Peter Rühmkorfs Lyrik 9783737002646, 9783847102649, 9783847002642

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Peter Rühmkorfs Lyrik
 9783737002646, 9783847102649, 9783847002642

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Hans-Edwin Friedrich / Barbara Potthast (Hg.)

Peter Rühmkorfs Lyrik

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0264-9 ISBN 978-3-8470-0264-2 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0264-6 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Isolde Ohlbaum Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Hans-Edwin Friedrich/Barbara Potthast Einleitung: Themen und Formprinzipien in Rühmkorfs Lyrik

. . . . . .

7

Hartmut Steinecke Rühmkorfs Selbstporträt-Gedichte. Das artistische Ich zwischen Kommerz und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Lydia Christine Michel Tradition und ›Marktlage‹. Rühmkorfs Selbstinszenierung als Dichter . .

33

Barbara Potthast »A propos, von wem stammt eigentlich das Zitat ›Nach Auschwitz kann man keinen Adorno mehr lesen‹?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Jan Bürger »Wär’s nicht schon oft getan, wär’s nicht so gut!« Zur Bedeutung Bertolt Brechts für Peter Rühmkorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Christoph König Ist die Resemantisierung eine Prämisse der Poesie? Paul Celan und Peter Rühmkorf um 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Hans-Edwin Friedrich »alle neu aufgerissenen Klüfte […] zwischen Kunstglauben und Gesellungstrieb magisch übertönend«. Peter Rühmkorfs Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock (1959) . . . . . . . . . . . . .

99

Stephan Opitz Peter Rühmkorf und Walther von der Vogelweide . . . . . . . . . . . . . 119

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Inhalt

Na Schädlich Eine Farce gegen die literarische Tradition: Peter Rühmkorfs Gedicht Undine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Roland Berbig Tempus fugit. Rühmkorfs Fliederbusch-Gedicht: archiviert, nicht ad acta

169

Rüdiger Zymner Rühmkorfs späte Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Dieter Lamping Altern als Problem für Peter Rühmkorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Christoph Hilse Das »bombensichere Liegeplätzchen« – Der Nachlass von Peter Rühmkorf im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Ein Werkstattbericht . 219 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Hans-Edwin Friedrich/Barbara Potthast

Einleitung: Themen und Formprinzipien in Rühmkorfs Lyrik Was soll ein Gedicht? Was will es? Kann es? Was ist ihm zuzutrauen, anzutragen, aufzubürden und sonst niemandem? Wo kommt es her? Wo zieht es hin? Wofür steht es ein? Wogegen steht es? Das sind so Fragen. Fragen freilich, die jede Generation aufs neue zu stellen hat und beantworten muß wie von Anfang an. P. R.

I.

Themen: Tradition, Ökonomie, politische Kritik

Über den Vorwurf der unmittelbaren Zeitgebundenheit waren Peter Rühmkorfs Gedichte immer erhaben. Ihre hellsichtige Analyse der Mechanismen und Zwänge des spätkapitalistischen Systems und seines Kulturbetriebs zeigt sich heute, sieben Jahre nach seinem Tod, deutlicher als je zuvor. Rühmkorfs Gedichte und poetologische Texte richten sich schließlich von Anfang an gegen diejenigen gesellschaftspolitischen Prozesse, deren Ergebnisse die aktuelle Situation bestimmen: eine fortgeschrittene Ökonomisierung von Kultur und Bildung, das Versagen und Fehlen einer kritischen Öffentlichkeit, eine Krise der Geisteswissenschaften und der literarischen Tradition, die Dichotomisierung von Lyrik und Politik, ja von Literatur und kritischer Intellektualität überhaupt. Der vorliegende Sammelband geht aus einer im Jahr 2013 im Deutschen Literaturarchiv stattgefundenen Tagung hervor, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, den lebendigen Gegenwartsbezug von Rühmkorfs Lyrik herauszuarbeiten. Die thematischen Aspekte Tradition – Ökonomie – politische Kritik steckten das Spielfeld ab, denn Rühmkorf, »[d]ieser aus vielen Widersprüchen bestehende Poet« (Durzak/Steinecke),1 stellte sich mit seinen Gedichten wie kein anderer zeitgenössischer Lyriker den Anforderungen kapitalistischer Marktökonomie wie engagierter Zeitkritik und vergewisserte sich dabei beständig seiner Positionen in der Tradition. Rühmkorfs Kanonisierung als eine der Hauptfiguren der deutschen Literatur nach ’45 ist seit langem unbestritten; seinem lyrischen Werk 1 Manfred Durzak, Hartmut Steinecke: Der Poet auf dem Hochseil, in: dies. (Hg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 7–33, hier S. 7.

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wurden allerdings bisher zu wenige seriöse literaturwissenschaftliche Arbeiten gewidmet, es ist, auch in seiner seismographischen Qualität in Bezug auf die Krisenmomente der Gegenwartskultur, von der Literaturwissenschaft längst noch nicht angemessen untersucht worden. Der vorliegende Band will dazu beitragen, Rühmkorfs Gedichte in ihrer Bedeutung für die Integration von zunehmend disparaten Gegenwartsbereichen neu zu würdigen – Gedichte als Räume, in denen »freier geatmet, inniger empfunden, radikaler gedacht und dennoch zusammenhängender gefühlt werden kann als in der sogenannten ›wirklichen Welt‹«.2 Rühmkorf sah den traditionellen Kunstbegriff im Kapitalismus bedroht und beklagte früh den Verlust der literarischen Tradition in Worten, die heute in prekärer Weise an Aktualität gewonnen haben: Ich sah nämlich, daß der ganze literarische Unterbau, auf dem wir gründeten, unsere ganze Tradition zusammengebrochen war. Das Kirchenlied saß nicht mehr, Volkslieder wurden nicht mehr gesungen, es gab überhaupt keine literarischen Traditionen mehr. Und die letzten Traditionen waren – und das zählt auch zu den, na, wie soll ich sagen, Mankos der Apo, daß sie die letzten Bildungsbastionen der deutschen Literatur geschleift hatten. (…) Und da dachte ich, wo kann Literatur überhaupt noch anknüpfen? Auch die Bibel war nicht mehr vorauszusetzen, die Odyssee war abgesunkenes Kulturland, […].3

Der Lyriker Rühmkorf war ein Meister der literarischen Tradition, ihr Anverwandler und Umwandler, der sich in 50 Jahren Werkgeschichte beständig mit dem lyrischen Erbe auseinandersetzte. Seine Rehabilitation des Reims, der metrisch gebundenen Sprache und der lyrischen Subjektivität wie die Popularisierung von Jazz & Lyrik, einer Kunstform, bei der Gedichte mit Begleitung einer Jazzband vorgetragen werden, trugen wesentlich zur Demarginalisierung von Lyrik bei. Jazz & Lyrik wurde zu einem zukunftsweisenden Genre, das Rühmkorf in engen Bezug zur Tradition stellte: »Die Lyrik kommt von der Lyra her. […] Also: hier ist eine ganz alte Symbiose, wirklich eine uralte Symbiose noch einmal neu belebt worden eben durch den Kontakt mit der Jazzmusik.«4 Die Anverwandlung alter literarischer Formen durchzieht Rühmkorfs Werk von Anfang an, ebenso wie die selbstgewählten Verwandtschaften – zu Walther von der Vogelweide, Brockes, Harsdörffer, Angelus Silesius, Klopstock, Matthias Claudius, Hölderlin, Eichendorff, Bellmann, Ringelnatz, Brecht, Kästner, Tucholsky und anderen. Heinrich Heine ragt heraus; ihn sah Rühmkorf als lite2 Peter Rühmkorf: Einfallskunde, in: ders.: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, hg. von Hartmut Steinecke, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 151–179, hier S. 166f. 3 Peter Rühmkorf: Gespräch 1999, zit. nach: Heinz Ludwig Arnold: Von Unvollendeten. Literarische Porträts, Göttingen 2005, S. 263–285, 333, hier S. 282. 4 Ebd., S. 277.

Einleitung: Themen und Formprinzipien in Rühmkorfs Lyrik

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rarischen Ahnherren und Freund, mit ihm hat er sich seit den 50er Jahren kontinuierlich beschäftigt. Die Probleme der Gegenwart sollten in Relation zur Vergangenheit behandelt werden: »Im Verhältnis zwischen Erkenntnis und Interesse«, schrieb Rühmkorf, »[…] bin ich immer dafür, daß man seine eigenen, gegenwärtigen, zeitbezogenen und auch persönlichen Probleme an denen von Vorbildern mißt«.5 Rühmkorfs Bezug zur Tradition war immer ein kritischer ; dabei betraf seine Kritik nicht nur das Alte, sondern vor allem auch die eigene Gegenwart in ihrer Relation zur Vergangenheit. Seine Auseinandersetzung mit der Tradition geschah in einer genuinen, für seinen lyrischen Stil charakteristischen Weise – in seinen eigenen Worten: »Ich habe nicht alte Weisen einfach nur nachgesungen, sondern ich habe sie umgesungen. Ich habe sie mir angeeignet, ja ich möchte sagen: ich habe sie mir einverleibt und auf eine besondere Art fermentiert und verdaut wieder von mir gegeben.«6 Als literarische Verfahren bei diesem Umbildungsprozess favorisierte Rühmkorf die Variation und die Parodie; er schrieb lyrische Variationen Auf eine Weise des Joseph Freiherrn von Eichendorff und Den »Gesang des Deutschen« von Friedrich Hölderlin; er parodiert die Ode als Anode, Methode, Kathode oder Kommode. Zu Rühmkorfs lyrischem Verdauungsprozess gehörte es, sich die alten Themen, Motive und Sprachformen anzueignen, um wieder etwas von ihnen abzustoßen – ein dialektischer Prozess. »[A]nlehnend und ablehnend«, so Rühmkorf, bewege er sich durch die alten Texte.7 Zur Dialektik zwischen Vergangenheit und Gegenwart tritt die zwischen der Tradition und ihrer Wirkungsgeschichte. Rühmkorf war nur an historischen Texten interessiert, die selbst in einer wirkungsgeschichtlichen Tradition stehen, auf die er sich wiederum kritisch beziehen konnte. Er formulierte mithin poetische Beiträge zu Rezeptionsdebatten. Die Reflexion über die Ökonomie und den ökonomischen Tauschwert von Gedichten hat seit den späten 40er Jahren Rühmkorfs lyrische Arbeit begleitet – von Essays (Erkenne die Marktlage, 1964, Lyrik auf dem Markt, 1966) über Gedichte (Annonce, 1946/47) bis zu ganzen Gedichtsammlungen (Haltbar bis 1999, 1979). Rühmkorf argumentierte hier – wie so oft – mit einer doppelten Denkfigur : Einerseits sei das Gedicht ein dezidiert antiökonomisches Produkt und habe, mit einem Marktwert gleich Null, keinen Anteil am kapitalistischen Warenverkehr ; andererseits sei Gedichteschreiben anstrengende, zeitintensive 5 Peter Rühmkorf: »Ich hasse Schriftsteller, die nicht alle paar Jahre mal Hasard spielen«. Gespräch mit Peter Rühmkorf, in: Heinz Ludwig Arnold: Als Schriftsteller leben. Gespräche mit Peter Handke, Franz Xaver Kroetz, Gerhard Zwerenz, Walter Jens, Peter Rühmkorf, Günter Grass, Reinbek bei Hamburg 1979 (Das neue Buch, 118), S. 117–139, hier S. 123. 6 Rühmkorf: Gespräch 1999, S. 276. 7 Rühmkorf: »Ich hasse Schriftsteller, die nicht alle paar Jahre mal Hasard spielen«, S. 122.

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Arbeit, die auch in marktwirtschaftlichen Kategorien zu evaluieren sei: »Um ein Gedicht von guter oder auch nur mittlerer Qualität wirklich marktfertig zu machen, […] muß bereits eine Vorinvestition von achthundert bis tausend Mark pro Stück geleistet werden.«8 Mit der Auffassung von Poesie als Ware korrespondierte seine Vorstellung des Lyrikers als Wanderarbeiter, der – auch auf Marktplätzen und in Fabrikhallen – einer ökonomisch höchst riskanten Arbeit nachgehe: von ihren Verkaufs- und Vertriebsmethoden her sind diese wunderlichen Unternehmer nämlich nicht viel mehr als Wanderarbeiter. Saisonjobber. Unständige Obstpflücker oder hausierende Ambulante. Früher von Hof zu Hof, von Kloster zu Kloster, von Jahrmarkt zu Jahrmarkt; dann – Klopstock – von Finanzier zu Finanzier, von Gönner zu Gönner, von Verleger zu Verleger ; na und wir heute – bitteschön – von Funk zu Funk, von Kunstverein zu Kunstverein, von Zeitung zu Zeitung, von Fall zu Fall.9

Diese Konzeption des Lyrikers wusste Rühmkorf geschickt zur eigenen Inszenierung und Positionierung auf dem literarischen Markt zu nutzen, indem er sich als herumziehender Schausteller und Selbstanbieter präsentierte: »Tragen die Bücher ihren Erzeuger nicht, muß der Erzeuger seine Bücher eben in die eigenen Hände nehmen.«10 Zu seiner selbsternannten ›alten Schizographie‹ zwischen poetisch-artistischem und politischem Schreibantrieb trat Ende der 70er Jahre eine ›neue Schizographie‹ zwischen artistischem und ökonomischem Schreibimpuls. Sie steht dafür, dass der Lyriker die Gesetze der Marktwirtschaft zugleich verachtet und sich ihnen unterwirft, was das Gedichteschreiben endgültig zur Risikonummer macht (Hochseil, 1975). Seit dieser Zeit erscheinen in Peter Rühmkorfs Gedichten auch immer wieder Entschleunigungsmomente, Spuren einer Poetologie des Zeitvertreibs, gewendet gegen eine effektivitätsorientierte Zeitökonomie und kapitalistisches Verwertungsdenken. Wie die neue ist auch die ›alte Schizographie‹ zwischen Artistik und politischer Kritik als spannungsvolle Symbiose zu denken – hier als Symbiose von artistischer Ästhetik auf der einen und politischer Kritik mit aufklärerischdemokratischem Anspruch auf der anderen Seite. Diese Gleichzeitigkeit von Zeitkritik und Poetizität, Peter Rühmkorfs »unabänderliches Markenprofil«11 (Liewerscheidt), richtete er ebenso gegen Autonomiekonzeptionen des Gedichts 8 Peter Rühmkorf: Lyrik auf dem Markt, in: ders.: Strömungslehre I. Poesie, Reinbek bei Hamburg 1978 (Das neue Buch, 107), S. 186–189, hier S. 186f. 9 Peter Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, Reinbek bei Hamburg 1975 (Das neue Buch, 65), S. 126. 10 Peter Rühmkorf: Bleib erschütterbar und widersteh. Aufsätze – Reden – Selbstgespräche, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 253. 11 Dieter Liewerscheidt: Peter Rühmkorfs »Schnellimbiß«. Lyrik im Warentest, in: Wirkendes Wort 42.1 (1992), S. 103–116, hier S. 104.

Einleitung: Themen und Formprinzipien in Rühmkorfs Lyrik

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wie gegen die zeitgenössische Tendenzkunst. Die Balance zwischen beiden Polen, dem gesellschaftskritischen Impetus und der ästhetischen Durchformung, stellt eine ständige Provokation für Rühmkorf dar : Es war für mich sehr schwer, von Gedichten aus, die ja auch vergleichsweise esoterische Gebilde sind, schon weil sie Gedichte sind und ein paar empfindsame Leute erreichen, es war für mich schwierig, vom Gedicht aus politische Frontlinien auszubilden. Was mir in der Prosa zweifellos gelungen ist, daß ich mit meinem Prosabesen die politische Arena ausfegte, das wollte mir im Gedicht nicht so gelingen.12

Er begegnete dieser Herausforderung durch sein unverkennbares polyphones Kompositionskonzept, einem souveränen Spiel mit verschiedenen Sprechweisen, bei dem sich hochliterarische Bildungselemente mit Umgangston und Jargon verbinden. Es ist typisch für Rühmkorfs Ästhetik der Virtuosität und des Heterogenen, einer Verbindung von Tragik und Komik, Erhabenem und Lächerlichem, Pathos und Schnoddrigkeit. Rühmkorf war seit seinen Anfängen in den späten 40er Jahren ein politischer Lyriker ; dabei waren operative politische Gedichte nie seine Sache, wohl aber Lyrik im Dienst von Aufklärung, Demokratie und Öffentlichkeit. Seine Gedichte thematisieren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine aktuelle Tagespolitik, aber sie beziehen Position zu gesellschaftspolitischen Verhältnissen. Kunst muss sich für Rühmkorf mit der politischen Wirklichkeit ins Verhältnis setzen; der Künstler hat seiner Überzeugung nach ein politisches Mandat inne. Kunst, die sich lossagt von gesellschaftspolitischen Problemen und die ihre eigene Rolle nicht bedenkt, läuft Gefahr, politisch instrumentalisiert zu werden. Wer die gesellschaftspolitische Position der Kunst nicht kritisch reflektiere, der habe eine bestimmte politische Ordnung und bestimmte Missstände bereits akzeptiert – davon war Rühmkorf überzeugt: Wo nämlich Poesie sich kategorisch abschließt von allem, was Gesellschaft heißt, und ihre eigene gesellschaftliche Rolle zu reflektieren sich versagt, da wird sie mit Sicherheit der Politik aufsitzen. Wo sie sich frag- und zweifellos im Besitze uneingeschränkter Freiheit wähnt, da ist ihre Autonomie am ehesten in Gefahr. Wo sie sich ihre Position als schönes Abseits aufschwatzen, wo sie sich blind für autonom verkaufen läßt, da leistet sie bereits Hand- und Spanndienste.13

Dennoch war Rühmkorf weit entfernt davon, die politische Wirkung von Kunst zu überschätzen. Lyrik hatte für ihn letztlich eine utopische Funktion, war nie als bloße Handlungsanweisung zu verstehen: In einem sehr tiefen anthropologischen Sinn ist das Gedicht ja wirklich kein Tatort, auf dem Geschichte entschieden oder Welt von Morgen vorbereitet wird, sondern ein 12 Rühmkorf: Gespräch 1999, S. 281. 13 Peter Rühmkorf: Einige Aussichten für Lyrik, in: ders.: Schachtelhalme, S. 85–101, hier S. 91f.

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Unort, Überort, Unterort, meinetwegen auch Abort, aber immer Utopie, wo sein kann was eigentlich nicht sein darf, weil das gesellschaftlich zerteilte Unteilbare sich einige befreiende Atemzüge lang gesammelt zu erleben vermag.14

In der Frage, welche Rolle dem Politischen in der Ästhetik zukomme, gelangte Rühmkorf zu Überlegungen, die denen Adornos in wesentlichen Grundzügen entsprachen. In seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft hatte Adorno gegen die zeitgenössische Überzeugung von der Gesellschaftsferne der Lyrik eingewandt, »daß in jedem lyrischen Gedicht das geschichtliche Verhältnis des Subjekts zur Objektivität, des Einzelnen zur Gesellschaft im Medium des subjektiven, auf sich zurückgeworfenen Geistes seinen Niederschlag muß gefunden haben«.15 So verstanden, bedeutet politische Lyrik nicht politische Aussagen im lyrischen Gewand; vielmehr ist der von Rühmkorf stets gesetzte »Akzent auf dem autonomen Werk […] selber gesellschaftlich-politischen Wesens«,16 wie Rühmkorf kritisch gegen Brecht einwandte: Da Gedichte ein eigenes körperliches Wesen besitzen – mit einem eigenen Nervensystem und einem eigenen Fächer subjektiver Reizbarkeiten –, reagieren sie auf die Herausforderungen der Politik oft gar nicht so sehr mit Meinungen oder Ansichten als mit Haltungen, Gesten, Allergien. Selbst das scheinbar gewissenlos der Welt enthobene Liebesgedicht hat seine private Gewissensentscheidung bereits getroffen.17

Das gilt gerade »für so elitär privatistische Hervorbringungen wie Gedichte«,18 auch und gerade dann, wenn sie sich der Artistik verschrieben haben.

II.

Formprinzipien: lyrisches Ich, Reim, Parodie

Der in diesen Überlegungen deutlich werdende reflexive Zug ist das Kennzeichen des Lyrikers und Poetologen Rühmkorf, der seine Gedichte von den frühesten Publikationen an mit elaborierten theoretischen Überlegungen und Konzeptionen flankierte. Die in der Nachkriegszeit verbreitete Auffassung des Lyrischen als Medium gesellschaftsabgewandter Innerlichkeit ging immer noch auf Hegel zurück, der Lyrik als »subjektive Rede, das Innere, das als Inneres 14 Peter Rühmkorf: Meine Damen und Herren Studierende der Literaturwissenschaft, in: ders.: Schachtelhalme, S. 129–149, hier S. 142. 15 Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: ders.: Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003 (Gesammelte Schriften, 11), S. 46–68, hier S. 55. 16 Theodor W. Adorno: Engagement, in: ders.: Noten zur Literatur, S. 409–430, hier S. 430. 17 Peter Rühmkorf: Vom Liebes- und vom Lehrgedicht – zur Lyrik Bertolt Brechts, in: ders.: Dreizehn deutsche Dichter, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 93–106, hier S. 97. 18 Peter Rühmkorf: Dieses Schwanken und Schlingern. Über Hans Magnus Enzensberger : »Gedichte 1955–1970«, in: ders.: Strömungslehre I, S. 80–82, hier S. 80.

Einleitung: Themen und Formprinzipien in Rühmkorfs Lyrik

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hervorkehrt,«19 definiert hatte. Dagegen setzte Rühmkorf provozierend sein Verständnis der Lyrik als »Gesellungsmittel«.20 Deren Prototyp erblickte er in Volkslied und Kindervers, den er als »differenziertes und doch wieder handliches Instrumentarium« analysierte, der »geeignet [sei], die dringendsten Sozialprobleme gemeinschaftlich zu erledigen«.21 Diese Funktion vermochten die elementaren Gedichte und Gesänge mittels ihres formalen Instrumentariums zu erfüllen, einen »Standardschatz bewährter Folien, alter Grundmuster, beliebter Spielregeln, approbierter Reizmittel, handlicher Ausdruckskartuschen, eingeführter Provokationstechniken und Bindeverfahren«, die sich »durch die Jahrhunderte«22 bewährt hatten. Vor diesem Hintergrund gelangte Rühmkorf auch zu einer scharfen Pointierung der Gesellschaftlichkeit des lyrischen Subjekts, das er jedoch vom lyrischen Ich als »Ich, das praktisch nur im Aggregatzustand des Gedichts existiert und mit dem dahinterstehenden Subjekt nicht viel zu tun haben soll«,23 unterschied. Diese poetologische Analyse des Aussagesubjekts eines Gedichts dürfte eine wesentliche Rolle in der Wiederauferstehung des Lyrikers24 nach der langen Pause seit den Kunststücken von 1962 gespielt haben. Bezeichnenderweise wird das lyrische Ich erneut Thema, als Rühmkorf einerseits mit Selbst III/88. Aus der Fassung dem Prozess der Entstehung seines lyrischen Selbstporträts25 nachspürt und feststellt, dass das »Subjekt […] sich sage und schreibe erst während der Fahrt in Erfahrung bringt und im Durchlauf zu gliedern beginnt, […] sich […] erst in und während der Arbeit« das Gedicht »erarbeitet«.26 Andererseits setzen die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 die Frage des Kollektivs und damit auch die Frage des lyrischen Subjekts auf die Tagesordnung, wie die zahlreichen einschlägigen Notate des Tabu I zeigen: Genaugenommen ist das lyrische Subjekt, das ich zu vertreten habe, auch ein Teil der Gesellschaft, von der es sich abwendet, und sein eigener poetischer Duktus ist bereits in 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1970 (Werke, 20), S. 262. 20 Peter Rühmkorf: agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 14. 21 Peter Rühmkorf: Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 78. 22 Ebd., S. 30. 23 Peter Rühmkorf: Peter Rühmkorf … und das ich, in: ders.: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 121–147, hier S. 123. 24 Vgl. Philipp Böttcher, Peer Trilcke: »Ich war äußerlich und innerlich Pleite«. Die Neukonstituierung des Autors Peter Rühmkorf nach 1972, in: Jan Bürger, Stephan Opitz (Hg.): »Laß leuchten!« Peter Rühmkorf zwischen Aufklärung, Romantik und Volksvermögen, Göttingen 2010 (Marbacher Schriften, N. F. 7), S. 65–96. 25 Vgl. Hartmut Steinecke: »Arbeit ist des Artisten Schmuck«. Peter Rühmkorfs Porträt »Selbst III/88«, in: Durzak, Steinecke: Zwischen Freund Hein und Freund Heine, S. 296–320. 26 Peter Rühmkorf: Selbst III/88. Aus der Fassung, Zürich 1989, S. 713–731, hier S. 724.

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der Wolle gefärbt. Richtiger wäre wohl, in der Rolle gefärbt, denn es spricht uns ja nicht als Stimme aus dem Dornbusch oder vom Berge Sinai an, sondern mitten aus der Arena, in der die Tageskurse ausgegeben werden und die Börsennotierungen unentwegt über den Bildschirm flutschen. Als Zeitzeuge sprechen hieße mithin: mit angenommener Stimme sprechen und den Bruch zwischen hohem Anspruch und niedrig gezogenem Spielboden immer gleichzeitig mitanzeigen.27

Die Beschäftigung mit Walther von der Vogelweide resultierte aus der Entdeckung, dass dieser Autor als »Vater und Erfinder des deutschen Ich-Gedichts«28 geradezu dessen Prototyp war, das »Urmodell« des modernen Intellektuellen: mit dem Verlust seiner sozialen Identität setzt das zerspaltene Selbstverständnis ein gleichsam höheres frei, und aus den Trümmern einer Kleinkünstlerexistenz erhebt sich eine ganz neue, allerdings platonische Ansprüchlichkeit: das selbstgewählte Mandat, für das Reich zu singen. In dialektischer Verklammerung bedeutet die Geburtsstunde patriotischer Hochgefühle also gleichzeitig den Schlupftermin eines neuen Ich-Bewußtseins.29

Diese Neubewertung erlaubte es, Klopstocks »subjektivistische Lyrik« nicht als Ausdruck von apolitischer Innerlichkeit, sondern vielmehr als »Gesellschaftszauberei«30 zu deuten. Die Spannbreite zwischen geselliger Ausrichtung, die aber gleichwohl »dem Ich, dem Individuum, dem Subjekt zu Ausdruck und Stimme verhilft«,31 und subjektivistischer Aussprache vor dem Hintergrund eines grundsätzlich gegebenen Gesellschaftsbezugs stehen in Rühmkorfs poetologischen Reflexionen durchgängig auf der Tagesordnung, deren sehr große Vielschichtigkeit noch nicht rekonstruiert worden ist. Rühmkorf hat seine Anfänge als Lyriker rückblickend als epigonale Einübung in einen ihm fremden Ton lakonisch charakterisiert. »Begann in der Nachfolge Rilkes Gedichte zu schreiben, die ich selbst nicht mehr verstand.« Die Lösung dieses Problems: »Fand dann aber über die Parodie, d. h. über kritische Aushöhlungsverfahren wieder zu meinem Land und mir zurück.«32 Recht präzise und knapp ist damit der typische Weg von der Nachahmung zur Parodie33 27 Peter Rühmkorf: TABU I. Tagebücher 1989–1991, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 434. 28 Peter Rühmkorf: Walther von der Vogelweide. Reichssänger und Hausierer, in: ders.: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 7–78, hier S. 14. 29 Ebd., S. 22; vgl. die nahezu gleichlautende Definition von Pierre Bourdieu in: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999, S. 210. 30 Peter Rühmkorf: Friedrich Gottlieb Klopstock. Ein empfindsamer Revolutionär, in: ders.: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 79–119, hier S. 88. 31 Peter Rühmkorf: In meinen Kopf passen viele Widersprüche, in: ders.: Schachtelhalme, S. 121–127, hier S. 123. 32 Peter Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen. Werke 2, hg. von Wolfgang Rasch, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 34. 33 Vgl. Robert Neumann: Zur Ästhetik der Parodie, in: ders.: Die Parodien, Wien u. a. 1962, S. 551–563, hier S. 556.

Einleitung: Themen und Formprinzipien in Rühmkorfs Lyrik

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gefasst, wenn auch der tatsächliche Ablauf vermutlich komplizierter und langwieriger gewesen sein dürfte. Die Parodie ermöglichte die Selbstbehauptung gegenüber der Tradition, ohne radikal mit ihr zu brechen. Freilich genoss sie als Gattung keine sonderlich hohe Wertschätzung.34 Sie galt als »zweifelhafte Materie«. Wie in kaum einem anderen ästhetischen Genre lassen sich in der Parodie legetime [sic] Erbansprüche und sinistres Erbschleichertum nur schwer auseinanderhalten, und wir verstehen schon das Bedürfnis einer Eff-eff-Einzelerscheinung, sich der Verwechselung mit den Blödelmännern durch Verwandlung zu entziehen.35

Zwar war Rühmkorf, als er diese Bemerkungen über Ringelnatz formulierte, schon längst ein anerkannter und arrivierter Autor, womöglich »dabei, ein Klassiker zu werden«;36 dennoch zeigen sie, dass die Missachtung der Parodie dem frühen Selbstverständnis als Außenseiter zupass kam. Am Kindervers beobachtete Rühmkorf, dass die Parodie als Kampfmittel der Ohnmächtigen zu den elementaren Selbstbehauptungstechniken der Dichtung gehörte: Die Möglichkeit der Anteilnahme erwächst hier aus der Distanz, die der Zerrvers zu einem Grundmodell einnimmt, und wo er attentäterisch an einem Stück Lehrgut sich vergeht, da vermittelt er seinem Konsumenten nicht nur das Lustgefühl der Mittäterschaft, sondern auch noch das Hochgefühl der Mitwisserschaft. Schon auf der gewiß nicht gerade hoch zu nennenden Ebene der Schulparodie genießt der Verbraucher und Verbreiter gleichzeitig seine eigene Bildung und den Triumph des Lehrlings über den Bildungsstoff. Selbst noch im bescheidensten Rahmen einer Liedverballhornung kann sich ein Kindergartenzögling seines erlernten Wissens freuen und – seiner Freiheit, das Erlernte mutwillig wieder zu verspielen.37

Innerhalb der Nachkriegslyrik positionierte sich Rühmkorf mit seinem Beharren auf der Tradition, dem in Jahrhunderten erarbeiteten Formbestand, gegen den radikal traditionskritischen Flügel der sich formierenden Neoavantgarde, die sich konzeptionell von jeglicher handwerklichen Fertigkeit kritisch distanziert hatte. Klar trat dies zutage anhand der Stellung zum Reim, der sich seit dem bekannten Verdikt von Arno Holz – »Der erste, der – vor Jahrhunderten! – auf Sonne Wonne reimte, auf Herz Schmerz und auf Brust Lust, war ein Genie; der tausendste, vorausgesetzt, daß ihn diese Folge nicht bereits genierte, ein Kre-

34 Vgl. Theodor Verweyen, Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung, Darmstadt 1979, S. 27 ff. 35 Peter Rühmkorf: Joachim Ringelnatz, das vervielfachte Original, in: ders.: Dreizehn deutsche Dichter, S. 50–61, hier S. 56, 58. 36 Manfred Durzak: Ist Peter Rühmkorf dabei, ein Klassiker zu werden? Ein Gespräch mit Peter Rühmkorf, in: Durzak, Steinecke: Zwischen Freund Hein und Freund Heine, S. 321–364. 37 Rühmkorf: Über das Volksvermögen, S. 144.

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tin.«38 – keiner besonderen Wertschätzung mehr erfreute. »Der Reim ist […] als poetische Praxis […] aus der Mode geraten.«39 Der Verzicht auf den Reim bedeutete jedoch den Verzicht auf ein wirksames Kunstmittel, dessen Popularität unersetzbar war. »Tatsächlich durchwest der Reim, und zwar in allen seinen Formen als reicher, rührender, männlicher, weiblicher, klingender, Binnen-, End- und Stabreim unseren Konsumentenalltag weit ausgiebiger als uns gemeinhin bewußt ist«,40 so dass er für den Gesellungsaspekt der Dichtung ein vordringliches Thema war. Rühmkorfs Gedichte zeigen eine breitgefächerte reimmetrische Vielseitigkeit. In seinen poetologischen Untersuchungen spürte er den anthropologischen und gesellschaftlichen Grundlagen der magischen Wirkung des Reims nach, zeigte seine gesellschaftlichen Funktionen und Möglichkeiten, fragte, wie diese »uralt[e] Einheit von Zusammenklang und Zusammenhang, an der wir alle Anteil haben«,41 unter gegenwärtigen Bedingungen poetisch nutzbar zu machen sei, denn es »scheint die gereimte Strophe heute an eine Schallgrenze gelangt, die nur durch ein Nonplusultra an Kunst o d e r durch eine schon gar nicht mehr vorstellbare Einfalt zu transzendieren ist, eines so heikel und widersprüchlich wie das andere; n u r eben dem Reim als Ausdrucksmittel überhaupt entsagen, scheint mir in der gegebenen Klemme weniger als ein Notausgang«.42 Die Lösung aus diesem Dilemma weist Rühmkorf als zutiefst romantischen Dichter aus: Wie bei kaum einem zweiten poetischen Grundprinzip fällt beim Reim besonders sinnenfällig ins Gewicht, ob sein Liebhaber (seine Liebhaberin) jenen zweiten Weg um die Welt gefunden haben, von dem Schiller träumte und den Kleist uns am Schluß seines niemals auszulesenden »Marionettentheaters« als eine letzte Möglichkeit vor Augen gerückt: unsere tragisch verlorenen Originalbalancen durch ein lebenslanges Gleichgewichtstraining aufzuheben.43

Solche »Poesie der Poesie« (Friedrich Schlegel) führte von Beginn an zu einer poetologischen Selbstreflexion, die sich im Verlauf der Werkgeschichte zunehmend dominanter ausprägte. Am augenfälligsten tritt sie in der Neigung vor Augen, die Publikation von Gedichten durch vielfältige Beigaben zu flankieren. Erstmals geschah das bei Kunststücke, dem der Essay Abendliche Gedanken über das Schreiben von Mond-Gedichten – Eine Anleitung zum Widerspruch beigegeben war. Nach der lyrischen Pausendekade waren umgekehrt die neu ent38 Arno Holz: Das Buch der Zeit, Daphnis. Kunsttheoretische Schriften, Neuwied am Rhein u. a. 1962 (Werke, 5), S. 69 (Kunsttheoretische Schriften). 39 Peter Rühmkorf: Der Reim und seine Wirkung, Bausteine zu einer Poetologie des Alltagslebens, in: ders.: Schachtelhalme, S. 181–204, hier S. 181. 40 Rühmkorf: agar agar – zaurzaurim, S. 19. 41 Ebd., S. 17. 42 Ebd., S. 26. 43 Ebd., S. 108.

Einleitung: Themen und Formprinzipien in Rühmkorfs Lyrik

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standenen Gedichte Appendix zu den Essays von Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich. Einmalig wie wir alle enthielt gar eine Reihe von Essays, Reden und Briefen; parallel bot Selbst III/88. Aus der Fassung die kommentierte Ausgabe, »den Bildungsgang (oder meinetwegen Entwicklungsverlauf) eines einzigen Gedichtes«44 und die ausgreifendste fallgeschichtliche Dokumentation der Einfallskunde.45 Mit der Einfallskunde hatte sich Rühmkorf schon in den 1950er Jahren befasst, der programmatische Essay Einfallskunde war dem Gedichtband Haltbar bis Ende 1999 beigegeben. Er geht vom dem gegen Benns im Marburger Vortrag Probleme der Lyrik pointierten Diktum aus: Gedichte werden nämlich gar nicht – wie Gottfried Benn vielleicht noch meinen durfte – ›aus Worten gemacht‹, sondern aus Einfällen, mithin aus ziemlich komplizierten und bereits belebten Wortverbindungen, und statt mit anorganischen Fertigkeiten kriege ich es mit nervenreichen Organismen zu tun.46

Spätestens mit Selbst III/88. Aus der Fassung hatte Rühmkorf das Gedicht in der spätkapitalistischen Marktgesellschaft als »widerständiges Zeichen an sich« verstanden, als »ästhetische[n] Gegenentwurf zu dem für den schnellen Verbrauch-bis-Verschleiß hingewichsten Konsumprodukt, und als solches möchte es leuchten«.47 Am Gelingen der Tagung und bei der Erstellung des vorliegenden Bandes haben nicht nur die Vor- und Beiträger ihren Anteil. Dank geht an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, die Arno Schmidt Stiftung und die Akademie für gesprochenes Wort in Stuttgart. Bei der Fertigstellung des Manuskripts halfen Olaf Koch, Bastian Karkossa und Alexander Pähler.

44 Rühmkorf: Selbst III/88, S. 716. 45 Vgl. Rüdiger Zymner : Lyriden, Quanten, Wahrsprüche. Aphoristik und aphoristisches Verfahren bei Peter Rühmkorf, in: Wirkendes Wort 56 (2006), S. 221–235. 46 Rühmkorf: Einfallskunde, S. 166. 47 Rühmkorf: TABU I, S. 433.

Hartmut Steinecke

Rühmkorfs Selbstporträt-Gedichte. Das artistische Ich zwischen Kommerz und Politik

Befasst man sich mit literarischen Selbstporträts, so ist zunächst an Selbstverständliches zu erinnern: Ein Selbstporträt kann nicht zeigen, wie der Porträtierte ist, sondern nur, wie er sich selbst sieht oder wie er gesehen werden möchte. Nicht selten mischen sich Aspekte dieser beiden Ansätze. Sodann: Die Einsicht, dass ein Ich in einem Gedicht eine literarische Persona – ein »lyrischer Ich-Darsteller«1 – ist, gilt auch für Selbstporträts, selbst wenn darin Realitätsvokabeln aus dem Leben des Autors einmontiert sind. Schließlich: Ein Selbstporträt zeigt den Künstler als Individuum. Aber Rühmkorf verstand sich von Beginn an nicht als Privatperson, die glaubt, völlig selbstbestimmt und frei leben zu können, sondern auch als »Gesellschaftsprodukt«, das »unter dem Druck und dem Zug von sehr bestimmten sozialen Prägekräften« steht.2 Daher zeigen die Selbstporträts – unter anderem, in wechselnder Intensität – auch diese Prägekräfte: zum Beispiel Ökonomie und Politik. Am wichtigsten jedoch: Im Gegensatz zu dem Selbstporträt des Malers besteht das des Dichters aus Sprache und wird in einer bestimmten literarischen Form – bei Rühmkorf eben der des Gedichts – gegeben. Die Selbstporträts zeigen daher auch in ihrer Gestalt und ihrer Sprache, in welcher Entwicklungsphase der Schreiber sich als Dichter befindet. Das ist zwar eigentlich eine Selbstverständlichkeit, verdient jedoch bei einem so form- und sprachbewussten Dichter wie Rühmkorf besondere Aufmerksamkeit. Zahlreichen Gedichten Rühmkorfs könnte man den Charakter von Selbstporträts zusprechen, drei hat er programmatisch so benannt: Selbstporträt 1958, Selbstporträt (gedruckt 1977), sowie Mit den Jahren… Selbst III/88, in einem ersten Entwurf überschrieben Selbstporträt III (87), das durch die römische Nummerierung auf die beiden früheren Gedichte rückverweist. Zugleich wird 1 Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke 1, hg. von Bernd Rauschenbach, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 453. 2 Peter Rühmkorf: …und das Ich, in: ders.: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, Reinbek bei Hamburg 1975 (Das neue Buch, 65), S. 123.

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mit dieser Nummerierung ein frühes Selbstporträt-Gedicht ausgeschlossen, Selbstportrait Leslie Meier (1953). Bereits im ersten Buchdruck hatte Rühmkorf ihm diesen Begriff wieder entzogen und den Titel geändert in Einer der Allergeringsten. Trotzdem soll ein Blick auf dieses Gedicht geworfen werden, weil die Gründe für dessen Ausschluss Hinweise auf Rühmkorfs Verständnis des Genres Selbstporträt geben können.

I.

Selbstportrait Leslie Meier (1953)3

Der 23-jährige Peter Rühmkorf stellte Anfang 1953 fest, dass er die zusammen mit Werner Riegel kurz zuvor gegründete (hektografierte) Monatsschrift Zwischen den Kriegen – Blätter gegen die Zeit weitgehend allein bestücken musste. Um – wie er später erklärte – eine größere Mitarbeiterschaft zu suggerieren, erfand er zu einem früheren Pseudonym, Leo Doletzki, weitere »Geisterexistenzen und Teilschreibkräfte«, darunter »Leslie Meier«, zuständig »für lyrische Extravaganzen«.4 Unter diesem Namen erschien im März-Heft 1953 das blasphemisch-provokative Gedicht Messias in der Windel, im April-Heft wurden zwei weitere Gedichte von ihm veröffentlicht, darunter das Selbstportrait Leslie Meier. Dieses Selbstporträt steht also am Beginn von Leslie Meiers Karriere, es stellt den Dichter dem (noch sehr begrenzten) Publikum vor. Dabei spricht der Lyriker von sich in der dritten Person (»Leslie Meier trägt seine Haare zurückgekämmt«), nur einmal wird er gleichsam zitiert: Reiche mir einer der Herrschaften bitte den Spiegel; alle andern Gesichter langweilen mich.

So charakterisiert, so inszeniert sich der Dichter – selbstbewusst, selbstverliebt, selbstironisch (»Ironie dritten Grades«), als Einzelgänger, Außenseiter, Rebell, Anarchist, »verlaust und verliebt und verrückter Gedanken voll«, provokativ, frech, zynisch, sarkastisch. Das Gedicht umfasst fünf nicht gleichmäßig gebaute Strophen zu je vier Zeilen mit regelmäßigen Kreuzreimen. So konventionell und nicht eben künstlerisch anspruchsvoll diese Form ist, so originell, verblüffend, gewagt sind einige Reime: schiefen/Hieroglyphen, Allergeringsten/Pfingsten, Grades/fades. Ungewöhnlich, auch manieriert, sind verschiedene Metaphern: Seine Seele ist ein Star mit zerfleddertem Flügel, geblendeten Auges, sein Flöten tönt fürchterlich –: 3 Rühmkorf: Gedichte, S. 114 (daraus die Zitate); Erstdruck: Zwischen den Kriegen, H. 5, 1953. 4 Peter Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen. Werke 2, hg. von Wolfgang Rasch, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 63.

Rühmkorfs Selbstporträt-Gedichte

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In den folgenden Jahren erschien eine Reihe von Gedichten unter dem Namen Leslie Meier. In einer ersten kleinen Sammlung von Gedichten Rühmkorfs und Riegels – Heiße Lyrik (1956) – sind sieben der 14 Gedichte Rühmkorfs Leslie Meier zugeschrieben. Das Bild des Lyrikers Leslie Meier wurde ab 1956 überlagert von dem des polemischen, bissigen Literaturkritikers: Leslie Meiers Lyrikschlachthof hieß die legendäre Serie, in der bis 1958, in 16 Folgen nahezu die gesamte deutsche Nachkriegslyrik scharfzüngig und witzig, doch zugleich kenntnisreich und (meistens) treffsicher als epigonal, medioker, provinziell, konservativ, gesellschaftsfern oder als formalistisch hin »geschlachtet« wurde. Leslie Meier stand mithin in der literarischen Szene der späten 50er Jahre nicht mehr primär für den Gedichteschreiber. Zu dieser Zeit, 1958, erhielt Rühmkorf erstmals die Chance, einen eigenen Gedichtband in einem renommierten Verlag zu veröffentlichen. Daher wollte er in einem Selbstporträt sich nunmehr als Verfasser von Gedichten vorstellen, nicht als Kritiker und ›Schlächter‹ von Lyriker-Kollegen und -Konkurrenten. Das ist wohl der Grund dafür, dass Rühmkorf den Titel des früheren Gedichts änderte: Leslie Meier war eine Persona-Maske des Dichters, eine Fantasiefigur (die auch bereits 1953 eine eigene Biographie erhalten hatte),5 und diese Figur stand primär für den Kritiker, nicht für den Lyriker, der sich zudem in vielem deutlich von seinen fünf Jahre zurückliegenden Anfängen entfernt hatte – oder es zumindest glaubte.

II.

Selbstporträt 19586

Rühmkorfs erster Gedichtband Irdisches Vergnügen in g (1959) enthielt 50 Gedichte, darunter nur eine sehr kleine Auswahl der vor 1958 erschienenen. Das Selbstportrait Leslie Meier gehörte zwar zu den wenigen dieser älteren Gedichte, aber durch den neuen Titel – verbunden mit der Er-Form – wurde es als ein Gedicht über Leslie Meier gelesen. Das in diesem Band veröffentlichte erste Selbstporträt setzt die Jahreszahl 1958 demonstrativ in den Titel und signalisiert damit sowohl das historische Umfeld als auch das Alter des Verfassers: Ende seiner 20er Jahre. Das Gedicht ist in freien Rhythmen geschrieben, es umfasst vier Strophen unterschiedlicher Länge (9–13 Zeilen), auch die Zeilen variieren in der Länge sehr (1–13 Wörter); das Ganze ist angeordnet um eine Mittelachse und im Erstdruck in Fraktur gesetzt. Zwischen den Strophen steht jeweils ein kurzer aphoristisch zugespitzter Merkspruch, kursiv gesetzt. Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen, ist festzuhalten: Hier werden äußerste Gegensätze zu5 Ebd., S. 377f. Erstdruck: Zwischen den Kriegen, H. 8, 1953. 6 Rühmkorf: Gedichte, S. 112f. (daraus die Zitate).

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sammengeführt, formale Freiheit und Strenge, Länge und Kürze, Weitschweifigkeit und Prägnanz. Dieselbe Spannweite gilt für die Sprache: Sie reicht vom Pathetischen und dem hohen Ton (prächtig, wacker, sommers, bar jeden höheren Zieles) bis zum Alltagssprachlichen (schwappen, grohoß, kantapperkantapper, Maul). Eingestreut sind entlegene Fremdwörter und fremdsprachige Zitate (asthenisch, panimaju). Im Vergleich mit dem Selbstportrait Leslie Meier legt dieses zweite Selbstporträt größeren Wert auf Kunstfertigkeit in Form und Sprache. Weiterentwickelt wird die bereits früher ausgeprägte Vorliebe für originelle, unerwartete Wendungen, so nie geformte Metaphern (pfirsichfarbener Schlüpfer, gedrosselte Sonne). Auch das Bild des Einzelgängers und Außenseiters, des lonely wolf, wird aufgegriffen und zugleich verspottet (»ein asthenischer Wolf ins Orangenlicht«). Im Weiteren weicht das Porträt immer deutlicher von dem Leslie Meiers ab. Entworfen werden Bilder des desillusionierten Ichs (»dem Boden gründlich mißtrauend, von dem er sich geschaffen wähnt . . .«), ferner des Anti-Idealisten (»bar jeden höheren Zieles«), schließlich: des Nihilisten (»er kaut noch immer das überkommene Nichts«). Wir sehen das Dichter-Ich aus solchen Höhen seiner philosophischen Selbstbilder herabsteigend am Frühstückstisch. Das Paradoxe seines Verhaltens zeigt sich an der paradoxen Bezeichnung »rrrrradikal unentschlossen[]«, das der Zeitung erteilt wird, die er liest, mit der Rechten dabei, alliterierend »plausiblen Porridge löffelnd«, die Linke mitunter zur Thälmannfaust – nein, nicht ballend, sondern »knüll[end]«. Ein Ästhet mit politischer Kämpfergeste. Das Substantiv, das die Ich-Figur für sich gebraucht, lautet »Feingeist« – ein Neologismus zwar, anklingend an Freigeist, also den Nicht-Orthodoxen, den Ketzer, aber den Akzent verschiebend auf das Subtile, Grazile, Ästhetische – das in seiner Gewähltheit sogleich konterkariert wird durch das MaterialistischGrobe: »auch der Feingeist muß fressen« – so der spruchhaft-aphoristische Kommentar, der mit der biedermeierlichen Frühstücksidylle kontrastiert. Eingeleitet wird diese harsche Feststellung mit dem Satz: »Zu wahr, um schön zu sein« – eine kabarettistische Umkehrung einer bekannten Redewendung, die bereits die klassische Idee einer Identität von Wahrheit und Schönheit verabschiedete. Und mag man sich bei der einen Zeile an Brechts Wort zum Verhältnis von Fressen und Moral erinnert fühlen, so bei dieser an Heines resigniertkämpferische Lebensbilanz: »Stets wird die Wahrheit hadern mit dem Schönen«.7 Der Feingeist, der Lyriker, der »Angorawolken im Kopf« züchtet, lebt in einer Welt der ökonomischen, materiellen, politischen Zwänge, die er nicht 7 Heinrich Heine: An die Mouche (Lyrischer Nachlass nach 1844), in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1992 (Düsseldorfer Ausgabe), Bd. 3/1, S. 396 (im Folgenden mit DHA abgekürzt).

Rühmkorfs Selbstporträt-Gedichte

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negieren kann – nein: nicht negieren darf. Auch der Anarchist und Individualist muss diese Aspekte in sein Werk hineinnehmen. Der zweite Zwischentext fasst diese Situation und ihr zentrales poetisches Stilmittel prägnant zusammen: Das Hohelied des Ungehorsams – gebellt oder verkündet –

Das Hohelied verweist auf das poetischste Buch der Bibel, aber dessen zentrale Botschaft ist hier die der Nichtanpassung, des Widerstands. Und die Art des Sprechens umspannt, chiastisch zugeordnet, das Profane und das Heilige: gebellt oder verkündet. Das Selbstporträt demonstriert, wie das ›oder‹ in ein ›zugleich‹ verwandelt werden kann. Der Einschub wird abgeschlossen mit den Zeilen aber von keinem bisher so prägnant als von ihm.

Wie bei so vielen der pathetischen, feierlichen, übertriebenen Wendungen ist auch hier natürlich Ironie mitzudenken, im Selbstporträt die Selbstironie. Aber bei allen Wendungen und Gesten, sich selbst klein zu stellen, zu verspotten, steht doch ein durchaus selbstbewusster und ernst zu nehmender Anspruch dahinter : Der hier spricht und schreibt, beansprucht für sich, diesen Ton in die Lyrik zwar nicht eingeführt, aber doch in einer im wörtlichen Sinne bisher ungehörten, unerhörten Weise perfektioniert zu haben. Diejenigen, mit denen sich der Dichter hier misst, sind nicht die Zeitgenossen der 50er Jahre, die er in Leslie Meiers Lyrikschlachthof dahingemetzelt hatte. Es sind vielmehr die beiden großen Vorbilder seines bisherigen Schreibens, Gottfried Benn für Fragen der Form, der Wortkunst, der Artistik, und Bert Brecht für das politische Engagement, die Gebrauchslyrik – beider Vorzüge zu verbinden, beider Einseitigkeiten zu vermeiden war das oft ausgedrückte Ziel des jungen und auch noch des späteren Rühmkorf.8 Auf beide Autoren wird in diesem Text sehr verdeckt angespielt. Und ebenso auf den Dichter, der 100 Jahre zuvor versuchte, Wahrheit und Schönheit zu verbinden, politisches Engagement, ökonomische Notwendigkeiten und artistische Darstellung zusammenzubringen: Heinrich Heine. Wenn der Selbstporträtist von sich schreibt: »durch Schaden schlau geworden«, so ist das auch ein intertextueller Querverweis auf sein im gleichen Band abgedrucktes Heinrich-Heine-Gedenk-Lied.9 Mit den intertextuellen Verweisen deutet der junge Rühmkorf an, in welcher literarischen Liga er sich situieren möchte. Deutlich wird: Ein Selbstporträt ist 8 Peter Rühmkorf: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, hg. von Hartmut Steinecke, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 388f. (Nachwort). 9 Rühmkorf: Gedichte, S. 156.

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auch immer ein Zeichen von Eitelkeit. Es zu schreiben kann wie das Tagebuch oder die Autobiographie der Selbsterforschung dienen, es zu veröffentlichen und aus seinen Ansprüchen keinerlei Hehl zu machen zeigt, dass der Verfasser die Befindlichkeiten und Entwicklungsstufen seines Ichs für so wichtig hält, dass er sie der Öffentlichkeit mitteilen möchte. Heine hat sein selbstbezogenes, subjektivistisches Schreiben damit erklärt, dass das Herz des Dichters den Mittelpunkt der Welt darstelle und sich daher deren Zerrissenheit in ihm selbst spiegle.10 Rühmkorf hat diesen Satz zwar nicht zitiert, aber er hat ihm gut gefallen. Zusammengefasst: ein hoch stilisiertes Porträt, das sehr deutlich macht, wie der junge Dichter gesehen werden will – als Meister des Heterogenen, einer Kontrastästhetik, der die Gegensätze zusammenzwingt, als Meister der Tönevielfalt, als »januszüngig«. Dieses schöne Adjektiv stammt aus dem Klappentext des Bandes, der eben dieses Bild in Prosa fasst, man könnte auch sagen: geradezu hymnisch feiert.11 Rühmkorf schrieb an den Klappentexten teilweise mit, das ungenierte Selbstlob gehört zu seinen Instrumenten der Rezeptionslenkung – und wird damit selbst Teil des Selbstporträts, das mit diesen Wendungen charakterisiert wird.

III.

Selbstporträt [1977]12

Zwischen dem ersten und dem zweiten Selbstporträt Rühmkorfs liegen fast 20 Jahre. Die Erklärung dafür könnte sein: Rühmkorf hatte seit 1961 keinen Gedichtband mehr veröffentlicht, seit 1964 einige Zeit lang keine Gedichte mehr geschrieben. Die allgemeine Politisierung war seiner Art von Lyrik eher feindlich. Das verstärkte Interesse an Politik und Ökonomie prägte auch sein Schreiben, aber in erster Linie in anderen Gattungen, vor allem dem Drama. Dazu kamen auch konkrete ökonomische Gründe: Mit Lyrik war kein Geld zu verdienen. In dem autobiographischen Werk Die Jahre die Ihr kennt (1972), das man auch ein Selbstporträt in Prosa nennen könnte, formulierte Rühmkorf diesen Zusammenhang von lyrischem Verstummen, politischer Enttäuschung und ökonomischer Nutzlosigkeit:

10 DHA Bd. 7/1, S. 95f. (Die Bäder von Lukka). 11 Rühmkorf: Gedichte, S. 491f. (Kommentar). 12 Ebd., S. 295f. (daraus die Zitate).

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Lyrik […] ein Luxus, den ich auf längere Sicht wirtschaftlich gar nicht durchhalten kann. […] Wenn diese Gesellschaft sich keine Gedichte leisten kann – den Anspruch, ne Kulturnation zu sein, werd ich aus eigener Tasche bestreiten?! Gar nichts werd ich.13

Drei Jahre später erschien diese Absage an das Gedichtschreiben abermals mit wenigen (freilich bezeichnenden) Abweichungen (der Begriff »wirtschaftlich« wird gestrichen, das erste »ich« durch »man«, »sein« durch »bleiben« ersetzt), nun aber rhythmisiert, der zentrale Mittelsatz auf acht Zeilen verteilt, durch Sperrungen und durch vier rhetorische Fragezeichen strukturiert. Unter dem Titel Druse eröffnete der Text die Abteilung 21 Gedichte in dem Sammelband Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich (1975).14 Kurz nach dieser vorsichtigen Wiederannäherung an die Lyrik veröffentlichte Rühmkorf sein zweites Selbstporträt; er setzte es programmatisch als Eröffnungstext des ersten neuen Gedichtbandes nach 17 Jahren, Haltbar bis Ende 1999 (1979). Dieses Selbstporträt von 1977 thematisiert das lange Schweigen in Form einer Erklärung des gealterten Dichters (»Onkelchen«) gegenüber seinen jüngeren Zuhörern und Lesern. Er nennt vor allem politische und ökonomische Gründe: Zusammenbruch von Zukunftsvisionen, von revolutionären Ideen. Mit Zorn und Wehmut konstatiert die Ich-Figur, dass die Kluft zwischen der theoretisierenden Linken und der Arbeiterklasse riesengroß geworden ist, weil in beiden deutschen Staaten und politischen Systemen die Arbeiter und ihre Organisationen ganz andere Prioritäten haben. Die letzte der fünf gleich gebauten Strophen zieht ein resignatives Fazit: Wer links kein Land mehr sieht, für den rast die Erde bald wie ein abgeriebener Pneu auf die ewigen Müllgründe zu –

Diese pathetische apokalyptische Vision wird allerdings sogleich als etwas kindische Geste verspottet: »Düdelüdüt, nu lauf doch nicht gleich j zur Mama mit deinen Verwüstungen.« Die Schlusszeilen wandeln den Pessimismus über den Galgenhumor ins Groteske. Die verbliebenen Alternativen werden in Wortungetümen karikiert: »noch ‘n Tusch für das Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz!«, d. h. für eine pragmatisch gewordene Arbeitervertretung oder sozialdemokratische Partei ist eine Reform der Sozialgesetzgebung an die Stelle jeder revolutionären Idee getreten. Dieses real existierende bürokratische Wortmonster kann der ehemals Wortneuschöpfungen, Neologismen im Dutzend kreierende Wortartist nur durch ein absurdes Konglomerat von Begriffen übertrumpfen; die Flucht in den Nonsens steht am Ende: »Konstantinopolitanischerdudelsackspfeifenmachergesellenrisikozulage!« 13 Rühmkorf: Die Jahre, S. 360. 14 Rühmkorf: Gedichte, S. 255–257.

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Das ist zweifellos das politischste Selbstporträt Rühmkorfs, aber zugleich das pessimistischste und melancholischste. Es zeigt politische Verzweiflung und poetische Erschöpfung. Allerdings ist auch dieses Bild hochstilisiert: Trotz der angedeuteten biographischen Hintergründe handelt es sich – so meine Überzeugung – um ein komponiertes Bild des Galgenhumors. Denn Rühmkorf hat seine Gedichtbände bekanntlich nicht einfach nur chronologisch oder thematisch geordnet, sondern komponiert. Das Selbstporträt der Verzweiflung und Erschöpfung steht am Beginn des Bandes, aber bereits dessen Titel Haltbar bis Ende 1999 und ebenso auch der Titel der ersten Gedichtgruppe: Von mir – zu euch – für uns macht deutlich, dass dieser Tiefpunkt nicht das Ende darstellt, sondern einen Ausgangspunkt; und es deutet an, in welche Richtung die politische Hoffnung gehen sollte und könnte. Das bekräftigen Überschriften der weiteren Gedichte dieser Gruppe, endend mit Komm raus! (»aus deiner EberEinzelbucht«), Allein ist nicht genug, Bleib erschütterbar und widersteh. Es sind durchweg Aufforderungen zur Solidarisierung und zum Widerstand gegen das Gegebene. Die Appelle sind eingängig, werden wiederholt, im letzten Gedicht gesteigert zum Refrain. Viele dieser Gedichte zeigen auch gegen das poetisch etwas Uninspirierte und Mäandernde des Selbstporträts neue artistische Experimente und Hochleistungen. Und eine Reihe dieser politisch zuversichtlichen und artistisch gewandten Gedichte entstand bereits vor dem Selbstporträt, dessen kompositorische Funktion damit besonders deutlich wird. In den weiteren Gedichtgruppen werden gegen Resignation und Stillstand des Beginns der Optimismus des Trotzdem und die Dynamik der Bewegung, der Reise gesetzt: Im Fahrtwind, Express, und schließlich Phönix voran!, dem Gedicht, dem unser Symposion seinen Titel verdankt: Was dann nachher so schön fliegt…

IV.

Mit den Jahren… Selbst III/8815

Diese Thematik – das Reisen – prägt konkret wie als Lebensmetapher das letzte Selbstporträt Rühmkorfs, Mit den Jahren… Selbst III/88. Das reisende Ich stellt sich selbst als gealterten Dichter vor. Das Alter wird teils etwas kokett, teils melancholisch angesprochen: die nachlassende erotische Anziehungskraft, die Erinnerung an verflossene Geliebte an verschiedenen Reisestationen. Die dichterischen Kräfte haben allerdings nicht nachgelassen. Von alkoholischen Erfrischungen befeuert zeigt der gealterte Artist, was er noch immer, und besser 15 Ebd., S. 448–455 (daraus die folgenden Zitate). Zur Interpretation des Gedichts siehe ausführlicher Hartmut Steinecke: »Arbeit ist des Artisten Schmuck«. Peter Rühmkorfs Porträt »Selbst III/88«, in: Manfred Durzak, Hartmut Steinecke (Hg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 296–320.

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denn je, kann: Er jongliert virtuos mit Vokalen, Alliterationen, Klängen. Diese Technik konzentriert sich mehr und mehr auf Ortsnamen. Sind es zunächst Städte, die Reiserouten skizzieren, mit bestimmten Erlebnissen in Zusammenhang stehen, so lösen sich die Namen bald von biografischen Kontexten, treten zu Dreiklängen und Zahlenreihen zusammen, münden in einer Orgie von Namen mit erotischen und sexuellen Bezügen: Die deutsche Ortskunde wird zu einer übersprudelnden Quelle des »Volksvermögens«. Das auf Sexau gereimte achtfache, durch Postleitzahlen differenzierte »Au« erreicht höchste Höhen absurd-genialer Unsinnspoesie. Zu Recht begleitet fortan Musik den Schlussakt, das Virtuosentum des Artisten steigert sich zur Solonummer der einsilbigen deutschen Orte von A bis Z. (Das Manuskript16 zeigt: Längst nicht alle Orte waren dafür brauchbar, auch das Alphabet musste gelegentlich etwas manipuliert werden.) Der Triumph des Artisten bildet allerdings nicht das Ende des Gedichts. Das im rauschhaften Akt überspielte Alter meldet sich noch einmal. Die Schlusspassage setzt dem poetischen Taumel einen sprachlichen Kontrapunkt entgegen. Zitiert wird eine Radiomeldung einer Vermisstenanzeige. Ein Übergangsreisender namens Leo Doletzki, 59 Jahre alt, werde seit dem 24. Oktober vermisst. Leo Doletzki ist, wie oben erwähnt, ein Pseudonym Rühmkorfs aus der Zeit von Zwischen den Kriegen, also eine der Persona-Masken des Dichters, das genannte Datum ist der Tag vor Rühmkorfs Geburtstag – die reisende Ich-Figur steht mithin an einem Übergang des Lebens; Rühmkorf selbst bekräftigt: Dies habe mit »Verwandlung« und »Wiederauferstehung« zu tun.17 Trotz dieses Schlussakkords zwischen Untergang, Übergang und Metamorphose wird das Selbstporträt vom Bild des Dichters als Artisten dominiert. Das heißt allerdings nicht, dass die früher so wichtigen Stichwörter Politik und Wirtschaft völlig verschwunden wären, aber die Spuren sind wesentlich verdeckter geworden. Zum Politischen weist ein Begriff aus der Schlusspassage die Richtung: Der vermisste Übergangsreisende wird hier »orientierungslos« genannt. Damit wird ein Begriff variiert, der im Gedicht bereits vorher angeklungen war, wie so oft in einem Naturbild. Die Sonnenblumen, die das Ich auf seiner Reise sieht und (im Manuskript) als »morgenländische Schönheiten« anspricht, starren »blicklos« nach »Osten«. Aus dem Orient kommt nicht mehr das Licht, es ist verdunkelt, der Blick erblindet, das Heil ausgeblieben. Diese verschlüsselte politische Botschaft erklärt auch die sonst etwas erratisch wirkende Passage aus dem Anfangsteil des Gedichts über den britischen Bergarbeiterstreik (von 1984): »D i e He l d e n m ü s s e n z u K re u z e k r i e c h e n «. Auch 16 Zu dieser Dokumentation Peter Rühmkorf: Selbst III/88. Aus der Fassung, Zürich 1989. 17 Peter Rühmkorf: Brief an Hartmut Steinecke, in: ders.: Einmalig wie wir alle, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 137–142, hier S. 142.

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aus dem Westen kommt keine Erleuchtung, keine ermunternde Botschaft. Daher bleibt dem reisenden Ich, wenn es nicht resignieren will, nur eine Richtung: »nach vorne durch«. Im Manuskript liegt an dieser Stelle ein Faltblatt des »Intercity Heinrich Heine« (Hamburg-Frankfurt) bei. (Im Buchdruck sind davon nur zwei Seiten geblieben.) Dieses Realitätspartikel schien Rühmkorf ein zu plumper Hinweis auf einen der zentralen Traditionsbezüge seiner Selbstporträts. Er tauschte ihn gegen den nicht existierenden Intercity-Namen Max Stirner aus, eine Wahl, die sich erst auf Umwegen erschließt. Der radikale Individualist (Verfasser von Der Einzige und sein Eigentum) wurde von Marx und Engels in der Deutschen Ideologie als »Sancho« verspottet. Heine, auch in diesem Punkt ein Vorbild Rühmkorfs, bekannte sich gerne zu dieser anarchischen Narrenfigur. Dieser intertextbeladene Intercity, der die lyrische Person in Bewegung setzt und hält, rast »durch die halbe Republik«. Da alle später genannten Orte zwischen Bayern und Schleswig-Holstein liegen, ist damit nur die westliche Teilrepublik Deutschlands gemeint, die »Republik«, die den Namen der beiden deutschen Staaten ja selbst noch in ihren Abkürzungen gemeinsam war. Der »lyrische Ich-Darsteller« verkündet, bevor er zu seinem großen Ortsnamensolo anhebt, »eine vollkommen neue Republik«. Es ist eine Republik, in der die Städte und Dörfer rhythmisiert werden, sich in Poesie verwandeln, es ist die Republik der Poesie, der Kunst. Der poetische Hochseilakt erweist sich auch als eine politische Fantasie. Ist der politische Faden für den genauen Leser noch erkennbar, so scheint die Ökonomie in diesem Porträt keinen Platz mehr zu haben. Das ist richtig, wenn man den Blick auf die großen Fragen der kapitalistischen Auswüchse, auf das Thematische richtet. In verschiedenen Beiträgen hat Rühmkorf seit den 50er Jahren die für ihn als Lyriker existenzielle Frage Lyrik und Markt angesprochen – das zurückgehende Interesse der Gesellschaft an Gedichten, die miserable Bezahlung, die private Notlösung, den defizitären Lyriker durch das wenn auch niedrige Einkommen des Journalisten und Essayisten zu subventionieren, schließlich die verärgert-resignative Reaktion in dem zitierten Tagebucheintrag von 1972 mit der Absage an das Schreiben von Gedichten aus ökonomischen Gründen. Bis dahin hatte Rühmkorf nur darüber geklagt, dass hinter jedem publizierten Gedicht viele Stunden Arbeit und viele Blätter Entwürfe stünden. In der Rede Lyrik auf dem Markt (1966) nannte er sogar Zahlen: Der »Fertigungsaufwand« für ein Gedicht bis zur Druckreife betrage ca. 180 Arbeitsstunden — 5,50 DM, mithin etwa 1000 Mark.18 Später erinnerte Rühmkorf gelegentlich taktvoll18 Peter Rühmkorf: Strömungslehre I. Poesie, Reinbek bei Hamburg 1978 (Das neue Buch, 107), S. 188.

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poetisch an diesen Sachverhalt: Das Titelzitat unserer Tagung »Was dann nachher so schön fliegt . . .« geht noch weiter : »wie lange ist darauf rumgebrütet worden«.19 1987 ließ Rühmkorf der Anklage und der poetischen Verbrämung die Anschauung folgen: theoretisch-essayistisch unter dem Titel Über die Arbeit und konkret durch die Publikation einiger Notizblätter und Vorfassungen zu dem Gedicht Liegestuhl, mein langgestrecktes Leben.20 Diesem kleinen Versuchsballon ließ Rühmkorf 1989 den monumentalen Dokumentationsband Selbst III/88. Aus der Fassung folgen, 674 kopierte Manuskriptblätter zur Entstehung dieses Gedichts.21 Dieses Werk führt im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen, wieviel ›Arbeit‹ der Autor in das Gedicht investiert hat. Darüber hinaus lässt sich in einer einmaligen – hier ist das Adjektiv wirklich am Platze – Weise der Entstehungsprozess verfolgen, konkret: wie aus Arbeit Artistik und Kunst wird. Ich bin diesem Prozess in einem früheren Beitrag22 in zahlreichen Beispielen nachgegangen und belasse es daher bei diesem Hinweis. Ich ergänze einen weiteren Aspekt. Hermann Broch hat in seiner eindringlichen Interpretation des Joyce’schen Ulysses darauf hingewiesen, dass »vom Autor gesehen, jedes Darstellungsproblem ein technisches sein muß und das Verständnis eines jeden Werkes aus seiner technischen Genese am leichtesten zugänglich ist«.23 So gehört ganz wesentlich zu dem Porträt, das Rühmkorf von sich selbst gibt: Er schafft ein sehr komplexes, mithin nicht eben leicht zu verstehendes Kunstwerk, aber er gibt Verständnishilfen durch die Dokumentation des Entstehungsprozesses, und er verschmäht auch die Rezeptionslenkung keineswegs, wenn er in Interviews und Briefen24 seine Sicht in griffigen und zum Zitieren einladenden Formulierungen darlegt. Selbst III/88: ein komplexes Gebilde, dessen Bedeutungsfülle auch nach einem Vierteljahrhundert von literaturwissenschaftlichen Interpreten nicht ausgeschöpft ist. Selbst III/88 aber auch: ein Gedicht, dessen wesentliche Elemente beim ersten Lesen, ja sogar beim ersten Hören erfasst und verstanden werden können. Das belegen die vielfach bezeugten Reaktionen auf Rühmkorfs Vortrag des Gedichtes, das er zwar nicht auf dem »Dorftanzboden« in Oberbimbach zu Gehör brachte, aber auf zahlreichen anderen Bühnen an vielen Orten – und das nicht nur in der halben westlichen Republik, sondern auch in der halben östlichen, der DDR, bei einer Vortragstour im September 1989 (sechs Wochen vor Rühmkorf: Gedichte, S. 346. Peter Rühmkorf: Über die Arbeit, in: Akzente 34 (1987), S. 22–38. Rühmkorf: Selbst III/88. Aus der Fassung. Steinecke: »Arbeit ist des Artisten Schmuck«. Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart, in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1975, Bd. 9/1, S. 74. 24 Rühmkorf: Brief an Hartmut Steinecke.

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Hartmut Steinecke

dem Mauerfall). Der »Reisedichter«, der Artist, zwar gealtert, aber als Vortragskünstler noch immer erfolgreich, beklatscht, auch von Menschen, die keine Lyrik lesen (also der großen Masse), in diesem Sinne ›populär‹ – dieses Wunschbild des Selbstporträtisten wurde, zu seiner eigenen Verwunderung, Realität. Rühmkorf, der so oft über mangelnden Erfolg klagte, notierte beglückt in sein Tagebuch: »kaum zu fassen, daß mir auf meine alten Tage noch solch ein populistischer Reiserenner gelungen ist«.25 Rühmkorf hat in Selbst III/88 das ihm Mögliche zu einem Höhepunkt geführt. Klugerweise hat er darauf verzichtet, ein weiteres Selbstporträt zu schreiben, auch wenn seine beiden letzten Gedichtbände jeweils eine Abteilung enthalten, die einen Schwerpunkt bei dem eigenen Selbst setzt: Dichterleben (in Wenn – aber dann, 1999) und Rückblickend mein eigenes Leben (in Paradiesvogelschiß, 2008). Das vorletzte Gedicht dieses Bandes fasst diese Mosaiksteine zu einem letzten – allerdings nicht mehr so benannten – Selbstporträt des Dichters ironisch zusammen.26 Es beginnt: Als ich endlich war, was ich früher einmal hatte werden wollen, wohl gelitten, gern gelesen, waren meine besten Zeiten offenbar schon gewesen.

Dieses zunächst etwas altersresignativ anmutende Selbstbild wird im Weiteren doppelt widerlegt. Zum einen inhaltlich. Das Ich lässt sich fragen: »Sag, wie hältst du’s mit der Gegenwart?!« Zum anderen formal. Die Antwort – nicht des Dichters, sondern des Gedichts selbst – wird mit dessen ureigensten Mitteln gegeben: mit Alliterationen, Binnen- und Endreimen, die nichts von ihrer früheren Strahlkraft, ihrem Überraschungspotential, ihrem Witz, ihrer Artistik eingebüßt haben.27 Ach, spricht das Gedicht, und schaut sich um: So was kommt uns rein gedanklich-philosophisch im Moment doch etwas ungelegen, wohingegen wir uns gerade versgebunden, also strophisch auf das transversale Glanzfinale zubewegen. Bloß, das interessiert kein en passantes Publikum. 25 Peter Rühmkorf: TABU I. Tagebücher 1989–1991, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 79. 26 Peter Rühmkorf: Fortes Fortuna adjuvat, in: ders.: Paradiesvogelschiß. Gedichte, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2008, S. 138f. 27 Dass Rühmkorf wie zeit seines Lebens auch noch unmittelbar vor seinem Tod an seinen Texten feilte, zeigen die Differenzen zwischen Zeilen dieses Gedichts im Klappentext und im Band selbst. Vgl. ebd. S. 138, Z. 19–23.

Rühmkorfs Selbstporträt-Gedichte

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Sagt’s, und hofft schon wieder auf Fortunas Segen –

Rühmkorfs Selbstporträt-Gedichte entstehen an wichtigen Stationen seines Lebens und seiner Entwicklungen. Gegen Ende eines Lebensjahrzehnts verbinden sie die Momentaufnahme mit einer Bilanz als Dichter und als Zeitgenosse in einer kapitalistischen Welt. Dabei verschiebt sich der Fokus im Laufe der Zeit hin zum kritischen, auch selbstkritischen Rundblick. Das zeigt sich nicht nur in den Themen, sondern auch und in erster Linie in der Art ihrer künstlerischen Behandlung. Das letzte Porträt demonstriert besonders eindrucksvoll, selbstbewusst und selbstironisch zum Beispiel die Artistik, die als zentrale Eigenart des Dichter-Artisten-Ichs benannt wird. Selbst III/88 gehört sicher zu den Gedichten, an denen Rühmkorf nicht nur am längsten, sondern auch am sorgfältigsten gearbeitet und gefeilt hat. Zwar halten wir Literaturwissenschaftler uns bei Wertungen meistens zurück, aber bei einer Tagung wie dieser diskutieren wir, ob wir wollen oder nicht, auch die Frage: Was bleibt von Rühmkorf ? Oder genauer : Was könnte, was sollte von diesem Werk bleiben? Selbst III/88 kommt nicht nur im Werk Rühmkorfs ein herausragender Rang zu, sondern auch in einer weltliterarischen Anthologie lyrischer Selbstporträts.

Lydia Christine Michel

Tradition und ›Marktlage‹. Rühmkorfs Selbstinszenierung als Dichter

Es gibt kaum ein Gedicht Rühmkorfs, welches nicht Fragen der Dichtung, ihrer Geschichte, Wirkung oder Produktion reflektiert. Diese Konstante durchzieht auch Rühmkorfs Essays, die den gesamten Arbeitsalltag eines Schriftstellers samt all seiner Begleitumstände thematisieren – von der künstlerischen Wahrnehmung der Welt und ihrer literarischen Anverwandlung bis hin zu Fragen der Rezeption des Werkes, seiner Präsentation in der Öffentlichkeit und der damit zusammenhängenden Selbstvermarktung. So spricht aus jedem seiner Texte die Stimme des Schriftstellers Rühmkorf – und zwar nicht in bloßer autobiographischer Selbstbetrachtung, sondern vielmehr immer in Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Dichterberufs, dessen Rolle in der Gesellschaft und Status im Lauf der Literaturgeschichte. Wer sich mit dem Werk Peter Rühmkorfs auseinandersetzt, kann sich dem Phänomen der dichterischen Selbstinszenierung nicht entziehen. Sie ist derart facettenreich, dass sie sich unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten untersuchen ließe. Im Folgenden wird neben dem Bild, das der Autor innerhalb der Texte von sich entwirft, auch seine Selbstinszenierung im öffentlichen Auftreten behandelt.1 Dabei konzentriere ich mich auf zwei Aspekte, die literarische Tradition und die ›Marktlage‹ der Lyrik. Diese scheinbar so disparaten Bezugspunkte nutzt Rühmkorf zu einer Selbstverortung in zweifacher Hinsicht. Erstens reiht er sich über Anspielungen auf die Literaturgeschichte in eine lyrische Traditionslinie ein. Diese Form der Intertextualität zeigt sich unter anderem in wörtlichen und stilistischen Zitaten kanonisierter Schriftsteller und Ausdrucksweisen vergangener Epochen sowie im Gebrauch traditionsreicher Topoi 1 Hierzu wird als Ergänzung zu Gedichten und Essays auch peri- und epitextuelles Material, beispielsweise in Form von Selbstinterpretationen, Interviews und Dokumenten aus dem Nachlass ausgewertet. Für die Einsicht in den Nachlass danke ich den im Deutschen Literaturarchiv Marbach für die Erschließung zuständigen Mitarbeitern Christoph Hilse und Silke Becker sowie den Nachlassverwaltern Stephan Opitz und Joachim Kersten. Ihnen sowie Rühmkorfs langjährigem Archivar Helmuth Schenkel gilt auch mein Dank für zahlreiche den Nachlass betreffende Auskünfte.

