirs immer wieder 106 Pelewin: Das fünfte Imperium, S. 62. (Herv. i. O.)

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in der nationalsozialistischen Metapher eines Volkskörpers auf, der von ›ausländischen Parasiten‹ ausgesaugt werde. Das Vampir-Bild reiht sich in die Vielzahl der bekannten biologistischen Metaphern der NS-Ideologie ein. Der Antisemitismus bestand vor allem darin, die ›jüdischen Parasiten‹ als gierige und allein aus egoistischen Gründen handelnde Individuen darzustellen, die dem Gemeinwohl schaden. Diese faschistischen Ressentiments münden nach Moishe Postone, der ausgehend von Marx eine Logik des Antisemitismus entwickelt, in einer »Biologisierung des Kapitalismus«107 . Das bedeutet, dass immer wieder Menschen jüdischen Glaubens oder der jüdische Körper identifiziert und festgesetzt wird als Träger*in von Wert. Dazu gibt es einige andere Untersuchungen, die sich vor allem auf Murnaus Nosferatu beziehen und dort auf unterschiedlichsten Ebenen einen strukturellen Antisemitismus herausarbeiten, auf den ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann. Auch innerhalb linker Kapitalismuskritik wird die Vampirfigur ressentimentaufgeladen aufgerufen, die sich – ebenfalls mit Postone – als eine moralisierende, personalisierende und vor allem verkürzte Kapitalismuskritik offenbart, die letztlich einen vulgärmarxistischen Vordergrund hat.108 Diese verkürzte Kritik basiert auf der Identifizierung des Jüdischen mit dem, was Marx als ›totes Kapital‹ bezeichnet: In der Logik der antisemitischen Lesart saugt also das ›tote Kapital‹ (personalisiert in der Figur der Juden und Jüdinnen) parasitär die ›lebendige Arbeit‹ aus. Eine solche moralisierende Personifikation ist jedoch unterkomplex und kann nicht im Sinne einer warenproduzierenden, kapitalakkumulierenden Gesellschaft sein, so wie Marx sie beschreibt. Der Wert nach Marx ist, wie wir auch anhand der Untersuchung zu der politischen Ökonomie in THX 1138 gesehen haben, nicht materiell und auch nicht an Personen wie Bankiers, Bankierinnen oder Spekulant*innen gebunden. Das Kapital, so Marx, ist ein »automatisches Subjekt«, das erstens die Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Kapital nicht trifft und zweitens einzig und allein dem Prinzip der Maximierung von Mehrwert folgt. Gier ist dadurch ein Nebenprodukt der Produktionsweise und nicht ihr Ursprung. Darüber hinaus greift Marx selbst zur Vampirmetapher. Bei Marx heißt es: »Das Kapital ist

107 Moishe Postone: Die Logik des Antisemitismus, in: Merkur, 36 (403), 1982, S. 13-25, hier S. 22. 108 Damit beziehe ich mich auf ein Plakat der Linken aus dem Jahre 2012 mit der Überschrift »Tanz der Vampire«, auf dem der Vampir als gieriger und auf Ausbeutung programmierter Konzernboss zu sehen ist.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.«109 Der entscheidende Unterschied zu dem, was man als eine falsche oder verkürzte Kapitalismuskritik bezeichnen könnte, ist, dass bei Marx nicht individuelle Kapitalist*innen als Vampire dargestellt werden, sondern das Kapital als gesellschaftliches ›vampirisches‹ Verhältnis und als Struktur untersucht wird. Pelewin scheint genau in diese Kontroverse hineinzuschreiben und zu intervenieren, indem er erstens einige Male im Text metafiktional das Verhältnis von Vampir und Ökonomie durch seine Protagonist*innen aufrufen lässt. Zweitens interveniert er, indem er die ressentimentaufgeladene Dichotomie von totem Kapital und lebendiger Arbeit aufnimmt und sie unterminiert, indem er sie ähnlich wie Marx nicht moralisierend an Individuen knüpft, sondern als eine verflüssigte und transsubjektive Struktur begreift. Vampire brauchen somit die Währung der roten Flüssigkeit nicht als Nahrung, sondern akkumulieren Geldströme, Begehrensströme und Diskurse, um die durch die ständige Wandlung von symbolischem zu materiellem Kapital entstehenden Kräfte erneut in den Kreislauf einzuspeisen.

4.2.3

Vampirische Ökonomie

Die Vampire im Roman Das fünfte Imperium sind vor dem Hintergrund dieser Lesart eine automatisierte und nicht personalisierte Form kapitalistischer Produktionsweise. Pelewin konfrontiert uns in diesem literarischen Setting – der These Preciados nicht unähnlich – mit einem neuen Typus eines Biokapitalismus, der sich durch die globale Zirkulation und Produktion von synthetischen Stoffen, Flüssigkeiten und technisch transformierten und optimierten Körpern auszeichnet, die das Verhältnis von totem Kapital und lebendiger Arbeit problematisieren und nicht vulgärmarxistisch dichotom auflösen. Das vollzieht sich, wie in dem Zitat bereits angedeutet, anhand der Einführung des Libidinösen in die politische Ökonomie der Vampire. Für diese Wirtschaftsform entwickelt Pelewin in seinem Roman eine, wie er es nennt »Schicksalsformel«, die bewusst als eine Übersetzung des marxschen Schemas des Warentauschs (Ware – Geld – Ware) angelegt ist. Diese lautet für Vampire: »Rote Flüssigkeit Geld Rote Flüssigkeit«.110 Parallel dazu lautet die

109 Marx/Engels: Das Kapital, S. 247. 110 Pelewin: Das fünfte Imperium, S. 251.

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Pharmakofictions

Formel für den Menschen: »Illusion Geld Illusion«.111 Folglich wird selbst die Illusion in die Zirkulation als Rohstoff eingespeist und die Desillusionierung am Ende des Lebens erzeugt die nötige Energie für die finale Sublimation, die Pelewin »Bablos« nennt. Bevor ich zu dieser schillernden Substanz komme, die uns auch wieder zurück zum Pharmakon führen wird, lohnt es sich, zunächst das sich hier aufdrängende Verhältnis von Begehren und Ökonomie näher zu betrachten. Denn die ›Illusionen‹, als die sich nicht erfüllenden Wünsche des Menschen innerhalb des Narrativs des Romans, verweisen auf ein Begehren als Mangelerleben, das sich unmittelbar in die ökonomischen Wissensordnungen einschreibt – also im Sinne eines Marktes, der Begehren produziert, die sich gemäß der Akkumulationslogik des Kapitals nicht erfüllen dürfen, weil es stets gilt, neue Konsumtionsfelder zu erschließen. Pelewins ökonomisches Subjekt ist gleichzeitig auch als ein affektives und als ein begehrendes Subjekt angelegt. Der Homo oeconomicus, repräsentiert durch das ›Vampirische‹, deckt sich vor allem mit Joseph Vogls Untersuchungen zum intimen Verhältnis von Ökonomie und Begehren. Das ökonomische Subjekt beschreibt Vogl nicht nur in seiner Rationalität, sondern auch als Subjekt seiner Leidenschaften – Leidenschaften, die den Kapitalismus stimulieren: »Die Gegenstände und Elemente des ökonomischen Menschen sind nicht einfach nur Güter oder Dinge des Bedarfs, sondern Objektverhältnisse, Präferenzen, Wünsche und Begierden, die gerade in ihrer Maßlosigkeit ein Maß des Ausgleichs garantieren.«112 Der Kerngedanke, dass der Markt niemals gesättigt ist und unentwegt Konsum anreizt, findet sich bereits in den frühen ökonomischen Thesen von Adam Smith. In die Ökonomie wird nach Smith, so Vogl, stets ein »ungestilltes Begehren eingeführt, das […] über das Fassungsvermögen des leiblichen Behälters hinausführt.«113 Marx nennt dieses Begehren auch »abstrakte Genusssucht«,114 womit sich zugleich die Dimension des Rausches und der Droge andeutet. Dieses rauschhafte Akkumulationsbegehren wird ebenso im Anschluss an Marx von Boltanski und Chiapello aufgegriffen und beschreibt eine »ständige Spannung zwischen der Stimulierung des Akkumulationsbegehrens und seiner Rückbindung an Normen, die den Wünschen entspre-

111 112 113 114

Ebd., S. 250. Vogl: Das Gespenst des Kapitals, S. 43f. Ebd., S. 33. Marx, zit.n.: ebd.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

chen, die in andere Wertigkeitsvorstellungen eingebettet sind.«115 Pelewins politische Ökonomie basiert, so die komprimierte These, auf dieser Verknappungslogik. Der Mangel, der sowohl für das Begehren als auch für die Ökonomie konstitutiv ist, wird als Impuls in die Menschenwelt eingespeist, wodurch der Transformationsprozess erst ausgelöst wird. So wird die Erfahrung von Knappheit in einen Exzess und in einen Überschuss umgewandelt, der sich in den Händen anderer konzentriert. Am Ende des Austauschs wird der angeeignete Überschuss von den Vampiren absorbiert und wieder ausgeschüttet. Das klassisch marxsche Schema von Geld – Ware – Geld wird also in eine Form der Ökonomie transformiert, in der die ursprüngliche Materialität des Produkts keine Rolle mehr spielt, weil sie die viel abstrakteren Transformationen daran hindert, sich weiter zu sublimieren. Diese neue vampirische Ökonomie Pelewins ist dagegen letztlich gar nicht mehr auf den Menschen angewiesen.

4.2.4

Der Stoff Bablos als ökonomisches Elixier und der Text als Droge

So wird die Formel »Rote Flüssigkeit Geld Rote Flüssigkeit« zu »Blut Geld Bablos«,116 das so etwas wie die nächste Stufe der Vampirökonomie und der Evolution darstellt und eine Dynamik organisiert, die eine symbolische Entmaterialisierung von allem vorantreibt, was in den Austausch hineingezogen wird. Bablos als »Lebenskraft, die der Mensch in den Äther abstrahlt, sobald er an Geld denkt«, ist »das geheiligte Getränk, das die Vampire zu Göttern macht«,117 hat die Sprachwurzel im Wort Babylon und geht zurück auf das akkadische babilu, was »Gottes Tor« heißt. Bablos eröffnet im Russischen aber auch die semantische Assoziation mit babki – das ausgehend von dem Wort babuschka (Oma) ein umgangssprachlicher Begriff für Geld bzw. ›Knete‹ ist. Ferner heißt es: Jawohl. Manchmal sagen wir zu Bablos auch rote Flüssigkeit. Und Enlil drückt sich gelehrter aus und sagt Aggregat M5 dazu beziehungsweise: ultimativer Geldzustand. Kondensat menschlicher Lebenskraft. […] Und warum sagt man dann sowohl zu Bablos als auch zum Saft des Menschen rote Flüssigkeit? Weil es dasselbe ist, nur auf verschiedenen Windungen der dialektischen Spirale. Es stimmt nicht nur farblich überein, sondern auch in der Substanz. So wie meinetwegen Bier und Kognak. […] Der Unterschied liegt 115 116 117

Luc Boltanski/Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Köln 2003, S. 520f. Pelewin: Das fünfte Imperium, S. 251. Ebd., S. 248f.

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in der Konzentration, fuhr Ischtar fort. Der Mensch hat fünf Liter rote Flüssigkeit in sich. Bablos lässt sich aus ihm im Laufe des Lebens höchstens ein Gramm gewinnen.118 Die dialektische Spirale, die als Bild eher innerhalb der literarischen Hermeneutik zu vermuten wäre, wird mit chemischer Sublimation und den Topoi ökonomischer Tauschwerte amalgamiert. Daran wird erneut deutlich, dass Pelewin das Prinzip der Sublimation und der Zirkulation als ein übergreifendes Strukturprinzip seines Textes wählt, das die semantische Dimension mit einklammert. Die Gesellschaftsdystopie basiert auf einer konstanten Zirkulation von monetären und biochemischen Strömen, die sich sowohl als Ende als auch als Anfang des Austausches zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen, zwischen Biochemie und sozial konstruiertem Begehren, zwischen den Substanzen der materiellen Welt und ihrer Warenfetischisierung im Bewusstsein des Subjekts verorten lassen. Diese endlose Kette der materiellen, abstrakten und immateriellen Äquivalenzen erlaubt es den Vampiren, ihre Macht durch das konzentrierte Kapital (Bablos) zu reproduzieren. In der hier aus der russischen Ausgabe des Romans zitierten und von mir übersetzten Textstelle, die in der deutschen Übersetzung herausgekürzt worden ist, findet sich ein Destillat der begehrensökonomischen und poetologische Dimension von Bablos: Die Affen haben sich einen Destillierapparat in den Kopf gesetzt. Die Destillierkolben begannen Bablos zu produzieren. Aber neben ihrem Hauptprodukt begannen sie auch andere Destillate herzustellen: die Abfallprodukte der Produktion. Eines der Destillate wird »Das Universum« genannt, ein anderes »Wahrheit«. Und ein drittes heißt »Gott« […] Gott und Bablos sind wie Benzin und Heizöl, die bei der Ölraffination gewonnen werden. Vampire konsumieren Bablos und Gott ist somit für uns ein Abfallprodukt der Produktion. Andererseits ist er aber für den Menschen ein wertvolles Destillat […] Aber das Wort Gott ist zusammen mit all den anderen Wörtern und Begriffen notwendig für die Herstellung von Bablos.119 Genau wie die Illusion sind metaphysische Konzepte wie »Wahrheit«, »Universum« und »Gott« in Stofflichkeit begriffen und nicht als ideelle oder abstrakte Konzepte. Sie sind darüber hinaus Abfallprodukte und zugleich konsti-

118 119

Ebd., S. 249 u. 251. Viktor Pelewin: Empire ›V‹. Povest‹ o nastoiaschem sverkhcheloveke, Moskau 2007, S. 360.

IV. Die Pharmapornografie prekärer Stoffe

tutiver Wert für die Produktion dieser seltsamen Substanz. Wie sich bereits anhand einiger von mir zitierter Textstellen andeutet, ist dieses ökonomische Elixier nicht nur der begehrensökonomische Movens für den Prozess und das Werden der kontrafaktischen Erzählung. Es ist erstens auch ein Rauschmittel, das Pelewin eng an Semantiken der Konsumgesellschaft knüpft, also Bablos als ein Teil einer vom Rausch des Geldes und von Tauschwerten geleiteten Welt, zweitens eine Ideologie, die durch die eingangs erwähnte Vampirzunge, die zugleich auch Sprache ist, injiziert wird, und drittens der literarische Text selbst, der als Droge ins Spiel kommt: Mein chaotisches Herumgerenne führte mich bis vor das Archiv. Ich setzte mich auf das Sofa und blätterte im Katalog. Nichts Brauchbares fiel mir ins Auge. Schließlich erinnerte ich mich, dass in der Schublade des Sekretärs ein paar unregistrierte Kostproben aus dem Literaturzyklus herumlagen. Ich schaute nach, nahm jedes Gläschen einzeln in die Hand – vielleicht fand sich ja etwas Theologisches darunter. Aber auch hier nichts, was Erhabenheit des Moments entsprochen hätte: Präparate wie Tjuttschew + alban. source code oder Babel + 2 % Marquis de Sade interessierten mich wenig.120 Pelewins Text bespricht somit einerseits begehrensökonomische Dynamiken innerhalb seines Narrativs, andererseits ist der Text als Metafiktion die letzte Sublimierung, die in den Text hineinführt und gleichzeitig wieder aus ihm hinaus. Denn wenn wir seine Fiktion ernst nehmen, dann schreibt sich Das fünfte Imperium als metafiktionaler Stoff selbst in die Zirkulation ein. So wäre nicht Bablos die finale Sublimation, sondern der Roman selbst, der auf die Rezipient*innen einwirkt und zu einer bewusstseinsverändernden Substanz wird, die von der Leserschaft konsumiert wird. Hier wird der metafiktionale Vergleich zwischen Droge und Text explizit, insofern hier Kombinationen aus Schriftstellern als chemische Mixturen und als Präparate verwendet werden, die scheinbar aufgrund der unterschiedlichen Textsorten bzw. Genres auch unterschiedliche Wirkungen entfalten. Was sich bei Pelewin in dieser Textstelle nur andeutet, findet vor allem in den Schriften Vladimir Sorokins eine konkretere Ausformung. Nach Sorokin ist jeder Text – sowohl seine Rezeption als auch die Produktion – eine Art Tranquilizer, der die Einflüsse der äußeren

120 Pelewin: Das fünfte Imperium, S. 353. (Herv. i. O.)

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Welt abdämpft.121 So sei auch analog dazu das »Theater als narkomanische Anstalt«122 zu begreifen. Der Konsum von performativen Künsten, literarischen Texten und Drogen findet auf der gleichen Ebene statt und lässt sich bei Sorokin als eine Chiffre für die russische hyperkapitalistische Konsumgesellschaft der Gegenwart lesen, während diese bei Pelewin anhand der Stoffsublimationen ausgeformt sind.

121 122

Vgl. Vladimir Sorokin:Sobranie sočinenij v dvuch tomach, Mosau 1998, S. 7-20. So äußerte sich Vladimir Sorokin in einem Vortrag mit dem Titel Die Schaubühne als narkomanische Anstalt im Rahmen der Schillertage in Mannheim am 14.06.1997. Er findet sich abgedruckt in: Vladimir Sorokin: Dostojevskij-Trip. Krautsuppe, tiefgefroren. Zwei Stücke, Frankfurt a.M. 2001, S. 153-157. So ist Sorokins Theaterstück Dostojevskij Trip auch von diesem metaliterarischen Vergleich getragen. Zu Beginn des Stücks warten die Protagonist*innen gekennzeichnet als Drogensüchtige auf ihre*n Dealer*in und unterhalten sich über ihre Drogenerfahrungen, womit jedoch die unterschiedlichen Einnahmen unterschiedlicher Autor*innen und Schriftsteller*innen gemeint ist. Auch Sorokins literarische Texte sind geprägt von der Frage nach dem metafiktionalen Verhältnis von Droge und Text bzw. dem Text als Droge, die in seinen Fiktionen in verschiedenen Zusammenhängen eine Rolle spielt. In seinem umstrittenen Roman Der himmelblaue Speck, der zugleich innerhalb der Narration die begehrte Substanz bezeichnet, spricht Sorokin bei der Destillation dieses magischen Stoffes auch von Biophilologie. In einem geheimen Labor werden russische Schriftsteller*innen der klassischen Moderne geklont, die durch äußere Reize der Wissenschaftler*innen beginnen zu schreiben, wodurch sie im Schreibprozess die seltsame Substanz »himmelblauer Speck« absondern. Der Roman erzählt den Chronotopos dieser Substanz, die in Sorokins alternativgeschichtlichen Welt im Jahr 2068 durch die Zeit reist und dabei unveränderlich bleibt. Die Substanz ist unzerstörbar, radioaktiv und alle Figuren des Romans streben danach, diese zu besitzen, ohne tatsächlich zu wissen, welchen Nutzen sie bringt. Vgl. Vladimir Sorokin: Der himmelblaue Speck, Köln 2003. An dieser Stelle möchte ich eine weitere Fährte legen, die innerhalb der Slawistik nur vereinzelt besprochen wurde und damit eines genaueren Blicks bedarf, das dieses Projekt leider nicht leisten kann. Es wäre also eine umfangreiche Aufgabe, sich den prekären Stoffen der russischen Literatur zu widmen. Eine erste und sehr instruktive Untersuchung dazu macht Peter Deutschmann mit seinem Text Der Text als Droge, in dem er einige Romane Sorokins, Pelewins und Peppersteijns in Bezug auf ihre metaliterarischen Vergleiche zwischen Text und Droge bespricht, vgl. dazu Deutschmann: Der Text als Droge. Glosse zu einem metaliterarischen Vergleich, in: Plurale 8: Betäubung, Berlin 2010, S. 145-174.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln. – Friedrich Nietzsche1

Wir kommen zum letzten Teil dieser Studie und dafür möchte ich nochmals mit Marx ansetzen, um von den beschleunigten und molekular-prothetisch erweiterten Körpern von Preciado und den unendlichen Stoffsublimationen von Pelewin eine Brücke zu der anästhetischen und sedierenden Kehrseite im pharmapornografischen Regime zu schlagen. Die religiöse Hingabe, so bemerkt Marx, übernehme eine zentrale Position innerhalb der Produktionsweise kapitalistischer Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Er folgt bei dieser Annahme Novalis’ Aussage, dass Religionen als Betäubung und als Anregung zugleich wirkten. Religion als ein symptomatisches Pharmakon der Anfänge der Industriegesellschaft beseitige jedoch nicht das Leiden, sondern verdecke nach Marx nur die strukturellen und materiellen Ursachen von Ausbeutung, Elend und Entfremdung. Vor dem Hintergrund einer pharmakologischen Kontrolle, die mit chemischen Selbstmanagements verbunden ist, so wie Preciado sie beschreibt, scheint das Opiat heute abseits seiner metaphorischen Verwendung selbst zum Opium fürs Volk geworden zu sein. Dies wird in eindringlicher Weise anhand der mit vielen Toten einhergehenden Opioidkrise der USA deutlich, nicht zuletzt wegen der flächendeckenden Vermarktung von Oxicontin des Pharmaunternehmens Purdue Pharma und der damit

1

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Chemnitz 1883, S. 17.

