Persuasionsstrategien im vormodernen Theater (14.–16. Jh.): Eine semiotische Analyse religiöser Spiele im deutschen und französischen Sprachraum 9783110740486, 9783110737257

Which means were employed in religious plays to convince audiences of their religious and political messages? This compa

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Persuasionsstrategien im vormodernen Theater (14.–16. Jh.): Eine semiotische Analyse religiöser Spiele im deutschen und französischen Sprachraum
 9783110740486, 9783110737257

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung
2 Theoretisch-methodologische Grundlegung
3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien
4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie
5 Stereotypisierung als evaluativ-emotive Persuasionsstrategie
6 Rück- und Ausblick
7 Verzeichnisse
8 Anhang
Stichwortverzeichnis

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Carlotta Posth Persuasionsstrategien im vormodernen Theater (14.–16. Jh.)

Trends in Medieval Philology

| Edited by Ingrid Kasten, Niklaus Largier and Mireille Schnyder Editorial Board Ingrid Bennewitz, John Greenfield, Christian Kiening, Theo Kobusch, Peter von Moos, Uta Störmer-Caysa

Volume 41

Carlotta Posth

Persuasionsstrategien im vormodernen Theater (14.–16. Jh.) | Eine semiotische Analyse religiöser Spiele im deutschen und französischen Sprachraum

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 170320015 – SFB 923

ISBN 978-3-11-073725-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074048-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074055-4 ISSN 1612-443X Library of Congress Control Number: 2021948497 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte sowie formal und inhaltlich leicht überar­ beitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im Rahmen einer Cotutelle-Ver­ einbarung zwischen den Universitäten Tübingen und Sorbonne Nouvelle – Paris 3 entstand. Im Februar 2020 wurde sie von beiden Universitäten als Dissertation in den Fächern ‚Deutsche Philologie/Ältere deutsche Sprache und Literatur‘ und ‚Sciences du langage‘ angenommen. Ihr Gelingen verdanke ich zahlreichen fach­ lichen, aber auch persönlichen Gesprächen und nicht zuletzt der hervorragenden institutionellen Einbindung, die ich erfahren durfte. Die Liste der Wegbegleiterin­ nen und -begleiter ist zu lang, um jede und jeden zu nennen, doch sei dieses Vor­ wort ihnen allen zugeeignet. Meinen besonderen Dank möchte ich im Folgenden ausdrücken. Ich hatte das große Glück, mit Prof. Dr. Klaus Ridder an der Universität Tü­ bingen und Prof. Dr. Gabriella Parussa an der Universität Sorbonne Nouvelle von zwei erfahrenen ‚Doktoreltern‘ begleitet zu werden, durch die ich einen Horizont der germanistischen und französischen Mediävistik erschließen konnte, der mir anders kaum zugänglich gewesen wäre. Beide haben mir den Freiraum gelassen, den ich brauchte, und waren zugleich immer zuverlässig erreichbar, wenn ich ih­ ren fachlichen Rat suchte. Dafür und nicht zuletzt für ihre stets wertschätzende Begleitung durch die Promotionszeit bin ich sehr dankbar. Ein weiterer glücklicher Umstand für mich war, dass meine Arbeit im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich (SFB) 923 ‚Bedrohte Ordnungen‘ an der Universität Tübingen entstehen konnte. Ich habe durch den interdisziplinären Austausch mit den Kollegen innerhalb des Teilpro­ jekts F03 ‚Bedrohungskommunikation in Predigten und Schauspielen des Spät­ mittelalters und der Frühen Neuzeit‘ viel gelernt. Besonders danken möchte ich in diesem Zusammenhang Prof. Dr. Andreas Holzem, der das Teilprojekt gemein­ sam mit Prof. Dr. Klaus Ridder leitete. Er hat nicht nur das Drittgutachten für mei­ ne Dissertationsschrift übernommen, sondern hat mich im Rahmen des Projekts und durch die Einbindung in seinen Lehrstuhl fachlich und persönlich sehr be­ reichert. Darüber hinaus waren unzählige Gespräche mit Kolleginnen und Kolle­ gen aus dem gesamten Forschungsverbund, die zum Beispiel während unserer schnell institutionalisierten ‚Donnerstagsrunde‘ stattfanden, wichtig als Impuls­ geber, kritische Prüfung und nicht zuletzt auch als Kummerkasten. Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich die SFB-Jahre auf so kon­ struktive und freundschaftliche Art verbringen durfte, sehr bedanken. Daran an­ schließen kann ich den Dank an die administrative Leitung des SFBs, namentlich Andrea Kirstein, Cornelia Stoll und Heike Bäder: Ihre Führung durch den Dschun­ https://doi.org/10.1515/9783110740486-201

VI | Vorwort

gel der Universitätsbürokratie war für das Gelingen der Dissertation inklusive aller Formalitäten eine unschätzbare Hilfe. Zu den Vorzügen des SFBs zählt außerdem, dass ich von studentischen Hilfskräften unterstützt werden konnte. Lisa Schmid, Dorothea Laible und Julia-Laura Benker möchte ich meinen herzlichen Dank für ihre sehr hilfreiche Arbeit aussprechen. Nicht nur im Rahmen des SFBs 923 habe ich Unterstützung erfahren, sondern auch und besonders in der mediävistischen Abteilung der Tübinger Germanistik. Mein Dank geht an alle Mitglieder des mediävistischen Oberseminars für anregen­ de Diskussionen und konstruktive Kritik. Insbesondere Dr. Rebekka Nöcker und Dr. Beatrice von Lüpke waren als Expertinnen für das mittelalterliche Schauspiel und darüber hinaus wichtige Gesprächspartnerinnen für mich, denen ich für die vielen Hinweise und Ermunterungen sehr dankbar bin. Als einer zentralen Impulsgeberin und Begleiterin über viele Jahre hinweg, auch aus der Ferne, möchte ich an dieser Stelle Prof. Dr. Esme Winter-Froemel danken, durch deren Fragen und Anregungen meine Arbeit entscheidend beein­ flusst wurde und, wie ich glaube, sehr an theoretisch-methodischer Schärfe ge­ wonnen hat. Und nicht zuletzt möchte ich meinen ganz besonderen Dank Alex­ andra Becker, Dr. Laura-Maï Dourdy, Marlene Keßler, Luise Nöllemeyer und Dr. Pierre Vermander aussprechen, die als Korrekturleserinnen und -leser den End­ spurt meiner Dissertation unterstützt und sehr zu ihrem Gelingen beigetragen ha­ ben. Ich danke zudem allen Mitgliedern der Prüfungskommission für die anregen­ den Diskussionen und insbesondere Prof. Dr. Stéphane Macé für die Anfertigung des umfangreichen Prüfungsprotokolls, welches das französische Hochschulsys­ tem verlangt, und seine pointierten Reflexionen zu meiner Arbeit. Es liegt im Wesen der Forschung, dass während der Arbeit Unvorhergesehe­ nes auftaucht. Dies war für mich der Fall, als deutlich wurde, dass die Transkripti­ on eines bisher nicht edierten umfangreichen mittelfranzösischen Fragments für meine Dissertation unverzichtbar sein würde. Ohne die Unterstützung von Prof. Dr. Darwin Smith, der mir seine Teiltranskription zur Verfügung stellte und sich gemeinsam mit Prof. Dr. Gabriella Parussa die Zeit nahm, Fragen und Probleme mit mir zu besprechen, hätte ich die Transkription nicht anfertigen können. Ich möchte beiden dafür ganz besonders danken. Für die freundliche Genehmigung des Abdrucks der in dieser Arbeit verwen­ deten Miniaturen aus den französischen und deutschen Handschriften danke ich der Bibliothèque municipale d’Arras (Médiathèque de l’Abbaye Saint-Vaast), der Bibliothèque municipale de Besançon, der Staatsbibliothek zu Berlin und der Kö­ niglichen Bibliothek zu Kopenhagen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von De Gruyter, allen voran Dr. Elisa­ beth Kempf und Eva Locher, danke ich für die sehr angenehme Betreuung und

Vorwort

| VII

Prof. Dr. Ingrid Kasten, Prof. Dr. Niklaus Largier und Prof. Dr. Mireille Schnyder für die Aufnahme in die Reihe ‚Trends in Medieval Philology‘. Ohne die moralische Unterstützung, das Verständnis für Hochs und Tiefs und die Bereitschaft zu häufigen gedanklichen Ausflügen in die Welt des Mittelalters hätte diese Arbeit nicht gelingen können. Ich danke meinen Freundinnen und Freunden, meiner Familie und ganz besonders Mathias dafür, dass sie mich im­ mer wieder ohne Murren und manchmal sogar gerne auf diese Reisen begleitet haben.

Inhalt Vorwort | V 1 1.1 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4

Einleitung | 1 Zum Stand der komparatistischen Schauspiel-Forschung | 10 Vorgehen und Ziele der Untersuchung | 15 Das Korpus der Untersuchung | 23 Passionsspiele | 27 Eschatologische Spiele | 31 Die Gliederung der Arbeit | 36

2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2

Theoretisch-methodologische Grundlegung | 39 Theoretische Grundlagen | 39 Drama, Theater oder Schauspiel? Terminologische Klärungen | 39 Zum Verhältnis von Text und Aufführung | 44 Semiotik des Schauspiels: rekonstruierte Multimodalität | 59 Die Kommunikationsebenen im Schauspiel | 79 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 84 Das Textsemantische Analyseraster (TexSem) | 85 Punktuelle bis flächigere Formen der Bedeutungskonstitution | 86 Schlagwort, Schlagbild, Schlaggeste und Schlaglaut | 86 Konzeptuelle Metaphern | 93 Flächige Formen der Bedeutungskonstitution | 100 Topoi | 100 Stereotype | 110

2.2.1 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.2

3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien | 121 3.1 Der Bedrohungs-Topos | 122 3.1.1 Antijüdische Topoi in Passionsspielen | 123 3.1.1.1 Konkurrenz-Topos | 125 3.1.1.2 Werkzeug-Topos | 144 3.1.1.3 Wesensart-Topos | 151 3.1.1.4 Zusammenfassung | 173 3.1.2 Antijüdische Topoi in Antichristspielen | 175 3.1.2.1 Verlierer-Topos | 177 3.1.2.2 Stellvertreter-Topos | 186

X | Inhalt

3.1.2.3 3.1.2.4 3.1.2.5 3.1.3 3.1.3.1 3.1.3.2 3.1.3.3

Werkzeug-Topos | 193 Wesensart-Topos | 201 Zusammenfassung | 229 Antiprotestantische Topoi in einem eschatologischen Spiel des sechzehnten Jahrhunderts | 231 Gleichheits-Topos | 247 Wesensart-Topos | 269 Zusammenfassung | 272

4.1.2 4.1.3

Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie | 274 Der Autoritäts-Topos | 276 Sprachliche, bildliche und lautliche Evokationsformen des Autoritäts-Topos | 283 Autoritätenkonflikte und subversive Tendenzen? | 305 Zusammenfassung | 317

5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3

Stereotypisierung als evaluativ-emotive Persuasionsstrategie | 322 Sprachliche Verfahren der Stereotypisierung | 324 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung | 333 Metaphernsysteme | 336 Orientierungsmetaphern | 351 Zusammenfassung | 357

6

Rück- und Ausblick | 362

7 7.1 7.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.4

Verzeichnisse | 368 Bildnachweise | 368 Abgekürzt zitierte Literatur | 368 Quellen | 369 Handschriften | 369 Drucke | 370 Textausgaben und Editionen | 370 Digitale Quellen | 371 Forschungsliteratur | 372

8 8.1 8.1.1 8.1.2

Anhang | 398 Überblick über die behandelten Spiele | 398 La Passion du Palatinus (PaPs) | 398 Le Mystère de la Passion Nostre Seigneur de la Bibliothèque Sainte-Geneviève (SGPs) | 399

4 4.1 4.1.1

Inhalt |

8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.1.6 8.1.7 8.1.8 8.1.9 8.1.10 8.1.11 8.1.12 8.1.13 8.1.14 8.1.15 8.1.16 8.1.17 8.1.18 8.1.19 8.1.20 8.1.21

Le Mystère de la Passion des Eustache Marcadé (MaPs) | 400 Le Mystère de la Passion des Arnoul Gréban (GrPs) | 401 Das Wormser Passionsspiel (WoPs) | 402 Lienhard Pfarrkirchers Passion (PfPs) | 403 Das Alsfelder Passionsspiel (AlPs) | 403 Das Luzerner Passionsspiel (LuPs) | 404 Le Jour du Jugement (JuBe) | 406 Lo Jutgamen general (JuRou) | 406 Le Jugement de Dieu (JuMo) | 407 Das Berner Weltgerichtsspiel (BnWg) | 409 Das Schaffhauser Weltgerichtsspiel (SchaWg) | 409 Das Kopenhagener Weltgerichtsspiel (KoWg) | 410 Das Berliner Weltgerichtsspiel (BeWg) | 410 Das Güssinger Weltgerichtsspiel (GüWg) | 411 Das Münchner Weltgerichtsspiel (MüWg) | 411 Das Churer Weltgerichtsspiel (ChWg) | 412 Das Luzerner Weltgerichtsspiel I (LuWgI) | 412 Das Weltgerichtsspiel der (ehemaligen) Sammlung Jantz (JaWg) | 413 Das Luzerner Antichristspiel (LuA) | 414

Stichwortverzeichnis | 415

XI

1 Einleitung Das zwanzigste und junge einundzwanzigste Jahrhundert sind durch die Ent­ wicklung des Fernsehens und Internets von bedeutenden Veränderungen in der medialen Kommunikation geprägt, deren gesellschaftliche Auswirkungen im­ mer wieder und im Jahr 2019 sehr akut diskutiert werden. Ein ‚Framing Manual‘, das die ARD 2017 von der Linguistin Elisabeth Wehling erstellen ließ, hat An­ fang 2019 zu kontroversen Debatten um den strategischen Einsatz von Sprache und seinen intransparenten Gebrauch durch einen öffentlich-rechtlichen Sen­ der geführt. Die Bild-Zeitung nannte das interne Dokument ein ‚Geheimpapier‘, mit dessen Hilfe „die ARD uns umerziehen“ wolle.¹ Das allgemeine Interesse an den Prinzipien integrer Pressearbeit und die Angst vor illegitimer Manipulati­ on erklärt sich aus der großen Bedeutung, die den öffentlichen Medien als der ‚vierten Gewalt‘ in demokratischen Gesellschaften zugesprochen wird. Im Jahr 2010 formulierte Jürgen Habermas in einem Essay, den die Süddeutsche Zeitung publizierte: Die Öffentlichkeit leistet zur demokratischen Legitimation des staatlichen Handelns ihren Beitrag, indem sie politisch entscheidungsrelevante Gegenstände auswählt, zu Problemstel­ lungen verarbeitet und zusammen mit mehr oder weniger informierten und begründeten Stellungnahmen zu konkurrierenden öffentlichen Meinungen bündelt. Auf diese Weise ent­ faltet die öffentliche Kommunikation für die Meinungs- und Willensbildung der Bürger eine stimulierende und zugleich orientierende Kraft, während sie das politische System gleich­ zeitig zu Transparenz und Anpassung nötigt.²

Wenn die medial vermittelte Öffentlichkeit ein konstitutives Element jeder funk­ tionierenden Demokratie darstellt, ist der Einfluss von Medien auf das Denken und Handeln aller darin lebenden Menschen und letztlich auch auf politische Ent­ scheidungsprozesse kaum zu unterschätzen. Es verwundert folglich nicht, dass in journalistischen und wissenschaftlichen Diskursen des zwanzigsten und einund­ zwanzigsten Jahrhunderts unter Labels wie ‚politische Semantik‘, ‚Propaganda‘, ‚public relations‘ und ‚politisches framing‘ intensiv über die Einflussnahme von

1 Ohne Verfasser: „Geheimpapier. So will die ARD uns umerziehen.“ In: Bild, vom 19. Februar 2019. Online unter: https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/geheimpapieraufgetaucht-so-will-die-ard-uns-umerziehen-60230038.bild.html (19. September 2019). Kriti­ siert wurde auch die Höhe des Honorars, das Wehling von der ARD erhielt. 2 Habermas, Jürgen: „Keine Demokratie kann sich das leisten.“ In: Süddeutsche Zeitung, vom 19.05.2010. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/juergen-habermas-keinedemokratie-kann-sich-das-leisten-1.892340-0#seite-2 (19. September 2019). https://doi.org/10.1515/9783110740486-001

2 | 1 Einleitung

Massenmedien nachgedacht, geforscht und gestritten wurde.³ Um heutige For­ men des öffentlichen persuasiven Sprechens und in erweiterter Perspektive auch des persuasiven Gebrauchs weiterer Zeichenformen (z. B. Bilder) zu verstehen und kulturell einordnen zu können, erscheint eine Historisierung sinnvoll, denn nicht zuletzt „basiert der manipulative Umgang mit Wahrheit und Lüge, Authentizi­ tät und Täuschung, Veröffentlichung von Geheimhaltung zumindest teilweise auf Techniken, die bereits vor der digitalen Medienrevolution genutzt wurden.“⁴ Eine Kommunikationsform, die im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit äußerst populär war und eine vergleichsweise beeindruckende Rezeption erfuhr, ist das Theater. Nicht grundlos werden die ‚Spiele‘ in der Forschung häufig als vor­ moderne Massenmedien bezeichnet.⁵ Eingebunden in das Kirchenjahr organisier­ te man in vielen Städten und Gemeinden ganz Europas ein breites Spektrum von didaktisch-erbaulichen bis hin zu komisch-obszönen Darbietungen, die biswei­

3 Der Umfang des beschriebenen Feldes lässt an dieser Stelle keine übergreifende Darstellung zu. Hervorgehoben seien beispielhaft die Schrift Propaganda des US-amerikanischen ‚Vaters der public relations‘ Edward Bernays (Bernays, Edward L.: Propaganda. New York (1928) 2005) und der 2016 erschienene Sammelband Gae L. Hendersons und M. J. Brauns zu Propaganda und Rhetorik (Propaganda and Rhetoric in Democracy. History, Theory, Analysis. Hrsg. von Gae L. Henderson/M. J. Braun, Carbondale 2016), der die Aktualität des Themas zeigt. Wichtige Posi­ tionen zur politischen Semantik sind in Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprach­ kritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Hrsg. von Josef Klein, Opladen 1989 ver­ sammelt und eine Reihe von Analysemethoden sind in Bachem, Rolf: Einführung in die Analyse politischer Texte. München 1979 erläutert. Zum vergleichsweise jungen Terminus des politischen framings vgl. Lakoff, George/Elisabeth Wehling: Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Spra­ che und ihre heimliche Macht, Heidelberg 2016 und Wehling, Elisabeth: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, München 2018. 4 Studt, Birgit: Geplante Öffentlichkeiten. Propaganda. In: Politische Öffentlichkeit im Spät­ mittelalter. Hrsg. von Martin Kintzinger/Bernd Schneidmüller, Ostfildern 2011 (Vorträge und Forschungen LXXV), S. 203–236, hier S. 204. 5 Vgl. etwa Schmid, Rainer H.: Raum, Zeit und Publikum des geistlichen Spiels. Aussage und Ab­ sicht eines mittelalterlichen Massenmediums, München 1975; Dohi, Yumi: Das Abendmahl im spätmittelalterlichen Drama. Eine Untersuchung der Darstellungsprinzipien der Abendmahls­ lehre in den englischen Mystery Cycles und ihren Vorlagen im Vergleich mit den französischen und deutschsprachigen biblischen Spielen, Frankfurt a. M. 2000 (Europäische Hochschulschrif­ ten. Reihe 18. Vergleichende Literaturwissenschaft 95), S. 15; Schulze, Ursula: Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einfüh­ rung, Berlin 2012, S. 18 oder Smith, Darwin: Aspects de l’écriture dramatique en France au XVe siècle. Fil sonore, polytopie et mass media. In: Ludica 23 (2017), S. 157–182, hier S. 157. Allgemein zu propagandistischen Kommunikationsformen im Mittelalter vgl. Studt, Geplante Öffentlich­ keiten (Kap. 1, Anm. 4).

1 Einleitung

|

3

len auch unverhohlen politisch-religiöse Propaganda betrieben.⁶ Aufgrund seiner großen Breitenwirkung ist das Theater ein geeigneter Gegenstand, um persuasive Strategien in einem historischen Medium zu untersuchen. Zugleich steckt in der Übertragung von Vokabular und Methoden, die an mo­ dernen Quellen entwickelt und angewandt wurden, auf historische Epochen die Gefahr des Anachronismus. Die bedeutende Rolle der Massenmedien ist in mo­ dernen demokratischen Systemen an die Existenz einer Öffentlichkeit gebunden, also an einen tatsächlichen oder virtuellen Kommunikationsraum, über den all­ gemein zugänglich Informations- und Meinungsaustausch stattfinden kann und der den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber dem Staat eine Stimme verleiht.⁷ Dieses Konzept lässt sich offenkundig nicht ohne Weiteres auf das Mittelalter und die beginnende Frühe Neuzeit übertragen, deren Gesellschaften weder demokra­ tisch noch nationalstaatlich organisiert waren.⁸ In seiner einflussreichen Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit hat Habermas das Konzept der Öffentlichkeit zu einem Unterscheidungskriterium zwischen Moderne und Vormoderne erklärt, indem er die moderne, bürgerliche Öffentlichkeit von einer vormodernen, reprä­ sentativen abgrenzte. ‚Repräsentative Öffentlichkeit‘ im Sinne Habermas’ ist kein sozialer Bereich, innerhalb dessen politische Kommunikation erfolgt, sondern ein Statusmerkmal weltlicher und geistlicher Herrschaft, die über Attribute der Per­ son einem Publikum vorgeführt wird.⁹ Wenn in Mittelalter und Früher Neuzeit kei­ ne politische Öffentlichkeit existierte und jene die Voraussetzung massenwirksa­

6 Vgl. Beck, Jonathan : Théâtre et propagande aux débuts de la Réforme. Six pièces polémiques du Recueil La Vallière, Genève 1986 ; Roussel, Diane : L’espace public comme enjeu des guerres de Religion et de la paix civile. Réflexions sur la notion d’espace public et ses métamorphoses à Paris au XVIe siècle. In : L’espace public au Moyen Âge. Débats autour de Jürgen Habermas. Hrsg. von Patrick Boucheron/Niclas Offenstadt, Paris 2011 (Le nœud gordien), S. 131–146 ; Doudet, Estelle : Moralités et jeux moraux, le théâtre allégorique en français. XVe –XVIe siècles, Paris 2018, S. 331 und 355; Queruel, Danielle : Le théâtre médiéval. De la moralisation à la propagande po­ litique. In : Revue française d’histoire des idées politiques 8 (1998), S. 229–244. 7 Die Formulierung beansprucht nicht den Status einer allgemeingültigen Definition, sondern wird als Arbeitsdefinition verwendet, die für den Kontext der vorliegenden Studie verdeutlichen soll, dass ‚Öffentlichkeit‘ als Kommunikationsraum aufgefasst wird. Für weiterführende Litera­ tur zur Definitionsproblematik vgl. Hoffmann, Carl A.: ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Kommunikation‘ in den Forschungen zur Vormoderne. Eine Skizze. In: Kommunikation und Region. Hrsg. von Carl A. Hoffmann/Rolf Kiessling, Konstanz 2001 (Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwa­ bens und der benachbarten Regionen 4), S. 69–110, hier S. 74 f. 8 Auch eine Übertragung auf antike Gesellschaften ist problematisch, steht hier aber nicht im Zentrum des Interesses. 9 Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 58–67.

4 | 1 Einleitung

mer Kommunikation ist, erscheint es folgerichtig, eine solche Form der Kommu­ nikation für vormoderne Gesellschaften auszuschließen. Dennoch hat die mediävistische und frühneuzeitliche Forschung das analy­ tische Vokabular, welches zunächst auf die Massenmedien des neunzehnten bis einundzwanzigsten Jahrhunderts angewandt wurde, verstärkt aufgegriffen.¹⁰ Er­ möglicht haben dies kontroverse Debatten, die in der Geschichts- und Literatur­ wissenschaft bis heute um die Existenz von Öffentlichkeit vor Beginn der Moderne geführt werden.¹¹ Sie haben nicht nur die Unschärfe des Öffentlichkeits-Begriffs und den unterkomplexen Schematismus des Habermas’schen Dualismus kon­ statiert, sondern im Rahmen begrifflicher Differenzierungen auch verschiedene Modi öffentlicher Kommunikation beschrieben, die neben oder an die Stelle der repräsentativen Öffentlichkeit treten. In diesem Zuge wurden differenzierte Öf­ fentlichkeits-Konzepte anhand zeitlicher und räumlicher Kriterien – wie das der ‚okkasionellen‘¹² Öffentlichkeit oder lokal begrenzter ‚Teilöffentlichkeiten‘¹³ – ge­ bildet. Die Identifikation lokaler Öffentlichkeiten trägt der im Mittelalter vorran­ gigen Kommunikation unter Anwesenden Rechnung. Die bisherige mediävisti­ sche Forschung hat neben höfischen besonders städtische Formen von Öffent­ lichkeit in den Blick genommen.¹⁴ Es liegen zahlreiche Arbeiten vor, die sich mit

10 Richtungsweisend etwa Medien der Kommunikation im Mittelalter. Hrsg. von Karl-Heinz Spiess, Stuttgart 2003. 11 Einen Überblick wichtiger Positionen und Entwicklungen in der Debatte geben Hoffmann, ‚Öffentlichkeit‘ (Kap. 1, Anm. 7) und Van Damme, Stéphane: ‚Farewell Habermas?‘ Deux décen­ nies d’études sur l’espace public. In : L’espace public au Moyen Âge. Débats autour de Jürgen Habermas. Hrsg. von Patrick Boucheron, Paris 2011, S. 43–62. 12 Unter Annahme einer hierarchisch, pluralistisch und polyzentrisch gegliederten Gesellschaft definiert Bernd Thum Öffentlichkeit als okkasionell, da Kommunikationskreise „je nach gege­ bener Situation interferierten“ (Thum, Bernd: Öffentlich-Machen, Öffentlichkeit, Recht. Zu den Grundlagen und Verfahren der politischen Publizistik im Spätmittelalter (mit Überlegungen zur sog. „Rechtssprache“). In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 10/37 (1980), S. 12–64, hier S. 47 f.; vgl. auch Thum, Bernd: Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelal­ ter. Zur Herstellung von Öffentlichkeit im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen im 13. Jahrhundert. In: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hrsg. von Hedda Ragotzky/Horst Wenzel, Tübingen 1990, S. 65–88, hier S. 70). 13 Die Pluralisierung der Konzepte äußert sich auch darin, dass übereinstimmend von Öffent­ lichkeiten im Gegensatz zu einer singularischen Öffentlichkeit gesprochen wird. 14 Vgl. etwa die Sammelbände Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittel­ alterlichen Gemeinschaften. Hrsg. von Alfred Haverkamp, München 1998; L’espace public au Moyen Âge. Débats autour de Jürgen Habermas. Hrsg. von Patrick Boucheron, Paris 2011 (Le nœud gordien) und Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter. Hrsg. von Martin Kintzinger/ Bernd Schneidmüller, Ostfildern 2011 oder Robert Giels Monographie zu Öffentlichkeit in der

1 Einleitung

|

5

den mündlichen und schriftlichen Formen städtischer Kommunikation beschäf­ tigen.¹⁵ Theatrale Aktivitäten sind allerdings bisher in geringerem Ausmaß als Kommunikationsmedien einer städtischen Öffentlichkeit auf persuasive Strate­ gien hin analysiert worden.¹⁶ Mit Beginn der Neuzeit rücken neben lokalen Öf­ fentlichkeiten die Distanzmedien, die der Buchdruck hervorbrachte, in den Blick,

Stadt Köln zwischen 1450 und 1550 (Giel, Robert: Politische Öffentlichkeit im spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Köln (1450–1550). Berlin 1998 [Berliner historische Studien 29]). 15 Dazu zählen die Öffentlichkeit von Gebäuden, Schrift- und Bildmedien wie Briefen, Urkunden oder Wandmalereien, Einzügen und Prozessionen, Reden oder Predigten. Vgl. z. B. Feuchter, Jörg: Oratorik und Öffentlichkeit spätmittelalterlicher Repräsentativversammlungen. Zu zwei Dis­ kursvorgaben von Jürgen Habermas, Otto Brunner und Carl Schmitt. In: Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter. Hrsg. von Martin Kintzinger/Bernd Schneidmüller, Ostfildern 2011 (Vor­ träge und Forschungen LXXV), S. 183–202; Boucheron, Patrick: Espace public et lieux publics. Approches en histoire urbaine. In : L’espace public au Moyen Âge. Débats autour de Jürgen Haber­ mas. Hrsg. von Patrick Boucheron/Nicolas Offenstadt, Paris 2011 (Le nœud gordien), S. 99–117 oder Monnet, Pierre: Die Stadt, ein Ort der politischen Öffentlichkeit im Spätmittelalter? Ein The­ senpapier. In: Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter. Hrsg. von Martin Kintzinger/Bernd Schneidmüller. Ostfildern 2011 (Vorträge und Forschungen LXXV), S. 329–359. Auch Gerüchte in ihrer Verknüpfung mit bestimmten Lokalitäten wurden als öffentliche Kommunikationsform des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit beschrieben (vgl. Bauer, Martin: Die Gemain Sag im späteren Mittelalter. Studien zu einem Faktor mittelalterlicher Öffentlichkeit und seinem his­ torischen Auskunftswert, Erlangen 1981 und Judde de Larivière, Claire: Du Broglio à Rialto. Cris et chuchotements dans l’espace public à Venise (XVIe siècle). In : L’espace public au Moyen Âge. Débats autour de Jürgen Habermas. Hrsg. von Patrick Boucheron/Niclas Offenstadt, Paris 2011 (Le nœud gordien), S. 119–130). 16 Bisher wurden vor allem Vertreter des profanen Schauspiels (Fastnachtspiele, farces, sotties, moralités polémiques"/politiques) im Kontext der Konfessionalisierung mit religiös-politischer Agitation in Verbindung gebracht. Vgl. hier neben Beck, Théâtre et propagande und Roussel, L’espace public (Kap. 1, Anm. 6) beispielsweise auch Ehrstine, Glenn: Theater, Culture, and Community in Reformation Bern, 1523–1555. Leiden, Boston, Köln 2002 (Studies in Medieval and Reformation Thought); Ridder, Klaus/Beatrice von Lüpke/Rebekka Nöcker: From Festival to Revolt. Carnival Theater during the Late Middle Ages and Early Reformation as a Threat to Ur­ ban Order. In: Power and Violence in Medieval and Early Modern Theater. Hrsg. von Cora Dietl/ Christoph Schanze/Glenn Ehrstine, Göttingen 2014, S. 153–167 und die Beiträge des Sammel­ bands Le Théâtre polémique français 1450–1550. Hrsg. von Marie Bouhaïk-Gironès/Jelle Koop­ mans/Katell Lavéant, Rennes 2008. Mit Blick auf das religiöse Schauspiel hat sich allerdings Ni­ kolaus Henkel auf produktive Weise mit medialen Wirkungsstrategien beschäftigt (vgl. Henkel, Nikolaus: Mediale Wirkungsstrategien des mittelalterlichen „Dramas“. Ein Beitrag zur Konstruk­ tion literarischer Intermedialität. In: Medien der Kommunikation im Mittelalter. Hrsg. von KarlHeinz Spiess, Stuttgart 2003 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15), S. 237–263). Mithilfe des Intermedialitäts-Konzepts erschließt er über die Sprache hinaus weitere mediale Formen der theatralen Kommunikation. So liefert er erste Ergebnisse, die die vorliegende Arbeit unter leicht veränderten methodischen Prämissen systematisch ausbaut.

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welche die Erschließung bis dahin ungekannter Dimensionen von Öffentlichkeit ermöglichten.¹⁷ Ausgehend von dem hier nur kurz umrissenen Forschungsstand, kann für das Spätmittelalter und den Beginn der Frühen Neuzeit, die den Untersuchungszeit­ raum dieser Arbeit bilden, die Existenz zeitlich und räumlich begrenzter Öffent­ lichkeiten angenommen werden. Eine solche konstituierte das volkssprachliche Theater der Zeit. Insbesondere die Aufführungen religiöser Stoffe entwickelten sich vom vierzehnten bis sechzehnten Jahrhundert zu städtischen Großereignis­ sen, deren Strahlkraft auch über die Stadtgrenzen hinausging. So unterrichten uns etwa die Chroniken der Stadt Metz aus dem Jahr 1437 darüber, dass zur Vor­ führung des Spiels La vengeance Nostre Seigneur in Metz auch Personen aus dem Ausland, unter anderem Deutschland, gekommen waren.¹⁸ Über die Aufführungsbedingungen der frühen Spiele des vierzehnten Jahrhunderts ist auf­ grund der Überlieferungssituation insgesamt weniger bekannt als über die späte­ ren Produktionen des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts.¹⁹ Im religiösen Schauspiel interagierten von Anfang an geistliche und weltliche Einflüsse. Allge­ mein lässt sich die Tendenz einer zunehmenden Verschiebung von Kompetenzen aus dem Bereich des Klerus hin zu weltlichen Interessengruppen erkennen, die im sechzehnten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Seit dem vierzehnten Jahrhundert sind sogenannte Spielbruderschaften, in Frankreich als confréries bezeichnet, belegt. Kleriker und Laien fanden sich in solchen Verbünden zusam­ men, um religiöse Spiele und Prozessionen auszurichten.²⁰ Im Jahr 1402 erhielt

17 Vgl. hier z. B. Scribner, Robert W.: Oral Culture and the Transmission of Reformation Ideas. In: The Transmission of Ideas in the Lutheran Reformation. Hrsg. von Helga Robinson-Hammer­ stein, Dublin 1989, S. 83–104; Eisermann, Falk: Bevor die Blätter fliegen lernten. Buchdruck, po­ litische Kommunikation und die ‚Medienrevolution‘ des 15. Jahrhunderts. In: Medien der Kommu­ nikation im Mittelalter. Hrsg. von Karl-Heinz Spiess, Stuttgart 2003 (Beiträge zur Kommunikati­ onsgeschichte 15), S. 289–320 und Hoffmann, George: From Communion to Communication. The Creation of a Reformation Public through Satire. In: Memory and Community in Sixteenth-Cen­ tury France. Hrsg. von David P. LaGuardia/Cathy Yandell, Farnham, Surrey, Burlington 2015, S. 113–133. Carl A. Hoffmann weist allerdings auch darauf hin, dass trotz wichtiger Veränderun­ gen „ein völliger Bruch mit den vorreformatorischen Kommunikationsformen nicht zu konstatie­ ren [ist], sondern Erweiterungen und Intensivierungen, die diese neue Kommunikationssituation bestimmten“ (Hoffmann, ‚Öffentlichkeit‘, S. 89 f. [Kap. 1, Anm. 7]). 18 Vgl. Wright, Stephen K.: The Vengeance of Our Lord. Medieval Dramatizations of the De­ struction of Jerusalem, Toronto 1989 (Studies and Texts 89), S. 130. 19 Die Spieltexte des vierzehnten Jahrhunderts sind in der Regel in Sammelhandschriften über­ liefert, die kaum Rückschlüsse auf ihre Aufführung zulassen. 20 Einige Bruderschaften richteten nur unter anderem Spiele aus, andere – die Spielbruder­ schaften – spezialisierten sich auf die Aufführungen. Vgl. Petit de Julleville, Louis : Histoire du théâtre en France. Les Mystères, Bd. 1, Paris 1880, S. 354 ff. und Doudet, Moralités, S. 158 ff. Estelle

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eine der bekanntesten Spielbruderschaften, die Confrérie de la Passion, das kö­ niglich verliehene Privileg, die öffentlichen Theateraufführungen in Paris und der Umgebung auszurichten.²¹ Häufig waren es solche Vereinigungen, die Spiel­ texte in Auftrag gaben und nicht nur deren Produktion finanzierten, sondern auch die Kosten der Aufführung trugen.²² In vielen anderen Fällen, insbesondere im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, war es die städtische Obrigkeit, die Spiele beauftragte, zensierte und ausrichtete.²³ Als Autoren und sogenannte Spielleiter (frz. meneur de jeu), die im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert meist noch Kleriker waren, fungierten im Übergang zur Neuzeit immer öfter Ver­ treter der städtischen Administration.²⁴ In Luzern etwa wurde es im sechzehnten Jahrhundert zur Tradition, dass der amtierende Stadtschreiber auch das Amt des Spielleiters übernahm.²⁵ Die Verschiebungen in der Trägerschaft illustrieren deutlich den wachsenden Einfluss der bürgerlichen Oberschicht auf den Spiel­

Doudet diskutiert hier auch die Unterscheidung zwischen einem populären théâtre de plateau, an dem keine Berufsschauspieler beteiligt waren, gegenüber einem elitären théâtre de tréteau, das von professionellen Spieleleitern geführt wurde und Berufsschauspieler und -schauspiele­ rinnen involvierte. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass eine klare Trennung im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert nicht möglich ist, da viele Produktionen und Vereinigungen Elemen­ te beider Seiten aufwiesen. Weitere Vereinigungen in Frankreich waren die sogenannten puys, compagnies joyeuses und chambres de rhétorique (vgl. Smith, Darwin/Gabriella Parussa/Olivier Halévy: Introduction générale. In : Le théâtre français du Moyen Âge et de la Renaissance. His­ toire, textes choisis, mises en scène. Hrsg. von Darwin Smith/Gabriella Parussa/Olivier Halévy, Paris 2014 (Anthologie de L’avant-scène théâtre), S. 15–110, hier S. 57). 21 Vgl. Petit de Julleville, Histoire du théâtre I, S. 417 f. 22 Vgl. hier S. 355. 23 Für einige Beispiele vgl. Konigson, Elie: L’espace théâtral médiéval. Paris 1975, S. 58–67. 24 Die Mehrheit der Spiele ist allerdings anonym überliefert. Es sei an dieser Stelle darauf hin­ gewiesen, dass die vorliegende Arbeit um eine geschlechtergerechte Sprache bemüht ist. Immer da, wo Menschen unterschiedlichen Geschlechts betroffen sind, wird dies durch die Hinzunahme der weiblichen Form kenntlich gemacht oder es werden substantivierte Gerundivformen verwen­ det. Im vorliegenden Fall bleibt die Formulierung auf die männliche Form beschränkt, da davon auszugehen ist, dass Männer die Spiele leiteten und die Spieltexte ausschließlich oder doch in der überwiegenden Mehrheit von Männern verfasst wurden. Die bekannteste Ausnahme ist zwei­ fellos Marguerite de Navarre, die im sechzehnten Jahrhundert neben anderen Texten auch eine Reihe von Theaterstücken schrieb. Das für diese Arbeit gebildete Spielkorpus umfasst allerdings keine ihrer Produktionen. 25 Vgl. Greco-Kaufmann, Heidy: Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Bd. 1, Zürich 2009 (Theatrum Helveticum 11), S. 433–437. Die theologische Ex­ pertise, welche die laikalen Spielleiter nur bedingt besaßen, holten sie, wenn nötig, bei Luzerner Geistlichen ein (vgl. hier S. 437).

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betrieb.²⁶ Im Verlauf des fünfzehnten Jahrhunderts wurden die Aufführungen zu städtischen Großereignissen, die auch Besucherinnen und Besucher von außer­ halb anzogen. Sie dienten den städtischen Gemeinden nicht nur zur Steigerung ihrer Reputation, sondern wurden auch zu einer bedeutenden Einnahmequelle für den lokalen Handel.²⁷ Schon sehr früh waren insbesondere in die Inszenierung von Passionsspie­ len, aber auch anderer Typen religiöser Spiele, große Teile der laikalen Bevöl­ kerung einer Gemeinde oder Stadt eingebunden. So benötigte man Experten für die zunehmend in den Spielen eingesetzten Spezialeffekte, Menschen, die bei Auf- und Abbau der Bühnenkonstruktion und der Herstellung der Dekoration mitwirkten und nicht zuletzt viele, sehr viele Darsteller und Darstellerinnen.²⁸ Zum Beispiel verzeichnet bereits ein französisches eschatologisches Spiel des vierzehnten Jahrhunderts vierundneunzig Personen bzw. Personengruppen²⁹; das monumentale Mystère des Actes des Apôtres (späteres fünfzehnten Jh.) bei­ nahe fünfhundert. Der Allgemeinplatz, es hätte im Spätmittelalter keine Berufs­ schauspieler gegeben, ist in der Forschung verschiedentlich zurückgewiesen worden. Vielmehr zeichnet sich das vormoderne Theater durch ein Nebeneinan­ der von professionellen Einzelpersonen und Gruppen und schauspielerischen Laien aus, die durchaus in ein- und derselben Aufführung mitwirken konnten.³⁰ Die gängigste Bühnenform zur Aufführung religiöser Spiele in Spätmittelalter und Früher Neuzeit war die sogenannte Simultanbühne; ein Bühnenraum, der

26 Vgl. hierzu auch Neumann, Bernd: Geistliches Schauspiel als Paradigma stadtbürgerlicher Literatur im ausgehenden Mittelalter. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vor­ träge des Deutschen Germanistentages 1984. 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur. Hrsg. von Georg Stötzel, Berlin, New York 1985, S. 123–135. 27 Vgl. Cohen, Gustave : Histoire de la mise en scène dans le théâtre religieux français du Moyen Âge. Nouvelle édition, revue et augmentée, Paris 1951, S. 165 und Ehrstine, Glenn: Raymond Peraudi in Zerbst. Corpus Christi Theater, Material Devotion, and the Indulgence Microeconomy on the Eve of the Reformation. In: Speculum 93 (2018), S. 319–356, hier S. 331–337. 28 Für das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert ist belegt, dass in einigen Fällen auch Frauen weibliche Rollen in den Spielen übernahmen; es sind sogar einige Berufsschauspielerinnen be­ zeugt (vgl. dazu Parussa, Gabriella: Le théâtre des femmes au Moyen Âge. Écriture, performance et mécénat. In : Théâtre et révélation. Donner à voir et à entendre au Moyen Âge. Hommage à Jean-Pierre Bordier. Hrsg. von Catherine Croizy-Naquet/Stéphanie Le Briz-Orgeur/Jean-René Valette, Paris 2017, S. 303–321). 29 Vgl. Le Mystère du Jour du Jugement. Texte original du XIVe siècle. Introduction, traduction et notes. Hrsg. von Jean-Pierre Perrot/Jean-Jacques Nonot, Besançon 2000, S. 21. 30 Zu den Personengruppen auf der Bühne vgl. Smith/Parussa/Halevy, Introduction générale, S. 50–61 (Kap. 1, Anm. 20).

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ebenerdig oder auf Gerüsten verschiedene ‚Orte‘ (mansiones³¹) umfasste, in denen und um die herum die Handlung sich ereignete. Gewöhnlich zogen alle Darstel­ ler und Darstellerinnen in feierlicher Prozession zu Spielbeginn ein und blieben während der gesamten Aufführungsdauer auf der Bühne.³² Prädestinierte Or­ te für die großen religiösen Spiele, die aufgrund ihrer enormen Darsteller- und Publikumszahlen³³ viel Platz benötigten, waren große freie Flächen wie Marktoder Friedhofsplätze. Seit dem späten fünfzehnten Jahrhundert kosteten die Aufführungen der religiösen Spiele in Frankreich Eintritt.³⁴ Obwohl der Eintrittspreis einen limitierenden Faktor für die Zugänglichkeit der Spiele darstellte, erreich­ ten die Aufführungen nachweislich ein großes Publikum, das sich aus Frauen und Männern unterschiedlicher sozialer Kontexte zusammensetzte³⁵, weshalb Bernd Neumann das religiöse Schauspiel als „einen wesentlichen, wenn nicht sogar den bedeutendsten Vertreter stadtbürgerlicher Literatur jener Epoche“³⁶ bezeichnet hat. Eine Studie, die den gattungsspezifischen Gebrauch persuasiver Strategien jenes einflussreichen Mediums städtischer Öffentlichkeit systematisch untersucht, fehlt bisher. Hier setzt die vorliegende Arbeit in komparatistischer Perspektive an.