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und Metaphern. Zweitens positioniert er sich innerhalb des literarischen Feldes,2 in welchem es sowohl um symbolisches Kapital wie Anerkennung, etwa in Form von Aufmerksamkeit der Leser nebst Berufslesern, als auch um die Sicherung des finanziellen Auskommens geht, oder – in Rühmkorfs Worten – um die ›Marktlage‹ des eigenen Werkes. Ich möchte verdeutlichen, wie eng die beiden Formen der Selbstverortung bei Rühmkorf miteinander verwoben sind. Zugleich werde ich der Frage nachgehen, inwiefern er den Bezug zur Tradition im Hinblick auf Fragen der Selbstvermarktung funktionalisiert. Im Folgenden werden also nur jene Aspekte von Tradition betrachtet, die in Rühmkorfs Selbstinszenierung in Kombination mit Fragen der ›Marktlage‹ auftreten.3 Den Begriff ›Marktlage‹ gebraucht Rühmkorf das erste Mal 1963 in einem Beitrag in der Zeitung Die Welt unter dem Titel Alle Welt hat etwas gegen Lyrik.4 Im darauf folgenden Jahr erscheint der Aufsatz als Erkenne die Marktlage!5 Der Titel spielt auf folgende Maximen aus Gottfried Benns Der Ptolemäer an: »1.) Erkenne die Lage. 2.) Rechne mit deinen Defekten […]«.6 Mit der Frage nach der ›Marktlage‹ von Lyrik bezieht sich Rühmkorf nicht nur auf den finanziellen Aspekt von Lyrikpublikationen, sondern auch darauf, dass die Gründe für ihre geringe Popularität teilweise der Gattung inhärent sind: »Lyrik […] hat auf dem freien Markt kein Aufkommen […], weil sie sich bereits von ihrem Wesen her dem schnellen wie dem Breitenkonsum verweigert.«7 Um überhaupt ins öffentliche Bewusstsein zu gelangen, bedarf Lyrik daher laut Rühmkorf, mehr noch als andere literarische Gattungen, einer Art werberischer Vermittlung. 2 Zum Begriff des literarischen Feldes siehe Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999. 3 Zu Rühmkorfs »Aneignung der literarischen Tradition« im Allgemeinen siehe Hartmut Steinecke: Peter Rühmkorf, in: ders. (Hg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts, Berlin 1994, S. 773–784, hier S. 778; vgl. Claudia Stockinger: Zur Literaturgeschichte Peter Rühmkorfs, in: Jan Bürger, Stephan Opitz (Hg.): »Lass leuchten!« Peter Rühmkorf zwischen Aufklärung, Romantik und Volksvermögen, Göttingen 2010 (Marbacher Schriften, N. F. 7), S. 151–173. 4 Peter Rühmkorf: Alle Welt hat etwas gegen Lyrik. Warum? Wer? Wieso?, in: Die Welt 30. 11. 1963, Nr. 279. 5 Peter Rühmkorf: Erkenne die Marktlage!, in: ders.: Strömungslehre I. Poesie, Reinbek bei Hamburg 1978 (Das neue Buch, 107), S. 181–185. (Rühmkorf hielt bereits im Januar 1964 einen Vortrag unter diesem Titel auf dem Kolloquium der Kritiker in Berlin; er wurde erstmals abgedruckt in: Sprache im technischen Zeitalter 9–10 [1964], S. 781–784 [Sonderheft: Maßstäbe und Möglichkeiten der Kritik]). 6 Gottfried Benn: Der Ptolemäer. Berliner Novelle (1947), in: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Schuster, Bd. 5, Stuttgart 1989 (Stuttgarter Ausgabe), S. 8–55, hier S. 32. Rühmkorf schreibt das Zitat fälschlich Benns Roman des Phänotyp zu, siehe Rühmkorf: Erkenne die Marktlage!, S. 181. 7 Ebd., S. 182. Rühmkorfs Sichtweise entspricht Pierre Bourdieus später formulierter Hierarchie der Gattungen, in welcher die Lyrik unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nach dem Theater und dem Roman an unterster Stelle eingeordnet, gleichzeitig deshalb aber auch als besonders prestigeträchtig eingestuft wird; siehe Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 188.

Tradition und ›Marktlage‹. Rühmkorfs Selbstinszenierung als Dichter

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Diese Aufgabe weist er dem Buchhandel und der Literaturkritik zu, die als Mittler zwischen Angebot und Nachfrage den Kunden auf die Lyrik aufmerksam machen sollten. Da dies allerdings kaum geschehe, müsse der Autor seine Vermarktung selbst in die Hand nehmen.8 Der Begriff Markt impliziert bei Rühmkorf immer auch den Wettstreit um Aufmerksamkeit.9 Seine früheste literarische Auseinandersetzung mit der eigenen ökonomischen Situation ist das 1948 verfasste Gedicht mit dem Anfangsvers Kommt gebt mir was zu fressen!10 Bei der über zwei Jahrzehnte späteren Veröffentlichung in den Memoiren Die Jahre die Ihr kennt11 trägt es den Titel Annonce. Dieser Begriff unterstreicht die Engführung des Motivs des hungerleidenden Künstlers mit der marktwirtschaftlichen Denkweise des Verses »Ich gebe Aktien aus auf meine Lyrik«.12 Die Stilisierung zum mittellosen Poeten findet sich in abgewandelter Form auch in der metaphorischen Verwendung fahrender Künstler. Mit diesen am Rand der Gesellschaft angesiedelten Vagantenfiguren ist – neben dem Bezug auf die eigene Herkunft als unehelicher Sohn eines reisenden Puppenspielers13 – eine Anspielung auf den sozialen Status des Dichters verbunden. Hier wird deutlich, wie eng Rühmkorf diese Thematik an traditionsreiche Motive und Metaphern bindet. Besonders in seiner Lyrik der 1950er Jahre weist das lyrische Subjekt, etwa als »Luft- und Feuerbarde« im Zeitvertu-Lied,14 Attribute eines Vaganten auf. Im Gedicht Was seine Freunde sagen sind es »Durchgetretene Füße und ausgeleierte Schuh«.15 Auch der Appell »Nun laß dir noch dies alte Herz besohlen, j durchstreif die Welt«16 oder die Verse »seine freischaffende Seele, j hochfahrend noch und sein herrenlos reisiger Geist«17 sind Teil dieser dichterischen Selbstcharakterisierung. Die zum Landstreicher stilisierten Züge des lyrischen Ichs werden zur persona,18 – »persona […] im Sinn 8 Vgl. Peter Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester! Literatur – Kritik – und Publikum, in: ders.: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur, Werke 3, hg. von Hartmut Steinecke, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 205–221, hier bes. S. 216. 9 In Pierre Bourdieus Terminologie übertragen lässt sich sagen, seine Selbstinszenierung dient der Akkumulation symbolischen Kapitals; siehe Bourdieu: Die Regeln der Kunst. 10 Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke 1, hg. von Bernd Rauschenbach, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 23. 11 Peter Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen, Reinbek bei Hamburg 1972 (Das neue Buch, 1), S. 27. 12 Rühmkorf: Gedichte, S. 23. 13 Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt, S. 7. Die Information der Abstammung findet sich an prominenter Stelle im ersten Satz der Memoiren. 14 Rühmkorf: Gedichte, S. 224. 15 Ebd., S. 115. 16 Ebd., S. 190. 17 Ebd., S. 200. 18 Vgl. zum Begriff persona im Gedicht z. B. Alfred Weber : Toward a Definition of Self-Reflexive

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des antiken Dramas als Maske verstanden, durch die es hindurchtönt«.19 Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser zählen in der Einleitung zu ihrem Band Schriftstellerische Inszenierungspraktiken den hier vorgeführten Typ des »nonkonformistischen Außenseiters« zu den »traditionsreichen Modelle[n]« der Autorinszenierung.20 Das berühmteste Beispiel für die Vaganten-Metaphorik ist die Hochseil-Allegorie, die Rühmkorf bereits mehr als ein Jahrzehnt vor der Veröffentlichung seines bekanntesten Gedichts Hochseil21 in Variation auf »Abendlied« von Matthias Claudius gebraucht. Hier heißt es: »der Platz auf meinem Seile j wird immer uneinnehmbar sein«.22 In dieser Selbstpositionierung ist das gefährdete Überleben als freischaffender Schriftsteller mit dem seit der Antike belegten Topos des im Wettstreit stehenden Artisten kombiniert. Die häufige Verwendung dieser poetologischen Metaphorik zeigt, wie stark der Bezug auf poetische Tradition und Lyrikgeschichte in Rühmkorfs Selbstinszenierung ist – oder wie Claudia Stockinger formuliert: »Die Maskierung des Autors kennzeichnet diesen als literarhistorisches Produkt.«23 Im Gedicht Zirkus24 ist die Artisten-Metaphorik bereits im Titel angelegt. Die für den Artisten verwendete archaisierende Bezeichnung Gaukler evoziert das Bild mittelalterlicher Vaganten. Gleiches gilt für die eulenspiegelhafte persona des vorausgehenden Gedichts Hochseil.25 Beide Gedichte reflektieren die fehlende Anerkennung für die Risiken des Künstlerberufs in besonders eindringlicher Weise und führen durch die mittelalterlichen Figuren vor Augen, dass sich an dieser prekären Situation seit Jahrhunderten nichts geändert hat. Die ökonomische Implikation dieser beiden Gedichte ergibt sich hauptsächlich aus ihrer Einbindung in den Band Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich,26 der als diachrone Studie der wirtschaftlichen Situation dreier für ihre Zeit repräsentativer Dichter aufgebaut ist. Im Gespräch mit Rowohlt-Lektor Jürgen Manthey, das im letzten Kapitel des Bandes wiedergegeben ist, weist Rühmkorf darauf hin, »daß es sich hier dreimal um literarische Privat- und Einzelunternehmer handelt

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Poetry, in: Dorothy Z. Baker (Hg.): Poetics in the Poem. Critical Essays on American SelfReflexive Poetry, New York 1997 (American university studies, 4,184), S. 9–23, hier S. 9; Rüdiger Zymner : Lyrik. Umriss und Begriff, Paderborn 2009, S. 11. Peter Rühmkorf: Über die Arbeit, in: ders.: Einmalig wie wir alle, S. 16–27, hier S. 19. Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser : Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese, in: dies. (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg 2011 (Beihefte zum Euphorion, 62), S. 9–30, hier S. 30. Rühmkorf: Gedichte, S. 287. Ebd., S. 240. Stockinger : Zur Literaturgeschichte Peter Rühmkorfs, S. 166. Rühmkorf: Gedichte, S. 288f. Ebd., S. 287. Peter Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, Reinbek bei Hamburg 1975 (Das neue Buch, 65).

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– in dem allerunschuldigsten Sinn, daß jemand Erzeuger, Erfinder, Urheber, Autor und Selbstvertreiber in einer Person ist«.27 Durch die beiden stark literatursoziologisch geprägten Aufsätze über das finanzielle Auskommen Walthers und Klopstocks stellt sich Rühmkorf selbstbewusst in eine Ahnenreihe mit seinen literarischen Vorbildern und stilisiert damit nicht nur die eigene ökonomische Situation zu einer Fortschreibung deutscher Lyrikgeschichte, sondern erhebt sich zugleich selbst in den literarischen Kanon. Der Gestus der Selbstverortung in einer Ahnenreihe spiegelt sich auch in der Einbandgestaltung von Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich wider. Das Titelbild – laut Impressum »nach einer Idee des Autors« – zeigt eine Montage der drei Dichter-Konterfeis im Halbprofil: eine Walther-Zeichnung im Hintergrund, teilweise überdeckt durch ein Klopstock-Portrait in der Mitte, wiederum leicht überlappend angeschnitten von einem Rühmkorf-Foto. Diese privat anmutende Fotografie zeigt Rühmkorf mit zwei Strickpullovern bekleidet, was er in TABU II als seinen Alltagskleidungsstil beschreibt, den er auch bei einem Empfang beim Bundespräsidenten trägt und sich dabei »beschämend fehlangezogen«28 vorkommt. Der weitere Kommentar im Tagebuch, – »Richtung Proletlook, der mir zunehmend peinlicher erschien, als dann auch noch das Fernsehen angerollt kam«,29 lässt die Auswahl dieses Bildes für den WaltherBand umso auffälliger erscheinen. Dass Rühmkorf auf visuelle Inszenierung großen Wert gelegt hat, bezeugen die Bildbände Von mir zu euch für uns30 und Wenn ich mal richtig ICH sag…,31 die mit Fotos, Postkarten, Zeichnungen und weiterem Bildmaterial sein privates und künstlerisches Umfeld illustrieren. Als Titelbild des Walther-Bandes, der die schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen dreier Autoren gegenüberstellt, wirkt das Foto wie eine Anspielung auf das Klischee des ›armen Poeten‹, der in seiner ärmlichen Dachstube friert.32 27 Ebd., S. 125. 28 Eintrag vom 9. 2. 1972, in: Peter Rühmkorf: TABU II. Tagebücher 1971–1972, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 165–169, hier S. 166. 29 Ebd. 30 Peter Rühmkorf: Von mir zu euch für uns, Göttingen 1999. 31 Peter Rühmkorf: Wenn ich mal richtig ICH sag… Ein Bilder-Lesebuch, Göttingen 2004. 32 Bezüge auf Spitzwegs berühmtes Gemälde Der arme Poet sowie das durch diese Darstellung geprägte Klischee der ärmlichen Dachstube eines Literaten finden sich bei Rühmkorf immer wieder, beispielsweise im Aufsatz Lyrik auf dem Markt, in: Rühmkorf: Strömungslehre I, S. 186–189, hier S. 186f. In den Typoskriptvorstufen im Nachlass gibt es eine später gestrichene Passage, in welcher die Spitzweg’sche Vorstellung der Dachstube als klischeehafter Lebensraum des Schriftstellers ausführlicher thematisiert wird (Typoskript Dichter auf dem Markt, Nachlass Peter Rühmkorf, DLA Marbach, Signatur A:Rühmkorf). Vgl. auch ein Rühmkorf-Zitat aus einem Zeitungsgespräch zur Veröffentlichung von TABU I, in dem Rühmkorfs Selbstzweifel, ob die Publikation von Tagebuchnotizen überhaupt auf Leserinteresse stoßen wird, mit den Worten »Ich mit meinem kleinen, spitzweghaften Umkreis« wiedergegeben werden. Vgl. Volker Weidermann: Der Eckensteher. Das wird sein Herbst:

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Einige der Gedichte des Bandes Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich thematisieren die Schwierigkeiten der Schriftstellerexistenz aus einer kleinunternehmerischen Perspektive. In Meine Stelle am Himmel versucht der Sprecher, einen Platz »im kapitalistischen Tollwutbezirk«33 zu finden. Er scheint sich damit abgefunden zu haben, sich für diese Selbstpositionierung anbiedern zu müssen, was auf die knappe Formel »K a p i t a l i s mu s i s t K i e z «34 gebracht wird.35 In Druse ist die dichterische Stellungnahme in Form einer betriebswirtschaftlichen Aufrechnung und gleichzeitig marktwirtschaftskritischen Abrechnung sehr explizit. Der gesperrte Druck im Schriftbild betont zudem die Empörung eines sich verkannt fühlenden Dichters: Wenn diese Gesellschaft sich ke i n e G e d i c h t e leisten kann, den Anspruch, ne Kulturnation zu bleiben, werde ICH ? aus eigener ? Ta s c h e ? bestreiten ? Gar nichts werd ich.36

Die Gesamtkomposition des Walther-Bandes ist in ihrer starken Selbstinszenierung äußerst provokant. Dass Rühmkorf die Frage nach dem Marktwert der eigenen Lyrik zu einem dominierenden Thema einer Reihe von Gedichten macht, stellt eine deutliche Kritik am Kulturbetrieb dar. Den Anstoß für diese Auseinandersetzung lieferte die eigene Finanzlage: Rühmkorf berichtet im Gespräch mit Manthey, dass er nach jahrelanger Arbeit an drei erfolglosen Dramen »äußerlich und innerlich Pleite«37 war. In den Aufsätzen zu Walther und Klopstock erklärt er seine Vorgänger und Leidensgenossen gleichzeitig auch zu Stammvätern in Sachen »subjektivistische[r] Lyrik«,38 deren Fokussierung auf das Ich, so seine These, aus der existenzgefährdenden Situation entsteht.39

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Peter Rühmkorf wird 75 und veröffentlicht seine Tagebücher aus der Zeit, als er anfing, die Welt mitzuschreiben, in: FAZ 19. 9. 2004, Nr. 38. Rühmkorf: Gedichte, S. 277f. Ebd., S. 278. Einen ähnlichen Gedanken führt Peer Trilcke unter dem Begriff der »poetisch-prostituierenden Schizographie« Rühmkorfs aus, der sich darauf bezieht, dass Rühmkorf neben dem Schreiben literarischer Texte in eigener Sache finanziell darauf angewiesen ist, journalistische Auftragsarbeiten anzunehmen. Siehe Philipp Böttcher, Peer Trilcke: »Ich war äußerlich und innerlich Pleite.« Die Neukonstituierung des Autors Peter Rühmkorf nach 1972, in: Bürger, Opitz: »Lass leuchten!«, S. 65–96, hier S. 85. Rühmkorf: Gedichte, S. 255–257, hier S. 257. Rühmkorf: Peter Rühmkorf, … und das Ich, in: ders.: Walther von der Vogelweide, S. 121–147, hier S. 137. Ebd., S. 88.

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An anderer Stelle legt Rühmkorf dar, dass sich die Lyrikproduktion nur finanzieren lässt, wenn im Autor noch eine andere Schreibkraft tätig ist, die sich mit Nutzprosen hier und Gebrauchstexten dort um das einfache tägliche Brot sorgt. Um das tägliche Brot auch für jenen Tagedieb von Selbstdarsteller, der selbst seine Verhaltensstörungen noch für ausdruckswürdig erachtet und seine höchst subjektiven Anfälle und Ausschläge für einen objektiven Zeitanzeiger hält.40

In dieser selbstkritischen Hinterfragung der lyrischen Selbstaussprache gibt Rühmkorf eine soziologische Erklärung für die Inszenierung der eigenen »närrischen Hochfahrenheiten«, indem er die Selbstdarstellung als »wohl bloß etwas verdrehte Kompensationen sozialer Unsicherheiten«41 wertet und damit wiederum auf die prekären sozio-ökonomischen Bedingungen des Schriftstellerberufs zurückführt. Im Walther-Band wird – durch den Rekurs auf Vorgänger und das Aufzeigen der dichterischen Tradition – dem Räsonnieren über die eigene Bezahlung der Stellenwert eines literarischen Topos zugeschrieben. Schon in den Gedichten der 1950er Jahre erscheinen die Anspielungen auf die prekäre Situation des Dichters teilweise als imitatio tradierter Motive. Das eigentlich unpoetische Thema wird durch die literaturgeschichtlichen Querverweise im Walther-Band und die Verwendung mittelalterlicher personae als dichterisches alter ego poetisiert. Auf diese Weise abstrahiert Rühmkorf vom Einzelschicksal und erhebt Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Er begibt sich und sein lyrisches Ich in die Rolle einer »Versuchsperson«,42 an der die Probleme einer gesamten Berufsgruppe demonstriert werden. Wie Rühmkorf im Gespräch mit Jürgen Manthey erläutert, sind diese auch mit »der durchschnittlichen Risikosphäre des Dutzendbürgers«43 vergleichbar, womit Solidarität zwischen Schriftsteller und Leserschaft evoziert wird. In seinen poetologischen Essays, in Reden, Interviews und nicht zuletzt im Dialog mit dem Publikum44 verdeutlicht Rühmkorf die eigene ökonomische 39 Vgl. ebd., S. 22 und S. 123–128 sowie inbes. den auf dem Umschlag abgebildeten Brief an Manthey. Zur Subjektivität Rühmkorfs siehe Steinecke: Peter Rühmkorf, S. 773 und Herbert Uerlings: Die Gedichte Peter Rühmkorfs. Subjektivität und Wirklichkeitserfahrung in der Lyrik, Bonn 1984 (Literatur und Wirklichkeit, 24). 40 Peter Rühmkorf: Dank für die Medaille, in: ders.: Strömungslehre I, S. 198–202, hier S. 201. 41 Ebd., S. 202. 42 Peter Rühmkorf, Michael Naura: Hochseil. Vorschlag an die Künste, sich mit vereinten Kräften in die Luft zu heben, statt sich einen Strick zu kaufen. Ein nächtliches Zwiegespräch zwischen Peter Rühmkorf und Michael Naura, in: dies., Wolfgang Schlüter : Phönix voran!, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 29–113, hier S. 89. 43 Rühmkorf: Peter Rühmkorf, … und das Ich, S. 138. 44 In der Sammlung der Mediendokumentation im DLA Marbach findet sich reichlich Filmmaterial, das Rühmkorfs Art, mit seinem Publikum zu sprechen, zeigt.

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Notlage immer wieder ohne Umschweife und literarisierende Ausschmückungen. In der Rede, die er 1966 – passenderweise auf dem Platz hinter der Hamburger Börse – im Rahmen der Veranstaltung Dichter auf dem Markt hält, rechnet er provokant in kaufmännischer Manier vor: Um ein Gedicht von guter oder auch nur mittlerer Qualität wirklich marktfertig zu machen, […] muß bereits eine Vorinvestition von achthundert bis tausend Mark pro Stück geleistet werden […] und wenn wir hier […] die investierte Zeit mit rund gerechnet 180 Monatsstunden pro Poem veranschlagen und die Arbeitsstunde mit etwa 5 Mark 50 berechnen, dann wird ohne weiteres ersichtlich, mit welchen Forderungen ein […] Poet vor seine Kulturnation hintritt. Fragt sich nur, wen er praktisch zur Kasse bitten und unter welchen Umständen ein Gedicht die Verauslagungen wieder einspielen soll.45

Eine der Schwierigkeiten, sich mit Lyrik »auf dem freien Markt« zu positionieren, sieht Rühmkorf in der bei Lyrikbänden »werberisch kaum zu überbrückende[n] Distanz zwischen geringem Umfang und immer noch zu hoher Preislage«, die dazu führt, dass Lyrik im Buchhandel nicht ausreichend »zur Schau gestellt« wird.46 Es kann daher als eine Art aufmerksamkeitsfördernde Strategie Rühmkorfs verstanden werden, dass er den Umfang seiner Lyrikbände aufstockt, indem er ihnen Aufsätze, Briefe oder Selbstinterpretationen beigibt, wie das bereits seit dem Gedichtband Kunststücke47 der Fall ist. Bis in die späten 1980er Jahre steigt der Anteil nichtlyrischer Texte innerhalb seiner Gedichtbände an. Eine für die Außenwirkung noch wichtigere Strategie ist, dass sich Rühmkorf selbst in die Rolle eines Schaustellers begibt, der – wie der metaphorische Hochseilartist – seine Kunst auf dem Marktplatz darbietet. Diese Selbstvermarktung begründet er mit den Worten: Wo die Leser gar nicht wissen, wonach sie verlangen sollen – weil kein Mensch, kein Medium sie vorher in Kenntnis gesetzt hat –, muß der Autor sich seine Leser persönlich zusammenlesen. So sieht er sich denn im geschätzten Verein mit einem ganzen Haufen ähnlich motivierter Wanderartisten durch die Lande schleifen[.]48

Er nutzt die Gelegenheit, bei der ersten Veranstaltung der vom Hamburger Kultursenat initiierten Reihe Dichter auf dem Markt publikumswirksam in Begleitung einer Jazzband von einer als Bühne umfunktionierten LKW-Ladefläche vorzutragen. Der Auftritt bekommt bundesweit ein großes Medienecho. Laut unterschiedlichen Pressestimmen erleben zwischen 600 und 3000 Zuhörer 45 Rühmkorf: Lyrik auf dem Markt, S. 186–188. 46 Rühmkorf: Erkenne die Marktlage!, S. 182f. 47 Peter Rühmkorf: Kunststücke. Fünfzig Gedichte nebst einer Anleitung zum Widerspruch, Reinbek bei Hamburg 1962. 48 Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester!, S. 216.

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Rühmkorf als Dichter auf dem Markt.49 Rühmkorf spricht in Interviews immer von 3000 Zuhörern. So auch im Rundfunkgespräch mit seinem Pianisten, dem NDR-Jazz-Redakteur Michael Naura, das in stark veränderter Form im Band Phönix voran!50 publiziert ist. Zahlreiche unterschiedliche Fassungen des Typoskripts und die Abweichung zwischen gesendetem Wortlaut51 und gedrucktem Text lassen Rühmkorfs starken Hang zur medialen Inszenierung erkennen und zeigen, wie genau er seine Wirkung auf die mediale Öffentlichkeit kalkuliert. Das Gespräch trägt Züge einer Selbstglorifizierung der Zusammenarbeit Jazz & Lyrik,52 besonders an den Stellen, welche die gemeinsame Rolle als Wegbereiter des Genres evozieren.53 Unerwähnt bleiben die amerikanische JazzPoetry-Szene oder Joachim-Ernst Berendt, der mit Jazz & Lyrik in Deutschland als Rundfunkjournalist und Schallplattenproduzent schon seit Beginn der 1960er Jahre aktiv war und bereits 1963 eine LP mit von Gert Westphal zu Aufnahmen des amerikanischen Saxophonisten Johnny Griffin gelesenen Rühmkorf-Gedichten veröffentlichte.54 In der Rundfunkfassung des Gesprächs beruft sich Michael Naura auf diese Schallplatte als Vorbild für den ersten gemeinsamen Jazz & Lyrik-Auftritt 1966, ohne dabei allerdings den Namen des Produzenten Berendt zu nennen. In der gedruckten Fassung des Gesprächs entfällt der Hinweis auf die Schallplatte. Dadurch vermittelt das in Phönix voran! publizierte Hochseil-Gespräch den Eindruck, Rühmkorf und Naura wären die einzigen Initiatoren von Jazz & Lyrik gewesen.55 Zumindest lässt sich belegen, dass Rühmkorf der erste Lyriker ist, dem in Deutschland für einen Auftritt in Begleitung einer Jazzband überregional große Aufmerksamkeit zuteil wird und dass seine Darbietungen mit Michael Naura am Klavier und Wolfgang Schlüter am Vibraphon stilprägend für das Genre sind. Über die damals noch sehr neue Sparte im deutschen Kulturbetrieb gelingt es ihm durch zusätzliche Auftrittsmöglichkeiten, leichter »Anschluß an Masse [zu] finden«56 – um mit dem Titel eines Gedichts aus Haltbar bis Ende 1999 zu sprechen. Der Begriff Masse soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch 49 Diese Zahlen gehen aus der Zeitungsausschnittsammlung im DLA Marbach hervor. 50 Rühmkorf, Naura: Hochseil. 51 Das Radio-Gespräch wurde laut NDR Medienarchiv am 6. 3. 1986 produziert und am 29. 3. 1986 in der NDR-Sendereihe Jazz-Laboratorium unter dem Titel Hochseil: Vorschlag an die Künste, sich mit vereinten Kräften in die Luft zu begeben, statt einen Strick zu kaufen gesendet. 52 Vgl. insbesondere die Passagen, in denen der Zusammenklang von Poesie und Musik als »Sphärenharmonie« bezeichnet wird: Rühmkorf, Naura: Hochseil, S. 57 und 84. 53 Ebd., S. 59. 54 Lyrik und Jazz. Peter Rühmkorf – Johnny Griffin, Hamburg: Philips Ton GmbH [1963]. 55 Zumal davon die Rede ist, dass ihre Auftritte Nachahmer gefunden haben. Siehe Rühmkorf, Naura: Hochseil, S. 59. 56 Rühmkorf: Gedichte, S. 279.

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Jazz & Lyrik ein Nischenprodukt ist. In der Kombination mit Jazz erreicht die Lyrik-Rezitation jedoch eine breitere Zuhörerschaft. So ist die Jazz & LyrikZusammenarbeit, aus der neben Schallplattenproduktionen auch einige Stunden Radio-Sendezeit hervorgingen, ein nicht geringer Faktor für Rühmkorfs Popularität als Vortragskünstler.57 Im Hinblick auf die in Erkenne die Marktlage! konstatierte Feststellung, Lyrik werde nicht genug »zur Schau gestellt […] und herumempfohlen«,58 wird deutlich, wie geschickt er seine Kontakte zu diesem Sektor des Kulturbetriebs zu nutzen weiß: Über die gemeinsamen Projekte mit Jazzmusikern erschließt er sich einen weiteren Markt und eine größere mediale Plattform für die Zurschaustellung seines Produkts, lange bevor das HörbuchSegment sich auf dem Literaturmarkt etabliert. Mit dem im Walther-Band hergestellten Vergleich mit kanonisierten »lyrische[n] Wanderarbeiter[n]«59 verschafft sich Rühmkorf eine Legitimation für seine rege Vortrags- und Auftrittstätigkeit, die im Vergleich zur relativ geringen Zahl seiner Lyrik-Veröffentlichungen immens erscheint. Die Formulierung »Wanderarbeiter« steht zunächst noch metaphorisch für das wirtschaftlich unabdingbare Veröffentlichen journalistischer Beiträge in den unterschiedlichsten Publikationsorganen,60 wird ab Mitte der 1970er aber mehr und mehr zum Sinnbild für Rühmkorfs zahlreiche Lesereisen.61 Eine ebenfalls legitimie-

57 Die große Aufmerksamkeit der Medien hat sicherlich dazu beigetragen, dass Rühmkorf die Zusammenarbeit mit den Jazzmusikern erweitert. Neben den musikalischen Hauptakteuren Michael Naura und Wolfgang Schlüter, beide bereits 1966 dabei, waren bei unterschiedlichen Auftritten und LP-Produktionen u. a. auch internationale Jazzgrößen wie Eberhard Weber, Albert Mangelsdorff und Leszek Zadlo beteiligt. 58 Rühmkorf: Erkenne die Marktlage!, S. 183. 59 Siehe Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Reichssänger und Hausierer, in: ders.: Walther von der Vogelweide, S. 7–78, hier S. 44; Vgl. den Brief vom 9. 1. 1975 an den SPIEGELHerausgeber und früheren Kultur-Ressortchef Walter Busse, den Rühmkorf mit einer ausführlichen Schilderung seiner prekären finanziellen Situation um einen Honorarvorschuss bittet. Das Bittschreiben literarisiert er mit einem Verweis auf die Literaturgeschichte: »Mir scheint, seit den Tagen Walthers von der Vogelweide hat sich an der Lebens- und Leidensweise von uns literarischen Wanderarbeitern und Hausierern so furchtbar viel gar nicht geändert.« Rühmkorf: Vorauszahlungen sind Nachzahlungen, in: ders.: Strömungslehre I, S. 193f., hier S. 194. Zu dieser Selbststilisierung Rühmkorfs vgl. auch Elsbeth Wolffheim: Marktplatz als Metapher oder Der literarische Wanderarbeiter, in: Peter Rühmkorf, München 1988 (Text + Kritik, 97), S. 36–44 und Günter Oesterle: Mit gespaltener Zunge. Zur Dialogizität in der Poetik Peter Rühmkorfs, in: Manfred Durzak, Hartmut Steinecke (Hg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 46–65, hier S. 50. 60 Siehe Peter Rühmkorf: Dank für die Medaille, S. 202 und ders.: Peter Rühmkorf, … und das Ich, S. 137. 61 Für die 1970er und 1980er Jahre sind im Durchschnitt jährlich über 30 Auftritte überliefert, 1983 sogar über 40. Hierzu die chronologische Übersicht in Wolfgang Rasch: Bibliographie Peter Rühmkorf (1951–2004), Bd. 2: Sekundärliteratur, Bielefeld 2004, hier S. 354–380. In

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rende Funktion kommt seiner häufig wiederholten Erläuterung zu, bei der Kombination von Poesie und Musik handele es sich um eine »archaische[] Mitteilungsform«, die an die Anfänge der Gattung – als Verse zur Lyra vorgetragen wurden – erinnert.62 Sein Marktplatz-Auftritt auf der Tragfläche eines Lastwagens machte, einigen Pressestimmen des Jahres 1966 und den Ausführungen Elsbeth Wolffheims im Text und Kritik-Band zufolge, in manchen Kreisen einen unseriösen, gar populistischen Eindruck.63 Die von Rühmkorf vorgenommene Kontextualisierung von Lyrik und Musik als seit der Antike überlieferte, ursprüngliche Darbietungsform steht dieser Einschätzung entgegen. Seine Auftrittstätigkeit hat Rühmkorf in unterschiedlichen Textsorten reflektiert und in prägnante Metaphern gefasst. In den Typoskripten zum oben erwähnten Gespräch im Jazz & Lyrik-Band Phönix voran! findet sich folgende Formulierung, die auch im fast gleichzeitig entstandenen Gedicht Selbst III/88 auftaucht: Ich bin als Einzelhandelsreisender herumgezogen. Werd ich sicher auch immer wieder tun – ich meine, solange die Koffergriffe noch halten.64

Das Bild des Einzelhandelsreisenden ist die moderne und entpoetisierte Fortführung der Vagantenfigur. Im Aufsatz Bindet die Bauchläden fester! führt Rühmkorf diese metaphorische Selbstinszenierung als »lyrische[r] Selbstvertreiber«65 besonders anschaulich aus, indem er betont, dass er seine Kollektion an »gereimten und gebundenen Kurzwaren«66 im »Musterkoffer unverzagt von Wochenmarkt zu Wochenmarkt«67 schleppe. Ein ähnliches Bild findet sich, stark ironisiert, auch im Gedicht Schnellimbiß. Das als Dichter erkennbare lyrische Ich wird im angedeuteten Dialog mit einer Imbissverkäuferin beim spielerischen

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Rühmkorfs Nachlass im DLA Marbach gibt es außerdem eine Fülle an Programmentwürfen und Ablaufplänen für Lesungen sowie Gema-Unterlagen für Jazz & Lyrik-Auftritte. Rühmkorf: Kein Apolloprogramm für Lyrik, in: ders.: Walther von der Vogelweide, S. 181–190, hier S. 189; vgl. auch Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester!, S. 217 sowie Rühmkorf, Naura: Hochseil, S. 59. Wolffheim erinnert sich: »ich weiß noch genau, wie damals sogar sogenannte aufgeschlossene Leute, die nicht dabei waren, die Nase rümpften; man hielt das für populistische ›Anmache‹«. Elsbeth Wolffheim: Marktplatz als Metapher oder Der literarische Wanderarbeiter, in: Peter Rühmkorf, S. 36–44, hier S. 41. Das Zitat stammt aus einem der zahlreichen Typoskriptentwürfe zum Hochseil-Gespräch im Jazz & Lyrik-Band Phönix voran! (Nachlass Peter Rühmkorf, DLA Marbach, Signatur A:Rühmkorf). Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester!, S. 216. Rühmkorf: Lyrik auf dem Markt, S. 186. Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester!, S. 217.

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Berufe-Raten als »Vertreter«, »Verteiler« und »Vertreiber« bezeichnet, der seine »Tour auf Prozentbasis«68 abstottert. Rühmkorfs differenzierte – gleichzeitig marktkritische und marktaffine – Sichtweise bestimmt mit der Zeit zunehmend auch die Perspektive, aus der er seine Rezipienten betrachtet, was sich darin zeigt, dass seit dem Band Haltbar bis Ende 1999 die Leserschaft immer wieder als »Kundschaft« bezeichnet wird. Bis in seinen letzten Lyrikband findet sich diese tendenziell degradierende Umwertung des Lesers: Im abschließenden Gedicht – sozusagen dem Schlusswort zu Rühmkorfs Gesamtwerk – Botschaft an Kundschaft wird das Verhältnis von Tradition und Selbstinszenierung in konzentrierter Form reflektiert: Schöpflöffel, die nur aus sich selber schöpfen? Wir fußen doch alle Auf andrer Leut’s Köpfen. Leben lustig von Hin- und Widerhallen, aber irgendwas muß dir auch selbst einfallen. Daß die Kundschaft von sich aus bekundet: Dass isses! Etwas relativ Sui-generisses.69

Besonders häufig ist die Ersetzung des Wortes »Leser« durch »Kunde« im Band Einmalig wie wir alle,70 in dessen Titelgedicht das semantische Feld der Ökonomie stark vertreten ist: Heh, Menschheit! – Kundschaft! (für den Markt zurechtgebogen) Man hat uns nicht gewiegt, man hat uns aufgewogen; Einmal zu schwierig, mal zu leicht befunden (notiert: «Levitation = unbezahlte Überstunden»)71

Trotz dieser marktwirtschaftlichen Sicht auf den Leser beschwört Rühmkorf besonders im Band Haltbar bis Ende 1999 immer wieder Solidarität und Gemeinschaftsgeist zwischen Dichter und Publikum. In den 1980er Jahren setzt sich dieser Gestus in seiner paratextuellen Inszenierung weiter fort. Rühmkorf entwirft sich als »Sinnstifter auf dem Markt«,72 der mit seinen »archaischen 68 Rühmkorf: Gedichte, S. 458f. 69 Peter Rühmkorf: Paradiesvogelschiß. Gedichte, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 140; an anderer Stelle heißt es: »1 2 3 für wen schreiben Sie? j Die meine Ängste teilen – j z. B. daß der Poesie j die letzten Kunden enteilen.« Ebd., S. 22. 70 Peter Rühmkorf: Einmalig wie wir alle, Reinbek bei Hamburg 1989. 71 Rühmkorf: Gedichte, S. 466. 72 Peter Rühmkorf: Sinnstifter auf dem Markt?, in: Karl Ermert (Hg.): Kein schöner Land… Die Schriftsteller und das Volk in Deutschland, Rehburg-Loccum 1990 (Loccumer Protokolle, 58), S. 86–111.

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Vermittlungsweisen«73 zwischen Kunst und ihren Rezipienten als »liedersingende[r] Harfner«74 die »künstlich zertrennten Drähte zwischen der Literatur und ihren Liebhabern kurzzuschließen«75 versucht, mit dem »alleredelsten Ziel, diesen ganzen Regelkreis von Sellerkultur und Modeberichterstattungen zu durchbrechen«.76 Er scheint damit nichts Geringeres anzustreben, als das Fortbestehen der Gattung Lyrik zu sichern.77 Die Sicherung der eigenen Überlebensgrundlage als freier Schriftsteller hingegen wird in Rühmkorfs Aufsätzen und Reden ab den 1980er Jahren weniger häufig und deutlich angesprochen als in den 1960er und 1970er Jahren. Seine Auftritte waren jedoch nicht nur für die Inszenierung von Rühmkorfs dichterischem Selbstverständnis als Vermittler literarischer Tradition von Bedeutung. Er hat zwar in öffentlichen Selbstaussagen nicht erwähnt, wie wichtig ihm der finanzielle Aspekt war – in einem Brief an Michael Naura aus dem Jahr 1979 betont er aber, dass er »vom Vorsingen lebe«.78 Die enge Verbindung der Reflexion des eigenen Marktwerts mit den zur Schau gestellten tradierten dichterischen Rollen und Posen findet in Rühmkorfs Selbstinszenierung in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt. Danach lockert sich diese Verbindung wieder, bis beide Aspekte ohne die vorher aufgezeigten starken Rückbezüge nebeneinander weiter existieren.79 Rühmkorfs Reflexion der eigenen ›Marktlage‹ nimmt in der Lyrik seit den 1990er Jahren ab. Der Band Wenn – aber dann enthält zwar Texte wie Kleine Weltwirtschaftslehre,80 die ökonomische Fragen thematisieren, eine Selbstinszenierung des eigenen finanziellen Auskommens findet aber kaum noch statt. Eine Ausnahme stellen folgende Lyriden aus Paradiesvogelschiß dar :

Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester!, S. 217. Rühmkorf, Naura: Hochseil, S. 97. Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester!, S. 216. Nachlass Peter Rühmkorf, DLA Marbach, Signatur A:Rühmkorf. Zum Gestus der demonstrierten Selbstlosigkeit vgl. Pierre Bourdieu, der einige Beispiele dafür nennt, dass Künstler seit der Romantik gern ihre Uneigennützigkeit und ›hohe Gesinnung‹ für die ›reine Kunst‹ zur Schau stellen; siehe Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 218. 78 Rühmkorf an Michael Naura, Brief vom 24. 6. 1979, Nachlass Peter Rühmkorf, DLA Marbach, Signatur A:Rühmkorf. Für die Einsicht in einige im Kontext von Jazz & Lyrik stehenden Briefe an Michael Naura danke ich Christina Naura. 79 Folgende aperÅuartige Verse enthalten den selten gewordenen gleichzeitigen Bezug auf literarische Vorbilder und auf die Ökonomie: »Was ich von den ALTEN lernte, j paßt mal auf, j erst im Alter kommt die Ernte j erst zur Reife, dann Verkauf.« Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, S. 17. 80 Der vollständige Titel lautet Kleine Weltwirtschaftslehre oder: es reimt sich, in: Peter Rühmkorf: Wenn – aber dann. Vorletzte Gedichte, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 101–104.

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Nun gut, okay, du willst den Dichter geben – Heißt praktisch von den eignen Seufzern leben,81

Dagegen erwecken die Gedichte im Band Haltbar bis Ende 1999 noch den Eindruck, dass Kategorien des Marktes mehr und mehr das dichterische Denken bestimmen, wie etwa in der Bezeichnung der Leser als Kunden. Verweise auf die dichterische Tradition tauchen in der Reflexion der Marktsituation seltener auf. Über ein fachsprachliches Vokabular der Wirtschaft und der Unterhaltungsbranche demonstriert Rühmkorf provokativ, dass er mit den Gesetzen des Marktes bestens vertraut sei. So heißt es, in Abwandlung des kategorischen Imperativs, Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Einschaltquotenmaximierung dienen könnte.82

Die parodistische Umwendung führt zu einer ironischen Brechung des hier propagierten Gewinnstrebens. Bereits der Titel des Gedichts, Hochstapler, unterstreicht die Vorbehalte, sich dem Diktat des Marktes zu unterwerfen. Das Befremden über die allgegenwärtige Dominanz der Marktgesetze bringt auch das Gedicht Im Fahrtwind83 zum Ausdruck, in dem sich das lyrische Dichter-Ich im allgemeinen Warenverkehr reichlich verloren vorkommt und der Erwartung ausgesetzt sieht, sich für sein nicht der Nachfrage entsprechendes Produkt zu rechtfertigen: »WAS HABEN SIE ZU DEKLARIEREN, mein Herr j UND WIE HEISST NOCHMAL IHRE NUTZLAST?«84 Der Sarkasmus, mit dem Lyrik als »Nutzlast« bezeichnet wird, verdeutlicht, dass sie sich der ökonomischen Verwertbarkeit entzieht. Mit gespielter Unbedarftheit gibt der Dichter in der zweiten Strophe zu verstehen, dass seine ursprüngliche Vorstellung des Berufs mit den tatsächlichen, wirtschaftlich bedingten Zwängen des Schriftstelleralltags nur wenig gemein hat. Im weiteren Verlauf werden insbesondere der Zeitdruck bei der Produktion, versinnbildlicht durch die Kilometerangaben, und der Konkurrenzkampf hervorgehoben. Die pejorativen Ausdrücke verstärken die Absurdität des dichterischen Wettbewerbsdenkens: »wem geht j der Schaum rasanter vom Maul, wer harft j sein Pensum ausdrucksvoller runter«.85 81 Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, S. 13. Einige Seiten später wird der Gedanke wie folgt formuliert »Nun gut, j du willst den Dichter geben – j heißt praktisch, von deinen Tränen leben. j Von deinen Seufzern dich kleiden und nähren: j Ich denke, die Zeit wird nicht ewig währen.« Ebd., S. 50. 82 Rühmkorf: Gedichte, S. 432–436, hier S. 434. 83 Ebd., S. 315–318. 84 Ebd., S. 315. 85 Ebd., S. 316.

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Die Schlussfolgerung des Sprechers bringt die überlebensnotwendige Strategie der Selbstinszenierung auf die Formel »Das ICH ist schließlich auch nur ein Markenartikel unter vielen«.86 Das Gedicht Im Fahrtwind illustriert, dass sich der Lyriker unter dem »Gesetz des schnellen Marktes«87 – so der ursprüngliche Titel des Aufsatzes Bindet die Bauchläden fester! – seiner Arbeit zunehmend entfremdet fühlt. Rühmkorfs Reaktion ist die Rückkehr zu den archaischen Vermittlungsformen, die den direkten Kontakt zu den Adressaten seiner Ausdruckskunst wiederherstellen. Obwohl er sich stark mit seiner Rolle als didaktischer Vermittler zwischen Kunst und Rezipient identifiziert, nötigt sie ihm auch Opfer ab, die Spuren in seinem Stil hinterlassen haben.88 In einem Interview mit Eva Schobel erklärt Rühmkorf 1993 den Rückgang intertextueller Bezüge auf literarische Vorbilder mit einer besseren Verständlichkeit für den durchschnittlichen Leser und Zuhörer : Also ich hab da schon viel Bildungsgepäck abwerfen müssen. Ich hab gelernt, dass meine geliebten literarischen Traditionsgüter überhaupt kein Thema mehr sind und der moderne Lyriker […] in einen traditionsleeren Raum hinein musiziert […].89

In Paradiesvogelschiß wird diese Entwicklung in folgende Reime gefasst: Einfach werden – radikal. Kompliziert, das war einmal. Weil, … Subtilität kaum ein Leser noch versteht.90

Dass dieses Entgegenkommen dem Publikum gegenüber in Literatenkreisen keine Selbstverständlichkeit ist, spricht Rühmkorf in Bindet die Bauchläden fester! an. Hier betont er nicht nur die Rolle des lyrischen Selbstvermarkters, der ›im Außendienst‹ dem Kunden die Literatur näher bringt. Er kritisiert gleichzeitig, dass im Literaturbetrieb nur Chancen hat, wer die Spielregeln des Marktes beherrscht, dessen »oberste Aufmerksamkeitsregel […] Inszenierbarkeit heißt«.91 Mit dieser Bemerkung rekurriert Rühmkorf auf ungeliebte Schriftstellerkollegen,92 denen er inhaltliche Leere vorwirft, die es jedoch verstünden, 86 Ebd., S. 317. 87 Peter Rühmkorf: Das Gesetz des schnellen Marktes, in: Die Zeit 4. 5. 1984, Nr. 19, S. 41f. 88 Die Erfahrung der Publikumsreaktion beeinflusst die Schreibweise noch in anderer Hinsicht, auf die hier nicht genauer eingegangen werden kann, wie beispielsweise in einer stärker dialogischen Schreibweise. 89 Peter Rühmkorf, Eva Schobel: Aufklärung, Aufklärung! Ein Gespräch, in: Peter Rühmkorf: Deutschland, ein Lügenmärchen, Göttingen 1993 (Göttinger Sudelblätter), S. 21–31, hier S. 24. 90 Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, S. 20. 91 Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester!, S. 206. 92 Rühmkorf bezieht sich u. a. auf Peter Handke, Thomas Bernhard und Botho Strauß. Ebd., S. 207–214.

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mit Eklats auf sich aufmerksam zu machen, was ihnen die Gunst der Literaturkritik und damit verbunden erhöhte Absatzzahlen einbrächte.93 Mit dem Begriff »Inszenierbarkeit« bezieht sich Rühmkorf dabei auf einen zur Schau gestellten elitären »Gestus der Publikumsverachtung und die gegen den kommunen Geschmack gewendete Künstlerattitüde«.94 Die Zusammenschau seiner lyrischen, poetologischen und autobiographischen Veröffentlichungen sowie seiner Auftritte zeigt, dass auch Rühmkorf die Kunst der Selbstinszenierung beherrscht. Sie ist aber durch den von ihm immer wieder hergestellten Rekurs auf die Literaturgeschichte sowie den Bezug zu Vorbildern ästhetisiert und literarisch durchgeformt und ersetzt keinesfalls inhaltliche Komplexität und literarische Qualität. Gleichzeitig ist sie über den Vorwurf »eitle[r] Selbststilisierung[…]«95 erhaben, da Rühmkorf immer wieder gezielt hervorhebt, sie in den Dienst der Vermittlung zwischen Literatur und ihren Lesern zu stellen. Rühmkorfs Auftritte bieten nicht nur den idealen Rahmen für die Vermittlung von Lyrik, sondern lassen auch genug Spielraum für die eigene Selbstinszenierung. Die Erfahrungen des öffentlichen Auftretens wirken über die Theatermetaphorik in die Texte hinein. Im Aufsatz Über die Arbeit96 wird das Shakespeare-Zitat »all the world’s a stage«97 zur Maxime erhoben. Das lässt erkennen, dass nie eindeutig ist, was als Inszenierung und was als authentisch zu begreifen ist. Für Rühmkorf sind sowohl Selbstinszenierung als auch das Auftreten vor Publikum wichtige Aspekte des Dichterberufs, deren Stellenwert folgende Verse aus Paradiesvogelschiß verdeutlichen: Ich bin ein Antäus der Bühne, verwurzle mich im Parkett und saug mir meine Fortüne aus jedem knarzenden Brett.98

Die Zurschaustellung des dichterischen Arbeitsalltags findet nicht nur auf dem tatsächlichen Bühnenboden und innerhalb seiner Texte statt, sondern beeinflusst auch den Aufbau seiner Bücher : Rühmkorf legt den Blicken seiner ›Kundschaft‹ vieles offen, was in der Regel verborgen bleibt. Die Leser erhalten beispielsweise Einblicke in die dichterische Werkstatt, etwa in Form faksimi93 Ebd., vgl. insbes. den Abschnitt über die mafiöse »Vorzugsbehandlung« bestimmter Schriftsteller durch einige Literaturkritiker, S. 213. 94 Ebd., S. 212. 95 Ebd., S. 211. 96 Peter Rühmkorf: Über die Arbeit, S. 26. 97 Mit diesem Ausspruch beginnt in Shakespeares Wie es euch gefällt der Monolog Jaques’ in Akt II, Szene VII, Vers 139. William Shakespeare: As you like it, hg. von Harold F. Brooks u. a., London 1975, S. 55. 98 Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, S. 77.

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lierter Typoskripte voller handschriftlicher Anmerkungen, wie im Band Paradiesvogelschiß, oder beigegebener Briefe, wie im Band Einmalig wie wir alle. Ein Extrembeispiel sind rund 700 Seiten Manuskript- und Typoskriptstufen, mit denen er den Entstehungsprozess seines Gedichts Mit den Jahren… Selbst III/88 dokumentiert.99 Das Buch veranschaulicht, was Rühmkorf bereits in oben zitierter Passage in Lyrik auf dem Markt vorgerechnet hat,100 nämlich, dass eine Stundenlohnabrechnung – so utopisch diese Vorstellung angesichts der unzähligen Arbeitsstunden, die ein Lyriker mitunter in ein einziges Gedicht investiert, sein mag – beträchtlich ausfallen würde.

Schlussbetrachtung Rühmkorfs enger Bezug zur Tradition der deutschsprachigen Lyrik und seine Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Literaturmarkts lassen sich als Koordinaten innerhalb seiner Selbstinszenierung als Dichter begreifen. Diese funktioniert auf einer diachronen wie auf einer synchronen Achse, denn Rühmkorf reflektiert seinen Stellenwert zum einen im Hinblick auf die Gegenwart (unter dem Stichwort ›Marktlage‹), zum anderen im Rückblick auf die Literaturgeschichte. Ein Kunstgriff seiner stark poetisierten Selbstinszenierung besteht darin, die Auseinandersetzung mit der ›Marktlage‹ in Gedichten und poetologischen Essays als traditionsreiches Verfahren zu inszenieren, indem er sein lyrisches Alter Ego immer wieder in die Rolle künstlerischer »Wanderarbeiter«101 hüllt und sich in eine Reihe mit literarischen Ahnen wie Walther und Klopstock stellt. Diese Selbstverortung innerhalb der lyrischen Tradition lässt die Absicht erkennen, die eigene Kanonisierung voranzutreiben. Gleichzeitig funktionalisiert Rühmkorf den immer wieder gezogenen Vergleich mit seinen literarischen Vorgängern und selbst gewählten Stammvätern, um seine ambivalente Haltung zu den Anforderungen des Literaturmarktes zu legitimieren. Ein deutlicher Widerspruch in seiner Selbstinszenierung ist, dass er als Dichter auf Lesereise einerseits die Popularisierung seiner Lyrik betreibt und die Nähe zum Publikum sucht, sich gleichzeitig aber durch die starke Bezugnahme auf die Tradition als poeta doctus102 geriert. Rühmkorf kommt zwar mit dem abnehmenden Gebrauch literarischer Anspielungen seinem Publikum entgegen, eine 99 Peter Rühmkorf: Selbst III/88. Aus der Fassung, Zürich 1989. 100 Vgl. Anm. 45. 101 Z. B.: Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Reichssänger und Hausierer, in: ders.: Walther von der Vogelweide, S. 7–78, hier S. 44. 102 Unter der Überschrift poeta doctus heißt es in Paradiesvogelschiß: »Er war ein Dichter vom Schuh bis zum Scheitel j mit Bildung gefüllt j wie ein Staubsaugerbeutel.« S. 19.

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Spannung zwischen demonstrierter Volksnähe103 und zur Schau gestelltem Expertenwissen bleibt jedoch auch in der späten Phase noch bestehen. Sie verleiht der Autorfigur Rühmkorf eine schier undurchdringliche Vielschichtigkeit, die den gefeierten Vortragskünstler davor schützt, als ein reiner Unterhaltungsartist verkannt zu werden. Diesem Zweck dient auch Rühmkorfs häufige Erläuterung, dass der Vortrag zur Musik eine »archaische«104 und damit traditionsreiche Darbietungsform von Literatur sei.105 Sein Agieren beweist, dass er die Spielregeln des literarischen Feldes, wie sie Pierre Bourdieu in Die Regeln der Kunst beschreibt, souverän beherrscht, worauf bereits Peer Trilcke und Philipp Böttcher hingewiesen haben.106 Je mehr die von der brotlosen Kunst geforderten Mühen thematisiert werden, desto größer wird das symbolische Kapital in Form von Renommee, was sich auch finanziell auszahlen kann.107 Die erhöhte Aufmerksamkeit in Fachkreisen und Medien, die sich Rühmkorf mit der Zurschaustellung seiner opferbereiten Hingabe an die Kunst erarbeitet hat, führt dazu, dass seine Werke letztendlich doch verstärkt öffentlich »herumempfohlen«108 werden, was allerdings weniger für seine Lyrikbände, sondern insbesondere für Rühmkorfs ersten Tagebuchband gilt. Laut Bourdieu funktioniert die Umwandlung symbolischen Kapitals in ökonomische Profite nur dann, wenn es gelingt, das wirtschaftliche Interesse zu verschleiern,109 wie es bei Rühmkorfs Auftritten und seiner Jazz & Lyrik-Tätigkeit der Fall ist. Wie so viele Aspekte in Rühmkorfs Werk und Schaffensweise lässt sich auch seine Selbstinszenierung zwischen Tradition und ›Marktlage‹ als Hochseilakt begreifen. Er balanciert zwischen einer artifiziellen Fortführung der Tradition und der Anpassung an ökonomische Gegebenheiten. Mit den intertextuellen Verweisen auf die Tradition verweigert er sich der einfachen Konsumierbarkeit und dem Gedanken eines Ausverkaufs der Lyrik. Das entspricht nicht den Anforderungen der ›Marktlage‹, aber dem Ideal eines Marktes, auf dem ein lyrisches Produkt gerade wegen seiner profunden literarischen Bezüge gehandelt wird. Diese Einstellung ist im Gedicht Heldenkunde in folgender Utopie zum Ausdruck gebracht: 103 Wie beispielsweise auch in Peter Rühmkorfs Sammlung Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund, Reinbek bei Hamburg 1967. 104 Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester!, S. 217. 105 Dass diese Strategie ihre Begründung hat, zeigt sich auch daran, dass es Rühmkorf teilweise als Inkonsistenz ausgelegt wurde, dass er einerseits den Markt kritisiert, andererseits aber auch selbst seine »Poesie zu Markte« trägt; vgl. Alexander von Bormann: Peter Rühmkorfs Widersprüche, in: Peter Rühmkorf, S. 3–14, hier S. 7. 106 Böttcher, Trilcke: »Ich war äußerlich und innerlich Pleite.«, S. 77f. 107 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, insbes. S. 227–235. 108 Rühmkorf: Erkenne die Marktlage!, S. 183. 109 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 228f.

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[…] endlich einfach mal zu sagen, was wir wirklich wollen! […] Einen Staat, einen Staat, wo du ohne Kenntnis der Klassiker gar nicht erst in die Reprozone gelangst […]110

110 Rühmkorf: Gedichte, S. 403.

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»A propos, von wem stammt eigentlich das Zitat ›Nach Auschwitz kann man keinen Adorno mehr lesen‹?«

I. Als Theodor W. Adorno im Jahr 1949 aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückkam, traf er auf einen Kulturbetrieb, in dem die Ermordung von Millionen Juden zu einem Zwischenspiel erklärt wurde. Unter diesem Eindruck schrieb er den Essay Kulturkritik und Gesellschaft. Darin steht folgender Satz: »Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber : nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.«1 Dieser Satz, der in den folgenden Jahren zu einem geflügelten Wort wird und als eine der bekanntesten Aussagen über deutsche Literatur gilt, benennt eine nicht aufhebbare Aporie. Für Adorno stehen der Faschismus und Auschwitz für die »letzte Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei« (Kulturkritik und Gesellschaft) im Prozess der Moderne seit der Aufklärung. Auf dem höchsten Stand ihrer Aufgeklärtheit und Zivilisiertheit drohen der Kultur – so Horkheimer/ Adorno in der Dialektik der Aufklärung – der Rückfall in Barbarei, Totalitarismus und die Verdinglichung des Menschen. Nationalsozialismus und Stalinismus hätten bewiesen, wie leicht aufgeklärtes Fortschrittsdenken pervertieren kann. Um das Leiden von Auschwitz nicht zu verklären und damit selbst barbarisch zu werden, muss Kunst verweigern, was sie kann. Auschwitz hat den Boden der Kunst erschüttert, ein ungebrochenes Verhältnis zum Ästhetischen ist nicht mehr möglich. Kunst im herkömmlichen Sinn existiert nicht mehr, es sei denn als barbarische. Der zweite Teil des Satzes »und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben« ist – im Ge1 Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 11–30, hier S. 30.

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gensatz zum ersten Teil – kryptisch. Er sagt aus, dass die Erkenntnis, Kunst nach Auschwitz sei barbarisch, nicht zweifelsfrei sein kann, sie ist ihrerseits als von der Barbarei affiziertes Denken über Kunst nach Auschwitz aporetisch. Adornos Satz kann daher nicht als Verbot oder Verdikt gelten. Der Essay Kulturkritik und Gesellschaft kreist um das Problem: Wie kann Kunst als nicht barbarische noch sein? Und wie kann die Reflexion über sie sein? Nur Kunst als das andere der Barbarei ist für Adorno in der Lage, den grauenvollen Sinn von Auschwitz (das absolut Böse zu sein) zu bannen. Aber es fehlt die Andeutung einer Lösung; die Zweifel überwiegen im Essay die Zuversicht – darin spiegelt sich die Verbitterung des Autors über die wiederauferstandene Kultur in Deutschland. Der Satz über Gedichte nach Auschwitz hatte in den folgenden Jahrzehnten eine besondere Wirkungsgeschichte.2 Man ließ seine zweite, schwer verständliche Hälfte weg und verstümmelte ihn daher. Die erste Satzhälfte wiederum – »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« – wollte man als Verdikt verstehen, gegen das es zu opponieren und das es zu widerlegen galt. So entstand eine ignorante Argumentation: »Der große Philosoph A. hat zwar gesagt, nach Auschwitz dürfe bzw. könne man keine Gedichte mehr schreiben, die Schriftsteller nach 1945 haben ihn jedoch widerlegt.«3 Der Satz des jüdischen Remigranten Adorno hatte offenbar den nervösen Punkt getroffen; er wurde zur Provokation für eine Kultur, die Auschwitz hervorgebracht hatte und nun ohne Auschwitz wiedererstehen wollte. Nicht erkannt (oder verdrängt) wurden die für Adornos Philosophie und Kulturkritik zentrale Dialektik von Kultur und Barbarei wie sein konzentrisches, prozesshaftes Denken. Dieses Denken will kein Ergebnis produzieren und ganz sicher kein stillgestelltes Verdikt, sondern eher Möglichkeiten aufzeigen und Denk- und Gestaltungsprozesse in Gang bringen. In diesem Sinne sind auch Adornos weitere Reflexionen zu seinem Satz aus Kulturkritik und Gesellschaft und zu einer nicht-barbarischen Kunst nach Auschwitz zu verstehen. Seine mehreren Klarstellungen und auch seine Zurücknahmen reagieren auf die sich ändernden Diskussionsprozesse in Deutschland während der 50er und 60er Jahre. Die beschriebene Geste des Widerlegens von Adornos Satz findet sich seit den späten 50ern auch bei den sogenannten ›engagierten‹ Dichtern wie Enzensberger, Andersch, Böll, Hildesheimer und Grass. Besonders die Todesfuge wird als ›Beweis‹ gegen Adorno ins Feld geführt: Lyrik nach und sogar über Auschwitz 2 Vgl. zum Folgenden Peter Stein: »Darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.« (Adorno). Widerruf eines Verdikts? Ein Zitat und seine Verkürzung, in: Weimarer Beiträge 42.4 (1996), S. 485–508. 3 Ebd., S. 491.

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sei, wie Celan gezeigt habe, möglich. Als Anfang der 60er Jahre unter dem Eindruck der Eichmann- und Auschwitz-Prozesse eine neue kritische Diskussion über die NS-Verbrechen und die Nachkriegskultur entsteht, schreibt Adorno seinen Essay Engagement (1962),4 in dem er die Frage nach der Legitimation und nach der Leistung von engagierter Literatur stellt. Auch die neue engagierte Literatur (Brecht, Sartre, Hochhuths Der Stellvertreter, Weiss’ Die Ermittlung) sieht er der Dialektik von Kultur und Barbarei unterworfen, auch sie ist für ihn barbarisch. Sie stellt für ihn keine Kunst dar, denn die Kunst dürfe sich nicht gebärden, als ob sie den Menschen helfe. Auch die engagierte Literatur habe ein heimliches Einverständnis mit dem, was sie kritisiere. Für Adorno darf Kunst kein Vergessen dulden, sie darf aber das Leiden von Auschwitz auch nicht (als geglücktes Kunstwerk) in Kunstgestalt verklären. Erst Mitte der 1960er Jahre findet die Erkenntnis der aporetischen Einheit von Kultur und Barbarei in Adornos provozierendem Satz langsam Eingang in die literaturkritische Reflexion. Hans Mayer schreibt 1967: »Es ist ein Todesgedanke, nach Auschwitz auf Poesie zu verzichten. Die Absage muß gelten einer Literatur, worin Auschwitz als Schock nicht vorhanden ist.«5 Und Peter Szondi bemerkt 1971 in seinen Celan-Studien: »Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.«6 Als in den späten 60ern die Debatten zunehmend um die Funktion von Kunst und Kultur im kapitalistischen System kreisen, werden die Klagen über die politische Harmlosigkeit der Kultur lauter. Immer nachdrücklicher verlangt man von der Kunst das offene politische Engagement. Adorno opponiert gegen diese Tendenzen – nicht zuletzt mit seiner Fragment gebliebenen Ästhetischen Theorie, die in diesen politisch erregten Zeiten ein Statement ist. Adorno fühlt sich genötigt zur Abgrenzung von denjenigen, welche die Aufhebung der Kunst fordern. Auch in der Ästhetischen Theorie kreisen seine Reflexionen um die Frage nach einer authentischen Kunst jenseits der Dialektik von Kultur und Barbarei. In seinem Essay Die Kunst und die Künste (1966) schreibt er : »Während die Situation Kunst nicht mehr zuläßt – darauf zielte der Satz über die Unmöglichkeit von Gedichten nach Auschwitz –, bedarf sie doch ihrer.«7 4 Theodor W. Adorno: Engagement, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1974, S. 409–430. 5 Hans Mayer: Deutsche Literatur seit Thomas Mann, in: ders.: Zur deutschen Literatur der Zeit. Zusammenhänge, Schriftsteller, Bücher, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 362 (zit. bei Stein: »Darum mag falsch gewesen sein«, S. 497). 6 Peter Szondi: Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts, in: ders.: Schriften II, Frankfurt a. M. 1978, S. 384 (zit. bei Stein: »Darum mag falsch gewesen sein«, S. 497). 7 Theodor W. Adorno: Die Kunst und die Künste, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 432–453, hier S. 452 (zit. bei Stein: »Darum mag falsch gewesen sein«, S. 499).

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II. In der unüberschaubaren Zahl von Reaktionen auf Adornos Satz über Gedichte nach Auschwitz nimmt diejenige von Peter Rühmkorf eine besondere Position ein.8 Wie immer jenseits des Mainstreams, geht es Rühmkorf nicht (wie den meisten seiner Kollegen) um eine Widerlegung des angeblichen Schreibverbotes. In seinem Essay Einige Aussichten für Lyrik,9 der 1963 in der Festschrift zu Adornos 60. Geburtstag erscheint, bezieht sich Rühmkorf weniger auf die erste als vielmehr auf die zweite, bis dahin ignorierte Hälfte von Adornos AuschwitzSatz: »und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben«. Die in dieser Formulierung ausgedrückte Zweifelhaftigkeit des eigenen Denkens, das bereits als von Ideologie und Barbarei beeinflusst gelten kann, setzt Rühmkorf in seinem Essay in eine sich selbst permanent infragestellende Argumentationsbewegung um. So schreibt er etwa: »Wir halten hier inne und überprüfen unsere Stellungnahme. Sind wir bereits gefangen in landläufige, also herrschende Ansichten?«10 Und an anderer Stelle heißt es: »Hier wäre abermals Grund, zu pausieren und rückzufragen, ob dieser Stand der Dinge und Gedanken bereits auf Gegenzwänge und Ausführungsbestimmungen zu schließen erlaubt.«11 Auf Auschwitz und den Faschismus bezieht sich Rühmkorf nur implizit. Seine Reflexionen schließen eng an Adornos Überlegungen in Kulturkritik und Gesellschaft an und haben doch eine dezidiert andere Orientierung – sie sind weniger vergangenheits- als zukunftsorientiert und sie bemühen sich, konstruktiv zu sein. Dass Rühmkorf dabei behutsam vorgeht, zeigt der Titel seines Essays (Einige Aussichten für Lyrik); die von Adorno markierte Zäsur Auschwitz nimmt er ernst, denn seine Überlegungen über die Zukunft des Gedichts beginnen bei Null: »Was soll ein Gedicht? Was will es? Kann es?«12 fragt er zweimal in seinem Essay. Adorno wird Rühmkorf in seinem Dankesbrief vom 13. Februar 1964 schreiben, der Lyriker habe ihm mit dem Festschriftbeitrag »eine unendliche Freude bereitet«. Beide, so Adorno, würden gedanklich »nur um Nuancen dif-

8 Vgl. hierzu die Anthologie von Petra Kiedaisch (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Stuttgart 1995. 9 Peter Rühmkorf: Einige Aussichten für Lyrik, in: ders.: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, hg. von Hartmut Steinecke, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 83–101. 10 Ebd., S. 87. 11 Ebd., S. 88. 12 Ebd., S. 83 und 93 (hier variierend: »Was soll ein Gedicht? Was will es, kann es und so weiter?«).

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ferieren«,13 und zwar in dem Punkt der freiwilligen Selbstkontrolle der Kunst. Tatsächlich sieht Rühmkorf die Selbstreflexivität der Kunst als permanenten Anspruch ohne Gewissheiten und Sicherheiten, die Kunst also in einer beständigen Existenzkrise – in Adornos Worten an Rühmkorf: »Sie schreiben, die freiwillige Selbstkontrolle der Kunst geht folgerichtig über in die freiwillige Selbstauflösung«. Adorno besteht dagegen darauf, dass die Kunst »auf sich und ihre Verfahrensweisen reflektieren [muss]«.14 Dass Rühmkorf in seinem raffiniert komponierten Essay dagegen Adornos Konzeption – und vor allem seinem Satz über Auschwitz – eine neue, verhalten zukunftsorientierte Tendenz gibt, und zwar gerade, indem er Adornos Dialektik in Kulturkritik und Gesellschaft weiter radikalisiert, das bemerkt der Philosoph nicht oder er übersieht es bewusst. Tatsächlich ist in Einige Aussichten für Lyrik der von Adorno in seinem Brief hervorgehobene Gedanke, die Kunst ließe sich nicht für Programme und Theorien in Dienst nehmen, zentral. Wo man es versuche, so Rühmkorf, versage und entziehe sie sich. Er zeigt dies beispielhaft an Prinzipien der Freiheit und der Autonomie der Kunst, die er beide dialektisch als Ideologeme entlarvt. Hier schließt er nachdrücklich an die vernachlässigte zweite Hälfte von Adornos berühmtem Satz an, die davon spricht, dass eine Aussage über Gedichte als von der Barbarei affiziertes Denken über Kunst – als ›angefressene Erkenntnis‹ – angezweifelt werden muss. Freiheit, so Rühmkorf in Einige Aussichten für Lyrik, habe hat »einen entscheidenden Haken«: sie erlaube nur so viel Bewegung, wie erlaubt ist.15 Freiheit ist nur scheinbar frei, sie ist nie absolut, sondern immer abhängig von den jeweiligen politischen Verhältnissen und Machtinstanzen. Selbst wenn das alles »nun nach Druck und Dirigismus überhaupt nicht aus[sah]«, sei die behauptete Freiheit doch »kaum anders denn als Richtung der Herrschenden zu bezeichnen«.16 Zwänge und Repressionen können in scheinbarer Freiheit bestens gedeihen; durch Freiheit kann Unfreiheit entstehen.17 »Auch ein Gedicht, dem es um nichts so heftig wie um Freiheit geht, kann von den bestehenden Formen der Dienstbarkeit nicht blindlings abstrahieren,«18 schreibt Rühmkorf. Deshalb muss Freiheit für die Kunst beständig hinterfragt werden; sie muss immer 13 14 15 16 17

Ebd., S. 152. Ebd. Ebd., S. 88. Ebd., S. 89. »Unter allgemeinen Ehrenbezeigungen wurden die Grundrechte in den Ruhestand versetzt, die Meinungsunterschiede eingeebnet, die Splittergruppen ausgeklauselt, die wenigen liberalen Querköpfe außer Betrieb gesetzt und Dichter, wie selten sie auch die verbriefte Freiheit wahrnehmen als Recht nicht zu Beifallskundgebungen, sondern zum Widerspruch, diffamiert, diffamiert, diffamiert.« Ebd., S. 95. 18 Ebd., S. 94.

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wieder neu ermittelt und falsche, dogmatische Freiheit muss aufgedeckt werden – ein schwieriger Prozess, denn die wahre Freiheit liegt erst »jenseits der akkreditierten Regelsysteme und Schnittmusterbogen«.19 In der Poesie zeigt sich deutlich, wie sich die Vorstellungen von Freiheit gewandelt haben, wie die Anstöße von einst zu Bremsen geworden sind. Deshalb müssen alle ästhetischen Konventionen neu reflektiert und überprüft werden: »Die Frage nach Wert und Spannweite der Freiheit ist für die Poesie konstitutiv.«20 Auch Autonomie der Kunst bedeute nicht, wie lange geglaubt wurde, ihre Unabhängigkeit und Freiheit, im Gegenteil: Autonomie werde zwangsläufig zu »Hemmschuh und Maulkorb« der Kunst.21 Weder das Kunstwerk noch sein Schöpfer noch sein Betrachter seien jemals unabhängig und autonom, gerade die angenommene Autonomie sei es, welche zu Vereinnahmungen und Abhängigkeiten führe: […] ein Kunstwerk, das die Bedingungen, zu denen es angetreten, kritisch zu reflektieren sich versagt, scheint ganz besonders hilflos in die Umstände verstrickt, und ein Poet, der sich für schlechthin voraussetzungslos erachtet, ist meist der erste Diener und das bewußtseinsblinde Opfer von Vorausgesetztem.22

Deshalb ist für Rühmkorf die Rede von Autonomie, ist ihr Anspruch immer auch politisch; dieser Einsicht wird sich selbst ein »politischen Gedankengängen rundum abgeneigter Vollautonomer«23 nicht entziehen können – »einer, der von vornherein auf Kunst pocht als eine fix gesetzte Antithese zur Gesellschaft, [erweist] sich bereits vergesellschaftet«.24 Dass Kunst sich durch die Trennung vom Politischen und Gesellschaftspolitischen unabhängig und autonom mache, ist falsch; diese Überzeugung hat Rühmkorf – von Gottfried Benn her kommend – erst durch Adornos Schriften gewonnen, wie er in einem Gespräch mit Manfred Durzak aus den späten 80er Jahren erläutert: Das geschlossene, von der Welt abgeschlossene und nur in sich begründete Kunstwerk, wie es Benn in den fünfziger Jahren noch und noch propagiert hatte […], faßte sich nun noch mal neu in einem Begriff von ›Autonomie‹, der auf nichts Besseres hinauslief als Intransigenz. Ich sah es noch fataler. Während Benn immer nur von ›Gegenwelt‹ gesprochen hatte, lief es bei Adorno auf einen Anschein von ›Widerstand‹ hinaus. Während Benn das Wort ›hermetisch‹ immer gleichzeitig mit einem solchen Hauch von apart oder separat versehen hatte, las sich ›Autonomie‹ bei Adorno auf einmal als gesellschaftlicher Verweigerungsgestus. Das schien mir neu und gefährlich, und das 19 20 21 22 23 24

Ebd., S. 97. Ebd., S. 95. Ebd., S. 84. Ebd. Ebd., S. 87. Ebd., S. 93.

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habe ich dem partiell schon von mir bewunderten Exegeten dann zu seinem 65. Geburtstag nahezubringen versucht.25

Rühmkorfs dezidierte Positionen zur Freiheit und Autonomie der Poesie zeigen, dass der Titel seines Geburtstags-Essays für Theodor W. Adorno, Einige Aussichten für Lyrik, gehörig understated ist. Der Text aus dem Jahr 1963 entwickelt aus Adornos Gedanken die Basis einer dialektischen Poetologie, die auf zwei Prinzipien beruht: der Selbstreflexivität und dem Bezug zur gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit. Nur die Selbstreflexivität als Prozess, in dem das lyrische Ich und das Gedicht sich selbst infrage stellen und sich ihrer selbst versichern, kann die Kunst vor Vereinnahmung schützen. Nur permanente kritische Selbstreflexion verhindert, dass Kunst sich instrumentalisieren lässt; nur Selbstreflexion ermöglicht es, sich gegen das Bestehende zu stellen, der Uniformität zu widersprechen. Die Selbstreflexivität gibt Schutz vor einer Mythologisierung der Vergangenheit und verhindert eine Verstetigung der Ausdrucksformen. Rühmkorf ist überzeugt, dass sich die Aufgaben von Gedichten permanent neu stellen – immer »nach Maßgabe der gesellschaftlichen Voraussetzungen«.26 Daher muss sich Lyrik ständig ändern. Zeitlose Normen und Standards für Gedichte gibt es nicht, wohl aber »die Lüge vom Bleibenden, das angeblich die Dichter stiften«.27 Die angebliche Zeitlosigkeit ist das Problem, denn »ein Jemand, der ohne Zeit auskommen zu können glaubt, [marschiert] bereits kräftig mit der Zeit«.28 Eine zweite Notwendigkeit für Lyrik liegt in dem Bezug auf gesellschaftspolitische Realitäten, sie impliziert eine Absage an ästhetische Autonomie. Rühmkorf schreibt: Wo nämlich Poesie sich kategorisch abschließt von allem, was Gesellschaft heißt, und ihre eigene gesellschaftliche Rolle zu reflektieren sich versagt, da wird sie mit Sicherheit der Politik aufsitzen. Wo sie sich frag- und zweifellos im Besitze uneingeschränkter Freiheit wähnt, da ist ihre Autonomie am ehesten in Gefahr. Wo sie sich ihre Position als schönes Abseits aufschwatzen, wo sie sich blind für autonom verkaufen läßt, da leistet sie bereits Hand- und Spanndienste.29

Selbstreflexivität und der Bezug zur politischen Realität bilden die Voraussetzungen für Rühmkorfs typische lyrische Stilmerkmale: eine charakteristische Vielstimmigkeit und Vielfalt stilistischer Register und lexikalischer Repertoires, 25 Manfred Durzak: Ist Rühmkorf dabei, ein Klassiker zu werden? Ein Gespräch mit Peter Rühmkorf, in: Manfred Durzak, Hartmut Steinecke (Hg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 321–364, hier S. 347f. 26 Rühmkorf: Einige Aussichten für Lyrik, S. 83. 27 Ebd., S. 92. 28 Ebd., S. 93. 29 Ebd., S. 91f.

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die dialektische Behandlung von Elementen der Tradition und Schreibweisen der Ironie und Parodie, die die Banalität des Feierlich-Deklamatorischen decouvrieren. Rühmkorf wendet Adornos aporetischen Satz von der Poesie nach Auschwitz in einen konstruktiven poetologischen Impuls für die eigene lyrische Arbeit. Dass dies möglich ist, liegt an der kompromisslos weiter fortgetriebenen Dialektik, dem von Adorno her stammenden Gesetz der Ambivalenz, wie Rühmkorf es nennt. Auch Herbert Uerlings betont in seiner immer noch maßgeblichen Monographie über Rühmkorfs Lyrik nachdrücklich deren Verwurzelung im Adorno’schen Denken.30 Rühmkorf denkt – konsequenter als Adorno – das Wesen der Kunst,31 ihre Ziele und Bedingungen, den Künstler, den Rezipienten und seinen Reflexionsprozess über Kunst, ja selbst das lyrische Ich dialektisch.32 Alle (scheinbaren, angeblichen) Sicherheiten müssen immer wieder und auf ’s Neue erprobt werden, »alle Grundprinzipien und Ecktheoreme der Moderne [haben] noch einmal zum Maßnehmen anzutreten«.33 Rühmkorf wendet Adornos stillgestellte kulturkritische Aporien, seine »Enthaltsamkeitsmethode«,34 in einen produktiven Prozess, in ein progressives Dennoch!, bei dem es freilich keine Sicherheiten und kein »Sesamwort«35 gibt: Ich glaube aber auch – und hier bringt Dialektik Leben in die erstarrten Formationen – daß, was für sicher und abgemacht gelten muß, nicht freigesprochen werden kann von neuerlicher Erprobung. Wir haben es ja gesehen: Eroberungen von einst, Vorstöße und Gewaltsamkeiten, wie sie sich mit der Zeit zu Bremsvorrichtungen verkehrten. Wie ehemalige Bewußtseinsanstöße zu Zwangsfixierungen wurden und Ausfallstraßen zu Sackgassen. […] Zwar ist nicht zu leugnen, daß Poesie, auch wo sie der Gesellschaft entgegentritt als ihre Herausforderung, selber bereits als Kind der Not erkennbar wird, gegen die sie sich wendet; aber wo anders läge denn Freiheit, wenn nicht in dem Versuch, sich nicht abzufinden. Wenn nicht in dem Bemühen, die Zwangsfixierungen zu durchbrechen 30 Herbert Uerlings: Die Gedichte Peter Rühmkorfs. Subjektivität und Wirklichkeitserfahrung in der Lyrik, Bonn 1984 (Literatur und Wirklichkeit, 24). 31 »Ja, wo sie gewaltsam nach vorn geschoben wurde, da war es offensichtlich, daß sie sich versagte. Wo man sie drückte, da gab sie den Geist auf. Wo sie auf die Höhe der Zeit gebracht werden sollte, da begann sie zu schimmeln. Wo man sie benutzte, anwandte, einspannte, gebrauchte, da war sie mißbraucht im Wortumdrehen.« Rühmkorf: Einige Aussichten für Lyrik, S. 87f. 32 Acht Jahre nach Einige Aussichten für Lyrik, in Kein Apolloprogramm für Lyrik, schreibt Rühmkorf über Adornos Auschwitz-Satz und seine Wirkung: »Der undialektischen Verweigerungskampagne folgte der gleich undialektische Exodus der Kunst auf den Markt und ins Showbusiness.« In: ders.: Schachtelhalme, S. 111–120, hier : S. 113. 33 Rühmkorf: Einige Aussichten für Lyrik, S. 94. 34 Rühmkorf: Kein Apolloprogramm für Lyrik, S. 113. 35 Rühmkorf: Einige Aussichten für Lyrik, S. 100.