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verbundenen Todesfälle durch Missbrauch, die zwischen 1999 und 2018 geradezu epidemisch anwuchsen.2 Laurent de Sutter führt den marxschen Ansatz und Preciados Überlegungen fort und schreibt eine episodenhafte Genealogie einer soziokulturellen Anästhetik. Sutter entwickelt ein Narrativ darüber, wie in Zeiten von Betäubungsmitteln und anderen Narkotika pharmazeutische Apparate und Techniken zu den Schlüsselelementen der Subjektivierung der Gegenwart wurden. Den Ursprung des Zeitalters der Anästhesie bestimmt Sutter in den Anfängen klinischer Chirurgie, als die Inhalation von Diethyletherdämpfen durch die zu Behandelnden es den Chirurg*innen ermöglichte, am Körper zu arbeiten, ohne dass die Patient*in Schmerzen empfanden. Abseits der therapeutischen Wirkungen innerhalb des klinischen Dispositivs gibt es laut Sutter eine Logik der Anästhesie, die im Sinne der Kontrollgesellschaften von Deleuze oder der Biomachtthese Foucaults die hohen Mauern der Disziplin innerhalb der Institutionen wie der Klinik verlässt und sich als institutionsübergreifendes Dispositiv auf das gesamte soziale und kulturelle Feld ausbreitet. Sutter zeigt auf, wie mit chemischem Management von Emotionen durch Narkotika, Antidepressiva usw. der gesamte Kollektivkörper so regiert wird, dass wir den Unterschied zu einem nicht chemisch induzierten Leben nicht mehr erkennen können. Obwohl sich Preciados und Sutters Analysen strukturell ähnlich sind, bewegen sich ihre Beobachtungen in unterschiedlichen chemischen und kritischen Registern. Während Preciado sich eher mit dem Dispositiv der Pharmakologie und der Genealogie des Hormons beschäftigt und dabei in Bezug sowohl auf die Form als auch auf den Inhalt daran interessiert ist, das Phänomen der Akzeleration des Körpers zu untersuchen bzw. zu intensivieren, um damit das Dispositiv der Pharmakologie auch als ein vergeschlechtlichtes Phänomen zu untersuchen, zentriert sich Sutters Beitrag um narkotische, betäubende und sedierende Mittel, die eine starke Affektivität und Sensibilität zu unterbinden suchen, und dabei spielt die Kategorie des Geschlechts eine kleinere Rolle. Dadurch zeigt Sutters Untersuchung die Kehrseite einer pharmazeutischen Biopolitik, die nicht nur auf die, wie Braidotti schreibt, »Erhöhung der eigenen Affekttemperatur«3 abzielt, sondern auf ihre Abkühlung und Passivierung, die zu einem allgemeinen und soziokulturellen Somnambulismus führt. Die Kehrseite von Beschleunigung und einer gesteigerten Intensität vollzieht sich laut Sutter 2 3

Vgl. dazu Beth Macy: Dopesick: Dealers, Doctors, and the Drug Company that Addicted America, London 2018. Braidotti: Politik der Affirmation, S. 30.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

anhand der Geschichte von synthetisch hergestellten Schlafmitteln. Die Erfindung von Chlorpromazin – das erste synthetisch hergestellte Neuroleptikum – bildet dabei den Grundstein der modernen Psychopharmakotherapie: In truth, there was a paradox: when you were on chlorpromazine, the only thing it was possible to enjoy was the fact that there was nothing to enjoy: the only pleasure was the abscence of pleasure, a sort of degree zero of the affective life. Of course, you could argue that the anaesthesia was not total, since the medication’s users at least preceived that they preceived nothing; but this kind of meta-perception of the preceptions nonetheless indicated the extent to which they had been deprived of something. […] Where chloral hydrate enabled the control of being’s explosion, chlorpromazine made the control of it’s implosion – it’s collapse in the middle of itself – conceivable.4 Die Wirkung, die Sutter hier beschreibt, sollte vor allem bei manisch-depressiven Patient*innen in ihrer manischen Phase eine emotionale und affektive Leere und Gelassenheit erzeugen. Gegen starke Affekte und Erfahrungen sollte die Abwesenheit von Affekten induziert werden, um den Körper zu sedieren und zu stabilisieren. Darin läge auch eine essentielle Form narkokapitalistischer Regierungsweise als Psychopolitik, die auf die Regulierung von Begehren und auf die Unterdrückung starker Sensibilität abzielt. In diesem Kontext begreift Sutter die manische Depression, aber auch Erkrankungen der Psyche wie Burnout nicht nur als klinische, sondern als psychopolitische Gefüge, die als soziokulturelle Symptome fungieren. Dabei ist eine These, dass unsere Zeit von einer politischen Narkose und einer allgemeinen Anhedonie geprägt sei und somit freudvolle Affekte, Begehren und starke Sensibilität verunmögliche. Diese würden stattdessen durch Arbeit ersetzt: »Narcocapitalism is the capitalism of narcosis, that enforced sleep into which anaesthesists plunge their patients so as to unburden them from everything that prevents them from being efficient in the current arrangement – which means work, work, work and more work.«5 Subjekte der spätkapitalistischen Gesellschaft hätten es vergessen, wie es ist, tatsächlich erregt zu werden, weil Begehren, Lust und Erregung nur noch durch pharmazeutische Präparate produziert werden würde und damit nur eine Simulation einer ›echten‹ Erregung darstellen. Sutter malt ein beunruhigendes und geradezu nihilistisches Bild einer grauen und klösterlich orga4 5

Laurent de Sutter: Narcocapitalism. Life in the Age of Anaesthesia, Cambridge 2018, S. 17. Ebd., S. 44.

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nisierten conditio humana. Nicht die von Marx beschriebene Akkumulationsund Negationslogik des Kapitals sei das Regime von heute, sondern eine soziale Anästhesie und die Abwesenheit von Aktivität und Negation, was für Sutter vor allem mit der Vernichtung des Politischen und eines politischen Engagements einhergeht, das ein Außen des Regimes ermöglichen könnte: »Being is the site of psychopolitics; there is no being outside the business of ordering the affects separating subjects from everything in them pertaining to the dysfunctional – everything, at least, that is considered as such in the rules and regulations of narcocapitalism.«6 Sutter verschränkt somit in einer etwas undifferenzierten und 360°Gesellschaftskritik die Geschichte der Sedativa mit neoliberalen Regierungsweisen, die nicht im Sinne von Preciado durch eine Akkumulationslogik von »Erregung-Frustration-Erregungskreisläufen«7 erzeugt wird, sondern sich gerade durch die Abwesenheit von zu starken Affekten und Emotionen auszeichnet. Nicht zuletzt schließt Sutters doch sehr verkürzte These des globalen Narkokapitalismus an die Symptomatologie des ›rasenden Stillstands‹ von Paul Virilio an. Nach Virilio haben Techniken und Medien der (Post-)Moderne den Menschen in eine Befreiungsgeschwindigkeit versetzt mit der Folge, dass wir nun völlig aus jedem Bezugsraum herauskatapultiert wurden.8 Ein anschauliches Bild des ›rasenden Stillstands‹ findet sich auf dem Cover der deutschen Ausgabe, das ein sich drehendes Jahrmarktrad zeigt, dessen einzelne Lichtelemente miteinander verschmelzen und aus den zirkulierenden Punkten ein stehendes Rad werden lässt. Das hat laut Virilio einen Sinneswandel und gleichzeitig auch einen Sinnverlust zur Folge. Diese Stasis der Geschwindigkeit erweist sich für Virilio als ihr eigentlicher Wesenskern. Die daraus entstehende absolute Gegenwart des Moments ist das Ergebnis einer Bewegung auf der Stelle, eine Bewegung ins Nirgendwohin.9 Virilio spricht auch von einem »Null-Intervall« des verkümmerten Augenblicks, dem Vergangenheit und Zukunft abhandengekommen sind.10 Dies sei eine gefährliche Abkehr von der lokalen, menschlichen Zeit zugunsten der globalen Maschinenzeit, die wiederum die Realität jedes Einzelnen beschleunigt. Diesen hier zunächst disparat erscheinenden Begriffen liegt

6 7 8 9 10

Ebd., S. 100. Preciado: Testo Junkie, S. 304. Vgl. Paul Virilio: Rasender Stillstand, München 1992, S. 134. Ebd. S. 135. Paul Virilio: Revolutionen der Geschwindigkeit, Berlin 1993, S. 57.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

jedoch die gemeinsame sozialphänomenologische Beobachtung zu Grunde, dass einstmals subversive Praktiken der Wandlungsfähigkeit und der Kreativität heute zu gefragten Soft Skills der immer kurzlebiger werdenden Arbeits- und Wirtschaftswelt avancieren und damit Freiräume geschaffen wurden, die zu einer Erhöhung psychischen Drucks führen. Techniken der Selbstevaluierung, Selbstregulation und Selbstoptimierung lassen sich als die Dispositive des rasenden Stillstands und des Narkokapitalismus begreifen, die sich vom Sichtbaren des Körpers ins Unsichtbare und in das Kapillare der Psyche und von der Disziplin zur Kontrolle verlagern.11 Diese Machtsituation und die literarische Ausformulierung einer Welt, in der Freiheit und Gewalt nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, wird vor allem von Leif Randt in seinem SF-Roman Planet Magnon vorgenommen. In Planet Magnon zeigt Randt eine übersättigte, postkapitalistische, postsoziale und völlig sedierte Wohlstandsgesellschaft, in der entfremdete Zustände unbemerkt bleiben, weil sie omnipräsent sind. Die politische Lage ist stabil, weil sie von einer diskreten Überwachungsmaschine mittels Konsens und Gleichmut aufrechterhalten wird, um damit den Bewohner*innen der Planetengemeinschaften Freiheiten für die Kultivierung des Lebens und des eigenen ›Lifestyles‹ zu ermöglichen. Die Bewohner*innen zeichnen sich durch einen gesunden und selbstoptimierenden Lebensstil aus. Gesundheit, Fitness, emotionale Beherrschtheit und Kalkül sind die Merkmale, die diese Welt charakterisieren und damit nicht nur das Spiegelbild des heutigen Narkokapitalismus sind, sondern auch weit darüber hinaus weisen.

11

Vgl. dazu auch Byung-Chul Han: Topologie der Gewalt, Berlin 2011. Auch Hartmut Rosa postuliert, dass die Dialektik des Umschlagens von Beschleunigung und Bewegung zu Erstarrung und Stillstand führt. An die Stelle einer gerichteten Vorwärtsbewegung tritt die Wahrnehmung einer in sich erstarrten Steigerungsspirale, die nach Rosa letztlich eine Homogenisierung und Totalisierung von Zeit herbeiführt. Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung, Frankfurt a.M. 2005, S. 41.

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5.1

Soziale Narkose: Leif Randts  leicht unterkühlte Gemeinschaften in Planet Magnon »Ein kleines salziges Popcorn und ein Jever Fun, bitte«. Als ich an der Kinotheke stehe, sorgt dieser Satz nicht für Aufsehen. Dabei ist es ein guter, postpragmatischer Satz. Er fühlt sich fremd an, ist aber völlig ehrlich gemeint. […] Ich zahle mit einem neuen Fünfeuroschein. Mit alten Fünfeuroscheinen zahle ich nicht gern, die halte ich jetzt lieber zurück. Sachen so sagen, wie sie sind, ohne darunter leiden zu müssen. Wach sein, aber nicht überspannt. Mittendrin, aber nicht verloren. Vielleicht ist das der Weg in die PostPragmaticJoy Leif Randt12

Sie sind sphärisch versachlicht, metaeuphorisch oder erhaben besänftigt. Sie leben sowohl enthemmt als auch würdevoll schamlos und empfinden Wankelmut und Nostalgie.13 Sie verabreichen sich Teinttabletten, um in sonnenarmen Gegenden und zu regenreichen Jahreszeiten ihren bleichen Hauttönen Lebendigkeit zu verleihen. Oder sie tragen rauscherzeugende Hautcremes auf, die sie in Zustände von frühkindlichem Wohlbefinden zurückführen. So beschreibt Leif Randt in seiner Coming-of-Age-SF Planet Magnon (2015) die interplanetaren Kollektive, die sich durch die Einnahme von jeweils zu ihrem Kollektiv passenden Substanzen definieren. Die Mischung aus Utopie und Dystopie erzählt von einer ökonomisch und militärisch befriedeten Welt, in der sich Gemeinschaften in Kollektiven organisieren, die keine Staats- und Planetengrenzen mehr kennen. Hunger, Gewalt, Krieg und Leid spielen innerhalb der Planetengemeinschaften keine Rolle mehr, wodurch eine Stimmung der allgemeinen Gelassenheit und purer Fortschrittsoptimismus herrschen.

12 13

Leif Randt: Post Pragmatic Joy (Theorie). In: Bella triste, 14 (39), 2014, S. 7-11, hier S. 283. (Herv. i. O.) Vgl. Leif Randt: Planet Magnon, Berlin 2015.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

In den Welten von Planet Magnon stellt sich die biopolitische Situation demnach anders dar im Vergleich zu den immunologisch organisierten Gesellschaftsfiktionen. Denn es gibt in Randts Welten nichts mehr, wogegen sich eine Immunreaktion wenden könnte. Das Freund/Feind-Schema und der Konflikt zwischen Mensch und Maschine sowie zwischen Realität und Simulation spielt in Randts gleichmütiger und gänzlich von Negativität befreiter Gesellschaft keine Rolle mehr und weicht einem Leben, das sich durch die Abwesenheit von Dissens und durch eine absolute, alles umspannende Glätte definiert. Denn die Subjekte, die Randt imaginiert, sind gekennzeichnet durch einen emotional abgeklärten Schwebezustand und durch eine notorische Vermeidung von Auseinandersetzungen und Konflikten: Gefühle, Affekte und Begehren sind nur kontrolliert möglich. Randt entwirft ein Universum, das in Kupfer getaucht ist – bestehend aus interplanetaren Kollektiven, die auf sechs Planeten und zwei kleinen Monden verteilt existieren und sich in Lifestyle-Communitys organisieren. Marten Eliot, der Protagonist der Erzählung repräsentiert das Kollektiv der Dolfins. Als Anhänger*innen der PostPragmatic-Joy-Theorie zeichnen sich die Dolfins durch die Ambivalenz von Emphase und kalter Rationalität aus. Die scheinbare Widersprüchlichkeit von Rausch und Nüchternheit, von Pflichterfüllung und Zerstreuung soll durch sogenannte Celiusübungen überwunden und in einen vollkommen affirmativen Zustand überführt werden. Neben den meditativ-asketischen Übungen gibt es kollektives Bewusstseinsdoping in Form von Pillen und Flüssigkeiten, welche die Subjekte des Romans entweder in einen Zustand der Freude versetzen oder bei Überdosierung zu Panik und Ohnmacht führen können. Dauerhafte Optimierung des Körpers durch pharmakologisches enhancement, um ein ›gesundes Leben‹ zu garantieren, erscheint in Randts Fiktion als ein unausgesprochenes Gesetz. Randt inszeniert damit eine narkotisierte und immer leicht unterkühlte Gesellschaft, die keine Reibung und keine Konflikte mehr kennt, in der sich alles auf der Oberfläche abspielt. Bei der Lektüre ist bis zum Schluss nicht klar, ob es sich um eine Utopie oder Dystopie handelt. Randt treibt durch Elemente des rational Kühlen, des freundlichen Konsenses und der sozialen Distanz das Utopische so weit auf die Spitze, dass die Erzählung immer wieder (auch) durch ihre rhetorischen Glättungen in dystopische Momente kippt, jedoch immer auf einer indifferenten Schwelle verbleibt. Gemeinsam mit seiner Studienkollegin Emma ist Marten unterwegs auf einer Recherchereise durch das Planetensystem. Ihr Auftrag besteht darin, die Lebensweise anderer Kollektive kennenzulernen und Informationen über sie anzureichern. Auf der Reise wird Martens Integrität gegenüber der

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Dolfin-Ideologie durch Sabotage, aber auch durch andere kompromittierende Situationen und Akte auf die Probe gestellt. Auf dem Müllplaneten Toadstool (dt.: Giftpilz) kommt es zum Bruch. Marten hinterfragt die zentralen Parameter und die Verhaltensregeln der Dolfins und die Grundpfeiler seines Lebens geraten ins Wanken. Auf dem Müllplaneten verliebt er sich in die Anführerin der gebrochenen Herzen, MMDT, und sucht nach einem Weg, die sich widersprechenden Ideologien miteinander zu versöhnen. Was aus der Liebesbeziehung und dem Versuch einer politischen Reformation wird, bleibt letztlich offen. Denn politische Autonomie bzw. die Sphäre des Politischen überhaupt sind innerhalb der Planetengemeinschaften an den Supercomputer ActualSanity ausgelagert, der die Bedürfnisse und Wünsche der Gemeinschaften analysiert, auswertet und verwaltet. Der Supercomputer ActualSanity ist für die Erhaltung des ›gesunden‹ Lebens der Kollektive verantwortlich, registriert alle psychischen, physischen, politischen Regungen und Vorkommnisse und errechnet die beste Entscheidung für die Einzelne und den Einzelnen als auch für das Kollektiv anhand der Daten, die es von den Subjekten dieser Welt bekommt. Auf diese Weise soll ein friedfertiges Zusammenleben garantiert sein. Politisch bzw. biopolitisch gewendet, ist sowohl der Einzel- als auch der Gesellschaftskörper in den Welten von Planet Magnon einem ›sanften‹ Optimierungszwang unterworfen. So wird eine dauerhafte Kontrolle der Affekte, der Gefühle und zu starker Sensibilitäten erreicht, die vor allem durch bestimmte Übungen und pharmakologische Substanzen reguliert werden. Gesundheit, Fitness, emotionale Beherrschtheit und Kalkül sind dabei die primären Eigenschaften, welche die Bewohner von Planet Magnon charakterisieren. Die dauerhafte Optimierung und Anpassung des Körpers an die jeweilige Situation durch pharmakologische Erweiterungen, um ein ›gesundes Leben‹ zu garantieren, erscheint in Randts Fiktion als ein unausgesprochenes Gesetz, wodurch die Repression unbemerkt bleibt. Der soziale Halbschlaf wird letztlich durch das Kollektiv der Hanks gewaltsam unterbrochen, die das Ziel haben, das Affektvolle wieder zu ermöglichen. Obwohl sich Zweifel an der sanften Diktatur zu regen scheint, bleibt der Konflikt, der aus dem sedierten Dasein herausführen soll, dennoch aus.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

5.1.1

ActualSanity: der freundliche Big Brother

Das über den Planeten schwebende kybernetische System ActualSanity gilt als die »magischste Errungenschaft unserer Zivilisation«.14 Es heißt im Roman: »Mit der Einführung von ActualSanity, kurz AS, hat für die Planetengemeinschaft die Neue Zeit begonnen. Das Computersystem umsorgt die Bewohner der sechs Planeten, indem es die Rahmenbedingungen ihres Lebens definiert.«15 Es handelt sich um eine Regulierung des Lebens, die den Kollektivkörper als Quelle der Wertschöpfung ansieht und ihn dafür ordnet und optimiert. Mit Foucault gesprochen handelt es sich hier um ein »Gouvernement« der interplanetaren Bevölkerung in Planet Magnon und einen »zweite[n] Zugriff der Macht, nicht individualisierend, sondern massenkonstituierend, […], der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an den Gattungsmenschen richtet.«16 Randt greift diese biopolitische Konstellation, die Foucault dem 18. Jahrhundert attestiert, auf und transformiert diese Prozesse in eine postkapitalistische und kontrollgesellschaftlich organisierte, techno-utopische Realität: Heute passt die AS ihre Gesetzestexte auf Grundlage statistischer Auswertungen immer präziser und unmittelbarer an die sich stets erneuernden Verhältnisse an. In Bereichen, die ich selbst wenig oder gar nicht überblicke, scheint sie unserer Zeit meist sogar einige Schritte voraus zu sein. […] [S]ie ist stets in der Lage, ihre Fehler rasch zu korrigieren. Die Handlungen kollektivloser Einzelcharaktere werden dabei ebenso beobachtet wie demonstrative Aktionen mitgliederstarker Gruppen. Die AS bezieht alle mit ein.17 Der hyperliberale Leviathan leitet die Subjekte mit nahezu unsichtbaren Praktiken an und kanalisiert die Diskurse, die in den interplanetaren Gemeinschaften produziert werden. ActualSanity organisiert so den Gesellschaftskörper und nimmt Aufteilungen zwischen guter und schlechter Zirkulation vor, ohne wertend oder gewaltsam einzugreifen. Denn dieses System kann »keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen, sie ist abhängig von unseren

14 15 16 17

Ebd., S. 28. Ebd., S. 275f. (Herv. i. O.) Vgl. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 286. Randt : Planet Magnon, S. 28.