31 Der Begriff hat sich in der romanistischen wie germanistischen Forschung als terminus techni­ cus durchgesetzt. Wie Graham A. Runnalls gezeigt hat, besaß der Ausdruck, eine Variante des französischen Wortes maison, jedoch zur Zeit der Spiele nicht den Status eines Fachbegriffs. Vgl. Runnalls, Graham A.: Mansion and Lieu. Two Technical Terms in Medieval French Staging? In: French Studies xxxv/4 (1981), S. 385–393. 32 Zur Simultanbühne vgl. einführend Schulze, Geistliche Spiele, S. 37 f. In der französischen Forschung wird dieser spezifische Bühnentypus mithilfe des Konzepts der polytopie bestimmt (vgl. Smith/Parussa/Halevy, Le théâtre français, S. 68 und 524 [Kap. 2, Anm. 63]). Vertiefende Studien zur Bühnenkonstruktion haben Konigson, L’espace théâtral und Cohen, Histoire de la mise en scène vorgelegt. 33 In einem seiner heute berühmten Briefe hält ein italienischer Gesandter, der bei der Aufführung eines eschatologischen Spiels in Luzern im Jahre 1549 zugegen war, fest, das Publikum, welches sich unter anderem auch aus Protestanten der umliegenden reformierten Gebiete zu­ sammensetzte, sei auf etwa achttausend geschätzt worden (vgl. Haas, Leonhard: Über geistli­ che Spiele in der Innerschweiz. Mailändische Augenzeugenberichte von 1533, 1549 und 1553. In: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte/Revue d’histoire ecclésiastique suisse 47 (1953), S. 113–122, hier S. 120). 34 Vgl. Konigson, L’espace théâtral, S. 59. Beispielhaft stellt Konigson Quellen zur Aufführung von fünf Spielen zwischen 1486 und 1547 vor (vgl. hier S. 59–66.). Er bringt die Einführung von Eintrittsgeldern mit der Konstruktion geschlossener Theaterräume, die für die Aufführungen er­ richtet wurden, in Verbindung. 35 Vgl. dazu auch hier S. 71–75. 36 Neumann, Geistliches Schauspiel, S. 135 (Kap. 1, Anm. 26).

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1.1 Zum Stand der komparatistischen Schauspiel-Forschung Dass sich im europäischen Raum des Spätmittelalters eine weit gefächerte volks­ sprachliche Schauspieltradition herausbildete, ist in der Forschung unbestrit­ ten.³⁷ Gleiches gilt für einen geteilten Bestand an literarischen Vorlagen und autoritativen Quellen, die der Konzeption und Aufführung von Spielen in unter­ schiedlichen Sprachräumen – etwa der Passionsspieltradition in Deutschland und Frankreich, den cycle plays in England und den sacre rappresentazioni in Italien – zugrunde liegen. In besonderem Maße betrifft dies das sogenannte re­ ligiöse oder geistliche Schauspiel³⁸, dessen Gegenstand durch den Bibelkanon, die Apokryphen sowie den christlichen Legendenbestand festgelegt ist und kaum Raum für thematische Variabilität lässt. Aufgrund seiner weiten Verbreitung und Stoffgebundenheit kann das vom Spätmittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein florierende Schauspiel – insbesondere die religiösen Spiele – mit voller Berechti­ gung als europäisches Phänomen bezeichnet werden. Umso mehr erstaunt es angesichts dieses Befundes, dass vergleichende Ar­ beiten zu Schauspielen aus verschiedenen europäischen Sprachräumen bisher weitestgehend fehlen.³⁹ Zwar wurden im ausgehenden neunzehnten und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vereinzelt Versuche unternommen, Bezüge zwischen deutsch- und französischsprachigen Spielen herzustellen, diese

37 Unter dem Titel European Medieval Drama ist der europäischen Perspektive des Schauspiels seit 1997 sogar eine jährlich erscheinende Zeitschrift gewidmet. 38 Die Terminologie ‚geistliches‘ und ‚weltliches‘ Schauspiel zur Klassifizierung der spätmit­ telalterlichen Spiele ist in der deutschsprachigen Forschung bis heute sehr verbreitet. Dass es sich dabei um eine moderne Kategorisierung handelt, die leicht zu der Annahme verleitet, die jeweiligen Schauspiele seien zwei grundsätzlich voneinander getrennten Lebensbereichen ver­ pflichtet, ist vielfach kritisch hervorgehoben worden. Als eine dem zeitgenössischen Verständnis angemessenere Terminologie haben Bernd Neumann und Dieter Trauden die Unterscheidung zwischen ‚religiösem‘ und ‚profanem‘ Schauspiel vorgeschlagen: Der Vorteil des Begriffspaars sei, dass es sich auf die Klassifizierung der in den Spielen behandelten Stoffe beschränke und zudem im zeitgenössischen Sprachgebrauch nachweisbar sei (vgl. die erste Anm. in Neumann, Bernd/Dieter Trauden: Überlegungen zu einer Neubewertung des spätmittelalterlichen religiö­ sen Schauspiels. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2004, S. 31–48, hier S. 31). Da auch in der französischen Forschungstradition üblicherweise zwischen théâtre religieux und profane unterschieden wird (wenn auch nicht ohne kritische Töne, vgl. etwa das Kapitel Théâtre religieux et profane au Moyen Âge. Essai de classification in Accarie, Maurice : Théâtre, littérature et société au Moyen Âge. Nice 2004, S. 13–26), folgt diese Arbeit dem Vorschlag Neumanns und Traudens, um die Spiele anhand ihres Stoffs klassifizieren zu können. 39 Der Fokus liegt im Folgenden auf der Forschungstradition zu deutsch- und französischspra­ chigen Spielen, doch gilt der Befund ebenso für andere romanische und germanische Sprachen.

1.1 Zum Stand der komparatistischen Schauspiel-Forschung | 11

erwiesen sich jedoch in der Regel als fruchtlos. So wurden Maurice Wilmottes Bemühungen, einen entstehungsgeschichtlichen Einfluss der nordfranzösischen Passionsspiele auf deutschsprachige Passionsspiele aus dem Rheinland nach­ zuweisen⁴⁰, sowohl in der germanistischen als auch romanistischen Forschung allgemein zurückgewiesen.⁴¹ Émile Roy, der sich auch mit Wilmottes Arbeit aus­ einandersetzt, nimmt zwar „une certaine influence“ des französischsprachigen Schauspiels auf das deutsche an, bewertet diese aber letztlich als lediglich „très lointaine et très générale.“⁴² Anhand verschiedener, in den Spieltexten über­ einstimmender Passagen, die Wilmotte als Nachweis für eine textgenetische Verbindung herangezogen hatte, zeigt Roy auf, dass die Übereinstimmungen auf gemeinsame Vorlagen – die Vulgata und andere theologisch autoritative Texte – zurückgehen und eine notwendige Kenntnis vorgängiger Schauspiele aus ihnen nicht gefolgert werden kann.⁴³ Franz Joseph Mone, der sich als einer der ers­ ten dem deutschsprachigen Schauspiel des Spätmittelalters zugewandt und es durch Editionen zugänglich gemacht hat, betont zwar, er habe zur Aufarbeitung der Spiele „größte Rücksicht auf die alte dramatische Literatur, namentlich der Franzosen“⁴⁴ genommen, doch haben seine konkreten Ausführungen zu Vorla­

40 Vgl. Wilmotte, Maurice : Les Passions allemandes du Rhin dans leur rapport avec l’ancien théâtre français. Bruxelles 1896. 41 Vgl. etwa die Rezension von F. Vogt (Vogt, F. : Rezension zu : Wilmotte, Maurice : Les passions allemandes du Rhin dans leur rapport avec l’ancien théâtre français. Bruxelles: 1896. In: Göttingi­ sche Gelehrte Anzeigen 162/1 (1900), S. 70–79) und den Eintrag zum religiösen Schauspiel im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, der resümierend festhält: „Eine von M. Wilmotte vertretene Hypothese franz. Herkunft und Beeinflussung der dt. Passionsspiele ist mit Recht als unbegründet abgelehnt worden.“ (Bergmann, Rolf: Spiele, mittelalterliche geistliche. In: Realle­ xikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. 2. Aufl. Hrsg. von Klaus Kanzog/Wolfgang Mohr, Bd. 4, Berlin, New York 1984, S. 64–100, hier S. 78). 42 Vgl. Roy, Émile : Le Mystère de la Passion en France du XIVe au XVIe siècle. Étude sur les sources et le classement des Mystères de la Passion. Accompagnée de textes inédits : La Passion d’Autun – La Passion bourguignonne de Semur – La Passion d’Auvergne – La Passion secundum legem debet mori, Dijon, Paris 1904, S. II f. 43 Vgl. beispielsweise Roys Ausführungen zur Ausgestaltung der Szene des Pilatus-Urteils, die auf sehr ähnliche Weise in französisch- und deutschsprachigen Passionsspielen umgesetzt wur­ de. Dies ist Roy zufolge nicht durch textgenetische Verbindungen zu erklären, sondern auf die Nutzung der gleichen Quelle, des apokryphen Nikodemus-Evangeliums, zurückzuführen (hier S. 297 f.). Ebenso argumentiert Hadassah Posey Goodman (vgl. z. B. Goodman, Hadassah Posey: Original Elements in the French and German Passion Plays. A Study of the Passion Scenes, Penn­ sylvania 1944, S. III). 44 Mone, Franz J.: Schauspiele des Mittelalters. Aus Handschriften herausgegeben und erklärt. Neudruck der Ausgabe Karlsruhe 1846, Aalen 1970, S. IX.

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gen, Inhalt, Metrik und Reim der deutsch- und französischsprachigen Spiele im Vergleich lediglich anekdotischen Charakter. Die Ansätze der deutschen und französischen Forschung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts verbindet die Vorstellung einer Vorreiter­ rolle Frankreichs im Feld der Literatur, die sie auch für die Gattung des Schau­ spiels anhand textgenetischer Beziehungen nachzuweisen (oder zu widerlegen) versuchen. In Auseinandersetzung mit Wilmottes Hypothese entstanden bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts noch einige Dissertationen, deren literatur­ historische Perspektive von diesem Gedanken geprägt ist und die allesamt zu dem Ergebnis kommen, dass ein direkter Einfluss zwischen deutsch- und französisch­ sprachigen Spielen nicht nachweisbar ist.⁴⁵ Die Bemühungen haben also, wie Guy Borgnet etwa ein halbes Jahrhundert später zutreffend bemerkt, in eine Sackgas­ se geführt.⁴⁶ Die auf sie folgende, kaum unterbrochene Stille hinsichtlich kompa­ ratistischer Arbeiten zum deutsch- und französischsprachigen Schauspiel legt ein beredtes Zeugnis über diese Sackgasse ab. Tatsächlich finden sich seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts fast keine größer angelegten Arbeiten, die beide volkssprachlichen Schauspieltraditionen systematisch vergleichend in den Blick nehmen.⁴⁷ Die wenigen monographischen Überblicksdarstellungen, die sich dem

45 Vgl. Dürre, Konrad: Die Mercatorszene im lateinisch-liturgischen, altdeutschen und altfran­ zösischen religiösen Drama, Halle (Saale) 1915; Bath, Marie: Untersuchung des Johannesspiels, der Blindenheilungs- und der Maria-Magdalenenscenen in den deutschen mittelalterlichen Pas­ sionsspielen mit besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehungen zu den französischen Myste­ rien, Marburg 1919; Niedner, Helmut: Die deutschen und französischen Osterspiele bis zum 15. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Theatergeschichte des Mittelalters, Berlin 1932 (Germanische Studien 119) und Goodman, Original Elements. Besonders drastisch formuliert Dürre die Ab­ lehnung der Position Wilmottes in einer Fußnote (Dürre, Die Mercatorszene, S. 12): „Wilmottes klägliches Gebäude von der Abhängigkeit der deutschen Spiele von den französischen Passionen ist in sich zusammengestürzt.“ 46 Vgl. Borgnet, Guy : Les rapports entre le théâtre religieux français et le théâtre religieux al­ lemand au Moyen Age. In : L’unité de la culture europeenne au Moyen Age. XXVIII. Jahrestagung des Arbeitskreises Deutsche Literatur des Mittelalters. Straßburg, 23.–26. September 1993, Greifs­ wald 1994 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 23. Serie WODAN Bd. 38), S. 1–7, hier S. 1. 47 Die einzige, mir bekannte Monographie jüngeren Datums stammt von Yumi Dohi und ver­ gleicht Abendmahlsdarstellungen im englisch-, deutsch- und französischsprachigen Schauspiel (vgl. Dohi, Das Abendmahl). Mitunter gibt es kürzere Arbeiten in Zeitschriften und Sammelbän­ den. Hervorzuheben sind die zahlreichen komparatistischen Untersuchungen Conny van Wil­ denberg-de Kroons, die ein großes Korpus deutsch- und französischsprachiger religiöser Spie­ le im Hinblick auf Struktur, Überlieferung und spezifische Themenkomplexe in den Blick neh­ men (vgl. Wildenberg-de Kroon, Conny van den: Zuschauer und Szenenwechsel im deutschen und französischen Passionsspiel. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 27 (1988), S. 151–160; Wildenberg-de Kroon, Conny van den: Zur Struktur der deutschen und französi­ schen spätmittelalterlichen Passionsspiele. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 28

1.1 Zum Stand der komparatistischen Schauspiel-Forschung |

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spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schauspiel über Sprachgrenzen hin­ weg widmen, behandeln die Sprachräume üblicherweise gesondert voneinander

(1989), S. 111–118; Wildenberg-de Kroon, Conny van den: Joseph ein Tölpel? Zur Josephgestalt in den Weihnachtsszenen des spätmittelalterlichen deutschen und französischen geistlichen Dra­ mas. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 30 (1990), S. 127–137; Wildenberg-de Kroon, Conny van den: Zur Aufführungs- und Lesesituation deutscher und französischer religiö­ ser Spiele im Mittelalter. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 34 (1991), S. 143–151; Wildenberg-de Kroon, Conny van den: Die Gestalt des Wirtes in den deutschen und französi­ schen mittelalterlichen Oster- und Passionsspielen. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germa­ nistik 35 (1992), S. 149–157; Wildenberg-de Kroon, Conny van den: Petrus der komische Jünger Jesu? Zur Komik der Petrusgestalt im spätmittelalterlichen deutschen und französischen geist­ lichen Drama. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 37 (1993), S. 147–167 und Wil­ denberg-de Kroon, Conny van den: Die Blindenheilung in dem deutschen und französischen geistlichen Drama und in der bildenden Kunst des Mittelalters. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 40 (1994), S. 159–172). Anschließend ist das Feld deutlich dünner gesät. Kon­ rad Schoell stellt in einem Aufsatz kursorisch die Ursprünge, Entwicklung, Gattungen und Aufführungen des deutschen und französischen mittelalterlichen Schauspiels einander gegenüber (vgl. Schoell, Konrad: Late Medieval Theatre in France and Germany. A Survey of the Origins and the Evolution, the Genres and the Performance. In: Linguæ & 3/1 (2004), S. 7–26). Die Dar­ stellung hat einführenden Charakter, vertiefte Analysen des breiten Themenspektrums sind im begrenzten Rahmen des Aufsatzformats nicht möglich. Eine solche liefert Carla Dauven in ihrem komparatistisch angelegten Beitrag zur Passion de Sainte-Geneviève und zum Donaueschinger Passionsspiel, der das Augenmerk auf die allegorische Szene des Disputs zwischen Ecclesia und Synagoga legt (Dauven, Carla: Die Passion de Sainte Geneviève und das Donaueschinger Passions­ spiel im Vergleich. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter / Transferts culturels et histoire littéraire au Moyen Âge. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Pa­ ris / Colloque tenu à l’Institut Historique Allemand de Paris. 16.–13.3.1995. Hrsg. von Ingrid Kas­ ten/Werner Paravicini/René Pérennec, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 271–282). Guy Borgnet widmet sich den möglichen Bezügen zwischen deutsch- und französischsprachi­ gen Schauspielen und ihrer Analyse dezidiert in seinem bereits erwähnten Aufsatz. Er hebt Über­ einstimmungen bezüglich der Gattungen, Quellen, Aufführungsmodalitäten, Figurenkonzeption und des vermittelten Weltbilds hervor und nimmt eine Zirkulation der Texte über die jeweilige Sprachgrenze hinweg an. Zugleich konstatiert er, diese Dimension sei „un mystère qu’il faudra encore creuser“ (Borgnet, Les rapports, S. 7 [Kap. 1, Anm. 46]). Darüber hinaus vergleicht er in einem späteren Aufsatz die Szene des procès de paradies, des Gerichts über die Menschen nach dem Sündenfall, in der deutschen und französischen theatralen Tradition (vgl. Borgnet, Guy: Le Procès de Paradis dans la tradition française et dans la tradition allemande des Jeux de la Pas­ sion. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Hrsg. von Ingrid Kasten/ Werner Paravicini/René Pérennec, Sigmaringen 1998, S. 263–269). Aus der jüngeren Vergan­ genheit ist ein Beitrag Peter Happes zu nennen, der funktionale Aspekte von Präcursor-Figuren (expositor figures) in französisch- und deutschsprachigen Passions- und Fronleichnamsspielen vergleicht (vgl. Happe, Peter: Expositor Figures in Some Cycle Plays in French and German. In: The Narrator, the Expositor, and the Prompter in European Medieval Theatre. Hrsg. von Philip Butterworth, Turnhout 2007 (Medieval Texts and Cultures of Northern Europe 17), S. 45–68). Zuletzt haben Klaus Ridder und Darwin Smith deutsch- und französischsprachige Spiele un­

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und setzen sie wenig und nicht systematisch miteinander in Bezug.⁴⁸ Eine Aus­ nahme stellt Lynette R. Muirs Arbeit dar, die nicht nur einen historischen Über­ blick über die Entstehung und Entwicklung des religiösen Schauspiels in ganz Eu­ ropa (insbesondere Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande und England) gibt, sondern auch thematisch strukturierte Analysen vorlegt, die Spiele aus allen Sprachgebieten berücksichtigen.⁴⁹ Auch die Versammlung und Übersetzung von Quellenmaterial zur Aufführungsrealität der religiösen Schauspiele aus verschie­ denen europäischen Sprachgebieten, die Peter Meredith und John E. Tailby 1983 publizierten, zeugt von dem Bemühen, eine Basis für vergleichende Untersuchun­ gen zu schaffen.⁵⁰ Darüber hinaus zeigt die Vielzahl an Sammelbänden und Kon­ gressdokumenten, die verstärkt seit den 1990er Jahren das Schauspiel als ein de­ zidiert europäisches Phänomen in den Blick nehmen, wie groß das Interesse an einer erweiterten Perspektive auf die Spiele ist.⁵¹ In der Regel versammeln diese

ter strukturellen Gesichtspunkten, nämlich die Rolle von Prosa-Passagen in versifizierten Spiel­ texten, in den Blick genommen (vgl. Ridder, Klaus/Darwin Smith: Aux confins du vers et de la prose. Prêcheurs et Fous dans les jeux allemands et français du Moyen Âge. In : Rencontres du vers et de la prose. Conscience poétique et mise en texte. Hrsg. von Catherine Croizy-Naquet/ Michelle Szkilnik, Paris 2017, S. 141–164) und Passionsspiele im Hinblick auf die Transformati­ onsprozesse religiösen Wissens hin befragt (vgl. Ridder, Klaus/Darwin Smith: Verfahrensweisen der Transformation religiösen Wissens in französischen und deutschen Passionsspielen. Passion des Arnoul Gréban, Donaueschinger und Frankfurter Passionsspiel. In: Religiöses Wissen im vor­ modernen Europa. Schöpfung – Mutterschaft – Passion. Hrsg. von Renate Dürr u. a., Paderborn 2019, S. 669–700). 48 Vgl. etwa Borcherdt, Hans Heinrich: Das europäische Theater im Mittelalter und der Re­ naissance. Neuauflage der 1935 bei J. J. Weber, Leipzig, erschienenen Erstausgabe, Reinbek bei Hamburg 1969. Sehr hilfreich für eine erste Orientierung zu einem spezifischen Spieltyp sind Ar­ beiten wie die Klaus Aicheles (Aichele, Klaus: Das Antichristdrama des Mittelalters, der Refor­ mation und Gegenreformation. Den Haag 1974), die einen länderübergreifenden Überblick über Antichristspiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nebst einleitenden Bemerkungen und Erläuterungen der einzelnen Spiele zur Verfügung stellt. Komparatistische Analysen im eigent­ lichen Sinne finden sich darin jedoch nicht. Dezidiert historisch ausgerichtete Überblickswerke über das europäische mittelalterliche Schauspiel (z. B. Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas. Bd. 1: Das Theater der Antike und des Mittelalters, Salzburg 1957; Kindermann, Heinz: Das Theaterpublikum des Mittelalters. Salzburg 1980 und Chambers, Edmund K.: The Medieval Stage. 2 Bde. Oxford (1903) 1925) haben einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der Einbettung der Spiele in ihren zeitgenössischen Kontext geleistet, behandeln die Spieltexte aber höchstens in illustrierender Funktion. 49 Vgl. Muir, Lynette R.: The Biblical Drama of Medieval Europe. Cambridge 1995. 50 Vgl. The Staging of Religious Drama in Europe in the Later Middle Ages. Texts and Documents in English Translation. Hrsg. von Peter Meredith/John E. Tailby, Kalamazoo 1983. 51 Arbeiten zu einem breiten Feld volkssprachlicher mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Schauspiele versammeln beispielsweise The Theatre of Medieval Europe. New Research in Early

1.2 Vorgehen und Ziele der Untersuchung | 15

Bände jedoch Beiträge aus unterschiedlichen Einzelphilologien; komparatistisch angelegte Arbeiten bleiben die Ausnahme.⁵²

1.2 Vorgehen und Ziele der Untersuchung Ein gewichtiger Grund für das Auseinanderklaffen zwischen dem verstärkten In­ teresse an einer länder- und sprachübergreifenden Perspektive auf das Schauspiel und dem Mangel an konkreten komparatistischen Arbeiten mag in der bereits ge­ nannten methodologischen Sackgasse liegen. Da die Untersuchung der Spiele auf textgenetische Verbindungen keine zufriedenstellenden Ergebnisse hervorbrin­ gen konnte, stellt sich die Frage, welche methodologischen Alternativen eine sys­ tematische komparatistische Analyse ermöglichen könnten. Ziel dieser Arbeit ist es, durch eine Neuperspektivierung der Spiele und ein geändertes methodologi­ sches Vorgehen deutsch- und französischsprachige Spiele erneut vergleichend in den Blick nehmen zu können und so dem Anspruch, das Schauspiel in seiner eu­ ropäischen Dimension zu erfassen, besser gerecht zu werden. Die Neuperspekti­ vierung der Spiele setzt an ihrem eingangs beschriebenen persuasiven Potential an. Es soll in dieser Arbeit nicht danach gefragt werden, ob und welche Verwandt­ schafts- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen französisch- und deutschspra­ chigen Spielen bestehen, wie dies in der Vergangenheit getan wurde. Auch soll es nicht um den Nachvollzug eventueller Wege der konkreten Textzirkulation über die Sprachgrenzen hinweg gehen, wie ihn Borgnet vorschlägt⁵³, da dieser in letz­ ter Instanz wieder auf die Frage nach Abhängigkeitsverhältnissen zurückführt. Ausgehend von drei Prämissen sollen vielmehr die Persuasionsstrategien des religiösen Schauspiels als Kommunikationsmedium in den Blick genommen wer­

Drama. Hrsg. von Eckehard Simon, Cambridge u. a. 1991; The Stage as Mirror. Civic Theatre in Late Medieval Europe. Hrsg. von Alan E. Knight, Cambridge 1997; Drama and Community. People and Plays in Medieval Europe. Hrsg. von Alan Hindley, Turnhout 1999; The Medieval European Stage. 500–1550. Hrsg. von William Tydeman, Cambridge u. a. 2001; Langues, codes et conventions de l’ancien théâtre. Actes de la troisième Rencontre sur l’ancien théâtre européen, Tours, 23–24 sep­ tembre 1999. Hrsg. von Jean-Pierre Bordier, Paris 2002; Performance, Drama and Spectacle in the Medieval City. Essays in Honour of Alan Hindley. Hrsg. von Catherine Emerson/Adrian Tudor/ Mario Longtin, Louvain u. a. 2010 und Europäische Schauplätze des frühneuzeitlichen Thea­ ters. Normierungskräfte und regionale Diversität. Hrsg. von Christel Meier und Angelika Kem­ per, Münster 2011. An dieser Stelle sei auch die Société internationale pour l’étude du théâtre mé­ diéval (SITM) erwähnt, die seit den 1970er Jahren eine Plattform für die international vernetzte Forschung zum mittelalterlichen Schauspiel in Europa bietet. 52 Vgl. die in Anm. 47 erwähnten Aufsätze. 53 Vgl. Anm. 46.

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den. Persuasion ist im Sinne des „technischen Kern[s] der Rhetorik“ zu verste­ hen, der den „Wechsel von einem mentalen Zustand in einen anderen bezeich­ net, der bei Menschen als erwünschte Reaktion auf kalkulierte, Widerstand umge­ hende oder überwindende rhetorische Handlungen eintritt.“⁵⁴ Die erste Prämis­ se besagt, dass das Schauspiel als eines der wenigen ‚Massenmedien’⁵⁵ des Spät­ mittelalters und der Frühen Neuzeit in der Aufführungssituation einen Kommu­ nikationsraum schafft, über den Inhalte wirkungsvoll einer breiten Gruppe von Rezipientinnen und Rezipienten kommuniziert werden können. Die zweite Prä­ misse betrifft die Annahme eines gemeinsamen Fundaments der deutsch- und französischsprachigen Schauspieltradition: Weil die Spiele in weiten Teilen auf einem geteilten Bestand an literarisch-religiösen Vorlagen aufbauen, dieselben Stoffe behandeln, ihre Autoren aus vergleichbaren sozialen Kontexten stammen und sie unter sehr ähnlichen Bedingungen aufgeführt werden, besteht eine soli­ de geteilte Basis, die den Vergleich ermöglicht. Der rhetorisch orientierte Zugriff auf die Spiele begründet sich aus der dritten Prämisse. Sowohl im Spätmittelalter als auch zu Beginn der Frühen Neuzeit ist die Rhetorik ein klassischer Bestandteil der schulischen und universitären Bildung und eines der verbindenden Elemente der Gelehrtenkulturen, denen die Autoren der religiösen Schauspiele zuzuordnen sind. Das trivium der aus hellenistischer Zeit stammenden artes liberales, dem die

54 Knape, Joachim: Persuasion. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ue­ ding, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 874–907, hier Sp. 874. 55 Als die zwei Massenmedien des Spätmittelalters gelten Predigt und Schauspiel. Ihr Verhältnis ist in der Forschung verstärkt in den Blick gerückt. Auf die Gesamtheit der Positionen kann an die­ ser Stelle nicht näher eingegangen werden. Für eine erste Orientierung seien hier nur die Einfüh­ rung zum Band Prédication et performance du XIIe au XVIe siècle (Bouhaïk-Gironès, Marie: In­ trodution. La scène prédicatrice. In : Prédication et performance du XIIe au XVIe siècle. Hrsg. von Marie Bouhaïk-Gironès/Marie Anne Polo de Beaulieu, Paris 2013, S. 9–15) und Carla Dauvenvan Knippenbergs Aufsatz zum Verhältnis von Predigt und religiösem Schauspiel (Dauven-van Knippenberg, Carla: Ein Anfang ohne Ende. Einführendes zur Frage nach dem Verhältnis zwi­ schen Predigt und geistlichem Schauspiel des Mittelalters. In: Mittelalterliches Schauspiel. Fest­ schrift für Hansjürgen Linke zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ulrich Mehler/Anton H. Touber, Amsterdam, Atlanta 1994 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 38–39), S. 143–160) er­ wähnt. Eine herausragende Stellung nimmt in Europa seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhun­ derts selbstverständlich der Buchdruck ein. Auch auf die Verbreitung von bestimmten Spieltex­ ten nimmt die technische Neuerung vor allem in Frankreich ab der zweiten Hälfte des fünfzehn­ ten Jahrhunderts großen Einfluss (vgl. die Ausführungen Graham A. Runnalls zur Passion Jean Michels in Runnalls, Graham A.: Les Mystères de la Passion en langue française. Tentative de classement. In: Romania 114/455–456 (1996), S. 468–516, hier S. 491–493). Im Rahmen dieser Ar­ beit soll jedoch kein besonderes Augenmerk auf die Rolle des Buchdrucks gerichtet werden, da nur ein kleiner Teil der behandelten Spiele gedruckt wurde und die spezifische Medialität des Schauspiels, die eng mit der Aufführungssituation verknüpft ist, im Zentrum des Interesses steht.

1.2 Vorgehen und Ziele der Untersuchung |

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Rhetorik neben Grammatik und Dialektik zugehört, stellte das Fundament der spätantiken und frühmittelalterlichen Bildung dar und prägte auch die Lehrin­ stitutionen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.⁵⁶ Der Rhetorik wurde im Verlauf des Mittelalters nicht immer der gleiche Wert beigemessen – von der Hilfs­ wissenschaft in der Scholastik bis hin zur Königsdisziplin im Renaissance-Huma­ nismus – und in Reaktion auf die mittelalterlich-christliche Lebenswelt kam es zur Herausbildung von Spezialrhetoriken (ars dictandi, ars poetriae, ars praedican­ di, ars arengandi), die sich von ihren antiken Vorläufern deutlich unterschieden. Dennoch ist festzuhalten, dass die Rhetorik stets konstitutiver Bestandteil der Bil­ dung blieb und auf einem relativ überschaubaren Kanon klassischer Rhetorik­ quellen aufbaute, der überwiegend enzyklopädisch tradiert und von den Gelehr­ ten der Zeit kommentiert wurde.⁵⁷ Die dritte Prämisse besagt folglich, dass die Au­

56 In Klosterschulen, Dom- und Kathedralschulen sowie auch einigen Stadtschulen wurden Grammatik, Rhetorik und Dialektik in lateinischer Sprache unterrichtet und dem trivium kam an den Universitäten die Stellung einer Propädeutik zu, deren erfolgreicher Abschluss (magister atrium) zum Studium an den oberen Fakultäten (Theologie, Jura und Medizin) befähigte. Zu den artes liberales und ihrer Rolle in den Bildungsinstitutionen des Mittelalters und der beginnen­ den Neuzeit vgl. Lindgren, Uta: Artes liberales. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 1080–1109; Kintzinger, Martin: Trivium. In: Enzy­ klopädie des Mittelalters. 2., bibliogr. akt. Aufl. Hrsg. von Gert Melville/Martial Staub, Bd. 1, Darmstadt 2013, S. 374–376 und Müller, Rainer A.: Bildungseinrichtungen. In: Enzyklopädie des Mittelalters. 2., bibliogr. akt. Aufl. Hrsg. von Gert Melville/Martial Staub, Bd. 1, Darmstadt 2013, S. 415–525. 57 Bis zum fünfzehnten Jahrhundert waren dies vor allem Werke Ciceros (insbesondere De inven­ tione, aber auch Schriften wie De partitione) und die zeitgenössisch ebenfalls Cicero zugeschrie­ bene Rhetorica ad Herennium. Von weit geringerer Bedeutung war im Mittelalter die aristoteli­ sche Argumentationstheorie, die in Grundzügen dennoch vermittels Boëthius‘ De differentiis to­ picis tradiert wurde sowie seit dem dreizehnten Jahrhundert in Übersetzung aus dem Arabischen vollständig vorlag. Die Legitimation der klassisch-antiken Rhetorik im christlichen Kontext be­ gründete das vierte Buch von Augustinus‘ De doctrina christiana, das seinerseits zu einem ‚Klassi­ ker‘ der mittelalterlichen Rhetoriktheorie wurde. Quintilians Institutio oratoria wurde erst im Hu­ manismus seit dem frühen fünfzehnten Jahrhundert verstärkt rezipiert. Dasselbe gilt für Ciceros De oratore. Eine erste Orientierung zu den Autoritäten des mittelalterlichen Rhetorikunterrichtes bietet Ueding, Gert/Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, 4., akt. Aufl., Stuttgart 2005, S. 63 ff. Für eine vertiefende Darstellung der Rhetoriktraditionen im Mit­ telalter sowie zu Beginn der Frühen Neuzeit im Kontext von Humanismus, Renaissance und Re­ formation vgl. Knape, Joachim: Rhetorik und Stilistik des Mittelalters. In: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Hrsg. von Ulla Fix/ Andreas Gardt/Joachim Knape, 1. Halbband, Berlin, New York 2008 (Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft 31.1), S. 55–73; Kennedy, George A.: Classical Rhetoric and its Christian and Secular Tradition from Ancient to Modern Times. 2., überarb. und erg. Aufl., Chapel Hill, London 1999, S. 196–252 und Knape, Joachim: Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in Humanismus, Renaissance und Reformation im europäischen Kontext. In: Rhetorik

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toren der religiösen Schauspiele mit grundlegenden rhetorischen Prinzipien, wie den Wirkungsfunktionen docere, delectare sowie movere und Kernbereichen der Arbeitsschritte beim Verfassen einer Rede (inventio, dispositio, elocutio, memoria, actio), vertraut waren und die bekannten Kategorien auch in der Produktion der Spiele anwenden konnten. Dies bedeutet nicht, dass das Erkenntnisinteresse die­ ser Arbeit auf eine Rekonstruktion zeitgenössischer Rhetoriktheorien im religiö­ sen Schauspiel zielt. Es ging in diesem kurzen Abriss vielmehr darum, das rhetori­ sche framing⁵⁸ offenzulegen, das aufgrund des Bildungshintergrunds der Autoren für das religiöse Schauspiel anzunehmen ist. Unter den Voraussetzungen einer besonderen Wirkungsmacht des Schauspiels, einer Vergleichbarkeit der franzö­ sisch- und deutschsprachigen Tradition sowie eines rhetorischen framings der Spiele soll in dieser Arbeit also danach gefragt werden, welche persuasiven Strate­ gien sich in den theatralen Bearbeitungen christlicher Stoffe identifizieren lassen. Damit ist ein Zugriff gewählt, der an der analogen gesellschaftlichen Strukturstel­ le und Funktion religiöser Schauspiele im deutschen und französischen Sprach­ raum ansetzt und den Vergleich nicht auf Interdependenzen einzelner Spiele be­ zieht, sondern auf kommunikative Verfahren, die der Einflussnahme auf das Pu­ blikum dienen. Wie kann ein solcher Ansatz methodologisch umgesetzt werden? Die Suche nach textgenetischen oder historischen Bezügen zwischen den Spielen hilft hier nicht weiter. Ausgehend vom Verständnis des Schauspiels als kulturelles System, dem eine spezifische Zeichenhaftigkeit eignet, ist das Ziel dieser Arbeit, einen se­ miotischen Ansatz für die komparatistische Analyse deutsch- und französisch­ sprachiger Spiele fruchtbar zu machen. Das Konzept des kulturellen Systems, das Erika Fischer-Lichte über seine generelle Leistung, Bedeutung zu erzeugen, de­

und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, 1. Halbband, Berlin, New York 2008 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31.1), S. 73–97. 58 Der framing-Ansatz hat interdisziplinär vielfältige Verwendungsgebiete gefunden. In der So­ ziologie und Kommunikationswissenschaft wird er dazu genutzt, den Blick dafür zu schärfen, wie bestimmte Deutungsraster unsere Wahrnehmung von Ereignissen vorstrukturieren und wel­ chen Einfluss aktives framing in vermachteten Prozessen der Meinungsbildung und in Mobilisie­ rungsprozessen ausüben kann, vgl. z. B. Benford, Robert D./David A. Snow: Framing Processes and Social Movements. An Overview and Assessment. In: Annual Review of Sociology 26 (2000), S. 611–639. Hier soll über den Begriff des framings ausgedrückt werden, dass die im schulischen oder universitären Kontext erlernten rhetorischen Kategorien auch die Produktion der religiösen Spiele prägen mussten, selbst wenn das Schauspiel nicht direkt einer der mittelalterlichen Re­ degattungen zugehörte. Verknüpfungspunkte ergaben sich zweifellos zur ars praedicandi, mit der das Schauspiel seine religiös-erbauliche Wirkungsabsicht teilte. Zudem enthalten eine ganze Reihe von Spieltexten Predigten.

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finiert⁵⁹, soll hier im Rahmen eines konstruktivistischen Verständnisses von Kul­ tur verstanden werden: Kultur wird nicht ausschließlich als materielles oder geis­ tiges Produkt (wie z. B. die bildende Kunst, Architektur oder auch gesellschaftli­ che Institutionen und Rechtsformen) aufgefasst, sondern sie umfasst „bereits die Pläne, die diesen Bildungen zugrunde liegen.“⁶⁰ Fritz Hermanns spricht in die­ sem Sinne von Kultur als „Totalitätsbezeichnung“, da sie die Summe unzähliger Einzelheiten darstelle, die erst in ihrer Totalität die Kultur bildeten.⁶¹ Vor diesem Hintergrund können kulturelle Systeme als konkrete konventionalisierte Muster der Bedeutungsbildung, also als Ausdrucksformen der Totalität Kultur verstan­ den werden. Im Sinne eines kulturellen Systems kommt dem Schauspiel eine ord­ nende Funktion zu, indem die Gemeinschaft, die es produziert und aufführt, sich über es selbst spiegelt, sich seiner versichert, sich aber auch als solche überhaupt erst konstituiert. Der modus operandi des Schauspiels, dem das Interesse dieser Arbeit gilt, ist dabei durch seine spezifische Zeichenhaftigkeit festgelegt. Im ersten Band ihrer Reihe zur Semiotik des Theaters arbeitet Fischer-Lichte das Repertoire an Zei­ chen heraus, die dem Theater minimal und maximal zur Verfügung stehen. In enger Anlehnung an die Vorarbeiten Tadeusz Kowzans⁶² und Patrice Pavis‘⁶³ un­ terscheidet sie vier Kategorien, die sie jeweils weiter untergliedert. Es handelt sich dabei um:⁶⁴ 1. Akustische Zeichen a) Sprachliche (linguistische) Zeichen

59 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. 5., unveränd. Aufl. Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 2007, S. 8. 60 Gardt, Andreas: Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute. Hrsg. von Ulrike Hass/Christoph König, Göttingen 2003 (Marba­ cher Wissenschaftsgeschichte 4), S. 271–288, hier S. 271. Dieses Kulturverständnis äußert sich auch in Klaus P. Hansens näherer Bestimmung von Kultur: „Das Phänomen Kultur setzt sich aus drei fundamentalen Faktoren zusammen: aus Standardisierung, Kommunikation und Kollekti­ vität. Alle geistigen und materiellen Leistungen einer Kultur, die früher gerne zu ihrer Definiti­ on benutzt wurden, alle künstlerischen und technischen Errungenschaften lassen sich darauf zurückführen.“ (Hansen, Klaus P.: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung, 3., durch­ ges. Aufl., Tübingen, Basel 2003, S. 42). 61 Vgl. Hermanns, Fritz: Sprache, Kultur und Identität. Reflexionen über drei Totalitätsbegrif­ fe. In: Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Hrsg. von Andreas Gardt/Ulrike Hass-Zumkehr/ Thorsten Roelcke, Berlin, New York 1999 (SLG 54), S. 351–391, hier S. 378–381. 62 Vgl. Kowzan, Tadeusz : Le signe au théâtre. Introduction à la sémiologie de l’art du spectacle. In : Diogène 61 (1968), S. 59–90, insbesondere S. 69–83. 63 Vgl. Pavis, Patrice : Problèmes de sémiologie théâtrale. Montréal 1976. 64 Die folgende Auflistung stellt eine Zusammenfassung der Erläuterungen in Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters I, S. 25–30 dar.

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2.

3.

4.

b) Paralinguistische Zeichen (Betonung, Tonhöhe, Lautstärke, Stimmfär­ bung) c) Musikalische Zeichen (Gesang, Musikinstrumente) d) Geräusche Kinesische Zeichen a) Mimische Zeichen (Gesichtsbewegungen) b) Gestische Zeichen (Körperbewegungen ohne Positionswechsel) c) Proxemische Zeichen (Körperbewegungen im Raum) Erscheinung des Darstellers als Zeichen a) Natürliche Zeichen (Gesicht, Gestalt, Haare des Darstellers) I) Maske II) Frisur b) Künstliche Zeichen (Kleidung des Darstellers) I) Kostüm Raum als Zeichen a) Dekoration (unverändert bleibende Bühnenelemente) b) Requisiten (Bühnenelemente, die im Prozess des Agierens verändert wer­ den können) c) Beleuchtung

Für das Zeichenrepertoire beansprucht Fischer-Lichte allgemeine Gültigkeit, es stellt also raum- und zeitübergreifend die theatralen Möglichkeiten dar, Bedeu­ tung herzustellen. Obwohl Fischer-Lichte das moderne Theater offensichtlich stärker im Blick hat als das Schauspiel des Spätmittelalters und der Frühen Neu­ zeit⁶⁵, kann das von ihr ermittelte Zeichenrepertoire auch als für das Schauspiel zutreffend angenommen werden, da dieses sich ebenfalls auf die Minimalform „Theater ereignet sich, [. . . ] wenn es eine Person A gibt, die X verkörpert, wäh­ rend S zuschaut“⁶⁶, die Fischer-Lichte von Eric Bentley⁶⁷ übernimmt, bringen lässt. Durch das Zeichenrepertoire liegen uns nun gewissermaßen die ‚Spielregeln‘ vor, nach denen die Schauspiele im deutsch- und französischsprachigen Raum funktionieren und bei denen die Analyse ansetzen kann. Die besondere Situation, dass wir es mit einem historischen Forschungsgegenstand zu tun haben, sprich

65 So ist beispielsweise die von ihr für alle Theaterformen vorausgesetzte Seinsweise als Kunst­ werk in Bezug auf das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Schauspiel problematisch (vgl. hier S. 14 f.). 66 Hier S. 25. 67 Bentley, Eric: The Life of the Drama. London 1965.