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und mit ihnen die Bannmeile all der geläufigen Apriori und Vorkontrollen, mit denen eine der Veränderung grundabholde Gesellschaft auch ihr, der Kunst, einen Platz im Bestehenden zuweisen möchte. In diesem Versuch allein liegt ihre Chance. An dieses Wagnis heftet sich die Hoffnung auf Progreß.36

Für Rühmkorf kann nur die Kunst selbst einen Weg jenseits der Dialektik von Kultur und Barbarei weisen und vor der Verdinglichung des Menschen bewahren. Er verbindet nicht Hoffnung, sondern Gewissheit mit dem, was Kunst vermag und verkneift sich eine Spitze gegen Adorno nicht: Was ihr [der Poesie. B. P.] angeblich verwehrt sei, was sie nicht könne, nicht hoffen dürfe, ist ihr von andrer Seite genügend lange dargetan worden. So soll denn jetzt von ihrem Vermögen gesprochen werden. Auch von dem, was ihr zuzutrauen ist. Auch von dem, was sie leisten kann. Auch von dem, was ohne das Gedicht keine Hoffnung mehr hat, benannt zu werden.37

III. Adorno bleibt auch nach den 60er Jahren die unsichtbare Autorität für Rühmkorfs Schriften, selten namentlich erwähnt, und wenn, dann mit freundlichironischem Unterton: »Ich bin ja nicht Adorno-Schüler im eigentlichen Sinn«, bemerkt Rühmkorf im Gespräch mit Manfred Durzak.38 Über 20 Jahre nach seinem Essay für Adorno kommt Rühmkorf Mitte der 80er Jahre erneut und explizit auf Adornos berühmten Satz über Gedichte nach Auschwitz zu sprechen – in einem Gedicht mit dem Titel Vom Einzelnen ins Tausendste.39 »A propos, von wem stammt eigentlich das Zitat j ‹Nach Auschwitz kann man keinen Adorno mehr lesen›?«,40 heißt es dort, Adornos Satz in eine Kontrafaktur wendend. Das sieben Seiten lange Gedicht thematisiert die unmittelbare weltpolitische Lage seiner Entstehungszeit, den Höhepunkt des Kalten Krieges. Der Sprecher zeigt sich tief verzweifelt, seine Verachtung, sein Ekel und Zorn richten sich gegen seine gewöhnlichen Mitmenschen41 – »Lauter kleine Kontaktanzeigentypen, j deren Lebenslust im Zweifelsfall auch über Leichen geht« – und vor allem gegen Politiker, die Kriege führen, um unsterblich zu werden: »er weiß, wen er ungestraft j abmurksen kann, j der hat Anrecht auf die Erinnerung. j […] wenn er die Hände nur genügend lang in Blut taucht, j ist er kenntlich für die Jahr36 37 38 39

Ebd., S. 94, 97. Ebd., S. 97f. Durzak: Ist Rühmkorf dabei, ein Klassiker zu werden?, S. 347. Peter Rühmkorf: Vom Einzelnen ins Tausendste, in: ders.: Gedichte, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 410–417, 528. 40 Ebd., S. 412. 41 Im folgenden zitiere ich ebd., S. 410f.

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tausende, j als großer Schlachtenmaxe […].« Beide, Alltagsmenschen und »[d]iese menschlich völlig erkalteten Militärs«, sind – daran lässt der Sprecher keinen Zweifel – vom selben Typus, der »ein Leben lang in Bildmitte […] erscheinen« will, und zwar auf Kosten anderer. »Die Guten werden nicht mehr«, stellt der Sprecher fest. Seine Verzweiflung ist umso heftiger, als er – ein Kriegskind – mit dem Neuanfang Europas nach dem Zweiten Weltkrieg die größten Hoffnungen verband: »Anno Siemundvierzig, als wir glaubten j der Neueröffnung eines Sterns beizuwohnen«. Nun, 40 Jahre später, steht die Welt vor einem Atomkrieg. Im Vergleich erscheint der Kalte Krieg wie eine gigantische Überbietung der Nazi-Ära: »Wär doch gelacht, wenn der Weltkrieg-I-Gefreite j mit der Klosettbürste im Gesicht j nicht mit irgendwas zu überbieten wäre.« Die Absurdität des atomaren Wettrüstens manifestiert sich bereits in der zeitgenössischen Nomenklatur : »Anti-Antiraketen-Raketen j Killersatelliten-Killer j Laserunempfindliche Röntgenlaser –«. Die Nazi-Gigantomanie wird durch den megalomanischen Anspruch der Atompolitiker, »Herr Weinberger« wird namentlich erwähnt, noch übertroffen: »Licht muß her […] j Diese Typen halten die Milchstraße sonst noch für ihre j privatkapitalistische Pißrinne«. Dagegen ist der Sprecher ein Winzling, der aus der Froschperspektive mit seinem »Schreibmaschinengewehrchen« gegen »diese Typen« einen lächerlichen und aussichtslosen Kampf zu kämpfen scheint: Ich tipp mir doch wirklich schon das Farbband fusselig seit – wie soll ich sagen – Anno Siemundvierzig, als wir glaubten der Neueröffnung eines Sterns beizuwohnen: mein mechanisches Schreibmaschinengewehrchen rattattattat und was ist? Die Guten werden nicht mehr und die Schlechten legen in Rockwell-International-Aktien an.

Zur tiefen Depression des Sprechers über den status quo – »Ach du meine Fresse, die Welt!« – trägt auch der Zustand der Kunst bei, denn von ihr ist in dieser Situation keine Hoffnung zu erwarten. Daher kann der Sprecher die Künstler nur mit höhnischer Ironie ansprechen: »Grüß-euch-Gott-auch, ihr goldigen Künstlersleut, j na wie geht’s, na wie steht’s?«42 Bitter konstatiert er, dass die Künstler schweigen – »Bißchen ruhig geworden in Endzeitkreisen j […] Eine Stille wie kurz vor der Hinrichtung« – und dass die Dichter sich von ihrem Publikum zurückziehen: »Dichter zum Anfassen, ah, auch das noch,« kommentiert er ironisch. Sarkastisch spricht er davon, wie sie lieber unter sich 42 Im folgenden zitiere ich ebd., S. 412.

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bleiben und sich selbstgefällig in ihrer Larmoyanz und ihrem Unvermögen bestärken, mit den Mitteln der Kunst zur aktuellen Weltsituation Stellung zu beziehen: »In Berlin haben sie neulich sogar sone Art von j Dingsda verfaßt, sie wollten den Verband (VS) j r e l i t e r a r i s i e re n – j (Also wohl sich in Zukunft ihre Durchhängeverse j im Kollegenkreis vorlesen –: j Tiefsinn bis die Garderobiere heult –)«. Vom Einzelnen ins Tausendste ist der Gattung nach ein sogenanntes Langes Gedicht; ihre typischen Qualitäten sind politisches Engagement und ein enger Bezug auf das Publikum – also genau diejenigen Eigenschaften, die der Sprecher bei den von ihm angeredeten Dichtern vermisst. Rühmkorf schätzt damals diese Gedichtform, die den herkömmlichen Standards von Lyrik – formaler Geschlossenheit, monologischer Sprechsituation, Statik – widerspricht; in Einmalig wie wir alle, dem Band, in dem das vorliegende Gedicht abgedruckt ist, steht auch ein Essay mit dem Titel Dem ›Langen Gedicht‹ ein langes Leben!43 Mit seiner großen Freiheit in der Form erlaube das Lange Gedicht Spontaneität und Unmittelbarkeit, schreibt Rühmkorf, in seiner Vielstimmigkeit ähnele es einem Film (»Breitwandfresko«44) oder Theaterstück (»Theatrum mundi in der Nußschale«45); für politische Themen sei die junge (etwa 25 Jahre alte) lyrische Gattung in besonderer Weise geeignet. Auch erreiche sie das Publikum durch direkte Ansprache, stelle Dialogizität her, bringe den Sprecher mit seinen Lesern und Hörern zusammen: »aus der geistigen Isozelle heraus und auf ein mitgedachtes Publikum zu«.46 Dabei sei der Eindruck der Beliebigkeit und Kunstlosigkeit vordergründig: Beim Langen Gedicht seien in Wahrheit »gesteigerte[] artistische[] Aufwände[]«47 nötig, so Rühmkorf. Besonders reizvoll sei in diesem »Gedankendrama«48 die Möglichkeit, Stimmen und Figuren aus gedanklichen Widersprüchen überhaupt erst zu bilden und zu schaffen: »Erst das lange Gedicht eröffnet jenen hinreichend weiten Bewegungsspielraum, in dem sich unsere ressentimentgeladenen Widersprüche als dialektisch miteinander verkehrende dramatis personae entwickeln lassen.«49 Das Besondere sei dabei, dass auch »das Subjekt des Gedichts«, der Sprecher, im Gedicht erst entstehe, dass das Publikum ihm sozusagen dabei zuschauen könne: Wichtiger scheint mir da schon, daß das Subjekt des Gedichts sich nicht von Anfang an als vorgefestigte Persönlichkeit vor uns aufbaut, vielmehr im Lauf der lyrisch-dra43 Peter Rühmkorf: Dem ›Langen Gedicht‹ ein langes Leben! – Walter Höllerer zum 65. Geburtstag –, in: ders.: Einmalig wie wir alle, S. 106–111. 44 Ebd., S. 106. 45 Ebd., S. 107. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 108. 48 Ebd. 49 Ebd.

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matischen Auseinandersetzung sich erst heranbildet, aus unterschiedlich verspannten Einzelteilen sich zusammensetzt, im aktuellen Durchgang sich verfaßt […].50

Dass das Subjekt sich im Text »vor uns […] erst heranbildet«, ist für Vom Einzelnen ins Tausendste konstitutiv ; zugleich wird es zunehmend deutlicher (und mit ausdrücklicher Bestätigung am Schluss) als Persona-Maske Rühmkorfs erkennbar. Seine höhnische Verzweiflung schlägt in der zweiten Hälfte des Textes um – ein anderer Ton erklingt. Vulgarismen und Fäkalwörter wie auf den ersten drei Seiten – »du meine Fresse«, »kackepiepe«, »Pißrinne«, »Klosettbürste im Gesicht«, »Scheiß Kunst« – fehlen hier, stattdessen finden sich bildungssprachliche, typisch lyrische und religiöse Wendungen, die umgekehrt im ersten Teil fehlen: »O He i l i g He r z ! «, »und was w i r nicht abwenden jetzt, j das wird sich gegen uns kehren«, »was nur dir die Seele anrührt«, »I h r a b e r s a g t « .51 Ausdrücklich sagt der Sprecher am Ende der Verzweiflung ab: »Nein, in Verzweiflung läßt sich gar nichts fassen, j da bleibt uns bald nicht einmal d i e .«52 Zwischen diesen beiden Sprecherhaltungen liegt, etwa in der Mitte des Gedichts, eine Passage mit 16 ins Deutsche übersetzten Originalzitaten Ronald Reagans;53 sie werden eingeleitet mit der Formulierung: »Präsident der Vereinigten Staaten himself im allerhöchsten j Reklameeinsatz«.54 Die Passage reiht typische pathetische Sätze Reagans aneinander, in denen eine größenwahnsinnige Ideologie formuliert wird, die sich als Lehre der Freiheit und des Fortschritts ausgibt. Das Wort Freiheit kommt in beinahe jedem Satz vor: »›Wir werden einen Dom der Freiheit über uns j errichten und wir werden die Zukunft glänzend sehen‹«. »›Die vorderste Grenze der Freiheit liegt in Berlin‹«; »›Zinnen der Freiheit, gegen das Reich des Bösen j und der Finsternis‹«. Das Bild Reagans von sich selbst ist das eines Erwählten (»›In unsere Hände hat Gott das Schicksal j einer bedrängten Menschheit gelegt‹«), eines gottgleichen Führers (»›Es steht in j unserer Macht, die Welt noch einmal von vorn beginnen j zu lassen‹«). Seine Äußerungen versuchen zu manipulieren und zu suggerieren (»Reklameeinsatz«), sie wollen die Ängste der Zuhörer schüren und ihre Hoffnungen wecken: »›S i e können Ihren Träumen bis zu den Sternen folgen‹«; »›Kommunismus ist wie die Masern; sie treten immer wieder auf, j und ohne Gegengift können sie sogar tödlich sein‹«.55 Die Reihe von Reagan-Zitaten endet 50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 110. Im folgenden zitiere ich Rühmkorf: Vom Einzelnen ins Tausendste, S. 414, 417. Ebd., S. 415. Ebd., S. 413f. Ebd., S. 413. Auch in seiner (ebenfalls in Einmalig wie wir alle abgedruckten) Rede vor Ärzten im Jahr 1985 betont Rühmkorf die »›Angstmacherei‹« der »Krisengewinnler des Kalten Krieges«, »die auf Unfrieden, Spannung, Angst und Friedlosigkeit von Berufs wegen angewiesen sind«. Peter Rühmkorf: Optimismus, der über Leichen geht … Rede zum 5. Medizinischen Kongreß

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mit dem berühmten Witz des Präsidenten vom 11. August 1984, der vor seiner wöchentlichen Live-Radioansprache beim Mikrofontest sagte: »My fellow Americans, I’m pleased to tell you today that I’ve signed legislation that will outlaw Russia forever. We begin bombing in five minutes.« In Rühmkorfs Übersetzung heißt dies: »›Es ist mir deshalb eine ganz j besondere Genugtuung, Ihnen heute bestätigen zu können, j daß ich soeben ein Gesetz unterzeichnet habe, j das die Sowjetunion für alle Zeiten ächtet. j Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten …‹«.56 Dieser zynische Scherz mit der realen Möglichkeit, durch einen Atomkrieg die Menschheit auszulöschen und unermessliches Leid hervorzubringen, markiert den Höhepunkt und auch die Peripetie des Gedichts Vom Einzelnen ins Tausendste. Der Sprecher wendet sich danach an »Sie paar unmaßgebliche Peoples«57 und ruft diese zum Handeln auf: Nur dasitzen so, wie eine alte pessimistische Puppe (Der Zucker der Welt ist erschöpft, jetzt kommt endgültig der Schwefelgeschmack) ah, das bringt nichts. Da kannst du auch gleich auf den nächsten Kinnhaken warten, Daß er dich wieder nach oben reißt – Nein, in Verzweiflung läßt sich gar nichts fassen, da bleibt uns bald nicht einmal d i e . Wer das Herz zu handeln hat, i m m e r l o s , i m m e r z u ! 58

Bruchstückhaft kommt dem Sprecher Hölderlins O heilig Herz der Völker, o Vaterland in den Sinn.59 In der Hymne, die 1799 entstand und den Titel Gesang des Deutschen bekam, wird Deutschland direkt angesprochen – als an Kultur und Geist überreiches, aber in der Gegenwart unterdrücktes und ausgebeutetes Land, das aufgefordert wird, seine Passivität zu überwinden und als neues Hellas wieder zu erstehen, um unter den Völkern den Rang einzunehmen, der ihm zukommt. Rühmkorf hatte 1962 eine Variation auf »Gesang des Deutschen« von Friedrich Hölderlin veröffentlicht,60 in der er, wie Hölderlin in seiner Hymne, Deutschland direkt adressiert – als Land mit einer tief krisenhaften Identität,

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zur Verhinderung des Atomkrieges, Mainz 1985, in: ders.: Einmalig wie wir alle, S. 70–80, hier S. 75. Vgl. hierzu auch Wiebke Junk: Fünf Minuten bis zum dritten Weltkrieg, in: Spiegel-online 10. 8. 2009 http://www.spiegel.de/einestages/spassvogel-ronald-reagan-a-948428.html (Zugriff 25. 2. 2015). Rühmkorf: Vom Einzelnen ins Tausendste, S. 414. Ebd., S. 415. Ebd., S. 414. Rühmkorf: Gedichte, S. 233–235.

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verführt durch falsche Ideale wie Militarismus und Materialismus. Auch in Vom Einzelnen ins Tausendste redet Rühmkorf sein Vaterland an, und zwar das ganze, ungeteilte Deutschland: »o Vaterland, j mit allerhand bewahrenswerten Freiburgermünstern j und Magdeburgerdomen immer noch j und liebenswerten Seiten beiderseits der Elbe, j ich glaube da mußt du wirklich mal ein Machtwort j in eigener Sache sprechen«.61 Wie während der Nazi-Diktatur ist Deutschland auch jetzt der Angelpunkt für die vom Untergang bedrohte Welt (»Weil gerade hier – und wer weiß, wo sonst noch einmal j derart wacklig-widersprüchlich – d i e We l t j – wie lange noch? – in ihren rostigen Angeln hängt«), deshalb sind die Begriffe »Erstschlag, j Blitzkrieg, Endsieg«,62 wie der Sprecher betont, Mitte der 80er Jahre genauso passend wie im Kontext des Zweiten Weltkriegs. Das Lange Gedicht Vom Einzelnen ins Tausendste endet mit dem Szenario eines Jazz & Lyrik-Auftritts mit Wolfgang Schlüter und Michael Naura, die persönlich angesprochen werden, ebenso wie das bei deren Auftritt versammelte Publikum: »überall gute Freundinnen, Freunde«.63 Das Schlusstableau der »ganze[n] Menge Leute unsres Geistes« kontrastiert mit der Misanthropie am Anfang des Gedichts: Doch ne ganze Menge Leute unsres Geistes wieder auf ’m Haufen, oder etwa nicht?! Und überall gute Freundinnen, Freunde, praktisch das ganze Land voll, mit einerseits ihrem Glücksstern klar vor Augen und andererseits auch den politischen Gegner deutlich im Blick, da sollte sich ein einigender Ton doch wohl finden lassen.

Das Gedicht thematisiert sein eigenes Publikum, es gibt dem Sprecher Anlass zur Hoffnung – nicht zuletzt in Hinblick auf politische Veränderungen.64 Anspielungen auf die Pfingstgemeinde und deren gemeinsamen Geist (»was nur dir die Seele anrührt j und die Zunge bewegt«; »Wie Sie unserem Beiheft bitte entnehmen wollen, j findet Auferstehung bei uns auf offener Bühne statt.«) geben einen Ausblick darauf, wie stark die hiervon ausgehende Bewegung vielleicht werden könnte. Vom Unbedeutenden, Kleinen – die »paar unmaßgebliche Peoples« – zur großen Bewegung – »gute Freundinnen, Freunde, j 61 Rühmkorf: Vom Einzelnen ins Tausendste, S. 414. Diese Verse kontrastieren mit Ronald Reagans Empfehlung an die Westdeutschen: »›Anders als bei Ihren Vettern auf der j anderen Seite der Mauer liegt Ihre Zukunft in I h r e n Händen, j S i e können Ihren Träumen bis zu den Sternen folgen‹«. Ebd., S. 413. 62 Ebd., S. 415. 63 Im folgenden zitiere ich ebd., S. 416f. 64 »und was w i r nicht abwenden jetzt, j das wird sich gegen uns kehren.« Ebd., S. 415.

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praktisch das ganze Land voll«; diese Denkfigur liegt auch dem Gedichttitel zugrunde, der eine Redensart – Vom Hundertsten ins Tausendste – überbietet: »Vo m E i n z e l n e n i n s Tau s e n d s t e «. Diese durch Sperrung hervorgehobene Zeile leitet den letzten Abschnitt des Gedichts ein, der von der Dynamik spricht, um die es am Schluss geht. In einer massiven Akkumulation betont diese Schlusspassage emphatisch die Macht des Einzelnen und des Kleinen, ja Winzigen, zu einem großen Strom zu werden: jeder und jede eine halbe Schraubenwindung weiter, kleine paar Meter mehr, Leerzeilen weniger, Lux drauf, Atü dazu, also ein fortwährend weiterwirkendes und am Ende schon gar keinen kompositionstechnisch regelrechten Schluß mehr absehen lassendes ununterbrochenes Anschieben und Mitreißen und Loseisen und Aufhelfen und Fürsprechen und Zulegen und Forttreiben und Beistehen und Eingreifen und Ausschreiten

Diese ausgreifende und unaufhaltsame Bewegung ist die Antwort des Gedichts auf seine eigenen zahlreichen Widersprüche – die der Kunst, der Politik und Geschichte, des Ich. Der Sprecher ist zwar ein »Antikriegsveteran[]« von »Anno Siemundvierzig«, der seit 40 Jahren mit den Waffen der Poesie einen elenden, aussichtslosen Kampf führt, er ist aber auch jemand, der sich im Gedicht »erst heranbildet«, wie Rühmkorf in seinem Essay über das Lange Gedicht schreibt. Die »Auferstehung […] auf offener Bühne« ist auch seine Neuschöpfung und Apotheose als Künstler. Typisch für Rühmkorfs persona-Masken verbinden sich hier Dignität mit Inferioriät. Die Sprecherfigur wird wiederum bestimmt durch die Widersprüche der politischen Geschichte: Einerseits scheint sie sich zu wiederholen65 – im Kalten Krieg spiegelt sich der Wahnsinn des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs –, und doch sprengt die reale Gefahr eines Atomkrieges alle bisherigen historischen Kategorien. Nicht umsonst stellt die unmittelbare Vergegenwärtigung dieser ultimativen Gefahr durch Reagans Scherz über die bevorstehende Bombardierung Russlands die Peripetie des Gedichts dar, diejenige Stelle, an der die politischen und ästhetischen Positionen in ihr Gegenteil umschlagen. Die »Scheiß Kunst« hat zu diesem Schrecken einerseits nichts zu sagen, und doch geht von ihr am Ende eine utopische Bewegung aus. Die im Gedicht gestellte Frage »A propos, von wem stammt eigentlich das Zitat ›Nach Auschwitz kann man keinen Adorno mehr lesen‹?« unterstellt sug65 »Man muß seine Hosen, denke ich in der letzten Zeit immer öfter, j ruhig zehn, zwölf, dreizehn Jahre hängen lassen, j dann kommen sie wieder in Mode – « Ebd., S. 416.

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gestiv, dass auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges Adornos Satz über die Lyrik nach Auschwitz zeitgemäß ist wie nie. Implizit wird auch auf die verfehlte Wirkungsgeschichte des Satzes angespielt; Rühmkorf will Adorno nämlich auf seine Art gelesen wissen: als Gewährsmann einer Forderung nach der größtmöglichen Autorität für Lyrik. Gerade weil die politischen Schrecken und Endzeitszenarien seit Auschwitz alles andere als kleiner geworden sind, ist diese Forderung für ihn am Platz: »Nur dasitzen so, wie eine alte pessimistische Puppe […] ah, das bringt nichts.« In Vom Einzelnen ins Tausendste mit seiner auf Effekt und theatralische Drastik zielenden Sprache, welche die Möglichkeiten des Langen Gedichts ins Extreme treibt, formuliert Rühmkorf eine radikale und utopische Lyrik-Konzeption, die sich in dieser Form im Adorno-Essay von 1962 nur andeutet. Ihre Radikalität hat freilich die Tendenz, Adornos berühmten Satz über die Lyrik dialektisch aufzuheben. In seinem Essay Einige Aussichten für Lyrik hatte Rühmkorf Adornos Satz über Lyrik nach Auschwitz die Bewegung, das Prozesshafte, das Dennoch entgegengehalten. Doch erst in Vom Einzelnen ins Tausendste spricht er hierzu mit der Autorität des Lyrikers. Im Gedicht nutzt er die Vielfalt der Möglichkeiten lyrischer Sprache, den »weiten Bewegungsspielraum« des Langen Gedichts,66 um zu zeigen, was das Proprium von Lyrik ist. »Kunst ist aber – und sie hat auch gar nichts anderes im Sinn als: Kommunion und Kommunikation. Desgleichen dient die Wortkunst keinem edleren Zweck und keinem höheren Ziel als Gemeinschaft zu stiften, […]«,67 schreibt Rühmkorf in agar agar – zaurzaurim. Lyrik ist für ihn wesentlich Kommunikation; dabei ist ihr letztes Ziel freilich politisch: Die Gemeinschaft soll sich – wie in Vom Einzelnen ins Tausendste durchgespielt – zum gemeinsamen politischen Denken und Handeln zusammenfinden. Im Dienst der kommunikativen Wirkung stehen die typischen Stilelemente Rühmkorf ’scher Lyrik: die zahlreichen Indexikalisierungen, das Fingieren von Mündlichkeit, die sprachlichen Gesten, Imperative und Appelle, die Apostrophierung des Lesers und nicht zuletzt die charakteristische Sprecherfigur, die für Präsenz und Authentizität steht. Auch die Nähe des Sprechers zum empirischen Autor hat den Effekt, die Distanz zum Publikum zu überwinden, eine Atmosphäre des gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens, der gegenseitigen Empathie zu erzeugen. Der Lyriker Rühmkorf versucht dem Leser so nah wie möglich zu kommen. Die Übertragung von Texten mit derartig ausgeprägter performativer Tendenz in eine reale Aufführungssituation liegt nahe, sie scheint

66 Rühmkorf: Dem ›Langen Gedicht‹ ein langes Leben!, S. 108. 67 Peter Rühmkorf: agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven, Frankfurt a. M. 1985, S. 15.

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beinahe zwangsläufig zu sein.68 In Vom Einzelnen ins Tausendste vollzieht sich der Übergang vom schriftlichen Text zur Performance und damit zum sozialen Erlebnis tatsächlich, nämlich an der Stelle, als eine Jazz & Lyrik-Aufführung inszeniert wird. Hier kommt es zur Gemeinschaftsbildung aus dem Geist der lyrischen Sprache – oder in Rühmkorfs Worten: »allein die poetische Formalisierung der Anliegen hier wie dort schafft interne Schwingungszonen, in der das magische Wort – HIER BIN ICH – DORT GEHT ES LANG – Gemeinschaft stiftet und abgesonderte Gemeinden konstituiert«.69 Magie, Zauber und Religion (»Gemeinden«) sind für Rühmkorfs Lyrikkonzeption grundlegend – Gedichte können zaubern und Wunder wirken, auch angesichts des größten Schreckens.70 Hier verläuft – trotz aller gemeinsamen Dialektik und Utopie – eine klare Trennlinie zwischen Rühmkorfs und Adornos Denken über Lyrik.

68 Meine Doktorandin Lydia Michel schreibt an einer Dissertation über die Performativität in Rühmkorfs Gedichten; vgl. als Ausblick darauf ihren Aufsatz: Lydia Christine Michel: »Von mir – zu euch – für uns« – Strukturelle und funktionale Performativität der Lyrik Peter Rühmkorfs, in: Anna Bers, Peer Trilcke (Hg.): Gedicht-Performance – Lyrik-Performanz? Göttingen [voraussichtlich 2016]. 69 Rühmkorf: Kein Apolloprogramm für Lyrik, S. 119. 70 Lydia Michel beschreibt Rühmkorfs Lyrikkonzeption »als eine moderne Form rituell-magischer Handlung«; vgl. Michel: »Von mir – zu euch – für uns«.

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»Wär’s nicht schon oft getan, wär’s nicht so gut!« Zur Bedeutung Bertolt Brechts für Peter Rühmkorf

Studenten-Kurier Es hatte gute Gründe, dass oberhalb der schmalen Stiege, die zu Peter Rühmkorfs Arbeitsmansarde in Hamburg-Oevelgönne führte, viele Jahre ein Holzrahmen mit einem vergilbten Zeitschriftencover hing. Es handelte sich um ein Heft des von Klaus Rainer Röhl und Eckart Heimendahl herausgegebenen Studenten-Kuriers aus dem Jahr 1957.1 Auf diesem Cover fanden sich Bildnisse von Bertolt Brecht und Gottfried Benn, also jener überragenden literarischen Orientierungsfiguren des jungen Peter Rühmkorf, die beide im Vorjahr verstorben waren. Diese Kombination konnte seinerzeit provozieren: Brechts Totenmaske Seit’ an Seit’ mit Gustav Heinrich Wolffs Benn-Bildnis von 1927, das den Porträtierten selbst – aber das konnten die Redakteure des Studenten-Kuriers nicht wissen – an Caligula oder japanische Sumoringer erinnerte!2 Wie wichtig Benn für Rühmkorf blieb, steht außer Frage: Die 1950 veröffentlichte Autobiografie Doppelleben und die ein Jahr später gehaltene Marburger Rede Probleme der Lyrik waren grundlegend für Rühmkorfs Selbstverständnis. Ähnlich wie Benn splitterte der junge Rühmkorf sein literarisches Ich in mehrere Figuren auf. Auch er arbeitete mit Pseudonymen – vielleicht könnte man, an Fernando Pessoa denkend, noch treffender von Heteronymen sprechen. Rühmkorfs Werff Rönne hieß Leslie Meier, sein Pameelen Leo Doletzki, der als »Übergangsreisender« noch in dem späten Zentralgedicht Mit den Jahren . . . Selbst III/88 seinen Auftritt hatte.3 Nicht zuletzt ist jener viel beschworene Längsschnitt dem Einspruch gegen eine von Benns Lieblingsmetaphern geschuldet: Der langgestreckte Schachtelhalm ist Rühmkorfs Gegenbild zu Benns Orangenstil, dessen Struktur im Querschnitt zutage trete. 1 Studenten-Kurier Januar/Februar 1957, Jg. 3, Nr. 1. 2 Zu Benns Reaktionen auf sein Bildnis siehe Sabine Fischer : Literarische Köpfe. Porträtplastik der Moderne aus der Marbacher Sammlung, Marbach 2005 (Marbacher Magazin, 109), S. 14 und 55f. 3 Vgl. Peter Rühmkorf: Einmalig wie wir alle, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 136.

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Und doch war Brecht, der Nachbar Benns im Alphabet deutscher Großdichter, den Rühmkorf zuweilen eher pflichtschuldig als frühen Stichwortgeber erwähnte, für ihn wahrscheinlich noch prägender. Betrachtet man Rühmkorfs Gesamtwerk und seinen Nachlass, wird deutlich, dass er sich mit keinem anderen Schriftsteller so intensiv auseinandergesetzt hat wie mit Brecht. Zeitweilig schienen einzelne Autoren seines persönlichen Kanons wichtiger, denken wir an Heine, Ringelnatz, Klopstock oder an die frühen Idole Wolfgang Borchert und Hans Henny Jahnn. Doch mit keinem anderen Schriftsteller beschäftigte sich Rühmkorf über sechs Jahrzehnte hinweg immer wieder, für keinen anderen stellte er einen über 400 Seiten starken Auswahlband zusammen. Dies tat er nur für den Lyriker Brecht. Grund genug für eine Rekonstruktion: Im Januar 1973 denkt Rühmkorf über seine Initialzündung in Sachen Brecht nach. Dessen 75. Geburtstag ist der Anlass eines kleinen Textes für die Deutsche Volkszeitung. In ihm erinnert sich Rühmkorf an eine Lektüre, die möglicherweise mit Brechts 50. Geburtstag zusammenfiel. Diese erste bewusste Begegnung mit einem Brecht-Gedicht datiert Rühmkorf auf sein 18. Lebensjahr. Sie soll im Winter 1947/48 stattgefunden haben, und sie wirkte, Rühmkorf umschreibt sein Erlebnis mit einem kühnen Bild, wie »Viehsalz auf einem vereisten Weg« – auf jenem Pfad, den der junge Dichter und Intellektuelle bis dahin offenbar eher unbeholfen und schlitternd verfolgt hatte. Auf den ersten Blick hatte diese Befreiung wenig mit Brechts Stil und dem Formenreichtum seiner Lyrik zu tun. Vielmehr war sie inhaltlicher Natur: Das erste bewusst gelesene Brecht-Gedicht machte Rühmkorf vor allem die Möglichkeiten politischer Lyrik deutlich. Konkret ging es dabei um vier kreuzgereimte Strophen: um Brechts Gedicht Dreihundert ermordete Kulis berichten an eine Internationale, das Ende 1926 entstanden und im folgenden Jahr zum ersten Mal in der Zeitschrift Der Knüppel gedruckt worden war.4 Rühmkorf lernte es in der Abschrift eines Freundes kennen, wahrscheinlich stammte sie von Klaus Rainer Röhl oder aus dessen Umfeld. Brecht schildert in ihm das klägliche Ende, den Kältetod einer Gruppe von Tagelöhnern, die von der chinesischen weißen Armee gefangen genommen wurden. Rühmkorf traf dieser Bericht über einen Massenmord bis ins Mark. Besonders Brechts abschließende Strophe nahm ihn regelrecht mit: Die letzte Nacht blieben wir stehen vor Festungstoren. Wenn wir fragten, wann wir ankämen, sagte man uns: heute.

4 Zum Erstdruck vgl. Bertolt Brecht: Gedichte 3. Gedichte und Gedichtfragmente 1913–1937, hg. von Jan Knopf und Brigitte Bergheim, Berlin u. a. 1993 (Werke 13), S. 526f.

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Es war der dritte Tag. Am Abend sind wir erfroren. In diesen Jahren ist es zu kalt für die armen Leute.5

Durch Brechts Gedicht fühlte sich Rühmkorf, wie er schreibt, plötzlich als Zeitgenosse der kriegerischen Auseinandersetzungen in China. Schon lange wusste er von vergleichbaren Ereignissen aus Zeitungsmeldungen. Diese erreichten ihn aber nicht wirklich, weil er glaubte, dass sie ihn nicht betrafen. Betroffen, und an dieser Stelle passt das verbrauchte Wort, machte ihn erst das von Brecht in Verse gesetzte Ereignis. Genau genommen war die befreiende Wirkung von Brechts Gedicht dann also doch stärker literarisch als politisch. Sie beruhte auf Brechts Stil, auf der Kraft der künstlerischen Gestaltung: Nicht der vermeintlich wahren, authentischen Zeitungsmeldung gelang es, Interesse für die chinesischen Kulis zu wecken, sondern dem Kunstwerk – es gelang einem Gedicht, das fast volkstümlich wirkt, in dessen letzter, für Rühmkorf unvergesslicher Strophe aber etwas sehr Ungewöhnliches, im Grunde Ungeheuerliches vonstatten geht. Plötzlich wird deutlich, dass Brecht die Ermordeten selbst sprechen lässt! Es wird erzählt, dass die Kulis am dritten Tag erfrieren. Brecht wendet daraufhin einen überraschenden Kunstgriff an und lässt sie sozusagen am vierten Tag selbst aus dem Jenseits berichten. Unterstrichen wird dies noch dadurch, dass er die Zeitungsmeldung, auf die er mit seinen Versen reagiert, dem Gedicht als Motto voranstellt. Auf diese Weise wurde Rühmkorf vielleicht zum ersten Mal der qualitative Sprung zwischen der journalistischen Sprache, die dem Primat der Mitteilung folgt, und dem künstlerisch gestalteten Wort bewusst. Brechts Gedicht ebnete ihm einerseits den Weg zur politischen Lyrik, andererseits machte es ihm klar, dass eine solche Lyrik nur dann Wirkung entfalten kann, wenn sie künstlerisch zu überzeugen vermag. Mit Brecht gewann für Rühmkorf die Aussage eines Gedichtes, seine inhaltliche Substanz, entscheidend an Bedeutung, ohne dass dies die Bedeutung der Form herabsetzte. An Brecht habe er »schlagartig« gelernt, erinnert er sich 1973, daß Gedichte gewiß nicht auf der Welt waren, um Zustände einzufrieren, sondern um Bewußtsein aufzutauen. Ihre Aufgabe konnte auch nicht in einem kühlen Abseits zur Gesellschaft liegen, sondern in Formen der Anteilnahme, die menschlich waren, ohne rührselig zu sein, […] und die – fast unversehens, also vehement – auf die Parteinahme zulenkten.6

5 Ebd., S. 344. 6 Nachlass Peter Rühmkorf, DLA, A: Rühmkorf/Standortkonvolut Dichterporträts/Brecht, Bertolt.

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Auf Abstand Diese Worte lassen sich auch dahingehend interpretieren, dass Brechts Lyrik für Rühmkorf in jungen Jahren wie ein Antidot zu Benns Statischen Gedichten wirkte, zu dessen »monologischer« Kunst, die gerade jene »Formen der Anteilnahme« konterkariert: zu Benns spezifischer – um mit Helmut Lethen zu sprechen – »Verhaltenslehre der Kälte«. Zugleich betrachtet Rühmkorf Benn und Brecht von Anfang an nicht als einander ausschließende Gegenspieler, sondern eher als ungleiche Brüder. An anderer Stelle und viele Jahre später fasst er selbst dies folgendermaßen zusammen: »[M]it Benn und Brecht gingen für uns zwei miteinander konkurrierende Leitgestirne am deutschen Dichterhimmel auf, die richtungweisend in die deutsche Nachkriegsszenerie hineinfunkten.«7 Sicher, Brecht und Benn konkurrieren, aber sie konkurrieren miteinander, und mit etwas Abstand betrachtet ergänzen sie sich geradezu zu einem Yin und Yang der modernen Poesie.8 Dies konstatiert Rühmkorf 1999. Verweilen wir aber zunächst noch in den frühen 60er Jahren, in denen Brecht ihm zusehends abhanden kommt und Rühmkorf sich deutlich von ihm distanziert. In dem grundlegenden Essay Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen widmet er Benn 1962 mehrere Seiten, Brecht hingegen klammert er aus der Diskussion aus und bittet darum, dies mit der Qualität von Brechts Spätwerk zu entschuldigen: Man müsse bedenken, heißt es da, »daß Brecht in dem Zeitraum, der hier zur Analyse stand, nur wenige und nicht durchaus seine besten Gedichte geschrieben« habe. Noch problematischer sei, dass Brecht gegen Ende seines Lebens vorwiegend mit »seiner didaktischen Poesie« gewirkt habe.9 1962 ist Rühmkorfs Verhältnis zu Brecht aber noch ambivalent: An anderer Stelle, in dem fast gleichzeitig entstandenen Aufsatz Anleitung zum Widerspruch verwirft er nämlich eine derart verkürzende Betrachtung seines früheren Vorbilds. Hier heißt es über Brecht ganz im Sinne der frühen Lektüre des Gedichts über die ermordeten Kulis, dass »dieser Spiegelmeister, Brechungskünstler und Verfremdungsspezialist […,] dieser aus allen Rollen fallende Mann im Grunde immer nur dem kritischen Imperativ des eigenen Namens« folge: Brecht!10 Dennoch verschwindet Brecht in den folgenden Jahren weitgehend aus Rühmkorfs programmatischen Äußerungen. Er scheint ihm von nun an vor 7 Peter Rühmkorf: Wo ich gelernt habe, in: ders.: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, hg. von Hartmut Steinecke, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 291–324, hier S. 321. 8 Brecht selbst hat eine solche Betrachtungsweise mit seinem Gedicht Beim Anhören von Versen / des todessüchtigen Benn vorbereitet. 9 Rühmkorf: Schachtelhalme, S. 42. 10 Ebd., S. 62.

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allem ein überaus fragwürdiger Didaktiker : ein Lehrer, den man hinter sich gelassen zu haben glaubt, mit einer Lehre, die man für überholt hält, und einer Lehrdichtung, die man als einen Irrweg empfindet, obwohl oder auch weil sie sich gerade nach 1968 auf eine Weise durchsetzt, die Brecht vielleicht selbst irritiert hätte. Rühmkorf verunsichert Brechts Popularität so sehr, dass er zeitweise jeder Bezugnahme auf ihn misstraut. In seinen seit 1962 entstandenen Essays, die er 1978 in dem Band Strömungslehre I sammelt, nennt er ihn von Jahr zu Jahr immer seltener. Anscheinend spielt er als Leitgestirn keine Rolle mehr. Erst gegen Ende des Bandes könnte man sich seiner erinnern – nicht aufgrund einer der Abhandlungen, sondern aufgrund eines Gedichts. Biografisch gesehen scheint das kein Zufall. Zumindest als Arbeitshypothese ließe sich festhalten: Bevor Rühmkorf Brecht für sich wiederentdecken kann, muss er sich selbst als Lyriker wiederentdecken, und dieser Neuansatz wird in Strömungslehre geradezu zum Kompositionsprinzip der Textzusammenstellung. Hierbei muss man sich vergegenwärtigen, dass Rühmkorf in jener Dekade, in der die Essays des Bandes geschrieben wurden, als Lyriker schwieg. Rühmkorfs essayistische Produktion scheint auf einen Neubeginn als Lyriker zuzulaufen, zunächst auf das durchaus an Benn geschulte Parlando-Gedicht Im Fahrtwind und dann, fast am Ende des Bandes, auf den changierenden Evergreen Bleib erschütterbar und widersteh, von dem man nicht sicher sagen kann, ob er als Parodie oder als Überbietung der in der linken Szene der 70er Jahre so populären und an Brecht geschulten Lehr- und Erbauungslyrik zu verstehen ist. Allerdings steht Bleib erschütterbar in Strömungslehre nur fast am Ende, auf Seite 298, und dort wirkt es wie eine Selbstbeschwörung, wie eine Mahnung, nach zehn Jahren Abstinenz endlich zum Hauptwerk zurückzufinden, also zur Lyrik. Auf der folgenden Seite wird dem dann noch ein Nachwort mit der ironisch-akademischen Überschrift Zum Geleit hinzugefügt. Und auf der wirklich letzten Seite findet sich schließlich eine Art Bekenntnis: Als persönliche Marginalie mag vielleicht interessant, vielleicht sogar verdächtig aufschlußreich sein, daß der Strömungskundler während eines ganzen Jahrzehnts an »Bewegung« (die Vor- und Auslaufzeiten einmal mitgerechnet) nicht ein einziges Gedicht veröffentlicht, geschweige denn geschrieben hat. Die Annahme einer symptomatischen Verhaltung deutet dabei auch noch im späten Nachhinein auf eine ziemlich grundsätzliche Unverträglichkeit von Politik und Poesie hin.11

Dieses Bekenntnis zur eigenen Lyrik-Blockade lässt auch den Umgang mit Brecht nicht unberührt. Das Ineinanderwirken von Poesie und Politik wertet dessen Lyrik für Rühmkorf in diesen Jahren vollkommen ab. Seiner Meinung nach müssen diese beiden Sphären wieder strikt voneinander getrennt werden, 11 Peter Rühmkorf: Strömungslehre I. Poesie, Reinbek bei Hamburg 1978 (Das neue Buch, 107), S. 300.

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und so gelangt er in Strömungslehre abschließend zu einem poetischen Minimalprogramm für die neue Werkphase, die nichts zu tun haben soll mit den sozialen Bewegungen und schon gar nichts mit der modischen Verklärung der Arbeiterklasse. Von nun an komme es allein auf die Poesie an, die Kunst, die zweckfreie Kunst als letzte metaphysische Tätigkeit, um mit dem Nietzscheaner Benn zu sprechen: »Mögen andere unentwegt von fremder Leute Arbeit reden – wir sprechen von der unseren: Artistik.«12

Zurück auf Los Die Beschäftigung mit Brecht wird für Rühmkorf erst wieder fruchtbar, als es ihm gelingt, ihn gewissermaßen gegen die Grundsätze seines enormen postumen Erfolgs zu lesen, gegen das seinerzeit modische Diktat der gesellschaftlichpolitischen Relevanz. Diese private Rehabilitierung beginnt in den frühen 80er Jahren. Öffentlich erkennbar wird sie Anfang 1983 nach Erscheinen des von Herta Ramthun herausgegebenen Supplementbands 2 von Brechts Gesammelten Werken: den Gedichten aus dem Nachlaß. Rühmkorf hat einen Auftrag von Marcel Reich-Ranicki für die Tiefdruckbeilage der FAZ angenommen: Was als Rezension beginnt, wächst sich bald zur Hauptarbeit des Winters 1982/83 aus und zu einem Essay, den Rühmkorf mehrmals umarbeitet und schließlich auch in den Band Dreizehn deutsche Dichter aufnimmt, der 1989 erscheint. Die im Marbacher Nachlass vorhandenen Vorstufen zu diesem Essay füllen mehrere Archivmappen. Das hat auch damit zu tun, dass er 1985 auch noch als Grundlage für das Nachwort der von Rühmkorf herausgegebenen Brecht-Auswahl in der von Reich-Ranicki und Walter Jens zusammengestellten Bibliothek des 20. Jahrhunderts dient. Bis 1989 macht Rühmkorfs großer Essay sozusagen drei Entwicklungsstadien durch: 1. Zunächst schreibt Rühmkorf die am 26. März 1983 in der FAZ veröffentlichte ausführliche Rezension, die auch als Grundlage für die Sendung Bücher im Gespräch am 13. Mai 1983 im Deutschlandfunk diente.13 2. Zwei Jahre später folgt das Nachwort für die Brecht-Auswahl von 1985. 3. Die dritte Fassung entsteht für Dreizehn deutsche Dichter ; sie unterscheidet sich allerdings nicht sehr stark von der zweiten.

12 Ebd. 13 Vgl. Peter Rühmkorf: In meinen Kopf passen viele Widersprüche. Über Kollegen. Mit Dichterporträts von F. W. Bernstein, hg. von Susanne Fischer und Stephan Opitz, Göttingen 2012, S. 45–55 und 344.

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Typisch für Rühmkorf ist, dass er sich Brecht Ende 1982 zunächst vom Rande her nähert, gleichsam über das inoffizielle, nicht veröffentlichte Werk, das viele bei Erscheinen eher als Nebensache betrachten. Rühmkorf setzt mit Brechts nachgelassenen Gedichten neu an. Zu seinen persönlichen Hauptentdeckungen gehören dabei Brechts Liebessonette, die er dann in seiner Brecht-Auswahl gleichberechtigt in die zu Lebzeiten publizierten Gedichte einordnet und auch später, wann immer er nach Brecht gefragt wird, hervorhebt, etwa 1998 zum 100. Geburtstag. Dies gilt besonders für das sogenannte »Englische Sonett« Liebesgewohnheiten, entstanden 1934 in London, an dem Rühmkorf vermutlich nicht nur das Erotische reizt, sondern auch das zweite große Thema des Gedichts, die Qualität der Wiederholung, jener Wiederholung, die den Zeitpfeil, die Gerichtetheit des Lebenslaufs, zumindest irritiert (das Prinzip der Wiederholung stellt ja, wie spätestens seit Kierkegaard geläufig ist und wie George Steiner es einmal formuliert hat, »das Kausalitätsprinzip und das Fließen der Zeit in Frage«14). Liebesgewohnheiten Es ist nicht so, daß der Genuß nur bleibt. Oftmals verspürt, steigt er noch oftmals an. Das noch einmal zu tun, was wir schon oft getan Das ist es, was uns so zusammentreibt. Dies kleine Zucken deines Hintern, längst Erwartet schon! Oh, deines Fleisches List! Dies angenehme, was das Zweite ist Wonach du mit erstickter Stimme drängst! Dies Aufgehn deiner Knie! Dies sich Begattenlassen! Dies Zittern dann, durch das mein Fleisch erfährt Daß kaum gestillte Lust dir wiederkehrt! Dies faule Drehn! Dies lässig nach mir fassen Wenn du schon lächelst! Ach, so oft man’s tut: Wär’s nicht schon oft getan, wär’s nicht so gut!15

Freche Kußhände aus der Luftschaukel war Rühmkorfs Essay in der FAZ überschrieben, doch diesen vermeintlich originellen, bieder-humorigen Titel hatte der Redakteur Reich-Ranicki zu verantworten. Rühmkorf selbst wollte das Stück schlicht Vom Liebes- und vom Lehrgedicht nennen, und damit deutete er seine 14 George Steiner : Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, S. 81. 15 Bertolt Brecht: Gedichte 1. Sammlungen 1918–1938, hg. von Jan Knopf und Gabriele Knopf, Berlin u. a. 1988 (Werke, 11), S. 196.

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Hauptthese an: Ausgehend von Gedichten wie Liebesgewohnheiten bringt er den Liebeslyriker Brecht gewissermaßen gegen seine eigene Lehrdichtung in Stellung. So gelangt Rühmkorf zu folgender Konklusion: Das Liebesgedicht und das Lehrgedicht in unausgesöhnter Rivalität und der weltvergessene Daseinsgenuß und das entsagungsvolle Streben nach Veränderung im untrauten Verein: das ist es, was uns der neue Nachlaßband als bleibenden Stachel hinterläßt. Von einer letztendlichen Harmonisierung des gestandenen Widerspruchsträgers zum gesetzten Klassiker kann dabei gar keine Rede sein. Aus kritisch gegeneinander stehenden Bruchstücken und störrischen Steißeln und Splittern setzt sich vielmehr ein Längsschnitt-Brecht vor unsern Augen zusammen, der uns statt gerundeter Entwicklungsbögen das gespannteste Miteinander kontroverser Schreibantriebe präsentiert.16

In den beiden späteren Fassungen seines Brecht-Aufsatzes spart Rühmkorf diese Passage aus. Möglicherweise ist ihm der Gegensatz zwischen Liebes- und Lehrgedicht letztlich doch zu konstruiert, handelt es sich doch gerade bei dem von ihm hervorgehobenen Liebessonett auch um ein Lehrgedicht – freilich ein Lehrgedicht in Sachen Liebeskunst –, mit dem Brecht gegen die landläufige Denunzierung der Gewohnheit aufbegehrt, stattdessen die Wiederholung feiert und sie zugleich als eines der Grundprinzipien des dichterischen Ausdrucks vorführt, was allein schon durch eine simple Hervorhebung der wiederholten Bestandteile des Schlussverses anschaulich wird: Wär’s nicht schon oft getan, wär’s nicht so gut! Darüber hinaus macht Rühmkorf mit seiner Brecht-Auswahl von 1985 den von ihm anhand des Nachlassbandes gepriesenen Längsschnitt-Brecht zum Kompositionsprinzip und auch zur intellektuellen Herausforderung. Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Anthologie um eine Auftragsarbeit, das hindert Rühmkorf aber nicht daran, sie so ernst zu nehmen wie ein eigenes Werk. Nicht zuletzt gibt sie ihm die Möglichkeit, seinen persönlichen B.B. in Szene zu setzen. Dabei erscheint ihm die Idee der Rettung des Liebesdichters gegen den Didaktiker, die noch den FAZ-Essay bestimmt, als Programm offenbar zunehmend als ungenügend.

agar-agar, B.B. Die anhaltende Herausforderung, die Brecht für Rühmkorf darstellte und die sowohl in seinen veröffentlichten Arbeiten über ihn als auch durch die nachgelassenen Materialsammlungen deutlich wird, lässt sich versuchsweise in vier Thesen beschreiben: 16 Rühmkorf: In meinen Kopf passen viele Widersprüche, S. 55.

Zur Bedeutung Bertolt Brechts für Peter Rühmkorf

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1. Durch das Anliegen, Brechts Werk 1985 chronologisch zu präsentieren und den Längsschnitt zur Geltung zu bringen, kommt Rühmkorf auf den Gedanken, dass sich bei Brecht in den 20er Jahren ein Umbau der Persönlichkeit vollzogen habe, eine Krise des Ichgefühls und des Selbstbewusstseins, die ihn für den Kommunismus empfänglich machte. In Rühmkorfs Wahrnehmung beging Brecht in seiner Krise der lyrischen Subjektivität den künstlerischen Grundfehler, ideologisch sozusagen sattelfest einem »Unpersönlichkeitston« zu verfallen, einer Abschaffung der »Ichbezogenheit«,17 und damit aus der Tradition der Subjektivität auszuscheren, die für Rühmkorf mit Walther von der Vogelweide begonnen wurde. Wer sich auf so etwas einlasse, dem bleibe nur das Lehrgedicht und dieses habe mit dem, was Rühmkorf an Dichtung interessiert, kaum noch etwas gemein: »Nur in den Niederungen des Scherzgedichts oder im didaktischen Genre hatten wir auf die spürbare Anwesenheit eines Ich bislang verzichten können, was das Brechtsche Lehrgedicht augenblicklich in eine etwas unansehnliche Gesellschaft rückt.«18 Mit der Inszenierung von Brechts lyrischem Lebenswerk im Längsschnitt unternimmt Rühmkorf von daher den Versuch, Brecht sozusagen gegen seine eigenen marxistischen Überzeugungen zu immunisieren. 2. Hierbei kann Rühmkorf Brechts Skepsis an der lyrischen Subjektivität sehr gut nachvollziehen, er bringt sie sogar in Verbindung mit seiner eigenen 10jährigen Lyrikkrise. Allerdings könne der Ausweg aus dieser Krise nicht im Materialismus gefunden werden. Stattdessen versteht Rühmkorf Lyrik als Teil der menschlichen Grundausstattung, der menschlichen Natur, nicht umsonst spricht er in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen (1980) von der Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven.19 Das Gedicht betrachtet er vor diesem Hintergrund als ein organisches Gebilde, als »körperliches Wesen«, und diese Körperlichkeit sei so dominant, dass sie sich sogar dann noch Geltung verschaffe, wenn ein überragender Dichter erkennbar auf ideologische Abwege geraten sei, so wie Brecht in der zweiten Hälfte seines Lebens. Rühmkorf schreibt mit Bezug auf Brecht: Da Gedichte ein eigenes körperliches Wesen besitzen – mit einem eigenen Nervensystem und einem eigenen Fächer subjektiver Reizbarkeiten –, reagieren sie auf die Herausforderungen der Politik oft gar nicht so sehr mit Meinungen oder Ansichten als mit Haltungen, Gesten, Allergien.20

17 Peter Rühmkorf: Dreizehn deutsche Dichter, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 101. 18 Ebd. 19 Später publiziert in Peter Rühmkorf: agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven, Frankfurt a. M. 1985. 20 Rühmkorf: Dreizehn deutsche Dichter, S. 97.

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3. In solchen Absetzungsbewegungen erweist Rühmkorf sich Brecht zugleich eng verbunden, beispielsweise indem er den Begriff der Geste von Brecht übernimmt und für die Lyrik fruchtbar machen möchte; oder andernorts in der Betonung der Verwandtschaft von Gedicht und Gesang. Auch hier bleibt Brecht Vorbild, besonders durch die Nähe vieler seiner Lieder zum Rezitativ. Unübersehbar ist Brechts Einfluss auf das Projekt Jazz & Lyrik, das nicht zuletzt wie ein Versuch wirkt, zusammen mit Michael Naura und Wolfgang Schlüter das Rezitativ von den Arien zu emanzipieren. Eine besonders auffällige Geste des Gedichts ist die Wiederholung als einfachste Form des Reims, wie sie bereits mit der Signatur B.B. realisiert wird und ebenso in dem Geliermittelnamen agar-agar, der für Rühmkorf titelgebende Qualität gewinnt: Geliermittel gibt Flüssigkeiten Festigkeit, so wie die Wiederholungen, die Reime, den Fluss der Sprache in gebundene Rede verwandeln, in Lyrik, zusammenhaltend und zugleich flexibel wie Gelee: »Bleib erschütterbar und« – »Gelee«, heißt es vielleicht doch nicht ganz so scherzhaft in einem nachgelassenen Entwurf zu Bleib erschütterbar und widersteh.21 4. Alle dichtungstheoretischen Überlegungen von Rühmkorf werden grundiert durch eine immer wieder neue Auseinandersetzung mit den beiden großen B.s der lyrischen Moderne: mit »Big Benn« (dem »Stabreimmediziner«) und mit Brecht.22 Es lässt sich kaum entscheiden, welcher der beiden ihm letztlich mehr bedeutet hat, und es muss auch nicht entschieden werden, wie Rühmkorf selbst anlässlich seiner Lesungen zu Brechts 100. Geburtstag 1998 feststellte. Eines seiner Lieblingsgedichte von Brecht war für ihn seinerzeit das kurze Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen aus dem Jahr 1954: Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen Plötzlich dunkelrot und jung und nah Ach wir kamen nicht, sie zu besuchen Aber als wir kamen, war sie da. Vor sie da war, war sie nicht erwartet Als sie da war, war sie kaum geglaubt Ach, zum Ziele kam, was nie gestartet Aber war es so nicht überhaupt?23

Hierzu findet sich in Rühmkorfs Nachlass eine unveröffentlichte Notiz: Ich habe das Gedicht […] vor kurzem einmal mit Hamburger Studenten gelesen. Die Reaktion kam für mich sehr unerwartet, aber sie war für mich einleuchtend: »Das klingt ja beinah wie der späte Benn« 21 Entwürfe zu Bleib erschütterbar und widersteh, Nachlass Peter Rühmkorf, DLA. 22 Peter Rühmkorf: Paradiesvogelschiß. Gedichte, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 62. 23 Bertolt Brecht: Gedichte 5. Gedichte und Gedichtfragmente 1940–1956, hg. von Jan Knopf und Brigitte Bergheim, Berlin u. a. 1993 (Werke, 15), S. 283.

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In der Tat, wie hier über Blumen gesprochen wird – und in dieser besonderen Versart + mit diesem fast zärtlichen Neigungswinkel – das hat mit Benn sehr viel mehr zu tun, als sich unsere Schulweisheit vom Brechtischen Lehrgedicht träumen läßt. Zur Lehre möchte es uns trotzdem dienen, aber das wollte sein Antipode immerhin auch.24

Angesichts dieser Aufzeichnung überrascht es nicht, dass Rühmkorf eine seiner letzten Reisen an die Gräber von Brecht und Benn führte. Das war im Jahre 2006, nach der überstandenen Kieferfraktur, aber noch vor der Krebsdiagnose. An diese späte Pilgerfahrt erinnert ein kurzes Gedicht in Rühmkorfs letztem Buch, dem Paradiesvogelschiß: Bei Besuch der Grabstätten Brechts und Benns vor kurzem: Doch sehr bescheidene Male beiderseits, nicht noch groß Aufsehen erregen wollen, wenn das letzte Wort schon gesprochen ist – Aber das Leben hat immer noch unerwartete Einfälle: Dies nicht weichenwollende Rotkehlchen auf dem Grabstein von Mühsam. Nur bei Anschlag der Leica, schwirrrrr – ab in den Taxus.25

24 Nachlass Peter Rühmkorf, DLA, A: Rühmkorf/Standortkonvolut Dichterporträts/Brecht, Bertolt. 25 Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, S. 30.

Christoph König

Ist die Resemantisierung eine Prämisse der Poesie? Paul Celan und Peter Rühmkorf um 1960

Die Produktivität von Peter Rühmkorf ist an ein System gebunden, das jeweils von Neuem in wenigen Schritten durchlaufen wird. Die Überwältigung, der erste Schritt, wird – im zweiten Schritt – der Kritik unterzogen. Auf diese beiden Schritte von Pathos und Distanz folgt ein dritter : Nun werden die Grundlagen der Kritik – und öfters noch die Grundlagen des Dichters als Kritiker – in Frage gestellt. Diese schrittweise Dynamik verdankt sich der Grundüberzeugung, dass alles dem Interesse, sei es soziologisch oder sexuell, unterliegt. Und sie betrifft eigene Aussagen und die Aussagen anderer – das eigene Ich wird in diesem Sinn zum Anderen, zu einem Er. Das geht fort bis zu einer möglichen Rehabilitierung der Überwältigung (im ersten Schritt), so dass der Prozess erneut beginnen kann. Rühmkorfs Dynamik stellt alles auf ihrem Weg in Frage und ruht dennoch – man erkennt es am einheitlichen Ton – in einer Subjektivität, die ihre Stärke aus einer Überlegenheit zieht, wie sie die Häme schenkt. Als wollte Rühmkorf sagen: Ich weiß, dass alle und auch ich aus Interesse handeln, nur die anderen wissen es offenbar noch nicht. So aktualisiert Rühmkorf poetisch und auf ähnliche Weise wie – im Roman – sein Freund Günter Grass die Mentalität einer Generation,1 deren Wurzeln in die Nachkriegszeit und – wie es das Präfix, das eine Voraussetzung nennt, will – in die Kriegszeit reichen. Die Mentalität findet bis heute ihr Echo bei den Verehrern des Dichters und in der Rühmkorf-Forschung. Ich beginne mit einem Beispiel. Das Gedicht Himmel abgespeckt eröffnet den Gedichtband Irdisches Vergnügen in g (1959): Himmel abgespeckt Keine Posaune zurhand, keine Verkündigungen, der Himmel abgespeckt,

1 Vgl. meine Studie zu Jens, Grass und den Germanisten in der Nachkriegszeit: Christoph König: Häme als literarisches Verfahren. Günter Grass, Walter Jens und die Mühen des Erinnerns, Göttingen 2008.

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wenn der Abend mit siebenfarbener Zunge am Fenster leckt. Ins Spektrum gefläzt, die Seele noch einmal nach oben, wolken- und vogelwärts –: Wer hat mir die Faustvoll Fleisch in die Jacke geschoben, mein rüdes Gorillenherz? Träume ausgeklinkt – gutso – die gondeln im Blauen, in den schwimmenden Äther getupft; mein gepökeltes Herz, mein eingesalznes Vertrauen, das die Stellung hält und die Schlagader zupft. Mit der Erde auf gutem Fuß, den läufigen Nachtigallen – ! – Ist es nicht schön, bald, bei aufgeblasenem Monde und steigendem Fluß der Schwerkraft anheimzufallen? Jaaa, Mooond, wenn er kömmt, der siderische Montgolfier, im Pulk der Sterne die Nacht zu befahren …. schlürf ich die Welt-an-sich und was ich sonst nicht versteh, dir aus den Achselhaaren. Schlürfe vom handwarmen All, der Gaumen zerfließt, die Kehle schon – Die du hier Luft einziehst, mach die Funzel aus, oh-du-Sterbliche, häng dich ein in die Gravitation.2

Die Komposition folgt der in jeder Strophe wiederholten Abfolge von Gedanke und Gegengedanke: Es geht um die Tradition dichterischer Sprache. Sie tritt als Vermögen und Vergnügen des sprechenden Subjekts auf, das sich immer wieder davon überwältigen lässt. Zugleich aber entwickelt das Ich Gegenreden, die – nicht zuletzt durch die Reimverbindung zwischen den beiden Welten – selbst einen poetischen Anspruch erheben. Letztlich obsiegt jedoch ein Standpunkt jenseits der Dichtung, dessen Interesse die Kraft eines Naturgesetzes besitze. Das im Ton deutliche Bewusstsein der Überlegenheit des Sprechers speist sich aus der Einsicht in die Notwendigkeit eines Interesses, das selbst die Gegenrede – und zwischendurch sich, d. h. das Interesse selbst – durchschlägt. Das Gedicht beginnt mit einer Negation der Dichtung. Die Sublimierung der Überwältigung in der Kritik, von der ich spreche, gibt sich im getragenen Ton des »Keine Posaune zurhand« durchaus zu erkennen. Die Dichtung verschafft sich dann – gegenläufig – in der Zungenmetapher des Regenbogens Gehör. In der zweiten Strophe wird die Seele zunächst (noch gegen das Vulgäre des Fläzens) dichterisch – in der Tradition der Elevation – getragen, aber das Vulgäre 2 Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke 1, hg. von Bernd Rauschenbach, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 95.

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hält dagegen. Die Mutation des Herzens, eines Kernworts der hohen Dichtung, in das animalisch getriebene »Gorillenherz« zeugt davon. Die Analyse auf ein Interesse, einen Naturtrieb hin, kündigt sich an. Wieder setzt die Dichtung in der dritten Strophe im Topos der »Träume«, des »Äthers«, des »Blauen« ein, doch wieder tritt das Vulgäre in Form des gesalzenen Vertrauens und des Misstrauens dagegen auf. Schließlich unterliegt, von der vierten Strophe an (also in der zweiten Hälfte des Gedichts), die Dichtung den Trieben, die – daher rührt der Spott – dem Naturgesetz der Schwerkraft unterliegen. Das g der Gravitationskraft hat schon den Titel des Gedichtbands mitbestimmt. Damit ist das lyrische Subjekt gegen die alten und auch – wie sich nun zeigt – gegen die neuen poetischen Anwandlungen gefeit. Jede poetische Hingabe und jede Gegenwehr unterliegt dem Sexuellen. Noch kann das Schlürfen in den Achselhaaren der Geliebten gegen den Mond agieren, den die Expressionisten als Objekt dichterischer Huldigung abserviert haben: Rühmkorfs Lehrer Karl Ludwig Schneider hat, wie ich noch genauer ausführen werde, darüber geforscht. Das Schlürfen tritt noch an die Stelle des Singens (»Gaumen« und »Kehle« schwinden), doch der Spott siegt, das Licht geht aus, die Gravitation des Liebeslagers wird zum Standpunkt des Sängers. Aber auch damit nicht genug: Die poetische Refaktion der Tradition (aus der Nachtigall war eine »läufige Nachtigall« gemacht) wird zwar aufgegeben und das vermeintliche poetische Gegenwort »oh-du-Sterbliche« fällt aus dem Reim. Doch zwischendurch unterläuft die Pathosformel, in die der Zweifel gehüllt wird, selbst noch das Dogma des Interesses, als wollte das lyrische Subjekt sagen: Auch wenn die Körperleidenschaft uns bestimmt, werde ich sie auf sinnlose Weise poetisch feiern. Freilich ist das Gedicht über das Dichten selbst ein Gedicht. Es besitzt eine Gravitation, eine eigene Subjektivität, über deren Funktionsweise es eben spricht. Was das Gedicht in dieser Reflexion zutage fördert, ist genau das System in drei Schritten, von dem ich ausgegangen bin, das System von Überwältigung, Kritik und Häme. Welchen Einfluss aber hat die Reflexion des Systems auf die Produktivität im System selbst – also auf das Gedicht und auf Rühmkorfs Werk insgesamt? Insofern der Kern der Reflexion die Überzeugung von einer Dominanz des Interesses ist: also in Himmel abgespeckt etwa die Gravitation g der Sexualität, wird jedes Gedicht daraufhin geprüft, ob es in allen seinen Aspekten seiner eigenen Grundlosigkeit eingedenk ist. Eine Art poetisch-ideologisches Über-Ich kontrolliert, ob die hämische Haltung des Subjekts Rühmkorf eingehalten wird. Jedes Wort, jede Metapher, jeder Satz, jedes Genre sind darauf bezogen – im Sinn der historistischen Gedankenfigur eines unmittelbaren Verhältnisses der Epochen zu Gott. Die unkontrollierte, nicht-diskursive Eigengesetzlichkeit eines poetischen Prozesses soll aufgehoben werden. Grass hat in seiner Laudatio Rabe oder Krähe? im Jahr 1994 die Arbeitsweise Rühmkorfs – wie es sich gehört: ironisch – auf die Verhältnisse der sozialen Marktwirtschaft

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bezogen: »der aber dennoch den Beruf des Dichters nicht als hohepriesterliches Amt ausübt, vielmehr mit den Musen ein tarifvertragliches Verhältnis eingegangen ist, Schlechtwetterzulage und Streikrecht eingeschlossen!«3 Hinter dem solcherart ›interessierten‹ Schreiben wird bei näherem Hinsehen ein Herzensstandpunkt sichtbar, der mit der Auffassung des allmächtigen Interesses aufgeht; auch darauf geht Grass ein und sagt: »er, Peter Rühmkorf ist und bleibt ein Linker«.4 Die Produktivität, die solcherart der Reflexion zum Gegenstand wird, lebt in geradezu systematisch provozierten Einfällen, Formen des Wechsels werden als Leitmotive durchgespielt. Rühmkorf arbeitet, wie er selbst etwa in dem Buch Aus der Fassung gezeigt hat, wo er die Genese des Gedichts als Autorporträt Mit den Jahren … Selbst III/88 dokumentiert, penibel und anhaltend mit seinen Einfällen – der Einfall wird zum zentralen Topos seiner Poetik. In einer Studie des Arbeitsprozesses an diesem Gedicht hat Hartmut Steinecke die Prinzipien bestimmt, nach denen Rühmkorf arbeitet.5 Mithilfe von Steineckes Befunden kann man erkennen, dass das Augenmerk Rühmkorfs, wenn er mit den Einfällen arbeitet, vor allem dem Verhältnis von Wiederholung, Variation und Kombination gilt.6 »Rühmkorfs Blätter bieten zahlreiche Beispiele heinescher Kombinationssucht und Wörterversetzkunst.«7 Wiederholung, Variation und Kombination folgen Regeln, die man – so meine These – strukturalistisch formulieren kann. Nach Friedrich Schlegels Unterscheidung zwischen ›regelhaft‹ und ›kunstmäßig‹, mit deren Hilfe er zwischen Wissenschaft und Philologie als Kunst trennt,8 praktiziert Rühmkorf seine Poesie wissenschaftlich. Die Regelorientierung ist freilich nicht romantisch, sondern zeitgemäß, denn es zeigt sich das morphologisch-stilkundliche Interesse, das diejenigen Germanisten in der Interpretation gern anlegen, bei denen Rühmkorf studiert hat: bei Karl Ludwig Schneider und Hans Wolffheim, aber auch bei Hans Pyritz.9 Es ist 3 Günter Grass: ›Rabe oder Krähe? Laudatio auf Peter Rühmkorf‹ am 28. 11. 1994 in der Hamburger Akademie der Künste, in: Frankfurter Rundschau 29. 11. 1994. 4 Ebd. 5 Hartmut Steinecke: »Arbeit ist des Artisten Schmuck«. Peter Rühmkorfs Porträt »Selbst III/88«, in: Manfred Durzak, Hartmut Steinecke (Hg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 296–320. 6 Zur Bedeutung der Variation vgl. auch Jürgen H. Petersen: »… ich rühme Korff«. Sprachspiele in Peter Rühmkorfs Gedichten, in: Durzak, Steinecke: Zwischen Freund Hein und Freund Heine, S. 220–234. 7 Steinecke: »Arbeit ist des Artisten Schmuck«, S. 303. 8 Vgl. Christoph König: Philologie der Poesie. Von Goethe bis Peter Szondi, Boston, Berlin 2014, S. 36–55. 9 Vgl. Reiner Böhlhoff: Hans Pyritz, in: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon. 1800–1950, Berlin, New York 2003, Bd. 2, S. 1445–1447; Hans-Harald Müller : Karl Ludwig Schneider, ebd., Bd. 3, S. 1643f.; Kai-Uwe Scholz: Hans Wolffheim, ebd., Bd. 3, S. 2065–2067.

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das Handwerk der Literaturwissenschaft der 1950er Jahre. Das poetische Interesse seiner werkimmanenten Produktion zeigt sich etwa im Verfahren, mittels dessen Rühmkorf zu einer Datumsangabe im Gedicht gelangt ist; es geht um das Verschwinden des Protagonisten und »Übergangsreisende[n]«10 Leo Doletzki. Ich zitiere Hartmut Steineckes Erläuterung: Das Datum erfährt noch etwas komplexere Variationen: Sie enden zunächst beim 25. Oktober 1989, dem zur Entstehungszeit noch in der Zukunft liegenden 60. Geburtstag Rühmkorfs. Aus dem netten Gag macht jedoch die letzte Variante wesentlich mehr : der alte Herr verschwindet nun gleichsam am Vorabend von Rühmkorfs Geburtstag. Damit wird das Motiv des »Übergangs« ein letztes Mal aufgegriffen: Das Gedicht endet auch mit einer Verwandlung und Metamorphose; es hat – so Rühmkorf selbst – mit »Verpuppung« und »Wiederauferstehung, Wiedergeburt zu tun«.11

Das sind die Leitmotive, die Rühmkorf dem Gedicht vorgibt. Die Einfälle dienen der Variation der Leitmotive oder der Integration mehrerer Leitmotive zugleich. Damit kehre ich zur Produktivität zurück, über die das Gedicht Himmel abgespeckt nachdenkt. Die Herstellung des Gedichts geht von Leitmotiven aus, die der Autor dem Produktionsprozess vorgibt – die konkreten Formen unterstehen den Leitmotiven, und insofern diese dem Autor nahestehen, drücken die Formen den Charakter des Autors aus. Rühmkorf hat – wie ich noch zeigen werde – die Gewohnheit, nicht nur andere Dichter nach ihrem Charakter zu beurteilen, sondern auch sich selbst, etwa im Gedicht Wir singen zum Eingang, das gleichfalls in den Band Irdisches Vergnügen in g aufgenommen wurde. Rühmkorf nennt sich in diesem Gedicht mit seinem Pseudonym Leslie Meier (um den Abstand zwischen Autor und Gedicht wesentlich zu verringern) und schreibt: »Leslie, das asthenische Schwein, j gut, wir lassen es leben – « (V.1f.).12 Etwas allgemeiner gesagt, gewinnen Formen nach dieser Poetik die Kraft zur Diagnose übergeordneter, textexterner Kräfte. Die den leitmotivischen drei Schritten in Himmel abgespeckt zugeordneten Bilder sollen also etwas über den Autor aussagen. Der Gedanke, dass Formen zur Diagnose textexterner Kräfte, von Ideen und Mythen bis hin zur Seele der Dichter, sich eignen, gehört zum theoretischen Grundbestand einer an Formen interessierten Geistesgeschichte. Er bestimmt auch das Buch Der bildhafte Ausdruck in den Dichtungen Georg Heyms, Georg Trakls und Ernst Stadlers von Karl Ludwig Schneider,13 über den Rühmkorf anerkennend in einem Brief an Kurt Hiller spottet; im Kommentar Rühmkorfs erscheinen der Dichter und die Gelehrten als Charaktere: 10 11 12 13

Rühmkorf: Gedichte, S. 455. Steinecke: »Arbeit ist des Artisten Schmuck«, S. 314. Rühmkorf: Gedichte, S. 145. Karl Ludwig Schneider: Der bildhafte Ausdruck in den Dichtungen Georg Heyms, Georg Trakls und Ernst Stadlers. Studien zum lyrischen Sprachstil des deutschen Expressionismus, 3. Aufl., Heidelberg 1968 (Probleme der Dichtung, 2).

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Bei ihm hatte ich stilanalytische Übungen zu machen + bei ihm muß ich vorstellig werden, wenn ich ein Seminar [von Hans Pyritz. Chr. K.] mitmachen will. Pyritz selbst ist ein ganz großes Arschloch. […] Aber : K.L.S.: Das, was man einen netten Menschen nennt! Als ich mal seinen Gedichtband in die Finger kriegte, konnte mir vor lauter Gewieher nicht mal der Kaffee hochkommen. Ferner war er irgendwie am Nebelhirn beteiligt. Aber : nett. Man muß zufrieden sein, auf solche angewiesen zu sein. Ich hasse kaum etwas so intensiv wie mein Studierfach. Aber ich habe Begabung + liefere gute Arbeiten.14

Schneider sammelt und ordnet in seinem Buch über den frühen Expressionismus Metaphern aus den Werken der Autoren und vertritt die Auffassung, dass die Bilder einen Tiefenbezug zur Seele ihres Autors besitzen; er schreibt: »Der Dichter erlebt vielmehr bereits metaphorisch. […] Aufgrund dieser Ichbezogenheit wird das Bild zum unmittelbaren Ausdruck der irrationalen Grundstimmung eines Dichters und zum integrierenden Bestandteil seiner Sprache.«15 Solche Gedanken übernimmt Rühmkorf. Der Charakter, den Rühmkorf im Produktionssystem seiner Gedichte akzeptieren will, ist freilich der, der viele Auffassungen vertritt und ebenso viele parodiert, denn das Interesse herrsche überall. Es sind oft Traditionen, übernommene Auffassungen: »In meinen Kopf passen viele Widersprüche«, lautet das vierte Kapitel in der den Dichtern gewidmeten Strömungslehre I aus dem Jahr 1978.16 Viele Haltungen sind möglich, doch die Aggressivität (die auch der Sentimentalität innewohnt – die deutsche Verbindung zeigt sich in dem von Celan übersetzten Gedicht Apollinaires Schinderhannes)17 wird von der Parodie nicht getroffen. Die Aggressivität, wie sie dem linken Autor natürlich ist, reicht wohl am tiefsten. Hans Wolffheim hat diese Aggressivität diagnostiziert und zu einer dichterischen Haltung erklärt, die es rein auszubilden gelte (sie wird viel von Rühmkorfs Freund und Vorbild Kurt Hiller haben). Wolffheim schreibt Rühmkorf am 13. Oktober 1959 einen Brief über seinen Gedichtband: »Ich meine nun allerdings, wenn man sich entschliesst aggressiv zu sein, so kann man überhaupt nicht aggressiv genug sein […] [das Gedicht] müsste […] auf eine Steigerung hin komponiert werden.«18 Die Aggressivität ist eine Haltung des 14 Brief vom 3. März 1955, zit. nach Rüdiger Schütt (Hg.): Zwischen den Kriegen. Werner Riegel, Klaus Rainer Röhl und Peter Rühmkorf – Briefwechsel mit Kurt Hiller 1953–1971, München 2009 (Edition Text + Kritik), S. 241. 15 Schneider : Der bildhafte Ausdruck, S. 15. 16 Peter Rühmkorf: Strömungslehre I. Poesie, Reinbek bei Hamburg 1978 (Das neue Buch, 107). 17 Celan nimmt zur Kritik des Bänkelgesangs in der Tradition von FranÅois Villon, der als Genre Rühmkorf und den Seinen die Legitimation gibt, die Gattung selbst auf. In Eine Gauner- und Ganovenweise aus dem Band Die Niemandsrose (1963) analysiert Celan die Folgen für die Juden, die auch Apollinaires Gedicht vorführt; vgl. Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. von Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 2003, S. 135. 18 Ts., 1 Bl., aus dem Nachlass Hans Wolffheim im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

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Autors, die das Gedicht prägt, insofern sie den in das Gedicht aufgenommenen Traditionen gilt. In Rühmkorfs Umgang mit den Traditionen wird das lyrische Subjekt nicht in die Lage versetzt, von den Traditionen, für die es ein Faible hat, zu lernen, um damit eigene Gebilde zu schaffen. Allenfalls ist die Variation möglich. Die Hymne, die jenen Abschnitt im Band Irdisches Vergnügen in g beendet, den das Gedicht Himmel abgespeckt eröffnet, übernimmt Hölderlins Geste der Emphase und nutzt sie für einen spezifisch Rühmkorf ’schen Gehalt, nämlich für eine Art grüner Romantik, und genau dadurch wird die Form Hölderlins nicht in Frage gestellt; man achte auf den Ton: Daß ein künftig Geschlecht euch anständig spreche. Größe von eurer Größe zu nennen weiß und Nein von Eurem Nein.19

Was ich damit ausdrücken möchte: Es findet keine Resemantisierung des traditionellen Form- und Sprachmaterials in dem Sinn statt, dass innerhalb des Gedichts eine neue sprachliche Referenzgröße – die Sprache des Gedichts – entstünde, auf die sich die jeweiligen situativen sprachlichen Entscheidungen beziehen könnten. Im Gegenteil: Sie sind, wie ich gezeigt habe, vom Autor draußen gesteuert. Vielleicht sind die Selbstreflexionen Rühmkorfs, sei es in Essays, Interviews oder Gedichten, daher so überaus zahlreich. Sie zeugen womöglich von der Einsicht des Autors in die Unfähigkeit der Gebilde, sich von dessen Kontrollwahn zu emanzipieren, um endlich produktiv zu werden. Denn: Es gibt nur die parodistisch-aggressive Haltung des Autors – von dieser Haltung aus muss das lyrische Subjekt alles im Gedicht beurteilen und gestalten.20 Das ist Rühmkorfs poetischer Historismus. So zielen seine vielen Programmtexte darauf ab, die Haltung mit der Produktivität zu identifizieren. Die Produktivität ist das eine und das philologische Urteil das andere. Rühmkorfs Aggressivität hat zweifellos eine produktive Kraft. Er verteidigt im Gespräch mit Manfred Durzak (im Jahr 1989) die Produktivität gegen das Verständnis und wertet sein literarhistorisches Urteil ab – eine Variation der Autoparodie zeigt sich. Der Charakter ist Rühmkorfs Argument. Er wehrt sich dagegen, seinen Aufsatz Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen21 (1962) nachträglich als Analyse der Nachkriegslyrik zu nehmen, wie es Durzak vorschlägt: 19 Rühmkorf: Gedichte, S. 140–142, hier S. 142. 20 Vgl. meine Analyse der Lyrik von Günter Eich und Walter Höllerer sub voce Haltung, in: Christoph König: »O komm und geh«. Skeptische Lektüren der ›Sonette an Orpheus‹ von Rilke, Göttingen 2014, S. 224–241. 21 Peter Rühmkorf: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, hg. von Hartmut Steinecke, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 7–42.