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Handlungen, Diskursen und Wünschen.«18 Gewalt, Aggression und andere extreme und exzessive Zustände sind durch die ständige Überprüfung und Sicherstellung eines ›gesunden‹ Lebens getilgt und durch Fitness und pharmakologisch induzierte Stabilität ersetzt. Jedoch steht das Biologische und Körperliche nicht allein als zu regulierende Größe, sondern auch unkörperliche Produktionsformen geraten bei Randt ins Zentrum. Denn ActualSanity bezieht »sowohl physische Fakten, Verkaufszahlen, Krankheitsfälle als auch psychologische Chiffren (Ängste, Wünsche usw.) mit ein, um so ein sicheres Zusammenleben zu garantieren.19 Körperliche Grenzen und Widerstände werden nicht einfach gewaltsam überschritten, wie es Foucault mit der Disziplinartechnik der Moderne beschreibt, sondern psychische und mentale Prozesse werden reguliert und optimiert. Dabei spielen insbesondere ästhetische und gesundheitliche Optimierungen eine Rolle, die zu mehr Fitness, Attraktivität, Coolness und Sexyness in den Kollektiven von Planet Magnon führen sollen. Foucaults gelehriger Körper, der panoptisch diszipliniert wird, weicht in Randts Roman einer sanften und kaum bemerkbaren Selbstoptimierung, die zu einem »postpragmatischen Schwebezustand«20 führen soll. Dieser Status ist strukturell indifferent – das Subjekt soll in einem emotionalen Wedernoch und Sowohl-als-auch dahingleiten, ohne Dissens zu produzieren. So ist ActualSanity die freundliche Version des orwellschen Big Brother. Orwells Roman ist durchzogen von der Idee einer absoluten Feindschaft und der Negativität, die sicherlich im Kontext des Kalten Krieges zu lesen ist. Grausame und prohibitive Methoden des Schlafentzugs, Isolationshaft sowie Folter sind bekanntermaßen die Werkzeuge zur Machterhaltung in Orwells Roman. ActualSanity operiert dagegen intelligenter und vor allem effizienter als eine diktatorische Überwachungsinstanz, weil es als Herr dem Knecht nicht absolut entgegensteht und ihn zur Arbeit zwingt, sondern ihm möglichst viel Freiheit zuspricht, um das Gewaltverhältnis zu verschleiern und besser regieren zu können. Byung-Chul Han bezeichnet diese Form der Regierung im Anschluss an Bernard Stiegler als Psychomacht: Die smarte Macht schmiegt sich der Psyche an, statt sie zu disziplinieren und Zwängen und Verboten zu unterwerfen. Sie erlegt uns kein Schweigen auf. Vielmehr fordert sie uns permanent dazu auf, mitzuteilen, zu teilen,

18 19 20

Ebd., S. 52. Ebd., S. 275. Ebd., S. 291.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

teilzunehmen, unsere Meinungen, Bedürfnisse, Wünsche und Vorlieben zu kommunizieren und unser Leben zu erzählen. Diese freundliche Macht ist gleichsam mächtiger als die repressive Macht. Sie entzieht sich jeder Sichtbarkeit. Die heutige Krise der Freiheit besteht darin, dass wir es mit einer Machttechnik zu tun haben, die die Freiheit nicht negiert oder unterdrückt, sondern sie ausbeutet. Die freie Wahl wird vernichtet zugunsten freier Auswahl zwischen Angeboten.21 Die Psychomacht bzw., wie Han schreibt, »smarte Macht« zeichne sich dadurch aus, dass sie eben nicht souverän mit dem Tod und dem Verbot droht und damit negativ das Leben reguliert, sondern vielmehr mit Angebote macht und Möglichkeiten eröffnet, um so effizienter regieren zu können. Bei Han heißt es entsprechend: »Es ist nicht effizient, jemand gegen seinen Willen auszubeuten. Bei der Fremdausbeutung fällt die Ausbeute sehr gering aus. Erst die Ausbeutung der Freiheit erzeugt die höchste Ausbeute.«22 In dieser postpolitischen Situation von Planet Magnon sind die Subjekte nicht umstellt von Mauern und Verboten, sondern von Unterhaltung, Sport, Wellness, Genuss und Drogenkonsum. Statt grauem Alltag und Überlebensdrang sind Selbstverwirklichung, Lustgewinn und Lebensqualität die Maxime der interplanetaren Gemeinschaften. Randt zeichnet eine Gesellschaft der automatisierten und vom Einzelsubjekt bzw. einem Agens abgekoppelten Macht, die eine kontrollgesellschaftliche Steuerung und Navigation des Sozialen darstellt. Die Kontrolle des AS basiert so auf Datenverarbeitungssystemen, die mit den heutigen Metadaten über Internetkonsum und Kaufverhalten vergleichbar sind und an die Entwicklungen und Errungenschaften des Silicon Valley erinnern. Bei der AS handelt es sich um eine Big-Data-Variante, die nahezu grenzenlos in alle Lebensbereiche der Planetengemeinschaften vordringt, da sie physische als auch psychische Daten sammelt, um die Gemeinschaften vor subjektiver Willkür und Ungerechtigkeiten anhand ›fair‹ errechneter Chancen zu schützen. Auf diese Weise regelt die AS auch ein Wirtschaftssystem, das scheinbar die Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung und Entfremdung kapitalistischer Systeme überwunden hat: Die AS […] verfügt über 79 % der im Sonnensystem vorhandenen Finanzmittel, die sie nach den Maßgaben einer planetengemeinschaftlich akzeptierten 21 22

Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt a.M. 2014, S. 27. (Herv. i. O.) Ebd., S. 11.

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Fairness verteilt. ActualSanity finanziert den Städtebau sowie das Transportund Gesundheitswesen, zudem unterstützt sie Kollektive und gemeinnützige Einrichtungen. Die übrigen 21 % der Finanzmittel kreisen zwischen den Teilnehmern der neuzeitlichen Bonuseconomy, die vorwiegend aus Einzelhandel (Delikatess- und Substanzshops, Boutiquen etc.) und Dienstleistungsgewerbe (Taxiunternehmen, Stylistensalons, Restaurants etc.) besteht.23   Es gibt Kritiker, die behaupten, ActualSanity würde den Bewohnern von Blink mehr Möglichkeiten einräumen als den Bewohnern anderer Planeten. Die wenigen Landschaftsflächen, die überhaupt genutzt werden, würden für Repräsentationsbauten verschwendet, die weder optisch innovativ noch ökonomisch sinnvoll seien. Diese Kritik ist emotional nachvollziehbar, basiert aber auf einem fundamentalen Missverständnis. Fakt ist, dass die AS keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen kann, sie ist abhängig von unseren Handlungen, Diskursen und Wünschen.24 Privatunternehmen gibt es kaum mehr und die Waren und Gegenstände werden geliehen und getauscht. Eigentum oder die Spekulation an der Börse gehören der Vergangenheit an und sind in diesem postkapitalistischen System scheinbar aufgrund der Datenlage, der perfekten Umverteilung und der shared economy nicht mehr notwendig. Prekäre Verhältnisse der ›alten Zeit‹ sind ersetzt durch eine allgemeine Wohlstandsgesellschaft, in der es nur noch darum geht, Glück zu verspüren bzw. anhaltende Zufriedenheit zu erlangen. Das Wirtschaftsmodell spiegelt sich so anhand der Figuren des Romans, die für eine zugespitzte Version des neoliberalen Subjekts von heute einstehen sollen. Flexibilität, Mobilität sowie leicht unterkühlte Beziehungsverhältnisse bilden die wichtigsten Soft Skills des Subjekts in Planet Magnon. Techniken der (Selbst-)Evaluation und (Selbst-)Optimierung sind die Machtdispositive, in denen sich Subjekte bewegen. Es gibt einen tiefen Glauben an eine lückenlose Messbarkeit und Quantifizierbarkeit des Selbst. Randt zeichnet damit eine Verschiebung vom Sichtbarkeitsparadigma der Biomacht zur Unsichtbarkeit der Psychomacht nach, wie Byung-Chul Han sie beschreibt. Es ist die Verlagerung von der panoptischen Disziplin zu einer Selbstquantifizierung und Selbstkontrolle, die durch die absolute Transparenz der Daten erreicht wird, wodurch Freiheit und Gewalt ununterscheidbar werden. Die Arbeit am Abbau

23 24

Randt : Planet Magnon, S. 275f. (Herv. i. O.) Ebd., S. 52.

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einer kapitalistischen Ideologie der ›alten Zeit‹ strickt in Planet Magnon somit auch im gleichen Zuge an einer neuen Ideologie mit. Mit Adornos Ideologiekritik könnte man hier auch von einer weiteren Aufklärungsform sprechen, die im Zuge der Zerstörung der Mythen sich immer weiter in neuen Mythologien verfängt: »Die falsche Klarheit ist nur ein anderer Ausdruck für den Mythos.«25 Mit Adorno ließe sich betonen, gerade die Klarheit, die Freiheit und die demokratische Transparenz dieses Regimes kritisch der Ideologie zu verdächtigen bzw. die Freiheitseffekte genau auf ihre Grundlagen zu untersuchen. Und genau das scheint in dem Roman auszubleiben, wenn Marten lakonisch sich selbst zitiert: »›Vielleicht müssen wir uns gar nicht selbst befreien, um glücklich zu werden. Vielleicht reicht es ja, wenn wir uns die Unfreiheit immer nur klar vor Augen führen‹.«26 Diese Affirmation entspricht dem Wertekodex des Dolfin-Kollektivs, das sich als neuzeitlich und pragmatisch27 definiert und die Negation der Kritik nicht als brauchbares Konzept ansieht, mit dem vollen Wissen darüber, dass ihre Welt ideologisch organisiert ist: […] Wir leben in einer fast perfekten Illusion. Man redet uns ein, dass es uns gut geht. Man sagt, wir würden gesehen und dass jede unserer Handlungen relevant sei. Dass wir alle einen Beitrag leisten können, ob alleine oder im Kollektiv. ActualSanity sieht uns, umsorgt uns und gibt uns Optionen …28 Es ist folglich auch nur konsequent, dass innerhalb der radikal geglätteten Kontrollgesellschaft kein politischer Diskurs mehr stattfindet. Klassenfragen, prekäre Arbeitsverhältnisse sowie die Schere zwischen arm und reich sind obsolet geworden. Das Interesse aller Kollektivmitglieder liegt dagegen darin, die Oberflächen zu polieren, ästhetisch zu sein und das Auftreten gegenüber anderen so anzupassen, dass möglichst wenig Reibung entsteht. Auf jede eigene Regung und auf die möglichen Reaktionen der anderen auf einen selbst wird penibel geachtet, der angemessene Habitus wird mittels bestimmter Selbsttechniken eingeübt. Dabei sind präzise Introspektion und Kontrolle von Affekten und Emotionen zentral. Jede emotionale Regung unterliegt einer genauen Beobachtung und Steuerung:

25 26 27 28

Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1996, S. 4. Randt : Planet Magnon, S. 13. Ebd., S. 282. Ebd., S. 156.

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Er beschrieb sein Talent: »Gib mir zwanzig Sekunden und ich erschauere.« »Aber das kommt doch vom Meereswind«, sagte ich, als er mir seine dünnen Unterarme hinstreckte. »Nein. Schau zu.« Duncan konnte seine Gänsehaut nach Belieben aktivieren. Er musste nur kurz die Augen schließen oder für einen Moment leicht verloren aufs Meer hinausblicken, schon stellten sich seine hellen Armhärchen auf. Duncan brauchte dafür nicht einmal Musik, er brauchte überhaupt keinen äußeren Reiz, ihm genügte ein kurzer Augenblick marianoscher Versenkung.29   Emma sitzt auf ihrem Bett und führt eine Celiusübung durch. Sie hat den Kopf leicht nach unten geneigt und sitzt völlig aufrecht da. Ich bin seit Beginn unserer Tour nicht besonders gut im Durchführen von Celiusübungen. Emma lässt sich zweimal überschauern, das sehe ich an dem leichten Zittern ihrer Schultern, dann öffnet sie die Augen und blickt mich an, auf diese vorübergehend erhabene Art. Sie ist jetzt sicher optimistisch.30 Diese Selbsttechniken entsprechen der Dolfin-Ideologie, die darin besteht, sowohl rational als auch emotional das rechte Maß zu halten. Anhand der Konversation zwischen dem Protagonisten Marten und einem weiteren Mitglied des Dolfin-Kollektivs wird deutlich, dass die affektiven Zustände künstlich hervorgerufen werden können – eine Paradoxie, wenn man bedenkt, dass Affekte dem Subjekt eher zustoßen als dass sie kontrollierbar wären. Dieser Affekt wird hier jedoch artifiziell mittels Meditationsübungen hergestellt. Es handelt sich um eine so genannte Celiusübung, die an Achtsamkeitsübungen aus der Verhaltenstherapie bzw. an Yoga erinnert. Im angehängten Glossar heißt es: »Wer sich heute gekonnt Celiusschauern auszusetzen weiß, gilt als ebenso entspannt wie diszipliniert und nähert sich damit dem postpragmatischen Schwebeideal.«31 Die Rhetorik und der lakonische Stil verraten dabei jedoch nicht, ob es sich um eine ironische Kritik bzw. um eine Persiflage einer neoliberalen Yogakultur der Gegenwart handelt, die letztlich durch Entschleunigung nur wieder ›Fitness‹ und ›Entspannung‹ für den Arbeitsmarkt produzieren soll, oder ob Randt es tatsächlich ungebrochen ernst meint. Die-

29 30 31

Ebd., S. 16. Ebd., S. 92f. Ebd., S. 280.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

se Indifferenz ist jedoch programmatisch. Das Kollektiv der Dolfins folgt mit dieser Art und Weise zu sein der PostPragmaticJoy-Theorie: Als Ziel der PPJ ist ein postpragmatischer Schwebezustand ausgegeben, in dem Rauscherfahrung und Nüchternheit, Selbst- und Fremdbeobachtung, Pflichterfüllung und Zerstreuung ihre scheinbare Widersprüchlichkeit überwinden. Damit setzen die Dolfins ihre PPJ von einer PragmaticJoy ab, unter der sie diverse Hobby- und Freizeittechniken anderer Kollektive subsumieren. Außerhalb des Kollektivs Dolfin werden die Konzepte der PostPragmaticJoy oftmals als begrifflich diffus kritisiert.32 Das Postpragmatische strebt an, Binäres zu überwinden, um einen Zustand der Indifferenz zu erreichen; jedoch nicht, um dann handlungsfähig zu sein, sondern vielmehr gleichmütig gegenüber der Welt. Die postpragmatische Weltsicht der Dolfins lässt weder Nähe noch Distanz zu. Es ist eine leicht unterkühlte und passive Haltung, die sich die Waage hält, jedoch in ihrer Sowohl-als-auch-Struktur nicht mit einer, um es mit Deleuze zu formulieren, ›passiven Potenz‹ eines Bartleby oder eines Erschöpftseins bei Beckett vergleichbar wäre.33 Mit seiner maschinischen Formel »I would prefer not to« durchbricht Bartleby den bipolaren Raum von actio und reactio, um sich in einem Zwischenraum einzurichten, der gerichtetes Handeln verunmöglicht und eine Kritik an den Imperativen der Produktivität übt. Die Übungen und das indifferente ›Schweben‹ der Postpragmatiker*innen sind jedoch kein strategisches Zaudern im Sinne Bartlebys, sondern münden in einen rein oberflächlichen Relativismus ohne jegliche Kritik am Produktivitätsimperativ.

5.1.2

Magnon, Platin, Ketasolfin: drei (nicht) prekäre Stoffe

Das postpragmatische ›Schweben‹ wird vorzüglich durch die Einnahme von Drogen und anderen Stoffen erreicht. Die fiktive Substanz Magnon steht im Zentrum des Kollektivs der Dolfins. Bei der »kupferfarbenen Flüssigkeit«34

32 33

34

Ebd., S. 291f. (Herv. i. O.) Vgl. Gilles Deleuze: Erschöpft, in: Samuel Beckett: Quadrat. Geister-Trio, … nur noch Gewölk …, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen, mit einem Essay von Gilles Deleuze, Frankfurt a.M. 1996, S. 49-101, hier S. 51. Randt : Planet Magnon, S. 283.