1.2 Vorgehen und Ziele der Untersuchung | 21

die Aufführungssituation nicht mehr einholen und maximal über Textzeugnisse rekonstruierend nachvollziehen können, schränkt das zugängliche Zeichenreper­ toire jedoch etwas ein. Von den unter 1) genannten akustischen Zeichen können a) die sprachlichen bzw. linguistischen und c) die musikalischen Zeichen durch Fi­ gurenrede, Regieanweisungen und gelegentlich auch musikalische Notationen in der Regel gut erfasst werden. Schwieriger gestaltet sich der Zugang zu b) paralin­ guistischen Zeichen und d) Geräuschen. Über Aspekte wie Betonung und Stimm­ färbung geben die Regieanweisung nur in den seltensten Fällen Auskunft und auch Geräusche können nur identifiziert werden, wenn sie über eine Anweisung im Nebentext eingefordert oder angekündigt werden oder wenn die Figurenrede sie erwähnt. Beide Formen akustischer Zeichen sind über die textbasierte Über­ lieferung kaum einzuholen. Besser sieht es hinsichtlich der unter 2) genannten ki­ nesischen Zeichen b) und c) aus. Sowohl gestische als auch proxemische Zeichen werden häufig im Nebentext beschrieben und sind zum Teil auch anhand von Ei­ gen- und Fremdkommentaren in der Figurenrede rekonstruierbar. Mimische Zei­ chen werden dagegen seltener erwähnt und sind schwerer fassbar. Im Fall einiger Spiele sind Listen von Darstellern und Requisiten überliefert, die es ermöglichen, Informationen über die unter 3b) genannten künstlichen Zeichen (Kostüme) zu erhalten, gelegentlich werden auch zu den natürlichen Zeichen gehörige Aspekte (wie beispielsweise ein Bart oder die Haarfarbe) erwähnt. Die Regel ist dies jedoch nicht, weshalb 3a) und b) nur eingeschränkt zugänglich sind. Ähnlich präsentiert sich die Lage in Bezug auf Aspekte des Raums: Einige Spiele enthalten vor allem durch Nebentexte, gelegentlich durch Figurenreden und selten auch durch Büh­ nenpläne Informationen zu a) Dekoration und b) Requisiten, andere nicht. Infor­ mationen über eine zusätzliche Beleuchtung der im Freien aufgeführten Spiele gibt es in der Regel nicht, weshalb 4c) in der Analyse keine Berücksichtigung fin­ den kann. Der kurze Durchgang macht deutlich, dass durch die textbasierte Überliefe­ rung der Spiele, auf der die Analyse aufbaut, die sprachlichen Zeichen besonders gut zugänglich sind. Er zeigt jedoch auch, dass aus diesem Grund die übrigen Zei­ chenformen nicht gänzlich in den Hintergrund zu treten brauchen, sondern ganz im Gegenteil viele von ihnen Eingang in die Untersuchung finden können und müssen. Um den definierten theatralen Zeichenbestand auf Persuasionsstrategien hin zu befragen, wird die aus der Sprachwissenschaft stammende Methode der kultur­ bezogenen Textanalyse eingesetzt. Ausgehend von einem pragmatischen Sprach­ begriff werden Texte als in einem kommunikativen Gefüge, das auf einen kultu­ rellen Rahmen verweist, stehend verstanden und daraufhin befragt, „wie mittels Sprache ein bestimmter Ausschnitt der Wirklichkeit konstituiert wird“, d. h. sie

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zielen auf „die Muster der Bedeutungskonstitution“.⁶⁸ Im Fall des Schauspiels liegt eine besondere Situation vor, da der Text auf eine Aufführungssituation und die damit verbundene spezifische theatrale Semiotik verweist. Es handelt sich al­ so um semiotisch besonders komplexe Texte. Ausdrückliches Ziel der Analyse ist es, den multimodalen Charakter der Spiele zu erfassen. Dieser manifestiert sich in der Aufführung, welche hier der Analyse nicht zugänglich ist, jedoch in Teilen anhand des sprachlichen und bildlichen Materials ermittelt werden kann.⁶⁹ Dass die Textanalyse sich auch zur Untersuchung heterogener Zeichenformen eignet, haben Arbeiten zu Phänomenen der Bild-Text-Semiose gezeigt.⁷⁰ Die Textanalyse stellt einen methodischen Kompass zur Verfügung, von dem ausgehend über Ana­ logiebildung auch weitere Zeichenformen systematisch in den Blick genommen werden können. Ebenjenes möchte diese Arbeit leisten: Mithilfe der Methoden der Textanalyse soll das theatrale Zeichenrepertoire analysiert werden. Dabei gilt es, auf der Basis der aus der Textanalyse bekannten Verfahren Beschreibungsfor­ men auch für die nichtsprachlichen Komponenten der Spiele zu entwickeln, die Teil der Semiose sind. Andreas Gardt folgend wird zunächst zwischen punktu­ ellen und flächigen Formen der Bedeutungsbildung unterschieden. Sie sind als Extreme einer Skala zu verstehen, auf der punktuelle Formen graduell in flächige übergehen. Unter punktueller Bedeutungsbildung versteht Gardt „einzelne (zu­ meist lexikalische) Textausdrücke oder Ausdruckskombinationen“, die „in einer Weise Bedeutung evozieren, dass der betreffende Ausdruck als semantisch rele­ vant zumindest für den weiteren Kotext seines Vorkommens bewertet wird.“⁷¹ In diese Kategorie würden beispielsweise bestimmte Schlagwörter oder Kollokatio­ nen fallen. Demgegenüber entsteht bei flächiger Bedeutungsbildung „der seman­ tische Effekt durch die Gesamtheit der Bedeutung mehrerer Textelemente, ohne dass ein einzelnes dieser Textelemente bereits die erst über die Gesamtfläche des Textes entstehende Bedeutung anzeigt.“⁷² Zu flächigen Formen der Bedeutungs­ bildung sind etwa konzeptuelle Metaphern, Topoi oder frames zu zählen. Auf­ grund der Zeichenhaftigkeit aller theatralen Äußerungen ist anzunehmen, dass

68 Gardt, Andreas: Textanalyse als Basis der Diskursanalyse. Theorie und Methoden. In: Fakti­ zitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Hrsg. von Ekkehard Felder, Berlin, Boston 2013 (Sprache und Wissen 13), S. 29–56, hier S. 43 (Hervorhebung im Original). 69 Zum Verhältnis von Text und Aufführung vgl. Abschnitt 2.2 in der theoretisch-methodologi­ schen Grundlegung. 70 Vgl. etwa Nina-Maria Klugs Analyse konfessioneller Flugblätter aus der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, in der es ihr gelingt, Methoden der Bild- und Textanalyse äußerst produktiv zu verbinden (Klug, Nina-Maria: Das konfessionelle Flugblatt 1563–1580. Eine Studie zur historischen Semiotik und Textanalyse, Berlin 2012 [Studia linguistica Germanica 112]). 71 Gardt, Textanalyse, S. 45 (Kap. 1, Anm. 68). 72 Ebd.

1.3 Das Korpus der Untersuchung |

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das gesamte Zeichenrepertoire punktuell und flächig Bedeutung erzeugen kann. Dies gilt folglich nicht nur für sprachliche, sondern auch für nichtsprachliche Zei­ chen, wie beispielsweise gestische oder proxemische. Das spezifische Vorgehen erläutert das Kapitel ‚theoretisch-methodische Grundlegung‘, doch soll zunächst die Textbasis erläutert werden, auf der die Analyse erfolgt.

1.3 Das Korpus der Untersuchung Die Schauspieltradition umfasst sowohl im französisch- als auch im deutsch­ sprachigen Raum eine beachtliche Menge von religiösen und profanen Spielen, aus denen für die vergleichende Analyse eine Auswahl getroffen werden muss­ te. Der erste Schritt bestand in der Entscheidung, den Fokus auf religiöse Spiele zu legen. Diese bieten sich für einen Vergleich in besonderer Weise an, da sie, wie bereits erwähnt, in weiten Teilen auf den gleichen theologischen Vorlagen basieren, die gleichen Stoffe behandeln und sich hinsichtlich Produktions- und Rezeptionsbedingungen stark ähneln. Für profane Spiele, deren Vorlagen weni­ ger dem theologischen als dem literarischen Kontext entstammen⁷³, gilt dies in eingeschränkterer Weise. Voraussetzende Kriterien bei der Auswahl konkreter Spieltypen mussten erstens Stoffgleichheit und zweitens ein sich entsprechender Produktions- und Rezeptionszeitraum sein. Zudem sollte drittens von annähernd gleichen Rezeptionsbedingungen ausgegangen werden können. Spieltypen, die nur in einem der Sprachräume große Popularität erfahren haben, schieden da­ mit aus. Dies gilt etwa für die französischsprachigen hagiographischen Mirakel­ spiele, wie sie in großer Zahl für das vierzehnte Jahrhundert überliefert sind, im deutschsprachigen Raum jedoch kaum und erst deutlich später Verbreitung

73 Für die Tradition der Fastnachtspiele und farces sind etwa die schwankhaften Mären und fabliaux wichtige literarische Vorlagen. Die Zirkulation solcher Stoffe über die deutsch-französi­ sche Sprachgrenze hinweg sind aufgrund vieler Motivverwandtschaften zwar durchaus vorstell­ bar (vgl. z. B. Patrick del Ducas Aufsatz zur Beziehung zwischen Stricker-Mären und fabliaux: del Duca, Patrick: Le Stricker et ses sources françaises. Art narratif et intention didactique. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter / Transferts culturels et histoire lit­ téraire au Moyen Âge. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris / Colloque tenu à l’Institut Historique Allemand de Paris 16.–18.3.1955. Hrsg. von Ingrid Kasten/Werner Paravici­ ni/René Pérennec, Sigmaringen 1998, S. 229–244; allgemeiner zu Mären und fabliaux, insbeson­ dere zu textgenetischen Verbindungen ab der zweiten Hälfte des vierzehnten Jhs. vgl. Grubmül­ ler, Klaus: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellis­ tik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, S. 55–151, besonders 132–136), doch konstituieren sie keine so breite, autoritative Stoffbasis wie die kanonischen und apokryphen Bibeltexte dies für das religiöse Schauspiel tun.

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fanden. Basierend auf den drei oben genannten Kriterien nimmt diese Arbeit zwei Spieltypen in den Blick: Passionsspiele und eschatologische Spiele, ge­ nauer Weltgerichts- und Antichristspiele.⁷⁴ Sowohl die Passion (i. d. R. erweitert durch Szenen aus dem Neuen und häufig auch Alten Testament) als auch das Weltende und das darauf folgende Jüngste Gericht sind biblische Stoffe, die in ikonographischen Quellen beider Sprachräume omnipräsent sind und einen festen Bestandteil der französisch- und deutschsprachigen Schauspieltradition bilden.⁷⁵ Für beide Sprachräume lässt sich eine Entwicklung der zwei Spieltypen beobachten, die im vierzehnten Jahrhundert beginnt und im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert besonders gut dokumentiert ist. Aus dem siebzehnten Jahrhundert (und später) sind zwar noch Aufführungen überliefert, doch kommt die Tradition in ihren vorgängigen Dimensionen hier zu ihrem Ende. Im Rahmen dieser Arbeit sollen Spiele aus dem Zeitraum vom vierzehnten bis einschließ­ lich sechzehnten Jahrhundert, der als ‚Kernzeitraum‘ gelten kann, berücksichtigt werden.⁷⁶ Passionsspiele und eschatologische Spiele eignen sich auch deshalb be­ sonders gut als Textkorpus für die in dieser Arbeit verfolgte Fragestellung, weil sie in beiden Sprachräumen für einen großen Rezipientenkreis produziert und aufgeführt wurden. Insbesondere die Passionsspiele entwickelten sich im fünf­

74 Die ebenfalls zu den eschatologischen Spielen zählenden Zehnjungfrauenspiele wurden nicht in das Textkorpus miteinbezogen, da die Überlieferung sehr klein und auf den deutsch­ sprachigen Raum beschränkt ist. 75 Über die Vielzahl von Passionsspielen, aber auch einigen eschatologischen Spielen, deren Aufführung (neben anderen religiösen Spieltypen) im französischen Sprachraum zwischen 1290 und 1603 nachgewiesen ist, gibt Louis Petit de Julleville Auskunft (vgl. Petit de Julleville, Louis: Histoire du théâtre en France. Les Mystères, Bd. 2, Paris 1880). Dass auch im deutsch­ sprachigen Raum regelmäßig Passionsspiele und eschatologische Spiele aufgeführt wurden, ist Bernd Neumanns umfangreicher Auflistung von Spielnachrichten zu entnehmen (vgl. Neu­ mann, Bernd: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher reli­ giöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, Bd. 1, München, Zürich 1987 [Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 84]). Hansjürgen Linke verweist dezi­ diert auf die Belege, die sich bei Neumann auf Weltgerichtsspiele beziehen (vgl. Die deutschen Weltgerichtspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe, Bd. I: Einleitung. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Tübingen, Basel 2002, S. 5). Für weitere deutschsprachige Spiel- und Text­ zeugnisse zu Weltgerichtsspielen aus dem sechzehnten Jahrhundert vgl. Trauden, Dieter: Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen Weltgerichtsspielen des Mittelalters, Ams­ terdam, Atlanta 2000 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 142), S. 127–134. Zu Spielnachrichten und Textüberlieferung von Antichristspielen im europäischen Raum vgl. Ai­ chele, Das Antichristdrama. 76 In wenigen Fällen reichen einzelne Aufführungsnachweise bis ins frühe siebzehnte Jahrhun­ dert.

1.3 Das Korpus der Untersuchung |

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zehnten Jahrhundert im französischsprachigen Bereich, aber durchaus auch im deutschen Sprachraum⁷⁷ zu städtischen Großveranstaltungen, die mehrere Tage (im Fall Frankreichs sogar Wochen) andauern konnten und nicht nur die loka­ le Stadtbevölkerung versammelten, sondern auch ein überregionales Publikum anzogen.⁷⁸ Ähnliche Dimensionen lassen sich jedoch durchaus auch für eini­ ge eschatologischen Spiele nachweisen.⁷⁹ Durch beide Spieltypen umfasst das Textkorpus somit eine besonders beliebte und eine hinsichtlich ihrer Popularität als durchschnittlich einzustufende Form des religiösen Schauspiels, die sich je­ doch beide darin entsprechen, enorme Darstellerzahlen aufzuweisen und auf ein großes, heterogenes Publikum ausgerichtet zu sein.⁸⁰ Die verschieden umfangreiche Überlieferung der Passions- und eschato­ logischen Spiele machte es nötig, an einigen Stellen zu selektieren, wohinge­ gen an anderen alle zugänglichen Spiele berücksichtigt werden konnten. Die getroffene Auswahl basiert auf fünf Kriterien. Es werden 1. nur Spiele berück­ sichtigt, die überwiegend volkssprachlich sind. Lateinische Regieanweisungen und vereinzelte lateinische Figurenreden sind hierbei kein Ausschlusskriteri­ um. 2. muss der Entstehungs- und Aufführungszeitraum der Spiele zwischen dem vierzehnten und sechzehnten Jahrhundert liegen. Einzelne, über das sech­ zehnte Jahrhundert hinausreichende Aufführungsnachweise eines älteren Spiels sind in diesem Rahmen zulässig. Die Spiele sollen 3. vollständig oder annä­ hernd vollständig überliefert sein, damit Analysen, die die Spielstruktur be­ treffen, vor dem Hintergrund der Gesamtstruktur durchgeführt werden können.

77 Hier setzte der ‚Boom‘ mit den ersten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts etwas später ein. Vgl. dazu auch Schulze, Geistliche Spiele, S. 18. 78 Die ausufernden Dimensionen der großen Passionsspiele sind vielfach hervorgehoben wor­ den, so zum Beispiel in Kindermann 1980, S. 27 und 100 ff.; Frank, Grace: The Medieval French Drama. Oxford 1954, S. 169ff und Das Donaueschinger Passionsspiel. Hrsg. von Antonius H. Tou­ ber, Stuttgart 1985, S. 10 f. 79 Vielzitiert ist beispielsweise der Brief des italienischen Gesandten Angelo Rizio, der bei der Aufführung des Weltgerichtsspiels 1549 in Luzern anwesend war und von etwa achttausend Zu­ schauern berichtet. Der italienische Text des Briefes nebst einer deutschen Übersetzung findet sich in Greco-Kaufmann, Heidy: Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Quellenedition, Zürich 2009 (Theatrum Helveticum 11), S. 125–129. Für den französischen Sprachraum sei eine Aufführung der Apocalice herausgegriffen, die der Stadt­ chronik zufolge 1409 in der Stadt Metz aufgeführt wurde und drei Tage andauerte (vgl. Petit de Julleville, Histoire du théâtre II, S. 8). 80 Damit unterscheiden sie sich deutlich von beispielsweise der deutschsprachigen Fastnacht­ spieltradition oder den französischsprachigen moralités, die in der Regel nur eine Hand voll Spie­ ler benötigten und vor einem kleineren, zum Teil elitären theologisch gebildeten Kreis aufgeführt wurden.

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Tab. 1: Korpus der Passions- und eschatologischen Spiele (zukünftig verwendete Siglen sowie Datierung in Klammern). Die mit * markierten Spiele enthalten eine Antichristhandlung. Für die Weltgerichtsspiele wurden die von Schulze eingeführten Siglen der Einheitlichkeit halber übernommen. Passionsspiele

Eschatologische Spiele

Französisch

Deutsch

Französisch

Deutsch

→ La Passion du Palatinus (PaPs) (erste Hälfte 14. Jh.)

→ Wormser Passionsspiel (WoPs) (erste Hälfte 14. Jh.)

→ Le Jour du Jugement* (JuBe) (14. Jh.)

→ Berner Weltgerichtsspiel (BnWg) (1462)

→ Le Mystère de la Passion Nostre Seigneur de la bibliothèque Sainte-Gene­ viève (SGPs) (letztes Drittel 14. Jh.)

→ Pfarrkirchers Passion (PfPs) (1486)

→ Lo Jutgamen general (JuRou) (zweite Hälfte 15. Jh.)

→ Alsfelder Passionsspiel (AlPs) (1501)

→ Le Jugement de Dieu* (JuMo) (1580, 1606)

→ Le Mystère de la Passion d’Eustache Marcadé (Passion d’Arras) (MaPs) (erstes Drittel 15. Jh.) → Le Mystère de la Passion d’Arnoul Gréban (GrPs) (Mitte 15. Jh.)

→ Luzerner Passionsspiel (LuPs) (1545, 1571, 1583 [1597, 1616])

→ Schaffhauser Weltge­ richtsspiel (SchaWg) (1467) → Kopenhagener Welt­ gerichtsspiel (KoWg) (zweite Hälfte 15. Jh.) → Berliner Weltgerichts­ spiel (BeWg) (1482) → Güssinger Weltgerichts­ spiel (GüWg) (1500) → Münchner Weltgerichts­ spiel (MüWg) (1510) → Churer Weltgerichts- und Antichristspiel* (ChWg) (1517) → Luzerner Weltgerichts­ spiel I (LuWgI) (zwischen 1500 und 1520) → Weltgerichtsspiel der (ehemaligen) Sammlung Jantz (JaWg) (um 1523) → Luzerner Antichristspiel* (LuA) (1549)

Ausnahmen stellen hier Le Jugement de Dieu und das Luzerner Passionsspiel dar, die im Folgenden erläutert werden. Die Auswahl soll 4. repräsentativ für die deutsch- und französischsprachigen Traditionen innerhalb der Spieltypen Passionsspiel und eschatologisches Spiel sein, also Vertreter aller überlieferten Ausformungen enthalten. 5. muss eine ausreichende Zugänglichkeit der Spiele, die eine größer angelegte Analysearbeit ermöglicht, gewährleistete sein, wes­ halb nur Spiele berücksichtigt wurden, die in edierter Form vorliegen. Auch hier stellt das Jugement de Dieu eine Ausnahme dar, auf die im Weiteren einzuge­

1.3 Das Korpus der Untersuchung

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hen ist. Basierend auf den fünf genannten Kriterien wurden 21 Spiele⁸¹ ausge­ wählt. Die acht gewählten Passionsspiele setzen sich aus jeweils vier Spielen aus dem französischen und deutschen Sprachraum zusammen. Da hinsichtlich der eschatologischen Spiele die Überlieferungssituation in den beiden Sprachräumen sehr unterschiedlich ist, konnte keine paritätische Auswahl vorgenommen wer­ den. Hier stehen zehn deutschsprachige Spiele drei französischsprachigen ge­ genüber. Jeweils zwei Spiele aus beiden Sprachräumen enthalten eine Antichrist­ handlung. Um die konkrete Auswahl der Spiele transparent zu machen, soll im Folgenden kurz auf das Korpus beider Spieltypen eingegangen werden.

1.3.1 Passionsspiele Dass das französische Passionsspiel eine besonders beliebte Form des mystère war, belegt nicht nur eine Vielzahl von Aufführungsnachrichten, sondern auch die mit über 50 Handschriften und Drucken beachtliche Menge überlieferter Spiel­ texte. Eine überzeugende Klassifizierung, die alle bisher bekannten Textzeugen berücksichtigt, hat Graham A. Runnalls vorgelegt.⁸² Auf der Basis textgeneti­ scher Beziehungen teilt er die französischen Passionsspiele in vier ‚Familien’ ein, die er jeweils als Teile einer Entwicklungslinie versteht. Die erste Familie, die Runnalls als die älteste ausmacht, umfasst Passionsspiele, deren Entstehung und Aufführungspraxis in Burgund zu verorten sind. Nach ihren wichtigsten Ver­ tretern nennt Runnalls sie Palatinus-Semur. Die zweite Familie, Passion de la Bi­ bliothèque Sainte-Geneviève, war im Gebiet der Ile-de-France verbreitet. Die dritte Familie trägt den Namen ihrer geographischen Zuordnung: Auvergne. Als jüngste und komplexeste Familie bezeichnet Runnalls Arras-Gréban-Michel, die in ganz Frankreich ihre Wirkung entfaltete.⁸³ Die Auswahl repräsentativer Vertreter des

81 Nicht explizit erwähnt, aber immer mitgedacht sind aufführungsbezogene Textzeugnisse, die für einige der Spiele überliefert sind und zur Analyse performativer Aspekte herangezogen wer­ den. 82 Vgl. Runnalls, Les Mystères. 83 Sein Vorgehen zur Klassifizierung beschreibt der Autor hier ausführlich auf S. 470–473. Ei­ ne Auflistung der Familien findet sich auf S. 473. Am Ende seiner Ausführungen hält Runnals sogar neun Familien fest (vgl. hier S. 515), wobei er einige Passionsspiele (meist Fragmente) be­ rücksichtigt, die sich keiner der eingangs definierten Familien zuordnen lassen und ihm zufolge z. T. Zeugnisse ‚kleiner’ Familien darstellen. Da diese fünf zusätzlich rekonstruierten Familien nicht durch vollständig überlieferte Spieltexte Eingang in das Korpus dieser Arbeit finden kön­ nen, werden die mit ihnen assoziierten Passionsspiel-Fragmente hier als Einzelphänomene be­ trachtet und bei der Untersuchung nicht berücksichtigt.

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französischsprachigen Passions-Spieltyps orientiert sich an der Klassifizierung Runnalls’. Es wurden folglich Spiele selektiert, die jeweils eine der Familien ver­ treten. Nicht berücksichtigt werden konnte die dritte Familie (Auvergne), da sie nur durch drei fragmentarisch überlieferte Passionsspiele (Passion d’Auvergne in zwei Fragmenten und Passion de Harvard) bezeugt ist. Stattdessen wurden zwei Spiele der vierten und laut Runnalls wichtigsten⁸⁴ Familie, deren Wirkungs­ raum sich auch auf die Auvergne erstreckt, ausgewählt. Es wurde zudem darauf geachtet, dass der Zeitraum vom vierzehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert abgedeckt ist. Mit der Passion du Palatinus (PaPs) ist die Wahl auf das älteste, komplett erhaltene Passionsspiel des französischen Sprachraums gefallen, das in einer Handschrift aus der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts über­ liefert ist. Runnalls hält es für wahrscheinlich, dass das Spiel selbst sogar auf das Ende des dreizehnten Jahrhunderts zurückgeht.⁸⁵ PaPs wurde der Vorzug vor den anderen Vertretern der Familie Palatinus-Semur (Passion d’Autun, Frag­ ment de Sion und Passion de Semur) gegeben, da diese zum Teil fragmentarisch überliefert (Fragment de Sion) oder erst im fünfzehnten Jahrhundert entstanden sind (Passion d’Autun und Passion de Semur). Das üblicherweise auf das letzte Drittel des vierzehnten Jahrhunderts datierte Mystère de la Passion Nostre Sei­ gneur de la bibliothèque Sainte-Geneviève (SGPs) repräsentiert die zweite Familie, der Runnalls nur ein weiteres, fragmentarisch überliefertes Spiel (Fragment de Troyes) zuordnet.⁸⁶ Die große vierte Familie, die über zwanzig, häufig äußerst umfangreiche Passionsspiele umfasst, repräsentieren in dieser Arbeit die Pas­ sionsspiele Eustache Marcadés (MaPs) und Arnoul Grébans (GrPs). Ob Marcadé tatsächlich der Verfasser von MaPs ist, wurde immer wieder diskutiert, kann aber heute als weitestgehend gesichert angenommen werden.⁸⁷ Das Spiel stammt aus dem ersten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts und ist in einer Handschrift, die laut Runnalls auf die Jahre zwischen 1450 und 1480 datiert werden kann, überliefert.⁸⁸ MaPs kann als erste der sogenannten grandes passions bezeichnet werden und hat, wie zahlreiche Aufführungsbelege und textgenetische Nach­ weise zeigen, einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Spieltyps im

84 Vgl. hier S. 481: „Il ne fait aucun doute que ce groupe de Passions est de loin le plus important, à tous les points de vue – le nombre de textes (plus de vingt), la durée chronologique (entre 1430 et 1553) et la distribution géographique (Anjou, Ile-de-France, Picardie, Hainaut, Savoie, etc.).“ 85 Vgl. hier S. 475. 86 Vgl. hier S. 480 f. 87 Vgl. dazu hier S. 482 ff. 88 Vgl. hier S. 485. Es handelt sich um eine mit 350 Miniaturen illuminierte Prunkhandschrift, die laut Runnalls zweifellos eine Abschrift der ersten Spielhandschrift darstellt, die als verloren gilt.

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fünfzehnten Jahrhundert ausgeübt.⁸⁹ Es repräsentiert damit die frühe Phase der großen Passionsspiele. Die zweite ‚Mutter der grandes passions’ ist das in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts entstandene Passionsspiel Arnoul Grébans. Das in acht Handschriften aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts überlieferte Spiel wurde in Teilen noch im frühen sechzehnten Jahrhundert ge­ druckt, was von seinem enormen Erfolg zeugt.⁹⁰ GrPs hat seine Spuren in fast allen anschließend überlieferten Passionsspieltexten hinterlassen, insbesonde­ re in Jean Michels Mystère de la Passion, das im ausgehenden fünfzehnten und frühen sechzehnten Jahrhundert in ganz Frankreich rezipiert wurde.⁹¹ Aufgrund seiner zentralen Stellung in der vierten Familie ist GrPs sehr gut dazu geeignet, im Korpus als Repräsentant für die Hochphase der grandes passions zu dienen. Eine systematische Erfassung und Klassifizierung aller auf uns gekomme­ nen deutschsprachigen Passionsspiele wurde bisher nicht vorgenommen.⁹² Übli­ cherweise unterscheidet man zwischen den frühen Spielen des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts einerseits und der umfangreicheren Gruppe an Spie­ len aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert andererseits, die eine ähnliche Entwicklung wie im französischen Sprachraum aufweisen: Die späteren Spiele nehmen an Umfang und Detailreichtum zu, sie stehen in engeren Abhän­ gigkeitsverhältnissen zueinander und werden vermehrt zu Massenspektakeln ausgeformt.⁹³ Ein Großteil dieser späteren Spiele lässt sich – auch hier auf der Ba­

89 MaPs ist gemeinsam mit der Vengeance Nostre Seigneur Eustache Marcadés überliefert und kann wahrscheinlich mit Aufführungen in verschiedenen Städten des Nordostens und Ostens Frankreichs in Verbindung gebracht werden, über die wir durch die in Petit de Julleville, His­ toire du théâtre II abgedruckten Spielnachrichten Kenntnis haben. Runnalls weist in seinem Überblick über die vierte Familie eine ganze Reihe von (unter anderem auch niederländischen) Spielen nach, die auf MaPs aufbauen (vgl. Runnalls, Les Mystères, S. 486 ff.). 90 Zur außergewöhnlichen Überlieferungssituation von GrPs vgl. Runnalls, Les Mystères, S. 489. 91 Zum Einfluss Grébans auf Michel und die Bedeutung des Buchdrucks für die Verbreitung des Passionsspiels in Frankreich vgl. hier S. 491 ff. Im Gegensatz zu GrPs ist Jean Michels Passions­ spiel jedoch nur in Drucken überliefert. 92 Eine umfassendere Studie hat in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Rolf Berg­ mann den deutschsprachigen Passionsspielen des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts gewidmet (vgl. Bergmann, Rolf: Studien zu Entstehung und Geschichte der deutschen Passions­ spiele des 13. und 14. Jahrhunderts. Mit 10 Abbildungen, München 1972 [Münsterische Mittelal­ ter-Schriften 14]). 1986 ist zudem sein Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Ma­ rienklagen des Mittelalters erschienen, der alle bis dahin bekannten Passionsspiele enthält und beschreibt (Bergmann, Rolf: Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienkla­ gen des Mittelalters. Unter Mitarbeit von Eva P. Diedrichs und Christoph Treutwein, München 1986). Eine systematische Klassifizierung liefert er jedoch nicht. 93 Vgl. Touber, Das Donaueschinger Passionsspiel, S. 10.

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sis textgenetischer Verbindungen – in drei geographische Spielgruppen einteilen, die Antonius H. Touber als „die hessische Spielgruppe, die Tiroler Spielgruppe und die alemannische Spielgruppe“⁹⁴ bezeichnet. Um auch für den deutschen Sprachraum eine repräsentative Selektion von Spielen vornehmen zu können, wurden die Spiele so ausgewählt, dass sie sowohl die ältere Tradition vor 1400 als auch Vertreter der drei geographischen Spielgruppen umfassen. Das Worm­ ser Passionsspiel (WoPs, ehemals St. Galler oder Mittelrheinisches Passionsspiel) stammt aus der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts und bietet als erstes Passionsspiel einen überwiegend deutschsprachigen Text, der nur geringe latei­ nische Anteile aufweist.⁹⁵ WoPs eignet sich insbesondere als Vertreter der frühen deutschsprachigen Passionsspiele, da es als einziges vollständig überliefert ist und zudem keine weiteren Spracheinflüsse enthält, die im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden können.⁹⁶ Die Tiroler Spielgruppe wird durch das Passionsspiel Lienhard Pfarrkirchers aus dem Jahr 1486 repräsentiert (PfPs). Es stellt das älteste und umfangreichste der aus Sterzing überlieferten Passionsspie­ le dar, zu dem die etwas späteren Spiele (der Text der 1496 und 1503 in Sterzing gespielten Fassung und die Vigil Raber-Passion von 1514) in enger textgenetischer Verbindung stehen.⁹⁷ Als Vertreter der hessischen Passionsspielgruppe wurde das 1501 entstandene Alsfelder Passionsspiel (AlPs) gewählt, das vollständig über­ liefert ist⁹⁸ und eine für die Spielgruppe prototypischere Konstruktion aufweist als das Heidelberger Passionsspiel, das dreizehn Jahre später niedergeschrieben wurde.⁹⁹ Schließlich vertritt das Luzerner Passionsspiel (LuPs) die alemannische Passionsspielgruppe. Die Überlieferungslage des auch als Luzerner Osterspiel bezeichneten Konglomerats verschiedener, zu einer Aufführungstradition gehö­

94 Hier S. 11. Einen Überblick über die Charakteristika der drei Spielgruppen und die jeweils darunterfallenden Spiele gibt Touber auf S. 11 f. 95 Die noch früher entstandenen Benediktbeurer Passionsspiele sind zu großen Teilen in latei­ nischer Sprache verfasst und scheiden aus diesem Grund aus dem Spielkorpus aus. 96 Das ebenfalls frühe Maastrichter Passionsspiel enthält auch mittelniederländische Anteile, weshalb es sich für die in dieser Arbeit verfolgte Fragestellung weniger gut eignet. Die übrigen Spiele aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert (Wiener Passionsspiel, Osnabrücker Fragmente, Kreuzsteiner Fragmente, Himmelgartner Fragmente und die Frankfurter Dirigierrolle) sind fragmentarisch überliefert. 97 Zur Tiroler Spielgruppe und der engen Verbindung der Traditionen in Sterzing, Hall, Brixen und Bozen vgl. auch Schulze, Geistliche Spiele, S. 111 ff. 98 Die Frankfurter Dirigierrolle ist fragmentarisch überliefert und auch bezüglich der Vollstän­ digkeit des Frankfurter Passionsspiels besteht Uneinigkeit, da der durch eine Proclamator-Figur vorgetragener Schlussteil, wie er für die Spiele charakteristisch ist, fehlt (vgl. dazu auch hier S. 90). 99 Zum abweichenden Konstruktionstyp vgl. hier S. 98.

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render Spieltage gehört zu den komplizierteren. Im Zeitraum zwischen 1453 und 1616 sind 17 Spielaufführungen in der Stadt Luzern zur Osterzeit belegt, die auf einem im Laufe der Jahre immer stärker bearbeiteten und erweiterten textlichen Grundstock basierten.¹⁰⁰ Einzelne Teile von fünf Aufführungen sind heute über­ liefert, die Heinz Wyss¹⁰¹ in Form eines Kompromisstextes ediert hat: Basierend auf der Handlungsabfolge, wie sie Renward Cysat für die Aufführung von 1583 vorgenommen hatte, präsentiert er den Text auf der Basis verschiedener Hand­ schriften aus den Jahren 1583, 1571 und 1545.¹⁰² Es handelt sich folglich nicht um ein vollständig überliefertes Spiel, sondern gewissermaßen um eine Rekonstruk­ tion des kompletten Spiels anhand erhaltener Spieltage aus unterschiedlichen Jahren. Da zwischen den einzelnen Aufführungen regelmäßig Bearbeitungen der Textgrundlage vorgenommen wurden, ist nicht davon auszugehen, dass es ei­ ne historische Aufführung gegeben hat, bei welcher der von Wyss edierte Text Verwendung fand. Dennoch soll der Spieltext in seiner von Wyss edierten Form Eingang in das Textkorpus dieser Arbeit finden, da er eine lebendige, mehr als ein Jahrhundert überdauernde Spieltradition repräsentiert, die bezüglich der Fülle überlieferter aufführungsbezogener Zeugnisse ihresgleichen sucht.¹⁰³ Weil die Handlungsabfolge durch Cysats Aufzeichnungen mindestens für die Aufführung von 1583 als gesichert gelten kann, soll sie für die Analyse als charakteristische Struktur der Luzerner Passionsspieltradition angenommen werden.

1.3.2 Eschatologische Spiele Der Zufall will es, dass im französischen Sprachraum trotz einer lebendigen Tra­ dition eschatologischer Darstellungen in Ikonographie, Literatur und Schauspiel nur wenige Spieltexte die Jahrhunderte überdauert haben. Nur drei, im Verhältnis zum deutschsprachigen Feld recht umfangreiche Spiele sind uns heute überlie­ fert. Das früheste, Le Jour du Jugement (JuBe), stammt aus dem vierzehnten Jahr­ hundert und hat sich annähernd vollständig erhalten. Häufig wird es nach dem Aufbewahrungsort der Handschrift als Jour du Jugement de Besançon bezeichnet.

100 Vgl. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes I, S. 162f. und Schulze, Geistliche Spiele, S.120f. 101 Vgl. Wyss 1967: Das Luzerner Osterspiel. 102 Wyss führt ausführlich in die von ihm verwendeten Handschriften ein, vgl. Wyss 1967: Einlei­ tung. Eine kurze, übersichtliche Darstellung seines Vorgehens liefert Schulze, Geistliche Spiele, S. 120 f. 103 Auch keiner der anderen Vertreter der hessischen Spielgruppe (Donaueschinger Passions­ spiel, Zürcher Passionsspiel und Villinger Passionsspiel) weist die gleichen Dimensionen hinsicht­ lich Textfülle und Aufführungsdokumentation auf.

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Aufgrund sprachlicher Charakteristika wird es dem Nordosten Frankreichs zuge­ ordnet.¹⁰⁴ Es handelt sich um ein Antichrist- und Weltgerichtsspiel, das auf eine Darstellung der Antichrist-Vita das Jüngste Gericht folgen lässt. Aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts ist das in der Provinz Rouergue entstandene Lo Jutgamen general (JuRou) überliefert. Es ist in okzitanischer Sprache verfasst und beschränkt sich auf das Weltgericht.¹⁰⁵ Das letzte und jüngste überlieferte Spiel, Le Jugement de Dieu (JuMo), wurde in den Jahren 1580 und 1606 in Mo­ dane (Savoyen) aufgeführt und verbindet die Antichrist- und Weltgerichtshand­ lung. Leider gilt eine vollständige Textfassung des Spiels, die sich in Privatbe­ sitz befand, als verloren. Es liegen jedoch mehrere Fragmente vor, die teilweise ediert wurden.¹⁰⁶ Das erste Fragment enthält Texte des ersten, zweiten und drit­ ten Spieltages sowie aufführungsbezogene Besetzungslisten, Auftragslisten, Be­ schlussprotokolle und weitere Spielnachrichten. Durch die Arbeiten von Jacques Chocheyras und Louis Gros liegt heute das gesamte Fragment in edierter Form vor.¹⁰⁷ Das dritte existierende Fragment (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Fr. 15063) ist bisher nicht editorisch aufbereitet worden. Aufgrund der über­ schaubaren Anzahl überlieferter eschatologischer Spiele aus dem französischen Sprachgebiet, erschien es für diese Arbeit geboten, JuMo trotz seiner Unvollstän­ digkeit und der eingeschränkten Zugänglichkeit in das Korpus aufzunehmen. Die Analyse baut im Folgenden auf den Editionen Chocheyras’ und Gros’ und ei­ ner diplomatischen Transkription des Fragments Ms. Fr. 15063 auf. Auch die Vor­ arbeiten von Chocheyras, Gros und Aichele konnten bezüglich Aspekten wie Handlungsaufbau und Figurenkonzeption hinzugezogen werden. So ist es trotz der dürftigen Überlieferungslage möglich, die französischsprachigen eschatologi­

104 Zur Verortung, Datierung und eingehenderen Beschreibung sowie zur Analyse des Spiels vgl. die Einleitung in Perrot/Nonot, Le Mystère du Jour du Jugement. 105 Sehr ausführlich führt der Herausgeber der modernen Edition, Moshé Lazar, in das Spiel, seine Vorlagen, Struktur und Stellung im spätmittelalterlichen Schauspiel ein (vgl. Le Jugement dernier (Lo Jutgamen General). Drame provençal du XVe siècle. Édition critique avec traduction, introduction, notes et glossaire. Hrsg. von Moshé Lazar, Paris 1971, S. 11–51). 106 Eine übersichtliche Zusammenfassung der komplizierten Überlieferungslage sowie eine In­ haltsübersicht finden sich in Aichele, Das Antichristdrama, S. 93–100. 107 Gros’ Studie beinhaltet die Edition der Textteile aus dem ersten Spieltag und weitere klei­ nere Textpassagen und aufführungsbezogene Zeugnisse (vgl. Gros 1962: Mystère de l’Antéchrist). Chocheyras (vgl. Chocheyras 1971: Le théâtre religieux) hat die Textteile aus dem zweiten und dritten Spieltag ediert und druckt weitere Textteile nach Florimond Truchet ab, der diese zuerst ediert hatte (vgl. Truchet, Florimond: Le Théâtre en Maurienne au XVIe siècle. Le Mystère de l’Antéchrist et du Jugement. Congrès des sociétés savantes de la Savoie, 12e session, La Rochesur-Foron : (1894) 1892, S. 135–158).

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schen Spiele im gesamten Untersuchungszeitraum vom vierzehnten bis zum sech­ zehnten Jahrhundert zu analysieren. Eine völlig andere Situation liegt im Fall der deutschsprachigen eschatologi­ schen Spiele vor. Besonders zahlreich sind die häufig in enger textgenetischer Verbindung stehenden Weltgerichtsspiele, deutlich seltener finden wir reine Antichristspiele. Mischformen dürften in der Aufführungspraxis üblich gewe­ sen sein¹⁰⁸, sind aber nur in geringem Maß überliefert (Churer Weltgerichtsspiel (ChWg) und Luzerner Weltgerichtsspiel II (LuWgII)¹⁰⁹). Eine Klassifizierung der dreizehn überlieferten Weltgerichtsspiele, die alle dem Schaffhauser (bzw. Do­ naueschingen-Rheinauer) Typus zuzuordnen sind¹¹⁰, hat Ursula Schulze auf der Basis der Gesamtstruktur der Spiele sowie der enthaltenen Szenen und auftre­ tenden Figuren vorgenommen.¹¹¹ Aufgrund unterschiedlicher Komplexitätsgrade unterscheidet sie vier Gruppen. Die erste Gruppe ist auf die Darstellung des Jüngs­ ten Gerichts ausgehend von Mt 25,31–46 beschränkt. Diese Gruppe ist nur durch das Donaueschinger Weltgerichtsspiel (DWg) bezeugt. In den Spielen der zwei­ ten Gruppe wird der Gerichtsakt durch ein Vor- und Nachspiel eingerahmt, die die Ankündigung des Jüngsten Tages, die fünfzehn Vorzeichen und einen Auf­ tritt der zwölf Apostel am Ende umfassen. Zu dieser Gruppe zählt Schulze die meisten Weltgerichtsspiele (Berner Weltgerichtsspiel (BnWg), Weltgerichtsspiel der ehemaligen Sammlung Jantz (JaWg), Kopenhagener Weltgerichtsspiel (KoWg), Walenstädter Weltgerichtsspiel (WaWg), Schaffhauser (Rheinauer) Weltgerichts­ spiel (SchaWg), Volksbuch [Vb.]). Die dritte Gruppe zeichnet sich zusätzlich zu den in Gruppe 2 benannten Erweiterungen durch die Hinzufügung allegorischer

108 Aus vielen der von Aichele genannten Spielzeugnissen geht hervor, dass das jeweilige An­ tichristspiel in Verbindung mit einem Weltgerichtsspiel aufgeführt wurde, so etwa bei den An­ tichristspielen in Frankfurt, dem Künzelsauer Fronleichnamspiel und dem Churer Weltgerichtsund Antichristspiel (vgl. Aichele, Das Antichristdrama, S. 45 f. und 50). Dies gilt im Übrigen auch für die bei Aichele aufgeführten nicht deutschsprachigen Spiele. 109 Zur Angabe der Weltgerichtsspiele werden stets die von Bergmann (Bergmann, Katalog) begründeten, bis heute gängigen Siglen verwendet. 110 Vgl. die tabellarische Auflistung aller Spiele des hier als Schaffhauser bezeichneten Typus in Das Kopenhagener Weltgerichtsspiel. Hrsg. von Hans Blosen/Ole Lauridsen, Heidelberg 1988, S. 11. KoWg, das Gegenstand der Edition Blosens und Lauridsens ist und als Referenzpunkt dient, fehlt in dieser Auflistung. Ebenso fehlt TWg, das aufgrund seiner engen textgenetischen Verbindung zu MüWg aber ebenfalls dazugerechnet werden muss. Eine genauere Verortung der Spiele aufgrund sprachlicher Merkmale hat Karl Reuschel vorgenommen, vgl. Reuschel, Karl: Die deutschen Weltgerichtsspiele des Mittelalters und der Reformationszeit. Eine literarhistori­ sche Untersuchung. Nebst dem Abdruck des Luzerner „Antichrist“ von 1549, Leipzig 1906 (Teu­ tonia 4), S. 90–93. 111 Die folgende Darstellung der Gruppen richtet sich nach den Ausführungen in Schulze 1993: Einleitung, S. 16 f.

34 | 1 Einleitung

Szenen aus und ist durch das Berliner Weltgerichtsspiel (BeWg) repräsentiert. Die vierte Gruppe enthält die Spiele mit den umfangreichsten Erweiterungen durch zusätzliche Szenen und Figuren, die den zentralen Gerichtsakt nicht nur umrah­ men, sondern auch unterbrechen. Der vierten Gruppe ordnet Schulze das Churer Weltgerichtsspiel (ChWg), das Luzerner Weltgerichtsspiel (LuWg), das Münchner Weltgerichtsspiel (MüWg) und das Weltgerichtsspiel in Ulrich Tenglers Der neu Layenspiegel (TWg) zu. In der Auswahl der Spiele für das Korpus sollten mög­ lichst alle Spieltypen vertreten sein. Da der einzige Vertreter der ersten Gruppe, DWg, nur fragmentarisch überliefert ist, konnte die erste Gruppe in ihrer Rein­ form keine Berücksichtigung finden. Weil jedoch der Gerichtsakt den Kern jeder anderen Gruppe ausmacht, kann auch ohne Gruppe 1 eine repräsentative Se­ lektion von Spielen vorgenommen werden. Ein wichtiger Faktor ist zudem, dass für die Analyse die synoptische Ausgabe Hansjürgen Linkes¹¹² genutzt werden kann, die alle 13 Spiele nebst einigen Fragmenten versammelt. Dies ermöglicht es, eine große Anzahl von Texten leicht in den Blick zu bekommen. Aufgrund der besonders guten Zugänglichkeit der Texte konnte eine recht große Anzahl an Weltgerichtsspielen in das Korpus aufgenommen werden. Ausgeschlossen wur­ den nur die fragmentarisch überlieferten Spiele (neben DWg auch TWg und die von Linke erfassten Konstanzer (S1 ) und Dresdner Weltgerichtsspiel-Fragmente [S2 ]) und Spiele, die nicht datiert werden können, da die entsprechenden Hand­ schriften verschollen sind (WaWg, Vb. und Wülkers Weltgerichtsspiel bzw. Wü bei Linke). Auch wenn der Beginn der Tradition von Weltgerichtsspielen häufig im vierzehnten Jahrhundert angesetzt wurde¹¹³, beginnt die Überlieferung erst im fünfzehnten Jahrhundert. Das älteste im Korpus berücksichtigte Spiel ist BnWg, das 1462¹¹⁴ in Luzern entstand. Ebenfalls ins späte fünfzehnte Jahrhundert da­ tiert werden SchaWg (1467), BeWg (1482) und KoWg¹¹⁵. Um 1500 setzt Linke die

112 Vgl. LiII1 und LiII2 sowie Linke, Die deutschen Weltgerichtsspiele. Die Weltgerichtsspiele werden in der Untersuchung für individuelle Analysen nach den jeweiligen Einzeleditionen, so­ weit vorhanden, zitiert. Die synoptische Ausgabe wird dann unter Angabe des Halbbandes und der Seitenzahl herangezogen, wenn kürzere Textauszüge aller oder vieler Spiele direkt miteinan­ der verglichen werden sollen. 113 Vgl. etwa Reuschel, Die deutschen Weltgerichtsspiele, S. 110. 114 Die lange geläufige Datierung auf das Jahr 1465 führt Linke auf einen Lesefehler des schwer zu entziffernden Datums, mit dem die Handschrift versehen ist, zurück. Tatsächlich gebe die­ se das Jahr 1462 an (vgl. Linke, Hansjürgen: Aus zwei mach eins? Das Luzener Weltgerichtspiel Jacobs am Grund und das sogenannte ‚Berner‘ Weltgerichtspiel. In: PBB 119 (1997), S. 268–275). 115 Hans Blosen und Ole Lauridsen datieren KoWg ins zweite Viertel des fünfzehnten Jahrhun­ derts; Ursula Schulze hält die letzten Jahrzehnte desselben Jahrhunderts für wahrscheinlicher

1.3 Das Korpus der Untersuchung | 35

Entstehung GüWgs an.¹¹⁶ Diese Spiele repräsentieren den zweiten und dritten (BeWg) Spieltyp nach Schulze. Im sechzehnten Jahrhundert entstanden die dem vierten Spieltyp zugehörigen MüWg (1510), ChWg (1517), JaWg (um 1523)¹¹⁷ und LuWgI.¹¹⁸ Die Datierung des Weltgerichtsspiels aus Luzern hat immer wieder Anlass zu Verwirrung gegeben. In der komplizierten Überlieferung der Luzer­ ner Spieltradition existiert neben LuWgI noch ein zweiter Spieltext, der ein im Jahr 1549 aufgeführtes Weltgerichts- und Antichristspiel enthält (Luzerner Welt­ gerichtsspiel II [LuWgII]). LuWgI, das nur ein Weltgerichtsspiel enthält, wurde häufig fälschlicherweise mit der Aufführung von 1549 in Verbindung gebracht, die jedoch auf LuWgII basiert. Ursula Schulze hat in einem Aufsatz von 1996 überzeugend dafür argumentiert, dass die Entstehung von LuWgI im ersten oder zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts wahrscheinlich ist, worin ihr auch Linke folgt.¹¹⁹ Das späteste, in das Korpus aufgenommene Spiel ist das Antichristspiel aus LuWgII, dem hier, um Missverständnisse zu vermeiden, die Sigle LuA gegeben wurde. Es handelt sich nur um das Antichristspiel (BB Ms 169 II fol.) des zur Aufführung von 1549 überlieferten Spieltextes; das Weltgerichts­ spiel (BB Ms 169 III fol.) liegt leider bisher nicht in edierter Form vor und kann aus diesem Grund nicht berücksichtigt werden. Neben LuA weist auch ChWg eine Antichrist-Handlung auf. Die übrigen Spiele sind reine Weltgerichtsspie­ le.¹²⁰ Die Tradition der eschatologischen Spiele scheint demnach im deutsch­ sprachigen Raum etwas später einzusetzen als im französischen Sprachgebiet; zumindest lässt sie sich nur bis ins fünfzehnte Jahrhundert durch Textzeugnisse verfolgen.