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Nichts von diesen Markierungen wäre eigentlich im Rückblick zu revidieren. Das erklärt natürlich auch, daß jemand, der sich aus der heutigen Situation mit der damaligen Lyrik beschäftigt, gar nicht anders kann als sich auf diesen kanonischen Text zu beziehen. Auf diesem Hintergrund ist es ein repräsentatives Dokument und in diesem Sinne klassisch zu nennen.22

Durzak spricht von Helmut Heißenbüttel, Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass, jedoch nicht von Rühmkorfs Polemik gegen Paul Celan damals – doch genau darauf kommt Rühmkorf in seiner Antwort zu sprechen. Etwas Ungelöstes zeigt sich; Rühmkorf sagt: »Ein Künstler muß nicht jeden andern Künstler verstehen können, verstehen wollen, das wäre ja geradezu fürchterlich.«23 Der Verstehenszwang ist tatsächlich nicht dem Dichter, sondern dem Philologen auferlegt. Rühmkorf setzt fort: Celan ist für mich seit seinen lyrischen Anfängen ein besonders schwieriger Charakter gewesen. Ich selbst bin kein Reduktionist der Sprache […]. Außerdem hat gerade Celan diesen fürchterlichen letalen Sog, dem ich mein Leben lang – nein nicht ausgewichen – dem ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Ausrufezeichen und den ihnen verbundenen Imperativen begegnet bin.24

Die Sache bleibt ungelöst. Im Teil der Bibliothek Rühmkorfs, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt wird, steht Wolfgang Emmerichs Rowohlts Monographie über Paul Celan aus dem Jahr 1999 – mit dicken Anstreichungen, Ruf- und Fragezeichen von Rühmkorfs Hand an der Stelle, wo Emmerich nachweist, dass Celans Gedicht Todesfuge kein Plagiat des Gedichts Er von Immanuel Weißglas ist, sondern eine Widerlegung in gleichem Wortmaterial. Zwei Fragezeichen setzt Rühmkorf an die zentrale, von ihm auch unterstrichene Stelle, in der Emmerich schreibt: Hat man einmal die durchgängige Zitatstruktur der Todesfuge als eine – auch – bittere Abrechnung mit der literarischen deutschen Tradition erkannt, dann erscheint es geradezu als zwingend, daß sich Antschel von Weißglas’ »Er« zu einer lyrischen Polemik, um nicht zu sagen: zu einer Par-Odie, einem Gegengesang, herausgefordert fühlen mußte, der die von diesem eingehaltenen Konventionen sprengen sollte.25

Rühmkorfs in den Anstreichungen greifbare Aggression gegen Celan, die freilich unerlöst bleibt, hat eine lange Geschichte. Schon die Polemik im 22 Manfred Durzak: Ist Rühmkorf dabei, ein Klassiker zu werden? Ein Gespräch mit Peter Rühmkorf, in: Durzak, Steinecke: Zwischen Freund Hein und Freund Heine, S. 321–364, hier S. 342. 23 Ebd., S. 343. 24 Ebd. 25 Wolfgang Emmerich: Paul Celan, Reinbek bei Hamburg 1999. – Unterstreichungen und Markierungen Rühmkorfs S. 52–54, hier S. 53 (Nachlass Peter Rühmkorf, Deutsches Literaturarchiv Marbach).

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Aufsatz aus dem Jahr 1962, über den Durzak und Rühmkorf sprechen, will einen Schlussstrich ziehen. Klaus Briegleb hat gezeigt, dass dieser Aufsatz mit literaturpolitischer Absicht von Hans Werner Richter für den Band Bestandsaufnahme der Gruppe 47 bestellt und so von Rühmkorf geschrieben wurde. Celan sollte als ›Ärgernis‹ mit den Argumenten der Goll-Affäre aus dem Verkehr gezogen werden; Briegleb schreibt: »das antijüdische Unbewußte der Gruppe 47 [bricht sich] in einem Kauderwelsch Bahn, dessen eitle Individualität seinen Rückhalt in der ›gewohnten rüden Sprache‹ des Kollektivs (Briegleb beruft sich hier auf Rolf Schroers) nicht verleugnen kann«.26 So hatte auch schon Celan Rühmkorfs Aufsatz gelesen und seinerseits den Satz Rühmkorfs angestrichen: »Denn obwohl Celan sicher als Ausnahme nicht nur unter dichtenden Zeit-, sondern auch Artgenossen anzusprechen ist […] vermag man doch bestimmte Schwächen und Mankos nicht übersehen.«27 Das Wort »Art« dient der Identifikation einer Gruppe innerhalb der Gegenwartsdichter, wobei die Wahl des Wortes abweicht von dem bei Rühmkorf gleichfalls zu findenden Gebrauch im Sinn von »Artefakt«;28 der Sinn weicht ab, indem Rühmkorf das Adjektiv »dichtend« zur Spezifizierung hinzufügt. Damit geht es nicht darum, die Dichter überhaupt zu identifizieren, sondern eine Gruppe jüdischer Dichter – ein hinterhältiges Wortspiel, auf das Celan mit der Unterstreichung reagiert.29 Mein Augenmerk soll im Folgenden nicht der Institutionenpolitik der Gruppe 47 gelten, sondern ich stelle die Frage, was Celan und Rühmkorf, die beide gegen den Missbrauch der Traditionen in der NS-Zeit schreibend handeln, derart unterscheidet, dass Rühmkorf nur noch Entleerung und »pasteurisiertes Pathos«30 erkennen will, wo Celan die deutsche literarische Tradition, die er ver26 Klaus Briegleb: Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: »Wie antisemitisch war die Gruppe 47?«, Berlin, Wien 2003, S. 215. 27 Abdruck nach dem von Hans Werner Richter herausgegebenen und von Celan kommentierten Sammelband Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962 (München 1962, S. 449–476), in: Barbara Wiedemann (Hg.): Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer »Infamie«, Frankfurt a. M. 2000, S. 662–664. Später wird der Aufsatz Rühmkorfs mehrfach wieder abgedruckt (vgl. Peter Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen. Werke 2, hg. von Wolfgang Rasch, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 132–162; vgl. Anm. 30). 28 Bemerkenswerter- und perfiderweise findet sich das Wort »Artunterschied« im Sinn eines Qualitätsunterschieds in genau der Polemik aus dem Jahr 1958, in der damit Celan die Sekundarität gegenüber Dichtern wie Goll und Paul Êluard unterstellt wird. 29 Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt, S. 132–162. 30 Ebd., S. 147. In der Fassung von 1978 (Strömungslehre I), der in die Werkausgabe aufgenommenen, anscheinend letzten autorisierten Fassung, schreibt Rühmkorf über Celan als Ausnahme unter »unsern lyrischen Zeit- und seinen spezifischen Gattungsgenossen« (Rühmkorf: Schachtelhalme, S. 29) und unterstreicht (wieder mit einem nur scheinbar exkulpierenden Wortspiel, dem von Genre und Species), dass mit »Art« gewiss nicht die Kunst gemeint sei.

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antwortlich macht für die Ermordung der europäischen Juden, umformt, um wieder, als Dichter, Deutsch sprechen zu können.31 Die (wie stets nicht in den Kontext gestellte, als Zitat isolierte) Strophe aus dem Gedicht Engführung (V. 102–111) soll – Rühmkorf greift spöttisch den Titel auf – die »Beschränkung ins allzu Enge«32 zeigen. Ich komme erneut auf die von einem Charakter gesteuerte ›historistische‹ Schreibweise Rühmkorfs zu sprechen, die nur eine Haltung gegenüber dem Fremden und Feindlichen zulässt, nicht jedoch ein produktives Verstehen poetischer Projekte anderer. Rilke ist ein anderes Beispiel. In Rilkes Bann habe Rühmkorf als Siebzehnjähriger Gedichte geschrieben, die er – und natürlich amüsiert Rühmkorf sich über sich selbst – »selbst nicht mehr verstand«.33 In einer späteren Betrachtung aus dem Jahr 1975 erkennt Rühmkorf Rilke an, wo er seinen Charakter zurückgenommen habe, sein »unleidliches Subjekt«, das mit seinen unterdrückten Trieben und Interessen, wie Rühmkorf meint, nicht zurechtkomme – in den Neuen Gedichten und den Sonetten an Orpheus etwa.34 Diese Haltung ist nicht in der Lage, die eigene Aggression (und verstecke sie sich nur in der Verehrung) in einen kritischen, historischen und poetischen Dialog zu verwickeln. Celan macht es anders – er stellt Rilkes idiomatische Dichtersprache und dessen pronominale Verhältnisse in den eigenen Dienst. Rühmkorfs poetisches Verfahren bestimmt auch seine literarhistorische Methode. Die Methode hat 1962 bereits, wie ich sagte, eine Vorgeschichte, und zwar in der Serie Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof, die 1957 und 1958 im Studenten-Kurier und in der Zeitschrift konkret erschien. In den Heften 1958/5, 1958/9 und 1958/14 ist von Paul Celan die Rede. Rühmkorf verwendet das (germanistische) Parallelstellenverfahren und stellt Gedichte zusammen, in denen die Farbe blau vorkommt – er unterwirft Celan einem Zeitdiskurs, und die Diagnose lautet auf Sekundarität und Epigonentum – der Plagiatsvorwurf, der aus den Anstreichungen in Emmerichs Celan-Monographie spricht, ist schon früh vorbereitet. Die Aggressivität Rühmkorfs verrät nun auch ihren semantischen, deutschen Gehalt: Celan und den anderen im Visier wird die Härte, man möchte sagen, die Schneidigkeit abgesprochen. Rühmkorf schreibt: »wie verlor das an Mark und Kraft, ohne an harter Geschmeidigkeit [die gemeinhin KruppStahl attestiert wird. Chr. K.] zu gewinnen«, und er spricht vom »Blut- und Harmlose[n]«.35 Die Schneidigkeit Rühmkorfs steht Celans Technik der 31 Vgl. Jean Bollack: Das Augenblau, in: ders.: Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur, hg. von Werner Wögerbauer, Göttingen 2006, S. 243–258. 32 Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt, S. 151. 33 Ebd., S. 34. 34 Vgl. Peter Rühmkorf: In meinem Kopf passen viele Widersprüche. Über Kollegen, hg. von Susanne Fischer und Stephan Opitz, Göttingen 2012, S. 284–286. 35 Konkret 1958, Nr. 14, S. 10.

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schneidenden Silbenzerlegung gegenüber. Geht man den Stellen nach, die Rühmkorf auflistet, ohne ihren Kontext zu benennen, geschweige denn zu erörtern, bietet sich gerade nicht das Bild eines Imitators. In Rühmkorfs Liste finden sich die Zeilen »tritt in sein Aug, das noch blau ist, j eine zweite, fremdere Bläue«. Das Zitat stammt aus dem Gedicht In memoriam Paul Eluard, in dem Celan den Dichter, auf den bezogen Rühmkorf Celans Sekundarität konstatiert (er spricht von dem »abschüssigen Weg […] von Goll und Êluard zu Poethen und Celan«36), zur Rede stellt. Tatsächlich folgt Celan in dem rasch anzitierten Gedicht Êluard nicht, sondern führt die Auseinandersetzung mit einer von Êluard ausgehenden surrealistischen Tradition, in deren Diskurs Rühmkorf Celan einordnen will: »Deutschland [bekommt] ganz offensichtlich gerade seinen Dritt-Aufguß an Romantik kredenzt […]. Beachten Sie: Blau – Signalfarbe und Wesenskolorit bereits der ersten deutschen Romantik, hier, 1958 und in der Bundesrepublik, blauäugelt’s und blaumündelt’s uns wieder entgegen.«37 Die Farbe Blau steht in Celans Gedicht »auf seiten der Nacht und der Treue zur Geschichte«38 – 1950 hatte sich Paul Êluard, der einflussreiche Kommunist, geweigert, für den in Prag von den Kommunisten zum Tod verurteilten Dichter Z‚visˇ Kalandra das öffentliche Wort zu ergreifen, wozu ihn Andr¦ Breton aufgefordert hatte – Celan prüft über Êluards Grab Wege, wie in Êluards Dichtung die Kritik an dieser Verweigerung sich entwickeln könnte – das Blau der Symbolisten müsste hierfür eben »eine zweite, fremdere Bläue« erreichen. Einem Du (der poetischen Instanz in Êluards Poesie) kann diese Aufgabe übertragen werden; die vollständige Strophe lautet: Leg ihm dies Wort auf die Lider : vielleicht tritt in sein Aug, das noch blau ist, eine zweite, fremdere Bläue, und jener, der du zu ihm sagte, träumt mit ihm: Wir.39

Das gleiche Verfahren wendet Rühmkorf 1962 an; wenn er Wörterlisten aus Celans Gedichten anfertigt und sie kurzerhand der Tradition der Naturdichter zuschlägt, denen Rühmkorf insgesamt übel will. Er spricht von einem »System der Schlüsselwörter (Krug, Brunnen, Urne, Asche, Mohn, Kelch, Muschel, Schatten, schwarz, Pappel) [, das] eigentlich nur ein Sortiment von Nachschlüsseln ist«.40 Übrigens zitiert Rühmkorf auch sich selbst abschätzig, freilich 36 37 38 39 40

Ebd. Ebd. Bollack: Das Augenblau, S. 251. Paul Celan: In Memoriam Paul Eluard, in: ders.: Die Gedichte, S. 82f. Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt, S. 150.

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zu unrecht, in einer anderen Liste, die zeigen soll, dass es zu einem regelrechten »Ausverkauf der Raritäten«41 komme: Die Formel »siderischer Montgolfier« aus dem Gedicht Himmel abgespeckt wird verzeichnet, obgleich sie doch im Gedicht selbst schon ins Gespött gekommen ist. Wer Parallelstellen verzeichnet, interpretiert nicht. Peter Szondis Kritik gilt offenkundig einem Verfahren, das auch außerhalb der Literaturwissenschaft damals geübt wurde.42 Doch hauptsächlich kommt es mir auf einen Unterschied in einer syntaktischen Möglichkeit an, die über vieles entscheidet, nämlich das Pronominalsystem Celans, der in seinen Gedichten – statt der Expression eines Ich – ein Du dem lyrischen Subjekt gegenüberstellt, das im Prozess des Gedichts als eigene Instanz den Dichter darstellt und das sich gegen das Ich wendet, welches den historischen Part übernimmt. Dem eingangs interpretierten Gedicht Rühmkorfs stelle ich daher am Ende meines Aufsatzes ein Gedicht Celans gegenüber, das die Relektüre einer Tradition (namentlich Rilkes und Heideggers Werke und deren Folgen) vollzieht, und zwar innerhalb von Rühmkorfs »Nachschlüsseln«, und das die Kraft einer pronominalen Korrektur zeigt, die zur Resemantisierung führt, also ein Mittel, über das Rühmkorf – mit all den hier gezeigten Folgen, bis hin zum Missverstehen – nicht verfügt. In einer Betrachtung von Celans poetischer Kritik an Rilkes Gedichten werden sowohl die Unzulänglichkeit Rühmkorfs als auch die Gründe für dessen Unverständnis Celan gegenüber sichtbar. Ich wähle Paul Celans Gedicht Waldig, es stammt aus dem Gedichtband Von Schwelle zu Schwelle (1955): Waldig Waldig, von Hirschen georgelt, umdrängt die Welt nun das Wort, das auf den Lippen dir säumt, durchglüht von gefristetem Sommer. Sie hebt es hinweg und du folgst ihm, du folgst ihm und strauchelst – du spürst, wie ein Wind, dem du lange vertrautest, dir den Arm ums Heidekraut biegt: wer schlafher kam und schlafhin sich wandte, darf das Verwunschene wiegen.

41 Ebd., S. 143. 42 Vgl. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis (1962), in: ders.: Schriften, hg. von Jean Bollack u. a., 2. Aufl., Berlin 2011, Bd. 1, S. 263–286.

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Du wiegst es hinab zu den Wassern, darin sich der Eisvogel spiegelt, nahe am Nirgends der Nester. Du wiegst es hinab durch die Schneise, die tief in der Baumglut nach Schnee giert, du wiegst es hinüber zum Wort, das dort nennt, was schon weiß ist an dir.43

Indem der Wald in ein Adverb gebracht ist (wald-ig), gehört das Wort zu den Mitteln der Reflexion im Gedicht. Abschätzig und distanziert ist vom Wald, auf den sich die Reflexion in einem ersten Schritt bezieht, die Rede. Es ist wohl auch der Schwarzwald, der deutsche Wald und der Wald Heideggers,44 der zu dem Merkmal der Welt wird, auf den sich, im zweiten Schritt, die Betrachtung richtet. Vorgängig ist noch die Analyse, die sich zur Kritik erweitert. Der Zusatz »von Hirschen georgelt« (V. 1) führt die Liturgie (Orgel) in das folkloristisch mit dem Wald assoziierte Brunftgeschrei des Hirsches ein. Rilkes Tiere und Wald, die im ersten der Sonette an Orpheus (1922) gemäß der orphischen Dichtertradition gelernt haben, die Leidenschaft artistisch zu kontrollieren, weshalb Orpheus ihnen »Tempel im Gehör« (V. 14),45 Kunsttempel also, schaffen konnte, haben kraft des katholischen Kultus den Spieß umgedreht. Sie gefährden in Celans Gedicht, das Rilkes Sonett von Neuem ermöglichen will, nun das Wort (»umdrängt«, V. 2). Celan findet sich in einer post-rilkeschen verderbten Welt wieder. Das Wort auf seinen Lippen »säumt« zwar noch, d. h. es zögert und zieht insofern die Grenze. Die beiden Bedeutungen von säumen, transitiv und intransitiv, verbinden sich. Die Gefährdung von außen ist innen schon überwunden worden – darin liegt wohl die Voraussetzung für deren Erkenntnis. Die Verlockung des Sommers, der dem Winter als der Jahreszeit der Wahrheit in Celans Dichtung meist entgegensteht, ist überwunden. Das Attribut »gefristetem« (V. 4) als Partizip Perfekt von fristen meint einen mühsam durchlebten Sommer. Ihm gilt die Leidenschaft (»durchglüht«, V. 4), die somit eine Leidenschaft für die Kälte darstellt, ebenso wie für Rilkes Sonett: »Tiere aus Stille drangen aus dem klaren j gelösten Walt von Lager und Genist« (V. 5).46 ›Durchglühen‹ ist mit dem Streben nach der Kälte eins, wie sie am Ende des Gedichts wieder auftaucht: »die tief in der Baumglut nach Schnee giert« (V. 16). Das Wiederauftauchen setzt einen Verlust voraus. Die zweite Strophe analysiert die Verführung, die nun im Wort »Heidekraut« den Namen Martin Hei43 Paul Celan: Von Schwelle zu Schwelle. Gedichte, 3. Aufl., Stuttgart 1961, S. 40. 44 Vgl. das Kapitel »Martin Heideggers philosophische Paronomasie«, in: König: »O komm und geh«, S. 194–202. 45 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv, Wiesbaden 1955, Bd. 1, S. 731. 46 Ebd.

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deggers erhält.47 Wir befinden uns im Schwarzwald, den der Philosoph quasi kultisch durchbrüllt. Die »Welt« ist seine Welt (Welt-Walten, das Dasein als Inder-Welt-Sein – Rühmkorfs Wortbildungen wie ›Welt-an-sich‹ spielen gleichfalls auf diese Sprechweise an), und sie gibt sich als – den Dichter sonst wohl tragenden – Wind, Atem und Pneuma. Das Pneuma – der Gestalt Heideggers folgend oder ihn gewaltsam daran anschmiegend – korrumpiert ihn: »wie ein Wind […] j dir den Arm ums Heidekraut biegt« (V. 7). Er hat sich im Wind getäuscht. Der Wind wird neu zu prüfen sein. Der zunächst heideggerfreundliche Celan, der in jenem sprachgebundenen Denken eine Grundlage sah, erkennt die Manipulation und drückt hier seine Enttäuschung aus.48 Wie der Wind an den schaffenden Atem erinnert,49 ist das Gedicht in seiner Komposition eine Analyse der Kreativität: Das Du folgt dem Wort (vgl. V. 5). Die Mittelstrophe des Gedichts zeigt die Idylle des Dichterischen und zugleich dessen Verderbnis. Das »Verwunschene« (V. 11) ist das eigentliche, poetische, im Schlaf dem Dichter zugängliche Reich. Der Schlaf ist bei Celan, von Rilke her (vgl. Früher Apollo in der Sammlung Neue Gedichte50), mit der Schläfe und dem Denken verbunden.51 Das ins Gefühlte gebrachte Wort hat seine Unschuld ver-

47 Vgl. Jean Bollack: Dreimal Heidekraut, Ms. (Veröffentlichung in Vorbereitung). 48 Vgl. das Kapitel »Todtnauberg. Vor dem Gericht der Toten«, in: Bollack: Dichtung wider Dichtung, S. 377–411. 49 Vgl. das Kapitel »Atem, du unsichtbares Gedicht! (II.1)«, in: König: »O komm und geh«, S. 136–144. 50 Rilke: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 481. 51 Vgl. auch Schlafendes Lieb (vor 1944 entstanden, Celan: Die Gedichte, S. 57), wo das Du die Aufgaben des frühen Apollo übernimmt: »Den ungewissen Lorbeer trägt nun deine Schläfe. jUnd einer, den noch keiner übertraf, j erwartet, ob der Traum ihn überträfe.« (V. 2–4). – In meinem Bericht für das Jahrbuch des Wissenschaftskollegs beantworte ich Luca Giulianis Frage, ob sich mittels der Interpretation von Rilkes Gedicht Früher Apollo aus der Sammlung Neue Gedichte entscheiden lässt, welchen der im Louvre verwahrten Kuroi Rilke gesehen haben mag. Giuliani und ich betrachteten die Abbildungen im Katalog des Louvre, lasen das Gedicht – eine Seitenfrage führte unversehens zur Antwort. Warum wird in der Zeile »zu kühl für Lorbeer sind noch seine Schläfe« (Rilke: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 481, V. 7) das Wort Schläfe als Plural (»sind«) aufgefasst? In Grimms Deutschem Wörterbuch (Bd. 15, 1899, Sp. 270–273) erfährt man sub voce Schlaf / Schläfe (tempus capitis) folgendes: Aus dem Wort Schlaf hat sich das Wort Schlaf für Schläfe entwickelt, da man annahm, dort habe der Schlaf seinen Sitz. Aus lautlichen Gründen entsteht daraus das Wort Schläfe, mit der Folge, dass der Plural von Schlaf (für Schläfe) verloren geht. Man hat nur mehr Schläfen. Indem nun Rilke grammatisch (durch den Plural) zwingt, das Wort Schläfe als Plural von sommeil zu nehmen, verwendet er eine ausgestorbene Pluralform und führt damit auch das spätere Wort (die Schläfe) auf seine frühere Bedeutung zurück (der Schlaf, der seinen Sitz in der Schläfe hat). Rilke beherrschte dank seiner ausgedehnten Lektüren die Sprachgeschichte und erweiterte grammatisch seine sprachlichen Möglichkeiten. Er verstand sich darauf, Alltagsworte mit einem neuen, eigenen Sinn zu versehen. Allgemeiner gesprochen, zeigt das Beispiel: Mit der Syntax erhält das Interpretationsargument seine vernünftige Grundlage. Indem vom Schlaf die Rede ist, der »in seinem Haupte« (V. 3) lebt, und nicht von einer bestimmten Schläfe, ist

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loren. Nicht im Gegensatz zum aktiven, böswilligen ›verwünscht‹ (Grimms Deutsches Wörterbuch erkennt im ›verwunschen‹ nur eine oberdeutsche Sprachvarietät an, ohne ihr eine eigene Analyse der Semantik zu widmen52). Sondern vom Präfix ver- her, das den Wunsch der Realisierbarkeit entzogen hat. Celan geht von dem verwunschenen Schloss aus, das Grimm in den Märchen erzählt, aber im Wörterbuch nicht analysiert. Heidegger hat es seither verdorben. Im Wiegen, das, in Übereinstimmung mit dem Schlaf, dem Verwunschenen wie einer Wiege gilt, ist die Bedeutung des Bestimmens eines Gewichts gegenwärtig. Die Kritik ist anwesend. So bleibt es auch in den letzten beiden Strophen, vielleicht je weiter das lyrische Subjekt sein produktives Du gehen lässt, desto stärker. Die Wortfelder des Schnees und der Kälte, die später im Gedichtband Sprachgitter (1959) aufgegriffen werden (und Rühmkorfs Aggression wecken), konstituieren die Welt, in der das Wiegen in den Abgrund führt. Am Ziel dieses Wegs steht das alte, erneuerte Wort (es meint die Sprache des Dichters), das den Fortschritt misst und das anerkennt, »was schon weiß ist an dir« (V. 18). Die Farbe weiß vertritt in der Kälte Celans das französische »pur« Rilkes, das durch Heidegger nicht mehr möglich war, und das nun als Asche (einer von Rühmkorfs »Nachschlüsseln«) erneuert wird. In Celans Werk klärt sich das Verhältnis von philologischer Lektüre, Produktivität und Ethik, wie es großer Literatur eigen sein kann, auf andere Weise als bei Rühmkorf. Celans Produktivität setzt die Lektüre der Gedichte Rilkes voraus, um darin deren Produktivität zu erkennen. So ist die überlieferte Spracharbeit erneut fruchtbar gemacht, statt dass der Autor in einer Haltung (wie in Günter Eichs oder eben auch in Rühmkorfs Lyrik) der Geschichte vergeblich gerecht werden will. Eine solche Haltung ist eine Geste der Geschichte und bleibt der Literatur äußerlich, es sei denn sie erneuert die Poesie zwar von außen (in der Erinnerung an die Judenvernichtung), aber im Sprachdenken.

das Haupt selbst nicht identifizierbar. Die konkreten Bestimmungen sind getilgt. Die Kuroi hatte Rilke hinter sich gelassen. Mit ihm Celan, der den Traum mit der Schläfe verbindet. 52 Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 25, 1956, Sp. 2383.

Hans-Edwin Friedrich

»alle neu aufgerissenen Klüfte […] zwischen Kunstglauben und Gesellungstrieb magisch übertönend«. Peter Rühmkorfs Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock (1959)

Gerade Klopstocks berühmte Ode ›Der Zürchersee‹ zeigt, über alle Kunstspitzen hinweg, wie innig sich das neue literarische Gesellschaftsprodukt gleichzeitig als Gesellungsmittel erweist, alle neu aufgerissenen Klüfte zwischen privater Rührsphäre und kollektivem Kommunikationsverlangen, zwischen moderner Emanzipationslust und moderner Naturfrömmigkeit, zwischen Kunstglauben und Gesellungstrieb magisch überbrückend-übertönend.1

Diese Deutung der Ode steht am Ende einer längerfristigen Auseinandersetzung mit Klopstock, in der sich zwei Phasen unterscheiden lassen. In den 50er und frühen 60er Jahren greift Rühmkorf für seine Gegengesänge zweimal auf Vorlagen Klopstocks zurück – neben dem Zürchersee auf die Ode Dem Erlöser -, bezieht sich damit auf einen Autor, der damals eher in der zweiten Reihe des Kanons angesiedelt war. Die zweite Phase nimmt ihren Anfang mit Rühmkorfs Anthologie der Gedichte Klopstocks für die Fischer-Bücherei 1969.2 Das Vorwort für diese Ausgabe verwertete er für die Rundfunksendung Vom »Messias« zur Französischen Revolution. Friedrich Gottlieb Klopstock – Revision eines Dichterbildes, die vom Hessischen Rundfunk am 9. September 1969 ausgestrahlt wurde. Das Manuskript blieb einige Zeit liegen, ehe Rühmkorf es zu dem Essay ausarbeitete, der 1975 in Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich erschien. Zu diesem Zeitpunkt stand jedoch Walther im Zentrum des Interesses, und zwar sowohl beim Autor wie beim Publikum, wie Peter Wapnewski vermerkte: »Wo immer nämlich in den letzten Monaten von diesem Buch die Rede war, wann immer Autor Rühmkorf aus ihm öffentlich vorlas […] – Klopstock war der Rede nicht wert.«3 1 Peter Rühmkorf: Friedrich Gottlieb Klopstock. Ein empfindsamer Revolutionär, in: ders.: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, Reinbek bei Hamburg 1975 (Das neue Buch, 65), S. 79–120, hier S. 88. 2 Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedichte. Ausgewählt von Peter Rühmkorf, Frankfurt a. M. 1969. 3 Peter Wapnewski: Zwischen Freund Hein und Heine. Walther von der Vogelweide, Klopstock und Rühmkorf oder : Der annektierende Interpret, in: Die Zeit 5. 3. 1976, Nr. 11.

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In Die Jahre die Ihr kennt führt Rühmkorf aus, worin sich beide Phasen unterschieden. Daß der Fischer Verlag mich gerade in diesen Tagen um die Edition einer KlopstockGedichtsammlung anging, kam mir nur gelegen. Hatte überdies schon öfter KlopstockKontakte gehabt, in meiner Studentenzeit in Hamburg-Ottensen, wo ich den Altmeister ins Moderne übersetzt hatte, den »Zürchersee« zum Beispiel und die Ode »An den Erlöser«. Ließ mich also noch einmal ins Achtzehnte Jahrhundert entführen, aber das sah nun schon wieder ganz anders aus als noch vor zwanzig Jahren, und von Entrückung konnte auch nicht die Rede sein. Im Gegenteil, alles, was ich anfaßte, erinnerte ans laufende Heute; woran ich auch stieß, es klirrte gefährlich modern; und obwohl hundertundein Stück Sekundärliteratur das immer wieder zudecken wollte, schälte sich doch allmählich ein Klopstock aus dem Papier mit hochvirulenten Zug-undSpann-Problemen: Kunst-und-Gesellschaft, Kunst-und-Wirtschaft, Kunst-und-Revolution, der war (mit Abstrichen versteht sich): unser.4

Die frühen Klopstock-Variationen rückt Rühmkorf retrospektiv in den Zusammenhang einer Opposition gegen den restaurativ-unpolitischen Trend der Adenauer-Zeit. »Empfindsamkeit, die zweifellos auch Empfindlichkeit für die politischen Mißstände mit einbezogen hätte, war verpönt wie der Ausdruck subjektiver Leidenschaften. Dagegen also damals: ich und mein Klopstock.«5 Das heißt implizit auch: Noch steht der politische Klopstock nicht im Zentrum, dessen Oden Rühmkorf später als »prächtigste Politliteratur« feiert: Klopstock »war der wütige Despotenfeind, Gegner des Eroberungskriegs, literarischer Radikaldemokrat und lyrischer Wehrdienstverweigerer«.6

I. Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock sind erstmals im Irdischen Vergnügen in g erschienen; das Gedicht gehört zu Rühmkorfs meist gedruckten. Die Forschung hat es schon früh beachtet und neben der Variation auf »Abendlied« von Matthias Claudius in erster Linie als Beispiel für Rühmkorfs Parodiekonzept untersucht.7 Der Titel ist poetologisch. Zum einen verweist er 4 Peter Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen. Werke 2, hg. von Wolfgang Rasch, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 333. 5 Peter Rühmkorf: Ein ganz schöner Riese, in: ders.: In meinen Kopf passen viele Widersprüche. Über Kollegen. Mit Dichterporträts von F. W. Bernstein, hg. von Susanne Fischer und Stephan Opitz, Göttingen 2012, S. 213–215, hier S. 214. Der Artikel ist erstmals erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 6./7. Juli 1974. 6 Rühmkorf: Ein ganz schöner Riese, S. 214. – Vgl. Jürgen Kolbe: Graziös in Gefahr, in: Der Spiegel 5. 1. 1976, S. 94f. 7 Vgl. Theodor Verweyen: Eine Theorie der Parodie. Am Beispiel Peter Rühmkorfs, München 1973 (Kritische Information, 6). Die ausführlichste Interpretation stammt von Herbert Uer-

Rühmkorfs Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock (1959)

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auf einen konkreten literarhistorischen Sachverhalt, indem er das Gedicht in einen engen Konnex zu Klopstock bringt und dessen Ode – deren erste Strophe fast vollständig zitiert wird – als Prätext bestimmt. Dies geschieht allerdings in der Weise, dass schon im Titel der Bezug von Text und Prätext weniger eng als in anderen vergleichbaren Fällen erscheint. Der Titel enthält zwei Termini. Variation, im Plural, ist das angewendete Verfahren. Das Thema bezeichnet, worauf das Verfahren angewandt wird. Thema und Variation sind Termini aus der Musik.8 Im vorliegenden Fall lassen sie sich zugleich auf Form und Inhalt beziehen. Zum einen ist das Thema die Odenform, die Variation betrachtet diese als das metrische Material, mit dem sie arbeitet. Zum Zweiten ist das Thema ein Inhalt des Prätextes, der variiert wird. Das literale Geschehen ist in beiden Fällen die Bootsfahrt mit Freunden – bei Klopstock auf dem Zürcher See, bei Rühmkorf die Elbe hinunter. Beide Fahrten werden parallelisiert und Anlass für weit ausgreifende Reflexionen. Im formstrengen Zürchersee hat Klopstock die asklepiadische Odenstrophe adaptiert. Diese Strophenform bildet auch für Rühmkorf den Ausgangspunkt, wird aber schon in der ersten Strophe metrisch variiert. Bereits der zweite Vers weicht ab: Der erste Halbvers enthält einen zusätzlichen Trochäus,9 die zweite Vershälfte nach dem Kolon eine zusätzliche unbetonte Silbe. Die abschließenden beiden Verse folgen wieder dem Metrum der Vorlage. Bei Rühmkorf geht das Odenmaß aufgrund der Variation gelegentlich in freie Rhythmen über. Dass die asklepiadische Strophe die Referenzfolie darstellt, ist über weite Strecken erst durch den direkten Bezug auf die Vorlage eindeutig zu erkennen. Der strengen Form Klopstocks wird also die Freiheit der Formvariation entgegengehalten. Der stärkste Gegensatz besteht in der Brechung des Tons: Klopstocks Zürchersee ist vorschriftsgemäß im genus grande gehalten, während Rühmkorf den für die Ode lings: Die Gedichte Peter Rühmkorfs. Subjektivität und Wirklichkeitserfahrung in der Lyrik, Bonn 1984 (Literatur und Wirklichkeit, 24), S. 159ff. – Zum parodistischen Verfahren allgemein vgl. Peter Bekes, Michael Bielefeld: Peter Rühmkorf, München 1982 (Autorenbücher, 32), S. 71ff.; Jürgen H. Petersen: Peter Rühmkorfs Spiel mit der literarischen Tradition, in: ZfdPh 103 (1984), S. 244–263; Jürgen H. Petersen: Anspielung und Variation. Zu den ästhetischen Prinzipien Peter Rühmkorfs, in: Peter Rühmkorf, München 1988 (Text + Kritik, 97), S. 28–35; Verena Paul: »Schreiben mit gespaltener Feder«. Peter Rühmkorfs ästhetisch-politisches Doppelengagement, St. Ingbert 2012 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, 88), S. 247ff. 8 Vgl. Alexander von Bormann: Peter Rühmkorfs Kritik des Traditionalismus, in: Manfred Durzak, Hartmut Steinecke (Hg.): Zwischen Freund Hein und Freunde Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 88–118, hier S. 107ff. – Vgl. auch das spätere Notat: »Nachts: Max Reger : ›Variationen über ein Thema von Mozart‹, Op. 32, ja, das war was, ist was! Gespräche über Parodie / Variation / Transkription unterhalb dieses levels überhaupt nicht mehr ernst nehmen.« (Peter Rühmkorf: TABU I. Tagebücher 1989–1991, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 168). 9 Der Vers bei Klopstock: -v–vv – ‘ –vv–v – j bei Rühmkorf jedoch: -v–v –vv–v ‘ –vv–vv.

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im 18. Jahrhundert undenkbaren niederen Stil gewählt hat, das Pathos aber beibehält. Die Variationen führen die Emanzipation vom Gattungsmuster vor.10 Wie verhält es sich nun mit der Verarbeitung des sprachlichen Materials Klopstocks, mit dem »Akt des schöpferischen Ineinssehens, Zusammenziehens, Übertragens«?11 Hält man beide Texte vergleichend nebeneinander, ergeben sich unterschiedliche Formen von Übernahmen in einer signifikanten Verteilung. Drei Fälle lassen sich graduell unterscheiden: die weitgehende oder vollständige Übernahme eines vollständigen Verses, die Übernahme einzelner Lexeme, die Anspielung. Der erste Fall findet sich in der ersten Strophe, im ersten Vers der vierten Strophe, dem dritten und vierten Vers der sechsten Strophe, dann aber nicht mehr. Der zweite Fall ist der häufigste, hier übernehmen einzelne Lexeme die Funktion, die Vorlage zu evozieren. Teilweise erfolgt das durch die Übernahme eines Wortes, teilweise auch durch archaisierenden Sprachgebrauch. Das Gemeinsame in der Differenz wird etwa hervorgehoben: Aus dem »schimmernden See« Klopstocks wird der »schimmernde Fluß«. Die siebte Strophe setzt beide Male mit »Jetzo« ein –, was bei Klopstock dem Metrum geschuldet ist, wird bei Rühmkorf zum Archaismus. Solche Archaismen werden bewusst gesetzt, etwa indem Sprachmaterial des 18. Jahrhunderts eingesetzt wird, das sich nicht in der Vorlage findet (»Äther«). Als Anspielungen funktionieren einzelne Lexeme, die solchen Klopstocks entsprechen. So verwandelt Rühmkorf den Wein in Bier (Strophe 4) oder in Wodka (Strophe 11, 12). Er verändert den vierten Vers der 13. Strophe – »Ist des Schweisses der Edlen werth!«12 – in die Frage: »wen bringt die ausgelutschte Fanfare j noch auf die Socken?«13 Allerdings ist die Verteilung der Bezugnahmen auffällig: Bei gleicher Anzahl von 19 Strophen entfernen sich die Variationen von der Anlehnung an Klopstocks Ode im Verlauf der Textsukzession immer weiter. Die letzte Übernahme eines Verses findet sich in der sechsten Strophe, wo Rühmkorf anstelle Hagedorns Arno Schmidt setzt; die letzte nur mehr assoziative Bezugnahme überhaupt findet sich am Ende der 13. Strophe (Schweiß – Socken). Die letzten sechs Strophen Rühmkorfs weichen vom Prätext Klopstocks vollständig ab.

10 Hier gilt ausnahmsweise nicht, »daß die Form des parodierten Textes exakt beibehalten wird« (Bekes, Bielefeld: Peter Rühmkorf, S. 80). 11 Peter Rühmkorf: Anleitung zum Widerspruch, in: ders.: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, hg. von Hartmut Steinecke, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 43–82, hier S. 69f. 12 Zitate aus Klopstocks Gedicht nach dem Abdruck in: Klopstock: Gedichte, S. 47–49. 13 Zitate aus Rühmkorfs Variationen nach: Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke 1, hg. von Bernd Rauschenbach, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 121–124.

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Die Überprüfung der Bestände,14 die Gegenüberstellung, zeigt herausstechende Differenzen. So präsentiert Der Zürchersee den seraphischen Ton, bringt die Konzepte der Liebe und Freundschaft zur Geltung, allerdings ausschließlich auf ihre seelische Komponente hin profiliert. Gemäß der Anthropologie des 18. Jahrhunderts, wonach der Mensch nach einer topischen Formulierung Hallers ein »unselig Mittel=Ding von Engeln und von Vieh«15 darstellt, ist hier allein von der englischen Hälfte die Rede. Rühmkorfs Variationen ergänzen, was fehlt, und säkularisieren. Die exakt mittlere zehnte Strophe resümiert: Es gibt uns noch, Kameraden, unwiderlegbar, – und bewiese uns nur das Fleisch, das sich warm in der Hose bewegt – Lauter stammelt das Sterbliche: Coeo ergo sum!16

Und um den Gegensatz zum Prätext auch recht deutlich zu markieren, ist das Metrum der ersten beiden Verse nicht daktylisch, sondern anapästisch. Und die anschließende Strophe verdeutlicht, wir seien »Tomeihoda! zur Hälfte Subtilität, j fuffzig Prozent Remmidemmi!«17 Ein weiterer Unterschied bezieht sich auf das dichterische Verfahren, das den hymnischen Aufschwung im hohen Stil samt Inspirationstopos mit einem Lob der Schwerkraft im niederen Stil und der Betonung der Reflektion kontrastiert. Im Zürchersee fehlen die Themen Geschichte und Politik aufgrund der anthropologischen Rahmentheorie: Der Mensch ist ein in die Heilsgeschichte eingebundenes Geschöpf, »Das den großen Gedanken j Deiner Schöpfung noch Einmal denkt«.18 Rühmkorfs Variationen hingegen begreifen den Menschen als zoon politikon, als nicht nur anthropologisch, sondern vor allem historisch, politisch bestimmt. Der Gegensatz wird in der Gegenüberstellung von Hagedorn und Schmidt »als eine[m] unserer eigenen Lebenserfahrung und unserem kritisch geschärften Wirklichkeitssinn fast schon medial verbundenen Autor«19 veranschaulicht. Eingeführt werden die bei Klopstock fehlenden Themen in den Partien der Variationen, die kein Vorbild im Zürchersee haben. Insoweit sind die Variationen im Wortsinn »Gegen-Gesang«. 14 So das im Irdischen Vergnügen in g anschließende Gedicht Um die Bestände zu überprüfen (Rühmkorf: Gedichte, S. 125f.). 15 Albrecht von Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte, 9. Aufl., Göttingen 1762, S. 59. 16 Rühmkorf: Gedichte, S. 122. 17 Ebd. 18 Vgl. Klopstock: Gedichte, S. 47. 19 Peter Rühmkorf: Bausteine zu einem Arno-Schmidt-Denkmal, in: ders.: In meinen Kopf passen viele Widersprüche, S. 292–308, Zitat S. 293. Vgl. Rühmkorfs Rezension des Steinernen Herzens: Leslie Meier : Historischer Roman aus dem Jahre 1943, in: Studenten-Kurier Dezember 1956, Nr. 8; neu gedruckt in: Hans-Michael Bock (Hg.): Über Arno Schmidt. Rezensionen vom »Leviathan« bis zur »Julia«, Zürich 1984, S. 54f.

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Allerdings zeichnen sich aus der Perspektive der späteren Befassung Rühmkorfs mit Klopstock schon in den Gegensätzen Anschlussmöglichkeiten ab. In den späteren Klopstock-Essays betont Rühmkorf, der Mensch Klopstock habe zu Gleims Leidwesen dem Image des Messiassängers nicht so ganz entsprochen, sei vielmehr »ein unter gewaltigen Überbauschichten verborgener Erotiker«,20 ein »erotische[r] Privatunternehmer«21 gewesen. Und schon die Variationen spielen mit dem in der zweiten Strophe erwähnten Stander in den Farben »bleu-weiß-rot« auf Klopstocks spätere Parteinahme für die französische Revolution an, die ein Hauptthema der Essays wird. Wenn nämlich Rühmkorf einen genauen Blick auf »Klopstocks lyrische Produktionen tut: über die poetischen Freundschaftsbekundungen hinweg und etwas tiefer ins politisch-gesellschaftliche Unterfutter. Hier nämlich finden sich Anzeichen – und gewiß nicht nur Spuren – eines dezidiert republikanisch gesonnenen Charakters schon früh.«22 Insoweit ist der »Gegen-Gesang« Variation. In seinen poetologischen Ausführungen zur Parodie hat Rühmkorf in seiner Praxis die Ausweitung des »Streitgegenstands« hervorgehoben, die nicht mehr »die Literaturvorlage«, also im konkreten Fall Klopstocks Ode Der Zürchersee allein sei,23 »sondern – vorerst ganz allgemein genommen – ein Zeitproblem, ein Gegenwartsbefund, Gesellschaftszustand«.24 Während also die herkömmliche 20 Rühmkorf: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 87. Und im Weiteren charakterisiert Rühmkorf ihn so, wie das lyrische Ich in den Variationen erscheint: »Statt sich im Geleit des PfarrhausCicerone in die etablierte Bildungswelt einführen zu lassen, schien er den Ehrgeiz eines erotischen Vaganten zu entwickeln. So wußte er sich der kunstsinnigen Damenwelt, egal ob verheiratet oder jungfräulich, durch oftmals ziemlich unverblümte Ehrenerweisungen zu empfehlen. Trank ansehnlich Kirschgeist und Branntwein. Kam oft erst morgens in der Frühe nachhause (›bene potus‹, ganz schön voll, wie Bodmer hämisch vermerkte). Zeigte in zweifelhaften Studentenzirkeln Talent zu Karten- und Taschenspielertricks. Hatte (Bodmer : ›Klopstock ist nicht heilig‹) Vergnügen an zweideutiger Redeweise und anzüglichen Wortspielen (Bodmer : ›säuische Zoten‹).« Ebd. 21 Peter Rühmkorf: Vorwort, in: Klopstock: Gedichte, S. 13. 22 Rühmkorf: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 99. 23 Vgl. das seinerseits nicht unproblematische Verdikt von Uerlings: »Problematisch an Gedichten wie ›Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock‹ ist, daß sie letztlich vor allem von einem Gestus der Aggressivität leben: ihr Angriff verfährt undialektisch in bezug auf Subjekt und Objekt der Kritik, seine Schärfe besteht in der Radikalität der Negation, nicht in einer pointierten Herausarbeitung von Widersprüchen im Gegenstand oder im Parodierenden. Es geht Rühmkorf weniger um eine abwägend-kritische Haltung zu Klopstock, als um einen auswechselbaren Anlaß für Parodie und Desillusionierung. Es geht damit aber auch weniger darum, Zweideutigkeiten im eigenen Ich zur Sprache zu bringen – auch wenn dies das programmatische Ziel ist –, als darum, im Gestus der Aggressivität durch die Ironisierung der Gegenposition eine Souveränität eben dieses Ich zu suggerieren, die nur möglich ist als eine, die von Ambivalenzen nichts weiß. Die Parodie ist in dieser Hinsicht nur ›Gegen-gesang‹, obwohl sie es eigentlich nicht sein soll.« Uerlings: Die Gedichte Peter Rühmkorfs, S. 193. 24 Rühmkorf: Anleitung zum Widerspruch, S. 69.

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Parodie nach dem Muster von Robert Neumanns Mit fremden Federn durch die Opposition von Vorlage und Parodie bestimmt wäre, erstreckt sich in den Variationen diese Opposition auf den Gegensatz von 18. und 20. Jahrhundert. Das ergibt sich zum einen aus der Ausweitung in den historischen und politischen Bereich in den sechs letzten Strophen. Zum anderen ergibt es sich durch Signale wie etwa das bereits zitierte, die bekannte Formel Descartes’ weniger parodierende als dementierende »Coeo ergo sum«. Die Bilanz des 20. Jahrhunderts weist Negativa aus: Der Vers »Es gibt uns noch, Kameraden, unwiderlegbar« greift Soldatenjargon auf und lässt die Bootsfahrer als Überlebende des Krieges kenntlich werden, für die der Rekurs auf elementar Körperliches existentielle Bedeutung, die Qualität des Unhintergehbaren hat. Und der »Rückspiegel unsrer Erinnerung« ist von »Schatten [ge]schwärzet«. Die Gegenwart hat erfahren, dass »im Aug des Edlen der Himmel für immer gelierte«. Insofern ist die Vergangenheit, in der Klopstock lebte und dichtete, die »schöne Zeit als j Eff Nietzsche noch in der Sandkaste spielte«. Die zurücktreibenden Ausflügler genießen die Fahrt im Bewusstsein, […] daß Messer für alle gewachsen sind, eine Kinderzitze im Mund, nicht unwürdig unserer Verderblichkeit: Glücklich noch einmal eh Der Himmel uns abtut an Kindes Statt.

II. Besonders eng halten sich die Variationen in der exponierenden ersten Strophe an die Vorlage. Sie lautet bei Klopstock: Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch Einmal denkt.25

Die Variationen hingegen setzen ein: Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, mit entspanntem Munde gepriesen; schöner ein künstlich Gebiß, das den großen Gedanken einer Schöpfung noch einmal käut.

Das Metrum der asklepiadischen Odenstrophe ist in den Versen 1, 3 und 4 exakt eingehalten; gering scheinende Veränderungen des Wortmaterials sind zu verzeichnen. Der zweite Vers jedoch weist einen zusätzlichen Trochäus auf, ist quasi 25 Vgl. Klopstock: Gedichte, S. 47.

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ein Ausreißer aus dem Odenmaß. Was dadurch herausgestellt wird, ist der »entspannte Mund«, der ein Wortfeld exponiert, das mit »künstlich Gebiß« und »käut« fortgesetzt wird. Alexander von Bormann hat darauf etwas empfindlich reagiert: »Die Parodie hat etwas von einer Schülerpoesie, indem hier mit kleinen Witzen das bekannte Modell um seine Aura gebracht wird, ähnlich wie ein Schnurrbart der Mona Lisa ein recht anderes Aussehen zu geben vermag.«26 Das ist natürlich ein wichtiger Effekt, mittels dessen aus dem aufgeblasenen hymnisch-seraphischen Ballon die Luft mit einem Knall entweicht, verstellt aber auch den Blick auf die Konsequenzen. Der »entspannte Mund« ist poetologisch: Er bricht den angespannten pathetischen Preis, der in dem im hohen Stil gehaltenen Eingangsvers sowohl mittels des Wortmaterials wie mittels des Klopstockzitats angekündigt ist, mit dem niederen Ton, den er anschlägt. In diesem niederen Stil kommen aufgrund der Fallhöhe die Restbestände des hohen Stils, die die Variationen immer noch enthalten, umso deutlicher zur Geltung. Die Spannung zwischen hohem Stil, der permanent evoziert wird, und niederer Stillage prägt durchgehend die Variationen. Die Betonung des Aktes der Preisung ist programmatisch.27 Nach dem Kolon im zweiten Vers wird mit dem »künstlich Gebiß« das Bildfeld fortgesetzt und zugleich semantisch erweitert. Von hier aus gesehen ist der »entspannte Mund« auch zahnlos. Der Gegensatz von Natur und Kunst, der hier ins Spiel kommt, schlägt in diesem Fall zugunsten der Kunst aus, insofern sie das Defizit eines Zahnverlusts wettmacht. Das wirkt sich auch ästhetisch aus, weil das künstliche Gebiss die Intaktheit eines Gesichts optisch wieder herstellt. In den beiden Schlussversen der ersten Strophe käut das »künstlich Gebiß« wieder. Das spielt darauf an, dass künstliche Gebisse in den 1950er Jahren nicht fest am Kiefer sitzen. Wiedergekäut wird aber auch bereits vorverdaute Nahrung. Die Figur permanenter Wiederholung ist in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts ein Melancholietopos;28 allerdings geht es hier nicht um zwecklose Wiederholung, da das Wiederkäuen zur Nahrungsaufnahme beiträgt. Hier bezieht es sich auf »den großen Gedanken einer Schöpfung«, ist also eine eindeutige Absage an die Vorstellung eines Schöpfergottes. Der Akt der Wiederholung ist zudem geistlos, was besonders deutlich vor dem Hintergrund des Klopstock-Gedichts ins Auge fällt, wo statt des »käut« ein »denkt« steht. Mit der zweiten Strophe erfolgt ein Neueinsatz, der die erste als rahmende 26 Alexander von Bormann: Peter Rühmkorfs Kritik des Traditionalismus, in: Manfred Durzak, Hartmut Steinecke (Hg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 88–118, hier S. 90. 27 Inwieweit diese Absage an den Preis des Naturschönen an Rühmkorfs Urteil über die zeitgenössische Naturlyrik angeschlossen werden kann, wäre weiter zu diskutieren. 28 Vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977.

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Metastrophe ausweist. Diese stellt das formale und inhaltliche Thema vor, deren bereits eingeleitete Variationen die folgenden Strophen entwickeln. In den anschließenden Strophen findet sich das Bildfeld des Mundes allenfalls indirekt über dessen verschiedene Funktionen, wenn von »Sagebiels Gasthof, gepflegte[n] Biere[n]«,29 also auch gepflegter Nahrungsaufnahme, die Rede ist, oder wenn die Bootsfahrer in der sechsten Strophe »hinter dem Segel« singen. Schließlich folgt in der zehnten Strophe als Stammeln des Sterblichen »Coeo ergo sum«. Was in der mittleren Strophe des Gedichts formuliert wird, ist eine anthropologische Bestimmung, die in der Anspielung auf das Diktum des Descartes und mittels der Wahl des Lateinischen innerhalb des niederen Stils betont wird: Im Vollzug des Geschlechtsakts wird »das Sterbliche« seiner selbst gewahr. In den folgenden drei Strophen wird das Bildfeld wiederum aufgegriffen und zwar jeweils am Stropheneingang: »Die Welt auszusaugen, die wir nicht verstehn« spielt auf den Anfang von Goethes Auf dem See an – »Ich saug an meiner Nabelschnur« –, das seinerseits an Klopstocks Zürchersee anschließt. Der in der ersten Strophe implizite (nur im Bezug zum Prätext erkennbare) Gegensatz von Ernähren und Denken wird hier in den beiden Kola explizit gemacht und in einen Zusammenhang gebracht. Das Verbum »aussaugen« meint natürlich das Bild, an den Brüsten der Mutter Natur zu liegen; es hat aber zugleich einen gewissermaßen vampirischen Unterton, lässt anklingen, dass das dem Objekt des Aussaugens nicht zuträglich sein muss. Die zwölfte Strophe beginnt mit »Also schlürfen und reflektieren und dies: unter durchaus zweideutigem Himmel«. In diesem Vers, der metrisch kaum noch an das Odenmaß rückgebunden ist, ist der Gegensatz in ein Kolon gezogen und verändert. Vom überlebensnotwendigen Aussaugen geht der Weg zum genießenden Schlürfen; vom Nichtverstehen zum Reflektieren. Das spielt sich nunmehr in der Immanenz ab. Strophe 13 beginnt: »Du mit der Plombe im Zahn und dem schlechten Geschmack im Mund«. Die Apostrophe richtet sich dem Stand der Dentaltechnik zufolge an ein gegenwärtiges Du, ist Selbstanrede; der schlechte Geschmack im Mund ist ein Ergebnis des »in Wodka gelöste[n] Widerspruch[s]«. Und das nächste verwendete Verbum des Sprechens ist das »[F]aseln« des Betrunkenen, der vom traditionellen Nachruhm des Dichters schwadroniert und damit eine Neubestimmung des Dichtertums notwendig erscheinen lässt. Strophe 15 rückt das Bildfeld schließlich in übergreifende Sinnzusammenhänge ein:

29 Das Bier respondiert dem Klopstock’schen Wein, der dort Unsterblichkeit lehrt, also kontrapunktisch zum Wein eingesetzt ist. – Vgl. Carlos Spoerhase: Die lyrische Apostrophe als triadisches Kommunikationsmodell. Am Beispiel von Klopstocks Ode »Von der Fahrt auf der Zürcher-See«, in: DVjs 87 (2013), S. 147–185, hier S. 154.

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Ausgekaut hat der Unterkiefer von Mauer ; wie im Aug des Edlen der Himmel für immer gelierte – Mächtiger und gefräßiger noch als der Mensch ist die wortlos mampfende Erde.

Der Topos des Fressens und Gefressenwerdens bringt im Verweis auf den Unterkiefer des homo heidelbergensis und im Rekurs auf die glückliche Mitte des 19. Jahrhunderts in der vorigen Strophe 14 den Darwinismus als scharfen historischen Einschnitt ins Spiel. Schließlich greift die letzte Strophe das Bild der elften Strophe mit der »Kinderzitze im Mund« noch einmal variierend auf. Die selbstdefinierende anticartesianische Formel führt das Bildfeld der Sexualität ein,30 das in der achten bis zehnten Strophe entwickelt wird und seine Klimax im vierten Vers der zehnten Strophe findet. Es wird an die Schwerkraft geknüpft, die mit Körperlichkeit korreliert (sie »sog […] am Hintern« [IV.1]) und verweist die Bootsfahrer auf ihr »Herz« (V.3, VI.1). Auf diesen Kern sind der Gesang und die Bindung an den gleich empfindenden Schmidt (VI.4) bezogen. Das graphematisch hervorgehobene Lexem (VII.3) intensiviert, indem sie die somatische Komponente auf ihren Kern zurückführt. Die »SCHWERKRAFT« hängt sich nunmehr »volles Maßes […] bei uns ein« (VII.4). Schwerkraft gehört zu den im Irdischen Vergnügen in g rekurrenten Lexemen und »steht […] als ein Vorstellungssyndrom, als Signal für Materialität, Natürlichkeit, für irdische Körperhaftigkeit […] und handfeste Sinnlichkeit«.31 In Himmel abgespeckt etwa fragt das lyrische Ich: »Ist es nicht schön, bald, bei aufgeblasenem Monde und j steigendem Fluß j der Schwerkraft anheimzufallen?«32 Und fordert auf: »[H]äng dich ein in die Gravitation«.33 Im Ei des Kolumbus wird die anthropologische Komponente besonders deutlich: »[…] genießest du als deinen letzten Besitz j auf magerer Pritsche die Schwerkraft«.34 »Süße Hinfälligkeit« (VIII.1) kennzeichnet das Bewusstsein der Schwerkraft. Sie wird auf das »Geworfensein[]« (VIII.2) zurückgeführt. Diese Vokabel Martin Heideggers wird allerdings mit einer Markierung der Distanz – »nun-nun« (VIII.2) – versehen und damit als uneigentliche Rede kenntlich gemacht. Indem jene nun als deren »natürliche Tochter« (VIII.2) bezeichnet wird, kommen zwei Konnotationen ins Spiel: Im Bezug auf Natur schwingt nichteheliche Sexualität mit. Sexualität ist Resultat des Geworfenseins, zugleich süße Hinfälligkeit, Be30 Rühmkorf vermerkt im Übrigen später, dass Klopstock solche Tendenzen nicht in seinem Werk, wohl aber privat gezeigt habe: »Hatte (Bodmer: ›Klopstock ist nicht heilig‹) Vergnügen an zweideutiger Redeweise und anzüglichen Wortspielen (Bodmer : ›säuischen Zoten‹).« (Peter Rühmkorf: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 87). 31 Bekes, Bielefeld: Peter Rühmkorf, S. 64. 32 Rühmkorf: Gedichte, S. 95. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 127.

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wusstsein der Sterblichkeit. Das Sprachmaterial lässt Sexuelles konnotativ mitschwingen. Deutlich formuliert wird es im dritten und vierten Vers der achten Strophe. Das Wiederaufgreifen des Adjektivs »süß« zur Qualifizierung der »Rute« verstärkt die Verknüpfung. Im vierten Vers schließlich verdeutlicht die obszöne Konnotation des »[P]flöckens« erneut den Zusammenhang von Schwerkraft, menschlicher Verfasstheit und Sexualität. Das Motivfeld wird in der neunten Strophe weitergeführt und mit weiteren Bedeutungsschichten angereichert. In der Formulierung »aufs Kreuz gelegt« (IX.1) ist die umgangssprachliche Wendung für das Reingelegtwordensein mit der christlichen Religion verknüpft. Der Ausruf Christi »Eli Eli« kommt im Moment seines Kreuzestodes. Der körperfeindlichen christlichen Anthropologie wird die »geerdete Seligkeit« (IX.2) entgegengesetzt. Seligkeit ist nicht mehr Sache der Seele, sondern des Körpers. Im Zentrum der Odenvariation steht die zehnte Strophe, in der Sexualität als integrales Moment der conditio humana – »das Fleisch, das sich warm in der Hose bewegt« (X.2) – fungiert: coire statt cogitare. Obszönitäten und Sexualität bedeuten weitaus mehr als Freude am Obszönen;35 vielmehr entwirft Rühmkorf im Medium uneigentlicher lyrischer Rede eine Anthropologie, die einen Gegenentwurf zur christlichen darstellt: Körper statt Seele, Hedonismus statt Ekstase.

III. Das Bildfeld des Mundes – als Körperteil, als Organ der Aufnahme von fester und flüssiger Nahrung, als Medium, durch das sich Reflexion und Poesie artikulieren – enthält einen Gegensatz, der die Variationen grundlegend bestimmt: die Opposition von oben und unten, deren Semantik vielschichtig ausgefaltet wird. Graphematisch wird das hervorgehoben, indem die beiden Lexeme »BEWUSSTSEIN« und »SCHWERKRAFT« lyrikuntypisch in Kapitälchen erscheinen. Das Hohe, so Herbert Uerlings sachlich richtig, in den Wertungen jedoch unzutreffend, bezeichne das »Wirklichkeitsferne, Unwirkliche«.36 Vom Prätext her ist die Bewegung der Erhebung nach oben, des Aufschwungs, vorgegeben. Beispiele aus der Ode zeigen das: »deiner Erfindung Pracht j Auf die Fluren verstreut« setzt eine Bewegung von oben nach unten voraus; »flohest du schon wieder zum Himmel auf«, »kamest du, Freude! j Volles Maßes auf uns 35 Obszönes sehen Bekes und Bielefeld als »programmatische[n] Ausdruck der beschriebenen Geisteshaltung und als solche[n] immer auch aufklärerische Provokation«; Bekes, Bielefeld: Peter Rühmkorf, S. 66. 36 Uerlings: Die Gedichte Peter Rühmkorfs, S. 170.

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herab«; »wenn sich dein [des Lenzes. H.-E. F.] Odem sanft j In […] die Herzen der Menschen gießt«; das Gefühl »steigt« durch die Brust zum »Mund«. Nicht zuletzt ist die Poesie selbst, nach dem Muster der heiligen Poesie,37 mit der oberen Sphäre korreliert. Die Opposition von oben und unten ist bei Klopstock klar bewertet: Das Göttliche kommt von oben nach unten, das Irdische strebt von unten nach oben. Die Variationen kennen diesen Gegensatz auch, bewerten ihn aber anders, wie sich schon im signalhaften Austausch von »denkt« (Klopstock) zu »käut« (Rühmkorf) in der ersten Strophe andeutet. Hier wird der »große[] Gedanke[] j einer Schöpfung« wiedergekäut; somit ist das Göttliche nicht mehr dem »[O]ben« zugeordnet. Implizit stellt sich also die Frage, was denn nun »oben« sei, und die beiden Folgestrophen entwickeln die Antwort darauf: Dort, wo der schimmernde Fluß sein Kleingeld verspielt, oder hobest du dich schon wieder ab in den Äther –? komm, da der Abend den seidenen Stander setzt, bleu-weiß-rot, die Fahne aus Hauch und Traum …. komm, oh komm auf der farblosen Schwinge des Winds – so wie er den zartgesalzenen Flügel rührt – dreigestrichnes BEWUSSTSEIN: dem am Reißbrett entworfenen Phönix gleich.38

Die Aufmerksamkeit gilt der Betrachtung des Flusses, die Reflexion setzt ein. Die Selbstansprache thematisiert die Bewegung nach oben, »in den Äther«. Im Zusammenhang des Prätextes bezeichnet Äther die oberen Luftschichten, die Weite des Himmels. Für das lyrische Ich ist der Ausdruck zwar nicht ungebräuchlich, aber anachronistisch bzw. poetischer Sprachgebrauch. Inwieweit der Äther als Betäubungs- oder Rauschmittel mit gemeint ist (und dann in die Reihe »gepflegte Biere« (IV.1), »Wodka« (XII.2) gehört), mag offen bleiben. Dem Oben zugeordnet ist »bleu-weiß-rot, j die Fahne aus Hauch und Traum«. Abgehoben wird hier auf die Symbolik, es geht um den Bereich des politisch Utopischen. Worauf das lyrische Ich aber eigentlich zielt, ist das »dreigestrichene[] BEWUSSTSEIN«, das »dem am Reißbrett entworfenen Phönix gleich« sei. Betont wird das Moment des Fliegens in der Kette »Schwinge« – »Flügel« – »Phönix«. In allen drei Fällen handelt es sich um Metaphern, nicht um literales Geschehen. Die drei Lexeme »dreigestrichen«, »Bewußtsein« und »Phönix« lassen sich nicht klar dechiffrieren. Das Bewusstsein verweist im Zusammenhang des angeschlagenen Revolutionsthemas auf die marxistische Philosophie, 37 Vgl. Wilhelm Große: Studien zu Klopstocks Poetik, München 1977; Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997 (Studien zur deutschen Literatur, 144). 38 Rühmkorf: Gedichte, S. 121.

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bleibt aber so allgemein, dass diese Anbindung eine starke, durch die Daten des Textes nicht gedeckte Monosemierung darstellt. Und das scheint auch der eigentliche Punkt zu sein: Mit dem oberen Bereich ist Utopisches, Reflexion, Dichten ganz allgemein korreliert, noch ohne spezifizierende Differenzierungen. Er ist jedenfalls nicht mit einem Sinnzentrum verbunden, wie es ein Schöpfergott darstellte. In der Folgestrophe wird der Blick wieder auf das literale Geschehen gerichtet. Der Anblick der kultivierten Landschaft bei Blankenese zieht das lyrische Ich nach unten: »schooon j sog uns die Schwerkraft am Hintern«. Der auf ’s Dreifache gedehnte Vokal respondiert dem »dreigestrichenen«. Die siebte Strophe wiederholt die Bewegung der vorigen Strophen. Zunächst ist der Blick wieder nach oben gerichtet – »Jetzo den Himmel! Beachtlich!« –, erneut mit einem anachronistischen Adverb. Nunmehr aber setzt sich das Unten als bestimmende Kraft durch: da, da hängtest du SCHWERKRAFT volles Maßes dich bei uns ein.39

Die graphematische Hervorhebung der Schwerkraft weist sie als das entscheidende Prinzip aus. Ihre Wirkung zieht vom Himmel herunter ; es geht nicht nur um ihre physikalische, sondern auch um ihre symbolische Bedeutung. Das greift den »mehrfach verrätselten« Titel des Gedichtbandes auf, in dem die Variationen zuerst erschienen sind, »Irdisches Vergnügen in g […], klein g wie das physikalische Symbol der Fallbeschleunigung und ›Irdisches Vergnügen‹ wie Irdisches Vergnügen in Gott von Barthold Hinrich Brockes«,40 wie Rühmkorf in einem späteren Interview erläuterte. Die Anthropologie der Schwerkraft ist durch »Hinfälligkeit« – nicht aber, wie bei Klopstock, »ewig!« – und Körperlichkeit gekennzeichnet. Körperlichkeit wiederum findet ihr Zentrum im sinnstiftenden Akt des Koitierens (X.4). Von daher ist die Zweiseitigkeit des Menschen – »schlürfen und reflektieren« (XII.1) – »unter durchaus zweideutigem Himmel« (XII.1) angesiedelt. Der Weg führt »Ab durch die Mitte nun! j Ab in den Acheron!« (XII.3f.). Der Mensch steht zwischen oben und unten; der Weg in den Acheron ist der Blick in die Geschichte, der Blick auf die Tradition. Diese Standortbestimmung wiederum führt zu einer erneuten »Sichtung der Bestände«,41 die sich unter der Herrschaft der Schwerkraft anders als vordem 39 Ebd., S. 122. 40 [Peter Rühmkorf, Dieter Lamping, Stephan Speicher :] »Das Gedicht als Held«. Ein Gespräch zwischen Peter Rühmkorf, Dieter Lamping und Stephan Speicher, in: Dieter Lamping, Stephan Speicher (Hg.): Peter Rühmkorf. Seine Lyrik im Urteil der Kritik, Bonn 1987 (Sammlung Profile, 30), S. 107–136, hier S. 118. 41 Vgl. dazu allgemein Volker Neuhaus: »Vorgängerschaft und Vorsängerschaft im Geiste«. Peter Rühmkorf und die Tradition, in: Durzak, Steinecke: Zwischen Freund Hein und Freund

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ausnehmen. Der traditionellen Vorstellung vom Dichter erteilt sie eine Absage, diese gilt auch dem Schielen nach »Unsterblichkeit und nachgespendetem Ruhm« (XIII.2), die von einer »ausgelutschte[n] Fanfare« (XIII.3) verkündet werden. Der Gedichtband Irdisches Vergnügen in g setzt mit dem Gedicht Himmel abgespeckt ein, das mit den Variationen einige Lexeme und Bilder teilt und diesen Sachverhalt vorgibt: »Keine Posaune zurhand, keine Verkündigungen, j der Himmel abgespeckt«.42 Die überholte Vorstellung vom Dichter gehört der Zeit an, »als j Eff Nietzsche noch in der Sandkaste spielte« (XIV.3f.). Die letzten Strophen künden den Verzicht auf Fortpflanzung an und fordern auf: »[M]isch dich unters Bestehende« (XVII.3). In den beiden Schlussversen wird die Absage an den Himmel endgültig besiegelt: »Glücklich noch einmal eh j der Himmel uns abtut an Kindes Statt.« (XIX.3f.) Die Ode auf den Zürchersee ist von einem Blick in die Zukunft getragen, der in der Trikolore ihr utopisches Potential antizipiert. Dieser optimistischen Tendenz ist der Erfahrungshorizont des 20. Jahrhunderts schroff entgegengesetzt. Die Erfahrungen der Elbefahrer, die in den Variationen nicht ausbuchstabiert, aber vorausgesetzt sind, verdichten sich in der kreatürlichen Körperlichkeit, die zur Grundlage eines anderen Reflexionshorizontes wird. Ob auch der Himmel, der ewige, dir zukopfe schießt, und die Unsterblichkeit sich vor deiner Schwelle die Beine vertritt, besser wär’s, du geselltest dich ihm, der in Hoffart sein Süppchen schlürft, besser ein Blatt hinterm Ohr und die Pentatonflöte im Spundloch; sieh nur, ich schwöre dir bei Scheitel und Steiß, bei der Kardioide, zart, in der Kaffeetasse von Öhmchen: Unbezahlbar ist am Ende die Luft, die du einziehst, dein provisorisches Glück, im vergänglichen Gärtlein eingesackt.43

IV. Die Variationen sind nicht Benn’schem Denken, wohl aber seinem Diktum »Erkenne die Lage« verpflichtet. Sie entwerfen in der Konfrontation mit dem Prätext Klopstocks, der »als Filter, Medium und Transparentfolie, durch die der Autor mit seiner Welt in Vergleich tritt«,44 dient, eine Bestimmung der Stellung Heine, S. 66–76; Claudia Stockinger : Zur Literaturgeschichte Peter Rühmkorfs, in: Jan Bürger, Stephan Opitz (Hg.): »Lass leuchten!« Peter Rühmkorf zwischen Aufklärung, Romantik und Volksvermögen, Göttingen 2010 (Marbacher Schriften, N. F. 7), S. 151–173. 42 Rühmkorf: Gedichte, S. 95. 43 Rühmkorf: Daß ihm sein Sparren grüne, in: ders.: Gedichte, S. 101f. 44 Rühmkorf: Anleitung zum Widerspruch, S. 69.

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des Menschen im 20. Jahrhundert. Daraus entwickeln sie eine Absage an die Genieästhetik des 18. Jahrhunderts, die als restaurative Konzeption in der Mitte des 20. Jahrhunderts erneut maßgeblich geworden war.45 Von oben aber ist keine göttliche Inspiration für die Poesie mehr zu erwarten. Was an ihre Stelle tritt, wird angedeutet, ist aber nicht mehr Thema des Gedichts. Es lässt sich anhand anderer Texte Rühmkorfs erschließen: Der Tanz auf dem Hochseil, »Levitation, Aufhebung der Schwerkraft in der Kunst, und das ist es denn eigentlich schon.«46

Anhang 1. Peter Rühmkorf: Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock47 Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, mit entspanntem Munde gepriesen; schöner ein künstlich Gebiß, das den großen Gedanken einer Schöpfung noch einmal käut. Dort, wo der schimmernde Fluß sein Kleingeld verspielt, oder hobest du dich schon wieder ab in den Äther –? komm, da der Abend den seidenen Stander setzt, bleu-weiß-rot, die Fahne aus Hauch und Traum …. komm, oh komm auf der farblosen Schwinge des Winds – so wie er den zartgesalzenen Flügel rührt – dreigestrichnes BEWUSSTSEIN: dem am Reißbrett entworfenen Phönix gleich. Schon lag hinter uns weit der Süllberg, Sagebiels Gasthof, gepflegte Biere, Bäume klettern den Hang hoch, Flieder-Kastanien-und-Rotdorn, schooon sog uns die Schwerkraft am Hintern. Schulau: der Abend mit silbernem Kamm im Haar wenig Erkenntnis und kaum noch Veränderung, nur das verdorbene Herz, das seine Synkopen hackt;

45 Vgl. Michael Kretschmer : Die Dichterrolle als Reflexionsmedium literarischer Praxis in Deutschland 1945–1950, in: Poetica 11 (1979), S. 207–232. 46 Rühmkorf, Lamping, Speicher : »Das Gedicht als Held«, S. 127. – Vgl. die knappe Charakterisierung in Manfred Durzak, Hartmut Steinecke: Der Poet auf dem Hochseil, in: dies.: Zwischen Freund Hein und Freund Heine, S. 7–10. 47 Rühmkorf: Gedichte, S. 121–124.

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nur dies Herz, und ein instabiles, grobes Gefühl in der Brust, der hochgemöbelte Ursprung; und wir sangen hinter dem Segel und empfanden wie Schmidt.* Jetzo den Himmel! Beachtlich! Links hinterm Schweinesand: halb entblößt über der flachgebackenen Insel – da, da hängtest du SCHWERKRAFT volles Maßes dich bei uns ein. Süße Hinfälligkeit, du, dich empfanden wir ; natürliche Tochter des – nun-nun – Geworfenseins, das uns die Rute durchsüßt, uns an den Boden pflöckt. Vom Sommer überrollt und schon aufs Kreuz gelegt, Eli – Eli! bei geerdeter Seligkeit sind wir beschlossen in das, was uns unter der Jacke schwelt. Es gibt uns noch, Kameraden, unwiderlegbar, – und bewiese uns nur das Fleisch, das sich warm in der Hose bewegt – lauter stammelt das Sterbliche: Coeo ergo sum! Die Welt auszusaugen, die wir nicht verstehn, sind wir gekommen, im Bunde mit allem, was stirbt und stinkt – Tomeihoda! zur Hälfte Subtilität, fuffzig Prozent Remmidemmi! Also schlürfen und reflektieren und dies: unter durchaus zweideutigem Himmel: Mein Ich-und-Alles, der in Wodka gelöste Widerspruch …. Ab durch die Mitte nun! Ab in den Acheron! Du mit der Plombe im Zahn und dem schlechten Geschmack im Mund, faselnd von Unsterblichkeit und nachgespendetem Ruhm, wen bringt die ausgelutschte Fanfare noch auf die Socken? Wen? da nur Schatten schwärzet den Rückspiegel unsrer Erinnerung: Der alles verändern wollte, liegt unter den Rüben; und wo ist die schöne Zeit als Eff Nietzsche noch in der Sandkiste spielte?! Ausgekaut hat der Unterkiefer von Mauer ; wie im Aug des Edlen der Himmel für immer gelierte – Mächtiger und gefräßiger noch als der Mensch ist die wortlos mampfende Erde.

Rühmkorfs Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock (1959)

Einen Schoß zu beschicken, was lohnt’s? und was: ein knollend Geschlecht fortfahren zu machen, daß es weiter den Erdball trete in Entzücken und Skepsis –? Nichts, garnichts rechtfertiget den gewaltigen Leerlauf der Zeugung, nur, weil es dich einmal gibt und du dich noch auf den Beinen hältst, misch dich unters Bestehende, im magnetischen Feld auf Beglückungen aus. Jaaa, ganz in Weite gelöst und mit nichts als Südwind angetan, gleiten wir durch sich langsam zersetzenden Tag sacht ins fliederverhangene Maul der Bucht …. treiben wir, wissend, daß Messer für alle gewachsen sind, eine Kinderzitze im Mund, nicht unwürdig unserer Verderblichkeit: Glücklich noch einmal eh der Himmel uns abtut an Kindes Statt. * Schmidt, Arno; Bargfeld, Kreis Celle.

2. Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Zürchersee48 Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch Einmal denkt. Von des schimmernden Sees Traubengestaden her, Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf, Kom in röthendem Strale Auf dem Flügel der Abendluft, Kom, und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn, Süße Freude, wie du! gleich dem beseelteren Schnellen Jauchzen des Jünglings, Sanft, der fühlenden Fanny gleich. Schon lag hinter uns weit Uto, an dessen Fuß Zürch in ruhigem Thal freye Bewohner nährt; Schon war manches Gebirge Voll von Reben vorbeygeflohn. Jetzt entwölkte sich fern silberner Alpen Höh, Und der Jünglinge Herz schlug schon empfindender, 48 Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Zürchersee, in: ders.: Gedichte, S. 47–49.

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116 Schon verrieth es beredter Sich der schönen Begleiterin. »Hallers Doris«, die sang, selber des Liedes werth, Hirzels Daphne, den Kleist innig wie Gleimen liebt; Und wir Jünglinge sangen, Und empfanden, wie Hagedorn. Jetzo nahm uns die Au in die beschattenden Kühlen Arme des Walds, welcher die Insel krönt; Da, da kamest du, Freude! Volles Maßes auf uns herab! Göttin Freude, du selbst! dich, wir empfanden dich! Ja, du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit, Deiner Unschuld Gespielin, Die sich über uns ganz ergoß! Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeistrung Hauch, Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein Odem sanft In der Jünglinge Herzen, Und die Herzen der Mädchen gießt. Ach du machst das Gefühl siegend, es steigt durch dich Jede blühende Brust schöner, und bebender, Lauter redet der Liebe Nun entzauberter Mund durch dich! Lieblich winket der Wein, wenn er Empfindungen, Beßre sanfte Lust, wenn er Gedanken winkt, Im sokratischen Becher Von der thauenden Ros’ umkränzt; Wenn er dringt bis ins Herz, und zu Entschließungen, Die der Säufer verkennt, jeden Gedanken weckt, Wenn er lehret verachten, Was nicht würdig des Weisen ist. Reizvoll klinget des Ruhms lockender Silberton In das schlagende Herz, und die Unsterblichkeit Ist ein großer Gedanke, Ist des Schweisses der Edlen werth! Durch der Lieder Gewalt, bey der Urenkelin Sohn und Tochter noch seyn; mit der Entzückung Ton Oft beym Namen genennet, Oft gerufen vom Grabe her, Dann ihr sanfteres Herz bilden, und, Liebe, dich, Fromme Tugend, dich auch gießen ins sanfte Herz,

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Rühmkorfs Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock (1959)

Ist, beym Himmel! nicht wenig! Ist des Schweisses der Edlen werth! Aber süßer ist noch, schöner und reizender, In dem Arme des Freunds wissen ein Freund zu seyn! So das Leben genießen, Nicht unwürdig der Ewigkeit! Treuer Zärtlichkeit voll, in den Umschattungen, In den Lüften des Walds, und mit gesenktem Blick Auf die silberne Welle, That ich schweigend den frommen Wunsch: Wäret ihr auch bey uns, die ihr mich ferne liebt, In des Vaterlands Schooß einsam von mir verstreut, Die in seligen Sunden Meine suchende Seele fand; O so bauten wir hier Hütten der Freundschaft uns! Ewig wohnten wir hier, ewig! Der Schattenwald Wandelt’ uns sich in Tempe, Jenes Tal in Elysium!

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Stephan Opitz

Peter Rühmkorf und Walther von der Vogelweide

Im Dezember 1975 erschien bei Rowohlt als Band 65 der Reihe Das neue Buch: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich von Peter Rühmkorf. Die von Jürgen Manthey herausgegebene Reihe hatte 1972 mit Rühmkorfs Die Jahre die Ihr kennt begonnen. Der Band 65 mit dem eingängigen Titel, der nicht von Rühmkorf stammte, lief gut; im Oktober 1984 wurde das nun seit Jahrzehnten vergriffene 18.–20. Tausend aufgelegt und man kann gern fragen, ob ein solches Buch heute noch bei Rowohlt oder in einem vergleichbaren Haus publiziert würde und wenn, mit welcher Auflage.1 Wie kam Peter Rühmkorf zu Walther von der Vogelweide? Ich möchte das anhand dreier Themenkreise zu beantworten versuchen: der Genese des Themas und deren Dokumentation im unveröffentlichten Tagebuch, dem Briefwechsel mit Peter Wapnewski, dem Walther-Essay und den Walther-Übertragungen.

I. Rühmkorf hatte sich im normalen Rahmen seines Germanistikstudiums mit mittelhochdeutscher Literatur beschäftigt. Er studierte bis 1956; im Wintersemester 1956/57 verweigerte ihm Hans Pyritz die weitere Teilnahme an einem Oberseminar über Barocklyrik, was den Studienabbruch ohne Abschluss bedeutete.2 Rühmkorf hatte gute Lehrer : Bei Ulrich Pretzel3 lernte er mittelhoch1 Peter Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, Reinbek bei Hamburg 1975 (Das neue Buch, 65), erreichte bis 1979 über 20 Tausend Auflage! Die Quellen aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach/Neckar sind in diesem Beitrag mit dem Hinweis DLA versehen. 2 Der 1950 berufene Hamburger Ordinarius Hans Pyritz (1905–1958) trat bereits 1933 in die SA ein und war bis 1944 Mitglied der NSDAP; weder das noch seine Lektorentätigkeit in Rosenbergs Amt für Reichsschrifttumspflege behinderten seine Nachkriegskarriere. Vgl. auch Peter Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen, Reinbek bei Hamburg 1972 (Das neue Buch, 1), S. 78f.: »Pyritz, Hans, Ordinarius der germanistischen Fakultät und

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deutsche Literatur kennen, bei Hans Eggers Gotisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch und deutsche Sprachgeschichte.4 Mit Walther von der Vogelweide hat er sich im Studium nicht vertieft beschäftigt.

II. Mittelhochdeutsch und mittelhochdeutsche Literatur sind als Thema, als Ausgangspunkt für Parodie, Variation oder andere literarische Anverwandtschaft im Werk Rühmkorfs bis zur Arbeit am Walther-Thema allenfalls als Spurenelement nachweisbar – im Gedicht Sentimentalisch II (1959) wird die Anfangszeile eines Minnelieds von Reinmar von Hagenau verwendet: »der lange süeze kumber min«. Man kann diesen mittelhochdeutschen Vers genauso wie die althochdeutschen Zitate aus den Merseburger Zaubersprüchen im Gedicht Auf einen alten Klang von 1960 als leichte Fingerübungen eines germanistisch gelehrten Dichters einschätzen. Von einer vertieften Beschäftigung kann jedoch bis in die 70er Jahre hinein bei Rühmkorf keine Rede sein – im entschiedenen Gegensatz dazu schrieb er virtuose Variationen und Parodien auf Klopstock,

Autor wissenschaftlicher Broschüren über den Barockdichter Fleming und ›Goethe und Marianne von Willemer‹, hatte den Autor unwissenschaftlicher Pamphlete gegen die ›Sekundärseimer der Literaturwissenschaft‹ schon lange aus seinem Herzen ausgeschlossen und gelegentlich einer Anwesenheitserhebung im Oberseminar die Abwesenheit des Chinareisenden Rühmkorf festgestellt. Was sich heute im Zeichen von ›Mao-Bibeln‹ und maßgeschneiderten Revolutionsröckchen todschick anhört, bedeutete in der Hochzeit des Kalten Krieges und im Strahlungsbereich der McCarthy-Verfolgungspolitik allerdings den sicheren Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und – nicht nur ideelle – Existenzgefährdung. Durfte noch gerade den Anfang einer fleißigen Semesterarbeit über Harsdörffer, die Pegnitzschäfer und die ›bibliografische Versorgungslage‹ zu Gehör bringen und fiel dann programmgemäß durch das bereits vorpräparierte Sieb. Kämpfte noch im Fallen mit brillanten Fehlleistungen (›wissenschaftliche Toren‹ statt ›Autoren‹) um meine schwindende Reputation und versank anschließend in tiefen Selbstwertkrisen und im Mulm zermahlener Berufsaussichten. Sehr folgerichtig heute: nicht das mindeste Ohr für das Gejammere von aus ihrem Gottesgnadentum gerissenen Ordinarien).« Eine Relegation von der Universität Hamburg auf Veranlassung von Pyritz hat nicht stattgefunden; das fragliche Seminar bei Pyritz fand im WS 1956/ 57 statt, ab dem Sommersemester 1957 ist Rühmkorf als beurlaubt im Studienbuch eingetragen. Paul Raabe, Kommilitone von Rühmkorf und wissenschaftliche Hilfskraft bei Pyritz, konnte auch keine Relegation Rühmkorfs bestätigen (Interview mit Paul Raabe im Februar 2012, S. O.). 3 Der Mediävist Ulrich Pretzel (1898–1991, sein Bruder war Sebastian Haffner) war von 1947–1968 Ordinarius in Hamburg. Auch Pretzel war Mitglied im NS-Dozentenbund seit 1937. 4 Der Sprachwissenschaftler Hans Eggers (1907–1988) war zu Rühmkorfs Studienzeit Assistent in Hamburg; er habilitierte sich 1953 im Fach Germanische Philologie.

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Abbildung 1: Auszüge aus dem Studienbuch Peter Rühmkorfs (DLA)

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Benn, Heine, Hölderlin, Eichendorff, Claudius, die eine tiefe Belesenheit belegen.5 Das änderte sich – die Voraussetzungen dafür waren die kritisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit Minnesang, vor allem mit Walther von der Vogelweide, und die Übertragungen von Walther-Gedichten. 1976/77 schrieb Rühmkorf das Gedicht Tagelied6 – die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sicherlich bedeutendste und schönste Adaption einer zentralen Gedichtform mittelhochdeutscher Literatur. In den Jahren davor, von 1974–1976, hatte Rühmkorf mehr als 30 Walther-Gedichte (von ca. 180 überlieferten) übertragen. Die Arbeit an den Walther-Übertragungen ist von der literaturwissenschaftlich-kritischen Beschäftigung mit Walther von der Vogelweide in der Chronologie des Werks nur etwas zeitversetzt zu trennen. Ab Februar 1974 begann das Thema Minnesang eine Rolle in Rühmkorfs Leben und Arbeit zu spielen, und ein paar Wochen später konzentrierte sich diese Beschäftigung auf Walther von der Vogelweide.

III. Das gedruckte TABU II behauptet eine Beschäftigung mit Walther von der Vogelweide bereits im Mai 1972.7 Das ist eine chronologische Irreführung, die Rühmkorf wahrscheinlich mit Blick auf die Komposition von TABU II vorgenommen hat.8 5 Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke 1, hg. von Bernd Rauschenbach, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 121–124 (Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock), 154 (Lied der Benn Epigonen), 156 (Heinrich-Heine-Gedenk-Lied), 233–235 (Variation auf »Gesang des Deutschen« von Friedrich Hölderlin), 239 (Auf eine Weise des Joseph Freiherrn von Eichendorff), 240f. (Variation auf »Abendlied« von Matthias Claudius). 6 Ebd., S. 344f. Erste Lesung im Funkhaus Hannover 11.2.77, Erstdruck in Merkur, Heft 348, Stuttgart Mai 1977. Im lyrischen Werk folgte 20 Jahre später noch Minnesangs Abschiedlied. Wilhelm von Aquitanien zum 826. Neidisch nachgesungen, vgl. Peter Rühmkorf: Wenn – aber dann. Vorletzte Gedichte, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 35–37. Die ältesten deutschen Sprachdenkmäler, die Merseburger Zaubersprüche, nahm Rühmkorf prominent in die Frankfurter Poetik-Vorlesungen über den Reim von 1980 auf, vgl. Peter Rühmkorf: agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven, Frankfurt a. M. 1985, S. 20–26. 7 Peter Rühmkorf: TABU II. Tagebücher 1971–1972, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 318. 8 TABU II, dessen Band 2 Rühmkorf nie fertigstellte, ist nicht nur geschönt, sondern in weiten Teilen fiktiv. Dies gilt vor allem für die Figur Erich mit ihrem Umfeld – es gab keinen ›älteren Freund‹ dieses Namens. TABU I ist für die Publikation gegenüber der Manuskript- und Typoskriptfassung erheblich bearbeitet, mit Rücksicht auf damals und heute noch lebende Personen, und auch Rühmkorfs Privatleben ist geschönt worden.

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14. Mai. Sachen gepackt u. im Büro nach der allgemeinen u. der speziellen Lage der Finanzen gefragt – worunter ich mir so etwas wie Cash, money, kurz ein Honorar vorgestellt hatte – worauf man mir in aller Unbefangenheit die Rechnung aufmachte: Unterkunft f. 2 Personen = 54 DM. Sagte, da müsse ich aber erst nochmal mit Herrn Schwencke sprechen, wozu mir am Ende der Mut fehlte, weil die plötzlich aufsiedende Wut zu groß war. Gleich an Walther von der Vogelweide und seinen Tegernsee-Spruch gedacht – »Man seit m„r ie von tegersÞ, j wie wol daz h˜s mit Þren stÞ: j da kÞrte ich mÞr dan eine m„le von der str–ze. j ich bin ein wunderl„cher man, j daz ich mich selben nicht enkan j verst–n und mich sú vil an frömde liute l–ze. j ich schiltes niht, wan got gen–de uns beiden. j ich nam d– wazzer : alsú nazzer j muost ich von des münches tische scheiden«. Nachts: wie schön der Abend war u. wie einschneidend am nächsten Morgen die Enttäuschung. Alter Gedanke von mir, eine Minnesängeroper zu schreiben. Über Musik bereits mit Yngve Trede (Stiefsohn v. Hans Henny Jahnn) und (wie ich glaube) auch mit unserem Volsinii-Kompositeur Thilo Medek gesprochen, aber bevor man hier an Libretti denkt, müßten erstmal die Verse u. Lieder völlig neu übersetzt werden. Eigentlich bereits ziemlich hochgespannte Nummer unser »Reichsdichter« u. von völkischer Seite nicht erst seit den Nazis vereinnahmter »Sänger des ersten Deutschlandliedes«. In der schäbigen Alltagswirklichkeit praktisch ein Leben lang auf Achse, ständig von Hof zu Hof, von Residenz zu Residenz, von einem Kloster zum anderen, um dort was vorzutragen? Seine sogenannten »Reichsgesänge« vielleicht, »Ich saz ˜f eime steine« – »Ich sah mit m„nen ougen« – »ich húrt ein wazzer diezen« – alles von ziemlich hoher Warte aus gesprochen u. von der Berufung des Dichters als Seher u. Wahrsager absolut zweifelsfrei akzentuiert. Andererseits dann wieder seine radikal aus der Reihe springenden Minne- als Küchenmädchenlieder, ob das eigentlich noch höfische Kost war? Ganz zu schweigen von seinen Scheltoden oder Lästerchansons mit der nicht endenwollenden Leierkastenmelodie von der überfälligen »miete« oder dem verweigerten Botenlohn. Kam mir irgendwie bekannt vor u. am Abend nochmal in frühen Skizzen geblättert. »TegersÞ«-Spruch mit frisch gespitzter Feder nachgeschärft.9

Es folgt ein Fragment zu einem Minnesängerstück – die Figur Walther extemporiert vor seinem Knappen Dietrich zu Pferde den Tegernseespruch – und zwar in Rühmkorfs Übertragung aus dem Jahr 1974: Herrjeh, schweigt mir von Tegernsee! Von »frühen Skizzen« und »›Tegersee‹-Spruch mit frisch gespitzter Feder nachgeschärft« kann im Jahr 1972 keine Rede sein. In TABU II kommt das Thema nur an dieser Stelle vor; Rühmkorf hatte sich mit Walther zu dieser Zeit noch gar nicht beschäftigt. Seine auf 1972 vordatierte eigene Übertragung verfasste er erst 1974. Im Typoskripttagebuch10 notiert er am 14.5.72: Frage im Büro (Loccum) nach der »Lage der Finanzen«, worauf man mir – ich wollte Honorar! – die Rechnung macht, vollkommen unbefangen: 54 DM für zwei Personen. 9 Rühmkorf: TABU II, S. 318ff. 10 Zitate aus dem Typoskripttagebuch (DLA) werden mit Datum nachgewiesen.

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Sage , da müsse ich aber nochmal mit Schwenke sprechen, wozu mir dann der Mut fehlt, weil die Wut einfach zu groß ist. Der fahrende Sänger, in fetten Klöstern, mit Rechnungen abgespeist. Bittere Heimfahrt.

Mehr als diese Assoziation (»fahrender Sänger«) gibt das Tagebuch nicht her, das reale Kloster heißt Evangelische Akademie Loccum und wurde damals von Olaf Schwencke geleitet, der zu einer Tagung eingeladen hatte, die am 14.5.72 noch gar nicht beendet war.11 Die weiträumige Ausarbeitung der Druckfassung ist offensichtlich, die handschriftlichen TABU-Konvolute beginnen erst ab Januar 1973.12 Im Tagebuch ist am 11.2.74 zu lesen: Gestern abend noch einige Stunden lang Minnesängerliteratur durchstöbert, so etwas als Kasperstück zu denken, als Marionettenspiel mit maskierten Pferden und fadengezogenen Lanzen und raffiniert animierten Mantelschleppen, fliegenden Gewändern, flackernden Fähnchen. Hatte es Steinmann (Puppenspieler, Berlin) schon in Segeberg vor Augen gemalt, und, naja, man könne ja sehen. Meine eigene Lage auf weit entfernte Bühnen projizieren, in eine bunte Vergangenheitswelt: die ermüdenden und erniedrigenden Reisen von Hof zu Hof, von Residenz zu Residenz, von Markt zu Markt. Liebeslyrik auf Bestellung. Der käufliche Gesang, das verkaufte Lied. Auch Konkurrenzkampf auf dieser gehobenen höfischen Ebene, Sängerturniere, den Nebenbuhler ausstechen, sich mit neuen Chansons an die Tete einer Saison setzen. Und dazwischen immer noch die zwanghaften Klampfengriffe in die eigenen Saiten, die verzogene Bespannung, das vibrierende Gedärm: Susanna, und daß ich diese Niederlage nicht einfach nonchalant überspielen könnte – das aufgeklappte Herz, eine ehrenrührige Situation.

Den erwähnten Steinmann traf Rühmkorf auf einer Tagung zur Kinderliteratur vom 6.–7. 2. 1974 in der Evangelischen Akademie Bad Segeberg. Dort bemühte er sich ausweislich des Tagebuchs auch um die genannte Susanna, von der wir nichts weiter wissen, als dass sie Rühmkorf nach anfänglichem Anbändeln abgewiesen hat. Doch: Der Plan einer Minnesängeroper taucht ab Februar 1974 nicht mehr nur im Tagebuch auf. Im Nachlass liegt ein von Rühmkorf handschriftlich datiertes Konvolut (18. 2. 1974), dessen Zettel 1 lautet: Das Hör- und Musikspiel »Minnesänger« versucht ein Stück klassischer Literaturgeschichte, bzw Literaturbetriebsgeschichte aufzuhellen: als Bettleroper. In der statischfeudalistischen Kultur war der Minnesänger so etwas wie der erste Privatunternehmer : Musikunternehmer, Selbstunternehmer.

11 Mit Dank an Olaf Schwencke, Karl Ermert und Reinhard Behnisch, die rasch per Mail Auskunft gaben: Die fragliche Tagung hieß Lesekanon und Trivialliteratur und dauerte vom 26. bis 29. Mai 1972. 12 Bislang sind keine TB-Manuskripte aus den Jahren 1971 und 1972 im Nachlass aufgetaucht; sie müssen aber vorhanden sein, da Rühmkorf sie sich aus Marbach (DLA) nach Hamburg für die Arbeit an TABU II ausgeliehen hat.

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Abbildung 2: Handschriftliches Konvolut zur Minnesängeroper vom 18. Februar 1974 (DLA)

Von dieser Zeit an wird die Sache interessant – und es beginnen: die Genese eines der erfolgreichsten Bücher Rühmkorfs, die Geschichte einer Kollegenbeziehung über Jahrhunderte hinweg, die Auseinandersetzung mit der zünftigen Germanistik und die einzige umfangreiche Übertragungs- und Übersetzungsarbeit Rühmkorfs.

IV. »Meine eigene Lage« – die Ablehnung seiner Bühnenwerke von 1969 an (Was heißt hier Volsinii? über Lombard gibt den Letzten [1972] bis Die Handwerker kommen [1974]) machte dem Schriftsteller Rühmkorf schwer zu schaffen. Er hatte sich erhebliche Einnahmen vom Theater versprochen – die blieben aus, seine Stücke kamen über ein paar Uraufführungen nicht hinaus, die Kritik war dürftig und negativ, was er bis dahin so nicht gewohnt war. Der Lyriker Rühmkorf aber blieb über den Stücken stumm – neue Gedichte entstanden frühestens ab 1974/75; sie wurden im Walther-Buch erstmals publiziert. Danach kamen in rascher Folge Buch und Gedicht mit den programmatischen Titeln Phönix voran! (1977) und Haltbar bis Ende 1999 (1979). An dieser Wende hatte die Beschäftigung mit Walther von der Vogelweide entscheidenden Anteil. Sie sicherte auch eine Identifikation mit einem sozial und dichterisch vergleichbaren Leben.

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V. Tagebuch, 19. 2. 1974 (DLA): für 55 Mark Bücher gekauft: u. a. Wolkenstein-Texte mit Musiken von Müller-Medek.13 29.2.74: Gestern abend noch Anruf von Thilo Müller-Medek und Bunge. TMM: »Wer weiß, daß ich Wolkenstein-Musiken geschrieben habe, der soll mein Partner sein.« Vorstellung von Stasi-Geflüster : die Namen, Wolkenstein, Walther, Neidhardt, Reinmar, ein ganzes Agentennetz, lauter Tarnnamen, Anlegen von Akten, Vorgängen […] (auch Stoff für Einakter).

Von da ab konzentriert sich die geplante Oper, deren Musik Tilo Müller-Medek komponieren soll, auf Walther ; aus dem ersten Entwurf des Librettos geht es hervor.14 Mit Beginn des Briefwechsels mit Peter Wapnewski (DLA) am 24. 5. 1974 war Rühmkorf schon tief in die Walther-Thematik eingestiegen. Für einen ersten Kontakt mit dem bereits damals mit den wissenschaftlich-gesellschaftlichen Insignien eines Großordinarius ausgestatteten und mit Rühmkorf weder bekannten noch gar befreundeten Wapnewski ist der forsche und nach ein paar Monaten Beschäftigung mit dem Thema ebenso kundige wie selbstbewusste Ton des Dichters auffallend. Rühmkorf schrieb von gleich zu gleich: Lieber Herr Wapnewski, eine kurze Bitte um Rat und Tat. Ich bekomme Ihre Diss. betr. Wandel von Walther-Übersetzungen in der hiesigen Stabi nicht und bin doch hochinteressiert, weil ich mitten und tief in Walther-Texten sitze. Bei Vorarbeiten zu Theaterstück oder grotesker Oper »Die Minnesänger« hab ich mich zunehmend intensiv auf Walther eingelassen, was hoffentlich nicht nur Bohrmehl und Sägestaub erzeugt. Ich nehme an, daß an Walther zahlreich herumübersetzt worden ist, Sie sprechen ja auch davon, neben mir liegen allerdings nur Simrock und Uhland, da kuck ich immer mal rein […] und konstatiere die kreischenden Unterschiede. Auf der einen Seite ein fast mediokrer Anpassungseifer, der mit den Originalen nicht eben viel zu tun hat und dann hier – na ja, eine gewisse Willkür, die formal nicht allzuviel laviert, aber Inhalte kraß rausholt.

13 Tilo Müller-Medek: Zehn einstimmige Originalweisen des Oswald von Wolkenstein für mittlere Singstimme und Gitarre komponiert von Tilo Müller-Medek, [Frankfurt a. M.] [o. J.], vermutlich aus: Hubert Witt: Um dieser welten lust. Leib- und Lebenslieder des Oswald von Wolkenstein, Berlin (West) u. a. 1968. 14 1. Minnesängerentwurf; 15 Bl. A 5, Nachlass (DLA); »Walther : Ah – äh – j uh – äh – ah – uh j (probt Ton hinten) jj Knappe: Verse! Herr Walther! j Verse: In der Musik jsind Sie nicht so j stark. jj Walther : Ob Thüringen mir so j fade Melodien abnimmt? jj Knappe: Ein starkes Wort jwiegt hundert Töne auf – jj Walther : Man muß stark im j Gemüt sein –.«

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Abbildung 3: Erste handschriftliche Notizen zum Libretto (DLA)

Im Postskriptum des Briefes setzt Rühmkorf noch eins drauf: Die Übersetzungen von P. Hase in Ihrem Fischer-TB sind gar nicht schlecht; bloß, sie kommen natürlich auch aus dem Doppelkorsett nicht heraus: einerseits die statischen rhetorischen Grundlagen, die Walther vorfand und dann die von ihm neu erzeugten Stabilitäten. Ich geh mit den baulichen Gegebenheiten sehr viel freier um – muß ich in diesem Fall und für mein Publikum auch – bleibt immer die Frage, wie übersetzt man einen Bamberger Dom, einen Würzburger Kreuzgang.

Das hat wohl ziemlich gesessen; Wapnewski hatte mit der Veröffentlichung einer Sammlung von Walther-Gedichten und Prosaübertragungen als Fischer-Taschenbuch seit 1962 einen bedeutenden Publikumserfolg für sich und den Dichter Walther erreicht, ein Erfolg, der im Übrigen noch bis 2008 anhielt.15 Im Anhang des Bandes, der »Proben poetischer Übersetzung« enthält, taucht »mein Schüler P. Hase« als nachdichtender Übersetzer auf. Wapnewski wertet die dichterische Übersetzung ab, denn 15 Walther von der Vogelweide: Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, ausgewählt, übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Peter Wapnewski, Frankfurt a. M. 1962 (Exempla classica, 48). Der Band wurde bis 2008 in weit mehr als 100 000 Exemplaren nachgedruckt.

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Abbildung 4: Handschriftliche Notizen zum Thema Minnesänger (DLA)

sie will nicht zum Urtext hinleiten, sondern versuchen, dessen poetische Substanz in der Verwandlung zu bewahren. Ein solches Übersetzen will also auch ein Ersetzen sein. Dieser Aufgabe ist etwas vom Begehren des Unmöglichen eigen. […] Poetische Übersetzungen Walthers gibt es […] in großer Zahl. Bis zur Gegenwart hin sind alle diese Versuche durch den Stil Uhlands und Simrocks geprägt. Es muss erprobt werden, wie eine dichterische Übersetzung in die Sprache des 20. Jahrhunderts bestehen kann.16

Wapnewski bestätigte etwas mürrisch in der Antwort auf Rühmkorfs ersten Brief am 31. 5. 1974 dessen bereits im Tagebuch am 24. 5. 1974 niedergelegte Vermutung, dass P. Hase ein alter ego Wapnewskis sei, der sich eine dichterische Übertragung unter eigenem Namen und Ruf nicht zutraute. Rühmkorf begann 18 Jahre nach seinem abgebrochenen Studium seine Auseinandersetzung mit der germanistischen Zunft. Dabei hatte er bereits nach gut drei Monaten Walther-Lektüre die sichere Gewissheit, dass er – im Gegensatz zu allen anderen – diesem vor 800 Jahren verstorbenen Dichter sehr nahe gekommen war. Und zwar existentiell wie als philologisch kompetenter Dichter.

16 1. Minnesängerentwurf; 15 Bl. A 5, Nachlass (DLA), S. 282.

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VI. Das alles stieß bei Peter Wapnewski nicht nur auf neidloses und fachlich interessiertes Wohlgefallen. Zwischen beiden entwickelte sich wechselseitiger Respekt, der die jeweiligen claims immer besser abzustecken in der Lage war und auch rasch freundschaftlich wurde. Rühmkorf schickte Wapnewski die ersten Übertragungen – welche, wird erst ein Blick auf die Originalsendungen im Nachlass Wapnewski klären können; der sogenannte Atze-Spruch war jedenfalls dabei, denn auf den geht Wapnewski in seiner Antwort ein – am 9. 6. 1974 zur Begutachtung: […] Am Dialog mit der Wissenschaft liegt mir immer noch mächtig, die Lust hat selbst der Psychopath Pyritz mir nicht austreiben können. Hoffentlich bring ich Sie mit diesem Ansinnen nicht in Verlegenheit. – Übersetzungsskrupel hab ich selbst die Fülle, allerdings am wenigsten dort, wo ich gleich von vorneherein skrupellos genug war, die Vorlagen, die Originale durch den großen Wolf zu jagen. Was ich wollte: die alten Botschaften kraß rausholen, ohne daß der neue Text pausenlos hinter den alten Formalien hergrimmassiert.

Neun Tage später folgt die Antwort (18. 6. 1974): […] haben Sie vielen Dank für […] die Proben Ihres Übersetzer-Temperaments, die mir großen Eindruck machen. […] ich finde Ihre Übersetzungen wirklich schön, treffend, eindrucksvoll und, sagen wir einmal: dynamisch. […] wenn ich Ihr Konzept richtig verstehe, handelt es sich eher um Gedichte nach Walther von der Vogelweide als um strenge und strikte Übersetzungen.

Das »nach« ist im Original des Briefes handschriftlich unterschlängelt: Das ging Rühmkorf an die Nerven. Er antwortet erst Monate später, am 26. 11. 1974 – und schickt den Brief zu diesem Zeitpunkt nicht ab.17 Das Schreiben beginnt in ziemlich hohem Ton: […] Dank nochmal für Ihre freundlichen Ratschläge […]! Ihre Ritterschläge haben mir damals, im sumer, sehr wohl getan und – nachgewirkt. Könnten wir uns genauer besprechen, würde ich Ihnen zu beweisen suchen, daß meine scheinbar freien Übersetzungen so frei gar nicht sind – sie haben nur versucht, Interpretation, d. h. Verständnisfakten mit in die Übersetzung einzubeziehen. Ein zweiter Zwang, den ich mir geschaffen hab. Nicht Freiheit. […] Aber darüber jetzt nicht.

Rühmkorf geht im Brief auf die sogenannte Reinmar-Fehde und deren Datierung ein. Die Auseinandersetzung zwischen Reinmar von Hagenau und Walther von der Vogelweide, zwischen dem älteren und dem jüngeren, dem arrivierten und 17 27. 11. 1974: »[…] langen Brief an Wapnewski gestern nacht unter Einfluß von Slibowitz geschrieben, einbehalten. Phantasiere im Suff zu viel rein und drauflos, was sich bei rückkehrendem Augenlicht nicht mehr halten läßt.«

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dem nicht arrivierten, zwischen dem Hofmann und dem eher am Rande des Hofes stehenden, zwischen dem Hofpoeten und dem künstlerisch hochrangigen Krawallmacher, ist ein schillernder Topos in der deutschen Mediävistik, dessen philologisch und historisch tatsächlich belastbare Eckpunkte erst der 2009 verstorbene Stuttgarter Mediävist Günther Schweikle 1986 vermessen hat. Zur Reinmar-Fehde schreibt Rühmkorf: Hier bestreit ich alles […] Und hier kommen wir uns sehr nahe und gehen doch auseinander […] Entschuldigen Sie, aber was Gegengesänge angeht, bin ich sozusagen Fachmann – wenn auch nur vom Urin her. […] Ich glaube, man darf sich Walther nicht immer allein als Zuschlagenden vorstellen […] Es gibt […] immer zwei Typen von Parodisten, traditionsverhaftete und modernistische. […]

Eigenes und gänzlich neues Herrschaftswissen zur Reinmarfehde einem Mediävisten vom Rang Wapnewskis gegenüber brieflich mitzuteilen wagt Rühmkorf nicht – immerhin kommt Schweikle 1986 zu Ergebnissen, die Rühmkorf teilweise schon im nicht abgeschickten Brief formuliert hatte.18 Walther-Übersetzungen diskutiert Rühmkorf in der Folge nicht mehr brieflich, vielmehr geht es um Interpretationsfragen und zeitgeschichtliche Details. Irgendwann vor dem Jahreswechsel haben sie sich persönlich getroffen, in einem Brief am 2.1.75 legt Rühmkorf den nicht abgeschickten Novemberbrief bei, »verkürzt um allzu wagemutige Konstruktionen, zu denen der Suff mich verführte« – deren Parallelführung Walther und Rühmkorf als Parodiker/Außenseiter- und Ausnahmedichter mutet er Wapnewski nicht zu. Am 14. 1. 1975 aber geht es um Geld – Geld für Walther : Die Lage ist so: ich würde ja furchtbar gerne – und neben der Hörspielarbeit19 her – den ganzen Walther neu durchübersetzen. Aber : Das kann ich nicht. Kann ich nicht, weil ich arm bin und mein eigenes Hausiererleben solche aufwendigen Eskapaden nicht erlaubt. Nun: Gibt es nicht irgendeine Forschungsgemeinschaft oder einen ähnlichen 18 Günther Schweikle: Die Fehde zwischen Walther von der Vogelweide und Reinmar dem Alten. Ein Beispiel germanistischer Legendenbildung, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 115. 4 (1986), S. 235–253. »Nimmt man die Reinmar-Walther-Fehde aus den germanistischen Klischee-Vorstellungen eines sich in Wien abspielenden, zeitlich und programmatisch fixierten Ereignisses heraus und versucht, sie sich […] in einer realhistorischen Welt vorzustellen, dann erscheint sie […] als Teil eines Sängeralltags, in dem es gelegentlich durchaus um handfeste Konkurrenz vor dem Publikum gehen konnte, […] Zu Walthers Fehdetechniken […] gehören solche selbständigen Parodien […].« Ebd., S. 252f. Dass ein Mediävist vom Range Schweikles Rühmkorfs Überlegungen nicht kennenlernen konnte, ist bedauerlich. Rühmkorf hat offenbar nur einen frühen Aufsatz von Schweikle gekannt (vgl. Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, S. 77), nicht aber Schweikles frühere Überlegungen zur Reinmar-Fehde, vgl. Günther Schweikle: War Reinmar ›von Hagenau‹ Hofsänger in Wien?, in: Helmut Kreuzer (Hg.): Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Studien, Stuttgart 1969, S. 1–30. 19 Mit »Hörspiel« kann hier nur die Arbeit mit Radio- und TV-Features zum Waltherthema gemeint sein. Das Hörspiel Im Sperrmüll wurde im WDR 2 am 3. 12. 1974 gesendet.

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Topf, der solch hehres Unterfangen ein wenig subventionieren würde? Ich meine, diese großen gemeinnützigen Apparate finanzieren doch jeden Stuß; und hier kriegte man doch am Ende was in die Hand, was man sich dann auch schön an den Hut stecken könnte.

Die Antwort folgt eine Woche später (21. 1. 1975), freundschaftlich, aber unmissverständlich: […] Was mir bei Ihren Überlegungen zu Walther und seiner Entourage am meisten imponiert, ist die Intensität der Einarbeitung in einen doch immerhin komplizierten und abgelegenen Bereich philologischer Kleinüberlegungen. Respekt! Ob Sie recht haben, ob nicht, ist so auf Anhieb nicht leicht zusagen und sollte, meine ich, im Gespräch geklärt werden. […] Ich sollte Ihnen keine Hoffnungen machen in Bezug auf die Chance, einen Mäzen zu finden für Ihre Walther-Übersetzung. Natürlich gibt es da Institutionen, in allererster Linie die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Natürlich kann man da einen Antrag stellen. Aber dieser Antrag geht dann an eine GutachterKommission, die in allererster Linie den wissenschaftlichen Bedarf für das vorgeschlagene Projekt prüft. […] Lassen Sie mich bitte daran erinnern, dass es mit Böhm, Stapf, Schaefer und Maurer nicht weniger als vier vollständige, bilinguale WaltherÜbersetzungen in wissenschaftlicher Prosa gibt. Das ist […] in den Augen kritischer Gutachter mehr als genug. […] Zu schweigen von der Wapnewski-Ausgabe, die ja auch, wie man weiß, ihre nützlichen Dienste leistet.

Der Brief schließt mit der Einladung, für 500 DM plus Spesen im Hause der Papierunternehmerfamilie Hösch einen Abend zu gestalten. Das Engagement der Familie wirke sich »insbesondere in wohltätigen Handlungen zu Gunsten fahrender Künstler aus«. Rühmkorf schreibt Wapnewski erst wieder am 2. 5. 1975, geht mit keinem Wort auf die Absage ein (das Engagement in der Papierfabrik hat ein peinlich-zähes Honorarnachforderungsnachspiel ein halbes Jahr später), schickt neue Übersetzungen aber nur noch »z. K.« »[…] Lassen Sie sich Zeit mit dem Antworten – was sollen Sie auch immer neue schreiben? Die Ermunterungen haben stattgefunden, die Maschine läuft jetzt fast automatisch.« Wapnewski antwortet am 19. 8. 1975 – Rühmkorf hatte ihm die Gelegenheit gegeben, das Manuskript des im Dezember 1975 erscheinenden Buches zu lesen. Die Grenze zwischen Philologie und Dichtung zieht Wapnewski deutlich, doch eine Freundschaft war ganz offensichtlich entstanden: Lieber Lüngi, das ist Dein Buch, und mir gefällt der Schwung, der Witz, der Drive. Und doch bist Du bei Klopstock gewiss besser, und am besten bei »ich«. Denn bei Wa ist eben soviel Kleinkram, den zu ignorieren nur erlaubt ist, wer ihn ganz und gar ignoriert. […] Lieber Lüngi, nicht eines Augenblickes Schatten lang werde ich irritiert, enttäuscht oder was immer sein, wenn Du all meine Einwände umpustest, über Haufen wirfst, ignorierst. Das ist Dein Recht und ich bin der letzte es Dir zu nehmen. […] Ob

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ich Dein Buch bespreche, überlassen wir dem Buch, wenns fertig ist. Wenn Schweigen besser ist, schweig ich. Wenn Reden besser ist, schreib ich. Also, das ist das.20

Ein Satz in der Druckfassung des Walther-Essays wog für Wapnewski schwer : »Die Prosaübersetzung stammt von Peter Wapnewski, und der Herausgeber einer wohl erwählten und einfühlsam-zupackend kommentierten WaltherAusgabe hat sicher gut daran getan, in Prosa zu bleiben.«21 Das war Rühmkorfs abschließende Grenzziehung – ohne Rücksicht auf die mit der Walther-Arbeit entstandenen und bis zu seinem Tode anhaltenden freundschaftlichen Verbindungen.22 Es war das ecy jai eines, den die Germanistik der 50er Jahre aus dem Studium getrieben hatte, der ein Dichter und glänzender Essayist geworden war, der wusste, was er konnte, und der bis zu seinen späten Jahren immer damit haderte, verkannt zu sein.

VII. Die Entwicklung der Empathie mit Walther (die in einer später im Gedicht Reisender verwendeten RH-Notiz gipfelt23) wie der Zunahme des Wissens um dessen Zeit und Werk hält er in den Wochen vor dem ersten Brief an Wapnewski im Tagebuch fest. 30.4.74: 12 Adiphen und Lektüre Wapnewsky »Walther«24. 1.5.74: Mich neu in mhd eingelesen. Mit detektivischem Spürsinn als gelte es Paul und Braune25 zu berichtigen. Woran Mangel ist sind unterhaltsame Bücher aus dem Ritterleben, s. Ganghofer »Die Trutze von Trutzburg«. Ein fadenziehender Ehrgeiz. Schon fühlt man sich angestachelt, herauszubringen, wer Heinrich v. Ofterdingen war. 20 Er hat über das Buch geschrieben – eine umfangreiche Rezension in Der Zeit, in der seine Bedenken aus dem Briefwechsel sehr weit ausholend, sehr freundschaftlich, dennoch leicht herablassend aufgehoben sind. Deutlich wird darin das (m. E.) vergebliche Bemühen, PR einen Platz zuzuweisen und der – sic in der Rezension! – »Altherrengermanistik« einen anderen, und zwar den rechten im Umgang mit Walther, will man sich ihm nicht mit poetischen Mitteln nähern, vgl. Peter Wapnewski: Zwischen Freund Hein und Heine. Walther von der Vogelweide, Klopstock und Rühmkorf oder: Der annektierende Interpret, in: Die Zeit 5. 3. 1976, Nr. 11. 21 Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, S. 10; vgl. auch Anm. 14 – »P. Hase« hatte Ich saz uf eime steine dichterisch übersetzt! 22 Der letzte Brief PR an PW vom 11. 8. 2004, der letzte Brief PW an PR vom 7. 1. 2005. 23 Im Manuskript wie im Typoskript des Tagebuchs (DLA) steht »RH« immer für Bruchstück künftiges Gedicht, Versbruchstück, rhythmische Einheit. Reisender erstmals publiziert in Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, S. 162. 24 Wie Anm. 14. 25 Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik, 5. Aufl., Halle a. d. S. 1900 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, A2).

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Abbildung 5: Peter Rühmkorfs Exemplar von Wapnewskis Walther-Ausgabe, vgl. Anm. 15 (DLA)

2.5.74: Dichtung nicht einfach als holde Schwester der Wissenschaften, sondern als ihre Gegenspielerin. […] Ich trete den Alten als Kollege nahe und nicht mit dem Beweismittel Zeigestock. Ich höre ihren Atem an meinem Ohr. Ihre Klagen sind für mich keine Untersuchungs- sondern Sympathiegegenstände. Trotzdem immer munter zwischen drei Waltherausgaben, Mark Twains »Ein Yankee an König Artus Hof« und Engels »Ursprung der Familie«. 7.5.74: […] Mittags […] bei Stabi 12 Walther- und Minnesangsbücher. 8.5.74: Mein angeschnitten/verschärfter Blick auf die Welt, meine Verrücktenoptik, die sich auch in noch so neuen Walther-Bildern gar nicht fangen/bespiegeln kann. RH Ach, ich will nicht mehr, ich bin verrückt, ich leide/- – - – - – -/Walther! Von der Vogelweide,/ lös, ach lös … 9.5.74: Von gestern 2288 bis heute 388 Wechsler zu Ende, dann Ganzenmüller »Naturgefühl im Mittelalter« (ganz und gar mittelmäßig itself) und in Hermann Pauls Walther-Ausgabe. […] Immerhin hat sich der Walther-Ton so tief in mein Ohr eingefräst, daß ich die Nachträge/Anhänge bei Hermann Paul als Fälschungen empfinde. […] Hans Naumann: »Ritterliche Standeskultur um 1200«. Je mehr man liest, umso zögernder wird man. Die Gunst des ersten Griffs weicht einem mümmelnden Bedenken und Relativieren und skrupelvollen Inrechnungstellen. Die eben noch so sicher zupackende Hand zaudert, zerpflückt, zerbröselt und statt der erhofften Sinnlichkeit stellt sich eine unfruchtbare Besinnlichkeit ein. Woran Mangel herrscht, sind immer

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Abbildung 6: Rühmkorfs Leihscheine und Lochkarten der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg aus dem Jahr 1974 (DLA)

noch sachliche und detaillierte Informationen über Handwerkswesen, Straßen- und Burgenbau (Befestigungskünste), Wegeverhältnisse, Tauschhandel pp. Hier scheint in der Antike manches viel besser belegt als für das ewig nur kunstschriftstellernde Mittelalter. Die wirklichen Erkenntnisse kaum über die ersten drei Notizentage hinaus. Was mir spontan zuflog, hatte mehr Gewicht als diese mittlerweile zu rieselndem Staub zerlesenen Bücher. (und Büchersbücher). Statt dramatischen Stoffen entfaltet sich nur das Material für weitere Dissertationen. Sich mit der Zeit blöd bilden. 10.5.74: Zurück zu Walther. Imponierend, wie er hier sein eigenes Sitzbild hochstuft. Etwas in einem Zug aufzureißen, weil man weiß, worauf man aufbaut (gründet) und wohin man will. Habe früher auch einfach in solche erahnten Umrisse hineingeschrieben, gesamtheitlich gedachte Inbilder ausgefüllt, bis ich diesem tragischen Quantelzwang verfiel. Man kann von hier aus neu lernen: »ich saz uf eime steine«: und dann die Entwicklung einer Figur durch ihre schrittweise Verfaltung/Verknotung: »bein mit beine – ellenbogen – hant gesmogen – daz kinne und ein min wange«: von der wohl gegründeten Basis hinauf und immer mehr ins Detail. Wie er sich selbst so langsam aus einem imaginären Felsblock herausarbeitet und bei der Aufstockung sich differenziert. (wie schade, annehmen zu müssen, daß das vor mir schon dutzend-, nein hundertfach bemerkt worden ist). Beim Übersetzungsversuch immer wieder steckengeblieben. Die Grundfrage neben, bzw. unter oder über allen Einzelschwierigkeiten: wie übersetze ich einen gotischen Dom ins Heutige/Hiesige.

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16.5.74 Gestern nacht bis heute früh, 5.00: Walther: »owe war sint verswunden/alliu miniu jar« übersetzt. Dabei mich in eine angeregte Vanitas-Stimmung geraucht/gesoffen. […] Diese Simrockschen Walther-Übersetzungen26 schon so wachsige Philologenfrüchte. 17.5.74 Sonne, Balkon. Sechstes Vogelweidegedicht übersetzt. Wenn es so zügig weiterginge, könnte ich bis Ende Juni die poetische Masse ans hiesige Ufer gerettet haben. Simrock dichtet im Stock, die vorgegebenen Zeilenlängen wie einen Knebel im Mund. 24.5.74: […] Über Walther: man muß manches durch Geschmeidigkeit/Wendigkeit des Versbaus wettmachen was bei W. eine ganz andere Architektur hat. Sehr schwierig, fast eitel, heißt Haschen nach dem Wind, sein ganzes Spolienwesen und die Arbeit mit den Versatzstücken, Kartuschen, Emballagen des seinerzeit zeitgenössischen Minnesangs in etwas nachzubilden, nachzustellen. Was wir als Stabilität und wohlgegliederten Versbau empfinden, stammt aus dem seinerzeitigen Stabilbaukasten. Bogenführung, Kuppelgewölbe, Säulenarchitektur, perspektivisches Gestaltsehen: das ist Innungsbesitz und allgemeines Bauhüttenwissen. Bei Wapnewski eine regelrechte (Muster?) Übersetzung seines »Schülers P. Hase« (wenn ers nicht selber war und sein Name ist so und er weiß von nichts) sind selbst die umstandsbedingten, d. h. zufällig metrial erzwungenen Unebenheiten und »Versagungen« mitübersetzt worden, was ich für eine falsche Auffassung von Werktreue halte, während Walther sich freizügig zwischen den Standards bewegte, gerät der Akademiekünstler unfreiwillig zwischen die Fatalitäten von gestern und begegnet dem gar nicht vermeidbaren Materialzwang mit verkrampften Nachahmungszwang. – Es geht nicht darum, gewisse Formalitäten liebedienerisch nachzuahmen, sondern einen Ton zu treffen und das inhaltlich Gemeinte so weit nach vorne zu holen wie möglich. Übersetzung als Interpretation = Verständlichmachung. Der Übersetzer: Ein Rausholer. Der Übersetzer muß sich hübsch auf der Zeile bewegen – : »Zwischen den Zeilen«, das ist ein Elends- ein Entschuldigungsort. Die bleibende Frage: ob Philologie überhaupt ein von Herzen kommendes Charakterbild ihrer Protagonisten, hier Walther entwerfen kann. Die Verwerfungen gehen tiefer und sind privater als die Wissenschaft sich eingesteht und uns vorerzählt. – Und wieder Schnaps: der süße Verwüster. Walthers Schicksal natürlich in ganz anderer Tiefe zu lesen als der philologische Flachgang aufwirft. Worüber sie schamhaft und mit Entschuldigungen hinwegleitet, der durch nackte wirtschaftliche Not ressentimental verwühlte Charakter. Zur Lichtgestalt zurechtgelogen.

VIII. Die Niederschrift des ein Jahr später als Buch veröffentlichten Walther-Essays beginnt parallel verschoben zu den Übertragungen etwa Mitte 1974. Im Juni arbeitet Rühmkorf gleichzeitig zu den Walther-Übertragungen und am Klop26 Walther von der Vogelweide, hg. von Karl Simrock, Bonn 1870. Einleitung S. 1, auf Walther und das Nibelungenlied bezogen: »nichts ist geeigneter, unser erstorbenes Vaterlandsgefühl wieder ins Leben zu rufen, […] Das ist Feld- und Zeltpoesie, damit kann man Armeen aus der Erde stampfen, wenn es den Verwüstern des Reichs, den gallischen Mordbrennern, der römischen Anmaßung zu wehren gilt.«

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stock-Aufsatz27. Der Abgabetermin ist mit einer Sendeplanung des damaligen SDR-Redakteurs Helmut Heißenbüttel im Studio für neue Literatur gesetzt (beide, Rühmkorf und Heißenbüttel, sind in einiger schriftstellerischer Abneigung miteinander verbunden28): 31. 1. 1975. Den Titel nahm Heißenbüttel für die Sendung29 vorweg – im Tagebuch heißt es unter dem 20.11.74: »Heißenbüttel hat mir als Sendungstitel ›Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich‹ vorgeschlagen: pfiffig, wie ich ihn mir gar nicht vorgestellt hatte.« Der Essay (mit dem die Identitätsvermessung Walther – Rühmkorf evozierenden Titel Walther von der Vogelweide, Reichssänger und Hausierer) setzt mit einer Interlinear-Version und Interpretation des bekanntesten – und von PR damals nicht (!) übersetzten – Walther-Gedichts, des Reichstons, Ich saz uf eime steine, ein.30 Die Exposition des Essays aus dem Reichston beschreibt eine Person. Diese Person ist ein herausragender Dichter – dessen gleichrangiger Kollege ihn über die Jahrhunderte hinweg beschreibt. Die subjektive Beschreibung Rühmkorfs legt Walther objektiv frei – und macht ihn ebenso zugänglich wie lebendig. Rühmkorfs Waltherbeschreibung ist frei vom Geist der »Germanisten und Germanosophen des 19. Jahrhunderts«, die genau »wußten […] wohin sie ihren Walther haben wollten: […] ins Zeughaus der völkischen Wiederaufrüstung«.31 Doch eine simple Zweiteilung der Welt reicht nicht, denn »Literatur, die sich nicht als legendenfähig erweist, wird gar nicht weitervermittelt«, »Überlieferung ohne das nötige ideologische Gleitfett« findet gar nicht statt. »Als der Nazigeist nach und nach aus den Schulstuben exorziert wurde, […] blieb […] eine bis zur Unleserlichkeit verkodifizierte Konkursmasse.«32 Diese »Konkursmasse« – das soll heißen: die überwiegende Unfähigkeit der Germanistik nach 1945, sich mit mehr als Einzelaspekten zu Walther auseinandersetzen zu wollen – arbeitet Rühmkorf mit einer philologischen und historischen Gründlichkeit auf, die auch im Werk dieses poeta doctus einen Einzelfall darstellt. Das fängt bei der verarbeiteten und wahrgenommenen Literatur an:33 27 Peter Rühmkorf: Friedrich Gottlieb Klopstock. Ein empfindsamer Revolutionär, in: ders.: Walther von der Vogelweide, S. 79–119. Typoskript TB 21. 6. 1974: »Starre auf Klopstocktext und verfalle selbst in Leichenstarre.« 28. 6. 1974: »Bis 4 00 morgens an NDR/Klopstock.« 28 Vgl. Helmut Heißenbüttel: Zur Lockerung der Perspektive. 5x13 Literaturkritiken, hg. von Klaus Ramm, Göttingen 2013, dort S. 264 zum Verhältnis Peter Rühmkorf und Helmut Heißenbüttel. 29 Studio für Neue Literatur. Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich. Ein Gespräch [Helmut Heißenbüttels] mit Peter Rühmkorf. SDR 2, 31. 1. 1975, 22.15–23.00 h. Das spätere Buch rezensierte Heißenbüttel sehr kritisch in einer Sendung des WDR 3 am 5. 2. 1976. 30 2003 legt er seinem vorletzten Brief an Peter Wapnewski ein parodisches und in der Tradition seiner Variationen stehendes Übersetzungsbruchstück des Reichstons (DLA) bei. 31 Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, S. 11. 32 Ebd., S. 12. 33 Vgl. das Literaturverzeichnis ebd., S. 75–78. Den großen Wendepunkt in der deutschen Mediävistik mit Karl Bertau: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde., Mün-

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Abbildung 7: Typoskript der Bibliographie Peter Rühmkorfs vom 21. Oktober 1974 (DLA) chen 1972/73, hat Peter Rühmkorf gründlich wahrgenommen; vgl. auch die im Nachlass bewahrte und mit Rühmkorfs Randnotizen versehene Rezension Bertaus von Helmut Brackert: Ein Ziel im Visier, das noch kein Schütze getroffen hat, in: FAZ 8. 10. 1974, Nr. 233.

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Es führt zur Entdeckung des ersten Ich-Bewusstseins in der deutschsprachigen Literatur »aus den Trümmern einer Kleinbürgerexistenz« mit einer ebenso auf die literarischen und wenigen biographischen Quellen bezogenen wie sozialpsychologischen Beweisführung – wobei Rühmkorf ein lyrisches Ich für eine Zeit, die noch keine poetologischen Bedingungen dafür geschaffen hatte, gar nicht erst vom ›Intonationswert‹ Ich zu unterscheiden versucht. Aus der Deskription des bekanntesten Walther-Gedichts, des Reichstons, entwickelt Rühmkorf ein Porträt Walthers. Er nimmt in dieser Deskription die Proportionen von Statik und Dynamik des Gedichts gleichermaßen wahr. Das daraus abgeleitete subjektive Porträt zeichnet er mit objektiv nachvollziehbaren und gleichgewichtig verwendeten psychologischen, sozialgeschichtlichen und poetologischen Mitteln. Den poetologischen Mitteln fügt er schließlich eine eigene – und medizinisch erprobte – Methode hinzu: Auskultation. Die Klassifikation der Walther-Gedichte nach Tönen reicht nicht aus: »Erst wo man neben grob metronomischen Bestimmungen« – vor allem betrieben vom »Klopfkundler« Friedrich Maurer34 – »die Auskultation der feineren Binnentöne konsequent betreibt, werden sich am Ende das subjektive Zeitempfinden des Dichters und die objektive Zeitrechnung der Geschichte synchron erfassen und begutachten lassen«.35 Die Biographie Walthers fasste Wapnewski 1962 in einem Satz zusammen: »Walther von der Vogelweide war ein deutscher Berufsdichter ohne festen Wohnsitz um die Wende des zwölften Jahrhunderts zum dreizehnten«.36 Diese Biographie konnte Rühmkorf entscheidend komplexer erzählen.

IX. Aus dem Plan zur Minnesängeroper ergab sich die Arbeit mit der Übertragung bzw. Übersetzung von Walther-Gedichten; daraus wiederum entwickelte sich die wissenschaftlich-essayistische Arbeit. Der Essay als Grundlage der Radiosendung im Januar 1975 (und der Veröffentlichung im Buch ein Jahr später) war Weihnachten 1974, nach 9 Monaten intensiver Arbeit, abgeschlossen – 26.12.74: »am 23. Nachts 488 Walther fertig. Ab 24. Halsschmerzen, Fieber, schwere Er34 Friedrich Maurer (1898–1984), Ordinarius für Germanische Philologie an der Universität Freiburg i. Br., auch er mit gut nachweisbarer nationalsozialistischer Vergangenheit; er fügte seiner Ausgabe der Gedichte Walthers »erhaltene und erschlossene Melodien« bei, vgl. Friedrich Maurer: Die Lieder Walthers von der Vogelweide unter Beifügung erhaltener und erschlossener Melodien, 2 Bde., 3. Aufl., Tübingen 1967/1969 (Altdeutsche Textbibliothek, 43/47). 35 Das weist Peter Rühmkorf auskultatorisch-komparativ an zwei Walther-Gedichten, die kanonisch nicht als zusammengehörig gelten, nach: Do Friderich ˜z ¬sterrich alsú gewarp und Ich bin n˜ sú rehte frú, einmal Philippston, einmal Freudenton, vgl. Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, S. 25f. 36 Walther von der Vogelweide: Gedichte, S. 287.

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kältung, noch ein Sulfonamid in meiner Sammlung entdeckt.« Dass der Stoff gut ist und der Essay sitzt, erfährt Rühmkorf durch das Echo der Publikationsmöglichkeiten – bis 1980 kann er neben dem erfolgreichen Buch 6 Radio- und TV-Features und eine Arbeit in der FAZ veröffentlichen, die Rezensionen zum Thema sind umfangreich: 25.2.75: Ganzer Stapel v. guter Post. Allein 3 Walther-Angebote: Walther – wenn er pupt dann knallt er.

Aber 3 Wochen später heißt es im Tagebuch: 15.3.75: […] Selbst die dümmste und niederträchtigste Kritik an »Walther«-Sendung reißt mich zu selbstverzehrenden Wutanfällen hin. Da hat man sich so lange redlich bemüht und einen mit dem Staub des Vergessens bedeckten Logenbruder aus der Versenkung gerissen und ihn liebevoll neu beatmet (mit dem Sandstrahlgebläse des Denkmal- und Gebäudereinigers), aber : was hat man da alles für Kakerlaken und Maimilben mit aufgestört.

Zwei Tage danach ist er am Ego-Ausgangspunkt der ein Jahr zuvor begonnenen Arbeit: 17.3.75: […] Mein einziger Mythos: daß ich ein Leben lang übergangen, ausgelassen wurde […] Aber das ist, so lange man noch den Erdenstaub tritt, das Gegenteil einer Botschaft.

Also muss man an einer Botschaft arbeiten; Rühmkorf überträgt, Wapnewskis kalt-höflicher Ablehnung einer Bitte um Fördermöglichkeiten im Januar 1975 zum Trotz, weiter Walther-Gedichte. Und mitten in der Walther-Arbeit entstehen Rühmkorfs neue, im Walther-Klopstock-Band publizierte Gedichte – die ersten Gedichte nach der ›Theaterpause‹ der frühen 70er, z. B. Abtrunk, TP TB 19.3.75 (Folie 13 mit Original TP): 6 15 – und schon sing ich wieder, flöt ich wieder, geig, s. Walther »wol uf, swer tanzen wille nach der gigen« (»Do Friderich zu Osterriche also gewarp«), siehe auch »Junges Volk im Reigen/tanzt um die Linde herum«. Der eisvogelblaue Morgen Rh: Also Freund, also Du Also eh ich endgültig verasche Trink ich noch 1x Blutsbrüderschaft mit der Branntweinflasche

Der Dichter hat sich neu erschaffen – Phönix voran! (1977) – und der Essayist weiß, dass er jetzt eine ernst zu nehmende Außenseitergröße in der Wissenschaft ist. Zum Thema Walther ist das auch ein Verdienst der Universitäten, die ihn zum Thema einluden; 2.7.75: »Reise nach Paderborn: Vortrag Walther und eigene Miszellen. – Bis tief in die Nacht gearbeitet.« Diese Einladung verdankte er Hartmut Steinecke und Hans Hugo Steinhoff (dem leider viel zu früh ver-

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Abbildung 8: Tagebuchtyposkript vom 19. 3. 1975 mit RH zum späteren Gedicht Abtrunk

storbenen Mediävisten37). Mit dem Thema Walther begann endgültig eine angemessene Wahrnehmung des poeta doctus Rühmkorf. Er rettete Walther vor seinen Verherrlichern ohne dessen Verse zu schmälern. Er ging eine Freundschaft über Jahrhunderte hinweg ein, weil Walther ein Wort- und Tatzeuge einer Auflehnung gegen die Herrschenden bei gleichzeitiger Anpassung war, so wie er. Er las Walther neu – so wie Arno Schmidt alte, fast vergessene Schriftsteller neu las. Ein Jahr nach der für Rühmkorf initialen Einladung nach Paderborn – und wie immer schrieb Rühmkorf am Stoff auch nach der Buchpublikation weiter, arbeitete mit den TV- und Radiosendungen, diskutierte das Thema im literarischen und wissenschaftlichen Betrieb – notiert er am 24.8.76: »Fühle mich fit wie zehn Fachleute. Allein im mich umgebenden Abraum Stoff für zig Doktorhüte. Katarrh auf dem Rückzug.«

X. Rühmkorf hat von ca. 180 überlieferten Walther-Gedichten 33 übertragen, die meisten vollständig. Die Übertragungsarbeit steht am Anfang. Die Technik der »Auskultation« hat er demnach sicher aus der eigenen dichterischen Arbeit an den Walther-Gedichten heraus entwickelt. Den Bedenklichkeiten Wapnewskis gegenüber der dichterischen Übersetzung setzte Rühmkorf ein Verfahren ge37 Hans-Hugo Steinhoff (1937–2004) war von Mai 1974 bis Februar 2003 Professor für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Paderborn.

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Abbildung 9: ›Abraum‹ im DLA

genüber, das ich Transposition – in der Linguistik die Überführung eines vorhandenen Wortes in eine neue semantische Klasse – nennen möchte. Er transponiert von damals nach heute, und zwar mit der ganzen Komplexität seines diachronen Wissens und Vorgehens, und mit dem Ziel, einen synchron gültigen Eindruck zu erzeugen. In der Musik verändert die Transposition von einer Tonart in eine andere die Impression, jedoch nicht die Proportion von Melodie und Harmonie. Wenn Melodie und Harmonie die Essenz bilden, dann bleibt

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diese erhalten. Dies Prinzip ist der Kern des Rühmkorf ’schen Übersetzungsund Übertragungsverfahrens.38 Ein Gedicht sei abschließend im Original, in der Simrockschen Übersetzung und in der Rühmkorf ’schen Transposition vorgestellt. Das Gedicht gehört zu den ›Mädchenliedern‹ Walthers – Rühmkorf hat seine Version Wapnewski im Typoskript (DLA) handschriftlich gewidmet, diese Widmung taucht in den Druckfassungen nirgendwo auf:

38 Es sprengt den Umfang dieses Aufsatzes, würde ich die einzelnen transpositorischen Schritte in jedem Gedicht erzählen – das soll weiterer Arbeit mit diesem Thema vorbehalten bleiben.

Waz sol lieblich sprechen? Waz sol singen? Waz sol w„bes schoene? Waz súl guot? S„t man nieman siht n–ch fröiden ringen, s„t man übel –ne vorhte tuot, s„t man triuwe milte zuht und Þre Will verpflegen sú sÞre, sú verzagt an fröiden maneges muot.

Walther Müeste ich noch geleben daz ich die rúsen Mit der minnecl„chen solde lesen, sú wold ich mich sú mit ir erkúsen, daz wir iemer friunde müesten wesen. Wurde mir ein kus noch zeiner stunde Von ir rúten munde, sú wær ich an fröiden wo genesen

Simrock Möchte ichs noch erleben, daß ich Rosen Läse mit dem holden Mägdelein; Wollt ich doch mich so mit ihr erkosen, Daß wir ewig Freunde müßten sein. Würde mir ein Kuß zur guten Stunde Von dem rothen Munde, So genäs ich aller Noth und Pein

Ach, was soll das Schwärmen, was das Singen? Lack und Glanz? Ein schönes Frauenbild? Seit die Übel sich dem Recht verdingen Und Begeisterung für blöde gilt, seit man Treue, Würde, Edelmut roh beseite tut, brennt mein Glücksverlangen ungestillt

Rühmkorf Wäre mir vergönnt, daß ich die Rosen einmal noch mit meiner Liebsten bräche, finge ich sie in den schwerelosen Netzen weltvergeßner Zwiegespräche. Käm ihr roter Mund zu meinem Munde nur für die Stunde, wie ich mich auf ewig seligspräche

Peter Rühmkorf und Walther von der Vogelweide

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Stephan Opitz

Abbildung 10: Typoskript Rosengedicht mit Widmung für Peter Wapnewski (DLA)

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Die Meisterschaft Rühmkorfs, sein absolut sicherer Sound auf der Grundlage brillanter Technikbeherrschung, der weder männliche oder stumpfe, weder weibliche oder klingende Kadenzen, weder Hebung noch Senkung, weder Endnoch Binnenreim entgehen, fällt in Augen und Ohren und muss nicht weiter kommentiert werden. Die nicht publizierte Widmung an Wapnewski hatte genau einen Sinn: So, lieber Freund, kann man das auch machen. Dazu passt die handschriftliche Notiz auf Zettel 1 des Notizenkonvoluts aus PRs Walther-Zeit (DLA) – »Kunst ist kein Kompromiß, das Gedicht keine Eskapade.«

Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Auszüge aus dem Studienbuch Peter Rühmkorfs (DLA) Abb. 2 Handschriftliches Konvolut zur Minnesängeroper vom 18. Februar 1974 (DLA) Abb. 3 Erste handschriftliche Notizen zum Libretto (DLA) Abb. 4 Handschriftliche Notizen zum Thema Minnesänger (DLA) Abb. 5 Peter Rühmkorfs Exemplar von Wapnewskis Walther-Ausgabe, vgl. Anm. 15 (DLA)

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Abb. 6 Rühmkorfs Leihscheine und Lochkarten der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg aus dem Jahr 1974 (DLA) Abb. 7 Typoskript der Bibliographie Peter Rühmkorfs vom 21. Oktober 1974 (DLA) Abb. 8 Tagebuchtyposkript vom 19. März 1975 mit RH zum späteren Gedicht Abtrunk (DLA) Abb. 9 ›Abraum‹ im DLA Abb. 10 Typoskript Rosengedicht mit Widmung für Peter Wapnewski (DLA)

Na Schädlich

Eine Farce gegen die literarische Tradition: Peter Rühmkorfs Gedicht Undine »Sinn wider Sinn«.1 (Jean Bollack)

Peter Rühmkorf ist ein Dichter, der es versteht, seine Rezeption durch Selbstdeutungen zu lenken.2 In der bisherigen Forschung unterliegen Urteile zu seiner dichterischen Produktivität oft genug dem Zwang, sich mit den vom Autor, öfters im Verbund mit in der Literaturkritik vorbereiteten Deutungen, zu identifizieren. Die Lage wirft die Frage nach dem genuinen Kritikvermögen der Literaturwissenschaft auf, die genauer eine Frage des methodologischen Anspruchs eines ästhetischen Urteils ist. Kein ästhetisches Urteil, das von Willkür befreit ist, kann das Verstehen der Poesie des jeweiligen Werks umgehen – was Hartmut Steinecke bereits 1989 einsichtsvoll und konkret anmahnt: Mit der Auskunft des Autors sei »keine Textinterpretation ersetzt. Es genügt nicht, die suggestiven Bilder des Autors zu paraphrasieren und in wissenschaftliche Sprache aufzulösen«.3 In diesem Beitrag stelle ich eine Interpretation von Rühmkorfs Gedicht Undine (1975) ins Zentrum, um zu sehen, aus welchen systematischen Vorstellungen und Kunstgriffen der Dichter seine Produktivität bezieht; sie sind gerade deshalb klar zu benennen, da der Autor sie mittels zahlreicher poetologischer Texte verbergen will. Da die methodologische Reflexion dabei eine nicht minder wichtige Rolle einnimmt, möchte ich meine Überlegungen in vier Schritten ausführen: Zuerst illustriere ich Beispiele aus der Forschung, um ein gewichtiges argumentatives Moment festzuhalten, das von einer bestimmten Forschungstradi1 Jean Bollack: Sinn wider Sinn. Wie liest man? Gespräche mit Patrick Llored, Göttingen 2003. 2 Hugo von Hofmannsthal ist ein anderes Beispiel dafür, wie ein Autor die Selbstdeutung systematisch zu instrumentalisieren vermag, um das Gelingen seines Werks nicht nur vor dem Publikum, sondern auch vor der nachkommenden Forschung zu behaupten, vgl. ausführlich dazu Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen, 2. Aufl., Göttingen 2006. 3 Hartmut Steinecke: »Arbeit ist des Artisten Schmuck«. Peter Rühmkorfs Porträt »Selbst III/88«, in: Manfred Durzak, Hartmut Steinecke (Hg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 296–320, hier S. 298.

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tion und von Rühmkorf geteilt wird. Es geht um eine methodisch ähnliche Art des Zugriffs auf die Literaturgeschichte. Dadurch soll ein zentraler Grund für manches vorschnelle Einverständnis mit dem Anspruch des Autors auf dessen literarhistorische Bedeutung sichtbar werden. Ein zweites Problem in der bisherigen Forschung sehe ich darin, dass die poetologischen Schlüsselbegriffe Rühmkorfs, über die der Autor zugunsten der Selbststilisierung nur zu gern unpräzise berichtet, selten kritisch analysiert wurden. Viele der von Rühmkorf gelieferten Stichworte können weder das Verstehen anleiten noch kritisch gegen das Missverstehen der Gedichte verwendet werden, da sie keine Grundlage für die tatsächliche gedankliche Arbeit des dichtenden Individuums darstellen. Daher rekonstruiere und erkläre ich im zweiten Schritt einige Begriffe wie das ›Ich‹, den ›Sinn‹ des Gedichts und dessen ›passende‹ Form usw., also Ansätze, die Rühmkorfs Praxis prinzipiell begleiten und insofern zu einer Theorie seiner poetischen Praxis führen können. Im darauffolgenden Schritt rückt mit einem Gang durch das Gedicht Undine dessen poetische Logik ins Zentrum der Untersuchung. Dabei stellt sich dank der Schriftlichkeit der lyrischen Rede heraus, wie (präzise) das Moment einer konkreten poetischen Reflexion selbst gegen die systematische Nebulosität des selbstdeutenden Autors zu sprechen vermag. Das Gedicht fördert eine ziemlich problematische Haltung von Peter Rühmkorf, dem »Traditionalisten«,4 zur literarischen Tradition zu Tage und reflektiert gerade zentralmotivisch diesen Haltungskonflikt. Damit liefert das Gedicht wohl einen entscheidenden Anhaltspunkt zur Beantwortung jener – wenn auch hier nur allgemein angelegten – Wertungsfrage, die der Autor selbst gern in die Diskussion einführt: Wie kunstvoll und kritisch sei diese Literatur? Im letzten Schritt antworte ich auf die Frage mit einer These der möglichen Gründe für das vom Gedicht herausgestellte Problem und greife dabei argumentativ die ersten beiden Teile wieder auf.

I. Es gibt Arten des ästhetischen Urteils, so wie man es praktiziert, die nicht aus dem Verständnis eines Gedichts stammen. Gewicht gibt diesen Urteilen die Größe des Literarhistorischen, indem man den Autor direkt ›in die Geschichte eingehen‹ lässt. Zwei Beispiele bei Dirk von Petersdorff sollen zunächst zeigen, 4 Vgl. Hans Magnus Enzensbergers Rezension zu Rühmkorfs Gesammelten Gedichten (erschien in FAZ 22. 5. 1976), die für die Rühmkorf-Rezeption eine wichtige und positive Wende brachte: Bruder Lustig und metaphysischer Dichter. Albumblatt für Peter Rühmkorf, in: Dieter Lamping, Stephan Speicher (Hg.): Peter Rühmkorf. Seine Lyrik im Urteil der Kritik, Bonn 1987 (Sammlung Profile, 30), S. 69–74, hier S. 71f.

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in welche Paradoxa ein solches Vorgehen verwickelt sein kann, da es doch viel auf subjektiven Interessen beruht. Der Herausgeber einer Anthologie von Gedichten Rühmkorfs stellt sich selbst als unsichere Urteilsinstanz dar. Nach einer Vorstellung des vielschichtigen »Reiz[es]« dieser Lyrik beschließt er das Nachwort mit der Behauptung: Die »lyrikgeschicht[liche]« Relevanz des Werks könne man noch nicht bestimmen, denn »[d]afür sind wir noch zu sehr Zeitgenossen des Autors«.5 Doch wie kann das Urteilssubjekt, das zuvor noch von der künstlerischen Größe des Werks sprach, auf einmal zum anonymen Zeitgenossen (vgl. das Pronomen »wir«) schrumpfen? Tatsächlich stützt sich Petersdorff hier auf den Geschmack. Darum sind der »Reiz« und das Musikalische Stichworte seiner Darstellung. Doch reichen die Argumente des Geschmacks und der Musikalität nicht aus, das Werk in der bisherigen Lyrikgeschichte als ein besonderes zu platzieren. Es bleibt die außerliterarische Aussicht, die Gegenwart werde später womöglich als literarhistorisch relevant gelten, sodass man das Werk als historisches Wahrzeichen und Dokument erfassen kann. In einem anderen Beitrag zu »Rühmkorfs Lieder[n]« versucht Petersdorff die Produktivität des Dichters dann doch wissenschaftlich zu begründen.6 Um das Besondere auszuzeichnen, dienen nun als das Allgemeine historische gattungspoetische Konzepte, die abspiegeln sollten, dass der Dichter wichtige Positionen in der Theoriegeschichte des Liedes reflektiert habe. Doch warum wird der Sinn einer Dichtungspraxis prinzipiell von der Gattungstheorie her erschlossen? Wo es genauer um Gedichtbeispiele geht, stellt Petersdorff, um Rühmkorfs zeitgenössische Reflexivität zu markieren, die historische Vorlage als so naiv dar, als seien die früheren Gedichte alle weder der Gattung noch der eigenen Besonderheit gegenüber reflexiv. Literaturgeschichte zitiert Petersdorff mithin offenbar als Geschichte ohne besondere Werke, oder als leeres Format ohne konkreten Inhalt. Und der Verdacht verstärkt sich dort, wo von Petersdorff selbst bei einem Gedicht Rühmkorfs weder sagen kann, was die »nicht leicht zu entschlüsseln[den]« Stellen bedeuten, noch die Dunkelheit hinterfragt.7 Die methodologische Frage, die ich hier reflektiere, ist letztlich die Frage, was und wie ein Interpret aus der Literaturgeschichte als solcher – als Literatur(en) der Vergangenheit – abstrahiert und ein historisches Material damit vergegenständlicht. Petersdorff abstrahiert in einem ersten Schritt – mit einer viel älteren Wissenschaftstradition – aus der Geschichte der Lieder die allgemeine Form der 5 Dirk von Petersdorff: Nachwort, in: Peter Rühmkorf: Der Kuss der Erkenntnis. Gedichte, hg. von D. v. P., Stuttgart 2011, S. 77–84, hier S. 84. 6 Dirk von Petersdorff: Rühmkorfs Lieder, in: Jan Bürger, Stephan Opitz (Hg.): »Lass leuchten!« Peter Rühmkorf zwischen Aufklärung, Romantik und Volksvermögen, Göttingen 2010 (Marbacher Schriften, N. F. 7), S. 28–44. 7 Ebd., S. 41.

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Gattung und bezieht sich in einem zweiten Schritt auf Interpretationen des Sinns dieser Form, also auf die Geschichte der Gattungstheorie. Dass er darauf den Sinn von Rühmkorfs Gedichten unmittelbar auf historische Deutungen der Form bezieht, ist zwar methodisch kaum haltbar, doch lässt sich vermuten, dass er dabei auf eine bekannte Manier des Autors vertraut, die genau denselben Umgang mit der Literaturgeschichte zur Prämisse hat. Mit dem Ausdruck »historische Formsemantik« trifft Alexander von Bormann meines Erachtens bereits den Kern dieses methodischen Zugriffs von Rühmkorf auf die Literaturgeschichte.8 Bormanns genaue Analyse zeigt, dass das Reagieren auf bestimmte Bedeutungen, werden sie historischen literarischen Formen zugesprochen, Rühmkorfs Produktivität systematisch bestimmt. So wie es bei dessen literaturkritischer Arbeit der Fall ist (z. B. im Essay Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen), so auch dichterisch mit den – theoretisch reflektierten – Parodien. Ohne die Reduktion des Materials kraft einer formsemantischen Bestimmung (Bormann) wäre Rühmkorfs habituell diagnostischer Blick auf das große Thema der Literaturgeschichte nicht möglich. Aber wie literarisch ist nun der Gegenstand, genauer: wie ist der neue Gegenstand, der außerhalb der individuellen Werke und nach dem geschichtlich-geschichtsphilosophischen Abstand des Subjekts Rühmkorf abgeleitet wird, denn beschaffen? Zwei verschiedene (indirekte) Positionierungen zu dieser Frage finde ich in der bisherigen Forschung, die allerdings zu keiner Lösung meiner Frage führen werden. Daher füge ich gleich eine dritte Position hinzu. Die Position (a) vertritt Manfred Durzak, der sich dem Vorschlag Rühmkorfs aus dem Jahr 1963 anschließt, die Literaturgeschichte als Sammlung diverser »Weltbild[er]« zu verstehen, die wiederum danach gewertet werden, inwiefern sie gesellschaftskritisch sind; dabei ist die Subjektivität des Essayisten für Durzak kein Problem, sondern geradezu Ausdruck eines bewundernswerten Talents zum quasi objektiven, da »[t]reffsicher[en]« Urteil.9 Die Position (b) ist literatursoziologisch und wird etwa von Claudia Stockinger vertreten. Stockinger hat die zweifache Begabung von Rühmkorf als Dichter und als Philologe betont. Sie erkennt Rühmkorfs literarhistorische Reflexionen zutreffend als subjektive Konstruktionen, insofern der Autor sich auf eine große literaturgeschichtliche Tradition systematisch bezieht. Aus Stockingers Argumentation lässt sich erschließen, dass sie Rühmkorfs Subjektivität ausschließlich als strategische ansieht – und folgert, dass er in seinem Gesamtwerk die Literaturge8 Alexander von Bormann: Peter Rühmkorfs Kritik des Traditionalismus, in: Durzak, Steinecke: Zwischen Freund Hein und Freund Heine, S. 88–118, hier S. 97. 9 Von »erstaunliche[r] Feinfühligkeit und Treffsicherheit in der Wertung der Autoren« spricht Manfred Durzak in: ders.: Ist Rühmkorf dabei, ein Klassiker zu werden? Ein Gespräch mit Peter Rühmkorf, in: Durzak, Steinecke: Zwischen Freund Hein und Freund Heine, S. 321–364, hier S. 339.