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handelt es nicht um einen Katalysator einer seherischen Bewusstseinserweiterung wie im Fall der Kekse des Orakels in The Matrix. Es geht auch nicht darum, einen »energetischen« noch einen »amourösen Ausnahmezustand« hervorzurufen, wie es im Roman heißt, sondern um eine »Befreiung des Blicks«.35 Hier die Definition und Wirkungsweise der Droge aus dem Glossar des Romans, in dem alle zentralen Konzepte, Kollektive, Substanzen und Begriffe aufgeführt werden: Flüssigkeit Magnon (Substanz) Die Wirkungsweise der Substanz wird widersprüchlich beschrieben. Im Almanach der Dolfins ist in den Artikeln älterer Kollektivmitglieder von einer sphärischen Versachlichung die Rede, in neueren Artikeln wurde die Wendung Metaeuphorie wiederholt aufgegriffen, eine Euphorie, die in keinem Moment der banalen Sport- oder Alkoholeuphorie nahesteht, dennoch mit beiden in Einklang zu bringen ist. Weitere Begriffe, die im Magnonkontext auftauchen, sind: Vogelperspektivierung, erhabene Besänftigung, würdevolle Schamlosigkeit.36 Nach dem Abschluss der Akademie feiern die Kollektivmitglieder und experimentieren mit der Flüssigkeit Magnon. Bei der Einnahme muss die Dosierung genau stimmen, damit sich »der gewünschte Effekt einstell[t]«.37 Es wird zwischen drei »Magnonreaktionstypen«38 unterschieden: »dem Neutralisten, dem Enthusiasten und dem Lethargiker. Sie alle nähern sich dem postpragmatischen Schwebezustand aus verschiedenen Richtungen«.39 Alle drei Typen vereint letztlich ein meditativer Nullpunkt, der erreicht werden muss, um weder zu rational noch zu emotional zu sein. Es bedarf dafür auch, wie es an einer anderen Textstelle heißt, einer »Rauschkalkulation«,40 um den Exzess zu verhindern und um eine Mitte zu finden, die keine Ausschläge zulässt. Nach einer Zeit von fünfundzwanzig Minuten macht Randt die Wirkung der Droge explizit deutlich, indem Marten Emma beim Weggehen beobachtet. Es entfaltet sich scheinbar eine neutralisierende Wirkung, die zu einem rein informativen und nahezu sinnentleerten Sprechakt führt:

35 36 37 38 39 40

Ebd., S. 82. Ebd., S. 283. (Herv. i. O.) Ebd., S. 60. Ebd., S. 266. Ebd., S. 266. (Herv. i. O.) Ebd., S. 35.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

Ich sah sie auf der Wiese davongehen. Sicher hat sie noch einen Moment gewartet, ob ich ihr folge, aber in diesem Moment war mir das schon nicht mehr wichtig. Ich betrachtete ihren Overall, den ich kurz zuvor noch als zu weit wahrgenommen hatte, den ich aber jetzt schon nicht mehr beurteilen wollte. Ich sah nur noch, dass Emma einen grauen Overall trug, der mutmaßlich zu 75 % aus Wolle bestand und den man je nach Situation, als schön oder angemessen, aber auch als problematisch einstufen konnte. All das war legitim und nachvollziehbar, und in jeder dieser Betrachtungsweisen lag eine gewisse Chance. […] »Hey!«, rief ich und berührte sie an der Schulter. »Und?«, fragte sie. »Das ist interessant. Eine Mischung aus enormer Objektivität und großer Emotion.« Ich wunderte mich. Eine so genaue Formulierung hatte ich nicht kommen sehen. Es war, als übernehme die Flüssigkeit das Reden für mich.41 Die Droge erzeugt Indifferenz, Bedeutungslosigkeit und Gleichmütigkeit, die keinerlei Erregung nach sich zieht. »[G]roß[e] Emotion« und »enorm[e] Objektivität« scheinen sich wie zwei ungleiche Magnetpole auszulöschen, um ein Drittes hervorzurufen, das um eine inhaltsleere Mitte kreist. Während Deleuze mit seinem Konzept des Drogenkörpers bzw. des Drogengefüges die Ereignishaftigkeit des Körpers unter Drogeneinfluss beschreibt, bleibt der Magnonkörper bei Randt ereignislos. Interessant ist hier jedoch die Auswirkung auf das Sprachsystem, das sich durch die veränderte Rhetorik äußert. Pharmakologisch könnte die Flüssigkeit Magnon als ein Nootropikum eingestuft werden, die das zentrale Nervensystem beeinflusst und die Funktionsleistung des Gehirns steigert. Magnon führt jedoch nicht zu einer Erkenntnissteigerung oder zu einer größeren Leistung wie verbesserte Erinnerungsfähigkeit oder Scharfsinn, sondern gemäß der Ideologie des Dolfin-Kollektivs zu postpragmatischen Zuständen der absoluten Glätte und Erregungslosigkeit. Dabei ist ein elaboriertes Reden, das sowohl poetisch als auch analytisch ist, zentral: bloße rhetorische Eloquenz, die nur zum Selbstzweck und zum leeren Anwenden sprachlicher Codes dient, ohne dabei Inhalt zu produzieren. Floskelhaftigkeit der Sprache gehört zum allgemeinen Kommunikationssetting aller Kollektive. Es gibt keine Mehrsprachigkeit, sondern nur Soziolekte, die ihre

41

Ebd., S. 63f.

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jeweiligen Floskeln besitzen. Die Literaturwissenschaftlerin Eva Murašov untersucht in ihrer Dissertationsschrift die literarischen Formen postindustriellen Erzählens und stellt anhand des Romans von Randt heraus, dass es in der Kommunikationssphäre dieser Welt nur darum geht, sich selbst zu reflektieren und diese Reflexion wiederum metareflexiv zu beobachten, wodurch sich Rhetorik wie Wertdiskurse der Figuren auf eine Art Nullpunkt hin einpendeln. Es handelt sich demnach durch den Roman hindurch um hyperrationale Kommunikationssituationen ohne spontane oder dysfunktionale Sprechakte. Zu kommunizieren bedeutet entsprechend, momentane Stimmungen und Befindlichkeiten auszutauschen.42 Die mit Magnon korrespondierende fiktive Droge Platin ist noch enger an die Sprache und Rhetorik der DolfinKollektive geknüpft und wirkt als starkes Stimulans auf das Sprachzentrum der Subjekte. Als »Platinblättchen« eingenommen oder im Wasser aufgelöst und inhaliert, wird durch seine euphorisierende Wirkung die Assoziation mit Kokain aufgerufen: Platin (Substanz) Platinblättchen werden in heißem Wasser aufgelöst und als Dampf eingeatmet. Während eines Platinrausches wird oft stundenlang geredet. Ein Platinfan nimmt an, dass sich durch das eigene Sprechen die Welt des Folgetages maßgeblich verändern könnte. Die Substanz wird in speziell dafür vorgesehenen Bars und Cafés, insbesondere in den SHIFT*-Bezirken von Blossom City, eingesetzt. Der bekannteste Ort ist das Platin, eine Bar mit sogenannten Inhalatoren an jedem Tisch. Vor Einführung der Inhalatoren war es üblich, die Platinblättchen in Töpfen oder Schüsseln mit kochendem Wasser zu übergießen. Alte Fotografien zeigen Platinfans häufig mit Handtüchern auf dem Kopf.43 Die durch die Droge Magnon induzierten Zustände der Lakonie oder die wie hier aus dem Glossar zitierte Substanz Platin, die zu einem gesteigerten Redefluss führt, erinnern an die Substanz Soma in Huxleys Brave New World. In Huxleys viel rezipierter Dystopie herrscht eine totalitäre Gesellschaftsordnung, die durch die fiktive Droge Soma stabilisiert wird. Die Wirkungen variieren mit der eingenommenen Dosis (von euphorisierend über narkotisierend

42 43

Vgl. Eva Murašov: Reste. Stoffe und Infrastrukturen im postindustriellen Erzählen, Berlin 2022. Randt : Planet Magnon, S. 291. (Herv. i. O.)

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bis halluzinogen). Mittels dieser Substanz wird die Unfreiheit der fiktiven Gesellschaft in Brave New World angenehm. Der damit verbundene ausschweifende Sexkonsum soll den Mitgliedern in kalkulierter Weise das Bedürfnis nach kritischem Denken und einem Hinterfragen ihrer repressiven Weltordnung nehmen. Die Wirkungen von Magnon bzw. Platin im Vergleich zu Soma sind invertiert bzw. mit anderen Vorzeichen ausgestattet. Denn in Randts Fiktion kommt ähnlich wie in der bürgerlich-realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts, dass bis auf einige Ausnahmen sexuelle Entsagung herrscht bzw. Sexualität hyperreflexiv ebenfalls Gesetzen des Maßhaltens folgt. Der allgemeinen Distanziertheit und Verdrängung eines exzessiven Begehrens zum Trotz ist in den Beschreibungen des Ich-Erzählers eine Obsession des Äußerlichen festzustellen. Immer wieder finden sich Textstellen, wo harte Muskeln und sehnige Körper Gegenstand von Marten Elliots Beobachtungen werden. Er selbst wird von Emma darauf hingewiesen, den Bauch einzuziehen, um der optimierten körperlichen Glätte zu entsprechen.44 So ist der Gedanke der körperlichen Annäherung zwischen den beiden paradoxerweise von jeglicher Körperlichkeit befreit: Von Anfang an wollte ich wissen, was sie wohl über mich dachte. Und ich konnte nie abschließend abschätzen, ob sie sich physisch zu mir hingezogen fühlte oder nicht. Emma und ich haben nie miteinander geschlafen. Und mittlerweile ist es ratsam, auch nicht mehr damit anzufangen.45 Der Protagonist beschreibt diese Art von Beziehung entsprechend der Ideologie des Dolfin-Kollektivs auch als postpragmatische Liebe. So ist die von jeglichem Begehren befreite Formel dafür: »Wir Dolfins unterstützen uns gegenseitig, wir sind füreinander da, aber nicht aneinander verloren.«46 Wenn Begehren immer auch ein Begehren des anderen ist – also von intentionaler Natur – und wenn es, wie Deleuze und Guattari herausarbeiten, immer neue exzessive Assoziationsverkettungen47 herstellt und auch immer prekär, verausgabend und todesgetrieben agiert, dann präsentiert Randt eine im Gegen44 45 46 47

Vgl. ebd., S. 136. Ebd., S. 49. Ebd., S. 40. Vgl. Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, S. 19, 29, 417. Während Deleuze und Guattari Begehren als Produktivkraft bestimmen, wird philosophiehistorisch Begehren vornehmlich durch Mangel definiert, eine begehrenstheoretische Spur, die sich von Platon bis hin zur Psychoanalyse hin verfolgen lässt. Vgl. dazu Jule Govrin: Begehren und Ökonomie: Eine sozialphilosophische Studie, Berlin/Boston 2020.

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satz dazu stehende Gesellschaft, die von der absoluten Abwesenheit von Lust und Begehren erfasst ist. Mit kalkulierter Selbstoptimierung mittels diverser Pharmaka und der daraus resultierenden »sphärischen Versachlichung«48 der Subjekte führt Randt ein spätkapitalistisches und vereinzeltes Subjekt vor, dass eine intime Anbindung zu anderen verloren hat. Der Verlust dieser Anbindung äußert sich auch in anderen Stoffen. Vor allem der von Randt komponierte fiktive Stoff Ketasolfin, der scheinbar aus dem Arzneistoff Ketamin und der neologistischen Verwendung des schwefelhaltigen Salzes (Sulfit) zusammengesetzt ist, verweist auf anästhetische Wirkungsweisen, auf die ich im Folgenden kommen werde: Ketasolfin (Substanz) Einmal versprüht, hält sich Ketasolfin hartnäckig in der Luft. Ketasolfin ist ein farbneutraler Stoff, der sich unter Zugabe von Nahrungsmittelaquarell leicht spezifizieren lässt. Schwach dosiert kann Ketasolfin Wankelmut und Nostalgie hervorrufen. In höherer Dosierung sind Zustände der Panik sowie Ohnmachts- und Lähmungserscheinungen möglich. Eine exzessive Aufnahme über die Atemwege oder die Haut kann bleibende Schäden an Körper und Geist verursachen.49 Auch bei diesem Stoff drückt sich die Wirkung in Zuständen eines Sowohlals-auch/Weder-noch aus. Wankelmut und Sprunghaftigkeit verbinden sich mit Nostalgie und bilden eine postpragmatische Mischung, die sich weder in die eine noch in die andere Richtung auflösen lässt und so innerhalb einer leeren und sedierten Mitte verbleibt, um eine Entscheidung oder einen Aktivismus des Subjekts zu verhindern.

5.1.3

Zur Thermik der Stoffe

»Es ist die Dosis (bzw. die Gabe), dass ein Ding ein Gift sein lässt«,50 schreibt Paracelsus und betont damit, dass es kein Außen des Toxischen gibt. Gift und Heilmittel sind strukturell das Gleiche. Im Anschluss an Hippokrates geht es Paracelsus darum, nicht nur mit der Einnahme von heilenden/giftigen Substanzen Maß zu halten, sondern auch in der Lebensführung und in der Lebenskunst. Es gilt, einen Ausgleich bzw. eine Diätetik zu schaffen, die sich 48 49 50

Randt: Planet Magnon, S. 283. Ebd., S. 288. Paracelsus: Das Buch Paragranum, S. 74.

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in der Bewegung, in der Ernährung, im Affektleben als auch im sozialen und politischen Leben spiegeln soll. Neben der Semantik von Gift und Heilmittel kommt hier auch die Thermik hinzu: Wenn eine Krankheit da wäre, und wäre heiß, und wollte durch Kälte gesund werden, so soll man dieser Kälte nicht die Kraft zulegen, sondern dem arcanum, das da handelt – nicht die Kälte handelt. Das ist gleich wie bei einem Menschen, der ein Ding tun soll, – was hilft ihm Wärme oder Kälte dazu? Nichts. Was nützt die Hitze der Stimme? Was nützt die Kälte den Ohren? Nichts. Diese Dinge, Wärme und Kälte, sind in allen Dingen; sie handeln aber nichts. Da liegt ihr anfängerischer Einfall, den sie auf den hohen Schulen pflegen und gebrauchen. Dazu haben sie auch das Nötigste vergessen; sie setzen nur eine Wärme, nur eine Kälte, und müssen dabei doch bekennen, daß es, dieweil es nur eine Kälte und nur eine Wärme sein soll, nit einerlei Kraft habe. Sondern: in der Kälte ist die, in der die (Kraft), in der Hitze das; aus der Ursache müssen sie fehlen, wenn sie Kaltes wider Heiß, Heiß wider Kaltes gebrauchen.51 Daran anschließend und vor dem Hintergrund des bereits untersuchten Immunologiekonzepts von Roberto Esposito ließe sich die Pharmakondialektik von Heilmittel und Gift auch auf die Dialektik von Wärme und Kälte übertragen, die sich in metaorganischen und sozialen wie auch in den literarischen Formen wiederfinden lässt. Somit liegt die Annahme nahe, dass sich Leif Randts Planet Magnon auch in einer thermodynamischen Semantik klammern lässt. Denn die sozialen Strukturen des Romans sind durchzogen von rhetorischen Feldern der Kälte bzw. der Coolness, die nicht ohne ihr Gegenteil betrachtet werden können. Kälte und Wärme als thermische Dimension des Pharmakons sind dabei nicht nur als bloße Stimmungsbilder auf der Erzählebene zu finden, sondern sind auch Teile eines Äußerungsgefüges, in dem Theorie und soziopolitische Ereignisse in der Textästhetik zusammenwirken und letztlich auch als eine Zwei-Therme-Dialektik Randts Poetik selbst besetzen. Mit dem Begriff der Zwei-Therme-Dialektik beziehe ich mich auf Roland Barthes, der in seiner Autofiktion Über mich selbst (1978) an seiner eigenen Person feststellt, dass sein »Diskurs nach einer Zwei-Therme-Dialektik verläuft: die geläufige Meinung und ihr Gegenteil, die Doxa und ihr Paradox […] Diese binäre Dialektik, das ist gerade die Dialektik des Sinns.«52 Wenn man 51 52

Ebd., S. 18. Roland Barthes: Über mich Selbst, Berlin 2019, S. 79.

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Barthes hier folgen möchte, wird deutlich, dass es sich nicht um einen Fall hegelscher Synthese handelt. Nach Barthes sind die Gegensätze nicht aufgehoben, sondern »alles Ding kehrt wieder, doch kehrt es wieder als Fiktion, d.h. auf einer anderen Windung der Spirale.«53 Diese nicht aufgehobene Dialektik aus Kälte und Wärme lässt sich auch in Randts Erzählung lokalisieren. Die Wärme der Empathie und des Mitgefühls weichen in seinem Roman einer emotional-sachlichen Attitüde, die sich als Coolness beschreiben ließe. Distanziert ironische Lakonik ist die kommunikative Umgangsform in Planet Magnon, wenn es heißt: »Beim Landeanflug auf Snoop ist mir nicht blümerant geworden. Ich sehe keinen Anlass zur Sorge«,54 oder: »Die Scheiben waren getönt. Sonnenbrillen brauchten wir nicht«55 – diese und viele andere Sprechakte durchziehen den Roman und erzeugen ein leicht unterkühltes Stimmungsbild. Typisch hierfür sind metareflexive Sätze wie: »Es ist auf jeden Fall ziemlich dolfin, sich einem Moment der experimentellen Entrückung sachlich auf den Boden zurückzuargumentieren.«56 Gerade die Adjektivierung »ziemlich dolfin« des Kollektiveigennamens deutet auf eine Rhetorik der Coolness hin. Mit Coolness sind bekanntermaßen Prozesse der Kühlung und Abkühlung gemeint, in Bezug auf soziale Phänomene und Interaktionen vor allem kühle Beherrschtheit, Gelassenheit, Zurückhaltung, Sachlichkeit, Übersicht, Nüchternheit und Gleichgültigkeit. Dies sind alles Eigenschaften, welche die Figuren in Planet Magnon bis zur Perfektion beherrschen.

5.2

Einschub: Diskurse des Thermischen

Das Kalte lässt sich jedoch, wenn wir der Logik des Pharmakons strikt folgen wollen, nicht ohne das Warme denken. Beschäftigt man sich mit der Logik und Ästhetik des Thermischen, insbesondere mit dem Bild des Kalten in Abgrenzung zum Warmen, stößt man zwangsläufig auf den Diskurs der Aufklärung. So findet man bereits in Heinzmanns Litterarischer Chronik von 1785 den Ausruf: »Aufklärung bringt Kälte und hemmt Bewirkung des Guten.«57 Die Kälte wird pejorativ codiert und es verschränken sich auf der einen Seite

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Ebd. Randt: Planet Magnon, S. 133. Ebd., S. 7. Ebd. Johann Georg Heinzmann: Litterarische Chronik, Berlin 1785, S. 351.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

die Lexeme das Gute und Wärme, auf der anderen das Schlechte und Kälte. Hundertfünfzig Jahre später findet diese Unterscheidung den Weg in die Ideologiekritik von Adorno und Horkheimer, wenn sie den negativen Höhepunkt der Aufklärung als »bürgerliche Kälte«58 beklagen. Auch schon in früheren Diskursen, etwa wie bei Schelling, lassen sich Kälte und Eis als Zeichen der Vernunft wiederfinden. Eine ähnliche Verwendung findet man auch bei Peter Strasser, der in seiner Studie Die verspielte Aufklärung auch von der »Kälte der Wahrheit«59 spricht. Daniel Chodowiecki kommentiert seinen berühmten Kupferstich Aufklärung mit den Worten: »Wir sind immer überzeugt, daß [die Aufklärung; d. Verf.] zuerst Licht – oft Licht, das gleich der Morgenröte Kälte zu erzeugen scheint und endlich wohltätige Wärme erzeugen wird.«60 Dem negativ besetzten Bild der aufklärerischen Kälte setzt Chodowiecki ein ausgewogeneres Bild entgegen. Denn das Licht der Aufklärung bringe erst die »wohltätige Wärme«.61 Die Kälte, die hier korreliert, scheint noch die nachwirkende Kälte des Mittelalters zu sein. Es kündigt sich bereits ein Gegenprogramm an, das sich auch literaturhistorisch nachweisen lässt. Man denke etwa an die enigmatische Mythopoetik von Johann Georg Hamann, der in seinen Überlegungen zur Ästhetik vom Dichter und Denker die »Herzwärme der Willkür«62 fordert. Wenn für ihn Verdauen, Empfinden und Denken gleichermaßen vom Herzen abhängen, ist klar, dass das für die Aufklärung typische Primat des Intelligiblen aus hamannscher Sicht undenkbar ist. Es ist zwar keine radikale Suspendierung des Rational-Kalten, Schwärmerei und Aberglaube seien jedoch für das Leben notwendige Bestandteile.63 Es ist also kein Zufall, dass die fantastischen Spekulationen der Romantik ihre Ungeheuer, 58 59 60 61 62 63

Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 80. Peter Strasser: Die verspielte Aufklärung, Frankfurt a.M. 1986, S. 123. Zit. nach: Ulrich Im Hof: Das Europa der Aufklärung, München 1993, S. 11. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, München 2007, S. 746. Vgl. dazu auch Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004, S. 19ff. Radikaleres findet sich in Frankreich auf dem politischen Feld z.B. bei Joseph Marie de Maistre. Als Gegner des Rationalismus und in konservative Verstrickungen zu Zeiten der Französischen Revolution involviert, ist für ihn der Katholizismus die Lösung für die Wirren der Aufklärung. Der Versuch einer Rückkehr zum Glauben vor dem Hintergrund des herannahenden Modernismus findet sich ebenfalls in Chateaubriands Geist des Christentums, vgl. dazu François-René Chateaubriand: Geist des Christentums oder Schönheiten der christlichen Religion, Berlin 2004.