(vgl. Blosen/Lauridsen, Das Kopenhagener Weltgerichtsspiel, S. 12 und Schulze 1991: Berliner Weltgerichtsspiel, S. 25 f.). 116 Vgl. Linke, Die deutschen Weltgerichtspiele, S. 16 ff. 117 Als einziges unter den Spielen des sechzehnten Jahrhunderts gehört JaWg zum zweiten Spiel­ typ. Für die Datierung um 1523 argumentiert Linke (vgl. hier S. 18–22). 118 Zur Datierung der Weltgerichtsspiele vgl. Schulze 1993: Churer Weltgerichtsspiel, S. 17 und Schulze 1991, S. 22–29. 119 Vgl. Schulze, Ursula: Erweiterungs- und Veränderungsprozesse in der Tradition der Weltge­ richtsspiele. In: PBB 118 (1996), S. 205–233, hier S. 224 f. und Linke, Die deutschen Weltgericht­ spiele, S. 23. 120 Im deutschen Sprachraum können auch Des Entkrist Vasnacht und Hans Folz’ Der Juden Messias zu den Antichristspielen gezählt werden. Das reformatorische Spiel Vom Papst und seiner Priesterschaft Niklaus Manuels schöpft ebenfalls aus der spätmittelalterlichen Tradition. Diese Spiele haben keinen Eingang in das Spielkorpus gefunden, weil es sich um Fastnachtspiele han­ delt, für die abweichende Aufführungssituationen sowie andere Träger- und Rezipientenkreise vorausgesetzt werden müssen. Grundsätzlich zeigen sie jedoch, welche Schwierigkeiten sich hin­ sichtlich der Klassifizierung religiöser und profaner Spiele ergeben.

36 | 1 Einleitung

Durch die Auswahl von insgesamt 21 Spielen, davon acht Passions- und drei­ zehn eschatologische Spiele, ist ein Korpus gewonnen, das einerseits ausreichend groß ist, um auf der Basis der Analyse Aussagen zu treffen, die als repräsenta­ tiv für die gewählten Spieltypen gelten können. Andererseits ist es noch klein genug, um differenziertere Analysemethoden anwenden zu können, als dies bei einem sehr großen Korpus, das etwa hundert und mehr Texte umfasst, möglich wäre.

1.4 Die Gliederung der Arbeit Das Interesse dieser Arbeit gilt der massenwirksamen Kommunikation des religiö­ sen Schauspiels in zwei verschiedenen Sprachräumen. Der Ausgangspunkt der Fragestellung sowie das Untersuchungskorpus wurden im vorliegenden Kapitel erläutert. Um zentrale persuasive Strategien anhand einer semiotischen Analy­ se, die das theatrale Zeichenrepertoire auswertet, erfassen zu können, ist es in einem zweiten Schritt notwendig, die semiotischen Charakteristika des Untersu­ chungsgegenstands zu klären und, darauf aufbauend, Methoden ihrer Erschlie­ ßung zu entwickeln. Diesen Aufgaben ist das Kapitel 2: Theoretisch-methodologi­ sche Grundlegung gewidmet. Die nachfolgenden Analysen beschäftigen sich mit Formen der Bedeutungskonstitution, die sich unterschiedlichen Persuasions­ strategien zuordnen lassen. Die Gliederung der Analyse-Kapitel basiert deshalb auf einer Klassifikation solcher Strategien, die Joachim Knape anhand sieben unterschiedlicher Orientierungsaspekte vorgenommen hat. Es werden hier aus diesem Spektrum, das Knape als „fakultative Varianten; [. . . ] die keineswegs in jedem Fall von Kunstproduktion zugleich auftreten müssen“¹²¹ bezeichnet, vier behandelt. Das Kapitel 3 erläutert ein zentrales Verfahren, das in den religiösen Spielen im Sinne einer instruktiven Persuasionsstrategie zum Einsatz kommt. Als instruk­ tiven Orientierungsaspekt von Persuasion bezeichnet Knape Lenkungsverfahren, die „einem Thema, einer Sache oder Idee eine spezifische Konkretion“ geben und zählt dazu „[a]lle Fiktionen, Wirklichkeitserfindungen, textlichen Konstruktionen von virtual realities oder possible wolds und jede sonstige Realitätssimulation“.¹²²

121 Knape, Joachim: Rhetorik der Künste. In: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Hand­ buch historischer und systematischer Forschung. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, 1. Halbband, Berlin, New York 2008 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswis­ senschaft 31.1), S. 894–927, S. 918. 122 Für beide Zitate s. hier S. 919. Eine kompaktere Darstellung der Orientierungsaspekte findet sich zudem in Knape, Persuasion, Sp. 874 f.

1.4 Die Gliederung der Arbeit |

37

Die Evokation bestimmter Bedrohungsszenarien in den behandelten Spielen wird als instruktive Strategie der Persuasion interpretiert, die dazu dient, die Relevanz und Dringlichkeit der Inszenierung der jeweiligen Inhalte herauszustellen. Da es sich um eine argumentative Grundfigur handelt, die die theatrale Bearbeitung des jeweiligen Stoffs entscheidend bestimmt und wie ein roter Faden durch alle be­ handelten Spiele hindurch verfolgt werden kann, nimmt ihre Analyse den größten Raum in der Untersuchung ein. Das Kapitel 4 behandelt axiomative Persuasionsstrategien. Diese dienen da­ zu, die Berechtigung bzw. Legitimation bestimmter Inhalte oder Strukturen (Ord­ nungen, Prinzipien, Regeln) herauszustellen und somit die jeweiligen Adressatin­ nen und Adressaten dazu zu bringen, ihren Geltungsanspruch zu akzeptieren.¹²³ Im Hinblick auf die religiösen Spiele haben sich sowohl die Nutzung von Autoritä­ ten als auch die Inszenierung von Argumentationen als zentrale Legitimierungs­ strategien herausgestellt, deren konkreten Ausformungen in diesem Kapitel nach­ gegangen wird. In Kapitel 5 geht es um die semiotischen Verfahren der religiösen Schauspie­ le, bestimmte Personen(gruppen), Handlungen und Gegenstände gegenüber dem Publikum mit Wertungen zu versehen. Dies kann auf struktureller Ebene durch zwei Techniken geschehen, die Knape als evaluativ und emotiv bezeichnet. Den evaluativen Orientierungsaspekt fasst er unter der Leitfrage: „Ist die Sache, um die es geht, wertvoll, gut oder schön?“¹²⁴ Es geht darum, für die Adressatinnen und Adressaten verständlich und ersichtlich zu machen, dass eine bestimmte Per­ son, Personengruppe, Handlung, etc. positiv oder negativ zu bewerten ist, da­ mit sie diese Bewertung auch selbst übernehmen. Eine weitere Möglichkeit, Wer­ tungen zu evozieren, besteht darin, positive oder negative Gefühle (zu lieben/zu hassen) im Hinblick auf eine Personen(gruppe) etc. zu generieren. Techniken, die „bestimmte emotionale Gestimmtheiten (Stimmungen)“¹²⁵ erzeugen, nennt Knape emotive Orientierungsaspekte der Persuasion. Da Kapitel 5 der Analyse ste­ reotypisierender Verfahren gewidmet ist, die über kognitive Kategorisierung und affektive Verstärkung funktionieren und somit evaluative und emotive Aspekte involvieren, werden beide Orientierungsaspekte der Persuasion gemeinsam be­ handelt. Das Kapitel 6 dient der Zusammenfassung der Ergebnisse aus den Einzelka­ piteln und der Sicherung zentraler Erkenntnisse auf einer Metaebene. Kapitel 7 listet die verwendeten Primärtexte sowie Forschungsliteratur auf.

123 Vgl. Knape, Rhetorik der Künste, S. 920 (Kap. 1, Anm. 121). 124 Hier S. 922. 125 Hier S. 923.

38 | 1 Einleitung

Um die Analysekapitel von weitreichenden Einführungen in die einzelnen Spiele zu entlasten, finden sich im Anhang kurze Überblicke über alle behan­ delten religiösen Schauspiele. Sie umfassen jeweils die Punkte ‚Überlieferung‘, ‚Edition(en)‘ und ‚Entstehung und Aufführung‘. Das Ziel dieser kondensierten Überblicksdarstellungen ist nicht, eingehendere Erläuterungen, wie sie sich zum Teil in den Editionen finden, zu ersetzen, sondern für die Leserinnen und Le­ ser die wichtigsten Informationen über die Spiele in der Arbeit selbst zur Ver­ fügung zu stellen, ohne dass mühevoll jede einzelne Edition konsultiert werden muss.

2 Theoretisch-methodologische Grundlegung Das vorliegende Kapitel bildet das Fundament der folgenden Untersuchung. Zu­ nächst gilt es, auf theoretischer Ebene den semiotischen Charakter des Schau­ spiels näher zu bestimmen und zu klären, welche dramatischen und theatralen Dimensionen der semiotischen Analyse überhaupt zugänglich sind. In einem zweiten Schritt geht es darum, das konkrete methodische Vorgehen zu erläutern. Hier wird nicht nur die Methode im Allgemeinen vorgestellt, sondern auch in zentrale Heuristiken eingeführt, die in den späteren Analysen zur Anwendung kommen.

2.1 Theoretische Grundlagen 2.1.1 Drama, Theater oder Schauspiel? Terminologische Klärungen Bisher wurde auf den Untersuchungsgegenstand unter der Bezeichnung ‚religiö­ ses Schauspiel‘ als eine spezifische Form der Kategorie ‚Theater‘ referiert. In der herangezogenen Literatur ist zudem häufig von ‚Drama‘ die Rede. Da diese Begrifflichkeiten keine Synonyme darstellen und in unterschiedlichen, fachdisziplinär geprägten Traditionen stehen, ist eine terminologische Klärung notwendig. Die Bezeichnung ‚Drama‘, die sich aus dem griechischen Verb drán (handeln) her­ leitet, wird zwar vereinzelt bereits von antiken Autoren verwendet, zum konzep­ tualisierten Gattungsbegriff avanciert sie aber erst in der Literaturwissenschaft des späten achtzehnten Jahrhunderts.¹ Als Teil der Gattungs-Trias von Drama, Lyrik und Epik hat sie seitdem eine Vielzahl unterschiedlich ausgerichteter De­ finitionen erfahren, deren Mehrheit die Gemeinsamkeit aufweist, die schriftlich fixierte Form unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu behandeln und ihr das Primat gegenüber der ephemeren Form der Aufführung einzuräu­ men.² Letztere Dimension ist im Begriff ‚Theater‘ präsent, der auf das griechische

1 Vgl. Scherer, Stefan: Einführung in die Dramen-Analyse. 2., erw. Aufl., Darmstadt 2013 (Ein­ führungen Germanistik), S. 9 f. 2 Manfred Jahn bezeichnet diese Ausrichtung als School of Poetic Drama (vgl. Jahn, Manfred: Narrative Voice and Agency in Drama. Aspects of a Narratology of Drama. In: New Literary Histo­ ry 32 (2001), S. 659–679, hier S. 661). Für einen systematisch ausgerichteten Überblick über ver­ schiedene Definitionsansätze vgl. Marx, Peter W.: Begriffe und Konzepte. In: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Peter W. Marx, Stuttgart, Weimar 2012, S. 1–11; für eine Aufbereitung der historischen Positionen von der Frühen Neuzeit bis ins zwanzigste Jahrhundert im gleichen Band vgl. Bachmann, Michael: Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im System der li­ https://doi.org/10.1515/9783110740486-002

40 | 2 Theoretisch-methodologische Grundlegung

Substantiv théatron (von théa ‚die Schau‘ bzw. theâsthai ‚schauen‘) zurückgeht und im späten sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert zunächst für den Schauplatz verschiedener Aufführungsformen gebraucht wurde.³ Die weite­ re historische Entwicklung ist von Tendenzen zur Eingrenzung auf spezifische Formen der Inszenierung und der für sie errichteten Gebäude bis hin zur Aus­ weitung „auf jede Art Ausstellungs-, Demonstrations- und Spektakelereignis“⁴ geprägt. Der Begriff ist zudem namensgebend für die zu Beginn des zwanzigs­ ten Jahrhunderts entstandene Theaterwissenschaft, welche die Aufführung als ihren Untersuchungsgegenstand definiert und somit einen Paradigmenwech­ sel markiert. In ihrer Ablösung von der Literaturwissenschaft manifestiert sich die Aufwertung der Aufführungsdimension, der nun ein eigenständiger Wert als Kunstwerk zugesprochen wird.⁵ Damit einher geht eine zum Teil radikale Ab­ wertung der schriftlichen Form, die nur noch als ein (durchaus nicht zentrales) Element auf dem Weg zur Aufführung angesehen wird.⁶ Dieser Position zufolge, die Manfred Jahn als School of Theater Studies bezeichnet, ist die Aufführung „the only relevant and worthwhile form of the genre“⁷. Wie Alexander Weber anhand zahlreicher Standardwerke belegt, ist diese Auffassung im zwanzigsten Jahrhundert auch von der Literaturwissenschaft übernommen worden und hat einen paradigmatischen Status erreicht.⁸

terarischen Gattungen. In: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Peter W. Marx. Stuttgart, Weimar 2012, S. 52–72. 3 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Fachs, Tübingen, Basel 2010, S. 7. 4 Ebd., zur Entwicklung vom späteren 18. bis zur zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vgl. hier S. 7–12. 5 Vgl. hier S. 13 f. 6 Vgl. Ubersfeld, Anne: Lire le théâtre. Bd. I, Paris 1996, S. 15 und Elam, Keir: The Semiotics of Theatre and Drama. London, New York 1980 (New Accents), S. 5 f. 7 Jahn, Narrative Voice, S. 661. Eine dritte, zwischen beiden Polen verortete Position, der sich Jahn selbst zuordnet, nennt er Reading Drama (vgl. hier S. 662). 8 Vgl. Weber, Alexander: Episierung im Drama. Ein Beitrag zur transgenerischen Narratologie, Berlin, Boston 2017 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 24), S. 20 f. Auch in der Forschung zum mittelalterlichen Schauspiel ist das Verhältnis zwischen der schriftlichen Überlieferungs­ form und der Aufführung vielfach problematisiert und das Primat der Aufführungsdimension verschiedentlich zum Ausdruck gebracht worden, vgl. z. B. Smith, Darwin: About French Verna­ cular Traditions. Medieval Roots of Modern Theatre Practices. In: Journal of Early Modern Studies 8 (2019), S. 33–67, hier S. 53: „Our history of theatre cannot be built on the literality of the written text. Written diacritic signs and textual ‘mouvance’ of the performance have to be understood through an effort to reconstruct playing practices that were viewed, heard, repeated over gen­ erations, [. . . ].“ Auch Hansjürgen Linke zufolge „sind die Spieltexte von vornherein so auf das Zusammenwirken mit anderen Künsten und auf die alle Sinne zugleich ansprechende szenische

2.1 Theoretische Grundlagen |

41

Die Begriffe ‚Drama‘ und ‚Theater‘ fokussieren im heutigen wissenschaftli­ chen Sprachgebrauch folglich zwei unterschiedliche Untersuchungsgegenstände und sind zugleich mit der methodischen Herangehensweise verschiedener ‚Schu­ len‘ verbunden. Stellvertretend für den generellen status quo der Forschung sei die Unterscheidung, die Keir Elam in seiner Arbeit zur Semiotik des Theaters und Dramas vornimmt, zitiert: ‚Theatre‘ is taken to refer here to the complex of phenomena associated with the per­ former-audience transaction: that is, with the production and communication of meaning in the performance itself and with the systems underlying it. By ‚drama‘, on the other hand, is meant that mode of fiction designed for stage representation and constructed according to particular (‚dramatic‘) conventions. The epithet ‚theatrical‘, then, is limited to what takes place between and among performers and spectators, while the epithet ‚dramatic‘ indicates the network of factors relating to the represented fiction.⁹

Die etablierte Kategorisierung ist äußerst hilfreich, um beide Dimensionen zu erfassen, bringt aber auch das Problem mit sich, dass nun, unter der Annahme einer konstitutiven Korrelation zwischen Drama und Theater, ein Sammelbegriff fehlt. Wer von ‚Drama‘ spricht, meint nur das für die Aufführung bestimmte, schriftlich fixierte Zeichengerüst, und ‚Theater‘ bezieht sich ausschließlich auf die Aufführungsdimension. ‚Theatral‘ ist in diesem Verständnis, was auf der Bühne geschieht, ‚dramatisch‘, was auf der Bühne geschehen soll. Möchte man dennoch beide Dimensionen einer gemeinsamen Kategorie zuordnen, ist ein Sammelbegriff nötig, der durch die Bedeutungseingrenzung beider Termini nicht mehr zur Verfügung steht. Da die vorliegende Arbeit ein solches Verständnis zugrunde legt¹⁰, wird die Kategorisierung leicht abgewandelt. Unter der Voraus­ setzung, dass allen dramatischen Produktionen eine Ausrichtung auf die Auf-

Realisierung hin konzipiert, daß sie Wert und Wirkung recht erst in der Aufführung erhalten“ (Linke, Hansjürgen: Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele. In: Deutsche Handschriften. 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von Volker Honemann/Nigel F. Pal­ mer, Tübingen 1988, S. 527–589, hier S. 527). 9 Elam, The Semiotics, S. 2. 10 Die Annahme, dass Drama und Theater zwei in Korrelation stehende Realisationsformen ei­ nes Gegenstands sind, ist hier nicht als Plädoyer für das Konzept der ‚Werkidentität‘ zu verste­ hen, welches die normative Vorgabe der Werktreue und damit das Primat des Dramas impliziert. Zur Diskussion des Werktreue-Konzepts vgl. Fischer-Lichte, Erika: Was ist eine ‚werkgetreue‘ Inszenierung? Überlegungen zum Prozeß der Transformation eines Dramas in eine Aufführung. In: Das Drama und seine Inszenierung. Vorträge des internationalen literatur- und theatersemio­ tischen Kolloquiums Frankfurt am Main, 1983. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte unter Mitarbeit von Christel Weiler und Klaus Schwind. Tübingen 1985 (Medien in Forschung+Unterricht 16), S. 37–49; Schmid, Herta: Das dramatische Werk und seine theatralische Konkretisation im Lich­ te der Literaturtheorien Roman Ingardens. In: Das Drama und seine Inszenierung. Vorträge des

42 | 2 Theoretisch-methodologische Grundlegung

führung eingeschrieben ist¹¹, wird ‚Theater‘ als Sammelbegriff verwendet. Die Aufführungsdimension selbst wird stattdessen unter dem naheliegenden Begriff ‚Aufführung‘ kategorisiert, während ‚Drama‘ weiterhin für das schriftlich fixierte Zeichengerüst steht. Wo ist in dieser Dichotomie das religiöse Schauspiel bzw. religiöse Spiel¹² zu verorten? Der Terminus findet in der mediävistischen Forschung Verwendung, um den Unterschied zum neuzeitlichen Drama zu markieren.¹³ Das religiöse Spiel soll nicht als eine Vorform verstanden werden, die angesichts der Norm des neu­ zeitlichen Dramas als unvollkommen erscheinen muss, sondern als eigenstän­ dige theatrale Tradition. Hervorzuheben sind ihre enge Beziehung zum Kult, ihr populärer Charakter, der sich aus ihrer Einbindung in das religiöse Brauchtum der Stadt ergibt, die spezifischen Aufführungsformen der Simultanbühne und der Prozessionsspiele sowie die Trägerschaft vonseiten der klerikalen und/oder städtischen Obrigkeit.¹⁴ Darüber hinaus kommt der Bezeichnung (Schau)spiel auch der Status eines Quellenbegriffs zu. Gemeinsam mit seiner lateinischen Ent­ sprechung ludus, ist spil eine der am häufigsten gebrauchten Formen, welche in deutschsprachigen Spielhandschriften und Spielnachrichten zur Bezeichnung

internationalen literatur- und theatersemiotischen Kolloquiums Frankfurt am Main, 1983. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte unter Mitarbeit von Christel Weiler und Klaus Schwind, Tübingen 1985 (Medien in Forschung+Unterricht 16), S. 22–36; Höfele, Andreas: Drama und Theater. Einige Anmerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines umstrittenen Verhältnisses. In: Forum Modernes Theater 6/1 (1991), S. 3–23, hier S. 10–12 und Totzeva, Sophia: Das theatrale Potential des dramatischen Textes. Ein Beitrag zur Theorie von Drama und Dramenübersetzung, Tübingen 1995 (Forum Modernes Theater Schriftenreihe 19), S. 40 f. Vielmehr sollen Drama und Theater als unterschiedliche, aber sich partiell überlagernde Manifestationen aufgefasst werden, denn die Inszenierung impliziert (im Fall des Untersuchungsgegenstands) immer die Arbeit am Dramentext, während dieser, indem er theatralen Konventionen folgt, stets auf die Aufführung verweist. 11 Vgl. dazu Abschnitt 1.4. Die Form des ‚Lesedramas‘, also eines Textes, der zwar dramatischen Konventionen folgt, aber dessen Aufführung nicht intendiert ist, stellt nur scheinbar ein Problem für die vorgenommene Kategorisierung dar. Denn solange das Lesedrama nach dramatischen Codes konzipiert ist, denen die Ausrichtung auf die Aufführung inhärent ist, zeichnet sich auch das Lesedrama notwendig durch einen Aufführungsbezug aus. Ob es zu einer historischen Insze­ nierung kommt, ist dabei sekundär; sie kann auch in den Köpfen der Lesenden realisiert werden. Erst wenn das Lesedrama die dramatischen Konventionen zugunsten anderer Gestaltungsver­ fahren aufgibt, verliert es auch seine Aufführungsausrichtung. Es stellt sich dann allerdings die Frage, was die Bezeichnung ‚Lesedrama‘ überhaupt noch aussagen soll und ob ein solcher Text nicht besser einer anderen Gattung zugeordnet werden sollte. 12 Beide Wörter, die eine etymologische Wurzel teilen (ahd. und mhd. spil), werden hier synonym verwendet. 13 Vgl. Schulze, Geistliche Spiele, S. 11. 14 Zu zentralen Aspekten des religiösen Schauspiels vgl. hier auch S. 11–19.

2.1 Theoretische Grundlagen

Theater

Sammelbegriff Subkategorien

Dimensionen

| 43

-

Religiöses Schauspiel Profanes Schauspiel Tragödie Komödie ...

Drama

Aufführung

Abb. 1: Kategorisierung des Theaters

von Aufführungen und der für sie bestimmten Niederschriften nachgewiesen wurden.¹⁵ Dem Konzept des ‚religiösen (Schau)spiels‘ als spezifische, auf das Spätmit­ telalter und die Frühe Neuzeit eingegrenzte theatrale Form lassen sich jedoch auch die Kategorien, wie sie oben beschrieben wurden, zuordnen. Das religiöse Schauspiel ist (neben anderen Formen wie profanes Schauspiel, Komödie, Tra­ gödie etc.) als Subkategorie unter dem Sammelbegriff ‚Theater‘ zu verorten. Als Drama gilt seine schriftlich fixierte, auf die Aufführung ausgerichtete Zeichen­ struktur und als Aufführung alle in der tatsächlichen Aufführung realisierten Ele­ mente. Diese Einteilung, die eine Differenzierung zwischen der dramatischen und Aufführungs-Dimension des religiösen Schauspiels ermöglicht und zugleich ihre konstitutive Korrelation erfasst, wird allen folgenden Ausführungen zugrunde ge­ legt.¹⁶

15 Vgl. Schulz, Matthias: Die Eigenbezeichnungen des mittelalterlichen deutschsprachigen geistlichen Spiels. Heidelberg 1998, S. 179–226 und 384; Schulze, Ursula: Geistliches Spiel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deut­ schen Literaturgeschichte. 3. Aufl. Hrsg. von Klaus Weimar u. a., Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 683–688, hier S. 684 und Schulze, Geistliche Spiele, S. 11 f. Ein spezifisches, auf bestimmte Aufführungsformen eingegrenztes Gattungsverständnis drückt sich in den Bezeichnungen aller­ dings nicht aus. In der französischsprachigen Forschung wurde kein Begriff zur Bezeichnung des spätmittelalterlichen (religiösen) Schauspiels geprägt. Neben den historischen Einzelbezeich­ nungen wie mystère und miracle wird im Sinne eines Sammelbegriffs der Terminus théâtre mé­ diéval gebraucht. Auch jeu (Spiel) ist jedoch geläufig und stellt, wie im deutschsprachigen Raum, einen der frequentesten Quellenbegriffe dar (vgl. Ridder/Smith, Aux confins, S. 142 [Kap. 1, Anm. 47]). 16 Die oben beschriebene Dichotomie zwischen ‚dramatisch‘ und ‚theatral‘ kann folglich in der hier vorgenommenen Kategorisierung nur ein Spektrum beschreiben, da die Aufführungsdimen­

44 | 2 Theoretisch-methodologische Grundlegung

2.1.2 Zum Verhältnis von Text und Aufführung Die terminologische Differenzierung zwischen Drama und Aufführung verdeut­ licht ein Problem, vor das sich jede Untersuchung gestellt sieht, die historische Formen des Theaters behandelt, ohne auf Aufführungen zugreifen zu können. Weil in der Regel nur Spieltexte, gegebenenfalls Bühnenpläne, Skizzen, RollenVerzeichnisse u. ä. zugänglich sind, ist die Analyse auf die dramatische Dimen­ sion beschränkt. Dies gilt auch für die vorliegende Arbeit, deren Anspruch es je­ doch ist, die vielfältigen Zeichenformen, die sich in der Aufführung realisieren, analytisch so weit wie möglich zu erfassen. Denn es ist gerade der multimodale Charakter des religiösen Schauspiels, der sein enormes Wirkungspotential und seine herausgehobene Bedeutung als Massenmedium erklärt. Es stellt sich also die Frage: Ist es möglich, durch die Untersuchung des Dramas etwas über die (historische) Inszenierung zu erfahren? Oder, mit anderen Worten: In welchem Verhältnis stehen Text und Aufführung? Um dieser Frage nachzugehen, muss zunächst geklärt werden, was mit ‚Text‘ gemeint ist. Es soll hier von einem weiten Textbegriff ausgegangen werden. Dieser steht in Kontrast zu einem engen bzw. transphrastischen Textbegriff, der sich auf den sprachlichen Code beschränkt und „Texte als miteinander verbundene Ketten von Sätzen sieht.“¹⁷ Demgegenüber zeichnet sich ein weiter Textbegriff dadurch aus, dass er unterschiedliche Zeichenmodalitäten integriert: „Ein Text ist immer ein Komplex aus Zeichen verschiedener Art, die gemeinsam Sinn anbieten.“¹⁸ Jeg­ liche Formen des Theaters, für die Multimodalität ein charakteristisches Merkmal ist, können nur mithilfe eines weiten Textbegriffs angemessen beschrieben wer­ den.¹⁹

sion dem Drama im Sinne einer Potentialität stets eingeschrieben ist. Im Folgenden wird deshalb nicht strikt zwischen ‚dramatisch‘ und ‚theatral‘ unterschieden. 17 Fix, Ulla: Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text. Bezüge und Abgren­ zungen. In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Hrsg. von Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer, Berlin, New York 2009 (Revisionen. Grundbegriffe der Li­ teraturtheorie 2), S. 103–135, hier S. 110. 18 Hier S. 106. 19 Vgl. auch Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. 5., unveränd. Aufl. Bd. 3: Die Aufführung als Text, Tübingen 2009, S. 10 f. Tadeusz Kowzan präferiert dagegen einen engen Textbegriff und schlägt zur Bezeichnung nichtschriftlicher Strukturen das Derivat ‚Textur‘ (texture) vor (vgl. Kowzan 1985: From Written Text to Performance, S. 1 und 9 f.). Diese Unterschei­ dung ist jedoch bereits im Hinblick auf schriftliche Texte unterkomplex, da auch diese „nie nur rein sprachlich existieren, immer sind andere Zeichen an ihnen beteiligt, seien es Gestik und Mimik, Typographie und Papiersorte und/oder Bilder und Tabellen usw. Da dieser Komplex aus Zeichen verschiedener Art, die ein Textexemplar ausmachen, gemeinsam Sinn anbieten, da al­

2.1 Theoretische Grundlagen

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Auf der Basis eines solchen erweiterten Textverständnisses hat sich in der dramen- und theaterwissenschaftlichen Forschung die Differenzierung verschie­ dener Textebenen etabliert. Anne Ubersfeld unterscheidet den niedergeschrie­ benen (oder gedruckten) Text (T) – in der Forschung gemeinhin als ‚Dramen­ text‘ oder ‚Theatertext‘ bezeichnet²⁰ – vom ‚Inszenierungstext‘ (texte de mise en scène, T󸀠 ).²¹ Letzterer könne mündlich oder schriftlich sein und diene dazu, die Leerstellen zu ergänzen, die T notwendig enthalte. Damit sind Aspekte gemeint, die in T nicht spezifiziert sind, aber in der Aufführungssituation umgesetzt wer­ den müssen. Dies sind Fragen wie zum Beispiel: Befinden sich die Darstellerin­ nen und Darsteller von Anfang an auf der Bühne oder erscheinen sie erst? Wie erscheinen sie? Gehen oder rennen sie, kommt einer vor dem anderen?²² Aber auch: Wie sind die Kostüme gestaltet? Welche Elemente machen das Bühnenbild aus? Ubersfeld zufolge ist eine textuelle Arbeit nötig, um für die Aufführung Antworten auf diese Fragen zu finden. Ebenjene Arbeit leiste T󸀠 und fungiere so als Mediator zwischen T und der Aufführung (représentation, P).²³ Diese letzte Ebene der Triade wird meist als ‚Aufführungstext‘ bezeichnet.²⁴ Die Ausweitung des Textbegriffs auf alle genannten Niveaus – Dramentext, Inszenierungstext und Aufführungstext – unterstreicht, dass es sich jeweils um Zeichensysteme handelt, die mit semiotischen Analyseverfahren adäquat be­ schrieben werden können. Zudem zeugt das Bezugssystem zwischen den drei Größen (T + T󸀠 → P) von einem Theaterverständnis, das eine Korrelation zwi­ schen Drama und Aufführung annimmt. Sie stehen nicht isoliert nebeneinander,

le Zeichen auf der Textoberfläche und in der Textumgebung etwas zu verstehen geben und auf Wahrnehmbarkeit hin angelegt sind, kann man an ihnen nicht vorbeigehen.“ (Fix, Aktuelle lin­ guistische Textbegriffe, S. 120 [Kap. 2, Anm. 17]). Darüber hinaus legt die begriffliche Trennung nahe, es handle sich um fundamental verschiedene Formen der Bedeutungskonstitution, und steht damit konträr zu dem hier verfolgten semiotischen Ansatz, der auf dem vergleichbaren Zei­ chencharakter der in Drama und Aufführung realisierten Formen aufbaut. 20 Vgl. z. B. Totzeva, Das theatrale Potential, S. 13; Jahn, Bernhard: Grundkurs Drama. Stuttgart 2009 (Uni-Wissen), S. 7 und 82–85 und Weber, Episierung im Drama, S. 23. Da die genannte Ebene der Dimension des Dramas, wie sie in Abschnitt 1.3 bestimmt wurde, zuzuordnen ist, wird hier aus Gründen der Kohärenz der Bezeichnung ‚Dramentext‘ der Vorzug gegeben. 21 Vgl. Ubersfeld, Lire le théâtre, S. 18 f. 22 Ubersfeld hat hier deutlich das moderne, nach dem Sukzessionsprinzip funktionierende Theater vor Augen. In Bezug auf das mittelalterliche Schauspiel und die Simultanbühne stellen sich andere Fragen, die jedoch ebenfalls durch die von Ubersfeld vorgeschlagene Unterschei­ dung von T und T󸀠 erfasst werden können. 23 Vgl. Ubersfeld, Lire le théâtre, S. 19. 24 Vgl. Jahn, Grundkurs Drama, S. 7 und Weber, Episierung im Drama, S. 23. Totzevas Begriff des ‚theatralen Textes‘ bezieht sich auf die gleiche Strukturebene und meint ebenfalls die Aufführung (vgl. Totzeva, Das theatrale Potential, S. 13 und 85–88).

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vielmehr ist der Aufführungstext als Produkt von Dramentext und Inszenierungs­ text zu verstehen. Damit ist auch nahegelegt, dass anhand der schriftlichen Form etwas über die Aufführung zu erfahren ist. Das so gefasste Verhältnis von Dra­ ma und Aufführung kann über das Konzept der Intertextualität veranschaulicht werden. Im Rahmen eines weiten Textbegriffs sind Dramen-, Inszenierungs- und Aufführungstext als unterschiedliche, aber miteinander in Verbindung stehende Zeichensysteme zu verstehen, deren chronologische Reihenfolge zwar festgelegt ist, aber nicht notwendig ein Wertegefälle impliziert.²⁵ Der Untersuchung dra­ matischer Texte im Hinblick auf ihr theatrales Potential sind damit alle Türen geöffnet. Die bisherigen Ausführungen rechtfertigen es, eine grundsätzliche Ausrich­ tung des Dramentextes auf die Aufführung anzunehmen. Sie geben allerdings kei­ ne Antwort darauf, wie diese konkret realisiert wird. An ebenjener Frage setzen zahlreiche Arbeiten im Feld der modernen Dramen- und Theatertheorie an, die im Rahmen strukturalistischer und semiotischer Ansätze versuchen, das konkre­ te Verhältnis von Dramentext und Aufführungstext konzeptuell zu erfassen. Keir Elam zeichnet in seiner Monographie die frühen Entwicklungen seit der Prager Schule in den 1930er und -40er Jahren und die daran anknüpfenden Konzeptio­ nen der 1960er und -70er Jahre nach.²⁶ Das erneute Interesse am Dramentext als Gegenstand der Theaterwissenschaft, der vor allem durch Max Herrmann und seine Schule eine Marginalisierung erfahren hatte, ist verstärkt seit den späteren 1970er Jahren zu erkennen. Die Versuche, einen dem Dramentext inhärenten Aufführungsbezug konzeptuell zu erfassen, bedienen sich beispielsweise Verfahren der Übersetzungstheorie, der Pragmasemantik, der formalen Semantik und nicht zuletzt der Semiotik. Elams eigene Arbeit ist hier zu verorten, ebenso wie zum Beispiel die richtungsweisende Untersuchung Paola Gulli Pugliattis²⁷ oder So­ phia Totzevas Monographie, die auch die zentralen Arbeiten der 1970er und -80er Jahre zu diesem Thema nennt.²⁸ Bezeichnenderweise widmet auch Anne Ubers­ feld in ihrem dreibändigen theatersemiotischen Standardwerk das erste Kapi­ tel dem Verhältnis von Text und Aufführung.²⁹ Einschlägige Positionen sind zu­ dem in einem dem Thema gewidmeten Tagungsband versammelt³⁰ und auch im 25 Vgl. dazu Elam, The Semiotics, S. 209 und Höfele, Drama und Theater, S. 10–12. 26 Vgl. Elam, The Semiotics, S. 5–30. 27 Vgl. Gulli Pugliatti, Paola : I segni latenti. Scrittura come virtualità scenica in King Lear, Firenze, Messina 1976. 28 Vgl. Totzeva, Das theatrale Potential, darin insbesondere S. 36–48. 29 Vgl. Ubersfeld, Lire le théâtre, S. 11–42. 30 Vgl. Das Drama und seine Inszenierung. Vorträge des internationalen literatur- und theater­ semiotischen Kolloquiums Frankfurt am Main, 1983. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte unter Mit­ arbeit von Christel Weiler und Klaus Schwind, Tübingen 1985.

2.1 Theoretische Grundlagen

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1981 erschienen Themenheft von Poetics Today, das den programmatischen Titel Drama, Theater, Performance: A Semiotic Perspective trägt, beschäftigen sich ei­ ne Reihe von Aufsätzen mit der Problematik von Dramentext und Aufführung.³¹ Zuletzt sei in diesem kurzen Einblick in die Forschungslandschaft, deren Weite eine eingehende Erläuterung in diesem Rahmen nicht erlaubt, auf das theaterse­ miotische Kapitel in Winfried Nöths Handbuch der Semiotik³² und einen Aufsatz Andreas Höfeles hingewiesen, der ein Panorama der wichtigsten Strömungen aufzeigt.³³ Auch in der mediävistischen Forschung wird eine grundsätzliche Ausrich­ tung des Dramentextes auf die Aufführung angenommen³⁴, was sich nicht zuletzt im Konzept der „dargestellten Mündlichkeit“ (l’oral représenté) äußert.³⁵ Obwohl dieses zunächst nicht für das Schauspiel, sondern mit Blick auf narrative Texte entwickelt wurde, ist es von der französischen Schauspiel-Forschung produktiv aufgegriffen worden. Deren aktuelles Interesse an Spuren der Mündlichkeit in der verschriftlichten Form von Schauspiel-Texten zielt letztlich in die gleiche Rich­ tung wie die Ansätze der modernen Dramen- und Theaterforschung; nämlich dar­ auf, die Dimension der Aufführung anhand konkreter Segmente des Dramentex­ tes näher zu bestimmen. Denn natürlich ist die Mündlichkeit ein Phänomen der Aufführung. Wegweisende mediävistische Arbeiten haben nicht nur morphologi­ sche, lexikalische und syntaktische Aspekte der Sprache als „Marker aufgeführter Mündlichkeit“ (marqueurs de l’oral représenté) identifiziert, sondern auch die gra­

31 Vgl. Serpieri, Alessandro u. a.: Toward a Segmentation of the Dramatic Text. In: Poetics To­ day 2/3 (1981), S. 163–200 und Alter, Jean: From Text to Performance. Semiotics of Theatrality. In: Poetics Today 2/3 (1981), S. 113–139. 32 Vgl. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. mit 89 Abbil­ dungen, Stuttgart, Weimar 2000, S. 462–466. 33 Vgl. Höfele, Drama und Theater. 34 Vgl. Kap. 2, Anm. 8. 35 Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird in der französischen Forschung be­ reits seit den 1980er Jahren intensiv beforscht (für einen konzisen Überblick vgl. Parussa, Ga­ briella/Maria Colombo Timelli/Elena Lllamas-Pombo: Introduction. In : Enregistrer la parole et écrire la langue dans la diachronie du français. Hrsg. von Gabriella Parussa/Maria Colombo Timelli/Elena Lllamas-Pombo, Tübingen 2017 (ScriptOralia 143), S. 9–18, hier S. 9 ff.). Geprägt wurde der Begriff des oral représenté von Christiane Marchello-Nizia, die ihn als Sammelbegriff zur Erfassung der direkten Rede (discours direct) und ihrer externen Marker (Marchello Nizia be­ spricht ausführlich annonce, incise und rappel) vorschlägt (vgl. Marchello-Nizia, Christiane : L’oral représenté en français médiéval, un accès construit à une face cachée des langues mo­ dernes. In : Le changement en français. Etudes de linguistique diachronique. Hrsg. von Céline Guillot u. a., Bern 2012 (Sciences pour la communication 101), S. 247–264).