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schichte einmal als das allgemein Objektive, dann aber als Vorwand gebraucht, um den Standpunkt des Subjekts wahlweise zu bekräftigen oder zu maskieren.10 Diese Deutung hat ihre Grenzen dort, wo sie dem poetischen Gehalt der Subjektivität – nämlich dem konkreten Gebrauch, den der Dichter beim Anstreben seiner Einzigartigkeit eben von der Literaturgeschichte macht – keine Rechnung trägt. Der ausgeprägte ökonomische Sinn des Autors sucht zwar seine Wirkungsstrategie, doch mit der Literatursoziologie überwindet die Forschung Rühmkorfs Selbststilisierung nicht, weil sie deren individuelle Logik nicht analysiert und mithin ihr tatsächliches Manöver gegen die Literaturgeschichte nicht (er-)kennt. Damit ist eine dritte Position (c) eingeführt, die ich hier vertrete und innerhalb derer die Individualität analysiert wird, die sich nur in der Schaffenspraxis zeigt.

II. Rühmkorfs Subjektivität muss man verstehen, denn an sie ist das Besondere seines dichterischen Werks gebunden. Diese Subjektivität stellt die Grundlage eines ästhetischen Urteils dar. Es muss freilich ein kritisches Verstehen sein. Doch eher als Ideologiekritik scheint mir eine logische Kritik seiner Poetologie und Selbstdeutung vonnöten, die die darin enthaltenen Gedanken unterschiedlicher Ebenen und Provenienzen unterscheidet. Rühmkorf pflegt in seinen poetologischen Essays zahlreiche allgemeine Diskurse zu zitieren; ein gutes Beispiel ist der Text Selbst III/88. Aus der Fassung. Das Vorgehen zeigt, dass er, der die Individualität des Dichters programmatisch proklamiert, dann doch im Widerspruch dazu in Regeln verhaftet bleibt. Frei (in einer Sekundarität) wird er erst dort, wo er die Regeln in den eigenen Kontext einbetten kann, was manchmal auch heißt, die ursprüngliche Schärfe zitierter Begriffe abzuschwächen und ihren Wortsinn zu verschieben. Dementgegen muss eine Forschung, die die Poesie verstehen will, die eigentlichen Elemente seiner poetologischen Reflexion ins Auge fassen. In diesem Sinn prüfe ich als Fundament seiner Poetologie namentlich seine Begriffe des Ich und, damit zusammenhängend, der Individualität. Eine der Aussagen Rühmkorfs zum Begriff des lyrischen Ichs rekapituliert Klaus Schuhmann in einer kritischen Untersuchung des – stark auf Gattungsexperimenten beruhenden – Buchprojekts Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich (1975).11 Schuhmann erfasst die tragende Rolle des Engagements; 10 Claudia Stockinger: Zur Literaturgeschichte Peter Rühmkorfs, in: Bürger, Opitz: »Lass leuchten!«, S. 151–173. 11 Klaus Schuhmann: »Fundament« und »Gewölbezone« – zur Architektur von Peter Rühmkorfs

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auf dieser Grundlage bekenne sich Rühmkorf nach seiner langjährigen Pause vom Gedicht als zeitgenössisch umstrittenem Genre wieder öffentlich zu ihm. Als Legitimation berufe er sich dabei auf eine Dichtungspraxis, die – so bilanziert Schuhmann mit Rücksicht auf die 21 Gedichte – vom »Ich als ein[em] Gesellschaftswesen« in einem »beklagenswerten Zustand« seines Selbst und der Welt handle.12 Diese Einsicht ist als solche überzeugend, sieht allerdings über die Ebenen, die ein poetischer Akt einbezieht, hinweg. Sie schildert nämlich einzig eine historisch-soziale Wirklichkeit so, als ob sie die ganze Wirklichkeit eines Gedichts sein müsste. Unterschlagen wird hingegen das poetische Faktum, dass dieses ›lyrische Ich‹ (in Rühmkorfs Wortgebrauch; Schuhmann übernimmt ihn) ein theoretisch schon vordefiniertes Konstrukt eines einzelnen Autors und damit eine »Kunstfigur« – ein Schmähwort Rühmkorfs gegen Gottfried Benn – ist.13 Indem Schuhmann Rühmkorfs Ich-Begriff nicht auf dieser Ebene analysiert, weil ihm dessen Abgrenzung zu Benn eher beiläufig scheint, geht sein Urteil über den Dichter Rühmkorf nicht über die im Buch bereits ausformulierten Thesen hinaus. Eine Wendung gegen Benn wird jedoch im Gedicht Undine gerade ausführlich entwickelt (siehe Abschnitt III). Tatsächlich hat Rühmkorf seinen Begriff des lyrischen Ichs längst auch als eine Kunstfigur poetologisch reflektiert. Nur: Erst von dem mit Einfallskunde betitelten Programmtext aus dem Jahr 1979 an redet er, unter geänderten Rezeptionsbedingungen, entspannt darüber; die besondere Form der Künstlichkeit dient nun als Legitimation, unbedenklich mit Kunstfiguren zu dichten. Dramatis persona ist das lyrische Ich in genauerer Bestimmung, während Rühmkorf die Gattung des Gedichts zugleich systematisch in ein Bühnenkonstrukt transformiert.14 Diese Dramatisierung der lyrischen Rede wird von der bisherigen Forschung nicht als poetische Methode wahrgenommen. In ihr liegt aber die technische Möglichkeitsbedingung der Besonderheiten seiner Poesie, wie ich noch zeigen werde, und Rühmkorf selbst entwickelt sie aus einer doppelten poetologischen Raffinesse. Es solle einerseits dank der Dramatik, die die Person innerhalb der Bühne erlebt, ein Charakter der Person plausibel entwickelt werden (auf diesen sehr wichtigen Gedanken des Charakters komme ich noch zurück). Andererseits erfülle das Gedicht außerhalb der Bühne den pädagogischen Auftrag der linken Literatur. Rühmkorf rechnet damit, der Leser müsse die »Authentizität«15 dieser

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poetologischem Weltbild (am Beispiel des Buches »Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich«), in: Durzak, Steinecke: Zwischen Freund Hein und Freund Heine, S. 235–255. Ebd., S. 244 und S. 252. Ebd., S. 243f. Vgl. vor allem den Abschnitt »Statt mit Zahlen in Zungen«, in: Peter Rühmkorf: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, hg. von Hartmut Steinecke, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 151–179, hier S. 171–174. Ebd., S. 178.

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Dichtung erkennen, sofern sie lebendige Beispiele einer Person, hier des lyrischen Ichs, gebe, und möge daher mit diesem persönlich sympathisieren. Das Gedicht solle also das Volk lehren, ohne entweder pedantisch oder von oben herab im Sinn eines klügeren Geistes zu sprechen; der Dichter wende sich – am besten selbst leidend – an sein ›Mitmenschen‹-Publikum.16 Der dem linken Ideal verpflichtete Dichtungsentwurf gibt klar zu verstehen, dass sein Ich-Begriff als Lehrfall des Individuums im Sinn einer sozialen Identität gilt, d. h. in eigener Logik allgemein ist. Wo ist dann der Ort der Individualität – gibt es sie in Rühmkorfs Poetologie? Meine Antwort lautet: Ja, es gibt sie. Aber sie liegt weder darin, das Gedicht als »utopische[n] Raum«17 zu sehen, denn mit dieser vielzitierten Rede beschreibt Rühmkorf lediglich sein politisches Interesse an womöglich gegensätzlichen Themen; noch liegt sie in einem romantischen Abstraktionsakt, der die verlorene Einheit der modernen Welt im Inneren des Dichters wiederherstellt – ein Akt, den Rühmkorf nie praktiziert, den man ihm aber gern unterstellt.18 Stattdessen bürgt für die Individualität der ›Charakter‹. Nur ist der Charakter keine Eigenschaft der fiktiven lyrischen Person allein. Er gilt in Rühmkorfs Poetologie implizit als Vorlage der lyrischen Person zunächst für den realen Dichter und bezeichnet eine, so meint Rühmkorf, psychologisch erklärbare Reflexionsebene beim Dichter, der wiederum nachdrücklich als historisches Subjekt begriffen wird. Die Reflexionen seien unmittelbar wiederzuerkennen in der Art, wie ein Dichter die ihn historisch umgebende, überlieferte Sprache in der eigenen Rede neu organisiere.19 16 So meint es ein Vers des Gedichts Anschluß an Masse finden: »keine Angst, j ich bin ein Mensch von uns.« (V. 5f.), in: Peter Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, Reinbek bei Hamburg 1975 (Das neue Buch, 65), S. 171. – Es sei hier zur Chronologie aller von mir behandelten Gedanken Rühmkorfs bemerkt, dass sie keineswegs erst seit dem Comeback 1975 entstanden. Ich sehe in der späteren poetologisch-poetischen Vorstellung Rühmkorfs keine Unterschiede zu seinen frühesten. Geändert wird in den Jahren allein der Schwerpunkt, nach dem er die Selbstdeutung – als selbständige literarische Gattung – permanent neu schaffen kann. Die Möglichkeit einer Drama-Gedicht-Hybride kennt Rühmkorf schon immer ; sie geht zurück auf das, was er schriftstellerisch-handwerklich mag und (leicht) kann, nämlich Streit (Dramatik) zu entwickeln und die eigene Biographie (Subjektivität) zu erforschen. Daran schließen sich mühelos seine Versuche mit den Gattungen des Tagebuchs und der Biographie an. Zu meiner weiteren Beobachtung, dass Rühmkorf die Streitbereitschaft und die Subjektivität zusammenführt und ausschließlich daraus sein Konzept des Charakters schafft, siehe Abschnitt VI. 17 Steinecke: »Arbeit ist des Artisten Schmuck«, S. 301. 18 Vgl. ebd., S. 300f. und Sandra Kerschbaumer : Peter Rühmkorfs Balance zwischen Aufklärung und Romantik – im Märchen und anderswo, in: Bürger, Opitz: »Lass leuchten!«, S. 97–109, hier S. 102–107. 19 Rühmkorfs Begriff des Charakters muss (und kann) man rekonstruieren. Die Frage, von der meine Rekonstruktion ausging, lautet, auf welche Art und Weise er den Charakter eines Akteurs in der Geschichte der Literatur mit dessen Sprachgebrauch in Beziehung setzt. In Rühmkorfs Erklärungsmodell spielt die (Universitäts?-)Disziplin der Psychologie der 50er

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Nach dem Charakterprinzip interpretiert Rühmkorf, was für ihn in engerem Sinn literarisch (oder Kunst) heißt, und urteilt in der Privatlektüre durch die Literaturgeschichte, was zum eigenen Vorbild und Ideal gehört und was abgelehnt wird. Doch auch als Kritiker anderer Autoren und als Schriftsteller diverser Genres (darunter des Gedichts) bezieht er alles schließlich auf den Charakter, der – um es noch einmal zu verdeutlichen – in einer zweischrittigen Interpretation abgeleitet wird: Zuerst wird den marxistischen Theorien folgend geprüft, inwiefern ein Dichter im Umgang mit der Sprache die eigene Herkunft als historisches Subjekt reflektieren und ausdrücken kann. Dann sei nach Maßgabe der Wissenschaften der Psychologie und der Ätiologie zu diagnostizieren, ob das Subjekt als Person, die nur begrenzt vernunftgesteuert sei, seine Historizität erfolgreich bewältige. Für den eigenen Charakter als Autor und Dichter wählt Rühmkorf theoretisch bereits das Motto Widerspruch. Auf beiden Ebenen des Charakterprinzips wird damit Stellung bezogen, um gegenüber der Kritik der Anderen unanfechtbar zu sein: (a) Der zeitgenössische Künstler wisse seiner Tradition und seiner Umgebung zu widersprechen, um das Recht des Eigenen zu verteidigen; (b) das mit der Umwelt sich arrangierende Subjekt komme trotz allem nicht zurecht und verwirre sich meist, emotionsgeleitet, widersprüchlich. So bleibt die Frage, wie all die Elemente, die vom Autor mit dem Anspruch auf ein überzeugendes Dichtungsprogramm gewählt und funktional jeweils klar definiert sind, in der Praxis realisiert werden. Die folgende Gedichtinterpretation will, in einer Schärfung der Terminologie Rühmkorfs, vor allem zwischen zwei Ebenen einer poetischen Analyse differenzieren: Das historische Subjekt (a), das »schon vor der Schrift vorhanden«20 ist, wird in Rühmkorfs Gedichten prinzipiell inkarniert als jene dramatis persona, die in marxistischer Ableitung eine Erwerbstätigkeit als Dichter ausübt. Der Dichter ist ein Freiberufler mit besonderem Bildungsanspruch und mit Sprachsensibilität. Ihm gilt zudem das Gebot, einen ›Charakter‹ zu besitzen. Damit die Kunstfigur en d¦tail lebendig und handlungsfähig sei, verwendet Rühmkorf seine Biographie als Material. Das lyrische Subjekt (b) aber, das »sich in jedem Gedicht aufs neue heraus[bildet]«,21 ist weder das historische Subjekt noch die Kunstfigur, die der Autor beide poetologisch verteidigt. Doch im Sonderfall spielt der Autor das lyrische Subjekt gegen diese beiden aus, um allein der Sieger in der Verwüstung Anderer zu sein. Das Gedicht Undine stellt nicht zufällig einen solchen Fall dar.

Jahre eine in der Forschung bislang unerkannte, entscheidende Rolle – das verdeutlichen die Bestände und Lesespuren aus der Rühmkorf-Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Für die Führung durch die Marbacher Bibliothek danke ich Herman Moens und für Informationen zum Bestand in Rendsburg Helmut Schenkel. 20 Jean Bollack: Paul Celan. Poetik der Fremdheit, Wien 2000 (L’¦crit), S. 15. 21 Ebd.

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III. Undine Zieh sie an Land, die säuselnde Sirene; frag nicht, wer dich belügt – Ein Kopf voll Haare und das Maul voll Zähne genügt. Schmeckt nur die Brust nicht schal; wo hätte Wahnsinn je das Glück gemindert? Du – krank im Geiste und sie gehbehindert, egal – egal. Der Wind zieht an und schleift die Wolkenreiche; langsam steigt dir der Whisky zum Zenit. Wer weiß – du nicht! – ob auf der Knochenbleiche nochmal die Primel blüht. Ob das nochmal zuhauf, nochmal zusammenkommt, der Wust an Gotteswundern … Schon – schnappen – deine Lungen wie zwei Flundern, die Jadebucht reißt auf: Wa s s e r s t r ö m t v o r, ein Sturmtief wirft Meerflocken über das entflammte Laken. Ko m m , k u c k e n , Ku n s t : die japsenden Kloaken – der Bagger seufzt und schlürft.22

Das im Februar 1975 entstandene Gedicht gehört zum Zyklus 21 Gedichte23 aus dem Walther-Buch, mit dem Rühmkorf einen systematischen Versuch der »Selbstlegitimation«24 (Schuhmann) unternimmt. Der historische Zeitpunkt des Versuchs liegt in der Biographie des Autors, die er mit der Dichterfigur des Zyklus teilt: Ein Dichter, der diesen Beruf nach langer Pause wieder aufnimmt, 22 Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, S. 161. 23 Zur Entstehungszeit und Entstehungsweise des Gedichts vgl. das editorische Nachwort und die Anmerkungen in: Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke 1, hg. von Bernd Rauschenbach, Reinbek bei Hamburg 2000. Die Zyklizität der 21 Gedichte besteht meines Erachtens im Interesse des Autors an seiner persönlichen Biographie zur Zeit des aktuellen Schaffens. 24 Schuhmann: »Fundament« und »Gewölbezone«, S. 245.

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reflektiert skeptisch die Bedingung seiner Existenz anhand der leitenden kapitalismuskritischen Frage, wo in der heutigen Konsumgesellschaft das Gedicht seinen Platz habe. Im Zyklus wird zuerst ein »Stimmungstief«25 inszeniert, damit der Dichter am Ende sein Hochseil besteigen kann; eine Geste der Auferstehung, auf der Rühmkorf zeit seines Lebens beharren wird. Nun aber handelt es sich um die Stelle, gerade nachdem – um mit der Handlung zu sprechen – der Dichter durch den Hamburger Kiez zog, hasserfüllt aufgrund seines Alters, das das Liebesbegehren fragwürdig zu machen schien, und sich darauf einsam zu Hause verschloss: Alle deine Uhren abgelaufen, i n n e r l i c h u n d e i g e nt l i c h . Marsch hinauf auf deinen Zimmer-Scheiterhaufen und verbrenn für dich.26

Undine stellt eine innere Not der Dichterfigur des Zyklus zur Schau. Das Du ist der Dichter und das lyrische Subjekt die interne ironische Instanz. Die Rede liest sich wie ein Selbstgespräch, ist aber keines. Denn das Ich steht zum Du in einer radikalen Distanz; es wird das Du im Laufe der Rede nicht nur zu einer totalen Unfähigkeit des Denkens verurteilen, sondern auch daraufhin nur noch feindselig schmähen. Dieses Verhältnis demonstriert, will man es psychologisch begründen, jedoch keinen Zwiespalt eines Charakters. Denn im Gedicht wird gerade durch die Schmähung des Du unbeirrt für das Ich als Beispiel des reflektierenden und dichterischen Vermögens entschieden. Tatsächlich ist dieses ungewöhnliche Pronomialverhältnis poetisch dem Autor Rühmkorf, der das Gedicht als Bühne konstruiert, zu verdanken. Beide Pronomia sind Rollen: Das Du steht als bloß handelnde, und nicht als sprechende Figur im Rampenlicht; das Ich agiert als anonymer Kommentator, der eine ironisch-kritische Interpretation des Bühnengeschehens, vom Regisseur Peter Rühmkorf verfasst, verliest. Unbesonnen mag man das Verfahren, aus dem biographischen Ich eine Dichterfigur im Text zu schaffen, als Mittel der Selbstreflexion deuten, doch zeigt sich, dass es hier nicht um Selbstkritik geht. Rühmkorf stellt nun – poetisch konkret – die Person statt auf die Seite des Ich, wie in nicht wenigen seiner Gedichte, auf die Seite des verschmähten Du, dem die Bühnenanweisung zudem verbietet, zu sprechen und also sich zu verteidigen. Darum ist das Verhältnis des Autors zu seiner Figur vielmehr ein ad te, und umso größer ist die Verachtung, als das Wir in der linken Poetologie Rühmkorfs die Solidarität mit realen Lesern 25 Ebd., S. 248. 26 Peter Rühmkorf: Kiez, in: ders.: Walther von der Vogelweide, S. 159f., hier S. 160.

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meint.27 Das Ich hier ist dagegen nichts als die Stimme des Autors. Der Autor greift eben als Dichter mit Charakter ein. Die Rede entfaltet auf diese Weise ein kunstvoll arrangiertes Pamphlet. Der zentrale Streitpunkt liegt metaphorisch in der Überschrift. Der Name »Undine« folgt Fouqu¦s gleichnamiger Märchenfigur. Der Prototyp der liebreizenden Wasserfrau in der romantischen Tradition, die den Mann tödlich verführen kann, ist Material seiner poetischen Kreation. Die Wasserjungfrau ist Sinnbild für die – zu verdammende – Sehnsucht eines sich alt und zerstreut fühlenden zeitgenössischen Dichters nach der Hochdichtung. Anders gesagt: Undine ist hier ein persönliches Symbol, ist weiter im konzentrierten Sinn des Symbols das Tabu-Gedicht, das unter gegenwärtigen Bedingungen ungeschrieben bleiben wird, das aber das Du, das gerade »Whisky« trinkt (V. 13), innerlich peinigt. Das reale Gedicht Undine schafft demnach eine ironische Instanz. Die Ironie darf dichten, das heißt hier sich auf das Verbotene beziehen, indem der Widerspruch nunmehr als Bezugsrahmen gilt. Das Dramatische innerhalb des Pamphlets bestimmt die Komposition des Gedichts. Eine große Zäsur, nämlich der Vers 14 (»zum Zenit«), teilt die Handlungszeit bzw. die Rede symmetrisch: Die erste Hälfte (V. 1–13/14), untergliedert in drei Schritte, handelt vom Verfall des Trinkenden, den ein Gesang der Dichtung (»säuselnde Sirene«, V. 2) hinzog, vom Angetrunkensein (Strophe 1) über die Genussphase (Strophe 2) bis hin zum völligen Betrunkensein (Strophe 3). In dieser Zeit interpretiert das Ich die Träume des Dichters und berät ihn noch, solange er Bewusstsein und Verstandesvermögen nicht ganz verliert. In der zweiten Hälfte (V. 15–27) gilt der Dichter als betrunken, wobei seine Phantasie von der Schaffenskraft im Delirium unaufhaltsam übertreibt. Dieser Umstand wird vom Ich nun, Strophe für Strophe aggressiver, sarkastisch kommentiert. Bis ein Höhepunkt die Rede beschließt, wo das Ich die sämtlichen Sehnsüchte des Du als Onanie denunziert (»das entflammte Laken«, V. 24) und die »japsenden Kloaken« (V. 26) dagegen als zeitgenössisch ›wahres‹ Sinnbild der Dichtung verkündet. Global will die lyrische Rede ihren Rezipienten mit drei systematischen Reflexionsebenen ansprechen. Auf der ersten Ebene gilt eine Kunstkritik aufgrund 27 Kerschbaumer will – mithilfe von Heines romantischer Ironie und Rühmkorfs Paraphrasen dazu – eine umfassende Selbstreflexivität in Rühmkorfs Schaffen sehen. Doch der Autor weiß genau, dass »nicht selbst in dem dargestellten Gegenstande befangen [zu sein], sondern frei über ihm [zu schweben]«, nicht schon Selbstreflexion bedeutet (zit. nach Kerschbaumer : Peter Rühmkorfs Balance, S. 103); über dem Werk waltet dagegen ein Ich, das ein Er ausbeuten kann; so trägt Rühmkorf zu Mai 1971 ein: »Das lyrische Subjekt als Versuchsperson. Seine [Hervorhebung von N. S. ] Versuchsperson vor sich herbuffen. Schubs ins Kreuz und – vorwärts, avanti!«, in: Peter Rühmkorf: Tabu II. Tagebücher 1971–1972, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 59.

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einer ›Charakterschwäche‹ des Du. Zur konstruktiven Kritik gehören ein allgemeiner Realismus-Imperativ und ein politischer Antieskapismus. Die zweite Ebene gilt der sprachlichen Kreativität des Ichs mit dem Ziel, pointierte Metaphern zu erfinden. Auf der dritten Ebene beansprucht der Autor Rühmkorf, er habe die geübte Kunstkritik selbst rigoros praktiziert. Die ironische Instanz richtet sich gegen das Du, weshalb sie die klassische Schönheit einer Undine auseinandernimmt und in das Profan-Hässliche und Unangenehme überführt. Von »säuselnd« (V. 2), »ein Kopf voll Haare und das Maul voll Zähne« (V. 4), »Schmeckt nur die Brust nicht schal« (V. 5) bis »gehbehindert« (V. 9) skizziert das Ich ein Bild der Muse, die das Du als unproduktiver Dichter realistisch verdient hätte. Dass es dabei um das Problem Hochdichtung geht, zeigt direkt der Eingangssatz »Zieh sie an Land, die säuselnde Sirene« (V. 1f.). Das ist der Moment, da im Du die Lust nach der lange eingestellten lyrischen Arbeit auflebt. Unter Alkoholeinfluss empfindsam geworden, hört der Dichter – das weiß das Ich – gleichsam den Sirenengesang Homers. Dass die Eingebung »säuselnd« sei, ist der Spott über die Ohnmacht des Dichters, die Arbeit zu bewältigen. Die Alliteration »säuselnde« – »Sirene« bündelt scherzend Vorstellungen, die in der hohen Tradition nicht miteinander harmonieren. Das in demselben Satz poetisch interpretierte Küstenbild aus reiner Natur (Land, Wasser und Luft) verspottet die Innenwelt des Du. Es sei die Welt romantisch angehauchter Dichter mit dem Symptom des einsamen Herzens, das unter weltentrückter Versenkung der Gefahr der Selbstauflösung, wenn der Bezauberte ins Wasser stürzt, nicht achte. Die hohe Tradition betrachtet das Ich also allgemein als romantische Betäubung. Der Imperativ, das Du solle nicht nur realitätswärts denken, sondern auch aus der Erfahrung Gewinn für sich ziehen (vgl. den Doppelsinn der Wendung an Land ziehen), schließt sich daher der Romantik-Kritik in Heines Seegespenst an (»Aber zur rechten Zeit noch j Ergriff mich beym Fuß der Capitän, j Und zog mich vom Schiffsrand, j Und rief, ärgerlich lachend: j Doktor, sind Sie des Teufels?«28). Das Sinnbild Wassernixe heranzuziehen, ist allerdings ästhetisch wie auch erkenntnistheoretisch radikaler als die Kritik Heines. Damit liefert Rühmkorf ein aussagekräftiges Manifest, mit der kanonischen Literaturgeschichte der Wasserfrau (von Homer über Goethes Fischer und Eichendorffs Der stille Grund zu Heine) aufzuräumen, um so die Grundlage für die zeitgenössische Interpretation des Wasserfrau-Komplexes und vor allem die Grundlage dieses seines Gedichts faktisch zu schaffen. Bis zum Ende der zweiten Strophe folgt das Ich einer Theorie der Bedin28 Heinrich Heine: Seegespenst, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 1/1, Hamburg 1975 (Düsseldorfer Ausgabe), S. 384–389, hier S. 389.

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gungen der Produktivität. Die Ursache der Unproduktivität des Du wird zurückgeführt auf das persönlich schwer erlittene Unglück infolge (a) des Alterns, (b) der sozialen Einsamkeit des Mannes und schließlich (c) eines erkrankten Bewusstseinslebens. Nach dem »Glück« wird sodann als Ideal emphatisch gerufen (V. 7). Der Argumentationsgang ist rhetorisch reichlich bestückt. Der Satz »frag nicht, wer dich belügt –« (V. 3) appelliert an den Entschluss zur Tat, anstatt im verfrüht-unnötigen Ideologiekrieg – nach der Frage etwa: Wohin will mich der »säuselnde« Wunsch bloß führen? – festgefahren zu sein. Der vom Dichter vernommene eigene Drang müsse konkret werden, das heißt ›ein Gesicht bekommen‹. Mit einem »Kopf voll Haare und d[em] Maul voll Zähne« (V. 4) werden jugendliche Vitalität und Kampfbereitschaft betont, die das Du dringend vermisse (vgl. die Ironie im umgangssprachlich betonten Wort »voll«). Der Reim »Zähne« auf bzw. gegen die »Sirene« fordert wiederum programmatisch, dass die Dichtkunst nicht nur im materialistischen Sinn menschlich ans Ende zu kommen habe, sondern auch gerade anstelle des Klassischen ›Biss haben‹ solle (vgl. das Gewicht des Einwortverses »genügt«, V. 5). Darauf ist im Vers 6 die Rede von der Leidenschaft für die Kunst. Der Satz ist doppeldeutig, da die Leidenschaft mit einer Wolllustempfindung beim Dichten (vgl. »Schmeckt«) verbunden ist. So bezeichnet das Wort »Brust« einerseits die Gefühle der Dichter, als wolle das Ich dem weinselig gewordenen Du zustimmen: Die Gefühle dürfen wie der Schnaps ruhig heftiger sein! (»schmeckt nur […] nicht schal«, V. 6). Andererseits ergänzt die Brust als weibliches Geschlechtsmerkmal das Undine-Bild, um so den Hedonismus der Kunst anzuerkennen. Im Gedanken an die Lust entsteht nun der einzige gesellige Moment, in dem das Ich das Du nicht offensichtlich blamiert. Noch in der Beschwingtheit der Geselligkeit formuliert das Ich das nächste Wort: »wo hätte Wahnsinn je das Glück gemindert?« (V. 7). Der Gebrauch traditionalistisch-pathetischer Sprache dient etwas kokettierend der Rhetorik der Leidenschaft. Inhaltlich wird ein halb hymnisches halb wehmütiges Andenken an die expressionistische Dichtungstradition (vgl. Wahnsinn und Glück als expressionistische Topoi), die dem Du nahe ist, vom Ich stimuliert. Doch auch die Übertreibung ist ein Mittel der Ironie, die den nächsten, erneuten Widerspruch des Ich vorbereitet: Der historische Expressionismus erfinde nämlich den Wahnsinn, das heißt die persönliche Obsession, zwar als Quelle der Produktivität; doch glaubt das von der romantischen Undine gefesselte Du noch an diese Tradition, und das Ich will entschieden heutig die Produktionsästhetik individualpsychologisch aufklären. So sei »krank im Geiste« (V. 8) immerhin eine passive Leidenserscheinung – unter dieser Bedingung ginge das Geschaffene auch nur als schwer bewegliches Gebilde hervor (vgl. »gehbehindert«, V. 9). Das erste Wort »egal« (V. 10) vermählt frech das Du mit der krüppeligen Galatea in einer Gleichung (vgl. die Ausdrucksform »Du – […] und sie […], j egal –«). Das zweite Wort »egal« nimmt eine thematische Wende und zieht, angesichts des

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aktuellen Bewusstseinszustandes des Dus, den Schlussstrich, als wollte das Ich sagen: Ach, vergiss es; wir lassen das Theoretisieren über die Prämisse der Kunst.

IV. Von der dritten Strophe bis zum Schluss des Gedichts porträtiert Rühmkorf einen Dichter im Delirium und ironisiert damit das Gedicht O Nacht – von Gottfried Benn, genauer die Rede eines lyrischen Ich Benn’schen Charakters. Rühmkorf hat ein realistisches Korrektiv des Gedichts von Benn im Sinn. Ausgegangen ist er wie Benn davon, dass (wie die Titelmetapher Undine ausdrückt) ein männlicher Dichter sich gegen die Vergänglichkeit seines bereits zerstreuten Lebens noch einmal behaupten will: »Wer weiß – du nicht! – ob auf der Knochenbleiche nochmal die Primel blüht« (V. 15f.). Dieser Vers spottet gleichsam direkt dem Ich in Benns Gedicht, das seine Potenz beschwört, indem es die eigene Poetik kommentiert: O Nacht – O Nacht! Ich nahm schon Kokain, und Blutverteilung ist im Gange, das Haar wird grau, die Jahre fliehn, ich muß, ich muß im Überschwange noch einmal vorm Vergängnis blühn. O Nacht! Ich will ja nicht so viel, ein kleines Stück Zusammenballung, ein Abendnebel, eine Wallung von Raumverdrang, von Ichgefühl. Tastkörperchen, Rotzellensaum, ein Hin und Her und mit Gerüchen, zerfetzt von Worte-Wolkenbrüchen –: zu tief im Hirn, zu schmal im Traum. Die Steine flügeln an die Erde, nach kleinen Schatten schnappt der Fisch, nur tückisch durch das Ding-Gewerde taumelt der Schädel-Flederwisch. O Nacht! Ich mag dich kaum bemühn! Ein kleines Stück nur, eine Spange von Ichgefühl – im Überschwange noch einmal vorm Vergängnis blühn!

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O Nacht, o leih mir Stirn und Haar, verfließ dich um das Tag-verblühte; sei, die mich aus der Nervenmythe zu Kelch und Krone heimgebar. O still! Ich spüre kleines Rammeln: Es sternt mich an – es ist kein Spott –: Gesicht, ich: mich, einsamen Gott, sich groß um einen Donner sammeln.29

Rühmkorf nimmt daran Anstoß, dass Benn, dem es poetologisch-poetisch doch um l’art pour l’art geht, das berauschte lyrische Ich als produktiven Dichter wie in einer Apotheose zur Erscheinung bringt. Wunschträume am »Drogenhimmel«30 gelten dagegen als kritischer Schauplatz, wo beurteilt wird, wie irrational – bis eskapistisch – ein leidender Dichter nach Schaffenskraft begehren könne. Diese schwache, verdächtige Rolle spielt bei Rühmkorf natürlich das Du, der Andere. Damit allerdings der Widerspruch systematisch sei, beruft er sich wiederum direkt auf Ideen in Benns Gedicht. Es geht um die Potenz eines Dichters, die anhand seiner Poetik les- und kommentierbar sein müsse, und um den Prozess der psychischen Regression einer Person, der durch bestimmte, typische Metaphern darzustellen sei. Das ist poetisch epigonal. Genauso wie die Funktionsweise des Liedes der Benn-Epigonen 1959.31 Und ebenso wie damals gibt Rühmkorf dem Zweck den Primat und kann daher durch das Entlehnen zwei Objekte der Ironie anvisieren: zum einen den ›potentiell verdächtigen‹ Charakter in Gottfried Benn; zum anderen das Du auf der eigenen Gedichtbühne als handfesten Feindcharakter.

V. So kehrt das Ich im Vers 11 von Rühmkorfs Gedicht Undine zum Küstenbild – als Raum romantischer Betäubtheit – zurück und übersetzt die im Rausch steigende Gefühlswallung des Du in eine Sturmbildung in der Atmosphäre (»Der Wind zieht an«) und betrachtet sie damit als Vorstufe des späteren »Sturmtiefs« (V. 23); Gemütlichkeit der Trance (»l a n g s a m«, V. 12) paart sich mit wetterlauniger Spiellust. Der Ausdruck »Die Wolkenreiche schleifen« (V. 12) scheint doppeldeutig zu sein: Werden die alten Monarchien am Himmel anarchistisch abge29 Gottfried Benn: O Nacht –, in: Peter Rühmkorf (Hg.): 131 expressionistische Gedichte, Berlin (West) 1986 (Neuausgabe), S. 89f. 30 Peter Rühmkorf: »Und aller Fluch der ganzen Kreatur« Gottfried Benn zum 90. Geburtstag, in: ders.: Strömungslehre I. Poesie, Reinbek bei Hamburg 1978 (Das neue Buch, 107), S. 145–154, hier S. 150. 31 Rühmkorf: Gedichte, S. 154.

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tragen, oder wird die am Himmel aufgestiegene, gehbehinderte Muse von der Luft systolisch ziehend und stoßend bewegt? Allenfalls wird kritisiert, dass das Du sich als Demiurg zu fühlen beginnt, wobei es sein tatsächliches Selbst und Bewusstsein aufgibt. Mit dem Du als Individuum und als möglichem Kunstproduzenten sei es endgültig aus (»Wer weiß – du nicht!«, V. 15). Der Sarkasmus »steigt dir […] j zum Zenit« (V. 13f.) ist daher geradezu vom Todeshauch durchdrungen. Anschließend kommentiert das Ich gar im Stil eines Epigramms, ja der Grabschrift: »Wer weiß […] ob auf der Knochenbleiche nochmal die Primel blüht« (V. 15f.). Die blühende Primel steht für bunte lebendige Einfälle als Anfang der Poesie – so will es Rühmkorfs eigene Poetik der Einfallskunde. Der Autor steuert sein Wissenssystem bei, um nunmehr in den ironischen Kommentar der angeblichen Poetik des Dus überzugehen. Die Metapher »Knochenbleiche« spielt mit beiden Möglichkeiten der Präposition »auf«, nämlich lokal und kausal gelesen zu werden. Im ersteren Fall meint sie das lange leer bleibende Schreibpapier. Im letzteren Fall ist sie gleichsam das von der homerischen menschenfressenden Sirene vorbereitete Hochzeitsbett: Kann man auf der Grundlage eines zertrümmerten Inneren schon produktiv sein? An die Hoffnung auf poetische Einfälle (»Gotteswundern«, V. 18) klammere sich der Betrunkene, so mokiert sich das Ich (so der Ton der Repetitio »nochmal« ) über dessen Traum vom Entstehen eines Gedichts: Zuerst müssten hinreichend Einfälle da sein (zuhauf kommen, V. 17), die der Poet später nur mit viel Fleiß und Glück erst zum Ganzen zusammensetzen könne, da jeder Einfall sein Eigenleben habe (»zusammenkommt«, V. 18). Der skeptische Ton der Antiklimax »zuhauf« – »zusammenkommt« – »der Wust an […]« ist gegen den Dichter als, wie es in einem anderen Gedicht des Zyklus’ heißt, »Suchtkanüle«32 gerichtet. Das poetische Organ dieses unfrei Stummen sind dessen »Lungen«, die womöglich in einem siechen, lächerlichen Sinn produktiv würden, indem sie, flach/ platt wie Flundern, »schnappen« (V. 19f.). Eine vehemente und sexistisch aufgeladene Karikatur des Du beginnt. Nicht nur die Größe der Sehnsüchte wird verlacht: so wie die Flunder, die zur Laichzeit das Salzwasser der Nordsee benötigt. Auch verurteilt Rühmkorf jetzt das Scheitern des anfangs an Land gestandenen Mannes, der nun doch der List der Wassernixe wie einem »Atavis[mus]«33 verfalle, sodass er selbst wie in einen Fisch verwandelt sei. Daraufhin ist die Rede von aufreißender »Jadebucht« (V. 21) und vorströmendem Wasser 32 Schon ab Vierzig: »Liebe hat mit Dichtung auch nichts mehr zu tun: j k e i n e h o h e n h i e r, j keine Selbstgefühle; j trab nachhause, alte Suchtkanüle, j schieß dich voll und laß dich ruhn …« (V. 17–21), in: Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, S. 156. 33 Ein Begriff, den Rühmkorf von Benn lernte, vgl. etwa die Rede Gottfried Benn oder teil-teils das Ganze, in: Peter Rühmkorf: In meinen Kopf passen viele Widersprüche. Über Kollegen. Mit Dichterporträts von F. W. Bernstein, hg. von Susanne Fischer und Stephan Opitz, Göttingen 2012, S. 21–26, hier S. 24.

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(V. 22) nach Bedürfnis und Verstand des Fisches formuliert und schildert den Wunsch, durch die Tröstung der Vagina – der Jadebusen an der Nordsee wird förmlich abstrahiert – und durch diese hindurch in das strömende Element einzutauchen. Damit inszeniert Rühmkorf den Verdacht, das Interesse des Du gelte »[s]chon« (V. 19) nicht mehr der Dichtung, sondern ausschließlich der Vitalität der eigenen Person. Dieser Umstand soll dem Ich erlauben, im an- und abschließenden Schritt die Offensiven einer Entlarvung und einer EskapismusKritik im Namen der Dichtkunst durchzuführen. In einem eloquenten, pointenreichen Satz (V. 23f.) wird entlarvt, was auf der Bühne bisher wirklich geschah: Der Alkohol-Schwindel (»ein Sturmtief«) habe den sich vor Einsamkeit innerlich verzehrenden Dichter zur geistigen Onanie (»das entflammte Laken«) geführt, als hätte er Teilchen des schönen abendländischen Meeres, einschließlich des von Gottfried Benn ästhetizistisch aktualisierten psychopathologischen Meeres der Moderne (»Meerflocken«), als Einfälle empfangen. Realismus und Antieskapismus reflektieren sich nunmehr lexikalisch. Der moderne Jargon, zu dem Wörter wie »Sturmtief« (und gleich: »Kloaken«, V. 26; »Bagger«, V. 27) gehören, tritt der die Rede bislang konstituierenden Sprache literarischer Herkunft entgegen. Auf eine charaktervolle Bestimmung der Dichtkunst nach Rühmkorf kommt es nun an. Das umgangssprachliche Wort »kucken« (V. 25) will das geistige Mitkommen des Betrunkenen erleichtern, ist allerdings ein ostentativer Befehl zum Aufmachen der Augen, zum Erkennen der Wahrheit, und keine »schöne Aufforderung in ihrer ästhetischen Leichtigkeit« aus bestimmtem Tiefsinn, wie Alo Allkemper in diskretem Lob Rühmkorfs sagt.34 Stattdessen zielt die Alliteration Komm-kucken-Kunst, die auf das kommende Wort »Kloaken« verweist, auf eine drohende Spannung ab. So stellt sie den gewöhnlich als hochherrschaftlich geschätzten Begriff Kunst, weil er zum Überbau gehört, in einem Syntagma des Vulgären der Handwerker und Arbeiterkinder aus, um das eskapistische Du zu alarmieren. Theodor W. Adorno wird an dieser Stelle evoziert, insofern Rühmkorf Adorno dessen einen Satz, »Sich nicht encanaillieren müssen«, im Walther-Buch nachträgt.35 Die konkrete Lehre vom Ich an das Du kommt erst nach dem Doppelpunkt (V. 25) und lautet: Die Strophen – als Synekdoche für das geschaffene Gedicht, von dem der Dichter träumt – seien »Kloaken«, und ihre »japsende«

34 Alo Allkemper : »Komm, kucken, Kunst«. Zu Peter Rühmkorfs »Schreibelehre«, in: Durzak, Steinecke: Zwischen Freund Hein und Freund Heine, S. 11–33, hier S. 32f. Allkemper greift diesen Satz ganz aus dem Zusammenhang des Gedichts und gibt ihm einen programmatischen Sinn innerhalb der gesamten Poetologie des Autors: Es bedeute, die Rechte der Kunst und des Lebens gegen etwaige Postmodernität zu verteidigen. 35 Peter Rühmkorf: Kein Apolloprogramm für Lyrik, in: ders.: Walther von der Vogelweide, S. 181–190, hier S. 184.

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Melodik sei völlig gegenteilig zum Missverständnis des Dichters, der in ihr den Ruf einer Schönheit höre. Kloake als Metapher für das Gedicht ist in jenem kulturkritischen Zynismus Rühmkorfs, dass das in der Konsumgesellschaft nur unterprivilegierte Gedicht dem Abfall gleiche, bereits länger und allgemein vorbereitet; der Zustand sei eine Ursache der zeitgenössischen Dichterleiden – so behauptet es etwa das Gedicht Nekropolis im Zyklus.36 Doch im Gedicht Undine gilt diese Kulturkritik kaum noch. Denn die Ironie dieses Wortes – als Abwasser – konkretisiert sich aus einer Aggression gegen die von Leidenschaften durchströmte Innenwelt eines Dichters, der an die Wasserjungfer und damit aber an die Hochdichtung denkt. Der Dichter als »Bagger« leitet sich metonymisch von »Kloaken« ab. Als Steigerung der Flunder-Karikatur wird das Leben zur Mechanik entfremdet und die Verhöhnung des Gedichts auf den passiv leidenden und dürftigen Charakter fokussiert. Die Wörter seufzen und schlürfen (V. 27) imitieren dabei lautlich nicht nur das kummervolle Trinken, sondern auch die Laszivität der angeblichen Onanie im Geist.

VI. Rühmkorfs Nordsee, in der die Existenz der Undinen einzig als Sexualphantasie möglich sei, ist, gleichwohl in Nachfolge Heinrich Heines, ein idiosynkratisches Konstrukt. Es verfolgt den Zweck, das Mittelmeer, das er bei Benn früh schon als Sprache der Hochtradition kennenlernte, marxistisch-psychoanalytisch anzuprangern.37 Diese Poesie ist ein Selbstzweck des Angriffs. Ihre Bedingung und Methode sind längst von außen definiert, bevor ein konkretes Gedicht dafür entstehen muss. Ihre Wesensstruktur lässt sich weiter bestimmen, indem man erkennt, dass das Meer nur der veränderliche Name eines Streits ist. Die Struktur ist der Widerspruch gegen das Überlieferte durch das CharakteristischRühmkorf ’sche. Diese Struktur bildet – so lautet meine These – das »Geheimnis« von Rühmkorfs Poesie und zugleich den vom Autor »verwischt[en]« Bezugspunkt der poetischen Theorie der Einfallskunde.38 Die Theorie beschwört 36 Vgl. vor allem: »Ich glaub, du denkst, hier sinkt noch immer die Titanik, j wie jemand öffentlich mit viel Kultur ersäuft – j Hier wirkt nur – platzda! – eine Sanitärmechanik, j die Wort auf Wort zum Totenacker schleift.« (V. 13–16), ebd., S. 154. 37 In Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen gilt das Motiv des Meeres als repräsentativ (symptomatisch); Rühmkorf kommentiert hierzu: »Das war die kandierte Romantik […]«; Peter Rühmkorf: Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen, in: ders.: Schachtelhalme, S. 7–42, hier S. 17. 38 Ich greife jene Ausgangsüberlegung Steineckes (»Arbeit ist des Artisten Schmuck«, S. 298) auf, dass die philologische Interpretation gerade dadurch, dass sie Sprachkritik übt, in der Lage ist, genauer – und so manchen Wahrheiten näher – als die Aussage des Autors zu sein.

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Momente des Glücks als Entscheidungsfaktor während der Dichtarbeit, verschweigt aber, auf welcher Grundlage zugleich ein Glücksfall die Ordnung des künftigen Gedichts prinzipiell schon in sich trägt. Als Legitimation, genauer : als Tarnung dieses Verschweigens bringt Rühmkorf – strategisch klug – den Subjektbegriff ins Spiel; mit dem Verweis auf dessen kultursymbolische Bedeutungen von Unantastbarkeit und Unerforschbarkeit vermag er so jede Nachfrage hinter sich zurückzulassen. Als abstrakte, allgemeine Denkfigur ist der Widerspruch gegen das Überlieferte für den, der einen starken historischen Sinn besitzt, ein schlüssiges Mittel zum Beweis der eigenen Individualität. Auf dieser Ebene bewegt sich die abundante Selbstbegründung Rühmkorfs. Um aber methodisch und wirkungsvoll zu widersprechen, worauf Rühmkorf Wert legt, lernt man zuerst beherrschen, was am Überlieferten markant ist, und kann dann vor allem mit diesem ulken. Mehr methodische Selbstreflexion braucht diese Poesie des Widerspruchs nicht. Für die Schärfe und die Plausibilität eines Widerspruchs sorgt man dadurch, dass die eigenen Argumente gut sind; gut in Bezug auf Streitthemen und Wertungssysteme, die jenseits der Literatur in linken und psychologischen Diskursen liegen, deren untergeordnete Spielarten Pädagogik und anthropologische Poetik heißen können. Es muss also keine literarische Reflexion stattfinden, wenn Rühmkorf von Dichtkunst spricht, gegebenenfalls auch nicht einmal Reflexion im eigentlichen Sinn. Dafür ist das Gedicht Undine ein präzises Beispiel. Was das Gedicht vorantreibt, sind – den technischen Rahmen der Bühnenentwicklung ausgenommen – ein am Exempel des Du linkspolitisch exekutiertes Schamgefühl vor der Hochdichtung, und parallel dazu ein Hass seitens des lyrischen Subjekts, der die Selbstverständlichkeit ausdrückt, Aggression gegen die Hochtradition zu einer – Rühmkorf ’schen – regelrechten poetischen Methode machen zu können. Von dieser Methode spricht der Autor nicht, vermutlich weil sie seinem Ruf nicht entspricht, pflegt er doch ein Image als Verteidiger der Dichtungstradition. Die Forschung aber muss diese Selbstverständlichkeit im Sinn der wissenschaftlichen Kritik problematisieren. In drei Hinsichten sehe ich hierzu die Notwendigkeit; mit diesen Hinsichten bestimme ich zugleich mein ästhetisches Urteil: (a) Rühmkorfs Aggression gegen die Hochtradition ist, auch wenn der Autor darüber schweigt, öffentlich ideologisch, und darf somit nicht im Namen eines individuellen Stils neutralisiert werden;39 (b) anhand dieses Schweigens kann man das Wesen der Selbstdeutung hingegen prüfen und klären, inwiefern das Ziel des Autors außer im Ökonomischen darin bestehe, ein richtiges Erkennen 39 Auf einem anderen, komparatistischen Weg verdeutlicht Christoph König die Grundlage von Rühmkorfs Aggression als einen Willen, vieles von der Dichtungstradition zuletzt nur zu entleeren, vgl. seinen Beitrag in diesem Band.

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des Sinns seines Werks gerade zu verhindern; (c) hinsichtlich des dichterischen Metiers muss man fragen, wie es dazu komm, dass ein Dichter solche Aggression als umfassende Methode braucht. Was also wäre bei Rühmkorf, zieht man sie ab, das Dichten überhaupt? Ich möchte abschließend versuchen, eine Antwort auf die Fragen (b) und (c) zu entwickeln. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass der Autor die Selbstdeutung als Chance benutzt, die vom Werk bereits bezogenen Positionen durch erneute Interpretationen nach zusätzlichen Theorien abzurunden. Rühmkorfs Theorie vom eigenen widersprüchlichen Charakter hat sich als eine solche Hilfskonstruktion lebenslang bewährt. Dank ihr kann er seine bis in die 1960er Jahre aus offenen politischen Gründen noch sinnvoll erscheinende Aggression gegen die Hochtradition später in eine arglose Hassliebe überführen, um sein Interesse daraufhin neu zu definieren, dass er, weil er sich der eigenen Zerrissenheit bewusst sei, gerade umso mehr die Hoffnung des Schönen verteidige.40 Folgt man dem, so erscheint die Aggression entweder ein für allemal reflexiv, als wolle der Autor lediglich der Tradition zuliebe sie mit kritischem Bewusstsein (das sie angeblich nicht hätte) ausrüsten. Oder ein Relativismus spricht einer bezogenen Stellung – infolge der Labilität des Charakters – ihren Ernst ab und verweist auf den Wandel der Zeit und auf den Autor als »Strömungskundler«.41 Doch das besonders Verführerische an der Charakterlehre, die Rühmkorf dem Leser zur Deutung seiner Werke empfiehlt, ist, dass sie einen Psychologismus aller poetischen Fragen nahelegt. Damit ist der Weg für den späteren Dozenten der Frankfurter Poetikvorlesung zum Anthropologischen als Grundlage der Poesie und mithin zum Ruhm des poeta doctus geebnet.42 Damit lenkt Rühmkorf den Leser aber auch erfolgreich von der kritischen Frage an den Dichter ab, was die Literatur für ihn eigentlich und konkret bedeute. Diese Frage hängt unmittelbar mit der zusammen, was die literarische Tradition für ihn bedeutet, denn man lernt das dichterische Metier überhaupt aus den Vorlagen der Literaturgeschichte. Literatur ist weder Musik noch psychologischer Mechanismus, da sie Schrift ist und auf konkreter Arbeit mit Material beruht. Dies kennt Rühmkorf zwar aus seiner poetischen Erfahrung, doch in seiner Abstraktion – am ausführlichsten 40 Im Zeichen dieser Selbstdeutung ändert Rühmkorf flexibel und radikal seine Haltung zu romantischen Stoffen – eben von Hass zu Liebe. Seine Gattung des aufgeklärten Märchens entsteht aus der geänderten Haltung. Dort findet man sogar (so sehe ich es) ein Gegenstück zum Gedicht Undine, nämlich das Märchen Die Feuerfee (1983), in: Peter Rühmkorf: Die Märchen. Werke 4, hg. von Heinrich Detering und Sandra Kerschbaumer, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 231–248. 41 Vgl. Rühmkorf: Zum Geleit, in: ders.: Strömungslehre I, S. 299f., hier S. 300. 42 Peter Rühmkorf: agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven, Frankfurt a. M. 1985.

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dokumentiert wohl in den Frankfurter Vorlesungen und den Benn-Porträts über die Jahre – reduziert er die literarische Tradition auf bloße Musikalität und stereotypische Ausdrucksweisen: Beide fungieren als von Inhalt bereinigte Formen, an denen das später hinzugetretene historische Subjekt, das damit etwas schaffen will, Bedeutungen von außen herantragen kann. Oder man bezieht sich, sei es zustimmend oder ablehnend, auf Versuche, die Formen systematisch zu interpretieren, wie z. B. in einer Theoriegeschichte des Reims, deren Thesen gar nicht literaturbezogen sein müssen, sondern psychoanalytisch, kulturphilosophisch, politisch, linguistisch usw. sein können. Rühmkorfs Undine ist eine schöne Frau und auch der Jadebusen und singt nur, das heißt: Ihr Zauber besteht, jenseits jedes Verstandes und Verständnisses, in bloßer Form und in Musik. Der Verfasser des Gedichts Undine erweist sich damit als Formalist, der nicht anders kann, da er in der literarischen Tradition (sowohl allgemein genommen als auch spezifisch in Bezug auf die Benn-Adoption) vorzüglich repräsentative Formen sieht. Als Reflexionsinstrument dient ihm eine eher oberflächliche Dialektik. Rhetorik bleibt die Stärke. Mir scheint, dass der habituell gegen die Anderen leicht und brillant zu äußernde Hass Rühmkorfs auf jeglichen formalistischen Verdacht die Kehrseite einer verschwiegenen Selbstbeobachtung ist – man erinnere sich daran, dass das Du des Gedichts Undine als Bühnenfigur vom Autor statt etwa analytisch geschaffen, ausschließlich (auto-)biographistisch unterfüttert wird. Um sich in der eigenen Dichtungspraxis dem Formalismus zu entziehen, versucht Rühmkorf immer wieder, die Gedichte mit politischen Botschaften aus einer aggressiven Haltung heraus zu stärken, die – selbst in späteren Jahren ohne äußere politische Zwänge, aber schon unter dem neuen Zwang der selbstnominierten lebensnahen Artistik – nicht zur Ruhe kommt.

Roland Berbig

Tempus fugit. Rühmkorfs Fliederbusch-Gedicht: archiviert, nicht ad acta

Flieder ist bekannt für seine Vitalität und breitet sich stark durch Wurzelausläufer aus. Eine zu starke Ausläuferbildung hemmt aber unseren Flieder bei der Blütenbildung. […] Pflanzen, die gekürzt […] werden kompakter, werden buschiger, und bekommen eine tolle Blütenentwicklung.1 Wenn der weiße Flieder wieder blüht, sing’ ich dir mein schönstes Liebeslied. Immer, immer wieder knie ich vor dir nieder, trink mit dir den Duft vom weißen Flieder.2 […] einen Fliederbusch, mit dem ich seit gut 25 Jahren ziemlich innig befreundet bin. (Peter Rühmkorf)3

Nur zu gerne dankt der Verfasser Herrn Joachim Kersten RA (Hamburg) und Prof. Dr. Stephan Opitz (Kiel), die sich um die Rechte Rühmkorfs sowie um seinen Nachlass sorgen und dem Dichter sein Eigenrecht lassen: auch im Dialog mit der Nachwelt. Und die Hand möchte er Herrn Philipp Böttcher (Göttingen) schütteln, der als erster Leser dem Text in der Druckfassung mehr als freundliche Aufmerksamkeit schenkte. Frau Katrin von Boltenstern (Berlin) war so liebenswürdig, bei der Endredaktion behilflich zu sein. 1 http://www.mein-pflanzenblog.de/2012/04/was-kann-ich-tun-wenn-mein-flieder-nicht-blueht/ [13. August 2013]. 2 Franz Doelle: Wenn der weiße Flieder wieder blüht. Zit. nach: http://www.lyrix.at/de/text_ show/d2471096e0f64756b4186267d5a60e6b-Richard_Tauber_-_Wenn_Der_Weiße_Flieder_ Wieder_Blueht [9. Oktober 2013]. 3 Peter Rühmkorf: Dankrede anläßlich der Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille (2000), in: Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz (Hg.): Peter Rühmkorf: Eine Würdigung. CarlZuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz 2000, Landau/Pfalz 2001 (zit. nach: http:// www.planetlyrik.de/peter-ruhmkorf-carl-zuckmayer-medaille-des-landes-rheinland-pfalz2000/2012/04/ [13. 9. 2013]).

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I. Das gedruckte lyrische Werk Peter Rühmkorfs ist abgeschlossen, das ungedruckte beerdigt. Freilich in nobler Grabstelle, gewissermaßen der letzte Ritterschlag, das Tor zur Unsterblichkeit: Marbach, Deutsches Literaturarchiv. Das Wort Beisetzung hätte Rühmkorf stocken lassen, wir erlauben uns die Vermutung. Also kein Verbrennen, vergewissern wir uns, keine Metamorphose des Materiellen ins Metaphysische – der nicht länger bleiben konnte, ließ etwas zurück, das bleibt: sein Privatarchiv mit freiem Zugriff für die professionelle Hand. Notierungen aller Art, die auf einen Zugreifenden warten, wie sehnsuchtsvoll, wer kann es entscheiden. Die stolze Meldung aus Marbach, der Bestandsbildner Rühmkorf sei einer der mächtigsten in diesem Reich, jedenfalls der Masse nach, soll Lockruf sein, ist jedoch eher geeignet, abzuschrecken. Wem das Archiv wünschenswerter Arbeitsort ist, der weiß, ein Bestand ohne Grenzen ist nicht minder zu fürchten wie einer, dessen Grenzen durch wenige schmale Mappen markiert sind. Die These, ein Dichter, der vorgab, alles Notierte zu einem Text der Nachwelt zu hinterlassen, verschweige nicht weniger als der, der alles vernichtete, steht im Raum. Möglicherweise fußt sie auf Erfahrung. Einmalig wie wir alle heißt das Buch, das Rühmkorf im historischen Jahr 1989 veröffentlichte, und einmalig auch das, was dem Buchdruck vorausging, was in ihn einging, aber doch verdammt war, ausgeschieden und beiseite geschoben zu werden. Wichtig blieb es dem Autor, wie ihm das meiste, was sein Schreiben begründete, existentiell und repräsentativ war. Er hat es gesammelt, er hat es geordnet, und er hat lanciert, sein Interesse sei so einmalig, dass es ausschließlich bleibe und Bleibendes stiftet. Als kenntnisreicher und ausgebildeter Germanist vertraut mit den historisch-kritischen Ausgaben großer Dichtung, saß ganz offenbar in Rühmkorf jenes Gran Zuversicht, auch sein poetisches Werk dürfe eine Aufmerksamkeit, vergleichbar mit jenen editorischen Omniprojekten, beanspruchen. Aber das ist ebenfalls eine These, die ihre germanistische Wurzel nicht leugnet. Der Neigung, den Dichter stets schon in vorweggenommener Korrespondenz mit der akademischen Berufssparte zu sehen, steht eine Pflicht gegenüber, oder korrekt – eine Verpflichtung: die dem eigenen Werk gegenüber. Weniges bezeugt den Ernst dichterischer Arbeit augenfälliger als Sorglichkeit, die aufbewahrt, was zu dem führt, dem Gültigkeit, Endgültigkeit gewünscht wird. Dieses Selbstverständnis des Poeten, das als Faktum zu konstatieren ist, zwingt dem, der sich mit seinem Werk befasst, etwas auf, was sich von selbst versteht. Will er redlich agieren, muss er dem Ernst der Arbeit, der sich in nicht zu zählenden beschriebenen Blättern unausweichbar dokumentiert, mit gleichem Ernst begegnen. Im Folgenden dient ein Beispiel aus Rühmkorfs Nachlass als Test. Ist in diesem konkreten Bestand wirklich möglich, was sich in allge-

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meinen Formulierungen so einsichtig ausnimmt? Schon die Beschränkung auf ein Gedicht deutet an, was zu erwarten ist – und was Wirklichkeit gewinnt in Gestalt dreier grauer Marbach-Mappen.4 Neben dieser Überlieferungsrealität steht allerdings die Realität des Gedruckten. Auf sie zielte, was der Dichter archivierte. Allein er ahnte, dass sich das Archivierte in diesem Ziel nicht erschöpfte und selbst Schöpfung blieb, ausdeutbar und deutend in Einem, bedeutend, wenn es glückt.

II. Das ausgewählte Gedicht trägt den Titel Der Fliederbusch, der Krüppel5. Es ist prominent, nicht zuletzt deshalb, weil Rühmkorf es mit höchstem Geschick in seine Dankrede anläßlich der Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille einflocht: um mit ihm und Shakespeares Hilfe auf das Gewebe von Leben und Bühne zu verweisen – und auf seine Vorliebe »für etwas randständige Besingungsgegenstände«.6 Seine (endgültige) Entstehungszeit fiel in das Jahr 1987, Rühmkorfs Leben stand am Ende des fünften Jahrzehnts, jener Phase, in der sich ein bilanzierender Blick zunehmend Geltung verschafft, nicht ohne Widerstand und Gegenwehr. Deren einzige Waffen sind bei einem Poeten Worte, Sätze, Zeichen. Sie sind sein Privileg, aber sein Fluch sind sie auch. Wird, was noch kommt, Niedergang oder letzter Aufstieg? Werfen wir einen ersten Blick auf die Verse. Der Gedichttitel ist identisch mit dem ersten Vers. Die Hauptfigur figuriert die lyrische Rede. Der redet, ist von Beginn an anwesend: Er beschreibt, er verortet, er erinnert, er wertet. Von »Krüppel« wird gesprochen, vom »letzten Winter« (Z 2), von »Erinnerung« (Z 3) und von der »BLÜTE« (Z 5) als »Ziel« (Z 4) des verkrüppelten Busches. Und in einem Klammersatz, gleichsam nebenher gesprochen, im Duktus des Umgangssprachlichen, platziert der Text ein »sie«: »(na, feiern werden sie ihn nicht gerade dafür, j […]« (Z 6). Der alte Kerl, den das Gedicht in der zweiten Strophe mit seinem Spiegelbild konfrontiert – »(Grau wär ja noch gut – aber so? – halbkahl j mit Flecken im Gesicht, j die auch nicht mehr richtig nach Zukunft aussehn)« (Z 10–13) –, stellt sich die unsinnigste und sinnträchtigste Frage: »was will der Dichter seine Leser 4 Drei graue Mappen jedenfalls waren es, die mir von Herrn Christoph Hilse und seiner Mitarbeiterin, Frau Silke Becker, im Marbacher Archiv zu dem Gedicht Der Fliederbusch, der Krüppel freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden. Ihnen beiden gilt mein außerordentlicher Dank. Mir war bei der Arbeit an diesem kleinen Text bewusst, mich auf der Spitze des Eisbergs, nicht in der Tiefe, die ihn trägt, zu bewegen. 5 Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke 1, hg. von Bernd Rauschenbach, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 384f. (siehe hier Textwiedergabe mit Zeilenzählung am Ende des Beitrags). 6 Rühmkorf: Dankrede anläßlich der Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille.

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damit lehren?« Diese Frage, deren brüske Abwehr von Poetenseite eine eigene Literatur hervorgebracht hat, wird gegen Ende folgenreich variiert: »was kann er [der Fliederbusch. R. B.] seinen Dichter lehren?« (Z 36). Die beiden Fragen wirken als Scharniere, durch die spielerisch entstehende Dreiheit ungleicher Teile scheint die Struktur eines Triptychons durch. Von links nach rechts auf den Schrifttafeln gelesen, hebt der Text mit der Vorgeschichte – dem Sturmbruch des Fliederbusches – an, dem die Mitteltafel mit der verdichteten Zusammenführung von Bild und lyrischem Ich folgt, während der rechte Flügel das ambivalente Bild des im Untergehen noch einmal kraftvoll in Erscheinung Tretenden zeigt. Ende und Beginn fallen in ein Bild. Dass es freundlich ironisiert wird, trübt nicht seinen Glanz, eher im Gegenteil. Das Naturbild lehrt, und es belehrt, nicht zuletzt den, der es beschwor : Vor aller Öffentlichkeit zusammengebrochen und schon den »Sand der Arena« (Z 40) fressend, verkehrt sich, was als natürlicher wie schicksalhafter Niedergang gefürchtet, in einen prophezeiten Sieg. Das Gedicht tritt auf als ein Gleichnis. Es argumentiert in einem Grundbild, das Natur und Dichtung aus dem Fokus von Vitalität maßnimmt. Variiert wird ein »Stirb und werde«, bei dem Vergehen sich in Widerstehen wendet, das biologische Gesetz scheinbar außer, aber doch eigentlich in Kraft setzend. Der Sprecher des Gedichts weiß im Spiegelbild ein Gegenüber, so vertraut wie fremd. Er existiert in ihm und außerhalb von ihm, spricht in der ersten Person (»meinem Spiegel«, Z 9) von ihm in der dritten Person (»Der alte Kerl«, Z 9). Die lyrische Rede agiert im Autobiographischen oder doch, so suggeriert der Erzählton, im Erlebten. Legitimiert wird es durch die poetologische Dimension, die ein Mittelteil entfaltet. Er liefert, was das Natur- in ein Kunstbild überführt und den floristischen oder gartenarchitektonischen in einen anthropologischen Bezug. Künstlertum und Daseinswandel kulminieren in einer lateinischen Formel, die auch das Zeug zum Gedichttitel gehabt hätte: »Tempus fugit« (Z 20). Was der Lateinunterricht mit »Die Zeit flieht« übersetzt, lockert und individualisiert das Gedicht in seinem dritten Klammersatz in »(Die Zeit eilt meiner Wenigkeit voraus)« (Z 23). Fast in der Mitte des 40zeiligen Textes angesiedelt, wird die gesperrt gedruckte lateinische Formel durch zwei Künstlernamen gerahmt: Bud Powell, den Jazz-Musiker, und Franz Schubert, den Komponisten. Beide exponiert durch je ein Werk von äußerstem Rang, charakteristisch und kontrastiv : Powell mit dem 1949 entstandenen Tempus fugit (oder Tempus Fugue-it), Schubert mit seinem 1828 komponierten Streichquintett in C-Dur D 956.7 Von diesen aufgerufenen musikalischen Meisterstücken geht die Energie 7 »Es hat die für die Gattung ungewöhnliche Besetzung zwei Violinen – Viola – zwei Violoncelli. Das Streichquintett wurde vermutlich im September 1828 komponiert, zwei Monate vor Schuberts Tod. Es wurde zu seinen Lebzeiten nicht mehr aufgeführt und erst 1853 gedruckt.«, in: http://de.wikipedia.org/wiki/Streichquintett_%28 Schubert%29 [8. Oktober 2013].

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aus, die das Gedicht bis zu seinem Schluss trägt: der Sieg und Sandfressen in einen Vers bringt, abgetrotzt einem natürlichen Abbau und gewonnen aus einer wahrgenommenen regenerativen Kraft, die der Natur innewohnt und der Kunst, ist sie Kunst, eignet.

III. Die konzeptionelle Anlage des Bandes Einmalig wie wir alle koppelt poetische mit poetologischen Texten, in denen der Autor als Kommentator, Laudator oder Briefschreiber auftritt, der sich erklärt, in dem er seine Lyrik thematisiert. Was den Bedarf an Erläuterung zu decken vorgibt, wird selbst erläuterungsbedürftig. Das ist nicht übersehen worden und kann beiseitegelassen werden. Der Text, der Der Fliederbusch, der Krüppel folgt, ist getitelt Über das Dichten nach der Natur und gibt sich als Einführung für Schulklassen. Der Adressaten-Bezug signalisiert Erklärungswillen. Das tragende Bild vom durch einen Herbststurm gestürzten Fliederbusch, der, statt »ordnungsgemäß zu verrotten oder hinzuwelken«, wie Rühmkorf schreibt, es darauf angelegt zu haben schien, im Frühsommer des nächsten Jahres »seine Mitwelt das Staunen zu lehren«, erhält sein Wirklichkeitszertifikat. Es sei, so Rühmkorf, der ihm zu Herzen gehende »Sieg eines störrischen Eigensinns über die Behinderung«, »ein Naturwunder und bemerkenswerter Ausnahmefall«8 – und da Dichter dazu neigen, die Natur zu vermenschlichen, sei es »fast schon natürlich«9 gewesen, jenes Fliederbusch-Erlebnis anthropomorph zu nutzen. Der wortspielerische Transfer vom Malen zum Dichten nach der Natur impliziert einen Brückenschlag zwischen Renaissance und einem Jetzt, das als Pfeiler kaum taugt. Mit der Ironisierung der Parallele von Busch und Dichter, die zuungunsten »unseres Porträtmalers« (!) ausfalle, legt der Deutungstext eine breite Spur, die ihr Profil aus der »Wendung von der bewußtlosen Natur zu einem seiner Unnatur bewußten Ich«10 erhält. Aus ihr schöpft er mit dem lyrischen Ich sein Quäntchen Hoffnung, das er aus der »Welt der edelsten menschlichen Daseinsäußerungen« – stellvertretend die beiden Künstler Schubert und Powell – beziehe. Das Ganze gipfelt in einer Kunst-Essenz, mit der der Schülerkommentar schließt: »wo die Behinderungen überwunden, überspielt und die uns zu Boden drückenden Lasten aufgehoben scheinen, sind wir bereit, unsere Erdenschwere eine Weltsekunde lang zu vergessen«.11 8 Peter Rühmkorf: Über das Dichten nach der Natur. Einführung für Schulklassen, in: ders.: Einmalig wie wir alle, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 10. 9 Ebd., S. 11. 10 Ebd. 11 Ebd.

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Für den, dem dieser geschliffene Deutungskiesel zu glatt ist, lautet die Essenz anders: Ein Gedicht, das sich derart paraphrasieren lässt, ist überflüssig. Das Recht des Dichters, es beim Erklären mit Klarheit zu versuchen, bleibt so unbenommen wie die Pflicht des Philologen, das Gedicht vor den Folgen zu bewahren. Die Frage, die sich stellt: Was bleibt bei dem, was Rühmkorf didaktisch wie pädagogisch12 über sein Gedicht Der Fliederbusch, der Krüppel ausspricht, unausgesprochen? Unausgesprochen, obwohl es in die Tiefendimension des Textes weist? Weil sich Werktüren öffnen, durch die leichtfüßig nicht zu gehen ist, ohne auf mehr zu sprechen zu kommen, als die nicht poetische Rede vermag? Drei Verankerungen (zumindest) bleiben ausgespart: 1. »Flieder« ist im lyrischen Werk Rühmkorfs eine auffällige Metapher seines Corpus poeticum, 2. das Emblem oder Pictogramm vom wiedererblühenden Baum steht in einer Bildgeschichte, die bis in biblische Regionen zurückweist, fest verankert also in einem intertextuellen und -visuellen Universum, und 3. Rühmkorf hat die zahllosen Notizen, Entwürfe und Stichwörter aufbewahrt, die das Schreibterrain, das er wieder und wieder abschritt, dokumentieren und die er bewusst dem Nachlass einverleibte. Zu diesen drei ›Aussparungen‹ im Folgenden wenigstens ein paar Bemerkungen.

IV. Beginnen wir mit dem »Flieder«. Dass er in Rühmkorfs Welt der »kleinen Seifenblase: auf meinem Südbalkönchen, in meinem 2-m2-Freiluftgefängnis Oevelgönne 50«13 lyrisches Hausrecht erwarb, ist längst aufgefallen – am nachhaltigsten Robert Gernhardt. Er entschloss sich, in seiner Gedichtauswahl Lethe mit Schuß für die Bibliothek Suhrkamp »unterschiedslos alle Gedichte aufzunehmen, in welchen Rühmkorf vom ›Flieder‹ redet« und bemerkte dazu: »warum es gerade der Flieder dem Rühmkorf angetan hat, darf jedweder im stillen Kämmerlein ebenso bedenken wie die Frage, was eigentlich ›Flieder‹ derart hartnäckig auf ›Lieder‹ und ›immer wieder‹ reimt.«14 Stimmt, was Gernhardt, mehr Freund als Philologe, Augenschein war? Wie stark blüht der Flieder in Rühmkorfs lyrischer Wortwelt, und beinahe grundlegender noch: In welcher Gestalt? Angesichts einer anfechtbaren Editionslage ist Vorsicht geboten. Als gewiss kann gelten, dass schon in Zwischen den Kriegen – jener hektographierten Zeitschrift, die Rühmkorf von 1952 bis 1956 mit Werner Riegel zusammen 12 Auf beiden Gebieten hatte Rühmkorf zweifelsfrei hohe Talente, die sein Werk durchziehen und sich in allen Werkteilen auf ganz eigenwillige Weise niedergeschlagen haben. 13 Peter Rühmkorf: Über die Arbeit, in: ders.: Einmalig wie wir alle, S. 16–36, hier S. 18. 14 Robert Gernhardt: Peter Rühmkorf und wir, in: Peter Rühmkorf: Lethe mit Schuß. Gedichte, hg. von Robert Gernhardt, Frankfurt a. M. 1998, S. 138–[139].

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herausgab – der Flieder Eingang ins Gedicht fand. Nicht spektakulär, aber unter einem signifikanten Titel: Ich rühre mit gichtigem Finger an die letzten Dinge.15 Der eschatologische Blick wird geworfen von einem, der Aas und Aronstab in korrespondierende Konkurrenz zum herabfallenden Flieder »[ü]berm lausigen Skalp«16 bringt. Der spricht, gefällt sich in Allusionen an Benn und an den Brecht der Hauspostille und Städtebewohner. Er ergibt sich dem »Kitsch«, dem »süßen Parfüm dieser Welt«, das allerdings die Köstlichkeit von Wind, Vogelschreien und wahnsinniger Himmelsbläue duldet. Dreimal wird das Köstliche des Windes beschworen, von ihm, nicht vom Flieder her bestimmt sich die Rede von den letzten Dingen. Aber der noch bedeutungsarme Flieder weiß sich in dieser frühen Lyrik zu behaupten, und er weiß sich in Anspruchsnähe von »[e]twas Größe«, »[e]twas Vollkommenheit« zu bringen, wie es in Wildernd im Ungewissen17 heißt – ebenfalls in Zwischen den Kriegen gedruckt und übernommen in die erste Buchveröffentlichung (zusammen mit Riegel) Heiße Lyrik.18 Vollzogen hat sich ein nachgerade fulminanter Aufstieg. »Wir haben um neunzehn Uhr Syringen gebrochen j Und brachen Duft und Gram; j Flieder, mein lieber Mann, wir haben Flieder gerochen, j Wenn der Mond über Deutschland kam.«19 Der so doppelt, ja dreifach herausgestrichene Flieder weckt und verkörpert Widerstandspotential »[i]m wenig Dauerhaften«, mit dessen Thematisierung die zweite Hälfte des Gedichts einsetzt. Das Bild einer Flieder brechenden Gruppe (»Wir«) erstreckt sich bis in die beiden letzten Verse, in denen die »Größe« und »Vollkommenheit« der ersten Strophe erneut aufgegriffen werden und ›das letzte Wort haben‹. Der Flieder bleibt dann weiterhin ein virulentes poetisches Zeichen für das, was dem lyrischen Ich »meine Seele« ist. Sie muss den Vergleich mit »dem schäbigen Spind« aushalten, aus dem gekramt wird, »[w]as uns trifft und was uns rührt«: »Denken und Darminhalt«.20 Diese frühe Lyrik Rühmkorfs, die den Poeten durchaus schon auf der Höhe präsentabler Dichtungskraft zeigt, bedient sich des Flieders als tauglichem Versatzstück, mit dem sich ein Unwesen treiben lässt. Der lyrische Prägestempel, den er trägt, kommt dem Dichter gerade recht, ihn mit anderen verwaschenen Zeichen wie Mond oder Rosen zu eigenen Zwecken aufzumöbeln. So hetzt das Gedicht, das Rühmkorfs 1959 erschienenem Gedichtband den Titel gab, »mit Fliedern, Fröschen und Rosen« ein lyrisches Du

Rühmkorf: Gedichte, S. 71. Ebd. Ebd., S. 80. Die Publikation erschien 1956 in der Heft-Reihe Dichtung unserer Zeit, die der Limes Verlag in Wiesbaden vertrieb. 19 Rühmkorf: Gedichte, S. 80 (Wildernd im Ungewissen). 20 So im Gedicht Ein Achtel Mond, ein Fliederbusch aus derselben Sammlung, ebd., S. 91. 15 16 17 18

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»zur Neige«,21 oder in Wes Pfeil? muss das weiße und violette Gewächs, »von Nymphen angeblasen«, als »Klassenfeinds Flieder«22 helfen, ein Ich zu ironisieren. Und beinahe noch signifikanter im sich gleich anschließenden Dem Endlichen: Hier wird der Flieder zum Inbegriff eines Ewigwährenden, in dessen Wortgesellschaft die »Schöpfung« rückt. Die Schöpfung, nichts Geringeres. »Tausend Jahre Flieder« heißt es, »zwan-zig-!-tausend! j und die Erde wird ihn nicht abschütteln, j oder uns zugleich.« Unter diesem »magischen Persenning«23 scheucht das Ich seine »abgesessenen Gedanken j hier j in das schäumige Gehänge«24 des Flieders. Und auch sie wurzeln im Sein, auch sie kolportieren Weltund Daseinsgedanken, und auch sie kokettieren mit Ewigkeit. »Flieder und Ewigkeit«, das klingt einmal als ein Glockenschlag, dann wieder in Dissonanz, wie etwa im Gedicht Daß ihm sein Sparren grüne, das sogar bereits das Bild des Grünens »in eingeebneter Stunde«25 vorprägt. In dieser Werkphase schlägt der Flieder dauerhaft Wurzeln in Rühmkorfs poetischem Werk. Er peitscht einem Ich um die Ohren als Zeichen von Vergänglichkeit »eines widernatürlichen Frühlings«,26 gerät in Kompositionen wie »Fliederbeersuppe«27 (die eigentlich auf Holunder basiert, beiläufig einem weiteren Wortgewicht in Rühmkorfs Lyrik) oder »Flieder-Kastanien«,28 und als »fliederverhangene[s] Maul der Bucht« gleiten in ihn die Freundesnachfahren Klopstocks »durch sich langsam zersetzenden Tag«.29 Er behauptet platzsicher seine Signifikanz ohne Dominanz – vornehmlich jedoch bis an die Schwelle des vierten Lebensjahrzehnts seines Poeten. Dann verebbt er. Wir wissen, zeitweilig und nur, um für einmal noch Kraft zu schöpfen. In welcher Richtung sich ein Wechsel bei gleichbleibender thematischer Motiv-Orientierung abzeichnet, belegt das Gedicht De mortuis oder : üble Nachrede. Gedruckt im Maiheft 1965 von konkret, liest es sich wie der Schnitt zu einem dann lang anhaltenden Aufbäumen gegen jenes Werden und Vergehen, das Grundnot und, so will es scheinen, letzte Verursachung des Rühmkorf ’schen Verses ist. Das Ich von De mortuis30 begreift sich jenseits des Werdens und 21 Irdisches Vergnügen in g, ebd., S. 96. 22 Ebd., S. 97. 23 In der Seemannssprache ein imprägniertes Gewebe, mit dem wasserfest abgedeckt werden kann. 24 Ebd., S. 98. 25 Ebd., S. 102. 26 Über heroische Leidenschaften, ebd., S. 105. 27 Im Vollbesitz seiner Zweifel, ebd., S. 116. 28 Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock, ebd., S. 121. 29 Ebd., 123. 30 Der in der Regel falsch übertragene und damit falsch verwendete lateinische Satz Chilons von Sparta – »De mortuis nil nisi bene« – lautet korrekt übertragen: »Von den Toten nichts außer auf gute Weise«. Vgl. http:// www.onlinezeitung24.de/article/3545 [6. Oktober 2013].