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ekelerregenden Entitäten oder Monster immer wieder in den kalten Polen der Welt lokalisieren. Als maximal von menschlichem Dasein distanzierter Ort ist der arktische Pol ein geografischer Extremfall und Refugium für fantastische Wesen, die das aufklärerisch Rationale dort ironisieren. Geradezu symbolhaft für den Widerstreit zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung findet der Endkampf zwischen Viktor Frankenstein und seinem Monster in Mary Shelleys Frankenstein, oder der neue Prometheus (1818) im Packeis der Arktis statt.64 Die Konkurrenz zwischen vorwissenschaftlichen Glaubenssätzen vor der Aufklärung und den modernen Wissenschaften mit ihren naturwissenschaftlichen Experimenten wird bei Shelley mit den thermischen Verstrickungen von Wärme und Kälte bebildert. H.P. Lovecrafts Horrorgeschichte Berge des Wahnsinns (1931) ist, obwohl sie in der Moderne verfasst ist, ebenfalls der Wärme-Kälte-Dialektik der Romantik verschrieben. Auch hier begegnet der Mensch in der Antarktis einer ungeheuren Andersheit, die durch ihre Monstrosität das Humane ins Verderben stürzen lässt. Dieser metaphorische Konnex wird dann auch anhand der literarischen Moderne sichtbar. In den zehn Thesen zur literarischen Moderne von 1886 in Bezug auf den aufkommenden Naturalismus heißt es, dass man den Menschen mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit zeichnen wolle. Die Wahrheit, eines der großen Anliegen des Aufklärungsdiskurses, kehrt hier unter anderen Vorzeichen wieder. Die Schriftsteller*in erscheint im Licht der Naturwissenschaften und verpflichtet sich einem kalten Rationalismus, der mit dem Idealismus brechen will. Die Bewegung, die darauf folgt, erzeugt wiederum einen ›wärmeren‹ Gegendiskurs, der zu einer Subkultur des Literaturbetriebs avanciert. Wolfgang Beutin beschreibt dies auch als »die Betonung alles Gefühlhaften, Affektvollen und Pathetischen, kurzum: Alles Nicht-Rationalen«.65 Nietzsche gilt hier sicherlich als ein Scharnier der Moderne, der für den Menschen ein mediterranes Klima vorschlägt. In Menschliches, Allzumenschliches heißt es: »[a]ber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom Feuer durchglüht, bald vom Geiste

64 65

Vgl. dazu Richard Brittnacher: Monster im Packeis, in: Geisenhanslüke/Mein: Monströse Ordnungen, S. 103-124, hier S. 111. Wolfgang Beutin u.a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 2008, S. 342.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

durchkältet sind.«66 In Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für das Leben findet sich eine Polemik gegen das andere thermische Extrem. Der Rationalismus der Aufklärung, sei auch im Bild des zu Heißen zu finden. Nietzsche schreibt, dass der Historismus seiner Zeit das Ausmaß eines »verzehrenden historischen Fieber[s]«67 angenommen habe. Ähnlich den homöopathischen Lehren Paracelsus’ sucht Nietzsche nach einem thermischen Mittelweg. Die gleiche metaphorische Formation als Zusammenspiel von Gefühl, Irrationalem und Wärme wie in der Gegenaufklärung kommt im Expressionismus erneut zur Geltung. Bestätigt wird dieses Amalgam auf der textuellen Ebene durch unterschiedliche rhetorische Mittel. So findet man in der Literatur des Expressionismus ein enormes Vorkommen von Hyperbeln, Klimax, Worthäufung oder Anapher. Als elocutio eignen sich diese rhetorischen Figuren besonders zur Evokation starker Emotionen. Als die Kunstrichtung der Extreme und des Ausbruchs aus einem nüchternen und kalten Rationalismus gehört der Konsum von Rauschmitteln zum guten Ton des künstlerischen Lebens dieser Zeit. Gleichzeitig ist Rausch jedoch auch etwas, das sich als ästhetischer Effekt expressionistischer Werke beschreiben lässt. In Anlehnung an den Futurismus sind viele der Arbeiten fasziniert von dem Rausch der Großstadt, der Technik, der an Bilder der Geschwindigkeit geknüpft ist. Der Expressionismus nimmt mit der Konstruktion von rauschhaften oder utopischen Gegenwelten einen fortschrittsgläubigen Rationalismus ins Visier. Was in den 1920er Jahren passiert, ließe sich anschließend als einen radikalen Einzug der Kälte bezeichnen. Die Neue Sachlichkeit wird so zu einer anti-expressionistischen und kalten Strömung, die nach der Konjunktur des Gefühls sich von allem Sentimentalen und Gefühlsduseligen zu entledigen sucht. Das spiegelt sich auf textueller Ebene vor allem in der zunehmenden Einwanderung des Numerischen, der Zahlen in die Texte und in der Präsenz des Telekommunikations- und Verkehrsdiskurses wider. Insbesondere Helmut Lethen beschreibt – auf die Literatur der Neuen Sachlichkeit Bezug nehmend – einen Bruch mit älteren kulturellen Wahrnehmungs- und Denkstilen sowie Denkfiguren. Geprägt von modernen technischen, sozialen

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67

Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, in: ders.: Werke. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemässe Betrachtungen. Menschliches, Allzumenschliches, hg. v. Karl Schlechta, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980, Aphorismus 637, S. 729. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders.: Werke. Bd. 1: Unzeitgemäße Betrachtungen, hg. v. Karl Schlechta, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980, S. 209-285, hier S. 209.

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und ökonomischen Faktoren gibt es ein neues ›Cool‹, das die Kälte der Aufklärung in die Moderne verlängert. Unter Kälte versteht Lethen, wie bereits an dem Figurenpaar Neo/Morpheus aus The Matrix gezeigt, die Panzerung und vor allem die Panzerung eines sich selbst abhärtenden und gegen die Außenwelt immunisierenden Subjekts: »Die Panzerung ist vielmehr das Ergebnis eines zivilisatorischen Prozesses, der den Gedanken der Autonomie an den der Selbstdisziplinierung und ›Abkühlung‹ der Affekte knüpfte.«68 Mit der kalten persona, die Lethen von dem spanischen Philosophen Baltasar Gracián entlehnt, meint er vor allem einen gefühlskalten und männlichen Habitus. Gabriele Mentges fasst Lethens Analysen der Affektabkühlung wie folgt zusammen: Sie bedeute auch Schutz gegen eine zunehmend erkaltende Umwelt in der »Maske eines virilen Narzissmus«. Materielle Welten, Beschleunigungsmaschinen (Auto und Flugzeug), Mobilität, Taylorismus, das Anonymwerden, metallene Materialwelten, gleißendes elektrisches Licht – sie beschreiben die Umgebung des kühlen Mannes.69 Das Kalte taucht hier erstens als immunologische Struktur des Pharmakon im Sinne Espositos auf. Es ist somit nicht nur ein viriler, sondern ein viraler und damit immunologisch operierender Narzissmus. Denn der Schutz gegen die Erkältungen der Moderne erfolgt nur über die Gabe und die Internalisierung desselben. Zweitens erscheint die Kategorie des Kalten hier als eine Kategorie des Geschlechts, wodurch Lethen sicherlich implizit auf Adornos Begriff einer ertragenden, verhärteten und kalten Männlichkeit verweist, der diese eng an die Gräueltaten des Faschismus im Dritten Reich bindet.70 Lethens Untersu-

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Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 2018, S. 71. Gabriele Mentges: Coolness – Zur Karriere eines Begriffs, in: Annette Geiger/Gerald Schröder/Änne Söll (Hg.): Coolness. Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde, Bielefeld 2010, S. 17-36, hier S. 28. Vgl. Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-69, hg. v. Gerd Kadelbach, Frankfurt a.M. 1970, S. 88-104, hier S. 96. Oskar Negt schließt unmittelbar mit seiner Arbeit Kältestrom aus dem Jahre 1994 an Adornos Thesen an und entwickelt die Kältemetaphorik anhand sozialer Phänomene des Öffentlichen und des Privaten. Vgl. dazu Oskar Negt: Kältestrom, Göttingen 1994. In der jüngst erschienenen Monografie Eisige Helden untersucht Inge Stephan kulturgeschichtlich die Verbindungen zwischen Kältefantasien der Fiktion und der Kategorie des Geschlechts, vgl. Inge Stephan: Eisige Helden. Kälte, Emotionen

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

chungen stammen aus dem Umfeld von Krieg und Entbehrung und sprechen über einen gesellschaftlichen Niedergang, in dem sich die Zeichen der faschistischen Diktatur bereits ankündigen.71 Seine Kältetechniken sind damit nicht ohne weiteres mit Coolness gleichzusetzen, jedoch lässt sich hervorheben, dass die Kälte vornehmlich männlich konnotiert ist und, wie Mentges weiter ausführt, die gesamte Coolnessdiskussion dominiert.72 Dagegen bezieht sich P.H. Stearns Coolnessbegriff auf die weiße Mittelschicht in den USA, die mit der viktorianischen Prüderie zu brechen versucht und ein neues Management der Gefühle ausbildet. Damit ist vornehmlich die Literatur der Beatgeneration gemeint, die als ein Seismograf für die Erschütterungen der 1950er Jahre in den USA fungiert. Die jungen Autor*innen setzen Coolness insbesondere als politische Strategie und als rhetorisches Werkzeug ein, mit dem zum Widerstand gegen Konservativismus, Prüderie und Anti-Kommunismus aufgerufen werden soll. Diese postmoderne Ausformung einer politisch aktiven Coolness zeigt auf, dass es bei der thermischen Dialektik von Wärme und Kälte nicht um starre und binäre Codierungen (Kälte = außen, objektiv, distanziert, gewaltsam usw.; Wärme = innen, Nähe, subjektiv, emanzipativ) handelt, sondern das Kalte auch zur Anreicherung von warmen Affekten und Aufbegehren gegen einen kalten Rationalismus dienen kann. Auch hier lässt sich eine Logik der Immunologie herauslesen, die darin besteht, mittels Negationen das Verhältnis von innen und außen immer wieder im Innern auszutarieren. So sind die Drogentrips und die Drogenromane von Burroughs und Ginsberg Eskapismen in die wärmeren Gegenden der künstlichen Paradiese, um sich, wie Svenja Korte schreibt, mit einer »New Vision« gegen den »öde empfundenen Alltag«73 der USA nach dem Zweiten Weltkrieg zu immunisieren.

5.3

Coolness und Anästhetik: die Gesellschaft der Glätte

Wenn das ›Cool‹ der Literatur der Beatgeneration Effekte des Widerständigen und des Befreienden hatte, attestiert Diedrich Diedrichsen der Gegen-

71 72 73

und Geschlecht in Literatur und Kunst vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bielefeld 2019. Vgl. Mentges: Coolness, S. 29. Vgl. ebd., S. 33. Svenja Korte: Rauschkonstruktionen. Eine qualitative Interviewstudie zur Konstruktion von Drogenrauschwirklichkeit, Wiesbaden 2007, S. 98.

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wart eine entleerte Form der Coolness, die ein politisches Potential kühler Haltung verloren habe: »Coolness ist ein Begriff, der heutzutage einen maximalen Grad an Entleerung erreicht hat.«74 Leif Randts SF-Roman scheint geradezu paradigmatisch im Sinne Diedrichsens eine post-politische Coolness vorzuführen, wenn es bereits zu Beginn des Romans heißt: »Es war die erste Woche der Sommerferien. Wir saßen im Reisebusshuttle, wir tranken Colabiere und hörten Musik. Draußen zog die Küste vorbei, eine menschenleere Region voller Palmen und Kliffs, wenige Wolken. […] Sonnenbrillen brauchten wir nicht.«75 Die Sonnenbrille als das Konsumaccessoire der Coolness schlechthin ist nicht mehr notwendig, denn es scheint so, als ob es kein Außen mehr gibt, gegen das sich die Verdunkelung richten sollte, um ein neutrales ›Pokerface‹ gegenüber der Umwelt zu positionieren, das Geheimnis zu bewahren oder Schwäche zu zeigen. Die integrale Äußerlichkeit der Gemeinschaften in Planet Magnon äußert sich durch eine totale Transparenz – eine Offenheit der Oberfläche, die die Unterscheidung zwischen innen und außen zugunsten eines alles umfassenden und immanenten Außen verschluckt. Damit geht auch eine völlig verharmlosende Konformität innerhalb der Planetengemeinschaften einher, die die Abweichungen und Devianzen in absolute Glätte verwandelt: »Es bestand keine Uniformpflicht, trotzdem mochten wir es, einheitlich gekleidet zu sein.«76 Dies geschieht jedoch nicht durch die von Foucault beschriebene biopolitische Hemmung, Anreizung oder Unterdrückung, sondern durch eine bereits vollständige Inkorporierung und unhinterfragte Selbstverständlichkeit. Wenn man die Macht der Disziplin noch als eine relativ harte Form begreift, die sich einerseits durch Negativität auszeichnet und alles verbietet, andererseits durch bestimmte Kanalisierung wieder etwas erlaubt, dann inszeniert Randt eine Machttechnik, die so dermaßen freiheitlich auf die Subjekte einwirkt, dass diese, obwohl sie deren repressiven Effekte begreifen, diese dennoch einfach so hinnehmen. Denn letztlich bringen sie keine Nachteile mit sich. Darin besteht eine lakonische Gleichgültigkeit und Zufriedenheit, die sich jedes Dissenses entledigt hat: »Und wenn Menschen uns dafür anfeinden, dass wir sie nicht lieben, werden wir besonnen darüber hinwegsehen. Wir werden ihnen nichts entgegnen, wir werden uns

74 75 76

Diedrich Diedrichsen: Coolness, Souveränität und Delegation, in: Jörg Huber (Hg.): Person/ Schauplatz, Wien/New York 2003, S. 243-254, hier S. 243. Randt: Planet Magnon, S. 7. (Herv. i. O.) Ebd.

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nicht streiten.«77 Die Abwesenheit der Negativität, gegen die sich ein Immunsystem richten könnte, spiegelt sich auch in der Infrastruktur der von Randt entworfenen Welt: Es gibt auf Cromit keine schlechten Straßen. Schon bei kleinsten Abnutzungserscheinungen veranlasst ActualSanity Reparaturen. Die AS weiß um die Bevölkerungsstruktur des Planeten und um das Anspruchsdenken der vielen Sommertouristen. Man gewöhnt sich schnell an perfekten Asphalt. Wir gleiten dahin.78 Das Gleiten in einem perfekten und nicht limitierten Raum, der von jeglichen Unregelmäßigkeiten und Störungen befreit ist, ist ein Signum dafür und erinnert an die raumtheoretischen Überlegungen von Deleuze und Guattari. Sie unterscheiden, wie bereits im Kapitel zu Lovecrafts seltsamen Stoffen angedeutet, zwischen dem ›glatten‹ und dem ›gekerbten‹ Raum. Damit werfen die beiden Autoren, wie auch Randt hier, die Frage danach auf, inwiefern die Ordnung und Struktur des Raumes sich auf die Lebensformen und Machtverhältnisse auswirken. Ein glatter Raum ist nicht nach Intervallen organisiert, sondern in ihm wird »alles zum Intervall«.79 Damit ist ein Zustand gemeint, der permanent differiert, und zwar nicht im Sinne eines Widerspruchs, da dieser immer eine Opposition zweier Entitäten impliziert. Deleuze und Guattari geht es mehr darum, den Zwischenraum und die Pause zu vervielfältigen, das Intervall in ein ›Werden‹ zu überführen. Davon ist der gekerbte Raum zu unterscheiden: Nach Deleuze/Guattari erlaubt erst die Grenze es, Räume voneinander zu unterscheiden und somit überhaupt Räumlichkeit entstehen zu lassen. Auf diese Weise entsteht der gekerbte Raum, der die verschiedenen Ebenen in Außen- und Innenräume unterteilt und eingrenzt. Bei der Grenzziehung entsteht nach Deleuze/Guattari jedoch zwingend ein Machtgefälle zwischen dem Raum des Eigenen und dem Raum des Fremden, der eine hierarchische Gliederung dieser Struktur hervorbringt.80 Das ›Gekerbte‹ beschreibt somit das Sesshafte, Ordnende und Staatsförmige, während das ›Glatte‹ dem Nomadischen, dem Werden und dem Flüchtigen nähersteht.

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Ebd. Ebd., S. 168. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 662. Vgl. dazu auch Urs Urban: Der Raum des Anderen und Andere Räume. Zur Topologie des Werkes von Jean Genet, Würzburg 2007, S. 51.

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Dieser Raum ist offen, irregulär und ereignishaft, weil er sich nicht ordnen lässt. Randts Roman nimmt eine Umdeutung dieser Unterscheidung vor, denn gerade der glatte Raum von Planet Magnon, auf dem man wie eine Surferin auf einer Welle dahingleitet, ist nicht der ereignishafte und unerwartete, sondern der machtvolle Raum, in dem Freiheit und Gewalt ununterscheidbar werden. Die dezentrierten und nicht staatsförmigen Gemeinschaften, Kollektive und flüchtig zusammengesetzten sozialen Bindungen sind nicht im Sinne einer Befreiung von einer rigiden Gesellschaftsform zu verstehen, sondern gerade als das vorherrschende Dispositiv, das die Kollektive reguliert. Dabei spielen die Drogen und Substanzen der Fiktion eine systemstabilisierende Rolle, indem sie körperliche und psychische Widerstände nicht frontal überwinden, sondern die Prozesse optimieren und anleiten. Anders ausgedrückt wird hier machttheoretisch die Differenz zwischen der institutionellen psychiatrischen Disziplinartechnik und dem neoliberalen bzw. mit Sutter ausgedrückt narkokapitalistischen Neuro-enhancement. In Randts Fiktion werden Menschen nicht gefügig, produktiv und arbeitsfähig gemacht, sondern vielmehr abhängig und sediert. Die Biomacht der Planetengemeinschaften operiert nicht mit dem Verbot oder dem orthopädischen Zugriff auf den Körper, sondern verführt subtil und anästhetisiert das ›psychische‹ Subjekt. Im Kontext der neoliberalen Regierungstechnik ist der Begriff der Anästhetik kein Novum. Insbesondere Michel Serres hat ihn in diesem Zusammenhang geprägt, der eine dumpfe und narkotische Leere der Gegenwart beschreiben soll, die es zu re-ästhetisieren gelte.81 In H.P. Lovecrafts Fiktionen wird das Aisthetische gestört und geradezu überwältigt von einer empirisch nicht fassbaren Größe. Das Anästhetische bei Lovecraft ist der Schock der Begegnung mit etwas radikal Anderem. Randts Anästhetik eliminiert dagegen das radikal Andere bzw. stellt eine Zukunftswelt dar, in der das Fremdartige immer schon assimiliert ist und in der glatten Immanenz verwässert. Das zu Große, zu Emotionale oder das Sensationelle erzeugen vor dem Hintergrund der leicht unterkühlten Planetengemeinschaften von Planet Magnon keine Erregung. Die Coolness der Bewohner*innen ist damit nicht im Sinne Lethens ein Schutz gegen die von außen andrängende Welt, sondern spiegelt immer schon den Zustand eines desensibilisierten Subjekts, das keinerlei Überforderung kennt. In der Medizin dient Anästhesie dazu, vorübergehend die Empfindungsfähigkeit zu kappen. Mit Wolfgang Welschs Theorie 81

Vgl. Serres: Die fünf Sinne, S. 116.

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des Anästhetischen wird die Verflechtung zwischen Drogen, einer unterkühlten Haltung und Anästhetik deutlicher. Welsch verbindet den medizinischen und den phänomenologischen Diskurs in seinen Überlegungen zur Ästhetik und betrachtet das Anästhetische als eine »Elementarschicht«82 der Aisthesis. Er verwendet dabei ebenfalls den thermischen Begriff der Coolness als eine sozialphänomenologische Kategorie und meint, daran den Umschlag von Ästhetik zu Anästhetik beobachten zu können: Coolness […] ist ein Signum der neuen Anästhetik: Es geht um Unbetreffbarkeit, um Empfindungslosigkeit auf drogenhaft hohem Anregungsniveau. Ästhetische Animation geschieht als Narkose – im doppelten Sinn von Berauschung und Betäubung. Ästhetisierung […] erfolgt als Anästhetisierung.83 Die Anästhetik findet nach Welch an der Grenze zur Ästhetik statt. Sie ist nicht das Andere des Sinnlichen, sondern ermöglicht nach Welsch Wahrnehmung überhaupt bzw. zeichnet sich durch ein dialektisches Spiel aus Passivität und Aktivität des Sinnlichen aus. Welsch begreift das Phänomen des Anästhetischen als die Wahrnehmung des Nichtwahrnehmbaren als Folge der sich in der Gegenwart immer mehr aufdrängenden sinnlichen Stimulanzien und der allgemeinen Beschleunigung. Es gäbe eine neue mediale Wirklichkeit, die sich nur durch einen Hang und durch einen Fetisch des Bildlichen auszeichne. So heißt es auch: »Je mehr Ästhetik, desto mehr Anästhetik«.84 Die Sinnlichkeit der Figuren in Planet Magnon ist zwar anästhetisch im Sinne Welschs organisiert, jedoch nicht im Sinne einer Reästhetisierung durch Drogen, die sich z.B. gegen eine Flut aus Bildern mit einem neuen Sehen immunisieren bzw. im Drogenkonsum einen Schutz suchen. Die Übergänge und das ständige Umkippen von Ästhetik zu Anästhetik und andersherum finden in Randts Roman nicht statt. Alles ergießt sich in einem immanenten Kontinuum des Gleichen. Es stehen gehemmte Figuren und Ordnungen im Zentrum der Erzählung, deren Sensibilität und aktive Wahrnehmung, nicht wie in The Matrix pharmakologisch befördert, sondern vielmehr anästhetisch unterbunden werden. Es gibt in dieser postpolitischen Gesellschaft keinen gewaltvollen Big Brother, den es immunologisch abzuwehren bzw. in sich einzubauen gilt, sondern soziale Glätte, auf deren Oberfläche Gewalt und Frei82 83 84

Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart 2003, S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 16.