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phische Textgestaltung der Handschriften verstärkt in den Blick genommen und wichtige Ergebnisse zu ihrem Aufführungsbezug generiert.³⁶ In Anlehnung an Ubersfelds semiotische Bestimmung des Verhältnisses von Dramentext und Aufführungstext soll hier Charles Sanders Peirces triadisches Zeichenmodell zur Konkretisierung der Textbezüge fruchtbar gemacht werden.³⁷ Alle drei Zeichensysteme (Dramen-, Inszenierungs- und Aufführungstext) lassen sich jeweils als triadische Relation zwischen einem Zeichenträger, einem Refe­ renzobjekt und einer Bedeutung beschreiben. Der Zeichenträger – von Peirce meist ‚Repräsentamen‘ genannt – ist die sinnlich wahrnehmbare Form des Zei­ chens selbst.³⁸ Das Repräsentamen steht in Relation zu einem Objekt. Dieses kann ein einzelnes materielles Ding, eine Klasse von Dingen oder auch ein mentales Konstrukt sein, das vom Zeichenträger repräsentiert wird.³⁹ Es muss sich folglich

36 Darwin Smith hat sich beispielsweise intensiv mit dem Verweischarakter eines in vielen Handschriften nachgewiesenen graphischen Zeichens (crochet alinéaire) beschäftigt (vgl. Lalou, Elizabeth/Darwin Smith: Pour une typologie des manuscrits de théâtre médiéval. In: Fifteenth Century Studies 13 (1988), S. 569–579, hier S. 573 f.; Smith, Darwin: Les manuscrits „de théâtre“. Introduction codicologique à des manuscrits qui n’existent pas. In : Gazette du livre médiéval 33 (1998), S. 1–10, hier S. 5 und Ridder"/Smith, Aux confins, S. 154 ff. [Kap. 1, Anm. 47]). Eine Ge­ meinschaftsarbeit desselben Autors mit Xavier Leroux und Taku Kuroiwa analysiert neben wei­ teren graphischen Zeichen auch die Funktion morpho-syntaktischer Textelemente im Hinblick auf ihre Verbalisierung in der Aufführung (vgl. Kuroiwa, Taku/Xavier Leroux/Darwin Smith: De l’oral à l’oral. Réflexions sur la transmission écrite des textes dramatiques au Moyen Âge. In: Médiévales 59 (2010), S. 17–39). Aktuell erforscht die linguistische Arbeitsgruppe CLESTHIA der Universität Paris 3 – Sorbonne Nouvelle in einem überwiegend aus dramatischen Texten des drei­ zehnten bis sechzehnten Jahrhunderts bestehenden Korpus die Marker für Mündlichkeit (vgl. dazu Parussa, Gabriella: La représentation de l’oral à l’écrit et la diachronie du français. Un nouveau projet de recherche. In : Nouvelles voies d’accès au changement linguistique. Hrsg. von Wendy Ayres-Brennett u. a., Paris 2018 (History and Development of French 4), S. 181–199). 37 Vgl. Ubersfeld, Lire le théâtre, S. 27–30. Allerdings bedient sich Ubersfeld in ihrer forma­ lisierten Darstellung auch der Saussure’schen Begriffe Signifikant (signifiant) und Signifikat (signifié), die m. E. zu Verwirrung führen, da ihre Verwendung zu suggerieren scheint, dass sie synonym zur Terminologie Peirces gebraucht werden könnten. Weil insbesondere das Signifikat nicht problemlos mit dem Interpretanten identifiziert werden kann, wird hier von der Verwen­ dung der Saussure’schen Begrifflichkeiten abgesehen. 38 Vgl. Nöth, Semiotik, S. 63. Anders als der Signifikant bei Saussure, der sich auf die mentale Repräsentation des sinnlich wahrnehmbaren Zeichenträgers bezieht, meint Repräsentant den Zeichenträger selbst. 39 Vgl. Collected Papers of Charles Sanders Peirce. 8 Bde. Hrsg. von Charles Hartshorne/Paul Weiss, Cambridge (Massachusetts) 1960, Buch 1, Paragraph 232 (im Folgenden zitiert in der Form CSP (Charles Sanders Peirce) 1,232): „The Objects – for a Sign may have any number of them – may each be a single known existing thing or thing believed formerly to have existed or expected to exist, or a collection of such things, or a known quality or relation or fact, which single Ob­ ject may be a collection, or whole of parts, or it may have some other mode of being, [. . . ].“ Die

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um eine bekannte Größe handeln, damit das Repräsentamen auf sie verweisen kann. So besteht etwa das Objekt des hier graphisch realisierten Repräsentamens ‚Pferd‘ im Vorwissen über empirische Pferde. Demgegenüber ist der ‚Interpretant‘, der ungefähr der Bedeutung des Zeichens entspricht, das eigentliche Resultat der Semiose: „That sign which it creates I call the interpretant of the first sign [Reprä­ sentamen, CP].“⁴⁰ Vermittelt durch das Repräsentamen entsteht, basierend auf dem Vorwissen über sein Objekt, im Kopf des Rezipienten ein neues Zeichen.⁴¹ Letztlich lässt sich das triadische Zeichenmodell folglich als eine Untergliederung der Bedeutungsdimension beschreiben, die sich aus dem Rückbezug auf das Ob­ jekt und der konkreten, zeichenhaften Realisierung im Interpretanten ergibt. Mithilfe der triadischen Zeichenrelation lassen sich nun auch die verschie­ denen Texte des Theaters beschreiben und zueinander in Bezug setzen. Der Dramentext setzt sich auf Repräsentamen-Ebene aus graphischen Zeichen zu­ sammen. Dies sind überwiegend schriftliche, doch im Falle einer bebilderten Handschrift (oder eines bebilderten Drucks), deren Visualisierungen nicht für eine Aufführung erstellt wurden, auch bildliche Zeichen. Das Objekt⁴² des Dra­ mentextes ist ein zweifaches. Einerseits besteht es im Weltwissen, auf das der Zeichenträger referiert. Mit anderen Worten: Die Passage eines Dramas kann als Geschehen, wie es sich tatsächlich in der bekannten Welt abspielen könn­ te, rezipiert werden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Drama nicht von anderen literarischen Gattungen, wie beispielsweise dem Roman. Andererseits gibt es durch seine gattungsspezifische Form – primär die Gliederung in Figu­ renreden und Regieanweisungen⁴³ – den mit dieser Konvention vertrauten Re­ zipierenden einen zusätzlichen Rahmen vor. Das Objekt ist dann eine mögliche Bühnenhandlung auf der Basis bekannter theatraler Konventionen.⁴⁴ Ebenso Erfassung materieller wie immaterieller Dinge durch den Objektbegriff ist für Peirce deshalb un­ problematisch, weil er letztlich jeder Daseinsform semiotischen Charakter zuspricht (vgl. Nöth, Semiotik, S. 61 f.). 40 CSP 2.228. 41 Vgl. CSP 8.179: „The Sign creates something in the Mind of the Interpreter, which something, in that it has been so created by the sign, has been, in a mediate and relative way, also created by the Object of the Sign, although the Object is essentially other than the Sign. And this creature of the sign is called the Interpretant.“ 42 Vereinfachend werden alle Korrelate des triadischen Modells im Singular wiedergegeben. Mitgedacht ist immer, dass jede Textebene des Theaters eine Menge n von Repräsentamen, Ob­ jekten und Interpretanten enthält. 43 Auch wenn das Ausmaß an Regieanweisungen stark variiert und in Schauspielen bisweilen auf die Nennung der sprechenden Figuren reduziert ist, bleibt die Einteilung dennoch charakte­ ristisch. 44 Insbesondere für die Literatur des Mittelalters ist anzumerken, dass sie in einer stark von Oralität geprägten Welt allgemein ein performatives Potential enthält, das bereits mit theater­

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erfährt der Interpretant des Dramentextes eine Dopplung. Die konkrete Vorstel­ lung, die sich die Lesenden von den rezipierten Zeichen machen, kann die eines Geschehens in der Welt oder aber eines Geschehens auf der Bühne sein. Auch der Inszenierungstext besteht in seiner nicht ephemeren Form⁴⁵ auf Repräsentamen-Ebene aus graphischen Zeichen. Diese setzen sich ebenfalls aus schriftlichen und bildlichen Elementen zusammen. Letztere gehören zum In­ szenierungstext, wenn sie für eine konkrete Aufführung kreiert wurden (z. B. Bühnenpläne). Objekt und Interpretant sind, anders als im Dramentext, notwen­ dig auf das Theater bezogen. Weil alle Inszenierungstexte im Hinblick auf eine konkrete Aufführung entstehen, besteht ihr Objekt in theatralen Konventionen⁴⁶ und ihr Interpretant ist die Handlung auf der Bühne. Der Aufführungstext schließlich weist in Bezug auf die Repräsentamen-Ebene deutliche Differenzen zu den zuvor genannten auf. Sprachliche Zeichen werden (mit Ausnahme von Spruchbändern u. ä.) verbal realisiert und treten im Verbund mit akustischen und visuellen Zeichen auf. Die Ebenen des Objekts und des Inter­ pretanten können demgegenüber weitestgehend analog zu denen des Dramentex­ tes bestimmt werden. Wie für den Inszenierungstext beschrieben, beinhaltet das Objekt auch hier Kenntnisse vom Theater und, in erweiterter Perspektive, Kennt­ nisse von der Welt. Wenn etwa die Darstellerin (oder der Darsteller) der Martha sich in einer Passions-Aufführung am Grab des Bruders die Haare rauft, hat die­ se als Repräsentamen fungierende Geste sowohl den Ausdruck von Trauer in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als auch ihre konventionalisierte Darstellung im Schauspiel zum Objekt. Obwohl die theatrale Dimension des Objekts im Dramen­ text keine notwendige ist, entsprechen sich, wenn sie realisiert wird, Dramen-, In­ szenierungs- und Aufführungstext folglich hinsichtlich ihres Objekts. Eine Diffe­ renz zwischen Dramentext auf der einen und Inszenierungs- und Aufführungstext auf der anderen Seite tritt allerdings dann ein, wenn eine Inszenierung in großem zeitlichem Abstand zur Niederschrift des Dramentextes erfolgt. Das im Objekt prä­

wissenschaftlichem Vokabular beschrieben worden ist (vgl. Däumer, Matthias: Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane, Bielefeld 2013 (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 9), zur Darstellung des methodischen Vorgehens ins­ besondere S. 33–40). 45 Selbstverständlich sind große Teile der Inszenierungsarbeit, wie zum Beispiel das Probieren, mündliche Absprachen, die historischen Kostüme etc., nicht graphischer Natur. Da die Untersu­ chung sie nicht berücksichtigen kann, beschränkt sich die Darstellung auf die Teile des Inszenie­ rungstextes, die durch ihre graphische Fixierung zugänglich sind. 46 In letzter Instanz muss im Objekt auch Weltwissen abgerufen werden, um das Repräsenta­ men angemessen interpretieren zu können. Doch ist der zusätzliche (und im Inszenierungstext zweifellos dominante) Bezug auf theatrale Konventionen hier nicht fakultativ, wie im Dramen­ text, sondern verbindlich.

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sente Welt- und Theaterwissen kann dann im Dramentext ein deutlich anderes sein als im Inszenierungs- und Aufführungstext.⁴⁷ Eine ähnliche Situation lässt sich im Hinblick auf den Interpretanten konstatieren. Einerseits kann die Aufführung in den Zuschauenden Zeichen hervorrufen, die sich auf ihre Lebenswelt beziehen. So könnte beispielsweise ein auftretender König als der zeitgenössisch amtierende Regent aufgefasst werden. Je nachdem, wann und wo die Aufführung stattfindet, wird dies zu sehr unterschiedlichen Interpretanten führen. Zugleich eignet dem Interpretanten des Aufführungstextes aber auf der theatralen Ebene auch eine Selbstbezüglichkeit, auf die bereits Ubersfeld aufmerksam gemacht hat.⁴⁸ Während im Dramentext die graphischen Zeichen im Interpretanten als – imaginierte – visuelle, verbale und akustische Zeichen realisiert werden, finden sie im Aufführungstext ihre reale Manifestation. Die Aufführung ist folglich als Interpretant des Dramentextes zu verstehen. Im Fall des Aufführungstextes sind auf der theatralen Ebene Repräsentamen und Interpretant identisch, weshalb die Zeichen der Aufführung stets auf sich selbst zurückverweisen. Es lässt sich also festhalten, dass Dramen-, Inszenierungs- und Aufführungstext trotz ihrer Heterogenität auf der Ebene des Repräsentamens ein Objekt und einen Interpretanten teilen. Einschränkend muss jedoch angemerkt werden, dass Objekt und Interpretant des Inszenierungs- und Aufführungstextes jeweils eine sehr konkrete Manifestation darstellen, die historisch bedingt ist. Zudem besteht prinzipiell die Möglichkeit, den Dramentext wie einen ausschließlich literari­ schen Text zu lesen, wenn die mit der Form verbundenen Konventionen unbe­ kannt sind oder bewusst ausgeblendet werden. Vermittelt durch ebenjene bleibt dem Dramentext jedoch eine theatrale Dimension immer eingeschrieben, die seine Rezeption als ‚imaginierter Aufführungstext‘ nahelegt.⁴⁹ Für jede wissen­

47 Aus diesem Grund bezeichnet Ubersfeld das Theater als einen ‚dialektischen Ort‘ (lieu dia­ lectique) ; vgl. dazu Ubersfeld, Lire le théâtre, S. 29 f.: „On voit aussi pourquoi on ne peut espé­ rer ni reconstituer une représentation du temps de Louis XIV, ni même, ce qui n’est pas la même chose, donner une image référentielle du siècle de Louis XIV [. . . ], ni oblitérer ce référent his­ torique pour actualiser brutalement, par exemple, un texte du XVIIe siècle : Le Misanthrope en costume de ville actuel ne fonctionne pas bien, il lui manque sa double référence. Il devient clair que l’activité théâtrale, dans la représentation, est par excellence un lieu dialectique.“ 48 Vgl. hier S. 28 f. 49 Der Begriff des ‚imaginierten Aufführungstextes‘ betont seinen Zeichencharakter sowie sei­ nen Status als mentale Konstruktion, doch schließt er grundsätzlich an bekannte Konzeptuali­ sierungen einer eingeschriebenen Aufführung an. Den Terminus der inscribed oder virtual perfor­ mance hat Michael Issacharoff bereits in den 1980er Jahren geprägt (vgl. Issacharoff, Micha­ el: Inscribed Performance. In: Rivista di letterature moderne e comparate 39 (1986), S. 93–106 und Issacharoff, Michael: Discourse as Performance. Stanford 1989). Für alle theatralen Formen, die auf einer schriftlichen Grundlage basieren, hält er fest, dass sowohl Regieanweisungen als

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schaftliche Arbeit, die sich mit Dramentexten beschäftigt, bedeutet dies, dass die Bearbeiterin oder der Bearbeiter eine Lesart wählen kann. Die Behandlung des Dramas als ausschließlich literarisches Werk ist ebenso möglich wie seine Unter­ suchung im Hinblick auf die Aufführung.⁵⁰ Letztere muss allerdings in dem Be­ wusstsein geschehen, dass dies nicht die historische Aufführung miteinschließt. Die dem Text eingeschriebene Inszenierung ist immer nur eine Potentialität, eine mögliche Aufführung, die historisch nicht oder anders umgesetzt werden kann. Bezogen auf das oben beschriebene triadische Modell bedeutet dies, dass der Aufführungstext im Sinne einer konkreten, historischen Manifestation durch die Analyse des Dramentextes nicht einzuholen ist. Liegen graphische Elemente des Inszenierungstextes, der immer für eine konkrete Inszenierung entsteht, oder andere Epitexte (z. B. Erfahrungsberichte in Briefen) vor, ist eine Annäherung an die historische Aufführung möglich. Die umfassende Analyse eines konkreten Aufführungstextes ist letztlich aber nur mithilfe von Filmaufnahmen zu leisten. Da die vorliegende Untersuchung sich für die massenwirksamen kommu­ nikativen Strategien des religiösen Schauspiels interessiert, die eng mit der Aufführungssituation verknüpft sind, soll die Lesart des ‚imaginierten Aufführungstextes‘ verfolgt werden. Dafür ist zunächst die Frage zu klären, ob der bisher auf allgemeiner dramentheoretischer Ebene erläuterte Ansatz auf das reli­

auch Figurenreden eine Aufführung (performance) eingeschrieben ist, die anhand von bestimm­ ten Signalen erkannt werden kann. Er unterscheidet vier Hauptfunktionen von Regieanweisun­ gen, die er in der Folge auch in der Figurenrede nachweist: eine attributive (wer?), Adressat- (zu wem?), melodische (wie?) und lokale (wo?) Funktion. Regieanweisungen und Figurenreden lie­ fern Informationen über diese für die Handlung konstitutiven Aspekte, denen eine gedankliche oder szenische Realisierung folgt (vgl. Issacharoff, Inscribed Performance, S. 94 f.). Beispiels­ weise enthält in William Shakespeares Macbeth Lady Macbeths Ansprache an ihren Mann In­ formationen über von ihm zu realisierende mimische Zeichen (vgl. hier S. 102 (Macbeth zitiert nach Isacharoff): „Your face, my Thane is a book where men/ May read strange matters. To beguile the time/ Look like the time; bear welcome in your eye,/ Your hand, your tongue; look like the innocent flower,/ But be the serpent under’t.“). Dem Ansatz Issacharoffs sehr ähnlich ist die noch ältere Konzeption Rudolf Stamms, der die „innere Form der Aufführung“ als ideale Existenz jedes Theaterstücks definiert. Diese kann Stamm zufolge anhand der „theatralischen Physiognomie“, d. h. auf die Bühnenrealisierung verweisenden Elemente in Figurenreden und Regieanweisungen, rekonstruiert werden (vgl. Stamm, Rudolf: Die theatralische Physiognomie der Shakespearedramen. In: Maske und Kothurn 10 (1964), S. 263–274, hier S. 265). 50 Gulli Pugliatti geht einen Schritt weiter, wenn sie das szenische Potential (potencialità sce­ nica) als „il movente del testo scritto“ benennt und somit die aufführungsbezogene Lesart als die einzige dem Movens des Dramentextes angemessene herausstellt (Gulli Pugliatti, I segni latenti, S. 18, vgl. hier auch S. 11). Dennoch erscheint im Hinblick auf anders gelagerte Untersu­ chungsinteressen die literarische Lesart des Dramentextes, der durch seine Niederschrift letztlich auch zu einem Stück Literatur wird, ebenfalls gerechtfertigt.

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giöse Schauspiel übertragen werden kann. Dies ist nur mithilfe eines Blicks auf die Überlieferungssituation zu ermitteln. Sie stellt sich für die religiösen Spiele des deutsch- und französischsprachigen Raums sehr ähnlich dar, weshalb beide Sprachgebiete gemeinsam behandelt werden können. Die schriftliche Grundlage der religiösen Spiele ist in verschiedenen Hand­ schriftentypen und bisweilen auch in Drucken überliefert, die in unterschiedli­ cher Weise Rückschlüsse auf ihre Verwendung zulassen. Einige Überlieferungs­ träger können in einem Aufführungszusammenhang verortet werden. Dies sind zum einen einzeln, nicht im Textverbund, überlieferte Handschriften, die den vollständigen Text eines Spiels enthalten und in einer Aufführung als Modellbzw. Referenztext genutzt wurden. Die französischsprachige Forschung bezeich­ net sie als originaux (Sg. original) und greift damit einen Quellenbegriff auf.⁵¹ In der deutschsprachigen Forschung ist die Terminologie weniger fixiert; Verwen­ dung finden die Bezeichnungen ‚Aufführungstext‘ und ‚Aufführungsmanuskript‘ sowie ‚vollständige Textbücher‘.⁵² Um terminologische Dopplungen und Unklar­

51 Es handelt sich nicht um den geläufigsten Quellenbegriff, aber dennoch um den adäquates­ ten, denn er findet historisch vor allem dann Verwendung, wenn es gilt, die Spielvorlage von an­ deren Handschriftentypen zu unterscheiden (vgl. Smith, Les manuscrits „de théâtre“, S. 2; vgl. außerdem Kuroiwa/Leroux/Smith, De l’oral à l’oral, S. 24 f. und Smith, French Vernacular Tra­ ditions, S. 42 ff.). Die von Runnalls vorgeschlagene Kategorisierung (vgl. Runnalls, Graham A.: Towards a Typology of Medieval French Play Manuscripts. In: The Editor and the Text. Hrsg. von Philip E. Bennett/Graham A. Runnalls, Edinburgh 1990, S. 96–113, hier S. 99) stimmt größten­ teils mit der von Smith und Lalou geprägten Typologie überein, doch konnten sich seine wenig sprechenden Bezeichnungen Typ A bis Typ G nicht durchsetzen, weshalb im Folgenden nicht weiter auf sie referiert wird. 52 Vgl. Bergmann, Rolf: Aufführungstext und Lesetext. Zur Funktion der Überlieferung des mittelalterlichen geistlichen deutschen Dramas. In: The Theatre in the Middle Ages. Hrsg. von Herman Braet/Johan Nowé/Gilbert Tournoy, Leuven 1985, S. 314–351, hier S. 319 und Lin­ ke, Deutsche Handschriften, S. 528 (Kap. 2, Anm. 8). Linke verwendet den Terminus ‚Aufführungsmanuskript‘ auch als Sammelbegriff für alle mit einer Aufführung in direktem Zu­ sammenhang stehenden Überlieferungsträger und spezifischer von ‚vollständigen Textbüchern‘, während Bergmann ‚Aufführungstext‘ für letztere reserviert. Diese können selbstverständlich fragmentarisch überliefert sein, was im französischsprachigen Raum sogar vielmehr die Regel als die Ausnahme darstellt (vgl. Smith, Les manuscrits „de théâtre“, S. 2–5). Linke führt zur Un­ terscheidung verschiedener Fragmente die terminologische Differenzierung zwischen ‚Arbeits­ manuskript‘ und ‚Entwurf‘ ein (vgl. Linke, Deutsche Handschriften, S. 532 [Kap. 2, Anm. 8]), die hier jedoch nicht übernommen wird, da sie sich den Kategorien original bzw. Aufführungstext und rôle bzw. Einzelrollentext zuordnen lassen. Die Überarbeitung eines vorhandenen Spieltex­ tes in einer erneuten Abschrift war im deutschen und französischen Sprachraum das gewöhnli­ che Vorgehen zur Vorbereitung einer Aufführung; ein original war also in der Regel Vorlage für weitere originaux (vgl. hier S. 550 f. und Runnalls, Les Mystères, S. 468 f.). Sehr eindrücklich illustriert diese Vorgänge das Schema zur Tradition der grandes passions in Smith, Les manu­

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heiten zu vermeiden, wird im Folgenden die Bezeichnung ‚vollständige Textbü­ cher‘ synonym zu originaux gebraucht. Es handelt sich in der Regel um schmuck­ lose Papierhandschriften⁵³, deren Format zwar variiert, als besonders häufig den­ noch Schmalformate (französische Spiele: Schmalfolio; deutsche Spiele: Schmal­ quart) gelten dürfen.⁵⁴ Sie enthalten sowohl die Reden der Figuren, welche in der deutschsprachigen Forschung seit Roman Ingarden als ‚Haupttext‘ bezeichnet werden, als auch weitere Textteile, wie Figurennamen und -bezeichnungen, Re­ gieanweisungen (frz. didascalies) u. ä. In gleicher Tradition werden diese Teile gewöhnlich unter dem Terminus ‚Nebentext‘ subsumiert.⁵⁵ Typisch ist eine ein­ spaltige Anordnung des Haupttextes (inklusive Figurennamen), der durch seitlich abgesetzte Nebentexte (Marginalien) ergänzt wird. In der Regel tragen die für die Aufführung verwendeten Referenztexte Abnutzungsspuren und weisen Überar­ beitungen auf (z. B. Streichungen und Ergänzungen von Versen). Ebenfalls im Aufführungszusammenhang zu verorten sind zwei weitere Handschriftentypen, die aller Wahrscheinlichkeit nach partielle Abschriften und ggf. Erweiterungen des original bzw. vollständigen Textbuchs darstellen.⁵⁶ Zum einen handelt es sich um sogenannte Rollenauszüge bzw. Einzelrollentexte oder Französisch rôles bzw. parchons.⁵⁷ Dieser Handschriftentyp wurde für das

scrits „de théâtre“, S. 3 (vgl. außerdem die Rekonstruktion der Genese des Mytère de Trois Doms in Smith, French Vernacular Traditions, S. 52). 53 Auch alle folgenden Handschriftentypen, die im Aufführungszusammenhang stehen, sind gewöhnlich Papierhandschriften. 54 Vgl. Smith, Les manuscrits „de théâtre“, S. 5 und Linke, Deutsche Handschriften, S. 533 ff. (Kap. 2, Anm. 8). 55 Vgl. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel, 4., unveränd. Aufl., Tübingen 1972, S. 220 ff. In der franzö­ sischsprachigen Forschung findet sich analog zu ‚Haupttext‘ die Bezeichnung textus (vgl. Kuroi­ wa/Leroux/Smith, De l’oral à l’oral, passim und Smith, French Vernacular Traditions, S. 46). Im Anschluss an Genettes Prägung des Begriffs ‚Paratext‘ und seiner Subkategorien ‚Peritext‘ und ‚Epitext‘ lässt sich der Nebentext hinsichtlich seiner Funktion bestimmen. Während ‚Paratext‘ sich auf alle den Haupttext ergänzenden textuellen Elemente bezieht, die zur Steuerung der Re­ zeption beitragen, ist die Bezeichnung ‚Peritext‘ für alle Textelemente reserviert, die den Haupt­ text innerhalb desselben Trägermediums begleiten (z. B. Titel, Verzeichnisse, Widmungen). ‚Epi­ texte‘ sind demgegenüber nur solche Textelemente, die werkextern zirkulieren (z. B. Interviews, Briefe, Kritiken) (vgl. Genette, Gérard: Seuils. Paris 1987, S. 7–11). 56 Vgl. Smith, Les manuscrits „de théâtre“, S. 2. 57 Vgl. Bergmann, Aufführungstext und Lesetext, S. 319 (Kap. 2, Anm. 52); Linke, Deutsche Handschriften, S. 531 (Kap. 2, Anm. 8); Lalou/Smith, Typologie, S. 570 f.; Smith, Les manuscrits „de théâtre“, S. 7; Kuroiwa/Leroux/Smith, De l’oral à l’oral, S. 26 und Smith, French Vernacular Traditions, S. 45.

2.1 Theoretische Grundlagen |

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Rollenstudium der Darsteller und Darstellerinnen⁵⁸ angefertigt und enthält den gesamten Text einer Rolle, dem zur Orientierung jeweils der letzte Vers der vor­ hergehenden Rede vorangestellt ist. Regieanweisungen und andere Nebentexte sind in der Regel nicht oder nur sehr reduziert enthalten und Schmalformate, die den Text einspaltig wiedergeben, bilden die Mehrheit der Überlieferung. Den zweiten Typus stellen eigens für den Spielleiter (in der französischspra­ chigen Forschung ist die Bezeichnung meneur de jeu etabliert, Quellenbegriffe sind darüber hinaus maître de jeu oder conducteur⁵⁹) angefertigte Handschrif­ ten dar. Sie unterscheiden sich in der graphischen Gestaltung zwar bisweilen recht stark⁶⁰, weisen aber alle das zentrale Charakteristikum auf, die Rollen­ texte nur sehr reduziert wiederzugeben, demgegenüber jedoch umfassende und äußerst detaillierte Spielanweisungen zu enthalten.⁶¹ In der deutschsprachigen Forschung werden diese Regiebücher häufig etwas irreführend als Dirigierrollen bezeichnet. Tatsächlich sind nicht alle zu Regiezwecken angefertigten Hand­ schriften in Rollenform überliefert; beispielsweise ist die Alsfelder ‚Dirigierrol­ le‘ ein Heft in Schmalfolio-Format.⁶² Die Bezeichnung hat sich vermutlich im Anschluss an die älteste und zweifellos bekannteste Form des Regiebuchs, die Frankfurter Dirigierrolle (1. Hälfte vierzehntes Jh.), die tatsächlich eine aus Per­ gament bestehende Rolle ist, durchgesetzt. Demgegenüber klingt in der gängigen französische Bezeichnung abrégé (oder protocole bzw. protocollum) stärker die Funktion dieses Handschriftentyps an. Neben den beiden genannten Typen sind

58 Obwohl überwiegend Männer auftraten, ist für den französischen Sprachraum die Beteili­ gung von Frauen als Darstellerinnen belegt. Gabriella Parussa versammelt alle Zeugnisse, die das Auftreten von Darstellerinnen nachweisen, in einer Liste und diskutiert darüber hinaus die Gründe, welche die geringe Dokumentation weiblicher Partizipation erklären (vgl. Parussa, Le théâtre des femmes, S. 307–313 und 320 (Kap. 1, Anm. 28); vgl. darüber hinaus Smith, Darwin/ Gabriella Parussa/Olivier Halévy: Hommes et femmes. In : Le théâtre français du Moyen Âge et de la Renaissance. Histoire, textes choisis, mises en scène. Hrsg. von Darwin Smith/Gabriella Pa­ russa/Olivier Halévy, Paris 2014 (Anthologie de L’avant-scène théâtre), S. 50–64, hier S. 54–57 und Muir, Lynette R. : Women on the Medieval Stage. The Evidence from France. In: Medieval English Theatre 7 (1985), S. 107–119). 59 Vgl. Smith, French Vernacular Traditions, S. 39. 60 Vgl. Linke, Deutsche Handschriften, S. 531 (Kap. 2, Anm. 8): „Verse und Regieanweisungen können sowohl fortlaufend (Abb. 1) als auch abgesetzt geschrieben sein (Abb. 2), die Bühnen­ anweisungen sind gewöhnlich farblich durch verschiedenartige Rubrizierung und/oder graphi­ sche Anordnung hervorgehoben (Abb. 2), mitunter sind zusätzliche Rollenbezeichnungen an den Rand hinausgerückt (Abb. 1, 3).“ 61 Vgl. hier Kuroiwa/Leroux/Smith, De l’oral à l’oral, S. 25 f. und Smith, French Vernacular Traditions, S. 39. 62 Vgl. Bergmann, Aufführungstext und Lesetext, S. 321 und 337 [Kap. 2, Anm. 52].

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darüber hinaus im deutsch- und französischsprachigen Raum zahlreiche Listen (Darsteller-, Rollen-, Kostüm- und Requisitenverzeichnisse) und weitere Zeugnis­ se überliefert, die im direkten Aufführungszusammenhang stehen (Bühnenplä­ ne, Material- und Arbeitsrechnungen, Arbeitsverträge, Verordnungen, Briefe).⁶³ Ein Spezifikum der französischen Tradition scheinen die sogenannten livres des prologues zu sein. Dies sind gesammelte Abschriften der Prologe und Epiloge aller Spieltage in einer separaten Handschrift, die, so vermutet es Smith, im Zusammenhang mit der Aufführung angefertigt wurden.⁶⁴ Neben diesen im Aufführungszusammenhang entstandenen Handschriften­ typen umfasst die Überlieferung auch solche, die zu anderen Zwecken genutzt wurden. In der deutschsprachigen Forschung wird meist von ‚Lesehandschriften‘ gesprochen, in Frankreich allgemeiner von copies privées.⁶⁵ Es handelt sich um Abschriften – in der Regel von originaux bzw. vollständigen Textbüchern – die nicht für die Inszenierung, sondern für einen anderen, oft individuellen Gebrauch angefertigt wurden. Die französische Forschung hat diesen nicht nur als Lektüre bestimmt, sondern auch meditative und didaktische Verwendungszwecke spezi­ fiziert, die zweifellos für die deutschsprachige Überlieferung ebenfalls Geltung beanspruchen dürfen.⁶⁶ Charakteristisch für diese Abschriften sind die Überlie­ ferung im Textverbund (Sammelhandschriften bzw. recueils⁶⁷) und eine teilwei­ se von den Aufführungsmanuskripten abweichende graphische Gestaltung. Der Text ist häufig in zwei Spalten präsentiert, manchmal durch Zwischenüberschrif­

63 In einigen Editionen, Aufsätzen und Anthologien sind solche Materialien mitediert und/oder Photographien abgedruckt (z. B. die Photographie eines Rollen- und Spielerverzeichnisses in Le théâtre français du Moyen Âge et de la Renaissance. Histoire, textes choisis, mises en scène. Hrsg. von Darwin Smith/Gabriella Parussa/Olivier Halévy, Paris 2014 (Anthologie de L’avant-scène théâtre), S. 102 und in Bergmann, Aufführungstextund Lesetext, S. 336 (Kap. 2, Anm. 52); in Gros 1962, S. 27–40 die Edition von Arbeitsverträgen). 64 Vgl. Smith, Les manuscrits „de théâtre“, S. 6 und Smith, French Vernacular Traditions, S. 38 f. 65 Vgl. Linke, Deutsche Handschriften (Kap. 2, Anm. 8) und Smith, Les manuscrits „de théâtre“, S. 9. 66 Vgl. Smith, French Vernacular Traditions, S. 38, 41 und 46 und Kuroiwa/Leroux/Smith, De l’oral à l’oral, S. 23. Linke nennt zusätzliche Motive, wie die Archivierung zum Zwecke städ­ tischer Repräsentation oder die Erstellung von Widmungs-Exemplaren (vgl. Linke, Deutsche Handschriften, S. 542 f. [Kap. 2, Anm. 8]). 67 Es finden sich verschiedene Textverbünde. Zum einen sind Handschriften zu nennen, die ausschließlich Schauspiele versammeln (frz. recueils factices) und von Städten oder städtischen Gemeinschaften in Auftrag gegeben wurden, die im Rahmen der über das Kirchenjahr verteil­ ten Feiern ebenjene Spiele aufführten (vgl. dazu Smith, French Vernacular Traditions, S. 41 f.). Zum anderen sind religiöse Schauspiele häufig Teil von Sammelhandschriften vermischten (lite­ rarischen und nichtliterarischen) Inhalts (z. B. wird GüWg von einem religiösen Märe und einem Tundalus-Text eingerahmt, vgl. dazu Linke 1995: Das Güssinger Weltgerichtsspiel, S. 4).

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ten gegliedert und stets mehr oder weniger schmuckvoll ausgestaltet. Im Französi­ schen wird hier zwischen copies de luxe (Prachthandschriften) und copies couran­ tes (‚Normalhandschriften‘) unterschieden.⁶⁸ Die Differenzierung lässt sich auch auf die deutschen Handschriften übertragen. Copies de luxe, die gewöhnlich für vermögende Einzelpersonen oder den Aufführungsort des Spiels (Städte wie z. B. Lille und Amiens) hergestellt wurden, zeichnen sich durch Textschmuck (Initial­ schmuck, Farbvariation) und Illustrationen (von Federzeichnungen bis hin zu far­ bigen Miniaturen) sowie oft große Formate und gehobene Materialqualität (z. B. Pergament im sechzehnten Jh.) aus.⁶⁹ Mit den copies courantes teilen sie den Cha­ rakter einer Reinschrift, letztere enthalten jedoch in der Regel keine Illustrationen oder Initialschmuck und sind überwiegend in kleineren Formaten überliefert.⁷⁰ Lalou und Smith vermuten sie in bürgerlichen Bibliotheken und schließen auch eine Wiederverwendung zu Aufführungszwecken nicht aus.⁷¹ Drucke stellen zwar insgesamt nicht die Mehrheit der Überlieferung dar, doch wurden beispielsweise einige der großen französischen Passionsspiele geradezu massenhaft in gedruckter Form publiziert.⁷² Sie stellen dem Text in der Regel ein Frontispiz voran und entsprechen im Übrigen der graphischen Einrichtung der copies courantes. Hinsichtlich dieser zu Überblickszwecken sehr allgemein gehaltenen Klassi­ fizierung ist anzumerken, dass die Überlieferungssituation immer komplexer und vielschichtiger ist als ihre schematische Darstellung. Beschrieben wurden Pro­ totypen. Tatsächlich stellen viele Handschriften Mischformen dar und sind be­ züglich ihres Verwendungszwecks schwer einzuordnen, weshalb Linke auch eine Klasse von „indifferenten oder neutralen Handschriften“⁷³ benennt. Die konkrete Evaluation muss immer möglichst viele Kriterien hinzuziehen, um den Verwen­ dungszusammenhang einer Handschrift angemessen zu rekonstruieren.⁷⁴

68 Vgl. Lalou/Smith, Typologie, S. 572 f. 69 Vgl. Bergmann, Aufführungstext und Lesetext, S. 322 f. (Kap. 2, Anm. 52); Lalou/Smith, Ty­ pologie, S. 572 und Linke, Deutsche Handschriften, S. 540–543 (Kap. 2, Anm. 8). 70 Vgl. Lalou/Smith, Typologie, S. 572 f. 71 Vgl. ebd. 72 Insbesondere das Mystère de la Passion Jean Michels und eine Version, die zusätzliche Teile aus der Passion Arnoul Grébans enthält und von Runnalls als Passion Cyclique bezeichnet wird, sind vom letzten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in zahlreichen Auflagen erschienen (vgl. Runnalls, Les Mystères, S. 492 f.). 73 Vgl. Linke, Deutsche Handschriften, S. 528 (Kap. 2, Anm. 8). 74 Vgl. hier S. 537: „Das Indiz hat also für sich allein genommen keine Kraft, sondern muß durch andere gestützt werden – wie denn überhaupt grundsätzlich festzuhalten ist, daß der Gebrauchs­ zweck einer mittelalterlichen Spielhandschrift nur ausnahmsweise durch ein Kriterium allein, gemeinhin dagegen erst durch die Kombination einer Mehrzahl von Kriterien verläßlich zu be­

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Der Einblick in die Überlieferung deutsch- und französischsprachiger religiö­ ser Spiele zeigt, dass die oben erläuterte Differenzierung zwischen Dramentext, Inszenierungstext und Aufführungstext auch zur Beschreibung der spätmittelal­ terlichen und frühneuzeitlichen Textzeugnisse geeignet ist. Zugleich machen sie auf eine gewisse Unschärfe oder Durchlässigkeit zwischen Dramen- und Inszenie­ rungstext aufmerksam. Lesehandschriften bzw. copies privées können eindeutig der Kategorie des Dramentextes zugeordnet werden, stellen sie doch eine schrift­ lich fixierte Grundlage dar, die in der Regel keine Bearbeitungen aufweist. Alle Überlieferungsträger, die klar ersichtlich in einem Aufführungszusammenhang stehen, sind weniger leicht ausschließlich als Dramentexte zu qualifizieren. Be­ sonders einleuchtend ist dies im Hinblick auf Dirigierrollen bzw. abrégés so­ wie sämtliche Listen und Bühnenpläne, da diese für eine Aufführung angefer­ tigt wurden und bereits als Teil der Inszenierungsarbeit, die ausgehend vom vollständigen Textbuch bzw. original geleistet wurde, aufgefasst werden kön­ nen.⁷⁵ Auch Rollenauszüge bzw. rôles und die livres des prologues sind im Aufführungszusammenhang entstandene Abschriften, die einen Teil der Inszenie­ rungsarbeit dokumentieren. Die vollständigen Textbücher bzw. originaux ent­ halten gewöhnlich Streichungen, Ergänzungen, Umstellungen und häufig auch spezifische graphische Zeichen, die im Zusammenhang mit Bühnenhandlungen stehen. Deshalb präsentieren auch sie nicht nur einen Dramentext, sondern tra­ gen zugleich Spuren der Inszenierungsarbeit und sind mithin partiell auch Insze­ nierungstexte. Das Korpus der vorliegenden Arbeit umfasst sowohl Spiele, die in aufführungsbezogenen Handschriften (vor allem in originaux bzw. vollständigen Textbüchern) auf uns gekommen sind, als auch Spiele, die in Lesehandschriften bzw. copies privées überliefert wurden.⁷⁶ In einigen Fällen liegen weitere Epitex­ te (Verträge, Listen, Briefe etc.) vor, die für die Analyse herangezogen werden. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet somit ein heterogener Textbestand, der sich anhand der eingeführten Terminologie als Mischung aus Dramen- und Inszenierungstexten konkretisieren lässt. Folglich kann für das gesamte Textkor­ pus die Dimension einer imaginierten Aufführung angenommen werden, welche

stimmen ist.“ Vgl. in gleicher Weise Bergmann, Aufführungstext und Lesetext, S. 326 (Kap. 2, Anm. 52). 75 Alle Überlieferungsträger, die Spielnachrichten enthalten (Arbeitsverträge, Briefe, Rechnun­ gen etc.), stellen Epitexte dar, die anhand des dreigliedrigen Schemas nur teilweise zu erfassen sind. Während alle Zeugnisse, die mit der Organisation der Inszenierung in Verbindung stehen, dem Inszenierungstext zugerechnet werden können, sind alle Rezeptionszeugnisse (z. B. in Brie­ fen) außerhalb des Schemas zu behandeln, da sie nicht mit der Genese der Aufführung zusam­ menhängen. 76 Vgl. die Einzeldarstellungen der Spiele im Anhang unter dem Punkt ‚Überlieferung‘.

2.1 Theoretische Grundlagen

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über die Analyse der Texte rekonstruierbar ist. Da die Inszenierungstexte für eine historische Aufführung entstanden sind, ist eine Annäherung an diese in einigen Fällen möglich. Dasselbe gilt, wenn Epitexte hinzugezogen werden können.

2.1.3 Semiotik des Schauspiels: rekonstruierte Multimodalität Die Lektüre der religiösen Schauspiele im Sinne imaginierter Aufführungstexte bringt die Schwierigkeit mit sich, dass die Analyse (auch) auf Dimensionen ab­ zielt, welche nur mittelbar über die Dramen- und Inszenierungstexte zugänglich sind.⁷⁷ Aus diesem Grund sind einige Bemerkungen dazu nötig, um welche Di­ mensionen es sich handelt und unter welchen Voraussetzungen sie in der Unter­ suchung behandelt werden. Der Multimodalitäts-Begriff bietet einen hilfreichen theoretischen Rahmen, um die auf den unterschiedlichen Textebenen des Schauspiels realisierten se­ miotischen Dimensionen zu konzeptualisieren. Die noch relativ junge Multi­ modalitätsforschung erweitert den in der Vergangenheit vorrangig auf sprach­ liche Zeichen ausgerichteten semiotischen Ansatz durch die Berücksichtigung weiterer Zeichenmodalitäten.⁷⁸ Als Konsens darf, ausgehend von einem weiten Textbegriff, die Annahme gelten, dass Artefakte in unterschiedlichen Zeichen­ modalitäten Texte sind. Dies gilt folglich auch für ihre strukturelle und funk­ tionale Verbindung, mithin für multimodale Artefakte.⁷⁹ Die Präzisierung der Minimaleinheit mode oder Modalität, also die Beschaffenheit der Größen, die miteinander in Interaktion treten, hat dagegen zu divergierenden Ansätzen ge­ führt. Auf der einen Seite werden allgemeingültige Definitionen ganz vermieden

77 Horst Turk formuliert es so: „Allerdings setzt der dramatische Text Darstellungsmittel voraus, die er nicht besitzt, über die er verfügt, indem er sie in Rechnung stellt.“ (vgl. Turk, Horst: So­ ziale und theatralische Konventionen als Problem des Dramas und der Übersetzung. In: Soziale und theatralische Konventionen als Problem der Dramenübersetzung. Hrsg. von Erika FischerLichte u. a., Tübingen 1988, S. 9–53, hier S. 10). 78 Für einen Überblick über die Entwicklung des Forschungsansatzes und zentrale Positionen des interdisziplinär bespielten Felds der Multimodalität vgl. Jewitt, Carey: Different Approaches to Multimodality. In: The Routledge Handbook of Multimodal Analysis. 2. Aufl. Hrsg. von Ca­ rey Jewitt, London, New York 2014, S. 28–39; Klug, Nina-Maria/Hartmut Stöckl: Sprache im multimodalen Kontext. In: Handbuch Sprache und Wissen. Hrsg. von Ekkehard Felder/Andreas Gardt, Berlin, Boston 2015 (Handbücher Sprachwissen 1), S. 242–264 und Potysch, Nicolas: Wie­ derholt doppeldeutig in Bild und Schrift. Ambiguität im durchbilderten Roman, Hannover 2018, S. 33–40. 79 Vgl. Stöckl, Hartmut: Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen. In: Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Hrsg. von Nina-Maria Klug/Hartmut Stöckl, Ber­ lin, Boston 2016 (Handbücher Sprachwissen 7), S. 3–35, hier S. 4 f.

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und konkrete Modalitäten empirisch in einem spezifisch historisch-kulturellen Kontext bestimmt⁸⁰, auf der anderen Seite finden sich unterschiedliche Kategori­ sierungsversuche. In der Regel setzen sie bei den fünf Sinnesmodalitäten (visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch und gustativ) an. Dass eine Identifikation von Sinnesund Zeichenmodalitäten aufgrund mangelnder Trennschärfe jedoch keine an­ gemessene Konzeptualisierung darstellt, wurde verschiedentlich aufgezeigt.⁸¹ Bevorzugt wird in der aktuellen Forschung eine inklusive Bestimmung, die den Begriff der Modalität bzw. des mode „im Kraftfeld der Konzepte Medium, Ko­ de und Sinneswahrnehmung“⁸² zu präzisieren versucht. Ein mode ist in diesem Verständnis ein Zeichensystem, das der materiell-medialen Realisation bedarf und an einen Kanal der Sinneswahrnehmung gebunden ist. Er verfügt über Res­ sourcen (z. B. Farbe oder Typographie) und eine interne Strukturierung, die sein Ausdruckspotential sowie Möglichkeiten der Kombination und des funktionalen Gebrauchs bestimmt.⁸³ Innerhalb dieser Konzeption sind auch Multimedialität und Multicodalität als Teilaspekte von Multimodalität zu verstehen. Das besonde­ re analytische Potential letzterer besteht darin, die regelhafte Verbindung dieser

80 Vgl. beispielsweise Kress, Gunther: What is mode? In: The Routledge Handbook of Multi­ modal Analysis. 2. Aufl. Hrsg. von Carey Jewitt, London, New York 2014, S. 60–75, hier S. 65: „a mode is what a community takes to be a mode and demonstrates that in its practices“. 81 Hartmut Stöckl macht zum Beispiel auf das Problem aufmerksam, dass das Zeichensystem ‚Sprache‘ aufgrund seiner unterschiedlichen Realisations- und Rezeptionsformen (schriftlichvisuell und mündlich-auditiv) in zwei verschiedene Modalitäten untergliedert werden müsste (vgl. Stöckl, Multimodalität, S. 6 [Kap. 2, Anm. 79]). Vgl. auch die ähnlich gelagerten Einwände John A. Batemans (Bateman, John A.: Methodological and Theoretical Issues in Multimodali­ ty. In: Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Hrsg. von Nina-Maria Klug und Hartmut Stöckl, Berlin, Boston: 2016 (Handbücher Sprachwissen 7), S. 36–74, hier S. 41). 82 Klug/Stöckl, Sprache, S. 244 (Kap. 2, Anm. 78). 83 Vgl. hier S. 245 und Stöckl, Multimodalität, S. 9 (Kap. 2, Anm. 79). Die Fixierung eines fes­ ten, überzeitlich gültigen Inventars von Zeichenmodalitäten ist allerdings auch anhand dieses Ansatzes schwer möglich; nicht zuletzt, da eine gewisse Durchlässigkeit zwischen den Modalitä­ ten besteht und sie nicht außerhalb von sozio-kulturellen Konventionen gedacht werden können (vgl. Klug/Stöckl, Sprache, S. 245 [Kap. 2, Anm. 78]). Stöckl greift im bereits zitierten Aufsatz Sprache, Bild, Musik und Geräusch als zentrale Zeichenmodalitäten heraus, da diese „im All­ tagsverständnis der Zeichenverwender zweifellos als basale Modalitäten gelten können und weil deren Kombination eine einfache aber weithin gültige Typologie multimodaler Texte (Print-Text, Audio-Text, Audiovisueller Text) etabliert“ (Stöckl, Multimodalität, S. 6 [Kap. 2, Anm. 79]). Die Notwendigkeit der Anbindung an konkrete Gebrauchskontexte mag als Schwäche des Ansatzes ausgelegt werden, macht ihn aber zugleich für unterschiedliche historische Kommunikations­ zeugnisse anschlussfähig, was vor allem im Hinblick auf die hier vorzunehmende Untersuchung sehr zu begrüßen ist.