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diesseits des Vergehens: »Jetzt, zum Beispiel, haben wir auch die Linden schon wieder im Rücken j (Wer spricht noch vom Flieder?) […]«.31 Der Herbst winkt ab, und Lebensnachschub speist sich allein aus kraftmeiernden Sprüchen. Deren aufmunternde Wirkung versagt sich der Ironie, die sich an ihr probt – »Auch das Alter ist noch ein durchaus vollgültiger Lebensabschnitt, j und solange der Stuhlgang gesichert ist, j der Tag doch nicht unerfüllt – […]«32 –, doch den Pendelschlag des Gedichttitels ironiefrei auszuhalten hat: über Tote nichts zu sagen, es sei denn gut, einerseits, und andererseits »das Behaupten oder Verbreiten ehrenrühriger Tatsachen«,33 üble Nachrede also. Das Eine so wenig zu erzwingen wie das Andere zu vereiteln. Wer spricht da noch von Flieder? Das fragt das Gedicht – und der Dichter : bis er eine Antwort findet, 22 Jahre später. Es fehlt nicht an poetischen Brückenköpfen und lyrischen Lianen, die den Abgrund überwinden wollen, der das Dichten bestimmt und den der Dichter bestimmen will. Im doppelten Wortsinn. Explosiver »Altersschwachsinn«34 wird angerührt in Lethe mit Schuß,35 um »noch einmal von vorne [zu] leuchten«,36 »eh ich endgültig verasche«.37 Der Gestus des Aufbäumens bereitet sich vor, auch er eine Spur, gelegt, um etwas einzuläuten, was schon 1975 als »mein Alterswerk«38 beschworen wird. Im unmittelbar mentalen Einzugsgebiet des FliederbuschGedichtes bewegen sich endlich fast alle Gedichte des 1979 erschienenen Bandes Haltbar bis Ende 1999. Eingeschrieben ist ihnen ein Noch einmal, die Rückführung auf ein Ich, das im Widerstehen sein Heil sieht und in dessen auslaufendes Dasein sich der Satz bricht: »Manche Völker gehn übrigens bunter zugrunde als andere auferstehn.«39 Die Versuchung ist groß, beziehungsreiche Verse zu zitieren, die das Fliederbusch-Gedicht antizipieren, tatsächlich oder in der Rückschau: Da will das Ich einen »ahistorischen Zündfunken aus der Lamäng j und plötzlich irgendwo zu-schlagen!«,40 da hofft es »noch echt auf einen Durchbruch nach außen«,41 und da wird die Erneuerung, »Deinen Friedhofskompost nochmal aufschütten«,42 gekoppelt an die Bedingung: »Das muß erst alles – organisch – mit Gewalt! – entwurzelt werden.«43 Doch dieses sich an die 31 Rühmkorf: Gedichte, S. 247. 32 Ebd. 33 http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cble_Nachrede_%28Deutschland%29 [5. Oktober 2013]. 34 Reisender, in: Rühmkorf: Gedichte, S. 270. 35 Jetzt mitten im Klaren, ebd., S. 275. 36 Meine Stelle am Himmel, ebd., S. 277. 37 Jetzt mitten im Klaren, ebd., S. 275. 38 Mailied für junge Genossin, ebd., S. 285. 39 Zum Jahreswechsel, ebd., S. 302. 40 Im Fahrtwind, ebd., S. 317. 41 Ebd., S. 318. 42 Namenlos. Dem Zeichner Janssen zum 50., ebd., S. 378. 43 Phönix voran!, ebd., S. 346.

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Natur anlehnende Bild unterläuft der Text, der dem Band den Titel gab: Haltbar bis Ende 1999: He r b s t d e s L e b e n s ? E r n t e ? Die Natur ist kein Beispiel. Während die junge Welt schon wieder turnt und sich das Rauchen abgewöhnt, experimentier ich mit all meinen Öffnungen.44

Jetzt erst, so scheint es, ist das Bild- und Situierungspotential beisammen, ist der natürliche Gang konterkariert durch einen Generationskontrast, der von der Umkehrung lebt: Die Jungen leben gesund, die Alten experimentieren … Der den Wunsch hat, »einmal dich richtig ereignen«, dem ist gleich, ob »[a]us dem Kopf oder nach der Natur«: »Laß deine Anlagen leuchten!«45 ist Parole und Titel des letzten Gedichtes im Band. Siegel und Botschaft in Einem. Der Flieder als lyrisches Zeichen hat sich verloren, oder richtig: Er ist aufgehoben in einer komplexen Bildwelt, die der malstromartigen Auslöschung des eigenen Seins keine Ergebenheitsnote überreicht, sondern einen Kündigungsvertrag. Aus einem »Nochmal« wird »einmal«, aus »einmal« »einmalig«. Und aus »einmalig« ein Titelsegment des nächsten Gedichtbandes, der 1989 den Flieder poetisch wieder aufleben lässt. Aus dem Frühwerk fällt ein Spiegellicht ins Spät-, wenn nicht Alterswerk.

V. Einen Seitenblick, zumindest, verdienen die Sinnbild- und Motivbezüge, die Rühmkorfs Fliederbusch grundieren. Dominant ist die Emblematik vom verdorrten und wieder erblühenden Baum und dominant der Flieder. In ihnen ist der Text so fest vertaut wie im individuellen Werk, aus dem er erwuchs. Durch das Schicksal des Fliederbusches scheint jenes testamentarische Großbild auf vom Baum der Erkenntnis aus Gen. 2,9. Durch ihn kommt der Tod in die Welt, er selbst verdorrt dabei. Legenden erzählen, dass aus ihm das Holzkreuz wurde, an das Jesus geschlagen wurde (lignum crucis). Als dessen Opferblut das Holz nässt, kehrt das verlorene Leben zurück. »Das todbringende Holz wird zum Lebensholz – lignum vitae.«46 Bei Rühmkorf bringt das von Naturgewalten zerstörte Holz nicht den Tod, sondern gemahnt an ihn, und wo die Legenden das Blut Christi in seiner Heilkraft feiern, feiert sein Gedicht eine unnennbare Kraft, die 44 Ebd., S. 354. 45 Laß leuchten!, ebd., S. 380. 46 Werner Busch: Lucas van Leydens »Große Hagar« und die augustinische Typologie-Auffassung der Vorrevolution, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 45 (1982), S. 97–129, hier S. 100.

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das Sakrale ins Säkulare wendet: mit gleichem Erfolg. Aus dem toten Holz wird Lebensholz auch hier, und der Mensch richtet sich daran auf, als könnte er den Naturgesetzen entgehen – lignum vitae. Und im Hintergrund raunen hört, wer einmal hellhörig geworden ist, das Gleichnis, das Jesus vom Feigenbaum gibt: Vergeblich kommt einer wieder und wieder zu seinem nicht tragenden Feigenbaum, bis er ihn verdrießlich fällen will. Doch der Weingärtner hält ihn ab und erbittet eine Gnadenfrist, für die er sich Fruchtbringendes verspricht. Ob mit Erfolg, bleibt im Dunkeln und Glaubenssache. Die Evangelien nuancieren ihre Deutung abweichend. Für Rühmkorfs Gedicht bezeichnend ist, was in Mk 13, 30–31 steht: »Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht [oder : diese Generation. R. B.] wird nicht vergehen, bis alles dies geschehen ist. Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.«47 Auch hier bei Rühmkorf ein Wenden ins Säkulare. Das Eschatologische wird entmythisiert, aber das Vergehen, das Ende wird vertagt in Erwartung dessen, was das Ich noch zu leisten vermag, ohne Wahl und auserwählt, dem natürlichen Gang zum Trotz. Das ist nicht auszureizen. Allusionen dieser Art sind Rühmkorfs Lyrik eigen. Ihnen zur Seite soll ein letztes zum Topos des toten oder verdorrten Baumes gestellt werden, prominent und in Varianten vorrätig im Hausschatz deutscher Poesie: Der Birnbaum auf dem Walserfeld. Volkssagen haben seine Geschichte überliefert, die Grimms ihn in ihre Deutschen Sagen aufgenommen, und Chamisso hat daraus ein großes Gedicht geformt. Dieser Baum soll, abgestorben und verdorrt, auf dem Walserfeld bei Salzburg stehen. Beginnt er wieder zu blühen und Früchte zu tragen, dann wird es zu einer großen Schlacht kommen, die unter Gottes Zeichen der brüderlichen Liebe die verlorengegangene Macht zurückgibt und allem Bösen den Garaus bereitet. In Chamissos Gedicht bleibt der Ausbruch in der Schwebe – steht er bevor, lässt er weiter auf sich warten? Nun sag ich euch das Zeichen: ihr wißt den Birnbaum dort, Er trauert nun entehret, verstümmelt und verdorrt; Schon dreimal abgehauen, schlug dreimal auch zuvor Er schon aus seiner Wurzel zum stolzen Baum empor. […] Und hat er seine Krone erneuet dicht und breit, So rückt heran bedrohlich die lang verheißne Zeit; Und schmückt er sich mit Blüten, so ist das Ende nah; Und trägt er reife Früchte, so ist die Stunde da.48 47 http://www.bibelwissen.bibelthemen.eu/wiki/index.php/Das_Gleichnis_vom_Feigenbaum [26. September 2013]. 48 Adelbert von Chamisso: Der Birnbaum auf dem Walserfeld, in: [ders.:] Adelbert von Chamisso’s Werke, hg. von Friedrich Palm, Bd. 3: Gedichte, Leipzig 1836, S. 309–311, hier S. 310.

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Ohne die Vermischung mit dem Barbarossa-Stoff zu verfolgen und die mythologischen Mischungsverhältnisse zu destillieren, wird die Parallele zum Rühmkorf-Text so augenfällig wie die Differenz. Wurde hier mit der ersehnten Baumblüte Kaiser und Krieg die letzte Reichsschlacht verheißen, weist dort der bereits wieder erblühte Strauch auf ein Ich, dessen Innenschau jener Erwartung von außen gegenübersteht. Menschheits- und Glaubensschlacht hier im Kontrast zum Aufbäumen, zum Überlebenswillen des Einzelnen dort. Wird bei Chamisso auf das Zeichen gewartet, reagiert das Ich bei Rühmkorf bereits auf die Kraft des Zeichens und profitiert von ihm. Den radikalsten Pendelschlag zu dieser traditionsgesättigten Konstellation – und mithin nicht minder radikales Bindeglied zu Rühmkorf – nimmt Bertolt Brecht in jenem Lied vor, das Baal in seinem gleichnamigen Stück singt und das Tod im Wald heißt. Hier nämlich wird ein sterbender Mann, dessen Zähne, Kleider, Hirn und Knochen morsch und faul sind, nach seinem Tod von seinen rohen Gefährten »[v]oll von Ekel« und »Haß« in »des Baumes dunkelstes Geäste« gegraben: Und sie ritten stumm aus dem Dickicht. Spähten um noch einmal aus der Weite Fanden auch den Grabbaum drüben Und sie wunderten sich beide. Der Baum war oben voll Licht. Und sie bekreuzten ihr junges Gesicht Und sie ritten in Sonne und Heide.49

Wo in den anderen Belegen auf das natürliche Zeichen gewartet wird, um eine Wiedergeburt zu erfahren, wird bei Brecht die verreckende Kreatur zurückgeführt in die Natur und der Tote Voraussetzung für die Zeichenkraft, die von ihr dann ausgeht. Erst im Totsein und aus der Einkehr ins Natürliche wird der Alte den Jungen etwas, das sie zum Bekreuzigen veranlasst; die sakrale Geste als entleertes Ritual aufflammenden Respekts vor etwas, das einem Mysterium gleicht. Rühmkorfs Ich verharrt vor einer solchen Regression ins Natürliche, es will Zeichen setzen und nicht selbst gesetztes Zeichen sein. Die Motivgeschichte des Flieders ist weniger exzessiv, wie es der Vers »Wenn der weiße Flieder wieder blüht« mit der Melodie von Fritz Rotter vermuten lässt. Sie reiht sich ein, ordnet sich eher unter und rangiert selten im poetischen Vordergrund. Für Rühmkorf setzt sie allerdings prominent ein – mit dem Dichter, der seinem ersten Gedichtband bis in den Titel Irdisches Vergnügen in g (1959) den literarhistorischen Boden einzog: Barthold Heinrich Brockes. In dessen Band Irdisches Vergnügen in Gott bestehnd in Physikalisch- und Mora49 Bertolt Brecht: Werke, hg. von Werner Hecht, Bd. 1: Stücke, Berlin, Frankfurt a. M. 1989 (Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe), S. 71.

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lischen Gedichten. Sechster Teil. Nebst einer Vorrede erstlich zum Druck befördert bei Johann Heinrich Schramm in Tübingen 1740 steht ein großes, bedeutendes Flieder-Gedicht. In ihm schildert ein Ich, wie es im »grünlich DämmerungsLicht« durch die Natur geht, deren Pflanzen und Blätter in diesem Schein einen harmonischen Zusammenhang stiften, von dem es ergriffen wird. Es nimmt in der Welt von »Schwartz- und Weiß-Dorn, Asp und Schlehen«50 Platz und gerät beim Anblick des weißen Schimmerns eines Fliedergewächses in einen Zustand von Beseeltheit. Er bricht ein »Blümchen« ab, um in gründlicher Betrachtung »den Schöpfer zu erhöhen«,51 und erhöht diesen, indem er sich dem Flieder sprechend zuwendet: Billig bist du, holder Flieder, Auch ein Vorwurf meiner Lieder, Da du ja so nütz als schön. Deine Frucht, Laub, Zweig und Blüthe Lassen Weisheit, Macht und Güte Eines Schöpfers, klärlich sehn.52

Die Ansprache enthält in nuce, was die ihr folgende Beschreibungsintensität entfaltet. Bestimmt ist sie von dem Gedanken der Geringschätzung gegenüber diesem »Blumenbaum«, weil von dergleichen im »Blumenreich« so »viele seyn«, den Schöpfungsspiegel entgegenzuhalten: So ist es billig, unserm Gott das Opfer unsrer Lust zu bringen; Und ihn, als einen weisen Schöpfer, auch bey Flieder zu besingen.53

Das Geringfügige wird in seiner Schönheit und seinem Nutzen Gegenstand der poetischen Rede, der Redner zu dessen Laudator – und damit zum Laudator der Schöpfung selbst. Der lyrische Blick richtet sich auf diese, nicht auf den Sänger. Dessen Handwerk glückt, weil er das Geschöpfte in seinem Rang erkennt und deren Anerkennung erwirkt. Wie in Rühmkorfs Fliederbusch-Versen kommt die Kraft aus einer Unergründlichkeit der Natur, die im Wort den Grund abgibt, auf dem der Dichtende zu stehen vermag. Ihre Herrlichkeit auch noch im anscheinend Geringfügigsten ist zu erobern, und der sie erobert, weiß von dem Glanz, den sie nun ausstrahlt. Anders das Fliedermotiv dann in späteren Perioden, eher rar, eher lapidar. Besaß der Flieder etwa für Otto Friedrich Gruppe, Poet in Friedrich Sengles Biedermeierzeit, in »Die Rosen und die Nelken«54 Symbolkraft für Unvergäng50 Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott (bibliographische Angabe s. im Fließtext), S. 49. 51 Ebd., S. 50. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 51. 54 Otto Friedrich Gruppe: Gedichte, Berlin 1835, S. 31.

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liches (im Gegensatz zu Untreue und gebrochenem Herzen), verschlimmerte er in Theodor Storms Vierzeiler »Jasmin und Flieder blühen«55 die Verlassenheit eines vereinsamten Ich. Rühmkorf näher rückt jener Flieder, dem Karl Kraus’ Ich in seinem gleichnamigen Gedicht (1919) die Rückbesinnung aus Entfremdung und auf das Geheimnis des Seins verdankt: Und danke Gott, er schuf mich wieder, indem er wiederschuf die Pracht. Sie anzuschauen aufgewacht, so bleib ich stehn. Noch blüht der Flieder.56

Das Ich wird im Anblick der Fliederpracht wieder Teil einer Schöpfung, die sich allerdings darin genügt und nicht darauf dringt, nun ihrerseits schöpferische Kraft zu entfalten. »Noch« blüht der Flieder, das Ich verharrt vor dem Anblick, als hielte es damit dessen Blüte an – der Moment des Stehenbleibens schließt den des Wiederauferstehens nicht ein. »Die Zeit versinkt«, dichtete Erich Kästner, »in einer Fliederwelle«.57 Vor diesen motivgeschichtlichen Zeugnissen wird die Ausgiebigkeit deutlich, mit der Rühmkorf um den Deutungshorizont weiß, ihn nutzt, modifiziert und kombiniert. Wie er den »weißen Flieder« aus dem gängigen Gassenhauer mitschwingen lässt, so knüpft er die eigenen Verse hinein in die Begriffe von Schöpfung, Liebe und Zeit, die den »Flieder« in Mythos und Poesie verwoben haben. Die tradierte Prägung korreliert mit der innerhalb Rühmkorfs eigener Lyrik. Die Engführung, die das einschließt, bewirkt im gleichen Zuge einen Deutungszugewinn. Poetische Individualisierung neutralisiert nicht den dichtungsgeschichtlichen Schallraum. Sie bereichert ihn vielmehr um einen Klang, unverwechselbar, unaustauschbar, neuschöpfend.

VI. »Einfallsquanten«, »Rohstoff«, »Rohstaub«,58 deren Ziel ein lyrischer Mikrokosmos sei, so Rühmkorf. »Literarische Qualität – Gottja«, schrieb er im Dezember 1986 an Marcel Reich-Ranicki, »ich kann von mir aus auch nur auf Arbeit-Arbeit-Arbeit hinweisen und besagte 100–150 Seiten pro Gedicht, na, die 55 Theodor Storm: Gedichte. Novellen. 1848–1867, hg. von Dieter Lohmeier, Frankfurt a. M. 1987 (Sämtliche Werke in vier Bänden, 1; Bibliothek deutscher Klassiker, 19), S. 249. 56 Karl Kraus: Die Fackel, Bd. 8, Nr. 508–612 (April 1919 – Dezember 1922), Frankfurt a. M. 1976, S. 21. 57 Erich Kästner : Der Mai, in: ders.: Wieso warum? Ausgewählte Gedichte 1928–1955, Berlin, Weimar 1965, S. 314. 58 Rühmkorf: Einmalig wie wir alle, S. 17.

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Nachwelt wird Augen machen, […]«.59 Kommen wir also zum Archivierten, der dritten ausgesparten Verankerung. Drei graue Mappen, vom Marbacher Archivar Christoph Hilse, nicht vom Dichter, zusammengestellt, versammeln bislang die Blätter, die zu Der Fliederbusch, der Krüppel gehören. Die Blatt-fürBlatt-Erfassung gibt keine Garantie für Vollzähligkeit. Noch mehr : Der Inhalt der Mappen erlaubt auf den ersten Blick nur bedingt (und möglicherweise gar nicht), was der Editor sich erhofft – die bündige Rekonstruktion der Arbeitsphasen bis zur Druckfassung. A5-Blätter mit flüchtigen Wörtern, geschrieben mit Faserstiften, liegen neben Seiten, auf denen Rühmkorf ihm gültig erscheinende Verse und Strophen abtippte, die aber wiederum handschriftlich bearbeitet wurden (nicht selten mit unterschiedlichen Farben) und denen erneut A5Blätter folgen, die flüchtig hingeworfene Wortgruppen oder Einzelwörter fixieren – fortschreiben, was sich als brauchbares Bild erwies, oder neu setzen, weil Untaugliches auszuscheiden war. Um einen Begriff vom derzeitigen Umfang60 zu geben: Die Mappen enthalten 208 Blatt im A4- (149) und A5- (59) Format, Handschriftliches neben Abgetipptem und wieder Korrigiertem. Sie zeigen Rühmkorf als hart Arbeitenden, in jeder Hinsicht, intellektuell wie, auch das, manuell. Er musste, was ihm geglückt schien, abtippen, hantierte umgehend weiter mit dem Stift, zog wieder die Olympia heran, um gleich erneut die maschinenschriftlichen Seiten zu redigieren und zu lektorieren. Ein sinnlicher Vorgang, haptisch geprägt durch und durch. Exakt chronologisch nachvollziehbar sind die Entstehungsschritte nicht oder nur bedingt. Ausschließlich auf den bearbeiteten Einzelblättern lassen sich Abfolgen poetischer Verfertigung nachvollziehen. Dem Sammler seiner selbst fehlte die ordnende Hand. Seine Verpflichtung galt dem Bewahren, nicht dem Verwalten. Wer Ordnung erzeugt, erzeugt seine, nicht die des Dichters. Rühmkorfs Notierungsverfahren ist eins des Kombinierens. Wörter und Wendungen mutieren zum Vers, der Vers zum variablen Versatzstück, Fundament für ein Gedicht, Fundstück für Lücken in Unfertigem. Es zeichnet sich eine Tendenz zum Großgedicht ab, in dem das Einzelne seinen Platz hat. Ihn garantiert die gemeinsame Quelle aus dem Quanten- und Sternschnuppenreich. Sie versammelt, was der sach- und fachgerechten poetischen Zuweisung harrt. Zwei, drei Stichproben müssen hier für das Ganze stehen. 1) Eine erste Sichtung ergibt: Nichts ist von vornherein auf das FliederbuschGedicht fixiert. Dieses kristallisiert sich aus einem Sammelsurium von skizzierten Alters-, Alterungs- und Vergänglichkeitsposen und -gesten heraus. 59 Ebd., S. 89 (Brief an Marcel Reich-Ranicki). 60 Stand 22. Februar 2013. Es ist durchaus möglich, dass sich im Verlauf der fortschreitenden Erschließungsarbeit weitere Blätter mit Aufzeichnungen zu diesem Gedicht finden werden bzw. bereits gefunden haben.

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Dabei gerät der Bilddiskurs – Maler- und »Zentralperspektive«, wie Rühmkorf auf einem Blatt direkt in die Verse hinein notiert61 – in Korrespondenz zum Sinnund von ihm aus zum Kunstdiskurs (»Erklärung«, »Behauptung« bis zu »was will uns sein Dichter damit sagen?«62). Die Verführungskraft des Naturbildes weckt, was die vielen Entwurfsblätter rechtfertigt – Wehrlosigkeit und Abwehr, Verzauberung und Verzweiflung, Pathos und Ironie. Verführung und Führungsanspruch, das auch. Nichts charakterisiert diese verbalen Wechsel- und Widerspiele treffender als die Tilgung zweier Worte in der Druckfassung des Gedichts, denen zeitweilig (offenbar) eine prominente Rolle zugewiesen war : Realismus und Liebe. »›Ein neuer Realismus ist ein neuer Mensch‹!: j solch ein Satz leuchtet schon [hs. darüber : (wohl)] einmal [msch. getilgt: kurz] auf j in irgendeiner beziehung, j aber wird hinterher [hs. gestrichen: auch gleich] vollkommen schwarz –«.63 Der sich ›unrealistisch‹ verhaltenden Natur in Gestalt des gebrochenen und wieder erblühenden Fliederbusches wird ein Politik- und Kunstprinzip zur Seite gegeben, das die Schaffung eines neuen Menschen bezweckte. Jener abgewirtschafteten Sozial- und Kunsttheorie mit ihrer Katastrophen verursachenden Praxis blitzt ketzerisch der Wunsch einer individuellen Neuschaffung in und durch Kunst entgegen. »Ein Künstler darf nicht pfleglich mit sich umgehn«,64 so eine Reminiszenz-Notiz zum Fliederbusch. Darin gleicht er der Liebe, »eine[r] Kraft, die alles entschuldigt«.65 Liebe ist das Äußerste, vor allem »in ihren Lebensgefährlichen [!] Formen«.66 Zu ihr glaube »sich alles befugt j was sonst so gescheitert ist«,67 heißt es. Liebe, die ihr verwandten Triebe und die Sexualität durchziehen die Notierungen als Widerstandspotential und wären bequeme Anknüpfungen ans eigene poetische Werk. Das Gedicht jedoch lässt sie unausgesprochen. Indes: Es vertraut ihr Leerstellen an – im Fliederbild, natürlich, essentiell aber in der zentralen Platzierung von Bud Powells Tempus fugit. Vollständig lautet dieses lateinische Sprichwort 61 DLA, Nachlass: Rühmkorf, Peter. A: Rühmkorf Gedichte (aus Sammlung »Einmalig […]«), Mappe 2, unpaginiert. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 DLA, Nachlass: Rühmkorf, Peter. A: Rühmkorf Gedichte (aus Sammlung »Einmalig […]«), Bl. 10.–. 65 Rühmkorf: Gedichte, S. 459. 66 DLA, Nachlass: Rühmkorf, Peter. A: Rühmkorf Gedichte (aus Sammlung »Einmalig […]«), Bl. 4.–. 67 DLA, Nachlass: Rühmkorf, Peter. A: Rühmkorf Gedichte (aus Sammlung »Einmalig […]«), Bl. 12.–. In einem Entwurf, der schon vom Fliederbusch ausgeht und noch vor dem lyrischen Straffen, Streichen und Konzentrieren gelagert ist, finden sich die Zeilen: »Wie schön, wenn auf solchem ins Nichts abzischenden Stern j nochmal plötzlich Liebe auftaucht j […] jj Und am Ende stehst du da und willst der versammelten Menschheit j noch was (ordentliches (mit) auf den Weg geben – j deinen letzten Schnaufer – -«. DLA, Nachlass: Rühmkorf, Peter. A: Rühmkorf Gedichte (aus Sammlung »Einmalig […]«), Mappe 3, S. 1.

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nämlich »Tempus fugit – amor manet«: Die Zeit flieht – die Liebe bleibt. Zwischen »Ich aber nenne diesseits und jenseits der Stirn j außer der Liebe nichts, j was mich hält und mir beikommt«68 aus dem Jahr 1960 und dieser lyrischen Leerstelle liegen Welten. Aber es bleibt eine poetische Welt. 2) Wer dem Powell-Fingerzeig folgt, wird im Archivierten fündig – nicht in Gestalt einer handschriftlichen Notiz, sondern von NDR 3-Sendeprotokollen. Sie umfassen 14 Blatt und dokumentieren zwei Radiosendungen von Jens Sülzenfuss, die unter dem Titel JAZZ IM DRITTEN am 8. Januar und am 12. März 1987 ausgestrahlt wurden.69 Im Rahmen einer Jazz-Retrospektive widmete sich Sülzenfuss dem Bebop Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre. Und eben mithin Bud Powell. Rühmkorf hatte sich, vom Gehörten angeregt, das Protokoll schicken lassen und es umgehend mit Faserstiften bearbeitet. Wenigstens eine markante und von ihm markierte Passage hier im Zitat: […] Bud Powell der große Einsame. Ein gefährdetes Genie, dessen Lebenskurve im Zickzack zwischen Heilanstalten und Jazzclubs verlief, dessen Lebenslicht nur dann grell aufflackerte, wenn er am Klavier saß und mit unnachahmlich hartem Anschlag seine scharf-kantigen Melodielinien meißelte. Ein unerschöpflicher, ideenreicher Improvisator, der immer unter Hochspannung zu stehen schien. ›Tempus fugit‹70 heißt eine seiner berühmtesten Komposition [sic] zu deutsch: Die Zeit flieht. Und ganz so, als ahnte er, daß ihm die Zeit davonlaufen würde, schien sein atemlos dringliches Klavierspiel unter diesem Motto zu stehen. […]71

Der Pendelschlag zwischen dem qualvollen Dasein des »von psychischen Wirrnissen gepeinigte[n]«72 Menschen und dem von seiner Musik Besessenen ging Rühmkorf an – und ging, wie die beiden Sendeprotokolle, ein in die Notierungen zum Fliederbusch. Die Unterstreichungen spiegeln den Grund für Rühmkorfs Faszination. In Sülzenfuss’ emphatischem »Bud Powell ist das Instrument«73 schwingt für ihn das Ideal eines sich ganz in poetische Sprache auflösenden Dichters mit. Der nur in seiner Kunst eigentlich Existierende und mit »einer Dringlichkeit« »in Monster-Form am Klavier« Spielende, »als wär’s

68 Rühmkorf: Gedichte, S. 198 (zuerst gedruckt in: ders.: Kunststücke. Fünfzig Gedichte nebst einer Anleitung zum Widerspruch, Reinbek bei Hamburg 1962). 69 DLA, Nachlass: Rühmkorf, Peter. A: Rühmkorf Gedichte (aus Sammlung »Einmalig […]«). NDR 3 »JAZZ IM DRITTEN. Jazz Retro / Zeit für Bebop« mit Jens Sülzenfuss (Produktion: Michael Naura), 12. März 1987. Mappe 1 (Materialsammlung) Sendeprotokoll, Bl. 4. 70 Ebd., am rechten Rand: Kreuz mit lila Faserstift. 71 Ebd., Unterstreichungen Rühmkorf mit lila Faserstift. 72 DLA, Nachlass: Rühmkorf, Peter. A: Rühmkorf Gedichte (aus Sammlung »Einmalig […]«). NDR 3 »JAZZ IM DRITTEN. Jazz Retro / Zeit für Bebop« mit Jens Sülzenfuss (Produktion: Michael Naura), 8. Januar 1987. Mappe 1 (Materialsammlung) Sendeprotokoll, Bl. 9. 73 Ebd., Unterstreichung Rühmkorf mit lila Faserstift.

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das letzte Mal«74 – das war jene letzte Gültigkeit, zu der Rühmkorf tastend vordrang. 3) In welchem hohen Maß dieses Gedicht in den Grenzbereich letzter Dinge vorstößt, bezeugt ein 32 Blatt umfassender Entwurf, in dem sich die Konturen des späteren Textes abzuzeichnen beginnen. Noch sind die Linien offen und durchlässig. Demonstrative Strenge soll willkommene Nachzügler nicht aussperren. Der Zug zum Monologischen, der im Drucktext den Ton angibt, weiß um den Gewinn, der vom Dialogisch-Widerstreitenden ausgeht und lässt ihn stärker gewähren. Dieser Entwurf erklärt nicht, wiewohl er Dokument poetischer Klärung ist. Gleich im ersten Vers fällt das Wort »Pakt«, schlaglichtartig. Es wird nie wieder aufgegriffen und bleibt, einmal wahrgenommen, im Raum: als Teufelspakt, als Pakt zwischen Gott und dem Menschen, als Bündnisbesiegelung (wertfrei und grundiert durch die sprachliche Verwandtschaft zu pax, Frieden). Gleiches gilt für die Wendung »ein Ruck, sich wirklich herauszudenken« – Unmögliches zu wollen, weil es die letzte humane Möglichkeit ist, dem Destruktiven, das im Endlichen des Daseins liegt, zu entgehen. Als »ein Sinnbild überleben« wird hier visioniert, aber umgehend – mit lila Faserstift – konterkariert: »So im liegenden Standbild der Qual«.75 Verschwenderisch im Umgehen mit sich und unberechenbar im Geben, so konturiert das um Fassung und Ton ringende Ich sein eigenes Standbild, das sich aus Perspektivwechseln Kraft zuund in einem Atemzuge abspricht: »daß du dich paradigmatisch krummlegst (flachmachst) auf Erden«.76 Den eigenen Untergang nur nicht so persönlich nehmen auf der einen, ihn in ein Sinnbild zu verwandeln, auf der anderen Seite. »Das Alter lacht zuletzt«, und wer zuletzt lacht, lacht am besten. Aus der zunehmenden Schwäche, dies die Intention, Kapital schlagen. Sich in einen Zustand redend hineinschreiben, der wie Überleben aussieht – und das ist, was angestrebt wird. Unerreichbar und erreicht.

VII. Von dieser Stelle aus wäre der Pfad weiter zu verfolgen. Er führt in die archivierte Welt Rühmkorfs, die Christoph Hilse (Tagung Marbach, Sept. 2013) in ihrer frappierenden Dimension hell- und scharfsichtig umrissen hat, und wieder aus ihr heraus in das gedruckte Werk. Wirkt eine Sogkraft, so wirkt sie in beide Richtungen. Scheint der Druck aus dem Ungedruckten hervorzugehen, be74 Ebd., Bl. 9 u. 13. 75 Dieses und die vorangegangenen Zitate: DLA, Nachlass: Rühmkorf, Peter. A: Rühmkorf Gedichte (aus Sammlung »Einmalig […]«), Mappe 3, S. 1. 76 Ebd., S. 6.

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hauptet das Ungedruckte sein Eigenrecht. Das Fliederbusch-Gedicht erscheint vor diesem Hintergrund als das, was es ist: Eingangstor zum lyrischen Alterswerk. Der in diesem Gedicht spricht, ist sich seiner Sprache sicher, aber die Sache, die sie verhandeln muss, ist es nicht. Oder in einem solchen absoluten Maße, dass ihr nur mit Absolutheit zu begegnen ist. Angezogen vom natürlichen Bild des wieder erblühenden Flieders, das so real ist wie symbolisch, öffnen sich drei Fächer von Archiv : erstens das des eigenen lyrischen Werkes, zweitens das der Literatur- und Mythengeschichte, und drittens das des Nachlasses. Erst diese drei Perspektiven geben den Blick auf den Kosmos frei, der dieses Gedicht ist. Wie oft in großer Dichtung hadert der hier spricht mit der Schöpfung. Er muss, was ihm Gegenstand ist – nämlich die Auflehnung gegen deren Gesetze, zu der ihn Realität und Sinnbild des Fliederbusches provokant ermutigen –, aussprechen und vollziehen in einem. Gelingt das, gelingt der Text. Nicht mehr die Liebe, sondern Kunst allein verheißt, worauf es ankommt: der Endlichkeit aller Schöpfung Unendliches entgegenzuhalten. Oder, im Diskurs des poetischen Textes, den klaren Naturgesetzen die Unerklärbarkeit von Kunst entgegenhalten, die, will sie glücken, mit den Gesetzen brechen muss. Wo der Flieder in seinem Wieder-Erblühen willenlos bleibt und als ein Willkürakt der Natur erscheint, muss das Ich so unwillkürlich wie willensstark agieren. In einer Pose, die lächerlich wirkt und lächerlich ist, aber bei der einem das Lachen vergeht. Seine Kraft dazu bezieht dieses Ich aus dem, was es ausschließt: die archivierte Wortwelt. Sie ist ihm Bühne wie Leben, stets verfügbare Lebensbühne, immerwährendes Bühnenleben. In ihr richtet es sich Sprach- und Sprechräume ein, in ihr kann es schalten und walten zu diesem Zwecke, und in ihr darf es in endlosen Wiederholungen Varianten schaffen und verwerfen. Hier darf gedonnert werden, in der Hoffnung, dass dem Donner die einschlagenden Blitze vorausgehen werden. Dieser erst für die Nachwelt öffentliche Raum bietet Schutz für ungeschütztes Reden. Alles ist Teil und weiß sich doch als ein Ganzes, dessen intellektuelle und rhetorische Dichte das gedruckte Werk trägt und sein Fundament ist. Work (gedruckt) und Patchwork (archiviert) sind zwei Seiten einer Medaille. Einfach »rangehn an die Dinge der Welt«, lautet eine Fliederbusch-Notiz, »und zwar als ihr Kunde – nicht als ihr Interpret«.77 Am Ende, wir wissen es, siegt der, »[D]er den Sand der Arena frißt«.78 Wer also? Mit Zuckmayers Vers »Die auf dem Bauche kriechen, sind mir freund«,79 hatte Rühmkorf eine Antwort zur Hand. Eine – ihm nicht die einzige, uns nicht die letzte.

77 DLA, Nachlass: Rühmkorf, Peter. A: Rühmkorf Gedichte (aus Sammlung »Einmalig […]«), Bl. 11.–. 78 DLA, Nachlass: Rühmkorf, Peter. A: Rühmkorf Gedichte (aus Sammlung »Einmalig […]«), Bl. 16.–. 79 Siehe Rühmkorf: Dankrede anläßlich der Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille.

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Anhang Peter Rühmkorf Der Fliederbusch, der Krüppel Der Fliederbusch, der Krüppel, letzten Winter vom Sturm gebrochen und nachfolgend fast aus der Erinnerung entschwunden, kriechend erreicht er sein Ziel: DIE BLÜTE (na, feiern werden sie ihn nicht gerade dafür, aber auch wohl nicht vorzeitig untergraben) Der alte Kerl in meinem Spiegel gegenüber (Grau wär ja noch gut – aber so? – halbkahl – mit Flecken im Gesicht, die auch nicht mehr richtig nach Zukunft aussehn) was will der Dichter seine Leser damit lehren? Daß das Leben zu kurz ist, sagt dir schließlich jeder kleine Friedhofsangestellte. Bißchen rumkramen noch oder bißchen was? Lieber donner denen einfach noch mal so ein absolut aus der Richtung weichendes Ding hin wie Bud Powell, als er Mitte der Fünfziger voll entflammt aus der Klapse kam: Tempus fugit (Die Zeit eilt meiner Wenigkeit voraus) Beziehungsweise Schubert auch mit diesem sternenmäßigen Quintett in C-Dur! Doch bestimmt nicht bloß Syph-Musik. Aufgeräumt eine bereits im Abbruch befindliche Bühne betreten und aus Angsttrieben Luftschlangen ziehen, in großen Zügen das ist es. Wenn die Leute schon anklopfen, als ob sie nie ne Landplage wären, was soll denn dann der ganze Kunstaufwand? Der Fliederbusch, der Krüppel, letzten Winter im Sturm gebrochen, aber nachdrängend jetzt die eigene Walstatt lila überlagernd, was kann er seinen Dichter damit lehren? Unter uns: daß in deinem Abwinken immer noch mehr Kraft war als in anderer Leute Sonnenaufgängen. ……………………………………………………………………… Und am Ende siegt – na wer? – Der den Sand der Arena frißt.

Roland Berbig

Rüdiger Zymner

Rühmkorfs späte Lyrik

I. Als Rühmkorfs späte Lyrik bezeichne ich die lyrischen Texte und Sprachgebilde in dem 1999 erschienenen Gedichtbuch Wenn – aber dann und in der 2008, kurz vor Rühmkorfs Tod im Juni 2008 erschienenen Gedicht- und Materialiensammlung mit dem Titel Paradiesvogelschiß.1 Beide Bücher bieten die eigenständige, neueste späte Lyrik Peter Rühmkorfs – diejenigen Gedichte und Gebilde also, die mit Blick auf das lyrische Gesamtwerk den Schluss bilden und von heute aus gesehen die jüngsten und frischesten sind. Die beiden späten Gedichtbücher erschienen im Abstand von zehn bzw. 19 Jahren nach dem vorhergehenden letzten eigenständigen Buch mit neuer, bis dahin lediglich verstreut veröffentlichter oder unveröffentlichter Rühmkorf ’scher Lyrik – Einmalig wie wir alle von 1989. Mit diesem Buch könnte man wenigstens in chronologischer Hinsicht auch sogar so etwas wie das mittlere lyrische Werk Peter Rühmkorfs enden lassen. Andere Bücher wie beispielsweise Aufwachen und Wiederfinden von 2007 oder In gemeinsamer Sache aus dem Jahr 2000 fallen jedenfalls nicht in die Kategorie der späten Lyrik, weil es sich hier um Wiederverwendungen älterer Lyrik Peter Rühmkorfs handelt und eben nicht um Zusammenstellungen von im Prinzip neuen Texten oder Sprachgebilden. Ob und inwiefern die von mir als späte Lyrik apostrophierte Rühmkorf ’sche Lyrik auch ein Spätwerk im Sinne einer Weiterentwicklung oder Neuorientierung in fakturieller oder auch in informationeller Hinsicht darstellt, interessiert mich besonders. Die Beantwortung der Frage hängt davon ab, was man genau unter einem Spätwerk und – hiermit zusammenhängend – was man unter Altersstil versteht. Zu einer allgemeinen Theorie des Spätwerkes, die es, soweit ich 1 Peter Rühmkorf: Wenn – aber dann. Vorletzte Gedichte, Reinbek bei Hamburg 1999; Peter Rühmkorf: Paradiesvogelschiß. Gedichte, Reinbek bei Hamburg 2008; außer den genannten Bänden benutze ich Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke 1, hg. v. Bernd Rauschenbach, Reinbek bei Hamburg 2000.

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sehe, noch nicht gibt und die ich hier auch nicht entwickeln kann, gehört aber doch wohl mindestens, dass sich die als Spätwerk bezeichneten Texte, Gebilde und allgemein Artefakte (1) von den vorangehenden und selbst wiederum als mittleres oder frühes Werk zusammenfassbaren in Faktur oder auch Information so unterscheiden, dass sie sich darin als eigenständig oder neu oder anders bezeichnen lassen, und dass (2) dieses Spätwerk in einer chronologischen Abfolge der Texte, Gebilde oder Artefakte des Gesamtwerkes eben den Schluss bildet. Wie breit dieser Schluss nach materialem Umfang und zeitlicher Erstreckung sein muss, scheint damit nicht präjudiziert zu sein, so dass Spätwerke vergleichsweise schmal oder aber auch umfangreich sein können; und dass dieser Schluss mit der letzten Lebensphase oder dem Alter des Künstlers zusammenfallen muss, ist ebenso wenig von vornherein klar. Spätwerke müssen demnach nicht unbedingt auch Werke alter Künstler sein, späte Werke keine Alterswerke, auch wenn man dies im Falle des bei Erscheinen der Bücher 70- bzw. 78-jährigen Peter Rühmkorf wohl sagen könnte, so dass schließlich und möglicherweise begründet festgestellt werden kann, dass eine Weiterentwicklung oder Neuorientierung in Faktur und Information sogar so etwas wie Rühmkorfs Altersstil konstituieren.2 Im Hinblick auf die Unterschiede zwischen Werkteilen wird man aber grundsätzlich unterschiedliche Relationen zwischen Spätwerk und vorangehendem Werk annehmen können. Ein Spätwerk wird sich als radikale Abkehr von Vorangehendem ebenso profilieren können wie als Neuakzentuierung von bereits bekannten Zügen des vorangehenden Werkteiles, die Unterscheidung kann also scharf oder eher verschwimmend oder gleitend sein, Themen und Formen können sich im Spätwerk vollkommen von denen des vorangehenden Werkes unterscheiden, oder aber graduell. Die Fragen, denen ich hier nun ein wenig nachgehen möchte, lauten also: Handelt es sich bei Rühmkorfs später Lyrik auch um ein Spätwerk? Und (da es sich bei der späten Lyrik Rühmkorfs um diejenige eines alten Mannes handelt) wenn ja: Gibt es demnach so etwas wie einen Altersstil in der Lyrik Peter Rühmkorfs? Besonderes Augenmerk soll dabei (dem Konzept der Tagung folgend) auf die leitenden oder orientierenden Aspekte der Tradition, der Ökonomie und der politischen Kritik gelegt werden. Aber es zeigt sich schnell, dass 2 Siehe hierzu allgemein Hans Ulrich Gumbrecht: Verschmelzung, Synthese und Alterssubjektivität, in: FAZ 24. 4. 2013, Nr. 95, S. N13; Material zu einem aufschlussreichen Vergleich der späten Lyrik Rühmkorfs mit derjenigen zweier seiner wichtigsten Bezugsautoren bietet z. B. Simon Karcher : Sachlichkeit und elegischer Ton. Die späte Lyrik von Gottfried Benn und Bertolt Brecht – ein Vergleich, Würzburg 2006 (Der neue Brecht, 2); siehe auch Walter Hinderer, Gerhard Neumann (Hg.): Altersstile im 19. Jahrhundert, Würzburg (im Druck); für Rühmkorf wichtig dürfte auch die Rede Gottfried Benns sein: Altern als Problem des Künstlers; siehe hierzu besonders den Beitrag von Dieter Lamping in diesem Band.

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dies nicht die einzigen Aspekte sein können, die hierbei analytisch relevant sind, und dass es zudem im Hinblick auf diese Aspekte einiger Justierungen bedarf, um sie fruchtbar zu machen.

II. Das Gedichtbuch Wenn – aber dann umfasst sechs Abteilungen mit insgesamt 70 Gedichten. Die einzelnen Abteilungen und viele der Gedichte sind durch allerlei Techniken der thematischen Fortführung und Variation, in Korrespondenz, Kontrast und motivischer Wiederkehr miteinander verknüpft, so dass sich insgesamt so etwas wie eine Dramaturgie erkennen lässt – nicht in dem Sinne zwar, dass man wie etwa in Petrarcas Canzoniere oder in Shakespeares The Sonnets eine story unterlegen könnte (gewissermaßen den ›Rühmkorf-Roman‹), aber doch so, dass eine kohärente und akzentuierte Stationenfolge, wenn nicht sogar ein modulares Syndrom sich abzeichnet. Innerhalb dieser Abfolge markiert besonders das mit dem Titel Chanson überschriebene Gedicht zu Beginn der vierten, mit Wenn – aber dann überschriebenen Abteilung einen gedichtbuchinternen Wendepunkt, und zwar eine Umorientierung oder Umakzentuierung von einer elegisch-jeremiadesken, ja sogar apokalyptisch-menschenfeindlichen Haltung zu derjenigen eines entspannteren, an den Freuden der ephemeren, scheinbar nebensächlichen und alltäglichen Phänomene interessierten ›Liebhabers der Dinge‹. Schon die erste der insgesamt sechs vierzeilig-kreuzgereimten einfachen Strophen hält diese Neuorientierung im Gesamtablauf der Gedichtfolge fest: Wenn, aber dann, in allem was ich tu, ich etwas liebe, halt ich darauf zu.3

Die lexikalisch und metrisch erkennbar schlichte und lediglich in der Syntax etwas komplizierter oder auffälliger gebaute Strophe nimmt die Schlusswendung aus dem vorangehenden freiversigen Gedicht Hoffnung von hinten auf, in der das in diesem Gedichtbuch übergreifend und in vielerlei Hinsicht sicher stilisierte, aber deshalb nicht unbedingt auch fiktive Aussagesubjekt betont: Und du weißt, daß du jetzt endgültig an die Dinge rangehen musst

3 Rühmkorf: Wenn – aber dann, S. 71.

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aber wohlgemerkt als ihr Liebhaber und nicht als ihr Interpret.4

Liebhaber statt Interpret – das bedeutet doch wohl soviel wie eine Abwendung von einer deutenden kritisch-analytischen und evaluativen Haltung und eine sorgsame, sich rein erfreuende, affirmative und tendenziell vielleicht sogar brockeshafte Hinwendung zu dem, was ist. In beiden autorfaktualen Gedichten geht es darum, diese Wendung zum Liebhaber zu vollziehen, solange noch Zeit dazu ist, in dem Gedicht Chanson heißt es überdies in der dritten Strophe: Ich bin auf Tour, die Zeit wird merklich knapp, ich seil mich nur noch oben eben ab.

In dieser dritten Strophe nimmt Rühmkorf also die bereits früher eingeführte Metaphorik der Hochseilartistik auf, mit der er die Arbeit des Dichters versinnbildlicht (Hochseil), und man wird hier nun von einer metaisierenden Formulierung in seinem Gedicht Chanson sprechen dürfen, mit der eine Poetik der wenigstens reduzierten Artistik oder gar Nichtartistik angezeigt wird. Es geht nun allem Anschein nach nicht mehr darum, in höchsten Höhen herumzuturnen, »selbstredend und selbstreimend« oder mit dem »Astralleib« klavierzuspielen, »v i e r f ü ß i g – vierzigzehig«5 –, sondern um etwas anderes: Nennen wir es vorläufig Einfachheit, vielleicht auch prägnante Kürze und in jedem Fall Leichtigkeit im doppelten Sinn des Wortes. Dabei ist es durchaus nicht so, dass erst ab diesem Gedicht so etwas wie eine neue Einfachheit erprobt wird, vielmehr durchzieht sie das Gedichtbuch von Anfang an und übergreifend, ebenso übergreifend wie die Tendenz zur Kürze. Diese Tendenz zur Kürze oder wenigsten Verkürzung lässt sich schon rein am vertikalen Umfang der Gedichte und Gebilde ablesen: Mit im Durchschnitt 30 Zeilen pro Gedicht erreicht dieses Gedichtbuch fast schon wieder den Durchschnittswert der frühen Kunststücke6 (durchschnittlich ca. sechsundzwanzig Zeilen)7 – und vorgreifend kann gesagt werden: Der Band Paradiesvogelschiß unterschreitet diesen Durchschnittsumfang der frühen Gedichte mit durch4 Ebd., S. 70. 5 Rühmkorf: Gedichte, S. 287. 6 Peter Rühmkorf: Kunststücke. Fünfzig Gedichte nebst einer Anleitung zum Widerspruch, Reinbek bei Hamburg 1962. 7 Siehe hierzu Philipp Böttcher, Peer Trilcke: »Ich war äußerlich und innerlich Pleite.« Die Neukonstituierung des Autors Peter Rühmkorf nach 1972, in: Jan Bürger, Stephan Opitz (Hg.): »Laß leuchten!« Peter Rühmkorf zwischen Aufklärung, Romantik und Volksvermögen, Göttingen 2010 (Marbacher Schriften, N. F. 7), S. 65–96, hier bes. S. 74f.

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schnittlich 18 Zeilen pro Gedicht sogar noch deutlich. In Paradiesvogelschiß zeigt im Übrigen das Gedicht Kurz – kürzer – Am kürzesten, dass Rühmkorf diese Tendenz durchaus bewusst, dass sie wohl auch gewollt ist. Das Gedicht lautet: Kurz Kürzer Am Kürzesten: Es wird immer mehrer. Leicht Leichter Am leichtesten: Es wird immer schwerer.8

Gerade dieses ebenso kurze wie einfache und leichte lyrische Gebilde demonstriert aber in seiner antithetischen Faktur wie auch in der antithetischen Information, zumal in seiner paradoxen, mit immer längeren Zeilen die Information graphisch konterkarierenden Gestalt, dass es sich bei Rühmkorfs Einfachheit, Kürze und Leichtigkeit der späten Gedichte sozusagen um raffiniert konstruierte Einfachheit, Kürze und Leichtigkeit handelt. Dies gilt für die Gedichte in Paradiesvogelschiß ebenso wie in Wenn – aber dann. In diesem Punkt sollte es keine Verwechslung mit einem Nachlassen, einer Schwäche der künstlerischen Kraft oder gar mit Naivität geben. Vielmehr handelt es sich um das Indiz einer im Vergleich zu früheren Rühmkorf ’schen Lyrik-Bänden veränderten künstlerischen Haltung. Diese Veränderung lässt sich auch an der Ausdünnung, ja sogar am weitgehenden Verschwinden eines anderen Charakteristikums der früheren Lyrik Peter Rühmkorfs in beiden späten Bänden ablesen, am weitgehenden Verschwinden der prägnanten, oft stabreimenden und darin pointierenden Doppelformeln, die in der früheren Lyrik häufig die Funktion haben, in einem Stilgestus eine gedichtprägende Dialektik kenntlich zu machen. Doppelfomeln wie »zwischen Freund Hein und Freund Heine« (VII,199) oder – in alphabetischer Auswahl – »Aufgeklärt und ausgenüchtert« (VIII,13); »Babel und Belsen« (III,3); »Blut und Benzin« (IV,15); »Denken und Darminhalt« (III,13); »Eifersucht und Atemnot« (III,11); »Einstiche und Ausfälle« (VIII,2); »Ewigkeit und Essenfassen« (II,14); »Fett und Phlogiston« (IV,3); »Frack und Asche« (V,24); »Gas und Gottvertrauen« (VIII,9); »Gesicht und Gesäß« (II,7); »Grünkohlessen oder beim Atemholen« (II,9); »Hirn und Hode« (II,4); »Jagen oder Yoga« (V,47); »Jux und Jammer« (V,34); »Knochenspeer und Hirnharpune« (II,2); »Liebe und 8 Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, S. 111. 9 Ich weise nur knapp Abteilung und Nummer in Rühmkorf: Gedichte, nach.

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Lötzinn« (II,7); »Mystik und Montage« (III,6); »Onanie und Lobgebet« (I,41); »Red und Üblichkeit« (IX,29); »Säer und Sucher« (I,38); »Schläfe und Hosenstall« (II8); »Scylla hier und dort Charybde« (VIII,9); »Seher oder schon Spanner« (IX,30); »Totenschiff oder im Hochzeitsschragen« (VII,11); »Unsinn und Irrfahrt« (V,22); »Wahnsinn und Wasserstoff« (I,43); »Zoten oder Zeichen« (V,40) – solche Doppelformeln also, von denen seit den frühen Gedichten, die in der Werkausgabe im Kapitel »Die Pestbeule« (1947–1952) versammelt sind, bis zu Einmalig wie wir alle kontinuierlich mehr und im Durchschnitt zwei bis drei in jedem Gedicht auftauchen, entfallen in den späten Bänden weitgehend (wenn auch nicht völlig). Ebenso erscheint im lexikalischen Bereich der Gebrauch von Fremdwörtern und witzigen Neologismen stark reduziert. So etwas gibt es hier und da noch – wie in der Zeile »Was ich dir j heute noch a little bittel j fotografisch digital vermittel«10 oder in dem allerletzten Wort von Paradiesvogelschiß: »Dass isses! j Etwas relativ Sui-generisses«11, und etwas häufiger noch in Wenn – aber dann. Alles in allem muss aber auch für den lexikalischen Bereich so etwas wie eine Dämpfung oder Mäßigung festgestellt werden. Und die deutliche Reduktion der Rühmkorf ’schen Doppelformeln nach dem Muster ›zwischen X und Y‹ bzw. ›X oder Y‹ deutet darüber hinaus darauf hin, dass Dialektik als lyrisches Argumentationsmuster und lyrische Sichtweise in den späten Gedichten jedenfalls nicht mehr die Rolle spielt, die sie ehedem gespielt hat. Das Gedichtbuch Wenn – aber dann steht von vornherein unter dem Vorzeichen des Abschieds. Schon in den ersten Zeilen, im einleitenden Gedicht Dichterleben, wird das perspektivierende Stichwort genannt: Lieber Dichter, sage mir : Was verheißt uns dein Papier? Wovon raschelt es und knistert? Gibt es sich in der schweren Abschiedsstund uns verbrüdert, uns verschwistert oder noch was andres Großes kund? Dichter, sprich!12

Wie sich zeigt, wird diese Grundperspektive des Abschieds in den folgenden Gedichten immer wieder auf- und eingenommen und in Facetten, die ein kohärentes Bild ergeben, thematisiert – als Abschied des Dichters – als Ende der Liebe und der Sexualität – als Ende der Freude – als Ende der Energie – als Ende

10 Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, S. 125. 11 Ebd., S. 140. 12 Rühmkorf: Wenn – aber dann, S. 11.

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der Natur – als Ende des Witzes – als Ende der Gattung Mensch – als Ende der literarischen Tradition – als Ende der Lyrik. In dem einleitenden Gedicht Dichterleben markiert Rühmkorf zudem einen im Vergleich zu seiner früheren Lyrik aufschlussreich veränderten Öffentlichkeitsanspruch – Rühmkorf wendet sich in Wenn – aber dann ebenso wie in Paradiesvogelschiß nurmehr als ein Dichter an Leser, die überdies sogar gefragt werden müssen: »Was bewegt euch und wer seid ihr?«13, und die aufgefordert werden: »Seht hin. Lest nach.«14 Die Lyrik in Wenn – aber dann und erst recht in Paradiesvogelschiß ist damit insgesamt und übergreifend deutlich entfernt von dem appellativen Charakter, der in solchen ›marktplatztauglichen‹ Aufforderungen wie »Bleib erschütterbar, doch widersteh«, »Lass deine Anlagen leuchten«, »Komm raus!«, »Phönix voran!« u. a. m. fassbar wird und mit dem sich Lyrik über den begrenzten Kreis von vereinzelten Lesern auch an Rezipienten außerhalb einer Bücher- und Schriftwelt richtet. Rühmkorf nennt in dem Gedicht Aus meinem Alphabetchen den Dichter selbst und seine Rezipienten mit einer neologistischen Substantivierung »Alleine[]«,15 von denen eben weder in wenn aber – dann noch in Paradiesvogelschiß gesagt wird, dass man doch nur gemeinsam stark sein könne. Schon das Einleitungsgedicht von Wenn – aber dann behandelt ausgehend von der Frage an den Dichter Aspekte der Lyrikpoetik, und wegen der exponierten Stellung des Gedichtes darf man hier von einer programmatischen Thematisierung sprechen. Unter anderem heißt es dort in einem das Elegische streifenden Parlandoton: Ach, der Dichter, ja, was kann er fassen? Eigentlich nur eine Regung, eine Rührung, was ihn selbst wie Donnerkeile trifft; doch sein Stift quirlt es dann mit Farben der Verführung, die euch irgendwie in Trance fallen lassen, zu so einer Art von Nervengift – Dies das eine, doch in seinen Krisenzeiten wird er allgemeinverbindlich abgewiesen, selbst in Kreisen, die ihm sonst Ergebenheit erweisen. Dies nochmal in Prosa, also: praktisch Haut er seine Seele auf den Packtisch Und umwindet sie mit buntem Glanzpapier – Aber hütet euch (ich sprech von Irren, Liebeskranken, Säufern) 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 14.

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ihnen allen Ernstes nachzueifern, denn das Ende ist meist kein papiernes: Wannsee – Missolunghi – Sheerness – Wandle hin – und überleg es dir!16

Hier taucht zwar noch die von Rühmkorf bekannte Markt- und Warenmetaphorik zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Dichter und Rezipient auf – ebenso wie in dem letzten Gedicht in Paradiesvogelschiß, es trägt den Titel Botschaft an Kundschaft. Verallgemeinernd und doch auf Rühmkorf selbst bezogen, wird hier der Dichter jedoch vor allem als ein tragisch gefährdetes und auf künstlerische Transformation seiner subjektiven Seelenregungen spezialisiertes Individuum gestaltet, das zumindest nicht ohne Vorbehalte als exemplarisch oder repräsentativ und allgemein aussagekräftig gelten kann. Vom ersten Gedicht in Wenn – aber dann an durchziehen die Anzeichen einer Skepsis, ja Distanzierung von bekannten und bewährten dichterischen Verfahren und Möglichkeiten dieses Gedichtbuch. »Denn der Rhythmus ist immer derselbe,j und die Reime hat jedermann satt«,17 heißt es an einer Stelle; »So aus sind die Lieder gesungen, j ab ab sind die Kerzen gebrannt«18 an einer anderen. »Allem voran der Gedanke an den Reim j mit einer so noch nie erschmeckten j Süßlichkeit behaftet«,19 bestimmt Rühmkorf seine Vorbehalte – und konstatiert, dass »wir zu unsrer Nichtsnutzigkeit j kein kalligraphisches Verhältnis mehr entwickeln konnten«;20 generell wird festgehalten: »Meisterschaft ist ein Irrweg j und die Beherrschung von Proportion und Perspektive j ein Entlassungsgrund«.21 »[H]ältst du es für dein Teil, paar allerletzte j Lebensweisheiten auszukristallisieren«, so Rühmkorf, und er antwortet fragend: » – j Für wen? Für was?«22 Diese wachsende Reserve gegen die Möglichkeiten der Dichtung geht sogar einher mit ihrer Abwertung oder wenigsten einer abwertenden Einschätzung der eigenen dichterischen Möglichkeiten im Vergleich zur bildenden Kunst: »Schon gut, wenn du es spannst, j daß du, wie das so sitzt, mit Wörtern nie j erback-, erbilden kannst«.23 Und diese Reserve wird begleitet von resignativen Resümees im Bezug auf das eigene Leben wie auch auf Welt und Mensch an und für sich: »Du merkst zu spät, das Leben ist gelaufen, j auch, wenn du’s noch so führst«;24 »Wo der Abschied naht, wie soll da Lust sein? j Wahrheit – 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Ebd., S. 11f. Ebd., S. 27. Ebd., S. 42. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Ebd., S. 62. Ebd., S. 33. Ebd., S. 65. Ebd., S. 41.

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Wahnsinn – Vanitas. j Eisern kreist das Selbstbewusstsein j wie ein Geier j überm vorbestimmten Aas«,25 – schließlich noch: »Irgendwas wie das Ende der Gattung in den Knochen«.26 Trotz dieser Reserve selbst gegen den Reim brilliert Rühmkorf hier wie auch in Paradiesvogelschiß tatsächlich mit einer erheblichen Artistik des ungewöhnlichen Reims, der wir sogar ein neues Beispiel für eine Verbindung mit dem Wort »Mensch« verdanken – an einer Stelle reimt Rühmkorf »Pascinschen/ Menschen«;27 und trotz aller Reserve gelingen hier in Wenn – aber dann und auch noch in Paradiesvogelschiß eine ganze Reihe von büchmannreifen Sprüchen wie etwa: »Der Kapitalismus frist seine Kunden.« Freilich sind es tatsächlich häufig goldene Sprüche, wie Rühmkorf nicht ohne Selbstironie in Paradiesvogelschiß formuliert.28 Insgesamt gehen Rühmkorfs poesiologische Vorbehalte einher mit einer übergreifenden Dämpfung der altbekannten manieristisch-scharfsinnigen Formulierungsartistik und -virtuosität, und mehrfach treffen wir anstelle aphoristisch zugespitzter Formulierungen, die das Gesagte plausibilisieren und die aufgrund der stilistischen Brillanz einleuchten, sogar solche schlichten reflexionsträgen Wendungen wie: »so ist es eben«;29 »so einfach war das«;30 »so weit – so gut«.31 Flankiert werden die poesiologischen Bedenken von Vorbehalten, ja sogar ätzenden Polemiken und Prophetien. Das reicht von der Feststellung, dass Dichter nicht dichten und Maler nicht malen können, und führt zu allgemeineren kulturkritischen Bemerkungen wie: In zehn Jahren hat sich’s ohnehin auf der Erde ausgelesen, mit und ohne Schreibreform. Und es fressen Büchermilben erst den Sinn – und dann die Silben32

Rühmkorf wendet sich durchaus auch einer – seiner – politischen Vergangenheit zu und winkt ab: Damals – wie wir – als wir noch jung und unbelehrbar waren: e i n e n Ko m m u n i s m u s , der mit möglichst wenig Blut auskommt und die pausenlos investierten Mühen planmäßig wieder einspielt – 25 26 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Ebd., S. 43. Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, S. 8 (Ballade von den geschenkten Blättern) u. ö. Rühmkorf: Wenn – aber dann, S. 57. Ebd., S. 29. Ebd., S. 48. Ebd., S. 56.

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Der Kampf hat Ihnen kein Glück gebracht und die Welt nicht gebessert. Immer schwieriger mit der Zeit, hier noch eine glaubwürdige Faust zu ballen. Einreden auf den Menschen Mit zauberischer Stimme, daß er was werde, wie Brecht, ja, wer dazu die Macht und die Meinung hätte! I c h m e i n e , da kannst du auch ebensogut auf die Hühner einprügeln, daß sie Eier mit goldenen Schalen legen – Därrrrr Männnnsch, gebildeter als der Ochse, mordseliger als das Wiesel, zählebiger als das Ren,33

Ein zentrales Problem von sozusagen weltgeschichtlicher Dimension, das Rühmkorf wiederholt anspricht, ist das der Überbevölkerung: Ich seh was ich seh und das sag ich dann auch: 70 Millionen neue Erdenbürger im Jahr, 150 in der Minute; das ist mit Hunger allein doch gar nicht gemacht, da müssen erst noch ein paar menschenverneinende Religionen Hinzukommen.34

Und in Schreiber, was siehst du heißt es hierzu: Das Gelobte Land? Ein erleuchtetes Abflußloch. Viel Grund, sich drin zu verlaufen. Fruchtbar sein und euch mehren, das wolltet ihr doch, nun seid ihr zuviel auf dem Haufen. Ja, und immer hübsch ran an den Rand. Und ruhig mal rauf auf die Zehen? Schreiber, was siehst du? Ich sehe, ihr nehmt überhand. Und man hat sich euch übergesehen.35

Nicht »wir nehmen überhand« heißt es hier, und keineswegs werden etwa problemlösende Utopien skizziert und irgendwie förderliche Appelle formuliert, sondern Rühmkorf distanziert sich von ›dem Menschen‹ und ›der Menschheit‹ und signalisiert pauschal: Ich bin keiner von uns und habe mit euch nichts mehr 33 Ebd., S. 90f. 34 Ebd., S. 91. 35 Ebd., S. 94f.

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zu tun! ›Der Mensch‹ ist – »als Mitgeschöpf nicht gerade angenehm«, so heißt es in dem Gedicht Ästhetik des Schreckens, das geradezu menschenfeindlich fortfährt: Wie der Mensch? Zu was? – Wem zu entsprechen? Einem freigelassnen Zwangssubjekt? Dies herauszubringen, brauchst du nur mit dem Bajonett in es hineinzustechen, und du siehst, was von Natur an Scheiße in ihm steckt. Bleibt als Highlight so beschaffner Mängel allenfalls noch seine Himmelssignatur : D e r At o m p i l z ein Gehirn am Stengel, dem Millennium eingebrannt als Kultfigur.36

In all dieser apokalyptischen Negativität klingt hier wie an zahlreichen Stellen in Rühmkorfs späten Gedichten außer der Rede- und Vorstellungstradition des protestantischen Pfarrhauses die Lyrik Gottfried Benns als dichterischer Hintergrund an. Und natürlich pflegt Rühmkorf seine lyrische Onomastik – die Namensnennung geschätzter Vorbilder wie Bellman, Benn, Brecht, Ringelnatz und Morgenstern. Auch gibt es wenige Fälle des nachschaffenden Umdichtens – wie »Minnesangs Abschiedslied. Wilhelm von Aquitanien zum 826. neidisch nachgesungen«37 oder auch »Fredmanns Epistel Nr. 27, seine letzten Gedanken beinhaltend«.38 Schließlich könnte man in der Formensprache seiner Gedichte Elemente eines spezifisch Rühmkorf ’schen Traditionsbezuges sehen – in den allemal locker gehandhabten und häufig eher umspielten als exakt nachgebildeten Hildebrandstrophen, in den Vagantenstrophen, in den terzettartigen Terzinen, in den Gedichten in Freien Versen und in den Gedichten in Madrigalversen (die wohl nicht von ungefähr an Goethes Faust-Dichtung erinnern); hinzu kommen noch Knittelverse, auch das an Arno Holz erinnernde Mittelachsengedicht (Mit halber Kraft voraus!;39 Bilderrätsel wortwörtlich40). Hierher gehören natürlich ebenso die verwendeten Reimformen (die häufig mit ihrer Kreuzreimstellung auf Heinrich Heine oder die Romantik deuten oder als Stabreimtechnik an den ›Dichterdoktor‹ Benn erinnern). Bei all dem kann man sicherlich von Elementen des Rühmkorf ’schen Traditionsbezuges sprechen, der selbstverständlich kein Bezug auf die Literaturgeschichte oder auch nur einen vermeintlich gültigen 36 37 38 39 40

Ebd., S. 60. Ebd., S. 35. Ebd., S. 84. Ebd., S. 117. Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, S. 121.

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germanistischen Kanon ist, sondern selektiv verfährt und eben Rühmkorfs Kanon und Rühmkorfs Dichtungskosmos anzeigt. Wichtiger als solche mehr oder weniger expliziten Hinweise scheinen mir jedoch die eher verbergenden als ausstellenden Anspielungen auf Texte und Autoren zu sein, die so etwas wie eine literarhistorische Unterfütterung vieler lyrischer Gebilde konstituieren, welche sich eben nur denjenigen erschließt, die diese Anspielungen verstehen. Dies scheint mir jedoch gut zu der Poetik der Dämpfung, Einfachheit und Leichtigkeit zu passen, die sich übergreifend feststellen lässt. Im Zusammenhang des Rühmkorf ’schen Traditionsbezuges ist auch darauf aufmerksam zu machen, dass sich Rühmkorf gewissermaßen selbst historisch und vielleicht auch kanonisch wird, denn an einer ganzen Reihe von Stellen spielt er auf eigene Texte an oder zitiert sogar aus ihnen – ähnlich wie dies Benn in seinen späten Gedichten getan hat, ähnlich auch Brecht oder – um ein jüngeres Beispiel zu nennen – der späte Thomas Kling. In der Dramaturgie von Wenn – aber dann stellt das Kapitel IV und hier besonders das Gedicht mit dem Titel Chanson einen Wendepunkt dar. Als ›Liebhaber der Dinge‹ sieht Rühmkorf in den folgenden Gedichten zunächst zwar stärker von den individuellen oder persönlichen Aspekten des Abschiedskomplexes ab und findet vorübergehend besonders im Kapitel V (»Schreiber, was siehst du?«) zu einer politik- und ökonomiekritischen Lyrik in der hierfür notorisch bei ihm verwendeten Form des Langen Gedichtes. Letztendlich präsentiert sich die lyrische Äußerungsinstanz jedoch als machtlos, gescheitert und allein, als jemand, dem es nur noch darum geht, sich selbst Luft zu verschaffen: Nacht, Nacht, und du allein mit dir auf deinem Scherbenhügel. Alle Tafeln zerschlagen. Pakte gebrochen. Eide verletzt. Aber tief aus verballertem Busen den Qualster hochholen nochmal nachräuspern durchladen Ziel nehmen und dann gegen die ganze quotensammelnde Shareholdergesellschaft abrotzen – – – DAS SCHAFFT LUFT!41

41 Rühmkorf: Wenn – aber dann, S. 106f.

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Dieser Akt erleichternder Aggression führt jedoch gesellschaftlich und politisch zu nichts und ist in keiner Weise konstruktiv – so dass sich Rühmkorf »auf die alten Tage« im letzten Gedicht des fünften Abschnittes noch einmal den künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zuwendet und sich vornimmt: Schnell hinwerfen etwas nochmal, was unter Umständen schließlich doch sogar auf Anhieb gefällt: Eine Handvoll Blüten – Zweige – Das japanische Stengelwerk der Kastanien: Haikus mit Pfiff. Impulsgelenkt – nicht terminbestimmt. Und was sich nicht preisen läßt, das laß, verdammtnochmal, liegen.42

Die sechste Abteilung beginnt noch einmal mit einem metalyrischen Gedicht, in dem unter anderem ein »Kunstgesetz« formuliert wird: »Ein Gedicht, das auf sich hält, j das läßt sich gehen«.43 Überwiegend bekommen wir es denn auch in dieser letzten Abteilung mit kurzen Gedichten zu tun, mit Gedichten auch, die rein sprachspielerisch verfahren (wie etwa »Reimfibel«44) oder witzig-paradox den Nonsens streifen, wie etwa »Dreisprung – 3 x vertreten« Alles, was was ist, schmeiß ich auf den Mist. Alles, was was war, spül ich ins Pissoir. Nur was gar nichts werden kann, fang ich gleich noch heute an45

»Capriccios – Bagatellen«, so lautet der zutreffende Titel der sechsten Abteilung, der die dominierende Poetik des Spielerischen mit seinen Grundkonstituenten Einfachheit, Kürze und Leichtigkeit anzeigt. Die Poetik des Spielerischen ist verbunden mit einer Dämpfung oder einem Wegfall der manieristischen Artistik, mit einer reduzierten oder vollkommen fehlenden Ausstattung mit Traditionsbezügen und mit einer Abwendung von politisch und allgemein zeitgeschichtlich kritischer Stellungnahme. Es sind kunstvolle Kleinigkeiten, die durch Vergnügen am Spiel erfreuen sollen. Trotzdem oder gerade wegen dieses Durchgangs durch das Feld der Capriccios und Bagatellen zeigt das letzte Gedicht einen Dichter mit wachsender Zuversicht, ja erneuertem Selbstbewusst42 43 44 45

Ebd., S. 109. Ebd., S. 113. Ebd., S. 122f. Ebd., S. 121.

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sein. Auch wenn er die Frage nach dem Sinn seines Daseins nicht beantworten könne, behaupte er : die Welt alleine, ich meine, ohne mich, das wär doch keine.46

Unter anderem stellt sich dann auch die Frage: »wer betriebe meine Praxis? j Wer wär der Milchmann j in der – nein! – nicht meinen Reimgalaxis?!«47 Das also wird zum Schluss von Rühmkorf als das besondere Charakteristikum seiner Lyrik betont – nicht die Fähigkeit zur Trickesoterik, die Fähigkeit, das Gedicht als utopischen Raum zu gestalten, in dem freier gedacht und geatmet werden könne, nicht Appelle und Agitation, nicht die büchmannreifen ›Schmetterbälle‹ und Sprüche, sondern die Reimkunst, die Rühmkorf in seinem Gedicht Reimfibel48 als rein spielerisches Verfahren ohne alle Belastungen durch erwarteten Beziehungszauber vorführt. Schließt so das Gedichtbuch Wenn – aber dann fast heiter mit der Leichtigkeit des Spiels und der Kleinigkeit, so nimmt der letzte Gedichtband, Paradiesvogelschiß, diese Grundtönung wieder auf und führt sie weiter. Im Anschluss an das einleitende Erzählgedicht Ballade von den geschenkten Blättern, das den Dichter als einen himmlisch Beschenkten präsentiert (und keineswegs als einen po¦te maudit, der seine Seele auf den Packtisch legt), und im Anschluss an die Abbildung von handschriftlich annotierten Typoskripten, die einige lyrische Gebilde in statu nascendi zeigen, finden sich nämlich auf den nächsten 65 Seiten jeweils locker auf die Seite verteilte Sprachzeichengebilde und Texte, die in vielen Fällen in der Rühmkorf ’schen Terminologie als Quanten oder Lyriden zu bezeichnen sind (also Formulierungseinfälle und Sprüche auf dem Weg zum Gedicht), in vielen Fällen aber auch durchaus Kurz- und Kürzestgedichte darstellen (wie etwa das mit Epigramm betitelte Epigramm49). Diese Kurz- und Kürzestgebilde umkreisen erneut die Themen Alter, Tod und Leben, Liebe und Sexualität, Natur, Ehe, Politik und nicht zuletzt das der Gedichtpoetik, und sie verschränken diese Themen vielfach miteinander. Dabei handelt es sich überwiegend um heitere – ich möchte in Anlehnung an Rühmkorf sagen –: Tupfarbeiten –, leicht und leichthändig und ohne alle formale Strenge wie hingeweht über die Seiten verteilt. Zwar wird hier nun eher sachlich festgestellt als beklagt:

46 47 48 49

Ebd., S. 127. Ebd. Ebd. S. 122f. Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, S. 21.

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Manches wird zierlicher, manches brutaler, allseits genierlicher : Dein Feld wird schmaler. Früher die ganze Flur Dir zu Belieben, fast eine Furche nur ist dir geblieben.50

Aber andererseits lassen Zeilen wie die folgenden auch eine vitale Entschlossenheit erkennen: Was ich von den ALTEN lernte, passt mal auf, erst im Alter kommt die Ernte erst zur Reife, dann Verkauf.51

Die schon aus Wenn – aber dann bekannte Skepsis im Hinblick auf lyrische Verfahren und die Bedeutung der Dichtung spricht auch aus vielen der Paradiesvogelschiß-Formulierungen, etwa aus dieser Leider, die Möglichkeiten schwinden, eine neue Stellung im Vers zu erfinden52

Oder aus dieser : Einfach werden – radikal. Kompliziert, das war einmal. Weil, … Subtilität kaum ein Leser noch versteht.53

Oder aus dieser : 1 2 3 für wen schreiben Sie? Die meine Ängste teilen – z. B. daß der Poesie die letzten Kunden enteilen.54

Und auch dieser : Der wahre Ernst geht mit dem Reim verloren (blickgeboren) –55 50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 20. Ebd., S. 22. Ebd., S. 47.

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In einzelnen seiner politischen Paradiesvogelschiß-Formulierungen findet Rühmkorf auch zu erheblichem Witz und solider Schärfe, wie etwa dieser fragmentarisch-tentativen: – – – George Walker Bush – – – wer weiß der große Vergeiger, verklärt von Condoleeza Rice, but’s a smile on a face of a tiger.56

Bei aller Entschlossenheit und Vitalität, vielleicht auch Altersmunterkeit, die aus diesen und anderen Formulierungen sprechen, scheint mir jedoch eine den Gesamtduktus zu bestimmen. Sie lautet: Ein gewaltiges EGAL läßt mich alles mild betrachten.57

Als mild und von einer gewissen »Gleichgültigkeitswarte«58 aus gesprochen, erscheinen dann auch die letzten Gedichte in der Abteilung III von Paradiesvogelschiß – jedenfalls werden alles in allem sehr entspannt noch einmal die bekannten Themen aufgegriffen und zumeist sine ira et studio, mit einem geradezu unerbittlich leichten Schulterzucken, dabei pointiert und in aller gebotenen Kürze abgehandelt. Der Dichter wird am Grabesrand gezeigt, froh darüber, »daß kein Ehrgeiz« ihn treibe, »von jedem Stück Lokuspapier j einen Durchschlag hinterlassen zu müssen«,59 das Zeitgedicht als lyrische Gattung wird ohne Bedauern verabschiedet, da es der Zeitung unterlegen sei,60 drei Weltreligionen wird ein »[u]nverbindlicher Wink übern Gartenzaun«61 gegeben, Kritik an der Parteinahme von Dichtung wird mit milder Ironie kommentiert (»Na, sagt mal!«62) – Dichter, Dichtung und Dichtungsverfahren werden in zumeist kurzen lyrischen Gebilden knapp abgefertigt, nicht zuletzt in dem sechszeiligen Gedicht mit dem Titel Voll im Trend: Land’s End: Gedichte, die den Lesenden enteilen, flott wie bei ntv die Durchlaufzeilen, ade ! – ade ! So en passant erledigt sich das Ende einer Gattung, fragt sich nur, Feuer- oder Erdbestattung – I c h b i n f ü r S e e … 63 56 57 58 59 60 61 62 63

Ebd., S. 22. Ebd., S. 24. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Ebd., S. 116.