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heit ununterscheidbar geworden sind. Das Andere und Fremde, auf das eine Immunreaktion gerichtet wäre, verschwindet, und die Dialektik von Gift und Heilmittel sowie die Dialektik von Kälte und Wärme bleibt aus. Sie werden zugunsten von unterkühlten Sozialverhältnissen aufgehoben. Mit dem SFPhantasma einer kollektiven Drogeninduktion und sedierten Gesellschaftsform erspürt Randt eine sich verändernde Erscheinungsform des Sozialen und analysiert mit einem spezifisch literarischen Wissen die damit verbundenen Effekte einer psychopolitischen Macht. In dem Sinne stehen Randts Analysen in einem parallelen Verhältnis zu den Thesen von Laurent de Sutter, wenn dieser schreibt: Being is the site of psychopolitics; there is no being outside the business of ordering the affects separating subjects from everything in them pertaining to the dysfuctional – everything, at least, that is considered as such in the rules and regulations of narcocapitalism.85 Insbesondere die Abwesenheit von Dysfunktionalität und Negativität, die sich in Planet Magnon durch ein ›Dahingleiten‹ auf mittelmäßigen Gemütszuständen auszeichnet, zeigt narkokapitalistische Züge auf. Die unterkühlten Affekte, die geschwächten Sensibilitäten der Bewohner*innen und die Abwesenheit eines transzendenten Außen bzw. die Verunmöglichung einer machtvollen Herr-Knecht-Dialektik unterstützen die Annahme, dass es sich in den interplanetaren Gemeinschaften um ein narkokapitalistisches System handelt. Und doch geht Randt mit seinen Beobachtungen über das narkokapitalistische Paradigma hinaus. Wenn Sutter betont, dass der erzwungene Schlaf letztlich ein Gebot der Effizienz auf dem Arbeitsmarkt bedeutet, dann ist der sozialen Narkose gemäß Sutter nach wie vor eine Dialektik eingeschrieben, die darin besteht, Subjekte durch Anästhetik arbeitsfähig zu halten: Every capitalism is, necessarily, a narcocapitalism – a capitalism that is narcotic through and through, whose excitability is only the manic reverse of the depression it never stops producing, even as it presents itself as its remedy. […] Narcocapitalism is the capitalism of narcosis, that enforced sleep into which anaesthetics plunge their patients so as to unburden them from everything that prevents them from being efficient in the current arrangement – which means work, work and more work.86 Die Kreisläufe von Entschleunigung und Erregung sind die ›neoliberalen‹ Dispositive, die das Subjekt gerade so auf einer schlafwandlerischen Betriebs85 86

De Sutter : Narcocapitalism, S. 100. Ebd., S. 43ff.

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temperatur halten sollen, indem das Primat der Repression für eine effizientere Kontrolle immer noch angelegt ist, um unter anderem auch ein Konkurrenzverhältnis erhalten zu können und einen Sozius, der sich doch letztlich durch Reibung und Wettkampf auszeichnet. Randt dagegen lässt alles in grenzenloser Positivität der Oberfläche aufgehen, auf der sich eine Erosion des Sozialen vollzieht. Obwohl sich in Randts Roman Konkurrenz und Wettkampf immer wieder andeuten, werden diese Phänomene durch die im Roman so genannten postpragmatischen Metareflexionen von Konkurrenz befreit und durch Homogenität und Konsens eingeebnet. Das, was de Sutter als »Day without End«87 unserer spätkapitalistischen Gesellschaft bezeichnet und damit eine gesellschaftliche Realität der Schlaflosigkeit meint, ist das Symptom eines neoliberal beschleunigten Lebens. Randts Roman dagegen perspektiviert nicht die rastlose Schlaflosigkeit, sondern den Halbschlaf. Der ersten Episode des Romans ist als Motto folgender Satz vorangestellt: »Heute noch werden wir aus dem Halbschlaf erwachen«.88 Dieser leitende Satz liest sich, ohne den Roman zu kennen, wie ein Aufruf zur Revolution und ein Appell, die Anästhetik und die Glätte zu überkommen, der jedoch im Verlauf des Romans nicht eingelöst wird.

5.4

Der Planet Toadstool: kein Außen des Systems

Jedoch lassen sich Wärme, Emotion und negative Affekte nicht gänzlich in Randts Roman tilgen. Der Roman endet mit der Reise des Protagonisten Marten auf den Planeten Toadstool, einem Müllplaneten, wo er sich in die Rebellenführerin des Kollektivs der gebrochenen Herzen verliebt. Dieses Kollektiv sucht Asyl auf dem Müllplaneten und repräsentiert damit das Randständige, Verfemte, Ausgeschlossene und Authentische des ansonsten durchgeglätteten Raumes der Planetengemeinschaften. Die Arbeiter*innen auf dem Müllplaneten werden durch ActualSanity per Losverfahren bestimmt und müssen dort den Müll sortieren und für das Recycling vorbereiten.89 Allerdings richtet sich das Kollektiv der gebrochenen Herzen dort ein, um von da aus den Rest der Planetengemeinschaften durch Sabotageakte zu stören. Der Müllplanet

87 88 89

Ebd., S. 45. Randt : Planet Magnon, S. 21. Vgl. ebd., S. 300.

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zeichnet sich durch eine Industrieästhetik aus, die durch eine sentimentale Semantik unterstützt wird. Dass Randt für das Ende des Textes den Müll als das verdrängte Andere, nicht restlos in die Immanenz aufgehende Etwas wählt, ist nicht verwunderlich. Müll als abfälliger Stoff besetzt den Raum des Dazwischen und fällt zunächst aus den ökologisch-ökonomischen Kreisläufen heraus, nur um dann als Heimsuchung wiederzukehren. Müll lässt sich, obwohl er vom Ganzen abfällt, nicht verdrängen oder erübrigen. Es sucht die rigorose und ganzheitliche Ordnung wieder auf, um sie zu stören bzw. ihre Integrität und Ordnungshaftigkeit als solche in Frage zu stellen. Es ist also bezeichnend für Randts Fiktion, dass es einen abgespaltenen Müllplaneten gibt, in dem das Rebellische, Revolutionäre und Abjekte zuhause ist. Sartres Begriff des Klebrigen als eine abfällige Substanz zwischen zwei Zuständen, die ich anhand Ausführungen zu H.P. Lovecrafts Farbe aus dem All vor allem als eine seltsame ontologische Stofflichkeit sichtbar gemacht habe, hat bei Randt eine psychopolitische Dimension. Wenn man hier Mary Douglas’ anthropologische Studie Purity and Danger (1966) heranziehen will, dann wird der Müll als »matter out of place«90 in Planet Magnon als eine Wertefolie für die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Verworfenen und für die Werteordnungen lesbar, die auch immer das Saubere und Brauchbare von dem Unbrauchbaren und Schmutzigen unterscheiden. Das Negative, das Verschobene und Verunreinigende des Sozialen, wie es Douglas betont, kehrt aus dem Unbewussten in das Bewusste der Gesellschaft der Glätte der Planetengemeinschaften zurück und verunmöglicht eine absolute Restlosigkeit. Das abfällig Klebrige taucht an den Rändern des Universums auf und bewegt sich aus der Peripherie ins Zentrum. So kann auch Marten nicht dem Klebrigen des Abfälligen entgehen. Obwohl er sich vornimmt, sich nach dem Ankommen auf Toadstool von dem ›Lifestyle‹ des rebellischen Kollektivs zu distanzieren, gelingt es ihm letztlich nicht: »Welche Aufgabe da auch kommen mag, ich werde sie postpragmatisch filtern.«91 Nach kurzer Zeit des Aufenthalts beginnt Marten sich abseits der unterkühlten Rationalität und Affektlosigkeit »offenherzig«92 zu fühlen und hinterfragt die psychopolitische Ordnung der Planetensysteme. Dies zerschlägt sich aber, da Marten klar wird, dass auch der Müllplanet und das Rebellenkollektiv, von dem man annehmen könnte, es könnte die

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Mary Douglas: Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1976, S. 36. Randt : Planet Magnon, S. 254. Ebd., S. 244.

V. Narkokapitalismus und Psychomacht

hegemonialen Verhältnisse der Glätte überschreiten, von ActualSanity unterstützt werden. Sie alle unterliegen dieser sanften Macht, die jede Form der Negativität in Positivität und Glätte verwandelt. So sind der Planet Toadstool und die Rebell*innen lediglich eine Verwaltungsvariante des kybernetischen Systems. Das Außen, das Andere des Systems, das Hoffnungen weckt, wie ein Virus zu agieren, um den Organismus der totalen Glätte zu Fall zu bringen, entpuppt sich als ein simuliertes Außen, das nur den Anschein einer Hoffnung machen soll. Die Gesellschaft bleibt restlos und glatt. Der zur Revolution aufrufende Satz: »Noch heute werden wir aus dem Halbschlaf erwachen«, bleibt leer. Dieser soziopolitische Dämmerzustand der Bewohner*innen der Planetengemeinschaften gleicht auf diese Weise einer zombieartigen Dopinggesellschaft.93 Ihre auf ein Minimum reduzierten Vitalfunktionen reichen gerade noch aus, um nicht zu sterben, sind jedoch auch nicht genug, um leben zu können. Machttheoretisch gewendet zeichnet Randt eine Zukunftsfiktion, in der Macht weder mit starrer Repression operiert und die Freiheit zum Schweigen bringt noch schrankenlos, entgrenzt-decodierend und stromlinienförmig alle Widerstände durchbricht und damit im Sinne Deleuzes und Guattaris bzw. Preciados eine Deterritorialisierung in Gang setzt. Sie scheint vielmehr eine Form der Macht zu sein, die sowohl die Repression als auch die beschleunigte Entgrenzung hinter sich lässt. Die Fiktion eines freundlichen Big Brother, die Randt hier entwirft, spiegelt damit nicht nur unsere neoliberal-narkokapitalistisch organisierte Machtsituation wider, sondern verweist auch auf eine noch kommende postimmunologische Gesellschaftsformation, die für das heutige gesellschaftlich Unbewusste noch nicht abzusehen ist.

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Han: Topologie der Gewalt, S. 169.

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VI. Schluss: Übriggebliebene Vomitive  und drastische Präparate der Philosophie

Kommen wir zur Bilanzierung dieser Arbeit. Mit Bilanz kann jedoch vor dem Hintergrund der bisher angestellten Untersuchungen und einer methodischpluralen Herangehensweise nicht eine Summe gemeint sein. Eine Summe der Ergebnisse würde eine falsche Identität suggerieren, welche die Arbeit nicht herstellen kann und auch nicht herstellen will. Denn statt die Erkenntnisse sauber zu addieren und minutiös zu rekapitulieren, um ein Ergebnis festzuhalten, sollen einige zentrale Elemente der Beobachtungen, Leistungen und Analysen der Arbeit aufgegriffen werden, um von da aus einen Ausblick zu wagen, der das Register des Pharmakofiktionalen und der prekären Stoffe aufbricht, das Potential des Erarbeiteten potenziert und in eine andere Richtung leitet, aus der neue Forschungsperspektiven entstehen sollen. Stoffe, Materie bzw. Prozesse der Materialisierung sowie leiblich-gegenständliche Dinge und Objekte sind seit einigen Jahren zentrale Untersuchungsgegenstände der Philosophie, der Kultur- und Medienwissenschaften. Diese Arbeit reagiert auf eine Vielzahl an Forschungsdesideraten innerhalb dieser Disziplinen, ausgehend von den Theorien des neuen Materialismus und gegenwärtiger SF. Die Leistung dieser Arbeit besteht vor allem darin, die Philosophien des neuen Materialismus in Richtung einer pharmakologisch informierten Philosophie zu erweitern und zu verschieben. Gleichzeitig wurden die Diskurse des Pharmakologischen, die sich aus dem Pharmakonkonzept destillieren ließen, als Philosophien des Wirkstoffs begriffen. Damit leistet die Arbeit einen Beitrag zur gegenwärtigen Materialitätsforschung aus einer medienphilosophischen und literatur- bzw. kulturtheoretischen Perspektive. Der material turn in den Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaften hat zwar Instrumentarien dafür geschaffen, die Marginalisierung des Materiellen und des Stofflichen in den medialen und künstlerischen Erzeugnissen zu korrigieren und aus der Peripherie ins Zentrum medien-

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und kulturwissenschaftlicher Forschung zu bringen, jedoch dabei die weitreichende Frage nach dem Wirkstoff und der Pharmakologie in besonderer Berücksichtigung der SF nicht beachtet. Diese Arbeit verortet sich einerseits innerhalb des material turn und erweitert sie andererseits mittels der Fragen nach der Pharmakologie und der Prekarität der Wirkstoffe. Die Bemühungen dieser Arbeit hatten zum Ziel, eine erste Kartografie der vielen sich berührenden Linien, Kreuzungen und disjunktiven Synthesen von der Philosophie und der SF prekärer Stoffe anzulegen und sie als diffundierende und füreinander durchlässige Wissensordnungen überhaupt sichtbar zu machen. Theorie- und Analyse- bzw. Lektüreteile sind entsprechend entweder ineinander verflochten oder folgen aufeinander, ohne dabei jedoch zu suggerieren, dass das eine dem anderen vorgängig ist oder hierarchisch übergeordnet. Im Sinne des Begriffs einer maschinischen Indienstnahme von Deleuze und Guattari habe ich versucht, Schaltungen, Anschlüsse und Verschränkungen zwischen der Theorie und den ausgewählten Fiktionen entstehen zu lassen. Entsprechend sind die Anteile von Theorie und Lektüre weder symmetrisch geordnet noch gerecht aufgeteilt, sondern verfolgen die gelegten Spuren so weit, wie es notwendig ist. Methodisch ließe sich dieses Vorgehen am besten als ein Vertauschen der Karten beschreiben. Bei diesem Vorgehen werden die Schlüsse aus Regeln gezogen, die nicht im gleichen, aber in einem verwandten und benachbarten Gebiet liegen. Sachverhalte, Ideen und Phänomene sind gemäß dieser Regel dann besonders sprechend, wenn sie mittels Interpretation das bekannte Gebiet verlassen und sich in Umgebungen transportieren lassen, zu denen sie scheinbar keinen Bezug hatten.1 Konkret hieß es, die Fiktion als ein epistemisch-ästhetisches Argumentationsmedium zu fassen, das denkt, spekuliert und Theorien im Ästhetischen aufstellt; also ein Produktivmachen von dem, was in der Philosophie auch gemeinhin als Kategorienfehler bezeichnet wird. Der Bedeutung des Begriffs Kategorienfehler folgend, wurden, heuristisch gesehen, die Aussagen der Fiktion in dieser Arbeit durch Aussagen ersetzt bzw. überblendet, die nicht der gleichen Kategorie angehören. Diese bewusst eingesetzte Verwechslung der Aussagesysteme war zentral für das Vorgehen der Arbeit, um herausschälen zu können, auf welche Weise die ausgewählten Fiktionen ›denken‹ und wie die unterschiedlichen Wissensformen darin koexistieren. Die Karten, die sich im Kontext der Begrifflichkeiten der Arbeit auch als Gemisch oder als ein 1

Vgl. zu dem Konzept des Vertauschens der Karten vgl. Armen Avenessian/Anke Hennig: Metanoia. Spekulative Ontologie der Sprache, Berlin 2014.

VI. Schluss: Übriggebliebene Vomitive und drastische Präparate der Philosophie

Stoffgemenge verstehen ließen, sind, wie sich gezeigt hat, ein heterogenes Feld, das sich durch die Überlagerung von Philosophie und Materialitätsforschung im Kontext von Biopolitik, Posthumanismus und dem neuen Materialismus auszeichnet. Dabei wurde deutlich, dass die ästhetischen Milieus der SF in besonderer Weise Stofflichkeit und Materialität im Medium des Films oder der Literatur erkunden. Die Überlagerung dieser zunächst disparat wirkenden Wissensordnungen und das Vertauschen der Karten hat es ermöglicht, ein erstes mikroskopisches Bild aufleuchten zu lassen, auf dem sich die vielfältigen Beziehungen von prekärer Stofflichkeit zwischen ästhetischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Anteilen zu bewegen beginnen. Bei der Konturierung des Begriffs bzw. vielmehr des Konzepts des »prekären Stoffs« war es von besonderem Interesse, nicht reduktionistisch vorzugehen, um einen klar destillierten Begriff als vielmehr ein Begriffsgemisch mit unscharfen Rändern zu erhalten. Es ging vor allem darum, zunächst ein semantisches und theoretisches Gravitationsfeld für benachbarte Begrifflichkeiten herzustellen, das diese anzieht und Verwandtschaften erlaubt, die zunächst nicht unmittelbar gegeben sind. In einem Dreischritt habe ich folglich zwischen relationalen und objektorientierten Materialismustheorien unterschieden, um von da aus zu einem Stoff - bzw. Wirkstoff -Begriff zu gelangen, den ich ausgehend vom Pharmakonkonzept erarbeitet habe. Bei der Analyse der Theorien des neuen Materialismus hat sich gezeigt, dass sowohl die spekulative bzw. objektorientierte Ausformung als auch die relationale Theorie von Materialität zwar einen dynamischen Materiebegriff abstrakt beschreiben können, jedoch in Bezug auf den Stoff und den Wirkstoffbegriff blind sind und damit auch das Pharmakologische nicht zu erfassen vermögen. Um das Pharmakologische, die Materialitätsforschung und den Begriff des Stoffes zusammenzubringen, war es zentral, vom Pharmakonbegriff auszugehen und diesen in seiner materiell-semiotischen Struktur zu begreifen. Konkret ging es darum, das Pharmakon, wie es Derrida verwendet, aus seiner Beschränkung auf reine Textualität herauszulösen, es mit dem Konzept der Pharmakoanalyse bei Deleuze und Guattari und dem Konzept der Narkoanalyse bei Avital Ronell zu verschwägern und den Fokus stärker auf die Stofflichkeit zu verlagern. Den Zusammenhang zwischen Pharmakon, Pharmakoanalyse und der Narkoanalyse überhaupt herzustellen, kam dabei besondere Bedeutung zu. Denn obwohl diese Konzepte eine transversale Verwandtschaft aufweisen, wurden diese von der Forschung als ein begriffliches Kontinuum bisher nicht untersucht. So sollten zentrale Begriffe wie Droge, Pharmakon, Pharmakoanalyse, Tropium und Stoff als Gefüge und als flexible Operatoren