2.1 Theoretische Grundlagen |

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Dimensionen zu präzisieren.⁸⁴ Es wird häufig auch von einer ‚Grammatik‘ im Sin­ ne eines Regelsystems gesprochen, das mehr oder weniger analog zu dem der Sprache rekonstruiert werden kann und darüber hinaus auch systematisch auf die sprachliche Bedeutungsbildung einwirkt.⁸⁵ Dabei stellt sich die Frage nach der modal affordance⁸⁶ verschiedener Zeichenmodalitäten: Welches distinkte Ausdruckspotential kommt unterschiedlichen modes zu? Können beispielsweise Bilder das gleiche – und nach gleichen Regeln – ausdrücken wie Worte? Die mo­ dal affordance ist auch für diese Untersuchung von zentraler Bedeutung, um die angemessenen Analyse-Werkzeuge für die Zeichensysteme des Theaters identifi­ zieren zu können. Im Folgenden sollen deshalb die für das religiöse Schauspiel relevanten Zeichenmodalitäten im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unter­ schiede hin erläutert werden. Ausgehend vom theatralen Zeichenrepertoire sind als zentrale modes des Aufführungstextes im religiösen Schauspiel Sprache, Musik, Geräusch, Bild⁸⁷ und Geste⁸⁸ festzuhalten. Einen systematischen Vergleich der vier erstgenannten Mo­ dalitäten hat Stöckl anhand der von Charles W. Morris für die Semiotik einge­ führten Kategorien Syntax (Form), Semantik (Inhalt) und Pragmatik (Funktion) vorgenommen.⁸⁹ Der diesem System inhärente Status der Sprache als Modellsys­

84 Auch Joachim Knape sieht das Potential des Multimodalitäts-Begriffs in seiner Nutzung als ‚Perspektivbegriff‘, vgl. Knape, Joachim: Multimodalität aus rhetoriktheoretischer Sicht. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft 28 (2018), S. 47–60, S. 57. 85 Vgl. beispielsweise die Monographie Ellen Frickes, die im Hinblick auf sprachbegleitende Gesten das Projekt einer ‚multimodalen Grammatik‘ verfolgt (vgl. Fricke, Ellen: Grammatik mul­ timodal. Wie Wörter und Gesten zusammenwirken, Berlin, Boston 2012 [Linguistik – Impulse und Tendenzen 40]). Zu Ansätzen der Sozialsemiotik, die in diese Richtung gehen, vgl. Klug/Stöckl, Sprache, S. 252 f. (Kap. 2, Anm. 78). 86 Vgl. Kress, Gunther und Carey Jewitt: Introduction. In: Multimodal Literacy. Hrsg. von Carey Jewitt/Gunther Kress, New York 2003 (New Literacies and Digital Epistemologies 4), S. 1–18, hier S. 14: „The affordance of a mode can at one level be understood as what it is possible to express and represent readily, easily, with a mode, given its materiality and given the cultural and social history of that mode.“ 87 Unter die Kategorie ‚Bild‘ fallen alle statischen, über den visuellen Kanal wahrnehmbaren Zeichen; konkret also sämtliche Aspekte der Erscheinung der Darstellerinnen und Darsteller und des Raums. 88 Der Begriff ‚Geste‘ wird hier in einem weiten Sinn als „[b]odily action other than speech that is recognized as being done in order to express something“ (vgl. Kendon, Adam: Gesture. In: Folklore, Cultural Performances, and Popular Entertainments. A Communications-centered Handbook. Hrsg. von Richard Bauman, New York 1992, S. 179–190, S. 179) gebraucht und bezieht somit alle kinesischen Zeichen mit ein. 89 Vgl. Stöckl, Multimodalität, S. 9–18 (Kap. 2, Anm. 79). Die folgende Darstellung bezieht sich, wenn nicht anders angegeben, stets auf den genannten Abschnitt in Stöckls Aufsatz, weshalb Belegstellen nur im Fall von direkten Zitaten vermerkt werden.

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tem und seine damit einhergehende logozentrische Ausrichtung, auf die Stöckl selbst hinweist⁹⁰, erscheinen bezogen auf das religiöse Schauspiel unproblema­ tisch, da Sprache für die Entwicklung der Handlung unbestreitbar die dominante Zeichenmodalität ist. Die Erläuterung der modes Sprache⁹¹, Bild, Musik und Ge­ räusch in Stöckls Aufsatz soll hier zusammenfassend und mitunter kommentie­ rend nachvollzogen und durch die Modalität der Geste ergänzt werden. Im Bereich der Syntax vergleicht Stöckl die Zeichenmodalitäten in dreifa­ cher Perspektive: Über welchen Sinneskanal werden sie prozessiert? Welchen Grad der Semiotisierung weisen sie auf? (Wie) sind sie intern strukturiert? Spra­ che und Musik zeichnen sich durch die Möglichkeit zur dualen Realisierung und Rezeption auf (auditiv und visuell), wohingegen Bild und Geräusch jeweils nur über einen Sinneskanal produziert und rezipiert werden können (visuell bzw. au­ ditiv). Gesten werden primär über den visuellen Kanal perzipiert, können jedoch auch auditive und taktile Elemente involvieren (z. B. Klatschen oder Berührungs­ gesten). Mit dem Grad der Semiotisierung meint Stöckl das Ausmaß, in dem Phä­ nomene der jeweiligen Modalitäten als Zeichen erkannt werden und man ihnen einen bestimmten Sinn zuschreibt: „Manche Modalitäten generieren Sinn fast axiomatisch, automatisiert; bei anderen schreiben wir Sinn erst nach gründli­ cher Reflexion der Zeichen und ihrer Strukturen zu.“⁹² Die Sprache als Codie­ rungssystem arbiträrer Zeichen bildet hier das Maximum der Skala; Geräusche, die primär ‚natürliche‘ Zeichen⁹³ sind und erst sekundär kommunikative Funk­ tionen übernehmen können, das Minimum. Im Mittelfeld sind Musik und Bild verortet, da beide kulturelle Artefakte darstellen, deren Rezeption jedoch we­ niger fixierten Codierungssystemen folgt als die der Sprache. Gesten können sehr unterschiedliche Semiotisierungsgrade aufweisen. Zweifellos auf gleicher Ebene wie lautsprachliche Zeichen rangieren die Gesten bzw. Gebärden der Ge­

90 Hier S. 19. 91 Weil im Folgenden in Bezug auf die Modalität ‚Geste‘ auch von Gebärdensprache die Rede sein wird, sei an dieser Stelle präzisiert, dass die Modalität ‚Sprache‘ hier nur Lautsprachen ein­ schließt. Aufgrund ihrer visuell-räumlichen Realisierung werden Gebärdensprachen den Gesten zugeordnet, obwohl es sich selbstverständlich ebenfalls um Sprachen handelt. Hier zeigt sich die bereits von Klug und Stöckl erwähnte Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Modalitä­ ten. 92 Stöckl, Multimodalität, S. 10 (Kap. 2, Anm. 79). 93 Natürliche Zeichen besitzen im Gegensatz zu künstlichen Zeichen keinen intentionalen Sen­ der und werden nicht als kommunikative Zeichen, sondern als Symptome oder Anzeichen inter­ pretiert (vgl. Eco, Umberto: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M. 1977, S. 38).

2.1 Theoretische Grundlagen

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bärdensprache, welche grundsätzlich morphematischen Charakter besitzen⁹⁴ und stets mit kommunikativer Absicht gebraucht werden. Für eine Vielzahl von redebegleitenden Gesten kann dagegen nur ein geringer Semiotisierungsgrad angenommen werden. Hilfreich ist hier die Kategorisierung Paul Ekmans und Wallace V. Friesens, die fünf Klassen von Gesten unterscheiden.⁹⁵ Embleme (em­ blems) sind Gesten, die innerhalb eines Kollektivs (Gruppe, Klasse oder Kultur) eine wörtliche Bedeutung besitzen (z. B. Kopfnicken im deutschen Sprachraum die lexikalische Bedeutung ‚ja‘). Embleme werden für gewöhnlich intentional zu kommunikativen Zwecken gebraucht und sind autonom, d. h. sie können, müssen aber nicht notwendig in Verbindung mit verbalsprachlichen Äußerun­ gen auftreten. Embleme sind folglich in hohem Maße semiotisierte Gesten. Eine leichte Abstufung ist bezüglich redebegleitender Gesten vorzunehmen. Dies sind zum einen „movements which are directly tied to speech, serving to illustrate what is being said verbally“⁹⁶, die Ekman und Friesen als Illustratoren (illus­ trators) bezeichnen. Dazu zählen Taktstockgesten (batons), die einzelne Wör­ ter oder Phrasen hervorheben, Ideographe (ideographs), die einen Gedanken­ gang skizieren, Deiktika (deictic movements) im Sinne klassischer Zeigegesten, räumliche Gesten (spatial movements), die räumliche Relationen ausdrücken, Kinetographen (kinetographs), mit denen eine körperliche Aktion kommuniziert wird und Piktographe (pictographs), die ihren Referenten bildlich darstellen.⁹⁷

94 William C. Stokoe hält für die amerikanische Gebärdensprache (ASL) fest, dass ihre Zeichen analoge Strukturen zu den Morphemen von Lautsprachen sind, welche er als cheremes bezeich­ net (vgl. Stokoe, William C.: Semiotics and Human Sign Languages. The Hague 1972, S. 20). Der Befund lässt sich grundsätzlich auf alle Gebärdensprachen übertragen. 95 Vgl. Ekman, Paul/Wallace V. Friesen: The Repertoire of Nonverbal Behavior. Categories, Ori­ gins, Usage, and Coding. In: Semiotica 1 (1969), S. 49–98. Obwohl die sozialpsychologisch und funktional begründete Klassifikation Ekmans und Friesens insbesondere bezüglich der Unter­ scheidung zwischen sprachbegleitenden und sprachersetzenden Gesten Schwächen aufweist und die Kategorien sich teilweise überschneiden, erfasst sie doch ein breites Spektrum von Be­ wegungen systematisch und hilft so, den Semiotisierungsgrad von Gesten differenzierter zu be­ schreiben. Für eine kritische Darstellung des Ansatzes Ekmans und Friesens sowie weiterer Klas­ sifizierungssysteme vgl. Müller, Cornelia: Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte – Theo­ rie – Sprachvergleich, Berlin 1998 (Körper, Zeichen, Kultur/Body, Sign, Culture 1), S. 91–103. Die von Müller vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Selbstberührungen und freien Gesten, zu denen primär sprachbegleitende und sprachersetzende Gesten zählen, erscheint für den von Müller gewählten Fokus auf redebegleitende Bewegungen der Hände und Arme gut geeignet, greift aber für den hier gewählten ‚weiten‘ Gestenbegriff zu kurz, der auch Mimik und proxemi­ sche Bewegungen einschließt. 96 Ekman/Friesen, Nonverbal Behavior, S. 68. 97 Vgl. hier S. 68. In einem späteren Aufsatz ergänzt Ekman die sechs Subkategorien durch zwei weitere: Unterstreichungsgesten (underliners), die – im Gegensatz zu Taktstockgesten, welche er

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Obwohl die Bedeutung von Illustratoren stärker situativ generiert wird und we­ niger konventionalisiert ist als die von Emblemen, werden sie in der Regel als intentional gebrauchte Zeichen interpretiert. Zum anderen sind die sogenannten Regulatoren (regulators) zu den redebegleitenden Gesten zu zählen. Sie steu­ ern die verbale Sprecher-Hörer-Interaktion: „They tell the speaker to continue, repeat, elaborate, hurry up, become more interesting, less salacious, give the other a chance to talk, etc.“⁹⁸ Ihnen lässt sich ein weiter abgestufter Semioti­ sierungsgrad attestieren, denn Regulatoren werden laut Ekman und Friesen weniger intentional gebraucht als Embleme und Illustratoren und wirken meist eher unbewusst auf der Empfängerebene.⁹⁹ Am unteren Ende der Skala schließ­ lich lassen sich die letzten beiden Klassen von Gesten verorten, die Ekman und Friesen definieren: Affektäußerungen (affect displays) und Körpermanipulato­ ren¹⁰⁰ (adaptors). Affektäußerungen sind solche Körperbewegungen – vor allem im Bereich der Mimik –, die Gefühle zum Ausdruck bringen¹⁰¹, während Kör­ permanipulationen laut Ekman und Friesen auf im Kindesalter erlernte Bewe­ gungsmuster zurückgehen, die dazu dienen, gegenüber eigenen Bedürfnissen und Umweltanforderungen eine gewisse Resilienz zu entwickeln. Im Verhalten Erwachsener seien Fragmente dieser Körpermanipulatoren sichtbar, die nun ih­ re Funktionalität eingebüßt hätten, aber unter bestimmten Umständen (Trigger) unbewusst partiell weiter ausgeführt würden.¹⁰² Sowohl Affektäußerungen als auch Körpermanipulatoren lassen sich primär den natürlichen Zeichen zuord­ nen, die erst im Rahmen bestimmter Gegebenheiten als kommunikative Zeichen verwendet und interpretiert werden. Der Durchgang zeigt, dass autonome Gesten (Embleme) einen hohen Semiotisierungsgrad aufweisen, wohingegen redebeglei­ tende Gesten (Illustratoren, Regulatoren) auf mittlerer Ebene verortet sind und sowohl Gefühlsäußerungen als auch Körpermanipulatoren sich am unteren Ende der Skala befinden. Zuletzt sei im Bereich der Syntax ein Blick auf die interne Strukturierung der Modalitäten geworfen. Nach Stöckl ist die Sprache das „Zeichensystem par

nun für einzelne Wörter reserviert – größere Einheiten hervorheben (Phrasen, Satzglieder, Sätze und Satzfolgen), und rhythmische Gesten (rhythmics), die den Rhythmus bzw. das Tempo eines Geschehens abbilden (vgl. Ekman, Paul: Three Classes of Nonverbal Behavior. In: Aspects of Non­ verbal Communication. Hrsg. von Walburga von Raffler-Engel, Lisse 1980, S. 89–102, S. 98). 98 Ekman/Friesen, Nonverbal Behavior, S. 82. 99 Vgl. ebd. 100 Die Übersetzung ist übernommen aus Nöth, Semiotik, S. 299. 101 Vgl. Ekman/Friesen, Nonverbal Behavior, S. 71. 102 Vgl. hier S. 84 f. Nöth nennt beispielhaft für die Manipulation des eigenen Körpers oder von Objekten Kopfkratzen, das Lecken der eigenen Lippen und nervöses Spielen mit einem Bleistift (vgl. Nöth, Semiotik, S. 299).

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excellence, weil sie eine große Menge distinkter Einzelzeichen hat (Lexik), die vielfältige und systematische Sinnbezüge (Paradigmatik) zueinander herstellen und nach syntaktischen Regeln (Grammatik) zu größeren Aussageeinheiten ver­ knüpft werden (Syntagmatik).“¹⁰³ Es handelt sich um eine maximal komplexe interne Struktur, die einem linearen Kombinationsprinzip folgt und über eine ‚doppelte Artikulation‘ bzw. zweifache Gliederung verfügt.¹⁰⁴ Laut Stöckl be­ sitzt die Modalität ‚Musik‘ eine vergleichbar ausgeprägte, lineare Syntax, die sich auf syntagmatischer und paradigmatischer Ebene beschreiben lässt und in Rhythmus, Tempo etc. eine Form der Flexion aufweist. Anders als Sprache und Musik verfügt der mode ‚Bild‘ über keine lineare Verknüpfung, sondern der Sinn wird über die „simultan verlaufende Integration visueller Gestalten zu grö­ ßeren flächig-räumlichen Konfigurationen“¹⁰⁵ generiert.¹⁰⁶ Geräusche besitzen ein sehr geringes syntaktisches Potential, da sie Einzelereignisse darstellen, die sich lediglich auf paradigmatischer Ebene zu thematischen Gruppen ordnen las­ sen. Bezieht man die Gebärdensprache mit ein, zeichnen sich Gesten durch eine komplexe innere Strukturierung aus, die wie Lautsprachen über eine doppelte Artikulation verfügt und sich analog zu ihnen beschreiben lässt.¹⁰⁷ Da in den religiösen Schauspielen Gebärdensprache jedoch nicht zur Anwendung kommt, sei sie hier und im Folgenden ausgeklammert. Gesten verfügen aber auch ohne Berücksichtigung der Gebärdensprache über eine innere Strukturierung, die ihre Komplexität aus der Verbindung zeitlich-linearer und räumlich-simultaner Ver­ knüpfungsprinzipien gewinnt, denn „[g]esture is realized as a sequence in time of the movements of arms, hands, head and facial features, as well as of their

103 Stöckl, Multimodalität, S. 11 (Kap. 2, Anm. 79). 104 Der Begriff der double articulation wurde von André Martinet eingeführt und bezeichnet zwei Gliederungsebenen, die natürlichen Sprachen eigen sind: auf der ersten Ebene setzt sich eine Aussage aus bedeutungstragenden Einheiten bzw. Morphemen (Martinet: monèmes) zu­ sammen, auf der zweiten Ebene können diese in bedeutungsunterscheidende Einheiten (Phone­ me bzw. phonèmes) untergliedert werden (vgl. Martinet, André: La linguistique synchronique. Études et recherches, 3., überarb. Aufl., Paris 1970, S. 10–15). 105 Stöckl, Multimodalität, S. 11 (Kap. 2, Anm. 79). 106 Klug hält fest, dass Bilder zwar über eine interne syntaktische Gliederung verfügen, diese sich aber grundlegend von der Syntax des Sprachsystems unterscheidet, denn das Zeichensystem des Bildes lasse sich „weder durch ein klar festlegbares, endliches Inventar von Minimalzeichen bestimmen noch durch einen festen Katalog von Regeln zu deren Verknüpfung“ (Klug, NinaMaria: Bilder als Texte. Methoden einer semiotischen Erweiterung angewandter Diskursanalyse. In: Angewandte Diskurslinguistik. Felder, Probleme, Perspektiven. Hrsg. von Kersten S. Roth/ Carmen Spiegel, Berlin 2013, S. 163–187, hier S. 165). 107 Dies verdeutlichen etwa jüngere linguistischen Arbeiten zu syntaktischen Aspekten ver­ schiedener Gebärdensprachen. Vgl. z. B. Mantovan, Lara: Nominal Modification in Italian Sign Language. Berlin, Boston 2017 (Sign Languages and Deaf Communities 8).

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simultaneous display against the stable spacial frame of the upper part of the torso.“¹⁰⁸ Zwar weisen Gesten keine doppelte Artikulation auf, doch hat die jün­ gere Gestenforschung insbesondere für redebegleitende Gesten gezeigt, dass sie typisierbar sind und Organisationsprinzipien für das Zusammenspiel mehrerer Gesten und ihre Koordination mit verbalsprachlichen Äußerungen beschrieben werden können.¹⁰⁹ In semantischer Perspektive befragt Stöckl die Zeichenmodalitäten im Hin­ blick auf ihre Wirkungsweise, den Stellenwert ihrer materiell-medialen Eigen­ schaften bei der Bedeutungskonstitution, ihren Objektbezug und ihr Ausdrucks­ potential. Laut Stöckl lässt sich für jede Zeichenmodalität ein grundsätzlicher Wir­ kungsmechanismus, also eine dominante Art der Bedeutungskonstitution, fest­ stellen.¹¹⁰ Im Anschluss an Peirce unterscheidet er zwischen emotionalen, ener­ getischen und logischen Bedeutungen.¹¹¹ Emotionale Bedeutungen rufen Gefühle hervor, energetische Bedeutungen bewirken (körperliche oder geistige) Handlun­ gen und logische Bedeutungen betreffen den eigentlichen Decodierungsprozess bei der Zeicheninterpretation sowie die Verarbeitung der erhaltenen Information. Stöckl zufolge generiert Musik überwiegend emotionale Bedeutungen, Sprache ist primär der logischen Bedeutungskonstitution zuzuordnen, Geräusche wirken vornehmlich energetisch und die Bedeutung von Bildern umfasst sowohl logi­ sche als auch energetische Komponenten. Im Bereich der Gesten generieren Re­ gulatoren dominant energetische Bedeutung. Affektäußerungen sowie Körperma­ nipulationen werden vor allem im Sinne emotionaler Bedeutungen interpretiert und Embleme vermitteln aufgrund ihres konventionalisierten lexikalischen Sinn­ gehalts primär logische Bedeutungen. Illustratoren können logische Bedeutun­ gen hervorrufen, wenn sie den Inhalt verbalsprachlicher Aussagen konkretisie­ ren, oder sie bedingen energetische Bedeutungen, wenn sie eine verstärkende, rezeptionsleitende Wirkung haben (Taktstock- und Unterstreichungsgesten). Die konkrete materiell-mediale Realisierung der Zeichen beeinflusst je nach Modalität die Bedeutungskonstitution in unterschiedlichem Maße, wie Stöckl zeigt. Während die phonetische oder graphische Manifestation für die Interpre­ tation sprachlicher Zeichen nebensächlich ist, spielt sie im Fall von Bildern, Mu­ sik und Geräuschen eine wichtige Rolle. Zum Verstehen von Sprache ist es nur entscheidend, die gesetzmäßige Verbindung von Form und Inhalt decodieren zu

108 Kress, What is mode?, S. 62. 109 Vgl. Fricke, Grammatik multimodal, insbesondere Kapitel 3 und 4. 110 Dies bedeutet nicht, dass jede Modalität auf eine Wirkungsweise beschränkt wäre, sondern beschreibt lediglich eine Tendenz. 111 Zur Peirce’schen Terminologie vgl. Nöth, Semiotik, S. 65.

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können. Die Bedeutung von Bildern, Musik und Geräuschen hängt dagegen auch wesentlich davon ab, „wie die Objekte visuell (z. B. Farbe) und auditiv (z. B. Instru­ mentierung) genau beschaffen sind.“¹¹² Mit Blick auf Gesten lässt sich festhalten, dass die konkrete Art der Realisierung auf ihre Deutung lediglich einen gradua­ len Einfluss hat.¹¹³ Entscheidend ist, dass der Empfänger die gestische Form mit einer konventionalisiert oder situativ gebildeten Bedeutung verknüpfen kann. Al­ lerdings können Geschwindigkeit und Intensität der Ausführung (z. B. eine hek­ tische Zeigegeste oder ein Lächeln, das mehr oder weniger Zähne zeigt) in die Be­ deutung mit eingehen. Den Objektbezug der Zeichenmodalitäten behandelt Stöckl anhand der von Peirce eingeführten Begriffe ‚Ikon‘, ‚Index‘ und ‚Symbol‘.¹¹⁴ Auch wenn Mischfor­ men vorkommen, lässt sich laut Stöckl für alle Zeichenmodalitäten eine domi­ nante Art der Bezugnahme von Zeichenträgern auf Objekte feststellen. Aufgrund ihrer Arbitrarität zählt Sprache auf systematischer Ebene zu den Symbolen; iko­ nische und indexikalische Sprachzeichen treten seltener auf (Lautmalerei und deiktische Ausdrücke). Weil bildliche Zeichen in einem Ähnlichkeitsverhältnis zu den Objekten stehen, die sie repräsentieren, sind Bilder typische Ikone. Sekundär können sie jedoch auch auf der Basis gesellschaftlicher Konventionen symboli­ sche Bedeutungen vermitteln.¹¹⁵ Musik und Geräusch besitzen laut Stöckl einen primär indexikalischen Charakter, denn „[i]hre Zeichen sind relativ unbestimmte Symptome für emotionale Befindlichkeiten und Stimmungen (Musik) oder Hin­ weise auf Objekte, Zustände und Handlungen (Geräusch), die durch Kontiguität oder Kausalität motiviert sind.“¹¹⁶ Gesten weisen das gesamte Spektrum ikoni­

112 Stöckl, Multimodalität, S. 13 (Kap. 2, Anm. 79). Stöckl bezeichnet deshalb Sprache als ein „Set von Legizeichen“ und ordnet Bilder, Musik und Geräusche, deren Singularität und Qualität bedeutungskonstituierend sind, den Klassen der Quali- und Sinzeichen zu. Zur ersten Zeichen­ trichotomie nach Peirce vgl. Nöth, Semiotik, S. 65. 113 So ist etwa die Farbe oder Größe eines gestikulierenden Arms für die gestisch vermittelte Bedeutung nicht entscheidend. 114 Im Ikon drückt sich eine auf Ähnlichkeit basierende Beziehung zwischen Zeichenträger und Objekt aus (z. B. ein Spielstraßen-Verkehrsschild). Ein Index verweist durch eine raum-zeitliche Kontiguitäts- oder Kausalrelation auf sein Objekt (z. B. Rauch auf Feuer). Im Symbol besteht die Verbindung zwischen Zeichenträger und Objekt in einem Gesetz oder einer Regularität (z. B. die konventionalisierte Assoziation des Wortes ‚Tisch‘ in seiner graphischen und phonetischen Reali­ sierung mit dem empirisch-materiellen Objekt). Für einen Überblick über die zweite Trichotomie nach Peirce vgl. Nöth, Semiotik, S. 66. 115 Zur Bildsymbolik vgl. auch Klug, Bilder als Texte, S. 168 (Kap. 2, Anm. 106). 116 Stöckl, Multimodalität, S. 14 (Kap. 2, Anm. 79). Stöckl weist jedoch auch darauf hin, dass Musik ikonisch sein kann, wenn sie Naturphänomene imitiert und Geräusche bisweilen als Sym­ bole aufgefasst werden, z. B. wenn Glockenklang den Tod ausdrückt.

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scher (z. B. Piktographe und Kinetographe), indexikalischer (z. B. Deiktika und Affektäußerungen) und symbolischer Zeichen (Embleme) auf.¹¹⁷ Unter dem Stichwort ‚Ausdruckspotential‘ fragt Stöckl danach, „welche Bedeutungen oder Aussagen sich gut, schwer oder gar nicht kommunizieren las­ sen.“¹¹⁸ Weil Zeichenbestand und Regelwerk der Modalität ‚Sprache‘ beinahe unbeschränkt Inhalte – auch anderer Zeichensysteme – ausdrücken können, ist Sprache semantisch besonders leistungsfähig. Einschränkend hält Stöckl fest, dass räumliche Dispositionen und komplexe Sinneswahrnehmungen sprachlich nur schwer zu fassen sind. Bilder sind auf die visuelle Ebene beschränkt und kön­ nen aufgrund einer kaum ausgeprägten Syntax nur sehr eingeschränkt logische Verknüpfungen (z. B. Negation oder Konditional), zeitliche Abfolgen oder deik­ tische Verweise ausdrücken.¹¹⁹ Bildzeichen eignet deshalb grundsätzlich eine größere Vagheit als Sprachzeichen. Auf der anderen Seite erzeugt die Detailfülle bildlicher Darstellungen einen Bedeutungsüberschuss nicht nur auf denotativer, sondern auch auf konnotativer Ebene, und begünstigt emotionale Wirkungen. Musik besitzt keine Semantik im eigentlichen Sinne, weil musikalische Zeichen nicht zur Denotation fähig sind. Einer musikalischen Einheit ist keine lexikali­ sche Bedeutung zuzuordnen, doch macht Musik als „expressive Zeichenmodalität [. . . ] Gefühlszustände und seelische Befindlichkeiten erlebbar.“¹²⁰ Auch Geräu­ sche weisen aufgrund ihres deiktischen Charakters und in Ermangelung einer inneren Strukturierung ein sehr eingeschränktes Ausdruckspotential auf. Ihre Bedeutung ist immer relational, weshalb sie stets im Zusammenspiel mit ande­ ren Zeichenmodalitäten interpretiert werden müssen. Ihr semantisches Potential erhöht sich Stöckl zufolge dann, „wenn Geräusche nicht nur indexikalischassoziativ (z. B. Ticken für Uhr), sondern übertragen-symbolisch (z. B. Ticken für Zeit, Schicksal) oder intertextuell-gattungsspezifisch (z. B. Action-Film-Atmo) verwendet werden.“¹²¹ Barbara Flückiger benennt in ihrer Monographie zu sound designs fünf komplexere Bedeutungsaspekte, die Geräusche und Musik im Film erfüllen können. Sie bezeichnet diese als Signale, Symbole, key sounds, Ste­

117 Zu ikonischen, indexikalischen und symbolischen Gesten vgl. auch Fricke, Grammatik mul­ timodal, S. 24–27. 118 Stöckl, Multimodalität, S. 14 (Kap. 2, Anm. 79). 119 An dieser Stelle sei angemerkt, dass die genannten Dimensionen in einem einzigen Bild schwer auszudrücken sind, aber Bildfolgen, die nach bestimmten kulturellen Konventionen rezi­ piert werden, ein erweitertes Ausdruckspotential besitzen. So werden Rezipientinnen und Rezi­ pienten, die ein rechtsläufiges Schriftsystem gewöhnt sind, auch Bildfolgen von links oben nach rechts unten ‚lesen‘ und können diese räumliche Anordnung z. B. auch temporal deuten: Was oben links steht, ist ‚früher‘ als das, was unten rechts zu sehen ist. 120 Stöckl, Multimodalität, S. 15 (Kap. 2, Anm. 79). 121 Ebd.

2.1 Theoretische Grundlagen

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reotype und Leitmotive. Signale sind am unteren Ende einer Komplexitätsskala verortet und erfüllen eine warnende oder hinweisende Funktion.¹²² Als Symbole definiert Flückiger solche akustischen Elemente, die für ein abstraktes Konzept stehen, dessen Verständnis einer interpretatorischen Anstrengung und kultu­ reller Vorkenntnisse bedarf.¹²³ Key sounds basieren, anders als Symbole, nicht auf Traditionen, die außerhalb des Mediums ihres Auftretens einer Gesellschaft eingeschrieben sind, sondern werden laut Flückiger innerhalb der Logik des Mediums mit symbolischer Bedeutung aufgeladen. Es handelt sich „demnach um Klangobjekte [. . . ], welche aufgrund ihrer deutlich wahrnehmbaren intratex­ tuellen Häufung, der strategischen Platzierung zumeist in der Exposition und weiteren Kernszenen sowie der Integration in die exponierte Grundthematik mit einer spezifischen Bedeutung beladen werden.“¹²⁴ Am oberen Ende der Komple­ xitätsskala befinden sich Stereotype und Leitmotive. Stereotype entstehen dann, wenn bestimmte akustische (in Verbindung mit optischen) Repräsentationsfor­ men in verschiedenen Filmen massenhaft wiederholt werden, wodurch sie von den Rezipierenden erlernt werden und sich verfestigen können.¹²⁵ Der Begriff des Leitmotivs schließlich wurde zwar ursprünglich für musikalische Sequenzen eingeführt, die Personen, Gegenstände, Situationen etc. charakterisieren soll­ ten, doch zeigt Flückiger, dass auch Geräusche in einem spezifischen visuellen Kontext leitmotivische Funktion übernehmen können.¹²⁶ Die fünf genannten Be­ deutungsaspekte lassen sich problemlos auf das religiöse Schauspiel übertragen, in dem Geräusche und Musik eine vergleichbar große Rolle wie im Film spie­ len und zu ähnlichen Zwecken eingesetzt werden, wie die folgenden Analysen zeigen werden. In Bezug auf Gesten lässt sich zunächst festhalten, dass sie größ­ tenteils wie Bilder auf die visuelle Ebene beschränkt sind.¹²⁷ Da ihre Ressourcen (d. h. die gestikulierenden Körper) jedoch begrenzter sind und zudem in ihrer Singularität und Qualität keinen nennenswerten Einfluss auf die Bedeutungs­ konstitution haben, verfügen Gesten nicht über den gleichen Detailreichtum wie Bilder. Durch ihre Dynamik erlauben sie jedoch ein erheblich weiteres Spektrum von Verknüpfungsarten, das etwa zeitliche Abfolgen und deiktische Verweise einschließt.

122 Vgl. Flückiger, Barbara: Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films, 5. Aufl., Marburg 2012 (Zürcher Filmstudien), S. 159. 123 Vgl. hier S. 164. 124 Hier S. 174. 125 Vgl. hier S. 177. 126 Vgl. hier S. 183–189. 127 Akustische Elemente, wie sie bei der Klatsch-Geste erzeugt werden, spielen aufgrund ihrer Seltenheit nur eine untergeordnete Rolle.

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Unter dem Punkt ‚Pragmatik‘ bespricht Stöckl, wie die Zeichenmodalitäten wahrgenommen und mental verarbeitet werden, welche kommunikative Funkti­ on sie erfüllen und für welche Kommunikationsaufgaben sie sich jeweils beson­ ders eigenen. Sprache ist aufgrund ihrer linearen Strukturierung und des Abstraktions­ grads ihrer Zeichen eine relativ zeitintensive Modalität. Demgegenüber kön­ nen die wahrnehmungsnahen Bildzeichen schneller perzipiert und prozessiert werden und sind leichter zu erinnern.¹²⁸ Musik erzeugt ein potenziertes Wahrneh­ mungserlebnis, weil sich in ihr lineare und ganzheitliche Dimensionen überla­ gern (z. B. Melodien und Akkorde). Sie wirkt zudem unterschwelliger und emotio­ naler¹²⁹ als Sprache, weshalb sie sich besonders zur Steuerung der Aufmerksam­ keit eignet. Geräusche werden vom Menschen, der sich gewöhnlich in komplexen Lautumgebungen bewegt, meist ausgeblendet, weshalb ein auffälliges sound de­ sign nötig ist, um sie ins Bewusstsein zu rufen. Laut Stöckl erschöpft sich das ‚Verstehen‘ eines Geräuschs dann im Erkennen seiner jeweiligen Verweisfunktion. Es ist jedoch anzumerken, dass Geräusche mit Musik die Eigenschaft teilen, un­ terschwellig emotional zu wirken und auch sie können somit über ihre deiktische Funktion hinaus einen erheblichen regulativen Einfluss auf die Rezeption multi­ modaler Artefakte nehmen.¹³⁰ Gestische Zeichen sind häufig wahrnehmungsnah (Ikone und Indices) und begünstigen folglich eine schnelle Wahrnehmung und

128 Moderne Studien, zum Beispiel im Feld der dual coding theory, zeigen, dass visuelle Objekte nicht nur an sich besser erinnert werden, sondern auch einen positiven Effekt auf das Memorie­ ren von sprachlich vermittelten Inhalten und das Erlernen bestimmter Kulturtechniken, wie etwa des Lesens, haben (vgl. z. B. Paivio, Allan: Dual Coding Theory And Education. In: Pathways to Literacy Achievement for High Poverty Children, The University of Michigan School of Educa­ tion, 29. September – 1. Oktober 2006, S. 1–19, hier S. 10 f.). Strategien des Memorierens, wie sie bereits in der Antike entwickelt und in Mittelalter und Früher Neuzeit rezipiert und weiterent­ wickelt wurden, verwenden ebenfalls Räume und Bilder als Anker der Erinnerung (vgl. Yates, Frances A.: The Art of Memory. London 1966, S. 22). 129 Empirische Studien haben gezeigt, dass Menschen Musik nicht nur Emotionen zuordnen, sondern diese während des Rezipierens auch selbst empfinden, was als emotional contagion be­ zeichnet wird (vgl. z. B. Lundqvist, Lars-Olov u. a.: Emotional Responses to Music. Experience, Expression, and Physiology. In: Psychology of Music 37/1 (2009), S. 61–90). 130 Vgl. dazu West, Tore: Music and Designed Sound. In: The Routledge Handbook of Multi­ modal Analysis. 2. Aufl. Hrsg. von Carey Jewitt, London, New York 2014, S. 410–418, hier S. 411: „Sound has an ability to bypass the linguistic system of awareness and stimulate emotions in ways that we are less verbally conscious of. This characterises sound as a system of signs per­ ceived without being filtered out at more conscious levels of our perception and cognition. [. . . ] Indeed, the fact that we are not to any higher degree verbally aware of this is a factor that explains why we seldom pay attention to the impact of sound in our lives; it is also something that is used to manipulate our actions in more or less deliberate ways.“

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mentale Verarbeitung. Der visuelle Charakter auch von symbolischen Gesten macht sie besonders einprägsam. Zur Beschreibung der kommunikativen Funktionen der einzelnen Modalitä­ ten zieht Stöckl sowohl die Halliday’schen ‚Metafunktionen‘ als auch Bühlers und Jakobsons ‚Sprachfunktionen‘ heran. Michael A. K. Halliday unterscheidet drei Grundfunktionen, die hier in der Zusammenfassung Stöckls wiedergege­ ben werden: „Weltausschnitte und konzeptuelle Logik repräsentieren (ideatio­ nal), soziale Bezüge zwischen den Kommunizierenden gestalten (interpersonal) und die Botschaft intern strukturieren (textual).“¹³¹ Sprache und Bild erfüllen die drei genannten Funktionen, was sich auch für Gesten festhalten lässt. Musik ist jedoch weitestgehend auf die textuelle Dimension begrenzt und Geräusche repräsentieren in ihrem Objektbezug vor allem Weltausschnitte, was sie auf die ideationelle Funktion einschränkt. Im Anschluss an Karl Bühler und Roman Jakobson ordnet Stöckl die Modalitäten im Hinblick auf die Kategorien der Darstellungs-, Ausdrucks- und Appellfunktion sowie der metakommunikativen und poetischen Funktion.¹³² Sowohl Bühlers als auch Jakobsons Modell geht von einem Dominanzprinzip aus, demzufolge jeder Botschaft mehrere Funktio­ nen zukommen können, häufig aber nur eine von ihnen dominiert. Auch die Zuordnung der Modalitäten wird von Stöckl in diesem Sinne vorgenommen. Die Funktion von Sprache und Bild liegt hauptsächlich im Bereich der Darstel­ lung, Musik ist primär der Ausdrucksfunktion zuzuordnen und Geräusche sind laut Stöckl, wenn sie eine kommunikative Funktion erfüllen, am ehesten als Appell zu deuten. Gesten eine dominante Funktion zuzusprechen, erweist sich als schwierig.¹³³ Embleme haben vor allem eine darstellende Funktion, Affektäu­ ßerungen und Körpermanipulatoren sind in erster Linie der Ausdrucks-Funktion zuzuordnen, Regulatoren lassen sich in den meisten Fällen als Appelle fassen und Illustratoren umfassen sowohl die Appell- als auch die Darstellungsfunkti­ on. So können Betonungs- und Unterstreichungsgesten als Appelle verstanden werden, da sie dem Empfänger der Nachricht anzeigen, welche Teile besonders wichtig sind und worauf er dementsprechend besonders achten soll. Auch Deikti­ ka sind hier zu verorten. Demgegenüber besitzen Ideographe, Piktographe sowie rhythmische und räumliche Gesten eine darstellende Funktion. Zur Metakom­ munikation ist Stöckl zufolge nur die Sprache fähig, da nur sie ihre eigene Strukturiertheit reflektieren kann. Winfried Nöth folgend kann allerdings auch

131 Stöckl, Multimodalität, S. 16 (Kap. 2, Anm. 79). 132 Zu Bühlers Organonmodell vgl. Nöth, Semiotik, S. 202 f. Zur metakommunikativen bzw. metalinguistischen und zur poetischen Funktion Jakobsons hier S. 106 und 453 f. 133 Müller spricht von einer Schichtung der Gestenfunktionen, die der der Sprache ähnlich seien (vgl. Müller, Redebegleitende Gesten, S. 90).

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für Bilder eine metakommunikative Funktion angenommen werden, da es durch­ aus Bilder gibt, die „Einsichten über die Möglichkeiten und die Grenzen visueller Repräsentation vermitteln.“¹³⁴ Die poetische Funktion sieht Stöckl vor allem in den Modalitäten Musik und Bild realisiert, da in diesen „der visuelle und audi­ tive Formenreichtum der Gestaltung [. . . ] eine tragende Rolle für die Sinnstiftung spielt.“¹³⁵ Zuletzt leitet Stöckl aus den beschriebenen syntaktischen und semanti­ schen Eigenschaften der Modalitäten ihre typischen Kommunikationsaufgaben her. Sprache eignet sich demnach bevorzugt dazu, Geschehnisse und Prozesse in zeitlicher Abfolge zu schildern, logische Zusammenhänge zu erklären und Argumentationen zu konstruieren. Bilder können demgegenüber besonders gut Objekte und ihre Lage im Raum vor Augen führen und auf der Basis von konnotati­ ven Elementen Gefühle evozieren. Außerdem lassen sie sich als Handlungsanlei­ tungen verwenden. Musik übernimmt typischerweise sozial-kommunikative und individualpsychologische Funktionen, die auf die Regulation von geteilten oder individuellen Befindlichkeiten abzielen. In multimodalen Texten kann sie zum Beispiel zur Charakterisierung bestimmter Personen oder Handlungen eingesetzt werden oder situationsspezifische Stimmungen erzeugen. Geräusche sind allein kaum textbildend, reichern multimodale Texte jedoch in vielfacher Weise an. So kann ihre Funktion beispielsweise darin bestehen, einen Realitätseindruck zu erzeugen oder zu verstärken, die Aufmerksamkeit zu lenken oder auch Stimmun­ gen zu erzeugen. Da Gesten in ihrer visuellen Manifestation besonders schnell perzipiert und mental verarbeitet werden, können sie verbalsprachliche Äuße­ rungen unterstützen und intensivieren oder auch Gefühlszustände besonders effektiv vermitteln. Eine kontrastierende Wirkung im Hinblick auf sprachlich ver­ mittelte Aussagen ist ebenfalls möglich, die etwa zu komischen Effekten führen kann. Insbesondere Embleme eignen sich aufgrund ihrer konventionalisierten und häufig lexikalisierten Bedeutung dazu, verbale Kommunikation zu erset­ zen, wenn Parameter wie Lärm oder räumliche Entfernung sie erschweren oder verhindern.¹³⁶

134 Nöth, Winfried: Verbal-visuelle Semiotik. In: Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Hrsg. von Nina-Maria Klug/Hartmut Stöckl, Berlin, Boston 2016 (Handbücher Sprachwissen 7), S. 190–216, hier S. 206. Als Beispiel führt Nöth Pere Borell del Casos Gemälde Flucht vor der Kritik an, das einen dem Bild entsteigenden Jungen zeigt (vgl. hier S. 207). 135 Vgl. Stöckl, Multimodalität, S. 17 (Kap. 2, Anm. 79). 136 Vgl. Ekman/Friesen, Nonverbal Behavior, S. 63 f. Sowohl Lärm als auch die Entfernung des Publikums von den unterschiedlichen Bühnenorten bedingen die Aufführungssituation der reli­ giösen Schauspiele, weshalb die Nutzung emblematischer Gesten unmittelbar einleuchtend er­ scheint.