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Auffällige Traditionsbezüge werden in diesen letzten Gedichten hergestellt – zu Ovid, zu Sappho, zu Goethe, eines der Gedichte weist auf klassische lateinische Spruchweisheit: Fortes Fortuna adjuvat64 –; schließlich wird in dem allerletzten Gedicht (Botschaft an Kundschaft) betont: Wir fußen doch alle auf andrer Leut’s Köpfen. Leben lustig von Hin- und Widerhallen, aber irgendwas muß dir auch selbst einfallen. Daß die Kundschaft von sich aus bekundet: Dass isses! Etwas relativ Sui-generisses.65

III. Zusammenfassend kann von der späten Lyrik Peter Rühmkorfs nun gesagt werden, dass sie sich bei eingeschränktem Öffentlichkeitsbezug um eine Dämpfung der lyrischen und stilistischen Verfahren bemüht, insgesamt zur Kürze tendiert und die Leichtigkeit der Bagatelle und des Capriccios anstrebt. Sie vollzieht eine Bewegung von einer ›negativen‹ Ästhetik, einer ›Ästhetik des Schreckens‹, zu der des Spiels; fundierend für sie ist allemal ein erkennbares Bewusstsein des Scheiterns und eine ›Gleichgültigkeitswarte‹, bei denen vor allem autorfaktual die nachlassenden und endenden Möglichkeiten des alten Dichters fokussiert werden. Wenn man diesen Gesamtbefund zur späten Lyrik mit Rühmkorfs älterer Lyrik vergleicht, so wird man durchaus feststellen können, dass manches der genannten Elemente bereits dort auftaucht (besonders ab dem Gedicht Druse) – etwa die Thematisierung des Alters und des Alterns oder die Vanitas-Thematik, auch in formaler Hinsicht liegt in der späten Lyrik kein scharfer Bruch mit dem vorangehenden Werk vor. Dennoch konstituieren die genannten Elemente der späten Lyrik zusammengenommen durch Neuakzentuierung – und nicht durch scharfe Neuausrichtung – ein von anderen Werkteilen unterscheidbares Spätwerk. Die leichte, einfache und kurze Behandlung, die Dämpfung des Stils und der lyrischen Verfahren sowie die Fokussierung auf das Spiel und Spielerisches schaffen einen neuen Ton in der Rühmkorf ’schen Lyrik, den als Altersstil zu bezeichnen mir gerechtfertigt erscheint. Die Veränderung in Faktur und Information scheint bei einem Vergleich zwischen dem früheren Werk und der 64 Ebd., S. 138. 65 Ebd., S. 140.

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späten Lyrik eher graduell als grundlegend zu sein, der mittlere Rühmkorf ist in der späten Lyrik durchaus wiederzufinden. Und doch sind die Veränderungen und Verschiebungen so signifikant, dass ich die späte Lyrik als Spätwerk und den Stil des alten Rühmkorf als seinen Altersstil bezeichnen möchte.

Dieter Lamping

Altern als Problem für Peter Rühmkorf

I. Als Peter Rühmkorf 60 wurde, brachte er zur Buchmesse 1989, sich zur Feier, auf einen Schlag gleich drei Bücher heraus: Einmalig wie wir alle, Dreizehn deutsche Dichter und Selbst III/88. Bedenkt man, dass der letzte größere Gedichtband Haltbar bis Ende 1999 zehn Jahre zurücklag, der letzte größere Essay agar agar – zaurzaurim auch schon acht Jahre, war das geradezu eine Demonstration von Kreativität auf der Schwelle zum Alter, das in den Gedichten als Thema auch ständig präsent war. Peter Rühmkorf, so schien es, wollte emphatisch sein Alterswerk beginnen – als eine besonders produktive Arbeitsphase. Einmalig wie wir alle wartet dabei zu Beginn mit zwei Gedichten über das Altern auf. Das erste von ihnen, Der Fliederbusch, der Krüppel, ein »Gedicht vom Fliederbusch, der nicht aufhören mag«, ist ein für Rühmkorf typisches Lob des Vitalismus. Sich selber ironisch reflektierend, nimmt das Gedicht die Natur als Symbol für den »Sieg eines störrischen Eigensinns über die Behinderung«,1 wie es in der nachgestellten Einführung für Schulklassen heißt. Dabei vollführt es eine für die Lyrik Rühmkorfs charakteristische Wendung. Was als verwunderte Beobachtung nicht totzukriegender Natur beginnt, endet als nüchternes, aber nicht hoffnungsloses Nachdenken über den »ganze[n] Kunstaufwand«,2 den Dichter treiben, zumal alternde. »Bißchen rumkramen noch oder bißchen was? j Lieber donner denen einfach noch mal so ein absolut j aus der Richtung weichendes Ding hin«.3 Das zweite Altersgedicht, Die Kunst des Weglassens oder Abschiede alla prima, nimmt den Faden der Kunst-Reflexion auf. Es mustert das Alterswerk einiger großer Maler, die antithetisch zu zwei Gruppen sortiert werden. Der Verehrung 1 Peter Rühmkorf: Über das Dichten nach der Natur. Einführung für Schulklassen, in: ders.: Einmalig wie wir alle, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 10f., hier S. 10. 2 Der Fliederbusch, der Krüppel, ebd., S. 8f., hier S. 9. 3 Ebd., S. 8.

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für »Willembusch, Hiroshige, Rembrandt, Goya, alle wie sie da sind«,4 steht die Kritik an »Ollerkokoschka« – »wohl doch eher Schmierbeutel« – und der »Seniorenkrippe Ecke Leibl / Liebermann« – »hochfahrend – unergiebig«5 – gegenüber. Die großen Alterskünstler versucht Rühmkorf dabei auf eine eigene Ästhetik festzulegen. Sie alle seien »ziemlich sparsam auf ihre letzten Züge« gewesen, hätten sich in »ansatzlosen Wischern« geübt und ihre »Ha n d n o c h m a l j e i n f a c h s o s c h l e i f e n « lassen6. Naß in Naß, schnelle Sache7 heißt die wiederum der Malerei entnommene Formel dafür in Wenn – aber dann. Aus beiden Gedichten ließe sich unschwer eine Poetik des Altersstils gewinnen: als minimalistische Kunst auf der Grundlage meisterlicher Improvisation und sicherer Spontaneität – mit dem Anspruch, eine überraschend neue Wendung im Werk herbeizuführen. Nichts liegt näher, als diese Poetik, durch die prominente Platzierung der beiden Gedichte am Anfang des Bandes, für Programmatik zu nehmen. Doch wer das versucht, gerät auf eine falsche Spur. Denn die Gedichte aus Einmalig wie wir alle lassen sich auf die Poetik des Altersstils, die am Anfang des Bandes formuliert wird, kaum verpflichten. Auf Die Kunst des Weglassens folgt ein Essay Über die Arbeit,8 in dem Rühmkorf sein Verfahren der kunstvollen Verknüpfung von Einfällen und deren immer neuen Überarbeitungen in zahllosen »Fassungen und Varianten«9 – die »Zyklopenarbeit«10 – am Beispiel des nächsten Gedichts Liegestuhl, mein langgestrecktes Leben erläutert. Damit verdeutlicht er genau das Prinzip, das er den »ansatzlosen Wischern« entgegengestellt hatte: »Arbeit, Arbeit, Arbeit, bis aller Schweiß verdunstet ist j und die letzte Anstrengung raus –«.11 Obgleich Rühmkorf die Wischer »auf postkartengroßer Pappe« als eine kleine Form würdigt, hat er im zweiten Drittel des Bandes den Essay Dem ›Langen Gedicht‹ ein langes Leben! – Walter Höllerer zum 65. Geburtstag12 platziert und den ganzen Band demonstrativ mit dem sieben Seiten langen Titelgedicht ausklingen lassen. An die Poetik des minimalistisch-improvisatorischen Altersstils mag dabei allenfalls noch erinnern, dass dieses lange Gedicht als »Fragment« gekennzeichnet ist, allerdings mit der zweideutigen Formulierung: »als Fragment abgeschlossen am 13. September 1989«.13 Einmalig wie wir alle ist keineswegs das einzige Langgedicht des Bandes. In 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Die Kunst des Weglassens oder Abschiede alla prima, ebd., S. 12–15, hier S. 12. Ebd., S. 13f. Ebd., S. 12. Peter Rühmkorf: Wenn – aber dann. Vorletzte Gedichte, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 23. Rühmkorf: Einmalig wie wir alle, S. 16–36. Ebd., S. 26. Ebd., S. 20. Ebd., S. 12 (Die Kunst des Weglassens oder Abschiede alla prima). Ebd., S. 106–113. Rühmkorf: Einmalig wie wir alle, ebd., S. 150–156, hier S. 156.

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seinem Umfang noch übertroffen wird es von dem acht Seiten langen Mit den Jahren… Selbst III/88, dem Rühmkorf durch die separate Veröffentlichung als sozusagen eigene historisch-kritische Ausgabe der Varianten ein besonderes Gewicht verliehen hat. Auch Mit den Jahren… setzt als ein Gedicht über das Alter ein und reiht am Ende merkwürdige deutsche Ortsnamen beziehungsreich aneinander. Diese Reihen sind allerdings mehr noch als Reiseerinnerungen fleißig geerntete Lesefrüchte – gewonnen aus der Lektüre des Postleitzahlenverzeichnisses der Deutschen Post. Schon deswegen ist das Gedicht alles andere als ein »ansatzloser Wischer« auf »postkartengroßer Pappe«. Es ist vielmehr großräumig komponiert und penibel recherchiert, wobei der Arbeitsschweiß vielleicht am Ende doch nicht ganz verdunstet ist. Gedichte wie Der Fliederbusch, der Krüppel, Die Kunst des Weglassens oder Liegestuhl, mein langgestrecktes Leben dürften für Rühmkorf-Leser, schon von ihrem Sound her, vertraut geklungen haben. So hatte er auch schon vor seinem 60. Jahr geschrieben. Es ließen sich noch mehr Beispiele zusammentragen, nicht nur aus Einmalig wie wir alle, sondern auch aus dem folgenden Band Wenn – aber dann. Sie mögen auch so genügen, um eines zu zeigen: Der Altersstil, den Peter Rühmkorf schwungvoll am Anfang von Einmalig wie wir alle feiert, ist nicht seiner. Er beschreibt ihn zwar voller Sympathie – praktiziert ihn selbst aber nicht.

II. Gleichwohl hat Rühmkorf als Lyriker das Thema des Alterns nicht losgelassen. Altern als Problem für Künstler ist in Wenn – aber dann ein Gedicht überschrieben, das nicht nur die Thematik, sondern auch die Antithetik von Die Kunst des Weglassens wieder aufnimmt. Genauer gesagt konfrontiert es zunächst zwei Künstlertypen: So alte Dichter, Gotterbarm, auch alternde Composer, die einen werden täglich harm-, die andern umstandsloser. Die einen seh ich inhaltsleer sich selbst den Rücken kehren. In denen mag man nicht mal mehr die grauen Haare ehren. Fast bis zur Nichtvorhandenheit im Strich zurückgenommen,

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seh ich die andern mit der Zeit erkaltend erst im Kommen.14

Diese drei Strophen akzentuieren die Gegenüberstellung der beiden Gruppen von alternden Künstlern aus Die Kunst des Weglassens etwas anders: als Gegensatz von später Leere und später Reife. Anders als in Die Kunst des Weglassens richtet der Sprecher, den wir auch in diesem Fall Peter Rühmkorf nennen dürfen, am Ende den Blick auf sich selber : Ich selbst geb mich so elitär wie ich halt reduziert bin und tanz auf keiner Hochzeit mehr, wo ich nicht amüsiert bin. Trage mein Irrlicht durch die Welt in einer Stallaterne und sag, je älter, um so seltsamer erglühn die Sterne.15

Der Verweis im Titel auf Benns bekannten Vortrag ist unübersehbar und soll es als Zitat sein. Die Gemeinsamkeiten zwischen Gedicht und Vortrag gehen allerdings über das Thema hinaus. Wie Rühmkorfs Gedicht hat auch Benns Vortrag zwei Teile. Im ersten werden zwei Typen von alternden und alten Künstlern beschrieben: der eine, dem sich das Problem stellt, »Nie wieder erreichen können, was einmal war«,16 und der andere, der meint, dass er erst ganz am Ende seines Lebens aufhöre, »ein matter Stümper zu sein«.17 Im zweiten Teil seines Vortrags widmet sich Benn dann, ähnlich wie Rühmkorf am Ende seines Gedichts, der Frage: »wie sieht das Altwerden und das Altsein vom Inneren der Künstler selber aus?«18 Ausführlich – allerdings auch metaphorisch – spricht Benn dabei von sich selber. Rühmkorf hingegen liefert zur eigenen Charakteristik nur etwas vage Stichworte wie »elitär« und »amüsiert«. Er schließt mit zwei Versen – »und sag, je älter, um so selt- j samer erglühn die Sterne« –, die vielleicht die auffälligsten des Gedichts sind: durch ihren gestauten, fast gepressten Rhythmus und ihren gebrochenen Reim. Auch sie jedoch haben nicht viel von den zuvor beschworenen »ansatzlosen Wischern« und dem hingedonnerten, absolut aus der Richtung weichenden Ding. Solche gereimten Verse nahe am Volkslied kannte man von Peter Rühmkorf seit langem. 14 Rühmkorf: Wenn – aber dann, S. 19. 15 Ebd. 16 Gottfried Benn: Altern als Problem für Künstler, in: ders.: Das Hauptwerk, hg. von Marguerite Schlüter, Wiesbaden, Bd. 2: Essays, Reden, Vorträge, München 1980, S. 360–390, hier S. 369. 17 Ebd., S. 362. 18 Ebd., S. 375.

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Altern als Problem für Künstler ist im Übrigen ein Gedicht, das man eher zu den harmlosen des Verfassers rechnen darf. Man muss es nicht an Benns weit ausholendem, mehr oder weniger witzigem, mitunter auch geschwätzigen Essay messen, um es – mit Rühmkorfs eigenen Worten zu sagen – etwas »unergiebig« und enttäuschend zu finden. In ihm fehlt nämlich fast vollkommen die Reflexion über das ästhetische Problem des Alterswerks: das, was Benn »den Formwandel vom Frühwerk zum späten Stil« nennt.19 Es ist für ihn das eigentliche Problem des alternden Künstlers: daß ein großer Mann seine bisher geübte Methode und Technik, seiner Inhalte Herr zu werden, nicht mehr weiter verwenden konnte, vermutlich weil sie ihm selber überlebt und konventionell geworden vorkamen, daß er aber für seine neuen Inhalte keine neuen Ausdrucksmittel mehr besaß und nun abbrach und die Hände sinken ließ.20

Altern als Problem für Künstler bedeutet für Benn nicht nur, dass der Künstler biologisch altert, sondern mehr noch, dass mit ihm seine ästhetischen Verfahren altern und veralten – so dass er entweder aufhört, weiter zu arbeiten, oder alles ganz anders macht. Rühmkorf hat diese Problematik sehr wohl gekannt, auch etwa am Beispiel Goethes erörtert, er hat sie aber offenbar nicht als seine eigene begriffen. Altern als Problem bedeutet für ihn vor allem: Der Künstler altert. Entweder er verglüht und erkaltet – oder er bildet noch einmal eine neue Vitalität aus, die sich keineswegs in neuen Verfahren und Formen ausdrücken muss. Das ist offenbar sein eigener Anspruch gewesen. Damit hat Rühmkorf aber im Sinn Benns als Lyriker kein Alterswerk entwickelt, weder einen neuen Stil noch neue Formen. Man kann deshalb, in einem chronologischen Verständnis, von seinem späten Werk sprechen, das mit den Büchern seines 60. Jahres beginnt, aber in einem emphatischen Verständnis kaum von einem Alterswerk, in dem der Autor neue poetische Wege eingeschlagen hätte. Der Lyriker Peter Rühmkorf ist nur in Maßen gealtert.

III. Gegen diese These kann man einwenden, dass in Rühmkorfs spätem Werk, zumal in Einmalig wie wir alle, das Alter und das Altern durchaus prominente Themen sind; keineswegs alle, nur die wichtigsten Beispiele dafür sind genannt worden. Allerdings ist das Alter kein neues Thema für Rühmkorf gewesen. Schon 1976 hat Hans Magnus Enzensberger in seiner Rezension der Gesammelten Gedichte Rühmkorf bescheinigt, er sei »ein metaphysischer Dichter«, der 19 Ebd., S. 370. 20 Ebd., S. 374.

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immer von »Zeugung und Tod, Freundschaft und Isolation, Vergänglichkeit und Gram« spreche: »Brot vom ältesten Brot der Dichtkunst«.21 Für die späten Gedichte stellt sich die Situation jedoch noch anders dar. Rühmkorf hat sein 60. Jahr durchaus als Einschnitt empfunden, wie vor allem Tabu I verrät. Der Grund dafür waren neben allerlei körperlichen Beschwerden, die er für Altersgebrechen nahm, vor allem die politischen Umwälzungen von 1989, die man in Deutschland als Vereinigung bezeichnete. Sie waren für das »politische Subjekt«22 Peter Rühmkorf eine schwere Anfechtung, weil er in ihnen den Sieg des Kapitalismus sah, den er lange bekämpft hatte – vergeblich, wie er nun annahm. Diese politische Erschütterung hat natürlich in einigen Gedichten wie etwa dem Einheitslied zum Fertigsingen in Wenn – aber dann Spuren hinterlassen. Dass sie allerdings – mit Benn zu sprechen – einen »Formwandel« bewirkt hätte, lässt sich kaum behaupten. In Einmalig wie wir alle mag allenfalls die Zahl der meist langen Gedichte in freien Versen und freien Rhythmen höher sein als in früheren Lyrikbänden Rühmkorfs. Doch auch das ist, genau besehen, keine Neuerung, sondern nur eine Verschiebung der Schwerpunkte, eine Akzentverlagerung. Schon in Wenn – aber dann dominieren wieder gereimte, nicht selten liedhafte Formen, erkennbar an Gedichten wie Kringel für Ringel, Minnesangs Abschied, Chanson, Fredmans Epistel Nr. 27, seine letzten Gedanken beeinhaltend oder Duocentenarperformance Intercity »Heinrich Heine«. Insgesamt scheinen die späten politischen Gedichte Rühmkorfs seine nur im ersten Moment überraschende Feststellung zu bestätigen, »daß die Politik meine wirklichen Künste immer nur oberflächlich berührt hat«.23 Sein »ungute[s] Gefühl, alle mir möglich gewesenen Erfindungen schon gemacht und die in meiner Hand liegenden Striche bereits gekritzelt zu haben«,24 kann man auch so verstehen, dass er sogar die späte Erschütterung seines politischen Weltbildes in den bereits von ihm entwickelten Formen und Verfahren auszudrücken versucht hat: ein Zeichen eher von Beharrlichkeit als von Experimentierfreude. Man kann gegen die These vom fehlenden Altersstil schließlich auch noch einwenden, dass es in Rühmkorfs spätem Werk durchaus spontan-improvisierte Gedichte gibt, wie er sie in Die Kunst des Weglassens gelobt hat. Allerdings haben sie nicht unbedingt Eingang in seine letzten drei Lyrikbände gefunden. Ihr Ort ist zunächst das Tagebuch. In Tabu I – und in Tabu II grundsätzlich nicht anders – sind nach den üblichen chronistischen Notaten zum Tagesgeschehen außer Porträtskizzen, essayistischen Aufzeichnungen und Aphorismen auch immer wieder Verse zu finden – nicht immer ganze Gedichte, oft nur Strophen oder 21 Hans Magnus Enzensberger : Albumblatt für Peter Rühmkorf, in: ders.: Scharmützel und Scholien. Über Literatur, hg. von Rainer Barbey, Frankfurt a. M. 2009, S. 688–693, hier S. 689. 22 Peter Rühmkorf: Tabu I. Tagebücher 1989–1991, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 301. 23 Ebd., S. 280. 24 Ebd., S. 270.

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einzelne Zeilen. In den meisten Fällen sind es – gemäß der Poetik Rühmkorfs – Einfälle, die er zur späteren Verwendung im Tagebuch deponiert hat. Doch manchmal ist es auch mehr, was er flüchtig aufschreibt, kaum dass es formuliert ist. So spricht er etwa bei den Vergessen zu grüßen überschriebenen Versen in einer an Die Kunst des Weglassens erinnernden Schubert-Anspielung von einem »Impromptu«.25 Gelegentlich erwähnt er auch, weniger anschlusshaft, »überhängige Lyriden (Quarks)«,26 die er vorsorglich festhält, oder »kleine disperte Lichtblicke, die ich nur ungern auf die Marbacher Müllhalde absegeln sehe«.27 Dabei charakterisiert er das eine oder andere Mal gleich sein literarisches Verfahren: »Asso-Geknatter als Nachhall«,28 und er schreibt dazu: »Wenn die Methode verrückt genug ist, kann beim Dichten praktisch gar nichts mehr schiefgehen.«29 Manche dieser Verse hat Rühmkorf später weiterverarbeitet. Manche hat er aber auch für sich stehen lassen. Darunter sind sprachspielerische oder lautmalerische, etwa der Phonetischen Konkreten Poesie nahe Nonsensverse wie: Der Löffel am Gatter meinen Segen hat er wie er am Gatter rattattattatt bis Latt um Latt um Latt um Latt der Lattenzaun ein Ende hat –30

Den Anlass für dieses kleine Impromptu hat Rühmkorf auch festgehalten: »Kleiner Junge mit Kochlöffel am Lattenzaun entlang«.31 Spielerisch scheinen einige der lyrischen Einfälle gleich ihre Form gefunden zu haben. Mit einem Zweizeiler etwa nähert sich Rühmkorf zwanglos dem Epigramm: 1 2 3 4 – das ungelernte Ich. Es weiß nicht viel, doch es erkundigt sich.32

Vielleicht das Äußerste an Form und Inhalt, was aus den Einfällen auf die Schnelle, beim fast synchronen Aufschreiben, herauszuholen ist, hat ein kleines zweistrophiges, siebenzeiliges, unregelmäßig gereimtes Gedicht zu bieten, das etwas überarbeitet den Weg in Wenn – aber dann gefunden hat. Ich zitiere die Tagebuchfassung: 25 26 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 59. Ebd., S. 134. Ebd., S. 61. Ebd., S. 98. Ebd., S. 93. Ebd., S. 140f. Ebd., S. 140. Ebd., S. 252.

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Der Seher Die Hände vorm Gesicht – ich sehe – sehe: den Blitz und wenn es donnert, bin ich hin – E i n s c h l ä g e ! – zwei, drei, vier, schon ziemlich in der Nähe, bis – rumms – ich auch schon war was ich noch gerade eben bin33

Es ist nicht schwer zu erkennen, was den Autor an diesen Fingerübungen gereizt hat: die überraschende Pointe, der Witz, die Kürze. Genauso leicht ist aber auch die ästhetische Limitierung solcher spontan improvisierten Verse zu erkennen, die Rühmkorf zur selben Zeit bewogen hat, sich größeren und komplexeren poetischen Gebilden zuzuwenden. Aber ist dieses einfallsnahe Schreiben wirklich neu im lyrischen Werk Rühmkorfs und somit überhaupt Altersstil? Manches wie das erste Beispiel erinnert an einschlägige Verse aus Über das Volksvermögen, anderes an die Epigramme aus Kleine Fleckenkunde. Gerade diese oft nur zwei- oder vierzeiligen Gedichte kommen zumindest der von Rühmkorf erst gut ein Jahrzehnt später entworfenen Poetik des Altersstils erstaunlich nahe, nicht nur durch ihren auf Überraschung setzenden Witz und ihre bündige Kürze. Sie kommentieren auch eben solche spontanen Wischer oder Kleckse auf Postkartengröße, wie sie Rühmkorf bei »Willembusch, Hiroshige, Rembrandt, Goya« bewundert – nur mit dem Unterschied, dass es sich nicht um die späten Geniestreiche alter Meister handelt, sondern um ein fast jedermann, sozusagen aus dem Volksvermögen zur Verfügung stehendes Falt- und Knick-Verfahren. Allerdings sind diese epigrammatischen Gedichte bereits sieben Jahre vor Einmalig wie wir alle veröffentlicht worden. Zu der Form ist Rühmkorf dann in den Sprüchen von Paradiesvogelschiß zurückgekehrt, von denen das eine oder andere noch die Spur der Spontaneität behalten hat. Die späten Gedichte Rühmkorfs von Einmalig wie wir alle bis zu Paradiesvogelschiß bilden im Ganzen kaum ein lyrisches Alterswerk im strengen Sinn. Statt der Kunst des Weglassens kennzeichnet sie eher die des Fortführens, statt der Kunst des Neumachens eher die des Weitermachens, statt Form- und Stilwandel eher Wiederholung. Sie stellen mit einem Wort mehr die Summe der poetischen Kunst Rühmkorfs als ihre späte Umkehrung dar. Ein solcher Befund gilt vielleicht nicht nur für die Lyrik. Zwar scheint unter den Büchern, die Rühmkorf nach seinem 60. Jahr veröffentlicht hat, das Tagebuch die große Neuerung in seinem Werk zu sein – vielleicht sogar der eigent33 Ebd., S. 171f.

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liche Schwerpunkt. Vor allem Tabu I ist nicht nur umfangreicher als jedes andere seiner früheren wie seiner späteren Bücher. Auch die diaristische Form scheint neu für Rühmkorf. Bis dahin hatte er sich als Erzähler nur an Märchen und autobiografischer Prosa geübt. Gleichwohl ist das Tagebuchschreiben neu in seinem veröffentlichten Werk nur in der Konzentration. Schon Die Jahre die Ihr kennt beruht offensichtlich zu einem großen, ja wohl dem größten Teil auf Tagebuch-Aufzeichnungen. Ganze Abschnitte bestehen, kaum, mitunter gar nicht verändert, aus solchen Notaten, etwa der Bericht über die Chinareise oder der über den USA-Aufenthalt. Am Ende geht der autobiografische Bericht sogar vollkommen in das Tagebuch über. Insofern das späte Tabu I formal an die mehr als 20 Jahre älteren Anfälle und Erinnerungen anknüpft, ist es gleichfalls mehr eine Fortsetzung als ein literarischer Neueinsatz.

IV. Etwas zugespitzt könnte man resümieren: Der späte Rühmkorf ist zumindest formal und stilistisch ganz der alte, das heißt: der junge. Er ist ein Autor, der, vielleicht überraschend, ein vergleichsweise hohes Alter erreicht hat, aber dennoch kein Alterswerk, keinen Altersstil ausgebildet hat. Ihm als einem sich ständig selbst beobachtenden Subjekt ist dieses Paradox nicht entgangen. In einem Interview mit der Wiener Arbeiterzeitung, das er ungekürzt in Tabu I aufgenommen hat, äußerte er sich zu diesem Problem: Wenn ich mir die Bücher ansehe, die ich als ganz junger Spund geschrieben habe, und dann jetzt die neueren und neuesten danebenhalte, kann mir schon mal der Schrecken ins Gebein fahren. Weil ich zugeben muß, daß ich mich fast gar nicht entwickelt habe.34

Diese Diagnose mag ein bisschen übertrieben sein, grundsätzlich aber zutreffen. Schon früh hat Rühmkorf über sein literarisches Repertoire verfügt: Lyrik und Kritik, auch literarische Essayistik, vom Kabarett herkommendes Theaterspiel, chronistisches und diaristisches Erzählen, dazu ein hybrider Stil mit hoher Pointendichte und einem großen Anteil an Wortspielerei, und das alles stets dezidiert subjektiv. Das ist nicht wenig, auch wenn dabei fehlt, was großen Publikumserfolg garantiert, etwa das epische Erzählen. Der Zeitroman, den Rühmkorf in Tabu I immer wieder bedenkt, ähnlich wie Lichtenberg seine ungeschriebenen Romane, ist nicht zustandegekommen. Ganz zu schweigen von einer Welthaltigkeit und Weltläufigkeit, die sich bei einem Hans Magnus Enzensberger von Anfang an finden. 34 Ebd., S. 114.

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Aus der Interviewäußerung kann man den Schluss ziehen, dass Altern für Peter Rühmkorf ein Problem war, aber wohl kein allzu bedrängendes. Dass dieser Dichter sich »fast gar nicht entwickelt« hat, mag allerdings mit allen Vorstellungen von künstlerischer Reife kollidieren, die auch in der Literaturwissenschaft zu finden sind. Dass ein Autor im Alter noch einmal oder erst richtig zu sich finde, sein Werk abschließe und zur Vollendung führe, ist eine weitverbreitete, durchaus mit Wertschätzung verbundene Ansicht. Dafür gibt es auch unter den deutschen Lyrikern von Goethe bis Rilke große Beispiele; selbst Gottfried Benn zählt noch zu ihnen. In der Moderne hat diese ästhetische Ansicht eine besondere Akzentuierung erfahren. »Das zentrale Dogma«, schreibt Susan Sontag dazu, »ist der Gedanke, daß die Kunst sich entwickeln muß. Das Ergebnis ist das Werk, das in erster Linie darauf abzielt, die Geschichte der Gattung voranzutreiben, Neuland zu erobern im technischen Bereich«.35 Schon durch seinen bereits von Enzensberger konstatierten Traditionalismus entzieht sich Peter Rühmkorf weitgehend dieser Kategorie. Zu seiner ästhetischen Ehrenrettung muss man sie allerdings nicht mit dem anderen Klischee vom jung gebliebenen Alten zu konterkarieren versuchen, wenngleich Rühmkorf selbst von seinem Wunsch nach ewiger Jugend mehr als einmal geschrieben und gesprochen hat. Man kann seinen Fall, jenseits aller literaturkritischen Umwertungsversuche, zunächst auch nur typologisch nehmen. Dann steht er für den Schriftsteller, dessen Werk nicht von markanten Veränderungen, sondern von Kontinuität, nicht von unerwarteter später Entwicklung, sondern von der eher raschen Entfaltung des Talents und dessen mehr oder weniger bruchloser Fortführung bis zum Schluss gekennzeichnet ist. Das späte Werk eines solchen Autors muss keineswegs der Abwertung unterliegen, wenn es kein Spätwerk ist. Es ist in seinem Wert zunächst für sich zu beurteilen, von seiner ästhetischen Qualität her, ohne dass die wiederum eine Neuerung im Werk oder in der Geschichte der Gattung darstellen muss. Dass Rühmkorf ein – etwa Goethe vergleichbares – Alterswerk nicht vorgelegt hat, liegt in der Logik seiner schöpferischen Persönlichkeit begründet. In Tabu I hat er gelegentlich darüber reflektiert, dass er sich immer bestimmten männlichen Rollen entzogen habe: »Sich der Mannbarkeit verweigern: ein lebenslängliches tiefes Befremden gegenüber Vater-, Männer-, Krieger-, Chef- und Haushaltsvorstandsrollen«.36 Zu diesen Rollen kommt sicherlich noch die des altersweisen Autors hinzu. Peter Rühmkorf wollte offensichtlich keine grauhaarige Autorität darstellen, auch nicht literarisch. Symptome dafür, unter

35 Susan Sontag: Nathalie Sarraute und der Roman, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt a. M. 1982, S. 143–155, hier S. 143. 36 Rühmkorf: Tabu I, S. 250.

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vielen, sind seine Vorbehalte gegen die »apodiktische Schreibweise«37 und ihre nicht mehr zu diskutierenden Abschlüsse, sein oft dezidiert respektloser Ton, seine allfällige Ironie und Selbstironie als Mittel ständiger Infragestellung und Sich-Infragestellung. In einem tiefen Sinn war Rühmkorf ein antiautoritärer Schriftsteller. Die andere Seite dieser Haltung ist der Mangel an Entwicklung. Für Rühmkorf blieb deshalb letztlich wohl nur eine Art von »Altersstil« übrig: als »Auslaufproduktion – total am Bildschirm vorbei«.38 Das sollte, wie er in Tabu I schreibt, vor allem meinen, »daß man gegenüber den sich jagenden Moden und Saisonen einigermaßen stabil geblieben ist«.39 Wie vieles in Tabu I mag das am Ende mitunter ziemlich pessimistisch klingen. Rühmkorf selbst hat vor allem im Tagebuch immer wieder von seinen diversen Altersbeschwerden, ja von seinem Unbehagen am eigenen Alter geschrieben, doch hat er auch, fast nebenbei, kurz und bündig ein schönes Schlusswort zum Thema Altern als Problem für Künstler formuliert: »Alter gut – alles gut.«40

37 38 39 40

Ebd., S. 257. Ebd., S. 193. Ebd., S. 114. Ebd., S. 143.

Christoph Hilse

Das »bombensichere Liegeplätzchen« – Der Nachlass von Peter Rühmkorf im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Ein Werkstattbericht

I.

Die Erwerbungsgeschichte des Nachlasses von Peter Rühmkorf

Abbildung 1: Peter Rühmkorf am Schreibtisch in Övelgönne

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Christoph Hilse

Als »eine durchgehende Dokumentation eines zeitgenössischen Schriftstellerlebens«1 bezeichnete Peter Rühmkorf einmal die Gesamtheit der Materialien – Manuskripte, Briefe, Dokumente, Bilder und Fotos sowie Ton- und Filmaufnahmen und unzählige Bücher –, deren Überlassung nach seinem Tode er dem Deutschen Literaturarchiv Marbach im Jahr 1985 endgültig zugesichert hatte. Wie es zu dieser Entscheidung kam, und wie das Archiv seit Dezember 2009 die Ordnung und Katalogisierung des Nachlasses bewältigt, soll dieser Aufsatz erläutern. Als Quelle für die Darstellung der Erwerbungsgeschichte des Nachlasses von Peter Rühmkorf diente mir dessen umfangreiche Korrespondenz mit dem DLA im Briefnachlass und in der Korrespondenz-Ablage des Hauses. Der anschließende Werkstattbericht speist sich aus den Erfahrungen, die im Arbeitsalltag beim Umgang mit dem Nachlass gemacht wurden.

Abbildung 2: In der Cafeteria des Deutschen Literaturarchivs Marbach

Ab wann Peter Rühmkorf erstmals die Übergabe seiner Manuskripte ans DLA in Erwägung zog, ist trotz der vermutlich vollständig vorliegenden Korrespondenz des Dichters mit dem Haus nicht mehr sicher festzustellen. Jedenfalls war Rühmkorf nicht der erste Schriftsteller, der seine ›Sachen‹ als Vorlass, also Nachlass zu Lebzeiten, angeboten hat – der erste war wohl Martin Heidegger –, 1 Peter Rühmkorf an Peter-Paul Schneider, Brief vom 30. 9. 1984, Nachlass Rühmkorf (DLA).

Der Nachlass von Peter Rühmkorf im Deutschen Literaturarchiv Marbach

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aber zweifelsohne der jüngste: Er hielt sich Ende 1979, ein paar Wochen nach seinem 50. Geburtstag, zu einer Lesung in Marbach auf, und es steht zu vermuten, dass anlässlich dieses Besuches der Gedanke in Peter Rühmkorf keimte, das Deutsche Literaturarchiv zum Verwahrer seiner Manuskripte zu bestimmen. Es gibt in der Folge dieses Besuchs mehrere Belege, die dokumentieren, dass die Idee recht rasch umgesetzt wurde. Denn schon im Juli 1980 fuhr ein Mitarbeiter des Archivs, der Kunsthistoriker Hans-Dieter Mück,2 nach Hamburg, um erste Manuskriptsammlungen Rühmkorfs in Empfang zu nehmen. In einer Aktennotiz schrieb er über den Besuch: Am 11. und 12. Juli 1980 holte ich ein größeres Konvolut an Manuskripten, Briefen und Tagebüchern bei Peter Rühmkorf ab. […] Herr Rühmkorf stimmte zu, den Nachlaßbestand in unserem neuen Nachlaßverzeichnis aufzuführen, allerdings mit dem Hinweis ›Gesperrt‹. Nach der Vorordnung gibt er Manuskripte, Vorarbeiten zu den Manuskripten und den Briefwechsel frei. Die Tagebücher müssen gesperrt bleiben bis nach seinem Tod. […] Im Oktober wäre bei Peter Rühmkorf aus seinem Haus bei Langenburg nochmals eine größere Materialmenge abzuholen […]. Rühmkorf hat uns den Briefwechsel mit Kurt Hiller, Döblin, H. H. Jahnn usw. bis in einigen Jahren versprochen, denn im Augenblick möchte er sich noch nicht davon trennen.3

Im Übrigen sei auch Eva Rühmkorf4 mit der Überlassung einverstanden, berichtete Mück im weiteren Verlauf der Aktennotiz. Ferner wird der Besuchstermin in einem Brief Mücks an Rühmkorf vom 8. 7. 1980 angekündigt, ebenso in einem Tagebuch-Eintrag Rühmkorfs erwähnt, wo dieser davon schreibt, er stoße nun den Hauptteil seiner Sammelsurien ab – was zum damaligen Zeitpunkt zugetroffen haben mag, aus heutiger Sicht und nach heutigem Kenntnisstand aber eher mit dem Begriff Bruchteil hätte bezeichnet werden sollen: Warten auf Mücki/Marbach, der Nachlaß abholen soll. Einen (den Haupt-)-Teil der Sammelsurien abstoßen! – […] Mit Mücki die Wahnsinns-Fuhre – große Karre! – nach Neumühlen gebracht: die Papier-Seite, die In-effigie-Materialisation meines gesamten Lebens! ¢¢ Jetzt nach Schwaben abschwirrend, wozu ich keinerlei Beziehung habe außer diesen Mückischen, doch ob noch haltbar? –5

Wenig verwunderlich erscheint es – insbesondere im Hinblick auf den zitierten Eintrag und dessen etwas wehmütigen Unterton –, dass Rühmkorf damals den Bestand für die Benutzung durch die Allgemeinheit zunächst hatte sperren, sich 2 Hans-Dieter Mück, geb. 1947, Kunsthistoriker, von 1978 bis 1984 am Deutschen Literaturarchiv Marbach tätig. 3 Aktennotiz vom 16. 7. 1980, DLA. 4 Eva Rühmkorf (1935–2013), Psychologin, seit 1964 mit Peter Rühmkorf verheiratet. 5 Tagebuch Peter Rühmkorf, Eintrag vom 12. 7. 1980; Nachlass Rühmkorf, Sperrbestand (DLA).

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selbst dagegen gleichzeitig jederzeitigen Zugriff auf seine Papiere hat versichern lassen – er stand in der Mitte seines Arbeitslebens, benötigte das Material noch selbst und wollte seine Arbeit nicht ohne eigene Genehmigung ausgewertet oder beurteilt sehen. Die Versicherung Rühmkorfs, regelmäßig nach Marbach zu kommen, um bei der Ordnung des Bestandes mitzuwirken, ist dennoch bemerkenswert. Von der Überführung bis zum ersten Aufenthalt vergingen jedoch fast 12 Monate. Von da an ordnete er in den folgenden Jahren etwa zwei Drittel des Vorlasses, der in den Magazinen des Deutschen Literaturarchivs lagerte und dessen Umfang im Laufe der Zeit auf 59 Kästen angewachsen war, nach der geltenden Systematik der Handschriftensammlung. Anfang 1984, wenige Jahre nach dieser ersten Übergabe, wechselte der Germanist Peter-Paul Schneider6 an das Deutsche Literaturarchiv Marbach. Peter Rühmkorf kannte Schneider aus dessen Zeit an der Universität Bamberg sehr gut, und dieser wusste bereits von den Manuskripten des Dichters in den Magazinen des DLA. Weil Hans-Dieter Mück das Haus zu diesem Zeitpunkt verlassen hatte, lag es nahe, dass sich Schneider als persönlicher Verwalter der Rühmkorf ’schen Papiere anbot und sich von nun an um die archivarischen Bedürfnisse und Belange des Dichters kümmerte. Im ersten Brief aus Marbach, vom 16. 5. 1984, zitierte Schneider zur Begrüßung einige Zeilen des Essays Rühmkorfs, in dem dieser das Vorhaben, seinen Nachlass an das Deutsche Literaturarchiv zu geben, an die Öffentlichkeit trug und gleichzeitig dokumentierte, wie sehr er sich inzwischen mit dieser Vorstellung angefreundet hatte. Es handelt sich um den Beginn eines Textes, der am 4. 5. 1984 in der Zeit unter dem Titel Das Gesetz des schnellen Marktes (siehe Abbildung 3), später unter dem bekannteren Titel Bindet die Bauchläden fester veröffentlicht wurde.7 Rühmkorf bekennt darin gleich am Anfang: Für wen schreiben Sie? Wer, ich? Also im Zweifelsfall immer noch für die Handschriftensammlung im Marbacher Literaturarchiv, denn wer keine Nachwelt mehr vor sich weiß, der tut gut, sich beizeiten nach einem bombensicheren Liegeplätzchen umzusehen.

Rühmkorf greift in seiner Antwort vom 30. 9. 1984 Schneiders Ansinnen, sich persönlich um den Bestand zu kümmern, erfreut auf und geht ausführlich auf die Nachlass-Thematik ein: Nachdem er die bisherige Entwicklung und den Stand der Dinge zusammengefasst hat, äußert er den Wunsch, weitere Teile seiner Materialien zu Lebzeiten bzw. eines Tages – spätestens nach seinem Tod – seinen vollständigen Nachlass nach Marbach überführen zu lassen, hebt aber auch die 6 Peter-Paul Schneider (1949–2014), Literaturwissenschaftler, 1984–1999 am DLA tätig. 7 Peter Rühmkorf: Bindet die Bauchläden fester, in: ders.: Bleib erschütterbar und widersteh. Aufsätze ¢ Reden ¢ Selbstgespräche, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 244–258.

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Abbildung 3: Ausschnitt aus dem Typoskript des Essays Das Gesetz des schnellen Marktes

Notwendigkeit heraus, dies möglichst bald schriftlich zu fixieren und die Rahmenbedingungen festzulegen, da die ganze Nachlass-Angelegenheit bislang nur auf mündlichen Absprachen beruhe: Der nach Marbach gelieferte ›Nachlaß zu Lebzeiten‹ schwelt nämlich immer noch als wilde Deponie vor sich hin, richtig geklärt ist noch nichts, kein Vertrag liegt vor außer freundschaftlich-mündlichen Hinundherversicherungen […]. Ich hänge von mir aus sehr an Marbach als einer letzten Ruhestätte […]. Es ist ja auch gar nicht ganz so gering, was sich in Euren bombensicheren Tiefen bereits von mir abgesetzt hat, eine durchgehende Dokumentation eines zeitgenössischen Schriftstellerlebens […] – und der gute Wille des Verfassers, bei der schlußendlichen Ordnung und Katalogisierung Hilfe zu leisten […].8

Nicht unerwähnt lässt Rühmkorf den Umstand, dass es einen zweiten Interessenten, eine weitere Institution gebe, die sich als Nachlassbewahrer für die noch in Hamburg befindlichen Papiere angeboten habe – jedoch ohne diese konkret zu nennen. Sie stehe auch erst an zweiter Stelle, weil er seine Papiere nicht aufteilen möchte. Ferner geht er in diesem Brief erstmals darauf ein, für die Überlassung eine Vergütung erhalten zu wollen, um auch in späteren Lebensphasen, gewissermaßen als gealterter Dichter, noch arbeiten und angemessen leben zu können. Und er bestimmt, dass verschlossene Tagebücher und Privatkorrespondenzen erst 50 Jahre nach seinem Tod oder nach dem seiner Ehefrau Eva eröffnet werden dürften. Allerdings ist dieser Brief das einzige Schriftstück, in dem der Zeitraum der Sperrfrist so konkret benannt wird. Einerlei, das Datum hat sich gehalten und wird allenthalben in der Öffentlichkeit kolportiert. 8 Peter Rühmkorf an Peter-Paul Schneider, Brief vom 30. 9. 1984, Nachlass Rühmkorf (DLA).

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Der auf die ersten beiden Briefe folgenden Korrespondenz kann man dann entnehmen, dass tatsächlich seit September/Oktober 1984 konkret über die Rahmenbedingungen für die Überlassung des Nachlasses verhandelt wurde. Die beiden Parteien trafen sich dazu sogar auf der Frankfurter Buchmesse 1984: Neben Peter-Paul Schneider war auch der damalige, vor seiner Pensionierung stehende Direktor des DLA, Bernhard Zeller,9 an der Anbahnung des Vertrages beteiligt, dessen Abschluss nach einigen weiteren, vor allem schriftlichen Absprachen, Änderungen derselben, Bestandsaufnahmen, juristischen Prüfungen und Überarbeitungen der Urfassung im September 1985 erfolgte, als letzte Amtshandlung Zellers. Es war vereinbart worden, dass zunächst weitere Teile des Vorlasses, spätestens nach Rühmkorfs Tod der vollständige Nachlass des Dichters, ins DLA überführt und dort auch erschlossen werden. Erleichtert schreibt Rühmkorf anschließend in einem Brief an Schneider : […] ich bin unendlich befreit, die Überlebens- und die Nachfolgefrage auf einen Zug gelöst: […] Bei liegen die 2 zurückgewünschten Ausfertigungen; mit der 3. werde ich demnächst zum Anwalt segeln, um den Casus auch testamentarisch abzusichern.10

Die erste Charge des Vorlasses nach Abschluss des Vertrags traf bald darauf im DLA ein, es folgten kontinuierlich weitere Lieferungen – schließlich umfasste der Bestand 100 grüne Archiv-Kästen. Rühmkorf reiste selbstverständlich weiterhin nach Marbach, um vor Ort seine Unterlagen zu ordnen oder einzusehen und sie dafür wie ein Archivbenutzer zu entleihen (siehe Abbildung 4). Andererseits wurden auch Teile dieses Bestandes, z. B. für Vorarbeiten an den Tabu-Veröffentlichungen, die 2004 erschienene Bibliographie oder die Werkausgaben, wieder zurück nach Hamburg transportiert. Im Jahr 2003 schließlich hatte Dr. Jan Bürger im DLA die Aufgabe übernommen, sich um Peter Rühmkorf und dessen Nachlass-Angelegenheiten zu kümmern und den Bestand wissenschaftlich zu betreuen. Bald darauf, im November 2005, wurde zusätzlich zum Kaufvertrag von 1985 noch ein Kooperations-, Archiv- und Editionsvertrag abgeschlossen, zwischen Eva und Peter Rühmkorf, dem DLA und der Arno Schmidt Stiftung in Bargfeld, da diese eines Tages die Urheberrechte des Dichters übernehmen sollte. Dieser Vertrag regelte die Weiterbetreuung, Nutzung und Edition des Nachlasses. Hierin wurde u. a. festgelegt, dass baldmöglichst nach Rühmkorfs Tod mit der vollständigen Erschließung der Manuskripte begonnen werden sollte. Als Resultat aus einer Versuchsphase gab es zu diesem Zeitpunkt lediglich einige wenige verzeichnete Archivalien aus Kästen des Vorlasses im Marbacher Katalogssystem. 9 Bernhard Zeller (1919–2008), Literaturwissenschaftler, 1955–1985 Direktor des DLA. 10 Peter Rühmkorf an Peter-Paul Schneider, Brief vom 9. 10. 1985, Nachlass Rühmkorf (DLA).

Der Nachlass von Peter Rühmkorf im Deutschen Literaturarchiv Marbach

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Abbildung 4: In der Kopierstelle des Deutschen Literaturarchivs Marbach

Nach Peter Rühmkorfs Tod am 8. Juni 2008 dauert es noch bis Mitte des Jahres 2009, bis der auf Rühmkorfs Lebensorte verteilte Dichternachlass gesichtet worden war und ans Deutsche Literaturarchiv Marbach übergeben werden konnte. Als die nach damaligem Kenntnisstand vollständigen Hinterlassenschaften im DLA angekommen waren, war der ursprüngliche Bestand von 100 auf geschätzte 620 grüne Marbacher Archivkästen angewachsen. Es handelte sich um allerlei Arten von Manuskripten, Lebensdokumenten und Gegenständen, dazu zahlreiche Ordner mit Korrespondenz, einige bis zum Rand mit Manuskripten gefüllte Umzugskartons sowie große Metallkisten mit zu sperrenden Briefen und Tagebuchaufzeichnungen. Einige Nachlieferungen, ebenfalls immer in der Größenordnung von mehreren Umzugskartons, die insbesondere nach Eva Rühmkorfs Tod 2013 übernommen werden konnten, ergänzten den Bestand. Auch die erste Hälfte der Rühmkorf-Bibliothek ist inzwischen im DLA untergebracht und aufgestellt worden, dazu etliche Tonträger und digitale Speichermedien mit dem audiovisuellen Nachlass Rühmkorfs. Es ist der bisher größte Einzelnachlass, der im Deutschen Literaturarchiv aufbewahrt wird.

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Abbildung 5: Impressionen aus Rühmkorfs Arbeitszimmer im Dachstuhl des Hauses Övelgönne 50 in Hamburg

II.

Der Nachlass zu Beginn des Erschließungsprojekts – die Rahmenbedingungen

Wie wird man einer solch großen Menge an Materialien Herr? Wie geht ein Archiv vor, um einen solchen Riesennachlass bewältigen, also erschließen zu können? Neben dem Personalbedarf gilt es vor allem, den Zeitfaktor bei der Planung richtig einzuschätzen: Der Nachlass soll schließlich in absehbarer Zeit der Forschung zur Verfügung gestellt werden können. Es liegt auf der Hand: Die Bearbeitung des Rühmkorf-Nachlasses sprengt selbst in einem so großen Archiv wie dem DLA Marbach den Rahmen der alltäglichen Arbeit der Bibliothekare und Archivare. Deshalb wurde ein durch die Arno Schmidt Stiftung finanziertes und unterstütztes Drittmittelprojekt ins Leben gerufen. Für die Bearbeitung des Nachlasses wurde ein Arbeitsstellenkontingent von 125 % angesetzt, was eine Bibliothekarsstelle mit 100 % und eine Stelle mit 25 % der Arbeitszeit ergibt. Die Projektleitung übernahm mit Dr. Jan Bürger ein Wissenschaftler des Hauses. Für die Projektlaufzeit wurde zunächst ein Zeitraum von 5 Jahren angesetzt (Beginn: Dezember 2009, geplantes Ende November 2014). Für den Einstieg in die Ordnung des Bestandes erwies sich der Umstand als sehr günstig, dass Peter Rühmkorf bereits für die Archivierung seiner Materialien vor Ort (also in Hamburg in der Övelgönne und im Fersenfeldtsweg sowie

Der Nachlass von Peter Rühmkorf im Deutschen Literaturarchiv Marbach

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in Roseburg) säurefreie Mappen und grüne Kästen des DLA gebrauchte. Dies erleichterte einerseits den schonenden Transport und die Unterbringung im Magazin, zudem konnte auch ein Teil der für die endgültige Ablage benötigten Archivierungsmaterialien gewonnen und wiederverwendet werden, was den Materialbedarf erheblich begrenzte.

III.

Der Erschließungsprozess – von der Grobordnung zur Verzeichnung im Katalog

Am Beginn eines Erschließungsprojektes steht immer die Notwendigkeit, sich einen Überblick über den Bestand zu verschaffen und eine sehr grobe Ordnung zu erstellen. Dies wollten wir auch beim Nachlass von Peter Rühmkorf erreichen, bedingt durch die große Menge an Material jedoch ohne dazu den genauen Inhalt der einzelnen Verpackungen und Behältnisse zu kennen:

Abbildung 6: Blick in ein Zimmer des Hauses Övelgönne 50 mit Marbacher Archivkästen

Durch die Umstellung der Kästen wurden zunächst inhaltlich zusammengehörende Einheiten gebildet und wenn möglich jeweils einem Werk- oder Themenkomplex zugeordnet. Dies gelang bei den mehrere Kästen umfassenden Textsammlungen wie Bleib erschütterbar und widersteh, Strömungslehre I oder Von mir zu euch für uns, aber auch Selbst III/88, Was heißt hier Volsinii, Para-

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diesvogelschiß oder den beiden publizierten Tagebuchbänden, aber auch Themenkomplexen wie »Klopstock«, »Grass«, »Reich-Ranicki« oder »Edelpost«. Zur Identifizierung wurden vorhandene Beschriftungen benutzt, die überwiegend von Peter Rühmkorfs Hand stammten (siehe Abbildung 7), oder die von dessen Archivar Helmut Schenkel angefertigten inhaltlichen Beschreibungen ausgewertet, die den Manuskripten teilweise beilagen. Ferner wurde eine Aufstellung von grünen Kästen aus der Rühmkorf ’schen Archivwohnung im Fersenfeldtsweg anhand einer ebenfalls von Herrn Schenkel erarbeiteten Systematik rekonstruiert. Der bereits in den Rollregalen im Magazin untergebrachte Altbestand, also die 100 Vorlasskästen, wurde noch nicht in diese Sortierung einbezogen, da sie ein eigenes Ordnungssegment bildeten. Außerdem wurde bereits der Teil des Nachlasses vom Gesamtbestand getrennt, den Rühmkorf testamentarisch für die Benutzung sperren ließ. Es handelt sich um Tagebücher und Korrespondenzen, die sich in von Rühmkorf eigens präparierten versiegelten Briefumschlägen und Kisten befanden. Etwa zwei Drittel der Kästen konnten anhand dieser äußeren Kriterien geordnet und thematisch zusammengeführt werden. Für den Rest und für die Materialien, die sich noch nicht in grünen Kästen befanden, sondern die in Ordnern, Papp- und Plastikmappen, Briefumschlägen oder einzelnen DLAMappen aufbewahrt worden waren, existierten keinerlei inhaltliche Hinweise für eine Zuordnung. Die darin befindlichen Manuskripte erschlossen sich erst bei der Durchsicht. Wie wir bald feststellen mussten, bargen allerdings auch etliche der beschrifteten Kästen Überraschendes, d. h. sie enthielten nicht oder nicht nur das, worauf die Beschriftungen schließen ließen. Nach dieser 1. Ordnungsphase wurden schließlich sämtliche Materialien aus ihren Behältnissen genommen und gesichtet: Es stellte sich dabei heraus, dass manche der grünen Kästen vollgestopft waren bis zum Rand, während sich in anderen nur wenige, vereinzelt sogar keine Archivalien befanden. Einige Kästen enthielten dagegen neben Manuskripten und Dokumenten verschiedenste andere Materialien: Zu nennen sind Fotografien, Kassetten, Bücher, CDs, Zeitungsausschnitte und Zeitschriften. Die ausgehobenen Materialien wurden in einem nächsten Schritt den sammelnden Abteilungen des DLA zugeordnet – in der Handschriftensammlung des Archivs verblieben alle Handschriften und andere als Manuskripte definierte Papiere. Abgaben erfolgten an den Archivsammelbereich Bilder und Objekte, an die Bibliothek (Rühmkorfs Bücher-, Zeitschriften- und Sonderdruckesammlung) und deren Referat Mediendokumentation (zuständig für Zeitungs-/Zeitschriftenausschnitte und audiovisuelles Material). Somit können diese Stücke unter spezialisierten konservatorischen und organisatorischen Bedingungen aufbe-

Der Nachlass von Peter Rühmkorf im Deutschen Literaturarchiv Marbach

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wahrt und im laufenden Betrieb von spezialisierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geordnet werden. Das handschriftliche Material ordneten wir den von der Abteilungssystematik vorgegebenen Sammlungsgattungen zu (z. B. Gedichte, Briefe von und Briefe an Rühmkorf, Prosa, Verschiedenes, Dokumente, Manuskripte anderer und Briefe anderer, oder sogenannte Standortkonvolute) und legten die Konvolute in säurefreien Mappen in den grünen Kästen ab. Während dieser Ordnungsphase wurden bereits einfache bestandserhaltende Maßnahmen durchgeführt: Glätten der geknickten oder zerknitterten Papiere, Entfernen von metallischen Schließen, Klarsichttaschen, Klammern und Heftklammern – sie wurden durch säurefreie Bauchbinden ersetzt, um die Zusammengehörigkeit mehrerer Blätter zu dokumentieren und zu erhalten. Archivmaterial, das umfangreicherer konservatorischer Maßnahmen bedurfte, wurde aussortiert und soll zu gegebener Zeit an die Restaurierwerkstatt des Deutschen Literaturarchivs zur Bearbeitung übergeben werden.

IV.

Nachlasserschließung – Stand der Dinge und Ausblick

Abbildung 7: Marbacher Archivkästen mit Beschriftungen von Rühmkorfs Hand in der Wohnung des Hauses Övelgönne 50

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In der eben beschriebenen Phase musste die organische bzw. systematische Ordnung Rühmkorfs, die teilweise alle für ein Werk relevanten Materialien in einem Konvolut zusammenfasste, häufig aufgelöst werden, natürlich unter der Maßgabe, die sachlichen Zusammenhänge der Bestände zu bewahren. Ausnahmen von dieser Systematisierung bildeten Manuskriptkonvolute, denen nur wenige andere Materialien beilagen (z. B. einzelne Briefe oder Dokumente bei den Entwürfen eines Prosatextes) oder sehr umfangreiche Konvolute, aus denen zum Erhalt der sachlichen Bündelung Standortkonvolute zusammengestellt wurden und deren Zuordnung eher durch ein äußeres Merkmal zustande kam (z. B. beim Standortkonvolut Preisverleihungen, beim Standortkonvolut Dichterporträts, ebenso bei den Standortkonvoluten Lesereisen oder Ausstellungen). Hier werden die Stücke, die zu verschiedenen Gattungen gehören, nicht getrennt, sondern innerhalb des Konvoluts entsprechend der Nachlass-Systematik angeordnet. Schließlich mussten auch die schon recht gut geordneten Materialien im Vorlass nach und nach verteilt werden, da die Zugehörigkeit der Konvolute zum Vorlass für die Erschließung keine Rolle mehr spielte, wohl aber die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Werk- oder Gattungskomplexen. Im nächsten Schritt erfolgte die alphabetische Sortierung der Konvolute innerhalb der einzelnen Gattungen, und auf diese Weise die Zusammenführung noch verstreut liegender Manuskriptteile: Bei den Gattungen Verschiedenes (hierzu gehören u. a. die Tagebuchaufzeichnungen), Prosa und Gedichte werden dazu der Druck- oder Manuskripttitel verwendet. Sollte dieser nicht ermittelbar sein, wird ein sogenannter Titel von Bearbeiter vergeben. Nach diesen Titeln wird eine alphabetische Ablage erstellt. Briefe werden alphabetisch nach Verfassern bzw. Adressaten geordnet. Innerhalb eines Standortkonvoluts wird zunächst die Gattungsreihenfolge hergestellt, dann entsprechend die alphabetische Ordnung. Bei Anthologien oder Textsammlungen erfolgt die Ablage der darin veröffentlichten Einzeltexte, wenn sinnvoll und möglich, analog zum Abdruck. Da die Manuskriptsammlungen Rühmkorfs selten Hinweise auf die Chronologie der Bearbeitung oder auf Fassungen enthalten und jedes Werkkonvolut in der Regel aus einem Sammelsurium von Entwürfen und Überarbeitungen besteht, unter denen sich gleichermaßen erste handschriftliche Skizzen (bei Gedichten die sogenannten Quanten) als auch filigran ausgearbeitete Typoskripte der Endfassung befinden können, erfolgte die Ablage hier nach Rühmkorfs Ordnung bzw. analog zur im Bestand vorgefundenen Ordnung. Das bedeutet, dass einzelne Bearbeitungsschritte nicht rekonstruiert werden konnten. Es ist lediglich davon auszugehen, dass das vollständigste beiliegende Manuskript oder Konvolut die Endfassung bzw. Druckversion eines Textes ist. Die zu einem Stück ermittelten Daten (z. B. Verfasser, Titel, Veröffentlichungsdatum, Umfang nach sinnvoll zu erfassenden Einheiten, d. h. Anzahl der

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Abbildung 8: Manuskripte aus dem Nachlass: Entwürfe zu Tetrapack als Memorial

Kästen, Mappen, Blattzahl) werden auf einer Bauchbinde aus säurefreiem Papier, die um die Archivalie gelegt wird, notiert und im Katalogsystem Kall†as verzeichnet. Die Stücke werden damit ausschließlich formal erschlossen, inhaltliche Angaben werden nur äußerst selten ermittelt und aufgenommen, da dies voraussetzen würde, dass jedes Manuskript geprüft und durchgesehen wird. Die Verzeichnung wurde bei der Korrespondenz an und von Peter Rühmkorf begonnen, die anderen Gattungen folgen. Der aktuelle Umfang des Bestandes stellt sich derzeit wie folgt dar (Stand v. 16. 10. 2013, gezählt nach grünen Kästen): Archiv 599 Kästen (516 reguläre + 83 gesperrte Kästen, davon 40 Kästen Quanten und 45 Kästen Gedichte, ferner 94 katalogisierte Kästen mit Briefen an Rühmkorf), Mediendokumentation 43 Kästen (entsprechend den Abgaben), Bilder und Objekte 31 Kästen, insgesamt also 683 Kästen.11 Dazu kommt noch etwas Material, das bei der Übergabe der 11 Aktualisierte Bestandsaufnahme im August 2015 (Abgaben wurden nicht berücksichtigt): im Magazin des Archivs befinden sich momentan 600 Kästen (521 reguläre + 79 gesperrte Kästen), von denen 267 Kästen katalogisiert sind: 42 Kästen Quanten und 39 Kästen Ge-

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Bibliothek im Mai 2013 in einigen Umzugskisten nach Marbach gebracht wurde. Darin befanden sich Kunstwerke aus Rühmkorfs Besitz, einige wichtige Manuskripte und acht Schreibmaschinen. Seit dem Projektbeginn ist der Bestand durch die Nachlieferungen also nochmals stark angewachsen. Es wird sehr wenig Material kassiert, allerdings wurde der Bestand durchaus auch verdichtet, durch die Zusammenführung von Materialien aus schlecht gefüllten Kästen, die Entfernung von Mappen und Umschlägen und nicht zuletzt auch noch durch die Abgabe von Bibliotheksmaterialien (Bücher, Drucke und Zeitschriften, umgerechnet etwa 15–20 Kästen).

V.

Zur Benutzung der Sammlung

Ausleihen und Anfragen zum Bestand stehen derzeit zumeist im Zusammenhang mit Dissertationen und kleineren Forschungsarbeiten. Gelegentlich gibt es Bestellungen aus dem Literaturmuseum der Moderne in Marbach, ansonsten wird der Nachlass Peter Rühmkorfs häufig für Arbeiten und Veröffentlichungen aus dem Umfeld der Arno Schmidt Stiftung genutzt. Die Benutzung des Bestandes vereinfachte sich mit zunehmender Ordnungstiefe, da die Konvolute nach und nach an ihre Plätze innerhalb der Systematik gelangten. Prosa-, Drama- und Lyrikwerke sind inzwischen überwiegend katalogisiert oder nach Titeln sortiert und abgelegt bzw. nach dem ersten Buchstaben des Titels ins Alphabet eingeordnet. Bestellungen von Benutzerinnen und Benutzern, die diesen noch nicht verzeichneten Bestand betreffen, werden von den Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern ausgehoben. Die Bestellungen der Briefe und der Stücke, die bereits katalogisiert sind, werden von den Magazinerinnen des Archivs bearbeitet. Dennoch bleibt der Nachlass, auch vier Jahre nach dem Beginn des Projektes, der fortschreitenden Katalogisierung und nach der abgeschlossenen Grobordnung, eingeschränkt benutzbar. Es ist nach wie vor nur schwer möglich, inhaltlich, chronologisch oder biographisch ausgerichtete Anfragen zu beantworten, da diese Kriterien nicht oder noch nicht bei der Ablage berücksichtigt werden konnten. Die 2004 von Wolfgang Rasch veröffentlichte zweibändige RühmkorfBibliographie12 hilft mitunter, Texte zu finden, deren Titel nicht auf den Inhalt schließen lassen. Erleichtert wird die Suche grundsätzlich durch eine präzise dichte, 16 Kästen Dramatisches, 49 Kästen Prosa, 99 Kästen Briefe an und 15 Kästen Briefe von Rühmkorf sowie 7 Kästen zu den Werkausgaben. 12 Wolfgang Rasch (geb. 1956, Literaturwissenschaftler): Bibliographie Peter Rühmkorf, 2 Bde., Bielefeld 2004 (Bibliographien zur deutschen Literaturgeschichte, 13).

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Abbildung 9: Der Nachlass im Magazin des Deutschen Literaturarchivs Marbach

Vorarbeit des Forschers/Benutzers, denn zu fast allen zur Verfügung stehenden Manuskripten ließen sich Drucktitel ermitteln. Das heißt, dass veröffentlichte Manuskripte mit den heute in Bibliotheken und Archiven gebräuchlichen Recherchemitteln in der Regel identifizierbar waren und somit auch im Bestand zu finden sind, bis auf einige Manuskripte oder Typoskripte kleinerer Texte, die ausschließlich in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlicht wurden und weder datiert sind noch irgendwo zitiert werden, da dann meist kein Titel zur Identifizierung vorliegt. Einen Sonderfall bildet der Lyriknachlass, der aus zwei großen Komplexen besteht: den Quanten und Lyriden als Grundstoff für das dichterische Werk einerseits, andererseits die ausgearbeiteten, größtenteils veröffentlichten Gedichte. Die Mappen und Briefumschläge, in denen die Quanten aufbewahrt waren, waren lediglich mit dem Gattungsbegriff betitelt und mit einem Datum versehen (nicht immer war dies das Entstehungsdatum) oder undatiert. Die Texte waren teils handschriftlich verfasst, teils maschinenschriftlich (oftmals als Abschriebe der Handschriften). Es blieb im Hinblick auf die Einordnung also einzig die Möglichkeit, die abertausende Blätter unter dem Oberbegriff Quanten, den Rühmkorf überwiegend für die Beschriftung verwendete (sehr viel seltener gebrauchte er den Begriff Lyriden), ins Gedicht-Alphabet einzuordnen und nach den Daten zu sortieren, die aus der Beschriftung erschlossen werden konnten. So entstand in diesem Bereich der Gattung Gedichte die einzige chronologische Ordnung des

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Abbildung 10: Handschriftliche Quanten aus dem Nachlass Peter Rühmkorfs

Nachlasses (abgesehen von den Tagebüchern im Sperrbestand), jeweils für handschriftliche bzw. maschinenschriftliche Versionen. Die Quanten einem Gedicht zuzuordnen, für das sie Rühmkorf verwendet hat, ist fast ausgeschlossen, es sei denn, man würde sie Blatt für Blatt studieren (vergleiche Abbildungen 10 und 11). Die ausgearbeiteten Gedichte sind nach Titeln alphabetisch sortiert. Fand die Erstveröffentlichung in einer von Rühmkorfs Gedichtsammlungen statt, sind sie jedoch unter dem Namen der Sammlung abgelegt, entsprechend dem Abdruck im Band. Um schnell feststellen zu können, ob es zu einem bestimmten Gedicht Material gibt, wurden im Projekt Listen angefertigt, die die als Manuskript vorhandenen Gedichte der jeweiligen Sammlung aufführen.

Der Nachlass von Peter Rühmkorf im Deutschen Literaturarchiv Marbach

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Abbildung 11: Handschriftliche Quanten und die dazugehörige Archivmappe

VI.

Möglichkeiten und Aussichten für Publikationen oder Ausstellungen

Nach dem derzeitigen Stand der Ordnung ist abzusehen, dass es zu den meisten nachgelassenen Werkmanuskripten zumindest eine Endfassung im Bestand gibt. Inwieweit Rühmkorfs Werke vollständig im Nachlass enthalten sind, lässt sich noch nicht endgültig beurteilen. Denn es fallen immer wieder Leerstellen und Lücken in der Masse der Manuskripte auf, bei den Prosatexten v. a. im Hinblick auf Zeitungs- und Zeitschriftenartikel. Bei der Lyrik fehlen die Entwürfe einzelner Poeme – von der Borchert-Biographie fehlt jede Spur. Wie häufig im Zuge der archivalischen Bearbeitung eines Nachlasses stießen wir auch in den Beständen Peter Rühmkorfs kaum auf unveröffentlichte Prosatexte oder Lyrik, die man dem Lesepublikum als gänzlich neu und noch unbekannt präsentieren könnte. Hier könnte es für die Forschung spannend sein zu prüfen, welche Stoffe die große Menge an allerdings schwer zu entziffernden

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Notizheften enthält, die Rühmkorf in den Jahren 1950 bis 1967 angelegt hat. Überhaupt dürfte der Bereich der frühen Schriften Rühmkorfs am meisten Überraschungen bergen (man denke an die Reiseaufzeichnungen zum Chinabesuch 1955 oder zur Pragreise 1957). Eine Textgenese der Rühmkorf ’schen Werke ist grundsätzlich und für die meisten Gattungen im Nachlass kompliziert und erfordert eine hochkomplexe Analyse der Manuskripte, um Fassungen und einzelne Entstehungsstufen zu ermitteln. Rühmkorf hat seine Texte häufig stark überarbeitet, in gewissermaßen zirkelartigen Arbeitsschritten – es finden sich mitunter bis zu zehn Ansätze zu einer einzelnen Passage in den umfangreicheren Konvoluten. Die Fortschritte hat er allerdings nicht dokumentiert, die überarbeiteten Fassungen wurden nicht auf eine nachvollziehbare Weise abgelegt und archiviert, so dass die Erforschung der Arbeitsschritte eine vorsichtige und gründliche, voraussichtlich auch sehr zeitintensive Herangehensweise erfordert. Für Ausstellungen bietet der Nachlass jedoch eine geradezu uferlose Fülle an Material, weil Rühmkorf seine Manuskripte häufig mit Zeichnungen versah oder Korrekturen in mehreren Farben anbrachte: Die Texte enthalten unzählige, auch optisch effektvolle Bearbeitungsspuren. Darüber hinaus gibt es eine riesige Menge an Dokumenten, Fotos, Zeichnungen und Malbriefen. Über die Ausstellungen, die zu Lebzeiten des Dichters stattfanden, gibt es umfangreiche Konvolute mit Dokumentationen und Korrespondenzen, die auch Einblick in die jeweiligen Ausstellungsplanungen bieten und Hinweise darauf enthalten, was Rühmkorf für die Darstellung seines Lebens und Werkes als zeigewürdig ansah. Erste positive Erfahrungen mit der Präsentierbarkeit des Nachlasses sammelte das DLA bereits in Zusammenarbeit mit dem Literaturmuseum der Moderne: Anlässlich des dritten Todestages von Peter Rühmkorf wurde am 8. 6. 2011 eine kleine Ausstellung eröffnet, durch die seine Arbeit an den Gedichttexten dargestellt werden konnte. Sie fand bei den Besuchern großen Anklang und bestätigte den Ruf Rühmkorfs als Publikums- und nicht nur als Lektüredichter, den er sich bei seinen zahllosen Auftritten und Lesungen im Laufe seines nun seit 2009 in Marbach archivierten und dokumentierten Dichterlebens erworben hat.

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Abbildung 12: Peter Rühmkorf, umwölkt

Abbildungsverzeichnis Abb. 1, 3, 12 Nachlass Peter Rühmkorf, Deutsches Literaturarchiv Marbach (Urheber sind nicht bekannt) Abb. 2 Bernd Hoffmann, Deutsches Literaturarchiv Marbach Abb. 4 Mathias Michaelis, Deutsches Literaturarchiv Marbach Abb. 5, 6, 7 Friedrich Forssman, Arno Schmidt Stiftung Abb. 8, 9, 10, 11 Chris Korner, Deutsches Literaturarchiv Marbach

Personenregister

Adorno, Theodor W. 12, 53–61, 67–69, 163 Andersch, Alfred 54 Angelus Silesius 8 Apollinaire, Guillaume 88

Descartes, Ren¦ 105 Döblin, Alfred 221 Durzak, Manfred 7, 13, 15, 26, 42, 58f., 61, 86, 89–91, 101, 106, 111, 113, 147, 150, 152, 163

Bellman, Carl Michael 8, 199 Benn, Gottfried 17, 23, 34, 58, 71f., 74–76, 80f., 112, 122, 152, 160–164, 167, 175, 190, 199f., 210–212, 216 Berendt, Joachim-Ernst 41 Böhm, Hans 131 Böll, Heinrich 54 Borchert, Wolfgang 72, 235 Bormann, Alexander von 50, 101, 106, 150 Böttcher, Philipp 13, 38, 50, 169, 192 Bourdieu, Pierre 14, 34f., 45, 50 Braune, Wilhelm 132 Brecht, Bertolt 8, 12, 22f., 55, 71–81, 175, 180, 190, 198–200 Breton, Andr¦ 93 Briegleb, Klaus 91 Broch, Hermann 29 Brockes, Barthold Hinrich 8, 111, 180f. Bunge, Paul 126 Bürger, Jan 13, 34, 38, 71, 112, 149, 151, 153, 192, 224, 226

Eggers, Hans 120 Eich, Günter 89, 97 Eichendorff, Joseph von 8f., 122, 158 Eichmann, Adolf 55 Êluard, Paul 91, 93 Emmerich, Wolfgang 90, 92 Engels, Friedrich 28, 133 Enzensberger, Hans Magnus 12, 54, 90, 148, 211f., 215f.

Celan, Paul 55, 83, 88, 90–97, 154 Chamisso, Adelbert von 179f. Claudius, Matthias 8, 36, 100, 122

Fouqu¦, Friedrich de la Motte

157

Ganghofer, Ludwig 132 Ganzenmüller, Wilhelm 133 Gernhardt, Robert 174 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 104, 116 Goethe, Johann Wolfgang 86, 107, 120, 158, 199, 205, 211, 216 Goll, Yvan 91, 93 Grass, Günter 9, 54, 83, 85f., 90, 228 Griffin, Johnny 41 Grimm, Jacob 96f., 179 Grimm, Wilhelm 96f., 179 Gruppe, Otto Friedrich 181 Hagedorn, Friedrich von 102f., 116 Hagenau, Reinmar von 120, 129f.

240

Personenregister

Haller, Albrecht von 103, 116 Harsdörffer, Georg Philipp 8, 120 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 12f. Heidegger, Martin 94–97, 108, 220 Heimendahl, Eckart 71 Heine, Heinrich 7f., 13, 15, 22–24, 26, 28, 42, 59, 72, 86, 90, 99, 101, 106, 112f., 122, 132, 147, 150, 152, 157f., 163f., 193, 199, 212 Heinrich von Ofterdingen 132 Heißenbüttel, Helmut 90, 136 Hildesheimer, Wolfgang 54 Hiller, Kurt 87f., 221 Hilse, Christoph 33, 171, 183, 186 Hochhuth, Rolf 55 Hölderlin, Friedrich 8f., 65, 89, 122 Holz, Arno 15f., 178f., 199 Homer 158 Horkheimer, Max 53 Jahnn, Hans Henny 72, 123, 221 Jens, Walter 9, 76, 83 Joyce, James 29 Jürgensen, Christoph 36 Kaiser, Gerhard 36, 180 Kalandra, Z‚visˇ 93 Kästner, Erich 8, 182 Kierkegaard, Sören 77 Kleist, Heinrich von 16 Kling, Thomas 200 Klopstock, Friedrich Gottlieb 8, 10, 13f., 17, 19, 25, 36–38, 49, 72, 99–108, 110–113, 115, 119f., 122, 131f., 136, 139, 151–153, 176, 228 Kraus, Karl 182 Lethen, Helmut 74 Liewerscheidt, Dieter

10

Manthey, Jürgen 36, 38f., 119 Marx, Karl 28 Maurer, Friedrich 131, 138 Mayer, Hans 55 Morgenstern, Christian 199

Mück, Hans-Dieter 221f. Müller-Medek, Tilo 126 Naumann, Hans 133 Naura, Michael 39, 41–43, 45, 66, 80, 185 Neidhardt 126 Neumann, Robert 14, 105, 190 Nietzsche, Friedrich 105, 112, 114 Ovid

205

Paul, Hermann 29, 93, 101, 120, 132f. Pessoa, Fernando 71 Petersdorff, Dirk von 148f. Petrarca, Francesco 191 Poethen, Johannes 93 Powell, Bud 172f., 184f., 188 Pretzel, Ulrich 119f. Pyritz, Hans 86, 88, 119f., 129 Ramthun, Herta 76 Rasch, Wolfgang 14, 20, 42, 91, 100, 232 Reagan, Ronald 64–67 Reich-Ranicki, Marcel 76f., 182f., 228 Richter, Hans Werner 91 Riegel, Werner 20f., 88, 174f. Rilke, Rainer Maria 14, 89, 92, 94–97, 216 Ringelnatz, Joachim 8, 15, 72, 199 Röhl, Klaus Rainer 71f., 88 Rotter, Fritz 180 Rühmkorf, Eva 221, 223–225 Sappho 205 Sartre, Jean-Paul 55 Schaefer, Jörg 131 Schenkel, Helmut 33, 154, 228 Schiller, Friedrich 16 Schlegel, Friedrich 16, 86 Schlüter, Wolfgang 39, 41f., 66, 80, 210 Schmidt, Arno 17, 102f., 108, 114f., 140, 224, 226, 232, 237 Schneider, Karl Ludwig 85–88 Schneider, Peter-Paul 220, 222–224 Schobel, Eva 47 Schroers, Rolf 91

241

Personenregister

Tucholsky, Kurt 8 Twain, Mark 133

Schubert, Franz 172f., 188, 213 Schuhmann, Klaus 151f., 155 Schweikle, Günter 130 Schwenke, Olaf 124 Sengle, Friedrich 181 Shakespeare, William 48, 171, 191 Simrock, Karl 126, 128, 135, 143 Sontag, Susan 216 Stapf, Paul 131 Steinecke, Hartmut 7f., 13, 15, 19, 23, 26f., 29, 34f., 39, 42, 56, 59, 74, 86f., 89f., 101f., 106, 111, 113, 139, 147, 150, 152f., 163f. Steiner, George 77 Steinhoff, Hans Hugo 139f. Steinmann, Peter Klaus 124 Stirner, Max 28 Stockinger, Claudia 34, 36, 112, 150f. Storm, Theodor 182 Sülzenfuss, Jens 185 Szondi, Peter 55, 86, 94

Walther von der Vogelweide 8, 10, 13f., 17, 19, 25, 36–38, 42f., 49, 79, 99, 119f., 122f., 125, 127, 129f., 132, 135f., 138, 151–153, 155f., 162f. Wapnewski, Peter 99, 119, 126–133, 135f., 138–140, 142, 144–146 Weinberger, Caspar 62 Weiss, Peter 55 Weißglas, Immanuel 90 Westphal, Gert 41 Wolff, Gustav Heinrich 71 Wolffheim, Elsbeth 42f. Wolffheim, Hans 86, 88 Wolkenstein, Oswald von 126

Trede, Yngve 123 Trilcke, Peer 13, 38, 50, 69, 192

Zeller, Bernhard 224 Zuckmayer, Carl 169, 171, 187

Uerlings, Herbert 39, 60, 101, 104, 109 Uhland, Ludwig 126, 128