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fungieren, die im ersten Teil der Arbeit ein Feld eröffnen, um es dann an manchen Stellen durch Schärfungen zu schließen bzw. um damit auch begriffliche Abgrenzungen zu ermöglichen. Die begrifflichen Bewegungen, die diese Arbeit vollzieht, sind strukturell angelehnt an den Rhythmus von Systole und Diastole, Anspannung und Entspannung, Öffnung und Schließung, um damit auch eine begriffliche Plastizität zu ermöglichen, die weder auf einer binären noch auf einer reduktionistischen Logik basiert. In diesem Sinne sind die begrifflichen Operatoren der Arbeit nicht mit der Frage nach dem Was, sondern vielmehr nach dem Wie, dem Wieviel oder auch nach dem Wo ihres Inhalts befragt worden. Es wurde anhand poststrukturalistischer und neu-materialistischer Positionen auf und mit dem Gebiet der SF aufgezeigt, dass Dinge, Stoffe, Substanzen nicht nur Träger von Bedeutung und nachrangige Elemente in einem vom Menschen aus gedachten Diskurs sind, sondern aktive und handlungsmächtige Assemblagen, die nicht erst durch die menschliche Perzeption zum Leben erweckt werden, sondern ihre Wirkmächtigkeit entweder in relationalen oder objektorientierten Verhältnissen aufbauen können. Anhand des begrifflichen Instrumentariums, das ausgehend vom Wirkstoffbegriff im Kontext der relationalen und objektorientierten Philosophien erarbeitet wurde, hat die Analyse von Lovecrafts Erzählung Die Farbe aus dem All und Alex Garlands Auslöschung gezeigt, dass die Stoffverbindungen der SF nicht nur neutrale Assemblagen sind. Vielmehr können sie sich einerseits zerstörerisch, dem Subjekt radikal entgegengesetzt indifferent und als feindselig verhalten und andererseits eine vitale Ökologie und Sympoiesis entwickeln, die Stoff und Subjekt in ein verschränktes Mit-Werden hineinziehen, das weder vernichtend noch rein kreativ ist, sondern die Schwelle dazwischen zu halten versucht. Auf diese Weise wurden auch die ausgewählten Fiktionen von den darin zirkulierenden Stoffen aus gedacht und nicht von einem handelnden Subjekt, das die Narration vorantreibt und damit letztlich immer im Zentrum steht. Diese strategisch eingesetzte Umkehrung der Perspektive im dritten Kapitel zur Biopolitik prekärer Stoffe hat es ermöglicht, SFs wie THX 1138 und The Matrix einer stoffzentrierten Analyse zu unterziehen. Anhand von The Matrix im Kontext anderer Fiktionen und den Arbeiten von Haraway, Esposito und Nancy hat sich erstens eine Immunologik der Stoffe herauskristallisiert, die die Übergänge zwischen eigen und fremd als ein eingefaltetes und dialektisches, sich gegenseitig beinhaltendes Verhältnis und nicht als ein dichotomes Gegenüber beschreibt. Zweitens war es zentral herauszuschälen, dass der Protagonist der Fiktion, der sich klassisch wie in einer griechischen Hel-

VI. Schluss: Übriggebliebene Vomitive und drastische Präparate der Philosophie

denreise durch Situationsabfolgen bewegt, vor allem durch die Einnahme von Substanzen und Stoffen in der Geschichte vorankommt, die er an zentralen Stationen innerhalb des Narrativs einnimmt. Abseits der anthropologischen, erkenntnistheoretischen und religionswissenschaftlichen Interpretationsansätze, die letztlich in einem Anthropozentrismus münden, bietet mein Ansatz im Sinne der Theorie von Jens Soentgen eine ›stoffgeschichtliche‹ und zugleich neu-materialistische Lesart an, die die Heldenreise als Stoffreise beschreibt. Diese Stoffgeschichte, die auch das metafiktionale Verhältnis von Stoff bzw. Droge und Text verdichtet, tritt innerhalb der Dystopie Das fünfte Imperium von Viktor Pelewin noch deutlicher hervor. Pelewin wählt in seinem Roman das Prinzip einer unendlichen Stoffsublimation, die er mit der Zirkulation von Zeichen und Sprache parallelisiert. Seine düstere Vampirdystopie formuliert konstante Zirkulationen von monetären, begehrlichen und biochemischen Strömen literarisch aus und stellt die Frage nach der Ökonomie prekärer Stoffe, die zwischen den Substanzen der materiellen Welt und ihrer Warenfetischisierung im Bewusstsein des Subjekts zirkulieren. Pelewin treibt seine Sublimationen innerhalb der Fiktion so weit, dass die letzte Umformung der Stoffe den literarischen Text selbst zu einem Stoffgemisch macht, wodurch die Literatur und auch die Literaturgeschichte selbst zu einer Droge werden. Die Analysen prekärer Stoffe haben folglich herausgearbeitet, dass sich literarische und filmische Fiktionen als ästhetische Labore für eine Spekulation mit seltsamen, prekären Stoffen eignen und ein hochenergetisches Feld für Stoffsemantiken evozieren. Als ästhetische Reflexionsmedien stellen sie ein filmisches und literarisches Nachdenken über Ontologie, Epistemologie, Ökologie und eine Biopolitik seltsamer Stoffe aus und können so als Stoffphilosophien ernst genommen werden, die nicht nur Materialitätsdiskurse in sich einbauen, sondern diese auch erzeugen und kritisch besprechen. Die Arbeit hat betont, dass die Eigenschaften, Wirkungen, Nebenwirkungen, Zirkulationen, Sublimationen sowie die regulierenden Effekte prekärer Stofflichkeit grob zwischen zwei Polen zu verorten sind. Auf der einen Seite stehen die anreizenden, optimierend-beschleunigenden Stoffe, die ein Mehr der körperlichen Fähigkeiten, der Wahrnehmung und der Erkenntnisfähigkeiten befördern. Auf der anderen Seite sind es Stoffe, die das Aisthetische der Perzeption stören, es unterbrechen oder anästhetisieren. Diese polare Axiomatik der innerhalb der Fiktionen zirkulierenden Wirkstoffe wurde anschließend als Marker eines epistemisch-ästhetischen und politischen Settings der Gesamterzählungen eingebunden und als Katalysator für die darin angelegten

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biopolitischen Gefüge gelesen. Dies erlaubte es, aus den Funktionsweisen der Wirkungen und Nebenwirkungen der Stoffe auf ein biopolitisches und, wie anhand von Randts Roman Planet Magnon gezeigt wurde, ein psychopolitisches Gefüge zu schließen, in dem die Drogen und pharmakologischen Stoffe als Symptome für eine sich verändernde Sozialstruktur lesbar werden. Diese Arbeit war somit der Versuch, eine erste Systematik und eine erste materielldiskursive Typologie der Stoffe der SF vorzulegen und ihre Wirkungen, Nebenwirkungen und Funktionen sichtbar zu machen. Diese Taxonomie kann hier jedoch nur unvollständig bleiben. Es wäre folglich unabdinglich, im Anschluss an dieses Projekt ein Glossar oder auch Handbuch fantastischer, prekärer und seltsamer Stoffe der SF folgen zu lassen, um die Fülle dieser Stoffe aus kulturphilosophischer, filmwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive abbilden zu können und damit auch einem Forschungsdesiderat zu begegnen. Die vielen Ein- und Ausgänge, die ich zwischen SF, Biopolitik und Materialismusforschung sichtbar gemacht habe, können somit nur ein erster Anfang sein für eine Spurensuche nach weiteren prekären Stoffen und ihren Wirkungen, Nebenwirkungen und Spekulationen.2 Insbesondere die Untersuchungen zu Paul B. Preciados Selbstintoxikation, der Protokollierung und Verarbeitung dieser Erfahrung sowie der diskursiven Rahmung durch ein Theorieset, das sowohl eine Gesellschaftsanalyse als auch ein experimentelles Sich-selbst-aufs-Spiel-Setzen des Autorsubjekts adressiert, haben neue Spuren freigelegt, die darauf hindeuten, dass die Gegenwart biopolitischer Kontrolle nicht ohne das Pharmakologische und ohne das irreduzible Verhältnis von Stoffen und Körpern denkbar ist. Die intime Beziehung zwischen Philosophie und SF, die sich mit den onto-epistemologischen und biopolitischen Fragen nach Wirkstoffen, Pharmakologien und prekären sowie seltsamen Substanzen auseinandersetzt, bildet somit ein sozialtheoretisches Aussagesystem und nimmt eine Kartierung dieser pharmapolitischen Wirklichkeit vor, die bisher latent geblieben sind. Denn wenn man die fantastischen Stoffgeschichten der Philosophie und der SF ernst nimmt, wie es diese Arbeit versucht hat, wird deutlich, dass sie ein Begriffsinstrumentarium für die Mutationen des gegenwärtigen Kapitalismus bereitstellen und diese sowohl ästhetisch als auch philosophisch-spekulativ abtasten. Vor allem das dritte Kapitel über die Biopolitik prekärer Stoffe 2

Ein transdisziplinär angelegter Sammelband, der eine umfassende Systematisierung fantastischer, seltsamer und prekärer Stoffe und Substanzen vornehmen soll, ist bereits in Planung.

VI. Schluss: Übriggebliebene Vomitive und drastische Präparate der Philosophie

hat gezeigt, dass die Verwaltung und Produktion der Kollektivsubjekte einerseits durch die pharmakologische Erregung und Aktivierung und andererseits durch die Anästhetisierung und Passivierung vorgenommen werden. Die Biopolitik des pharmapornografischen Regimes und die Psychopolitik der Anästhetik sind damit, wie die ausgewählten SFs gezeigt haben, nicht zwei entgegensetzte Regierungsformen, sondern die zwei Seiten einer Medaille, die sich wie eine Kippfigur verhalten und je nach Kontext unterschiedlich angewendet werden. Wie die Arbeit argumentiert, docken an die Reziprozität von Philosophie und SF die Wissensordnungen der Ökonomie, Physik, Chemie und insbesondere der Pharmakologie an, die sich somit nur als ein Gemisch und Gemenge untersuchen ließen, da sie, wie sich gezeigt hat, irreduzibel miteinander verzahnt sind. Aufgrund der in den Fiktionen eingelagerten naturwissenschaftlichen und sozialtheoretischen Disziplinen und Wissensordnungen steht also die Beobachtung im Vordergrund, dass die postmoderne und gegenwärtige SF eine besondere Affinität zur Pharmakologie und zu der Frage nach chemischen Wirkstoffen in ihren Verknüpfungen zur Macht bzw. zu Fragen der biotechnologisch-pharmakologischen Regierung aufweist. Die Arbeit widerlegt damit anhand der ausgewählten Pharmakofictions die Annahme von Roland Borgards, dass die Disziplin der Chemie bei Weitem nicht so intensiv mit der Literatur verbunden sei wie z.B. die Medizin.3 Die vorliegende Dissertationsschrift erweitert somit die Liste der Disziplinen, die an der Produktion von literarischem Wissen beteiligt sind, um die Chemie bzw. ganz besonders die Pharmakologie und besteht darauf, dass gerade diese Wissensordnungen auf eine sich verändernde Gegenwart verweisen, die es vor allem in künstlerischen Formen des Wissens noch zu erschließen gibt. Diese Verbindungen rufen demnach auch die Frage nach einem spezifischen Wissen der Künste auf und nach den spezifischen Korrespondenzen zwischen diesen Wissensordnungen und ihren filmischen und literarischen Darstellungsweisen. Anhand der ausgewählten Fiktionen wurde jedoch deutlich, dass sie einerseits die Wissensformen der Philosophie, der Physik, der Chemie und der Pharmakologie einspeichern und diese innerhalb der jeweiligen Narrative zirkulieren lassen – also am wissenschaftlichen Diskurs über prekäre Stoffe partizipieren. Andererseits stellen sie mittels ästhetischer Formen eigene Überlegungen an und können so als autonome Aussagesysteme gesehen werden, die im Medium der Literatur und des Films über die darin zir3

Vgl. Roland Borgards: Disziplinen, in: ders.: Literatur und Wissen, S. 56.

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kulierenden Wissensordnungen nachdenken, diese erproben oder spekulativ weitertreiben. Im Sinne einer Poetologie des Wissens ergibt sich daraus, dass es weder eine Singularität des Wissens der SFs gibt noch die völlige Aufhebung im Diskurs und die bloße Repräsentation von Wissen. Wenn man jedoch mit dem Theorem der Poetologie des Wissens annimmt, dass literarische Texte oder auch filmische Erzeugnisse verschiedene Spielarten der Disziplinen und Wissensordnungen in ihren Texten integrieren, dann sind mit markanten literaturhistorischen und filmtheoretischen Zäsuren und den sich herausbildenden Stilen und Denkformen auch spezifische Wissenskonjunkturen verbunden. Die Stoffgeschichten, die Pharmaka, die Drogen, die Heilmittel und Gifte der SF haben heute Konjunktur und verweisen auf eine pharmapolitische Gegenwart, die ich versucht habe in dieser Arbeit zu umreißen. Damit war das Vorhaben verknüpft, ein erstes Koordinatensystem anzulegen, in dem die ausgewählten Fiktionen sowohl analytische Qualitäten aufweisen als auch als ästhetisch-experimentelle Labors fungieren, die nicht nur die Gegenwart beobachten, sondern auch als Technoalchemisten der Gegenwart eigene Mischungen herstellen und damit unmittelbar an der Produktion von Wissen beteiligt sind. Die Arbeit zeigt somit, dass die SF soziale Gefüge der Zukunft in der Gegenwart wie ein Seismograf aufspürt, damit die Rupturen und Erschütterungen der Gesellschaft sichtbar macht und dies zugleich kritisch beleuchtet, Alternativen anbietet oder die Möglichkeit der Katastrophe anmahnt. Bereits Adorno hat von der Literatur als dem Seismografen der Gegenwart gesprochen, da sie nicht nur die gesellschaftlichen Entwicklungen widerspiegelt, sondern auch vorausahnen kann, wenn es in seiner 1957 veröffentlichten Rede über Lyrik und Gesellschaft heißt, dass ein Gedicht als eine geschichtsphilosophische Sonnenuhr begriffen werden könne.4 Obwohl Adorno die SF an manchen wenigen Stellen in seinem Werk als Kulturindustrie bezeichnet hat und vor allem den SF-Film als Massenmedium und als unter den Maximen der Verwertung und des Profits stehend disqualifiziert hat, scheint doch gerade dieses massenmediale Popgenre die tektonischen Verschiebungen des Sozialen und Kulturellen nicht nur messen zu können, sondern utopische oder dystopische Varianten durchzuspielen, verschüttete Vergangenheiten freizulegen, alternative Gegenwarten sichtbar zu machen oder spekulative Zukünfte zu projizieren. 4

Vgl. Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1974, S. 49-59, hier S. 52.

VI. Schluss: Übriggebliebene Vomitive und drastische Präparate der Philosophie

Es gäbe ausgehend von den hier angestellten Überlegungen viele weitere Ein- und Ausgänge in und aus dem Bau dieser Arbeit. Ich möchte beginnend mit den Untersuchungen zu Preciados Testo Junkie einige Reste und Übriggebliebenes herausgreifen, um daran neue Forschungsfragen anzuschließen. Denn wie Christiane Lewe, Tim Othold und Nicolas Oxen in ihrem Sammelband zu interdisziplinären Perspektiven auf das Übriggebliebene spekulieren, ist der Rest nicht etwas, das bleibt oder überdauert, sondern beinhaltet auch stets einen Moment oder auch ein Ereignis des Neuen.5 In meiner Lektüre von Preciados Testo Junkie habe ich nach der Rolle pharmakologischer Stoffe im Kontext von Kontrolle, Geschlecht und Biopolitik gefragt. Des Weiteren habe ich Preciados Text, insbesondere die theorie-fiktionalen Figurationen, in Ansätzen als einen literarischen Text untersucht, der poetologisch die eigene Situierung in das Regime thematisiert und das Verhältnis von Intoxikation, Materialität und Theorie textperformativ auslotet. Instruktiv war es dabei, seine Theorie-Fiktion im Sinne Avital Ronells als ein Tropium zu begreifen – als einen Text, der Wirkungen erzeugt. Somit handelt es sich bei Preciado nicht um eine bloß repräsentative Konstellation von Denken, Sprache und Schrift, sondern um ineinander gewundene Teilprodukte der materiellen und körperlichen Bedingungen des Schreibens, Sprechens und Denkens, die sich in seiner Schreibpraxis mit einschreiben und diese im gleichen Zuge konfigurieren. Es war zentral, das Verhältnis von Schreiben, Materie und dem Körper des schreibenden Subjekts als ein Kontinuum ernst zu nehmen. Die Arbeit hat somit den ersten Versuch unternommen nachzuweisen, wie sich in der Medialität des Schreibens (De-)Subjektivierungsprozesse ereignen können, die nicht nur die Autor*innen und/oder die Rezipient*innen betreffen, sondern auch das, was sich im und durch den Text auf unterschiedliche Weise zeigt und zur Sprache kommt. Die je andere Materialität fällt erst dann ins Gewicht, wenn neben ihrer medialen (in kommunikative Kreisläufe eingebundenen) Seite auch ihre ästhetische und ihre politische in den Blick genommen werden: Das Materie-/Körper-Werden des Textes, das sich im Schreibprozess formt bzw. diesen verformt, erzeugt im gleichen Zuge eine politische Dimension, die Formen des Verfemten und Ausgeschlossenen zur Erscheinung bringen, die bisher keinen Platz im Diskurs hatten. Insbesondere die pornografischen Passagen des Textes oder die Stellen, wo Preciado minutiös das Selbstexperiment als ein gefährliches Unterfangen beschreibt, sowie die 5

Vgl. Christiane Lewe/Tim Othold/Nicolas Oxen: Einleitung, in: dies. (Hg.): Müll. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene, Bielefeld 2016, S. 9-30, hier S. 16.

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Resolutheit mancher Äußerungen deuten auf eine rhetorische Schonungslosigkeit hin, die durch den Text hindurch schlagend im eigentlichen Sinne wird. Diese Radikalität der Schreibweise möchte ich als eine philosophische Drastik begreifen. Die Drastik des Textes scheint somit erst anhand ihrer Literarizität an Form und Schlagkraft zu gewinnen, wodurch bestimmte Gedanken überhaupt erst ausdrückbar werden. Testo Junkie wirft damit die Frage auf, ob sich das Selbstverständnis und die Performativität einer Philosophie mit ihrer literarischen Form ändern und inwiefern die wirkungsmächtige oder die schonungslose und ungeschönte Äußerung neuer philosophischer Gedanken sich deshalb von einer drastischen Schreib- und Darstellungsweise als abhängig erweist. Von Preciados philosophischer Autofiktion ausgehend ließe sich die Frage nach einer philosophischen Drastik in einem größeren Forschungsrahmen begreifen. Konkreter müsste nach der Genese und Genealogie einer Philosophie der Drastik gefragt werden. Autoren der radikalen Frühaufklärung wie Jean Meslier und Michel de Montaigne, aber auch die gegenaufklärerischen Schriften von Marquis De Sade, Friedrich Nietzsche, Antonin Artaud und Georges Bataille, Gilles Deleuze und Paul B. Preciado weisen, so könnte die These eines weiterführenden Projektes lauten, eine Rhetorik des Drastischen auf, die es zu untersuchen gälte. Vor allem anhand Deleuzes Versuch, sein Vorgehen in Bezug auf sein Buch zu Kant zu rekapitulieren, finden sich Spurenelemente dessen, was man als eine philosophische Drastik bezeichnen könnte: Am meisten hasste ich den Hegelianismus und die Dialektik. Mein Buch über Kant ist etwas anderes, ich mag es, ich habe es als Buch über einen Feind geschrieben, von dem ich zu zeigen versuche, wie er funktioniert, welches sein Räderwerk ist: Gerichtshof der Vernunft, rechtmäßiger Gebrauch der verschiedenen Vermögen – eine Unterwerfung, die umso scheinheiliger ist, als man uns den Titel des Gesetzgebers verleiht. Aber vor allem bestand meine Art, heil da rauszukommen, glaube ich, darin, die Philosophiegeschichte als eine Art Arschfickerei zu betrachten oder, was auf dasselbe hinausläuft, unbefleckte Empfängnis. Ich stelle mir vor, einen Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seines, aber trotzdem monströs wäre. Dass es wirklich seins war, ist sehr wichtig, denn der Autor musste tatsächlich all das sagen, was ich ihn sagen ließ. Aber dass das Kind monströs war, war ebenfalls notwendig, denn man musste durch alle Arten

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von Dezentrierungen, Verschiebungen, Brüchen, versteckten Äußerungen hindurchgehen, was mir nicht wenig Spaß bereitet hat.6 Die eigene philosophische Praxis als Analverkehr zu bezeichnen, wirkt zunächst vorkritisch inhaltsleer und auf den ersten Blick rein provokativ. Abhängig vom Diskurskontext ist sie sogar auch als homophob deutbar. Sie ist jedoch kein beleidigender Hohn und auch keine radikale Disqualifizierung der kantischen Philosophie. Die aggressive Rhetorik ist auch nicht der Versuch der philosophischen Schockunterhaltung eines akademischen Publikums, sondern vielmehr ein konzentriertes Destillat einer Programmatik des deleuzeseschen Denkens, das sich als ein Drastisches beschreiben ließe: also eine riskante Schreibweise, die Wahrheiten schonungslos ohne Absicherung als eine Denkform zur Sprache bringt. Philosophieren nach Deleuze bedeutet immer auch zu experimentieren – immer wieder feste Gesetzmäßigkeiten des Denkens aufs Spiel zu setzen. Das geht nach Deleuze nur an, mit und in fremden Texten. Philosophieren bedeutet, sich intervenierend und nahezu gewaltsam durch die Texte der Philosophiegeschichte zu bewegen. Das heißt jedoch nicht, einen Text mit Begriffsverschiebungen oder Neologismen zu verstellen und damit Autor*innen in ihren schwächsten Momenten zu überführen, sondern durch die fremden Texte die eigene Stimme und die eigene philosophische Signatur erklingen zu lassen. Deleuze dringt in die ›fremden‹ Autor*innen ein und spricht durch sie hindurch. Er lässt sie zwar dasjenige sagen, was er zu intendieren versucht, doch durch die Methode des DurchAndere-sprechens verändert sich auch seine eigene Position unentwegt und bringt – wie es Slavoj Žižek treffend beschreibt – »echte Monstren hervor«.7 Das ist eine drastische Textpraxis, die darin besteht, anderen Autor*innen buchstäblich in den Rücken zu fallen. Im Anschluss an Deleuze riskiert eine drastische Philosophie es, dasjenige zu äußern, das verfemt und verworfen wird, und verschiebt damit die Grenzen des Sagbaren und der Geltung. Von Interesse wären demnach Philosophien der Drastik, die die Abstände zu einem abwägend rezipierenden und in Sicherheit reflektierenden Subjekt überwinden und durch ihre Dringlichkeit und Militanz unmittelbar wirken. Damit ist weder gesagt, dass riskanter

6 7

Gilles Deleuze: Brief an einen strengen Kritiker, in: ders.: Unterhandlungen, S. 11-24, hier S. 15. Slavoj Žižek: Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung mit Deleuze und Lacan, Frankfurt a.M. 2005, S. 75. (Herv. i. O.)