2.1 Theoretische Grundlagen

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Zeichenmodalitäten Spra­ che, Bild, Musik, Geräusch und Geste das Charakteristikum der Zeichenhaftigkeit teilen und gemeinsam in multimodale Artefakte involviert sein können. Ihre un­ terschiedlichen internen Logiken, verschiedenen semantischen Reichweiten und je spezifischen kommunikativen Funktionen führen jedoch zu einem unterschied­ lichen Grad ihrer Beteiligung und funktionalen Integration. Im Aufführungstext werden die fünf genannten Zeichenmodalitäten im Sin­ ne multimodaler Artefakte realisiert. Der Analyse von Aufführungstexten ist ihre Wirkung deshalb zugänglich und kann nach der Art und Weise ihrer In­ tegration befragt werden. Diese umfasst grundsätzlich eine syntagmatische und eine paradigmatische Achse, die analytisch getrennt werden können, im Aufführungskontext jedoch immer beide präsent sind.¹³⁷ Die syntagmatische Achse beschreibt ein Kombinationsprinzip: Verschiedene Modalitäten werden simultan verwendet und erzeugen so einen Bedeutungszuwachs denotativer wie konnota­ tiver Natur. Zum Beispiel nimmt das Publikum verbalsprachliche Äußerungen, redebegleitende Gesten und die Kostümierung eines Darstellers auf der Bühne gleichzeitig wahr und erhält auf diese Weise deutlich mehr Informationen als den bloßen Inhalt der verbalen Aussage, die etwa Charaktereigenschaften und die gesellschaftliche Stellung der Figur betreffen. Auf der paradigmatischen Achse wiederum kommt ein Substitutionsprinzip zum Tragen: Ein spezifischer Inhalt kann durch verschiedene Zeichenmodalitäten und Ressourcen vermittelt werden. Demzufolge sind unterschiedliche modes und Ressourcen gegeneinander ersetz­ bar. Beispielsweise lässt sich die schriftsprachliche Aussage „Sei still!“ in eine verbalsprachliche transformieren oder aber durch die emblematische Geste des ausgestreckten Zeigefingers, der in vertikaler Ausrichtung auf die Lippen gelegt wird, substituieren. Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass der Dramentext selbst – und dies gilt auch für die schriftlich fixierten Teile des Inszenierungs­ textes – den multimodalen Charakter der Aufführung in Rechnung stellt. Dieses Verhältnis lässt sich als ein paradigmatisches beschreiben. Die fixierte Form des Dramen- und Inszenierungstextes enthält primär sprachliche Zeichen, die sowohl im Rahmen einer imaginierten als auch einer historischen Aufführung intramodal (z. B. graphisch zu verbal) oder intermodal (z. B. Sprache zu Gesten) substituiert werden müssen. Besonders deutlich ist die Substitutionsforderung in Regieanweisungen sichtbar. Wenn es beispielsweise in GrPs heißt Icy doivent suivir Jhesus tous les Juïfz cy denomméz. (nach V. 12537; „Hier sollen alle jetzt genannten Juden Jesus folgen.“), wird explizit die Bewegung mehrerer Figuren

137 Zur paradigmatischen und syntagmatischen Zeichenverwendung im Theater vgl. auch Ubersfeld, Lire le théâtre, S. 24 f.

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eingefordert, die gestisch (im Sinne proxemischer Zeichen) vorgestellt und insze­ niert werden muss.¹³⁸ Figurenreden implizieren keinen Wechsel der Modalität, doch wird die graphische durch eine verbale Realisierung ersetzt (intramodale Substitution). In anderen Fällen ist die Transformation in eine andere Modalität notwendig, zum Beispiel in Rollen- oder Kostümverzeichnissen. So erfordert die Beschreibung der Figur des Darius als in kuncklichem cleyd („in königlicher Klei­ dung“), wie sie im Rollenverzeichnis LuAs zu finden ist,¹³⁹ eine Übersetzung in Bildzeichen. Wenn Dramen- und Inszenierungstexte Bilder enthalten, sind sie selbst multi­ modale Artefakte, denn in der jeweiligen Handschrift (oder im jeweiligen Druck) wirken auf syntagmatischer Ebene Sprache und Bild zusammen. Das Korpus dieser Untersuchung umfasst fünf Spiele, deren Überlieferungsträger nicht nur Schrift, sondern auch Bilder aufweisen: GrPs¹⁴⁰, MaPs, JuBe, BeWg und KoWg. Das Verhältnis von sprachlichen und bildlichen Zeichen hat in den vergangenen Jahrzehnten – insbesondere im Zusammenhang mit den neuen digitalen Kommu­ nikationsformen – in der Forschung eine verstärkte Aufmerksamkeit erfahren und wird zum Beispiel in der noch relativ jungen Disziplin der Medienwissenschaft in­ tensiv beforscht.¹⁴¹ Allgemein kann festgehalten werden, dass sich jüngere Arbei­ ten gegen die Abwertung des Bildes als ein bloß illustratives, repetitives Element von primär sprachlich vermittelten Bedeutungen richten. Sie versuchen dage­

138 Regina Toepfer diskutiert in diesem Zusammenhang eine narrative Funktion von Regie­ anweisungen in Spielhandschriften, die auf eine lesende Rezeption ausgerichtet sind. Toepfer zufolge handelt es sich beim Überlieferungsträger des Donaueschinger Passionsspiels um eine solche Handschrift, in welcher die Regieanweisungen in Ermangelung des kohärenzstiftenden Prinzips der Simultanbühne, auf der alle Darstellerinnen und Darsteller sowie Orte stets sicht­ bar sind, ein Narrativ erzeugen, das eine kohärente Lesart der Figurenreden ermöglicht (vgl. Toepfer, Regina: Implizite Performativität. Zum medialen Status des Donaueschinger Passions­ spiels. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 131 (2009), S. 106–132, hier S. 113–119). Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Substitutionsprinzip ausgeschaltet wäre. Vielmehr hält auch Toepfer fest, dass das Donaueschinger Passionsspiel eine Aufführung evo­ ziert, die sich in den Köpfen der Lesenden abspielt. Ihre Begriffe der ‚impliziten Performativität‘ und der ‚imaginären Inszenierung‘ (vgl. hier S. 119 und 130) stehen dabei in Einklang mit dem, was hier unter ‚imaginierter Aufführung‘ gefasst wird. 139 Vgl. Reuschel, Die deutschen Weltgerichtsspiele, S. 323. 140 Da GrPs in mehreren Handschriften überliefert ist, sei hier darauf hingewiesen, dass es sich um die in der Bibliothèque nationale de France befindlichen Handschriften Ms. Français 815 und Ms. Français 816 sowie die Handschrift Ms. 6431 der Bibliothèque de l’Arsenal handelt. 141 Für einen Überblick und weiterführende Literatur zum Feld der digitalen Medien vgl. Meier, Stefan: Websites als multimodale digitale Texte. In: Handbuch Sprache im multimodalen Kon­ text. Hrsg. von Nina-Maria Klug/Hartmut Stöckl, Berlin, Boston 2016 (Handbücher Sprachwis­ sen 7), S. 410–436.

2.1 Theoretische Grundlagen

| 75

gen, das spezifische Ausdruckspotential von Bildern zu konzeptualisieren und Interaktionsformen zwischen Schrift und Bild auf der Makroebene näher zu be­ stimmen.¹⁴² Die mediävistische Schauspiel-Forschung interessiert sich bereits seit der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts für bebilderte Spielhandschrif­ ten; zunächst primär unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Rekonstruktion der zeitgenössischen Inszenierungspraktiken.¹⁴³ Zu Recht wurden in der späteren Forschung jedoch Bedenken hinsichtlich der Belastbarkeit bildlicher Darstellun­ gen als Zeugnisse historischer theatraler Praktiken geäußert, da Bilder auch im Zusammenhang mit ikonographischen Traditionen gesehen werden müssen und sie sich darüber hinaus untereinander stark unterscheiden.¹⁴⁴ So reicht das Spek­ trum auf makrostruktureller Ebene von Frontispizen und seitenfüllenden Bildern oder Bildsequenzen bis hin zu in Textspalten integrierten Miniaturen. Auch in­ haltlich lassen sich verschiedene Bildtypen festhalten, die auf unterschiedliche Funktionen verweisen. Bestimmte Bilder stellen durch eine Schlüsselszene eine Thematik vor Augen (z. B. verweist die Kreuzigungsszene auf die Passion Christi) und folgen dabei klar erkennbar ikonographischen Konventionen. Robert L. A. Clark und Pamela Sheingorn sprechen hier von memory images bzw. memory scenes.¹⁴⁵ Meist stehen diese nicht in einem engen Verhältnis zum sprachlich vermittelten Inhalt des sie umgebenden Textes¹⁴⁶, sondern resümieren ein Ge­ schehen in einer prägnanten Szene. Solche bildlichen Darstellungen lassen sich deshalb mit lesend-meditativen Rezeptionsformen in Verbindung bringen, wie sie

142 Vgl. insbesondere die bereits erwähnte Arbeit von Nina-Maria Klug zum konfessionellen Flugblatt und daran anschließende Aufsätze (Klug, Das konfessionelle Flugblatt; Klug, Bilder als Texte (Kap. 2, Anm. 106) und Klug, Nina-Maria: Multimodale Text- und Diskurssemantik. In: Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Hrsg. von Nina-Maria Klug/Hartmut Stöckl, Berlin, Boston 2016 (Handbücher Sprachwissen 7), S. 165–189). Zu den Anfängen der bildsemio­ tischen Forschung vgl. außerdem Nöth, Verbal-visuelle Semiotik, S. 190–193 (Kap. 2, Anm. 134). Die Arbeit Nikolas Potyschs konzeptualisiert Schrift-Bild-Verhältnisse mit einem besonderen Fo­ kus auf Bildwiederholungen und enthält eine ausführliche Aufarbeitung des Forschungsstands zum Text-Bild-Verhältnis (vgl. Potysch, Ambiguität). Spezifisch zu Text-Bild-Beziehungen aus mediävistischer Perspektive vgl. Thali, Johanna: Schauliteratur. Formen und Funktionen litera­ rischer Kommunikation in Text und Bild, Zürich 2019 (Medienwandel – Medienwechsel – Medi­ enwissen 20). 143 Zur frühen Forschungstradition und ihrer Kritik vgl. Clark, Robert L. A./Pamela Shein­ gorn: Performative Reading. The Illustrated Manuscripts of Arnoul Gréban’s Mystère de la Pas­ sion. In: European Medieval Drama 6 (2002), S. 129–154, hier S. 130 f. 144 Vgl. beispielsweise Erenstein, Robert L.: Theatre Iconography. An Introduction. In: Theatre Research International 22/3 (1997), S. 185–189, hier S. 185 f. 145 Vgl. Clark/Sheingorn, Performative Reading, S. 136 f. und 153. 146 In der Regel leitet diese Art von Bildern einen bestimmten Textabschnitt oder ein ganzes Werk ein.

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unter Punkt 2.1.2 beschrieben wurden. Den Lesenden wird durch ein bekanntes Bildmotiv das zentrale Thema anschaulich präsentiert, was die Einstimmung auf den sprachlich vermittelten Inhalt erleichtert. Andere Bilder stehen nur sehr lose oder gar nicht in Bezug zu ikonographischen Traditionen und weisen eine große Nähe zu dem sie umgebenden sprachlichen Text auf. Die differenzierten Beobach­ tungen, die Richard K. Emmerson sowie Robert L. A. Clark und Pamela Shein­ gorn in ihren Untersuchungen zu den Miniaturen in GrPs und JuBes vorgetragen haben¹⁴⁷, erlauben eine vorsichtige Typisierung der inhaltlichen Relationen zwi­ schen bildlichem und sprachlichem Text. Einige Miniaturen zeigen immer dann bestimmte Figuren, wenn diese erstmals sprechend in Erscheinung treten, wes­ halb Clark und Sheingorn sie als first speech miniatures bezeichnen.¹⁴⁸ Andere Miniaturen visualisieren konkrete Szenen, wie sie aus Regieanweisungen oder Fi­ gurenreden zu entnehmen sind. Mitunter präzisieren sie Aspekte, die sprachlich nicht ausgedrückt sind, zum Beispiel die Kostümierung der Darsteller und ggf. Darstellerinnen, den Ort der Handlung oder die Präsenz nicht sprechender Fi­ guren.¹⁴⁹ Ihnen kommt folglich eine Verknüpfungsfunktion (linking function) zu, wie Emmerson sie nennt¹⁵⁰, die darin besteht, Szenenzusammenhänge kenntlich zu machen. Diese sind auf der Simultanbühne selbstverständlich, doch kann sie der notwendig linear strukturierte sprachliche Text nicht wiedergeben. Die Minia­ turen fungieren hier laut Clark und Sheingorn als visuelle Regieanweisungen oder visual glosses.¹⁵¹ Die Heterogenität bildlicher Zeichen, wie sie in diesem kurzen Durchgang zum Ausdruck kommt, verdeutlicht, dass nicht vorausgesetzt werden kann, die Bilder der Spielhandschriften verwiesen grundsätzlich auf eine Aufführungsrealität. Tatsächlich gilt auch bezüglich der oben genannten Spiele des vorliegenden Korpus, dass für die Bebilderung keiner einzigen Handschrift ein sicherer Bezug zu einer historischen Aufführung nachweisbar ist. Die Miniaturen JuBes und die der Handschriften Ms. Fr. 815 und Ms. 6431 von GrPs werden für gewöhnlich auf­ grund ihrer geringen Nähe zu ikonographischen Traditionen und ihres engen Ver­ hältnisses zum sprachlichen Text als Visualisierungen gedeutet, die sich an ei­

147 Vgl. Emmerson, Richard K.: Visualizing Performance. The Miniatures of the Besançon MS 579 Jour du Jugement. In: Exemplaria 11/2 (1999), S. 245–284 und Clark/Sheingorn, Performa­ tive Reading. 148 Vgl. hier S. 137. 149 Vgl. Emmerson, Visualizing Performance, S. 259 und Clark/Sheingorn, Performative Reading, S. 143. 150 Vgl. Emmerson, Visualizing Performance, S. 258. 151 Vgl. Clark/Sheingorn, Performative Reading, S. 149.

2.1 Theoretische Grundlagen |

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ner (oder mehreren) historischen Aufführung orientieren.¹⁵² Die sehr plausible Argumentation stützt sich auf das eingehende Studium der Handschriften, be­ weisen lässt sich die These letztlich jedoch nicht. Die Bebilderungen aller übri­ gen Spielhandschriften (Ms. Fr. 1816 von GrPs sowie MaPs, BeWg und KoWg) wer­ den gemeinhin nicht in einem engen Zusammenhang mit einer konkreten, histo­ rischen Aufführung gesehen, da sie zu großen Teilen klar erkennbar etablierten Mustern und Motiven der christlichen Ikonographie folgen.¹⁵³ Der Befund, dass die Bilder nur in den seltensten Fällen als Nachbildungen einer historischen Aufführung aufgefasst werden können¹⁵⁴, deckt sich mit der Feststellung, dass ein historischer Aufführungstext nicht anhand des Dramentextes zu ermitteln ist.¹⁵⁵ Clark und Sheingorn haben jedoch das Konzept des performative reading stark gemacht, demzufolge auch die – individuelle oder kollektive – Lektüre Formen einer nachgestellten oder imaginierten Aufführung umfasst: „The written word does not remain inert on the page; rather, the act of reading transforms it into enacted text, and it is this process that we term performative reading.“¹⁵⁶ Allen

152 Vgl. Perrot/Nonot, Le Mystère du Jour du Jugement, S. 12; Perrot, Jean-Pierre : La mise en scène de l’apocalypse au Moyen Âge. Le Mystère du Jour du Jugement. Espace théâtral et espace intérieur. In : L’imaginaire des apocalypses. Hrsg. von Jean Burgos, Paris, Caen 2003 (Biblio­ thèque Circé 4), S. 113–142, hier S. 115; Emmerson, Visualizing Performance, S. 259 und Clark/ Sheingorn, Performative Reading, S. 129 f. 153 Zu MaPs vgl. Le Mystère de la Passion. Texte du manuscrit 697 de la bibliothèque d’Arras. Hrsg. von Jules-Marie Richard, Genève 1976, S. VI und Weigert, Laura: French Visual Culture and the Making of Medieval Theater. New York 2015, S. 80–103. Zu GrPs (Ms. Français 1816) vgl. Clark/Sheingorn, Performative Reading, S. 151. Zu BeWg vgl. Schulze 1991, S. 9–13 und zu KoWg vgl. Blosen/Lauridsen, Das Kopenhagener Weltgerichtsspiel, S. 30 und Blosen, Hans: llustrationerne i et københavnsk manuskript af det senmiddelalderlige tyske dommedagsspil. In: Convivium – årsskrift for humaniora kunst og forskning 1 (1976), S. 108–133. 154 Tatsächlich gibt es auch Bebilderungen, über die im Spieltext ausgesagt wird, dass sie eine konkrete Aufführung wiedergeben sollen. Dies ist zum Beispiel in der berühmten Bühnendarstel­ lung der in der Bibliothèque nationale de France befindlichen Handschrift Ms. Français 12536 des Mystère de la Passion de Valenciennes en 25 journées, das 1547 in Valenciennes aufgeführt wurde, der Fall. Oberhalb des Bildes steht dort geschrieben: Le teatre ou hourdement pourtraict comme il estoit quant fut iouee le mistere de la passion nostre Seigneur Iesucrist (fol. 1v–2r–2bisr; „das Theater oder das Gerüst, so dargestellt, wie es war, als das Mystère der Passion unseres Herrn Jesus Christus gespielt wurde“). Auf der Rückseite der Bühnendarstellung wird explizit das Aufführungsdatum genannt (vgl. fol. 2bisv). 155 An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Bebilderungen durchaus Rückschlüsse auf histo­ rische Elemente, wie etwa zeitgenössische Kleidungskonventionen oder Stile unterschiedlicher Werkstätten, erlaubt. So konnte z. B. Laura Weigert die Miniaturen in MaPs der Schule des Brüs­ seler Meisters von Sainte Gudule zuordnen (vgl. Weigert, French Visual Culture, S. 80 f.). 156 Clark/Sheingorn, Performative Reading, S. 136, vgl. auch insbesondere S. 132. Aufgegriffen wurde das Konzept des performative reading beispielsweise von Katlyn Griffith (vgl. Griffith,

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Bebilderungen kommt in diesem Rahmen trotz ihrer Heterogenität die Funktion zu, die Rezeption visuell zu formen.¹⁵⁷ Das Konzept des performative reading steht im Einklang mit dem, was hier als ‚imaginierte Aufführung‘ beschrieben wurde und erlaubt es, auch die Bildzeichen auf ihren paradigmatischen Bezug zu dieser Aufführungsdimension zu befragen. Anders als Sprachzeichen stehen sie nicht in einem arbiträren Verhältnis zu ihrem Objekt, sondern verweisen durch eine Ähnlichkeitsbeziehung auf dieses. Es handelt sich um besonders wahrnehmungs­ nahe Zeichen, die ein relativ geringes Maß an mentaler Verarbeitung erfordern, da Repräsentamen und Interpretant weitestgehend übereinstimmen. Mit anderen Worten: Der Betrachter sieht bereits das, was er sich vorstellen soll, und braucht die Information nicht (oder nur partiell) in einen anderen Code zu übersetzen, wie dies bei sprachlichen Zeichen der Fall ist.¹⁵⁸ Die Miniaturen der Spielhand­ schriften kommen folglich der stark visuell geprägten Modalität der Aufführung näher als sprachliche Zeichen und eigenen sich in besonderer Weise dazu, eine Aufführung zu imaginieren. Ausgehend vom multimodalen Charakter der Aufführung, die Sprache, Mu­ sik, Geräusche, Bilder und Gesten umfasst, interessiert sich die vorliegende Unter­ suchung für den paradigmatischen Bezug, in dem der Dramentext und die schrift­ lichen Teile des Inszenierungstextes zum (imaginierten) Aufführungstext stehen. Es wird angenommen, dass sprachliche wie bildliche Zeichen sowohl in der Lek­ türe als auch in der inszenatorischen Umsetzung einer Substitution bedürfen, weshalb ein mittelbarer Zugang zu den Modalitäten der Aufführung besteht. Die Analyse kann diese nicht oder nur sehr begrenzt in ihrer spezifischen Singula­ rität und Qualität erfassen bzw. auf die Frage nach dem Wie? ihrer Realisierung antworten.¹⁵⁹ Es ist ihr aber möglich, Aussagen über Ort und Frequenz ihres Auf­ tretens zu treffen und davon ausgehend ihre Funktionen in der Bedeutungskon­ stitution des theatralen Textes zu untersuchen. Dieser mittelbare Zugriff auf die Aufführungsdimension, wie sie Sprache und Bild vermitteln, wird hier als rekon­ struierte Multimodalität bezeichnet.

Katlyn: Performative Reading and Receiving a Performance of the Jour du Jugement in MS Besan­ çon 579. In: Comparative Drama 45/2 (2011), S. 99–126). 157 Vgl. Clark/Sheingorn, Performative Reading, S. 129 und 153. 158 Auch intermodale Substitutionen verlieren hier nicht ihren ikonischen Charakter. Wenn et­ wa eine Geste bildlich dargestellt wird und die mentale Verarbeitung eine Transformation in ges­ tische Zeichen fordert, teilen diese mit Bildern ihre Perzeption über den visuellen Kanal. Das Bild erfährt eine Dynamisierung, aber keine umfassende Übersetzung in einen anderen Code, wie dies im Fall der arbiträren Sprachzeichen nötig ist. 159 Bilder ermöglichen aufgrund ihres ikonischen Charakters einen besseren Zugriff auf die Sin­ gularität und Qualität ihrer Objekte als sprachliche Zeichen.

2.1 Theoretische Grundlagen

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2.1.4 Die Kommunikationsebenen im Schauspiel Die dramatische Form schafft eine komplexe Kommunikationssituation, die im Hinblick auf die Analyse einiger Erläuterungen bedarf. Grundlegend lässt sich die theatrale Kommunikation¹⁶⁰ analog zu anderen Kommunikationsformen als ein Übertragungs- oder Verständigungsprozess zwischen mindestens zwei Indivi­ duen beschreiben, der über gemeinsame Codes bzw. Zeichenstrukturen funktio­ niert.¹⁶¹ Die Kommunikation im Theater ist – wie auch in narrativen Texten – nicht auf eine Ebene beschränkt, sondern umfasst verschiedene Sender- und Empfän­ ger-Instanzen.¹⁶² Kommunikationsmodelle wurden in der literatur- und sprach­ wissenschaftlichen Forschung verstärkt im Hinblick auf Erzähltexte entwickelt. Weithin akzeptiert ist ein Mehrebenen-Modell¹⁶³, das im Rahmen eines transge­ nerischen Verständnisses von Narratologie vermehrt auch auf dramatische Texte angewandt wird. Zentral sind hier die Arbeiten Manfred Pfisters und jene Ansgar Nünnings in Kooperation mit Roy Sommer.¹⁶⁴ Da die Ansätze auf einer geteilten

160 Sowohl die lesende als auch die schauende Rezeption des Schauspiels kann auf der Sys­ temebene als ein identisches Kommunikationssystem beschrieben werden. Von Bedeutung ist allerdings, ob die Rezeption kollektiv oder individuell erfolgt, da nur im ersten Fall Wechselwir­ kungen zwischen Zuschauenden eintreten, die für die Wirkung des jeweiligen Spiels entschei­ dend sein können. Weil die vorliegende Untersuchung sich für das religiöse Schauspiel als einer Form des Massenmediums interessiert, ist in der Beschreibung in erster Linie an eine kollektive Rezeptionssituation gedacht. 161 Die Minimalbeschreibung von Kommunikation soll für den Rahmen dieser Arbeit genügen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Vielzahl an Theorien und Definitionen, die sich seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Kommunikationsbegriff beschäftigen, würde hier zu weit führen. Für einen kompakten Überblick über verschiedene Ansätze und wei­ terführende Literatur vgl. Fechner, Fabian u. a.: We are gambling with our survival. Bedrohungs­ kommunikation als Indikator für bedrohte Ordnungen. In: Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften. Hrsg. von Ewald Frie/Mischa Meier, Tübingen 2014 (Bedrohte Ordnungen 1), S. 141–173, hier S. 150 ff. 162 Um sprachliche Akrobatik zu vermeiden, werden die neutral gedachten kommunikations­ theoretischen Bezeichnungen wie ‚Sender‘ und ‚Empfänger‘ stets ungegendert und im Singular wiedergegeben. 163 Eine Darstellung der Grundzüge und Verweise auf grundlegende Literatur finden sich in Fie­ guth, Rolf: Zur Rezeptionslenkung bei narrativen und dramatischen Werken. In: Sprache im technischen Zeitalter 47 (1973), S. 186–201, hier S. 186 und 198. 164 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse, 11., erw. u. bibliogr. akt. Nachdruck der durchges. u. erg. Aufl. 1988, München 2001 (UTB 580), S. 20 ff.; Nünning, Ansgar: Grundzü­ ge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktionen der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots, Trier 1989 (Horizonte 2), S. 22–40 und Nün­ ning, Ansgar/Roy Sommer: Drama und Narratologie. Die Entwicklung erzähltheoretischer Mo­ delle und Kategorien für die Dramenanalyse. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, inter­

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Grundlage basieren, sich aber in einigen relevanten Details unterscheiden, sollen beide im Folgenden kurz skizziert werden. Ausgehend von Rolf Fieguths Diskussion der Kommunikationsmodelle für narrative und dramatische Texte¹⁶⁵ hat Pfister ein universalistisch ausgelegtes Modell für das Drama vorgelegt. Da er es aus dem Mehrebenen-Modell für nar­ rative Texte entwickelt, werden an dieser Stelle beide Visualisierungen Pfisters abgebildet.¹⁶⁶

S4

S4

S2

S/E1

S/E1

E2

E3

E4

Abb. 2: Kommunikationsmodell narrativer Texte nach Pfister, Das Drama

S4

S3

(S2)

S/E1

S/E1

(E2)

(E3)

E4

Abb. 3: Kommunikationsmodell dramatischer Texte nach Pfister, Das Drama

Pfister stellt die Kommunikationssituation in Erzähltexten als Verhältnis zwi­ schen verschiedenen Sender- und Empfängerinstanzen dar, die im Rahmen von einander übergeordneten semiotischen Niveaus erfolgt. Sie sind in der Visuali­ sierung als Rechtecke dargestellt. Die semiotischen Niveaus ordnet er wiederum drei unterschiedlichen Kommunikationssystemen zu. Das ‚äußere Kommunika­ tionssystem‘ umfasst zwei Niveaus (N3 und N4¹⁶⁷) und enthält die Kommunikati­ on zwischen empirischem Autor (S4) und empirischem Leser (E4) sowie zwischen dem im Text implizierten ‚idealen Autor‘¹⁶⁸ (S3) und dem ihm korrespondierenden

disziplinär. Hrsg. von Ansgar Nünning/Vera Nünning, Trier 2002 (WVT-Handbücher zum litera­ turwissenschaftlichen Studium 5), S. 105–128. Eine konzise Darstellung der Positionen Pfisters und Nünnings liefert zudem Weber, Episierung im Drama, S. 120–126. 165 Vgl. Fieguth, Rezeptionslenkung. 166 Die Visualisierungen werden zitiert nach Pfister, Das Drama, S. 20 f. 167 Pfister übernimmt die gängige Terminologie, wie sie auch Fieguth verwendet, und ver­ zichtet wie er auf ein weiteres Niveau N5 (inklusive S5 und E5), wie es in vorgängigen Arbeiten zum Teil eingeführt wurde (vgl. dazu Fieguth, Rezeptionslenkung, S. 186 und 197 f.). 168 Pfister greift hier das auf Wayne C. Booth zurückgehende Konzept des impliziten Autors bzw. implied author auf (vgl. Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1961), das ermög­

2.1 Theoretische Grundlagen

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‚idealen Rezipienten‘ (E3). Auf der Ebene eines ‚vermittelnden Kommunikations­ systems‘ (N2) befinden sich der fiktive Erzähler (S2) und der fiktive Hörer (E2). Im ‚inneren Kommunikationssystem‘ schließlich verortet er die miteinander kommu­ nizierenden fiktiven Figuren (S/E1). Das dramatische Kommunikationsmodell baut Pfister analog zu dem narra­ tiver Texte auf, doch entfällt das vermittelnde Kommunikationssystem. Zwar ver­ weist er auf Sonderfälle, die ihm zufolge eine episierende Funktion erfüllen – wie etwa der Chor in der antiken Tragödie oder allegorische Figuren in den Morali­ täten des Mittelalters –, doch erscheinen ihm diese als zu randständig, um für das Drama im Allgemeinen eine vermittelnde Kommunikationsebene zu propa­ gieren.¹⁶⁹ Die in der Visualisierung eingeklammerten S2 und E2 stehen für das gelegentliche Auftreten solcher Kommunikationsinstanzen im Drama. Auch Nünnings Modell ist in vier Bereiche untergliedert¹⁷⁰, denen er (mit Ausnahme von N3, s. u.) jeweils die Sender- und Empfängerinstanzen S/E1 bis S/E4 zuordnet. Anders als Pfister unterscheidet er jedoch nicht zwischen se­ miotischen Niveaus und Kommunikationssystemen, sondern überblendet beide Konzepte im Begriff des Kommunikationsniveaus. Analog zu Pfister bezieht sich N1 auf die Figurenkommunikation und stellt somit das textinterne Kommunikati­ onsniveau (Pfister: innere Kommunikationssystem) dar. Auch N4 als textexter­ nes Kommunikationsniveau entspricht Pfisters äußerem Kommunikationssys­ tem. Signifikante Unterschiede treten bezüglich N2 und N3 hervor. Im Gegensatz zu Pfister nimmt Nünning mit N2 sehr wohl ein vermittelndes Kommunikations­ niveau an. Er verweist auf Forschungsbefunde und führt auch eigene Beispiele ins Feld, die die gängige These widerlegen, im Drama gäbe es keine Erzählinstanz.¹⁷¹ Auf dieser Basis hält er an N2 als Niveau der erzählerischen Vermittlung auch für die Kommunikationssituation im Drama fest und wendet sich somit gegen das

licht, dem literarischen Werk eine zugrunde liegende Intentionalität zuzuschreiben, die im Kom­ munikationsmodell Sendereigenschaften übernehmen kann. Zur Geschichte und Rezeption des äußerst populären und mindestens ebenso umstrittenen Konzepts vgl. Kindt, Tom/Hans-Harald Müller: The Implied Author. Concept and Controversy, Berlin, New York 2006 (Narratologia 9), insbesondere zu seiner Funktion in der literarischen Kommunikation S. 155–158. 169 Vgl. Pfister, Das Drama, S. 21 f. 170 In seiner 1989 publizierten Arbeit differenziert er noch zwischen den textexternen Kommu­ nikationsniveaus N4 und N5, denen die Sender- und Empfängerinstanzen S4/E4 (empirischer Autor bzw. Leser in seiner jeweiligen Rolle als Literaturproduzent bzw. -rezipient) und S5/E5 (rea­ ler Autor bzw. Leser mit verschiedenen sozialen Rollen) entsprechen (vgl. Nünning, Grundzüge, S. 25 f.). Später verzichtet er jedoch auf eine Ebene N5 zugunsten eines einzigen externen Kom­ munikationsniveaus N4 (vgl. Nünning/Sommer, Drama und Narratologie, S. 110 [Kap. 2, Anm. 164]). 171 Vgl. hier S. 106 f. und 110 f.

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geläufige Unterscheidungskriterium zwischen narrativen und dramatischen Tex­ ten. Darüber hinaus steht er der Besetzung der Ebene N3 mit einem idealen oder impliziten Autor kritisch gegenüber, da es sich ihm zufolge um ein sachlich und terminologisch unklares Konstrukt handelt, das zu der Annahme verführt, über eine personalisierte Sprecherinstanz könne die Autorintention rekonstruiert wer­ den.¹⁷² Nünning definiert N3 dagegen als hypothetisches Konstrukt, das er im Ge­ gensatz zu Pfister nicht auf werkexterner Ebene verortet, sondern als Summe werkinterner strukturierender Elemente versteht: Das abstrakte Konstrukt N3 kann bestimmt werden als die Summe aller strukturellen Kon­ trast- und Korrespondenzbezüge, die sich durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi­ schen textuellen Elementen auf N1 und N2 ergeben. [. . . ] somit handelt es sich bei N3 um eine relationale und strukturelle Kategorie, die die Beziehungen zwischen den Elementen eines Textes, dessen Grundstruktur erfasst. Die Ebene N3 lässt sich also bestimmen als ein Phänomen, das durch seine Struktur, d. h. durch die formalen Beziehungen seiner Elemen­ te, determiniert ist.¹⁷³

Aus diesem Grund ist N3 in Nünnings Visualisierung als Kasten abgebildet, der selbst kein Kommunikationsniveau, sondern die Gesamtstruktur des Textes dar­ stellt, innerhalb derer die zu N1 und N2 gehörigen Sender- und Empfänger-Instan­ zen verortet sind.¹⁷⁴

S1

N1

E1

S2

N2

E2 N3

N4

S4

E4

Abb. 4: Kommunikationsmodell nach Nünning/Sommer, Drama und Narratologie

172 Zu Nünnings Kritik am Konzept des implied author vgl. Nünning, Grundzüge, S. 31–34. 173 Hier S. 34 f. 174 Die Abb. 4 wird zitiert nach Nünning/Sommer, Drama und Narratologie, S. 110 (Kap. 2, Anm. 164). In ihr wird stärker deutlich als in Pfisters Darstellung, dass die werkexterne Kommunika­ tion (S4 → E4 auf dem Kommunikationsniveau N4) immer vermittelt über die Gesamtstruktur des Werks erfolgt.

2.1 Theoretische Grundlagen |

83

Für die vorliegende Arbeit wird das Kommunikationsmodell in der Variante Nünnings übernommen, da es sich aufgrund der Integration eines vermittelnden Kommunikationsniveaus besser zur Beschreibung religiöser Schauspiele eignet. Ein Charakteristikum dieser Spiele ist nämlich ihre Rahmung durch die Rede ei­ ner Figur (Prolog und Epilog), die häufig nicht Teil der Handlung¹⁷⁵ ist, und sich zu Beginn und am Ende des Spiels an das Publikum wendet (im Fall mehrerer Spieltage leitet dieser Figurentyp i. d. R. jeden Spieltag ein und beschließt ihn). Die Aufgabe der als Präcursor, Prälocutor, Proclamator, Messagier, Prescheur etc. bezeichneten Figur besteht in der Beschreibung und Deutung des Spielinhalts so­ wie der Anleitung zur richtigen Rezeption und nimmt damit eine klar vermittelnde kommunikative Funktion ein. Auch ist es keine Seltenheit, dass sich Figuren, die gewöhnlich auf der Ebene N1 kommunizieren, direkt an das Publikum wenden (ad spectatores) und im Hinblick auf Inhalte der Handlung Appelle oder Reflexionen vortragen. Sie begeben sich damit temporär ebenfalls auf das Kommunikations­ niveau N2. Die Superposition verschiedener Kommunikationsniveaus terminologisch zu erfassen, ist für die angestrebte semiotische Analyse von entscheidender Bedeutung, denn ein und demselben sprachlichen oder nichtsprachlichen Zei­ chen kommt häufig auf verschiedenen Kommunikationsniveaus unterschiedliche denotative und konnotative Bedeutung zu. So kann beispielsweise die Abfolge sprachlicher Zeichen, die in einem Dialog zwischen zwei Figuren (S/E1) geäußert wird, einen Informationswert auf der Ebene der Handlung besitzen und zugleich auf anderer Ebene dem Publikum wichtige Informationen über die sprechenden Figuren übermitteln. Diese zweite Ebene wird über N3 erzeugt und stellt eine Interferenz zwischen innerem und äußerem Kommunikationsniveau (N1 und N4) dar. Die Unterscheidung ist insbesondere für die Schlagwortanalyse (vgl. Ab­ schnitt 2.2.2.1) essenziell und sei aus Gründen der Anschaulichkeit anhand eines

175 ‚Handlung‘ wird hier als summative Bezeichnung des Drameninhalts verwendet. Sie ist die gängige Übersetzung des aristotelischen Begriffs mythos für die Anordnung von Ereignissen, die den Inhalt des Dramas ausmachen (vgl. Aristoteles: Poetik. Übers. u. hrsg. von Manfred Fuhr­ mann, Stuttgart 1982, passim). Begriffe wie ‚Fabel‘ (fabula, lateinische Übersetzung von mythos), der in der französischen Klassik geprägt wurde, plot, wie er in der angelsächsischen Literatur­ theorie gängig ist und ‚Geschichte‘, den Pfister für das Drama eingeführt hat, werden weitge­ hend synonym verwendet (vgl. Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. 8., aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart 2016 (Sammlung Metzler 188), S. 4 f. und Pfister, Das Drama, S. 265–270). Pfister führt eine terminologische Differenzierung des Handlungsbegriffs ein und klassifiziert ihn als Subkategorie des mythos (vgl. hier S. 269 f.). Obwohl der sehr allgemein gefasste Hand­ lungsbegriff einige Ungenauigkeiten mit sich bringt, schafft Pfisters Differenzierung zusätzliche Probleme (vgl. dazu Asmuth, Dramenanalyse, S. 7), weshalb in dieser Arbeit an der etablierten Terminologie festgehalten wird.

84 | 2 Theoretisch-methodologische Grundlegung

kurzen Beispiels erläutert. In eschatologischen Spielen werden die Namen jü­ discher Urväter, insbesondere Moses (bzw. frz. Moïse), als Schlagwörter für das Konzept des ‚jüdischen Gesetzes‘ gebraucht (vgl. unter 3.1.2.1). Einerseits handelt es sich um positiv konnotierte Schlagwörter für die auf der Handlungs-Ebene (N1) untereinander kommunizierenden jüdischen Figuren, um auf ihre eigene Gemeinschaft zu referieren. Andererseits drückt sich in ihnen für das christliche Publikum die als negativ bewertete Devianz der Juden von der christlichen Ge­ meinschaft aus. Die negative Lesart ist in der Werkstruktur (N3) angelegt¹⁷⁶, muss jedoch von den Rezipierenden (E4 auf N4) unter Hinzuziehung ihres Weltwissens rekonstruiert werden. Während sich die positive Lesart auf N1 realisiert und auf der Handlungs-Ebene den Figuren zuzuordnen ist, gilt für die negative Lesart, dass sie nur im Bewusstsein des Publikums über N3 rekonstruiert werden kann. Ausgehend von dieser Unterscheidung soll im Folgenden die sich auf N1 reali­ sierende Bedeutung als ‚immanente Bedeutungsebene‘ bezeichnet werden, da sie zur Ebene der Handlung gehört. Demgegenüber meint ‚rekonstruierte Bedeu­ tungsebene‘ jene, die sich vermittelt über N3 im Bewusstsein der Rezipierenden (E4) einstellt.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse Wie in der Einleitung ausgeführt, verfolgt die vorliegende Arbeit einen semioti­ schen Ansatz, der sich an Gardts Skala punktueller bis flächiger Formen von Bedeutungskonstitution orientiert. Für das konkrete, textsemantische Vorgehen hat Gardt ein Analyseraster erstellt, das verschiedene Faktoren der Textbedeu­ tung und ihre methodische Erschließung auf unterschiedlichen analytischen Ebe­ nen versammelt.¹⁷⁷ Dieses „Textsemantische Analyseraster“, kurz TexSem, ist laut Gardt als eine Anleitung zum textsemantischen Arbeiten zu verstehen, deren

176 Die häufige Wiederholung der Namen durch jüdische Figuren zur positiven Selbstbezeich­ nung und Abgrenzung von christlichen Figuren ist als strukturierendes Element zu verstehen, das N3 zuzurechnen ist. Erst die frequente Nutzung und der Verwendungskontext machen die Namen zu Schlagwörtern. 177 Vgl. Gardt, Textanalyse, S. 48 f. (Kap. 1, Anm. 68) und Gardt, Andreas: Textsemantik. Me­ thoden der Bedeutungserschließung. In: Geschichte der Sprache und Sprache der Geschichte. Probleme und Perspektiven der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen. Oskar Reich­ mann zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Jochen A. Bär/Marcus Müller, Berlin 2012, S. 60–83, hier S. 64 ff.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse |

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Punkte nicht mechanisch abzuarbeiten sind. Vielmehr stellen sie einen Horizont von Konstituenten zur Verfügung, die für die Textbedeutung relevant sind, und auf die je nach Fragestellung zugegriffen werden kann.¹⁷⁸ Für die vorliegende Ar­ beit hat sich dieser ‚Werkzeugkasten‘ als überaus hilfreich erwiesen, weshalb im Folgenden kurz die Struktur des textsemantischen Analyserasters dargestellt und anschließend zentrale methodologische Ansätze, die zur Anwendung kommen, erläutert werden.

2.2.1 Das Textsemantische Analyseraster (TexSem) Das textsemantische Analyseraster umfasst drei Bereiche, die jeweils Faktoren der Textbedeutung auf unterschiedlichen Ebenen versammeln. Der erste Be­ reich, der „kommunikativ-pragmatische Rahmen“, enthält Schlüsselwörter zu produktions- und rezeptionsrelevanten Kategorien (z. B. Autor bzw. Autorin, Le­ serschaft, Kommunikationsform), anhand derer die kommunikativ-pragmatische Einbettung des Textes analysiert werden kann.¹⁷⁹ So wäre beispielsweise nach Alter, Beruf, sozialem und kulturellem Hintergrund sowie Diskursposition und -interesse des Autors bzw. der Autorin und der (antizipierten) Leserschaft zu fragen. Den zweiten Bereich bezeichnet Gardt als „textuelle Makrostruktur“. Er umfasst kontextuelle und formale Faktoren, zu denen Textsorten (gegliedert nach Lebensbereichen bzw. Wissensdomänen und Handlungsformen), das Text­ thema, die rhetorische Themenentfaltung (z. B. deskriptiv oder narrativ) und die Binnenstruktur des Textes zählen.¹⁸⁰ Der dritte und größte Bereich gilt der „textuellen Mikrostruktur“ und umfasst – ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – eine Vielzahl von formalen und inhaltlichen Faktoren, denen sich die Analyse je nach Fragestellung zuwenden kann (z. B. Lautung, Wortschatz, Argumentationsformen, Grammatik).¹⁸¹ Im Bereich der textuellen Makro- und Mikrostruktur ist die gesamte Skala von punktuellen bis flächigen Formen der Bedeutungskonstitution vertreten. Die Schlüsselwörter, die sich sowohl auf das

178 Vgl. Gardt, Textsemantik, S. 63 (Kap. 2, Anm. 177). 179 Vgl. Gardt, Textanalyse, S. 48 (Kap. 1, Anm. 68) und Gardt, Textsemantik, S. 64 (Kap. 2, Anm. 177). Für eine durch Bildzeichen auf der Makro- und Mikroebene erweiterte Darstellung des textsemantischen Analyserasters vgl. Klug, Bilder als Texte, S. 174 f. (Kap. 2, Anm. 106). 180 Vgl. Gardt, Textanalyse, S. 48 (Kap. 1, Anm. 68) und Gardt, Textsemantik, S. 64 (Kap. 2, Anm. 177). 181 Vgl. Gardt, Textanalyse, S. 49 f. (Kap. 1, Anm. 68) und Gardt, Textsemantik, S. 65 f. (Kap. 2, Anm. 177).

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textuelle (oder bildliche) Phänomen als auch auf den analytischen Zugriff be­ ziehen, reichen von der Kategorie ‚Schlagwort‘ über Metaphernfelder bis hin zu Topoi, um nur ein paar Beispiele herauszugreifen. Diese spezifischen Formen ste­ hen nicht isoliert nebeneinander, sondern wirken zusammen und ergeben so das Textganze. Gardt bezeichnet den Text als emergente Größe, deren Bedeutung im Rezeptionsprozess durch ein Wechselspiel zwischen der Erfassung einzelner Komponenten und dem kognitiven Entwurf einer Gesamtbedeutung (bottom up und top down) entsteht.¹⁸² Für das konkrete textanalytische Vorgehen bedeutet dies, dass punktuelle und flächige Formen von Bedeutungskonstitution zwar in analytischer Trennung gesondert behandelt werden können, im Textganzen je­ doch stets zusammenwirken. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit basieren auf einem induktiven Verfahren, das zunächst über die Erfassung punktueller und flächigerer Formen von Bedeutungskonstitution den Blick auf maximal flächige Formen öffnete, die wiederum neue Rückschlüsse auf die näher an der Textober­ fläche greifbaren Formen ermöglichten. Aus diesem Grund behandelt auch die Darstellung der Ergebnisse die jeweils relevanten Formen des Spektrums von Be­ deutungskonstitution gemeinsam. Einführend sollen die wichtigsten Kategorien, die aus dem textsemantischen Analyseraster angewandt wurden, der Übersicht­ lichkeit halber jedoch gesondert erläutert werden. Zudem sei darauf hingewiesen, dass die drei von Gardt definierten Bereiche zwar nicht den Aufbau der vorlie­ genden Untersuchung strukturieren, aber doch alle in ihren relevanten Aspekten berücksichtigt wurden. Aspekte des kommunikativ-pragmatischen Rahmens wer­ den in allgemeinerer Form in der Einleitung angesprochen und konkret für jedes einzelne Spiel im Anhang ausgeführt. Wichtige Faktoren der textuellen Makro­ struktur finden sich im vorliegenden Kapitel unter dem Punkt 2.1 ‚Theoretische Grundlagen‘. Die Kapitel 3 bis 5 stellen Analysen der textuellen Mikrostruktur dar.