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Gedanke und drastische Form eins sind, noch, dass sich vermeintlich provokante Philosophien in eine skandalöse Schreibweise und einen konventionellen Gehalt aufspalten lassen. Vielmehr zeigt sich in der Genese der ausgewählten Beispiele, dass die Fähigkeit, eine riskante Wahrheit auszusprechen, oft von der Arbeit, in der neuen Weise zu sprechen, abhängig ist und nicht ohne diese verstanden werden kann. Das Projekt erforscht damit die Wirkungen von experimentellen Philosophien mit reizenden, provokativen und explosiven Potentialen. Dies schließt unmittelbar an die Frage nach der Materialität und Wirkungsweise von philosophischen und literarischen ›Stoffen‹ an, wenn man sich vor Augen führt, dass das Adjektiv drastisch vor dem 19. Jahrhundert vor allem im Register der Medizin und der Heilkunde verwendet wurde. Drastische Präparate standen für starke Abführmittel, die den Organismus reinigen sollen.8 Die metafiktionale Verwandtschaft zwischen medizinischen Erzeugnissen und der Textualität ließe sich auf der Ebene der Drastik weiterziehen und die Frage nach der Schonungslosigkeit und Handgreiflichkeit der Philosophie stellen. Während die Forschung Drastik bisher hauptsächlich aus literatur- und kunstwissenschaftlicher Perspektive und damit anhand fiktionaler Texte, Comics und Filmen beleuchtet hat, ist die philosophische Schreibpraxis der Drastik bisher nicht konsequent thematisiert worden. In dem Sinne könnte man davon ausgehen, dass die Arbeit an der literarischen Form im Kern des Philosophierens steht und eine methodische und leitende Funktion ihres Denkens erfüllt. Entsprechend orientiert sich die Frage nach einer philosophischen Drastik erstens an Untersuchungen, die an nichtpropositionalen Erkenntnisformen interessiert sind und die Sprachgebundenheit und Literarizität des Philosophierens thematisieren. Zweitens folgt diese Schreibpraxis Ansätzen, die die Frage danach stellen, welche theoretischen, politischen und ästhetischen Impulse die literarische Form entwickeln kann. Somit soll entgegen einer Historisierung und Komparatistik innerhalb des Diskurshorizontes der Neuzeit, der (Post-)Moderne und der Gegenwart gezeigt werden, wie insbesondere experimentelle und performative Darstellungsformen die philosophische Formfindung konfigurieren und neue, riskante Gedanken ermöglichen. Oft ist es nicht so sehr die Hyperbel, die mit dem Drastischen gemeint ist und uns schreckt, sondern vielmehr die Bedrohung durch eine 8

Vgl. Wolfgang Pfeifer: Drastik, in: ders.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, digitalisierte und überarbeitete Version im digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (https:// www.dwds.de/wb/etymbw/Drastik), aufgerufen am 19.10.2022.

VI. Schluss: Übriggebliebene Vomitive und drastische Präparate der Philosophie

Wahrheit, die das Subjekt in seiner Integrität erschüttert.9 Auf diese Weise könnte das »drastische Präparat der Philosophie« mit Foucault als Wahrsprechen – als parrhesia – begriffen werden.10 Darunter versteht Foucault eine explizite, unverblümte und deutliche Wahrheit als Kritik am Bestehenden, indem sie das zu Tage fördert, das ausgeschlossen ist. Parrhesia – von griech. pan (alles) und rhema (das Gesagte) – bedeutet: ungeschützt seine Meinung zu äußern, frei zu sprechen und Kritik zu üben, auch wenn man riskiert, sich dadurch Gefahren auszusetzen. Parrhesia kann damit einerseits als eine gesellschaftskritische – also analytische – und zugleich als eine poietische und herstellende Praxis begriffen werden, in der Denken, Handeln und Sein übereinstimmen. Das Poetische soll dabei als ein Verfahren im Zentrum stehen, das nicht auf literarische Gattungen reduzierbar ist, sondern als ein ubiquitäres Prinzip, das eine erschaffende und experimentelle Schreibpraxis meint, die weder noietisch (Denken der Welt) noch ästhetisch (Wahrnehmen der Welt) funktioniert. In dieser Klammer lokalisiert Foucault die Möglichkeit eines freien Subjekts, das Kritik am Bestehenden übt, wodurch auch das aufklärerische Prinzip des Wahrsprechens aufleuchtet. Drastik, so ließe sich minimaldefinitorisch behaupten, ist erstens eine Form des Zeigens von ungeliebten Wahrheiten und zweitens ließe sich das Drastische vor dem Hintergrund seiner medizinischen Semantik auch als ein Vomitiv, als ein starkes Brechmittel verstehen, das der Provokation von Wahrheiten auch eine körperliche Dimension verleiht. Diese philosophischen Vomitive, die von der Frühaufklärung bis zur Gegenwart vielfältig ausfallen und bisher in der philosophischen Forschung unterbelichtet geblieben sind, gälte es ausfindig zu machen und aufzuarbeiten. Das Desiderat wird schon allein deswegen so auffällig, weil der Aufschlag einer Drastiktheorie nicht von Seiten der Theorie gemacht wird, sondern von Literat*innen wie Terézia Mora und Dietmar Dath, die unter dem Deckmantel des Essays und der Fiktion eines Briefromans entwickelt werden. Während Dath das Drastische als Explizitheit der Darstellung und als Unvermitteltheit der Obszönität definiert, die rational und leicht unterkühlt im Vorgehen ist,

9 10

Vgl. Peter Siller: Politik der Drastik, in: Polar. Heft 16: Kunst der Drastik, 9, (Frühjahr) 2014, S. 9-16, hier S. 9. Vgl. Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt a.M. 2009; Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit: Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84, Berlin 2010.

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konzentriert sich Moras Auseinandersetzung nicht auf das übermäßig Sichtbare und Gewaltsame, sondern auf das Verdeckte und Subtile der Drastik, das vor allem in der Sprache zum Vorschein kommt. So heißt es exemplarisch: »Ein unerträglicher Satz ist demnach einer, der keine Chance lässt wegzuschauen.«11 Dath adressiert den Gehalt der Drastik in seinem ManifestWerden des Körperlichen – Mora hingegen seine Implizitheit in der Sprache. Anhand dieser theoretischen Klammer untersuchen Giuriato und Schumacher in ihrem Sammelband Drastik. Ästhetik – Genealogien – Gegenwartskultur (2016) die Aktualität des Drastischen innerhalb der Poetik und der Literatur der Gegenwart.12 Bezugnahmen auf die Philosophien der Frühaufklärung, die kynischen Philosophien der Moderne sowie das Selbstexperiment, das sich eng mit der Schreibpraxis verschränkt, sind bisher unterbelichtet geblieben. Eine systematische Untersuchung zur Figuration und zu Ordnungen des Drastischen innerhalb der Schreibpraktiken der Philosophie steht somit noch aus. Drastische Ansätze des Philosophierens, so könnte man hier nur verkürzt argumentieren, treten oft in einem neuen literarischen Format oder auch einem ›Genre‹ auf: Das gilt für den den Essay (Montaigne) und den Aphorismus (Nietzsche) ebenso wie für selbstexperimentelle und autofiktionale Formen der Philosophie (Preciado). Die schillerndste und kaum untersuchte Schrift bezüglich ihres Risikos und ihrer Drastik scheint Jean Mesliers Testament zu sein.13 Die Verfasstheit seines Denkens ist nicht unabhängig von seinen Texterfindungen zu denken, die daran anschließend insbesondere für Denis Diderot und den Marquis de Sade von enormer Bedeutung waren. Begreift man Montaignes Schreiben als eine der Wurzeln der radikalen Frühaufklärung, so wird klar, dass die Lust an der zugespitzten Formulierung mit der Betonung des Versuchsartigen bei der vernunftbasierten Wahrheitssuche einhergeht. Meslier, bekannt als »Atheist im Priesterrock«,14 formuliert in seinem als mémoire angelegten Testament lange vor den Schriften Ludwig Feuer-

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Terézia Mora: Über die Drastik, in: Bella triste, 6 (16), 2006, S. 68-74, hier S. 74. Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt a.M. 2005. Vgl. Davide Giuriato/Eckhard Schuhmacher (Hg.): Drastik. Ästhetik – Genealogien – Gegenwartskultur, Paderborn 2016. Vgl. Hartmut Krauss (Hg.): Das Testament des Abbé Meslier. Die Grundschrift der modernen Religionskritik, Osnabrück 2005. Vgl. Friedrich Hagen: Jean Meslier oder: Ein Atheist im Priesterrock, Leverkusen/Köln 1977.

VI. Schluss: Übriggebliebene Vomitive und drastische Präparate der Philosophie

bachs eine materialistische Grundschrift der modernen Religionskritik.15 Seine Religionskritik, angelegt als Herrschaftskritik, formuliert in Ansätzen somit auch einen Protokommunismus und eine Ideologiekritik. Philosophisch zentral ist, dass Meslier den cartesischen Dualismus von Körper und Geist zugunsten einer allumfassenden Materialität des Seins aufhebt. Nach Meslier gibt es kein Außen der Materie, das die Welt anleitet, sondern ein Naturgeschehen ohne Gott. Das Testament macht sukzessiv die Irrtümer der Religion sichtbar und diffamiert diese radikal als Herrschaftsinstrumente, die zu sozialer Ungleichheit führen. Jean Meslier ist als Philosoph selten untersucht worden. Jedoch erfreute sich sein Testament in der vergangenen Dekade eines regen Diskurses im Kontext der Aufklärungsforschung, prominent durch die Veröffentlichungen von Jonathan Israel und Martin Mulsow zur Radikalaufklärung.16 Nach Israel ist Meslier ein Denker eines bedingungslosen Atheismus, der erstens Philosophie und Glauben – ähnlich den Ansätzen Bayles – als unvereinbar markiert und zweitens einen wichtigen Zugang zum Verständnis der Moderne der westlichen Welt darstellt. Obwohl Israel und Mulsow die Desiderate der Forschung um die Autoren der Radikalaufklärung aufzeigen und darauf hinweisen, dass gerade das Skandalöse und Pornografische zentrale Formen und Mittel der Radikalaufklärung sind, bleiben ihre Untersuchungen sowie die Untersuchungen ihrer Mitstreiter*innen auf der ideengeschichtlichen und begriffsdefinitorischen Ebene stehen und fragen nicht nach dem Wie des Skandalösen, Radikalen und Drastischen der jeweiligen Denker*innen. Gerade Jean Mesliers Arbeit könnte eindringlich zeigen, wie Form und Inhalt eines drastischen Schreibens sich irreduzibel verschränken. Fokussierend auf Mesliers Testament ließen sich literarische Formen der philosophischen Polemik, der Entlarvung und der Übertreibung in der Form einer nachgelassenen Wahrheit untersuchen. Zugleich könnte nachzuweisen sein, dass Argumentationsstrukturen sich mit polemischen Schreibweisen abwechseln und dadurch eine Intensität erzeugen, die sich nicht auf Thesen oder Begründungen reduzieren lassen. Insbesondere der im Testament stattfindende Umgang mit anderen Texten weist auf eine intertextuelle Schreibpraxis seines Denkens hin, die an die Kompilationen Montaignes erinnern.

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Vgl. ebd. Vgl. Jonathan I. Israel/Martin Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung, Frankfurt a.M. 2014; Martin Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720. Bd. 1: Moderne aus dem Untergrund, Göttingen 2018; Jonathan I. Israel: Die Französische Revolution. Ideen machen Politik, Ditzingen 2017.

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Auch scheinen das Genre des Manifests und der philosophischen Programmschrift, die tradierte Form des Aufsatzes und der kritischen Analyse nicht mehr zu genügen, um eine Schlagkraft und Wirksamkeit der Thesen zu erzielen. Von Alain Badious Manifest für den Affirmationismus und dem Hacker Manifest von McKenzie Wark über das Manifest des Akzelerationismus und das Terrestrische Manifest Bruno Latours bis zu den neofeministischen Autofiktionen Das kontrasexuelle Manifest von Paul B. Preciado und dem Xenofeministischen Manifest des Aktivistinnen- und Theoriekollektivs Laboria Cuboniks wimmelt es in der gegenwärtigen Theorielandschaft von Programmschriften. Das erhärtet den Verdacht, dass das Manifest und andere wirksame Programmschriften heute erneut eine Konjunktur erfahren, in denen das Echo des Manifests der Kommunistischen Partei von Marx und Engels nachhallt. Was anhand Marx’ und Engels Manifest deutlich wird, ist, dass das Philosophieren inmitten politischer Kämpfe und nicht mehr in Thesenform stattfindet: Es wird in der Form des Manifests handgreiflich. Die Form des Manifests erwies sich vor allem in Künstlerkreisen als ein Vehikel der öffentlichen Erregung und als ein neues Medium, um an gesellschaftlichen Stellschrauben zu drehen. Das Appellativ-Werden der Kunst war zugleich auch immer ein »Sprung aus der Kunst«,17 was vor allem an den technikfanatischen und fatalistischen Manifesten der Futurist*innen beobachtet werden kann.18 Kunst und Politik sollten, wie es Paul B. Preciados Texte immer wieder performen, eine verkörperte Verschränkung eingehen und radikale Veränderungen in beide Richtungen auslösen. Schon in den Textformen sollten die Trennungen zwischen Lebensform und Kunst, zwischen Sein und Denken sowie Ästhetik und Politik überwunden werden.19 Das Schreiben selbst sollte der Ort der Veränderung von Leben und Praxis sein. Es wäre hier in Bezug auf die Gegenwart des Manifests zu fragen, mit welchen wirkungsvollen (Brech-)Mitteln die theoretische Avantgarde des Manifests von heute operiert. Es wäre somit zu überprüfen, inwiefern experimentelle, explosive und ›vomitive‹ Gattungen der Philosophie entwickelt wurden, um in je spezifischer Weise neuen philosophischen Gedanken Geltung zu verschaffen.

17 18 19

Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.): »Die ganze Welt ist eine Manifestation«. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997, S. 5. Vgl. dazu Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus, in: Le Figaro, 20.02.1909. Vgl. dazu auch Pamela Geldmacher (Hg.): Re-Writing Avantgarde: Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation in der Performance-Kunst, Bielefeld 2015, S. 112.

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Filmverzeichnis Garland, Alex (Regie): Auslöschung, USA 2018. Lucas, George (Regie): THX 1138 [Director’s Cut], USA 1971. Wachowski, Lana/Wachowski, Lilly (Regie): The Matrix, USA 1999.

Abbildungen Geronimi, Clyde/Jackson, Wilfried u.a. (Regie): Alice in Wonderland, USA 1951. Garland, Alex (Regie): Auslöschung, USA 2018. Lucas, George (Regie): THX 1138 [Director’s Cut], USA 1971. Wachowski, Lana und Lilly (Regie): The Matrix, USA 1999.

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Danksagung

Ich danke Prof. Dr. Kathrin Busch und Prof. Dr. Kahtrin Peters für die Betreuung dieser Arbeit. Beide Betreuerinnen haben mich während der gesamten Bearbeitungszeit mit konstruktiver Kritik und zielführenden Ratschlägen und Hinweisen vielseitig unterstützt. Den Kolleg*innen des Forschungskolloquiums am Graduiertenkolleg Das Wissen der Künste danke ich von ganzem Herzen für die anregenden Gespräche, Diskussionen und kritischen Kommentare, die mich stets in meinem Vorhaben bestärkt haben. Für die konkreten Besprechungen von Textteilen und das gemeinsame Eintauchen in das Thema meiner Arbeit danke ich Eva Murašov, Andreas Häckermann, Felix Laubscher sowie Annika Haas, die sich in die Fragestellungen der Arbeit hineingedacht haben und mich immer wieder dazu aufgefordert und inspiriert haben weiterzudenken. Darüber hinaus danke ich meinen Kolleg*innen vom diffrakt-Kollektiv sowie meinen Freund*innen Hendrik Thiele, Leo Ritz, Sten Jackolis und Joshua Wicke, die mich bei jeder Phase dieser Arbeit begleitet haben. Für die akribische Detektivarbeit im Fall Flaubert und seinen Briefen an Louise Colet danke ich meiner Partnerin Rea. Letztlich danke ich meinen Eltern für die mentale und emotionale Unterstützung, vomStudium bis zur Anfertigung dieser Arbeit.

Kulturwissenschaft Tobias Leenaert

Der Weg zur veganen Welt Ein pragmatischer Leitfaden 2022, 232 S., kart., 18 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5161-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5161-8 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5161-4

Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Wilhelm Krull, Anna Luisa Lippold, Corine Pelluchon, Ingo Venzke

Towards a New Enlightenment – The Case for Future-Oriented Humanities 2022, 80 p., pb. 18,00 € (DE), 978-3-8376-6570-3 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-6570-7 ISBN 978-3-7328-6570-3

Marc Dietrich, Martin Seeliger (Hg.)

Deutscher Gangsta-Rap III Soziale Konflikte und kulturelle Repräsentationen 2022, 378 S., kart., 2 Farbabbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-6055-5 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6055-9

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Kulturwissenschaft Michael Thompson

Mülltheorie Über die Schaffung und Vernichtung von Werten 2021, 324 S., kart., 57 SW-Abbildungen 27,00 € (DE), 978-3-8376-5224-6 E-Book: PDF: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5224-0 EPUB: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5224-6

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur und Kritik (Jg. 11, 2/2022) 2022, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-5897-2 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-5897-6

Eva Blome, Moritz Ege, Maren Möhring, Maren Lickhardt, Heide Volkening (Hg.)

»Süüüüß!« Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2022 2022, 128 S., kart., 5 Farbabbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-5898-9 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5898-3

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