2.2.2 Punktuelle bis flächigere Formen der Bedeutungskonstitution 2.2.2.1 Schlagwort, Schlagbild, Schlaggeste und Schlaglaut Schlagwörter sind auf der Ebene der Textoberfläche gut greifbare Elemente. Das linguistische Konzept des Schlagworts, welches in der deutschsprachigen For­ schung seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gebraucht wird und heute als etabliert gelten darf¹⁸³, stammt aus der Lexikographie und hat insbesondere im

182 Vgl. Gardt, Textanalyse, S. 33 (Kap. 1, Anm. 68). 183 Ganz anders im französischsprachigen Raum: Eine ausgeprägte Schlagwortforschung lässt sich nicht beobachten, was, wie Manfred Kaempfert vermutet, damit zusammenhängen könnte,

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 87

Bereich der politischen Semantik Karriere gemacht.¹⁸⁴ Obwohl die Definition nach wie vor Anlass für Kontroversen bietet, lässt sich ein Kern morphologischer, se­ mantischer und pragmatischer Merkmale ausmachen, den das Gros der Defini­ tions- und Beschreibungsversuche teilt. Allgemeine Übereinstimmung herrscht auch darin, eine frequente Verwendung als Erkennungsmerkmal für Schlagwörter zu bestimmen, obwohl die genaue Definition dessen, was als frequent gelten soll, nicht objektiv festgelegt wird (und wahrscheinlich nicht werden kann).¹⁸⁵ Mor­ phologisch handelt es sich um Formen, die durch Kürze und Prägnanz¹⁸⁶ ausge­ zeichnet sind. Schlagwörter sind Ein- oder Mehrwort-Lexeme, was sie von ande­ ren Formen sprachlicher Kürze unterscheidet (z. B. Sentenzen, die jedoch ganze Sätze oder Phraseme sind).¹⁸⁷ Auf semantischer Ebene lassen sich Schlagwörter

dass es kein begriffliches Äquivalent für den deutschen Terminus ‚Schlagwort‘ gibt. Mehr oder weniger etablierte Bezeichnungen wie devise, slogan oder mot d’ordre erfassen zwar auf seman­ tischer Ebene seinen Losungs-Charakter, nicht jedoch seine lexikalische Form, die im deutschen Begriff ‚Schlagwort‘ ausgedrückt ist (vgl. Kaempfert, Manfred. Die Schlagwörter. Noch einmal zur Wortgeschichte und zum lexikologischen Begriff. In: Muttersprache 100 (1990), S. 192–203, hier S. 196 f.). 184 Zur Begriffsgeschichte vgl. ebd. und Kaempfert, Manfred: Das Schlagwörterbuch. In: Wör­ terbücher. Dictionaries. Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. An In­ ternational Encyclopedia of Lexicography. Encyclopédie internationale de lexicographie. Hrsg. von Franz Josef Hausmann u. a., Bd. 2, Berlin, New York 1990, S. 1199–1206, hier S. 1203 f. 185 Vgl. Pörksen, Bernhard: Die Konstruktion von Feindbildern. Zum Sprachgebrauch in neo­ nazistischen Medien, Wiesbaden 2000, S. 108. Auch in der vorliegenden Arbeit, die Spiele sehr unterschiedlichen Umfangs einbezieht, konnte kein objektiv-quantitatives Kriterium dafür eta­ bliert werden, welche Häufigkeit als frequenter Gebrauch gelten kann. Die Erfassung bleibt also auch hier auf den subjektiven Eindruck der Verfasserin angewiesen. Die gründliche Lektüre ei­ ner großen Anzahl von Spielen auch über das Korpus hinaus stellt dabei zumindest sicher, dass es sich um ein informiertes Urteil handelt, das auf einer profunden Kenntnis der behandelten Spieltypen basiert. 186 Für eine ausführliche Behandlung von Erscheinungformen und Gestaltungsmitteln literari­ scher Prägnanz insbesondere in mittelalterlichen Texttypen vgl. Nöcker, Rebekka: Aspekte lite­ rarischer Prägnanz von Sprichwort und Sentenz (mit Beispielen aus dem höfischen Roman). In: Prägnantes Erzählen. Hrsg. von Friedrich M. Dimpel/Silvan Wagner, Oldenburg 2019 (Brevitas 1 – BmE Sonderheft), S. 45–118. 187 Vgl. Hermanns, Fritz: Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter. Zur Begrifflichkeit und Theo­ rie der lexikalischen „politischen Semantik“, Heidelberg, Mannheim 1994 (Arbeiten aus dem Sonderforschungsbereich 245 Sprache und Situation 81), S. 11 f.; Kaempfert, Schlagwörterbuch, S. 1200 (Kap. 2, Anm. 184); Kaempfert, Schlagwörter, S. 199 f. und Dieckmann, Walther: Spra­ che in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache, 2. Aufl., Heidelberg 1975 (Sprachwissenschaftliche Studienbücher), S. 102. Seltener finden sich Beispie­ le für eine erweiterte Verwendung des Begriffs ‚Schlagwort‘, die ihm idiomatische Phrasen und ganze Sätzen zurechnen (vgl. z. B. Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 218).

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als besonders verdichtete Ausdrücke beschreiben, die in verkürzter, simplifizier­ ter Form ganze Programme aufrufen: Die Feststellung, daß Schlagwörter als Ausdruck von Partei- und Gruppenideologie fungie­ ren, bringt noch eine andere Leistung dieser Erscheinung der Ideologiesprache in den Blick: So wird immer wieder betont, daß sie als Mittel der Verkürzung, Simplifizierung und Ver­ dichtung von programmatischen Festlegungen fungieren. Schlagwörter bringen ein Ideal, einen Wunsch, ein Programm auf eine handliche Formel. Sie verkürzen einen Standpunkt auf einen Begriff, reduzieren komplexe Inhalte auf griffige Kürzel, heben einzelne Merkmale aus einem diffusen Ganzen heraus, fassen Zeiträume und Epochen zusammen.¹⁸⁸

Schlagwörter können folglich als maximal kondensierte Argumente verstanden werden, die keiner weiteren Erläuterung bedürfen und daraus ihre namensgeben­ de Schlagkraft generieren.¹⁸⁹ Ob ein Lexem zum Schlagwort wird, hängt allerdings von Situation und Kontext seiner Verwendung ab, womit wir uns auf die Ebene der Pragmatik begeben. Als Phänomen der parole, nicht der langue, „ist [ein Le­ xem, CP] nicht Schlagwort, sondern wird als Schlagwort gebraucht.“¹⁹⁰ In einem spezifischen Kontext kann es für eine bestimmte Rezipientengruppe ein klar um­ rissenes Themenfeld aufrufen und mit diesem eine positive oder negative Bedeu­ tung (Konnotation) und einen Appell verbinden.¹⁹¹ Fritz Hermanns nennt dies ‚deontische Bedeutung‘, „kraft derer Wort oder Wendung bedeutet oder mitbe­ deutet, daß wir, in bezug auf einen Gegenstand, etwas nicht dürfen, dürfen oder sollen.“¹⁹² Als prototypisches Beispiel führt er das Wort ‚Ungeziefer‘ an, in des­ sen Bedeutung bereits enthalten sei, dass es sich um negativ bewertete Lebens­ formen handle, die zu beseitigen seien.¹⁹³ Schlagwörter erhalten ihre deontische

188 Pörksen, Die Konstruktion von Feindbildern, S. 109. Vgl. außerdem Dieckmann, Sprache in der Politik, S. 103; Strauss, Gerhard/Ulrike Hass/Gisela Harras: Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch, Bd. 2, Berlin, New York 1989 (Schrif­ ten des Instituts für deutsche Sprache), S. 32 f.; Kaempfert, Schlagwörter, S. 194 und Hermanns, Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter, S. 11 f. 189 Zur argumentativen Funktion von Schlagwörtern vgl. auch Klein, Josef: Wortschatz, Wort­ kampf, Wortfelder in der Politik. In: Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkri­ tische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Hrsg. von Josef Klein, Opladen 1989, S. 3–50, hier S. 13 f. und Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 219. 190 Dieckmann, Sprache in der Politik, S. 102. 191 In seinem konkreten Gebrauch bedarf das Schlagwort dann keiner weiteren sprachlichen Kontextualisierung, weshalb es etwa auf Plakaten oder Spruchbändern verständlich bleibt. 192 Hermanns, Fritz: Deontische Tautologien. Ein linguistischer Beitrag zur Interpretation des Godesberger Programms (1959) der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In: Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwen­ dung. Hrsg. von Josef Klein, Opladen 1989, S. 69–149, hier S. 74. 193 Vgl. ebd.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 89

Bedeutung (und damit ihre vorübergehende Existenz als Schlagwort) erst in ei­ nem deontisch-appelativen Verwendungskontext. Hermanns führt am Beispiel des Lexems ‚Mitbestimmung‘ aus, dass diesem nicht anzusehen ist, daß es die Funktion gehabt hat, in der öffentlichen Diskussion gewerkschaftliche sogenann­ te Mitbestimmung (Sitz und Stimmrecht in den Aufsichtsräten großer Unternehmen) einzu­ fordern. Als aber ‚Mitbestimmung‘ Schlagwort war, da wußte man, daß damit eine Forde­ rung gemeint war. ‚Mitbestimmung‘ hatte damals die deontische Bedeutungskomponente: ‚etwas, das verwirklicht werden soll‘.¹⁹⁴

Aufgrund ihres deontischen Charakters sind Schlagwörter niemals wertneutral. Sie zeichnen sich durch ideologische Polysemie aus, da sie sowohl einen Stand­ punkt für als auch gegen etwas oder jemanden kommunizieren können.¹⁹⁵ Aus­ gehend von einer positiven und einer negativen Bewertungsrichtung wurden in der linguistischen Forschung verschiedene Vorschläge für eine terminologische Differenzierung des Schlagworts gemacht. Die größte Resonanz hat zweifellos die von Hermanns eingeführte Unterscheidung zwischen Fahnenwörtern und Stigma- bzw. Feindwörtern erfahren.¹⁹⁶ Als Fahnenwörter gelten solche Schlag­ wörter, die eine Gruppe als solche kenntlich machen und auf positiv-deontische Weise auszeichnen sollen. Demgegenüber sind Stigma- oder Feindwörter darauf

194 Hermanns, Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter, S. 12. 195 Zum Begriff der ideologischen Polysemie in Bezug auf Schlagwörter vgl. Dieckmann, Spra­ che in der Politik, S. 70–75; Hermanns, Fritz: Brisante Wörter. Zur lexikographischen Behand­ lung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in Wörterbüchern der deutschen Gegenwarts­ sprache. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie II. Hrsg. von Herbert E. Wiegand, Hildesheim, New York 1982 (Germanistische Linguistik 3–6/80), S. 87–108, hier S. 95 f. und Her­ manns, Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter, S. 13 f. 196 Erstmals als dichotome Terminologie entwickelt in Hermanns, Brisante Wörter, S. 91 f. (Kap. 2, Anm. 195); aufgenommen in Strauss/Hass/Harras, Brisante Wörter, S. 35 f. Den Be­ griff ‚Fahnenwort‘ übernimmt Hermanns von Otto Ladendorf (Ladendorf, Otto: Historisches Schlagwörterbuch. Ein Versuch, Straßburg, Berlin 1906, passim), der auch den Terminus ‚Kamp­ feswort‘ im Sinne eines negativen Schlagworts verwendet, beide Begriffe jedoch nicht konzep­ tuell entwickelt. Die von Dieckmann vorgenommene Unterscheidung zwischen ‚Leitwort‘ und ‚Reizwort‘ (vgl. Dieckmann, Sprache in der Politik, S. 102) hat sich terminologisch ebenso wenig durchgesetzt wie Kaempferts Differenzierung zwischen ‚affirmativen‘ und ‚polemischen‘ Schlag­ wörtern (vgl. Kaempfert, Schlagwörterbuch, S. 1200 [Kap. 2, Anm. 184]). Eine wichtige Ergän­ zung stammt von Bernhard Pörksen, der die Dichotomie von Fahnen- und Stigmawörtern durch die Kategorie ‚Profilwort‘ erweitert, da „in ideologischen Gruppen [. . . ] vielfach die im einzelnen Schlagwort kondensierte Selbstbeschreibung als Opfer vorkommt; Wörter dieser Art [. . . ] sind weder eindeutig positiv noch eindeutig negativ, sondern dienen dazu, das eigene Volk zu einem unschuldigen Objekt der Ausbeutung zu stilisieren.“ (Pörksen, Die Konstruktion von Feindbil­ dern, S. 112). Die Kategorie wurde in der Klassifikation dieser Arbeit aus dem einzigen Grund nicht hinzugezogen, dass das benannte Phänomen im behandelten Textkorpus nicht auftritt.

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ausgerichtet, eine gegnerische Gruppe negativ-deontisch zu charakterisieren. Hermanns entwickelt die Terminologie im Hinblick auf politische Parteien, doch lässt sie sich problemlos auf andere Gruppierungen übertragen, wie zum Bei­ spiel Nina-Maria Klugs Studie zum konfessionellen Flugblatt zeigt, in der sie die Begriffe auf die Analyse der Kommunikation gegnerischer Konfessionsgemein­ schaften anwendet.¹⁹⁷ In einem späteren Aufsatz äußert Hermanns sich kritisch über das dichoto­ me Konzept von Fahnen- und Stigmawort, da die Begriffe auf unterschiedlichen analytischen Ebenen lägen. Während ‚Stigmawort‘ im allgemeinen Gebrauch die weniger spezifische Bedeutung von ‚negatives Schlagwort‘ angenommen habe, mache ‚Fahnenwort‘ weiterhin eine bestimmte Gruppe positiv kenntlich.¹⁹⁸ In der vorliegenden Arbeit sind demgegenüber Stigmawörter ausdrücklich als negativdeontische Charakterisierungen einer gegnerischen Gruppe zu verstehen. Schlag­ wörter, die einen allgemeinen positiv- oder negativ-deontischen Appell ausdrü­ cken, sollen in Anlehnung an Rolf Bachem und Hermanns als Hochwertwör­ ter und Unwertwörter bezeichnet werden.¹⁹⁹ Im Gegensatz zu den Fahnen- und Stigmawörtern dient die positive oder negative Charakterisierung nicht der Pro­ filierung einer spezifischen Gruppe, sondern wird als gesamtgesellschaftlich zu begrüßendes oder abzulehnendes Konzept präsentiert. Die Abbildung 5 visuali­ siert die so etablierte Subklassifikation von positiven und negativen Lesarten der Schlagwörter.²⁰⁰

197 Vgl. Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 220 ff. 198 Vgl. Hermanns, Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter, S. 15 ff. und 19 f. 199 Vgl. Bachem, Analyse politischer Texte, S. 63 f. und Hermanns, Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter, S. 17 ff. Die Darstellungen Bachems und Hermanns’ unterscheiden sich aller­ dings in einigen Punkten von der hier vorgenommenen Klassifikation. Bachem verwendet den Begriff ‚Hochwertwort‘ im Sinne von ‚Fahnenwort‘ und Hermanns zählt Hochwertwörter und Unwertwörter nicht zu den Schlagwörtern, was er mit ihrem perennierenden Charakter begrün­ det. Weil sie häufig über längere Zeiträume konstant blieben, seien sie nicht zu den eigentlichen Schlagwörtern zu zählen, die nur kurzzeitig besondere Aktualität besäßen (vgl. hier S. 18 ff.). Die­ ses Charakteristikum ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass auch Hoch- und Unwertwörter die eingangs beschriebenen kennzeichnenden Merkmale von Schlagwörtern erfüllen, weshalb sie ihnen in der vorliegenden Arbeit zugerechnet werden. Ebenso verfahren Spitzmüller und Warnke (vgl. Spitzmüller, Jürgen/Ingo H. Warnke: Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theo­ rien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse, Berlin, Boston 2011, S. 143). 200 Die hier vorgenommene Klassifizierung erhebt nicht den Anspruch, alle möglichen Schlag­ wort-Kategorien zu erfassen, sondern beschränkt sich auf jene, die im Rahmen dieser Arbeit von Bedeutung sind. Eine ebenfalls an der Bewertungsrichtung orientierte, aber sehr viel wei­ ter untergliederte Kategorisierung von Schlagwörtern findet sich beispielsweise in Spitzmüller/ Warnke, Diskurslinguistik, S. 143.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 91

Schlagwort

positiv

negativ

allgemein:

gruppenspezifisch:

allgemein:

gruppenspezifisch:

Hochwertwort

Fahnenwort

Unwertwort

Stigmawort

Abb. 5: Klassifikation der Schlagworttypen nach der Bewertungsrichtung

Für das Medium Schauspiel, in dem neben der Sprache auch Musik, Ge­ räusche, Bilder und Gesten eine wichtige Rolle spielen, ist die Übertragung des Schlagwort-Konzepts (und der damit verbundenen Subkategorien) auf weite­ re Modalitäten sinnvoll. Nina-Maria Klug folgend, die den Begriff des Schlag­ bilds von Aby M. Warburg übernimmt und für die Flugblatt-Analyse fruchtbar macht²⁰¹, sollen auch in der vorliegenden Untersuchung punktuelle bildliche Zeichenformen analog zu den sprachlichen analysiert werden. Auch sie kön­ nen in einem deontisch-appellativen Kontext auf ganze Programme verweisen und eignen sich besonders für eine griffige und einprägsame Form der Bedeu­ tungskonstitution, da sie schnell perzipiert und mental prozessiert werden. Als Bildzeichen, die eine Schlagbildfunktion erfüllen können, gelten visuelle Aspekte von Kostüm, Dekoration, Darstellenden und Requisiten. Den direktesten Zugang zu Bildzeichen erhält die Analyse anhand von Miniaturen, doch können sie auch auf der Basis von sprachlichen Zeichen erschlossen werden (durch die Nennung oder Beschreibung in Figurenreden sowie Regieanweisungen). In Erweiterung der bereits bestehenden Kategorien werden die Begriffe Schlaggeste und Schlaglaut eingeführt. Gesten teilen mit Bildern die Eigenschaft, über den visuellen Sinneskanal rasch aufgenommen zu werden und besitzen auf­ grund ihrer inneren Strukturierung ein relativ großes semiotisches Potential. Vor dem Hintergrund, dass auf der Simultanbühne die Figurenreden nicht für alle Zuschauenden gleich gut hörbar gewesen sein dürften und zudem Handlungen parallel abliefen, ist anzunehmen, dass Gesten ein wichtiges Kommunikations­ mittel darstellten, welches die Sprache begleiten, aber auch ersetzen konnte. Mit Blick auf die ausgeprägte Tradition emblematischer Gesten im Mittelalter, die sich anhand ikonographischer Quellen nachvollziehen lässt, erscheint es umso wahr­

201 Vgl. Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 218.

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scheinlicher, dass auch im Schauspiel von ihnen Gebrauch gemacht wurde.²⁰² Als Schlaggesten können insbesondere Embleme im Sinne Ekmans und Frie­ sens fungieren, aber auch prägnante, wiederholt auftretende Bewegungsmuster lassen sich als Schlaggesten beschreiben, wenn sie programmatisch eingesetzt werden. Greifbar sind sie für die Analyse vermittels sprachlicher Zeichen (insbe­ sondere Regieanweisungen, aber auch Figurenreden) und Miniaturen.²⁰³ Die Kategorie ‚Schlaglaut‘²⁰⁴ umfasst die Modalitäten Musik und Geräusch. Obwohl diese sich, wie unter 2.1.4 besprochen, in vielen syntaktischen, semanti­ schen und auch pragmatischen Aspekten unterscheiden, teilen sie doch die ent­ scheidende Eigenschaft, über den auditiven Sinneskanal unterschwellig emotio­ nal zu wirken, weshalb sowohl Musik als auch Geräusch besonders effektiv Stim­ mungen erzeugen können. Sie eignen sich deshalb auch dazu, Figuren oder Orte auf der Bühne zu charakterisieren und mit einer Wertung zu versehen. Aufgrund dieser Gemeinsamkeit werden Musik und Geräusch im Hinblick auf eine spezifi­ sche, ‚schlagende‘ Funktion mit nur einem Begriff erfasst. Die Kategorie ‚Schlag­ laut‘ bezieht sich folglich auf prägnante akustische Einheiten oder Sequenzen (z. B. eine Fanfare, ein Refrain oder ein Knall), die deontische Bedeutungskom­ ponenten besitzen. Sie werden über Figurenreden und Regieanweisungen sowie ggf. weitere Nebentexte in den Spielhandschriften erschlossen. Trotz der terminologischen Differenzierung, die der Pluralität von Zeichen­ modalitäten im Theater Rechnung trägt, ist nicht zu vergessen, dass die unter­ schiedlichen Zeichenformen im Aufführungstext in der Regel simultan auftreten. Über die begriffliche Trennung zwischen Schlagwort, -bild, -geste und -laut kön­ nen die Modi der Bedeutungskonstitution separat erfasst werden, doch ist ein um­ fassenderes Verständnis ihrer Bedeutung nur dann möglich, wenn die Analyse auch ihr gemeinsames Auftreten berücksichtigt. So ist beispielsweise der oben ge­ nannte Refrain, wenn er gesungen (und nicht ausschließlich instrumental wieder­

202 Zum Stellenwert der Gesten in allen Lebensbereichen der Menschen des europäischen Mit­ telalters vgl. Schmitt, Jean-Claude: La raison des gestes dans l’Occident médiéval. Paris 1990. Für eine detaillierte Typologie des mittelalterlichen Gestenbestands, wie er in ikonographischen Quellen zu finden ist, vgl. zudem Garnier, François: Le langage de l’image au Moyen Âge. Si­ gnification et symbolique, Paris 1982 und Garnier, François : Le langage de l’image au Moyen Âge. Grammaire des gestes, Paris 1989. 203 In allen bebilderten Handschriften des Korpus finden sich viele Dialogbilder, die die dar­ gestellten Figuren anhand konventionalisierter Gesten als im Gespräch befindlich zeigen. Zum Dialogbild vgl. Bloch, Peter: Dialog. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Hrsg. von Engel­ bert Kirschbaum, Rom u. a. 1968, S. 506–507. 204 Der Begriff ‚Schlaglaut‘ wird hier gewählt, um die analoge Funktion zu Schlagwörtern etc. zu verdeutlichen. Das Konzept lässt sich jedoch mit den semantischen Aspekten von Geräuschen und Musik in Verbindung bringen, die Flückiger beschreibt (vgl. 2.1.3).

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 93

gegeben) wird, eine Kombination aus verbalsprachlichen und musikalisch-audi­ tiven Zeichen. Beide Modalitäten können gesondert auf ihre bedeutungsbildende Funktion hin befragt werden, um mehr über die Funktionalisierung verschiede­ ner Wahrnehmungskanäle im Theater zu erfahren. Erst in ihrer Kombination rea­ lisiert sich jedoch ein Bedeutungspotential, das in den isolierten Einzelphänome­ nen nicht zu finden ist.²⁰⁵ Die vorliegende Arbeit behandelt deshalb, wann immer es möglich und sinnvoll erscheint, auch das Zusammenspiel unterschiedlicher Zeichenmodalitäten. 2.2.2.2 Konzeptuelle Metaphern Jeder Darstellung, die einzelne Erträge aus dem weiten Feld der Metaphorologie für sich nutzbar machen möchte, muss notwendig eine captatio benevolentiae vorausgehen. Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen, in diesem Rahmen die überaus zahlreichen Monographien, Aufsätze und Lexikonartikel, die sich dem Phänomen der Metapher unter verschiedensten Gesichtspunkten widmen, er­ schöpfend erläutern zu wollen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich deshalb auf zentrale Punkte eines Bereichs, der für die Analyse persuasiver Stra­ tegien besonders aussichtsreich erscheint.²⁰⁶ Es scheint nicht übertrieben, von einem Siegeszug zu sprechen, den die Theo­ rie konzeptueller Metaphern bzw. conceptual metaphor theory (CMT) seit dem Er­ scheinen der einflussreichen Schrift Metaphors we live by von George Lakoff und Mark Johnson in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung angetreten hat. Lakoff und Johnson bestimmen das metaphorische Grundprinzip als „ex­ periencing one kind of thing in terms of another“²⁰⁷. Sie überführen damit die kon­ ventionelle Metapherndefinition – „Übertragung eines Wortes in eine uneigentl. Bedeutung“²⁰⁸ – von der semantischen auf die pragmatische Ebene. Davon ausge­ hend besagt ihre Theorie im Kern, dass die Art und Weise, wie wir Menschen un­ sere Welt verstehen und in dieser agieren, grundlegend metaphorisch strukturiert

205 Hier wird das auch auf multimodale Texte anwendbare Charakteristikum der Emergenz be­ sonders deutlich, demzufolge die Bedeutung von Texten grundsätzlich die Summe ihrer seman­ tischen Konstituenten übersteigt (vgl. Gardt, Textanalyse, S. 50 [Kap. 1, Anm. 68]). 206 Für einen Überblick, der Metapherntheorien aus verschiedenen Forschungskontexten ein­ führend vorstellt und das Feld einer historischen Metaphorologie auslotet, vgl. Friedrich, Udo: Historische Metaphorologie. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävis­ tik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann/Michael Egerding, Berlin, Boston 2015 (De Gruyter Reference), S. 169–212. 207 Lakoff, George/Mark Johnson: Metaphors We Live By. Chicago, London 1980, S. 5 (Hervor­ hebung im Original). 208 MLS 428.

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ist, da wir abstrakte und komplexe Sachverhalte und Tätigkeiten mithilfe konkre­ ter, materieller Phänomene konzeptualisieren. Ein besonders griffiges Beispiel, das die Autoren ganz zu Beginn einführen, ist die konzeptuelle Metapher Argu­ mentieren ist Krieg (argument is war), die sich in Formulierungen wie zum Beispiel ‚eine These verteidigen‘, oder ‚eine Position angreifen‘ niederschlägt. Lakoff und Johnson erklären anhand dieses Beispiels, dass Argumentieren und Krieg zwar ontologisch verschiedene Dinge sind, das abstrakte Konzept ‚Argumentieren‘ aber dennoch partiell als konkret-materielles Phänomen ‚Krieg‘ strukturiert, verstan­ den, ausgedrückt und auch ausgeführt wird, denn [t]he concept is metaphorically structured, and, consequently, the language is metaphori­ cally structured. Moreover, this is the ordinary way of having an argument and talking about one. [. . . ] Our conventional ways of talking about arguments presuppose a metaphor we are hardly ever conscious of. The metaphor is not merely in the words we use – it is in our very concept of argument. The language of argument is not poetic, fanciful, or rhetorical; it is literal. We talk about arguments that way because we conceive of them that way – and we act according to the way we conceive things.²⁰⁹

In der CMT hat sich die terminologische Unterscheidung von Zielbereich (target domain) für das (meist abstrakte) Konzept, das durch die Metapher modifiziert wird, und Quellbereich (source domain) für die Domäne, von der ausgehend die Modifikation vorgenommen wird, durchgesetzt. Im Fall von Argumentieren ist Krieg stellt folglich Argumentieren den Ziel- und Krieg den Quellbereich dar. Wichtige Spezifizierungen des metaphorischen Kopplungsprozesses zwi­ schen Ziel- und Quellbereich hat Charles Forceville beigetragen. Sein Ansatz basiert zu großen Teilen auf der Interaktions-Theorie Max Blacks, der Meta­ phern als das Ergebnis der Verknüpfung (matching process) bestimmter Aspekte (associated implications²¹⁰) eines primären und eines sekundären Subjekts (pri­ mary/secondary subject) versteht. So führt Forceville aus, in der von Black beispielhaft gebrauchten Metapher Der Mensch ist ein Wolf werde aus den mit dem sekundären Subjekt Wolf assoziierten Implikationen etwa jene der Grau­ samkeit selektiert und mit bestimmten Aspekten des primären Subjekts Mensch

209 Lakoff/Johnson, Metaphors, S. 5. 210 Forceville begegnet der verschiedentlich gegenüber Black geäußerten Kritik, es würden nicht nur isolierte Aspekte, sondern Relationen übertragen, mit der Antwort, dies sei letztlich Wortklauberei, da es sich um unterschiedliche Bezeichnungen des gleichen Prozesses handle: „One can either say that certain features [. . . ] of ‚wolf‘ are projected upon ‚man‘ or alternatively that the statement ‚[a wolf] is cruel‘ is made to fit, through the metaphorical connection, the concept ‚man‘ [. . . ].“ (Forceville, Charles: Pictorial Metaphor in Advertising, London, New York 1996, S. 9).

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 95

verbunden.²¹¹ Zusammenfassend hält er fest: „for a metaphor to be understood as a matching process between primary and secondary subject, a kind of mu­ tual adjustment or matching between properties of both subjects must be re­ alized.“²¹² Dabei sei ein entscheidender Aspekt, dass die mit dem sekundären Subjekt assoziierten Implikationen nicht nur sprachlicher Natur seien, sondern – kontextgebunden – zum Beispiel auch emotional sein könnten.²¹³ Forceville übernimmt darüber hinaus die Terminologie Lakoffs und Johnsons (Quell- und Zielbereich), zu der primary und secondary subject keine Synonyme darstellen. Sie können vielmehr als ‚Bedeutungskerne‘ verstanden werden, um die her­ um sich associated implications, die nicht notwendig sprachlich sind, anlagern. Jene semantischen und pragmatischen Implikationen bilden den jeweiligen Be­ reich eines Subjekts und können im metaphorischen Gebrauch als Quell- oder Zielbereich dienen. Damit sind zwei wichtige Präzisierungen der CMT angespro­ chen. Erstens weisen Ziel- und Quellbereich eine interne Struktur auf, aus der nur Teilelemente in den Kopplungsvorgang einbezogen werden. Zu deren termi­ nologischer Fixierung können Ergebnisse der Forschung zur Kollektivsymbolik herangezogen werden. Dort drückt sich die interne Komplexität im Begriff der Isotopie aus. Dieser besagt, dass jedes Symbol (bzw. jeder Ziel- und Quellbe­ reich) durch eine syntagmatische Expansion charakterisiert ist, also in mehrere Teilaspekte gegliedert werden kann, die stets mitgedacht werden müssen.²¹⁴ Die

211 Für die ausführliche Darstellung bei Forceville vgl. hier S. 7–11. Ob es sich bei dem mapping process der Bereiche um einen unidirektionalen oder bidirektionalen Vorgang handelt, ist nach wie vor ein Streitpunkt. Die blending theory, welche vor allem in der Spielart Gilles Fauconniers und Mark Turners bekannt geworden ist, betont die Bidirektionalität, wird aber im Hinblick auf ihre Nähe zu CMT und der Interaktions-Theorie unterschiedlich ausgelegt (vgl. z. B. Spiess, Constanze: Metapher als multimodales kognitives Funktionsprinzip. In: Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Hrsg. von Nina-Maria Klug/Hartmut Stöckl, Berlin, Boston 2016 (Hand­ bücher Sprachwissen 7), S. 75–98, hier S. 82 f. und Forceville, Charles: Non-verbal and Multi­ modal Metaphor in a Cognitivist Framework. Agendas for Research. In: Multimodal Metaphor. Hrsg. von Charles Forceville/Eduardo Urios-Aparisi, Berlin, New York 2009 (Applications of Cognitive Linguistics 11), S. 19–42, hier S. 20). 212 Forceville, Pictorial Metaphor, S. 11. Als einen wichtigen Aspekt betont Forceville, dass nicht alle assoziierten Implikationen zwischen dem sekundären und dem primären Subjekt kom­ patibel sind. So sei z. B. der Aspekt Vierbeinigkeit nicht vom Wolf auf den Menschen übertragbar (vgl. hier S. 10 f.). Außerdem hebt Forceville nachdrücklich hervor, dass primäres und sekun­ däres Subjekt nicht austauschbar sind, was er anhand der Metaphern Chirurgen sind Metzger und Metzger sind Chirurgen, die eine gänzlich andere Bedeutung haben, demonstriert (vgl. hier S. 12). 213 Vgl. hier S. 15. 214 Jürgen Link und Ursula Link-Heer führen hier am Beispiel des Kollektivsymbols ‚Eisenbahn‘ aus, dass dessen rudimentärer isotopischer Komplex mindestens eine Lokomotive, einen Dampf­ motor, Waggons und Schienen umfasse (vgl. Link, Jürgen/Ursula Link-Heer: Kollektivsymbolik

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Zugehörigkeit einzelner Metaphern (wie ‚eine These verteidigen‘) zu einer kon­ zeptuellen Metapher (Argumentieren ist Krieg) lässt sich so darauf zurückführen, dass ‚verteidigen‘ Teil der Isotopie des Quellbereichs Krieg ist, anhand derer die Metapher auf syntagmatischer Ebene weitergesponnen werden kann. Zweitens stehen die Selektionsmechanismen in Abhängigkeit zum situativen und kulturellen Kontext, denn sowohl der Kulturkreis als auch die konkreten Äu­ ßerungsbedingungen (z. B. Medium und Gattung) bestimmen, welche Implika­ tionen existieren und welche bei der Metaphernbildung ausgewählt werden.²¹⁵ Obwohl auch Lakoff und Johnson die kulturelle Verankerung von konzeptuel­ len Metaphern erwähnen²¹⁶, spielt sie in ihren Überlegungen nur eine unterge­ ordnete Rolle. Andere verwandte Ansätze, wie die auf Harald Weinrich zurück­ gehende Bildfeldforschung, die viele strukturelle Parallelen aufweist, aber den Konzept-Status von Metaphern weniger betont als die CMT, heben dagegen be­ sonders hervor, dass Metaphern „eine überindividuelle Bildwelt“ sind, die es „als objektiven, materialen Metaphernbesitz einer Gemeinschaft“ gibt.²¹⁷ Weinrich propagiert eine „Harmonie der Bildfelder zwischen den einzelnen abendländi­ schen Sprachen“, die „eine Bildgemeinschaft“ seien.²¹⁸ Innerhalb dieser sei ein

und Orientierungswissen. Das Beispiel des ‚Technisch-medizinischen Vehikel-Körpers‘. In: Der Deutschunterricht IV (1994), S. 44–55, hier S. 45). 215 Forceville unterscheidet in seiner Monographie zu bildlichen Metaphern in der Plakatwer­ bung zwischen dem textinternen und dem textexternen Kontext. Ersterer umfasst sprachliche und bildliche Ebenen, die innerhalb eines Mediums und/oder einer Gattung die Rezeption steu­ ern; letzterer körperliche, kulturelle und anthropologische Wissensbestände, die ‚von außen‘ auf die Deutung einer Äußerung einwirken (vgl. Forceville, Pictorial Metaphor, S. 74–82). Auch in späteren Arbeiten hebt Forceville den Einfluss insbesondere der Gattung hervor (vgl. Forcevil­ le, Charles: Pictorial and Multimodal Metaphor. In: Handbuch Sprache im multimodalen Kon­ text. Hrsg. von Nina-Maria Klug/Hartmut Stöckl, Berlin, Boston 2016 (Handbücher Sprachwis­ sen 7), S. 241–260, hier S. 252 f.). 216 Vgl. zu diesem Punk beispielhaft Lakoffs und Johnsons Ausführungen zu verschiedenen Zeit-Metaphern (Lakoff/Johnson, Metaphors, S. 8 f., Hervorhebungen im Original): „Time is mo­ ney, time is a limited resource, and time is a valuable commodity are all metaphorical con­ ceptS. They are metaphorical since we are using our everyday experiences with money, limited resources, and valuable commodities to conceptualize time. This isn’t a necessary way for hu­ man beings to conceptualize time; it is tied to our culture. There are cultures where time is none of these things.“ 217 Weinrich, Harald: Sprache in Texten. Stuttgart 1976, S. 277. Weinrichs Begriff des Bildfelds entspricht auf struktureller Ebene in etwa dem der konzeptuellen Metapher. Innerhalb eines Bild­ felds nehmen in Weinrichs Terminologie konkrete Metaphern die Position von ‚Bildstellen‘ ein (vgl. hier S. 283). Auch hier liegt ungefähr das gleiche Verhältnis vor wie zwischen konzeptuel­ len Metaphern und einzelnen, ihnen zugehörigen metaphorischen Ausdrücken bei Lakoff und Johnson. 218 Hier S. 287.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 97

Bildfeld nicht nur „als objektives, soziales Gebilde im Gesamt der Sprache vor­ handen“, sondern es werde auch „im einzelnen metaphorischen Sprechakt sub­ jektiv vergegenwärtigt [. . . ], indem es vom Sprechenden mitgemeint, vom Hören­ den mitverstanden“²¹⁹ werde. Aus diesem Grund sei unser Weltbild entscheidend von unseren Bildfeldern bestimmt und übe einen „Denkzwang“ auf uns aus, der von der „Logik des [jeweiligen, CP] Bildfeldes“ ausgehe.²²⁰ Auf der Basis des hier umrissenen Metaphernverständnisses als ein Phäno­ men der Kopplung zweier verschiedener Bereiche (Ziel- und Quellbereich), dem eine mentale Strukturierungsfunktion zukommt, die von kulturellen und situati­ ven Kontextbedingungen abhängig ist, kann eine Differenzierung der Metapher auf drei Ebenen vorgenommen werden. Auf der Ebene der größten Konkretion, mithin der token-Ebene an der Textoberfläche, lassen sich Einzelmetaphern aus­ machen. Diese folgen der Logik einer konzeptuellen Metapher, die auf der typeEbene zu verorten ist. Auf höchstem Abstraktionsniveau ist es wiederum möglich, mehrere konzeptuelle Metaphern zu identifizieren, die einer gemeinsamen Logik folgen und somit ein gemeinsames System bilden, das hier als Metaphernsystem bezeichnet werden soll.²²¹ Constanze Spiess illustriert diese Differenzierung sehr eingängig anhand des Metaphernsystems Entscheidungen sind Wege, dem sie die konzeptuellen Metaphern (types) Wege sind Hindernisse, Wege sind Königswege und Wege sind Umwege zuordnet. Auf der token-Ebene nennt sie jeweils eine Ein­ zelmetapher aus deutschen Zeitungen, die konkrete Realisierungen der konzep­ tuellen Metaphern darstellen.²²² Die Einsicht, dass figurative Darstellungsverfahren das menschliche Den­ ken – und in der Folge auch das Sprechen und Handeln – fundamental struk­ turieren und nicht nur sprachlicher ornatus sind, ist für die vorliegende Arbeit von großem Interesse. Da die konkreten konzeptuellen Metaphern keine anthro­ pologischen Grundkonstanten, sondern kulturell verankert sind, ermöglicht ihre Analyse zum einen Rückschlüsse auf zeitgenössische Denk- und Handlungs­

219 Hier S. 288. 220 Hier S. 289. 221 Analog ließe sich mit den Termini der Bildfeldforschung von Bildstelle, Bildfeld und Bild­ feldsystem sprechen, wie es Jochen Schlobach getan hat (vgl. Schlobach, Jochen: Zyklentheo­ rie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frank­ reich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung, München 1980 (Humanistische Bibliothek. Abhandlungen, Texte, Skripten 7), S. 332–340). Da die Bildfeldforschung einige Prämissen vor­ aussetzt, die in dieser Arbeit nicht geteilt werden, wird der stärker an der CMT orientierten Ter­ minologie der Vorzug gegeben. In leicht abweichender Begrifflichkeit entspricht sie der Differen­ zierung, die auch Constanze Spiess vornimmt (vgl. Spiess, Metapher, S. 93 [Kap. 2, Anm. 211]). 222 Vgl. ebd.

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modelle.²²³ Zum anderen kann die wahrnehmungs- und handlungskonstituie­ rende Macht der Metapher auf der Produktionsseite aktiv genutzt werden und lässt sich im Rahmen von Persuasionsstrategien untersuchen.²²⁴ Ausgehend von der Verbindung beider Perspektiven kann mithilfe der CMT folgende Fra­ ge adressiert werden: An welchen historisch-kulturellen Konzepten setzen die religiösen Spiele an und wie nutzen sie diese in der Gestaltung ihres jeweiligen Stoffs? Die bisherigen Ausführungen lassen die Identifizierung von Metaphern und ihre Einordnung auf erhöhtem Abstraktionsniveau zu. Obwohl alle Positionen, aus denen heraus das analytische Werkzeug entwickelt wurde, den Konzeptsta­ tus von Metaphern hervorheben, fällt auf, dass ihre konkreten Ausführungen auf sprachliche Zeichen fokussiert bleiben. Die Grundannahme, dass wir es mit Struk­ turen zu tun haben, die sich zwar sprachlich manifestieren (können), nicht aber an die Sprache gebunden sind, legt dagegen nahe, dass die beschriebenen Mecha­ nismen auch in anderen Modalitäten – und verschiedene Modalitäten zugleich in­ volvierend – möglich sein sollten. Diese Überlegung ist im Hinblick auf das Unter­ suchungsziel dieser Arbeit, das die multimodale Dimension der religiösen Schau­ spiele so weit wie möglich (rekonstruierend) erfassen möchte, wichtig. Die CMT hat ein noch vergleichsweise junges Forschungsfeld angeregt, das Metaphern in anderen Zeichenmodalitäten und in der Verbindung unterschiedlicher Modalitä­ ten untersucht. Auf dem konzeptuellen Verständnis von Metaphern aufbauend können mono- und multimodale Metaphern auf struktureller Ebene unterschieden wer­ den. Monomodale Metaphern sind solche, deren Ziel- und Quellbereich aus­ schließlich oder vorherrschend innerhalb ein- und derselben Modalität liegen.²²⁵ Dazu zählen die bereits behandelten sprachlichen Metaphern ebenso wie visuelle bzw. bildliche Metaphern, die verstärkt seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten

223 Vgl. Lakoff/Johnson, Metaphors, S. 7: „Since metaphorical expressions in our language are tied to metaphorical concepts in a systematic way, we can use metaphorical linguistic expressions to study the nature of metaphorical concepts and to gain an understanding of the metaphorical nature of our activities.“ 224 Die persuasive Funktion von Metaphern, die insbesondere in ihrer Filterfunktion begründet liegt, betont auch Spiess. Da im Prozess der Kopplung nur bestimmte Aspekte selektiert würden (highlighting), während andere in den Hintergrund träten (hiding), eigneten Metaphern sich sehr gut für eine gezielte Perspektivierung, die bestimmte Evaluationshandlungen begünstige (vgl. Spiess, Metapher, S. 88 f. und 91 f. [Kap. 2, Anm. 211]). 225 Vgl. Forceville, Non-verbal and Multimodal Metaphor, S. 23 (Kap. 2, Anm. 211): „We can now provisionally define monomodal metaphors as metaphors whose target and source are ex­ clusively or predominantly rendered in one mode.“

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Jahrhunderts Gegenstand einer eigenständigen Theoriebildung geworden sind.²²⁶ Um multimodale Metaphern handelt es sich dann, wenn Ziel- und Quellbereich jeweils ausschließlich oder vorherrschend in verschiedenen Modalitäten auftre­ ten.²²⁷ Die metaphorische Verbindung sprachlicher Zeichen mit bildlichen, ges­ tischen, musikalischen oder lautlichen Zeichen hat sich als besonders produktiv erwiesen, doch finden sich auch visuell-auditive Metaphern.²²⁸ Forceville weist darauf hin, dass es sich nicht notwendig um bilaterale Kopplungen handelt, son­ dern dass, im Gegenteil, häufig mehr als zwei Zeichenmodalitäten in die Bildung einer Metapher eingebunden seien.²²⁹ Einen solchen Fall stellt beispielsweise die von Forceville besprochene Metapher Autos sind Fische in einem Werbespot dar. In diesem wird das Bild eines Fischschwarms, der in seiner Bewegung stoppt und fortfährt, über lautliche (Motorengeräusche, quietschende Bremsen, Hupen) und sprachliche Zeichen (voiceover) mit der Vorstellung im Straßenverkehr be­ findlicher Autos verbunden.²³⁰ Es wird also der bildlich realisierte Quellbereich

226 Wichtige Beiträge zur Herausbildung der theoretischen Erfassung visueller Metaphorizität haben beispielsweise Ernst H. Gombrich (vgl. Gombrich, Ernst H.: Visual Metaphors of Value in Art. In: Meditations on a Hobby Horse and Other Essays on the Theory of Art. With 140 Illustra­ tions. 2. Aufl. Hrsg. von Ernst H. Gombrich, London, New York 1971, S. 12–29), Nelson Goodman (vgl. Goodman, Nelson: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, London 1969, insbesondere S. 68–95), John M. Kennedy (vgl. Kennedy, John M.: Metaphor in Pictures. In: Per­ ception 11 (1982), S. 589–605), Virgil C. Aldrich (vgl. Aldrich, Virgil C.: Visuelle Metapher. In: Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp, Darmstadt 1983 (Wege der Forschung 389), S. 142–162), Arthur C. Danto (vgl. Danto, Arthur C.: The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Cambridge 1981, insbesondere S. 167–189) und Noel Carroll (vgl. Carroll, Noel: Visual Metaphor. In: Aspects of Metaphor. Hrsg. von Jaakko Hintikka. Dordrecht, Boston, London 1994, S. 189–218) geleistet. In besonderer Nähe zur CMT steht der Ansatz Charles Force­ villes, der in seiner Monographie Pictorial Metaphor in Advertising aus dem Jahr 1996 anhand eines Plakat-Korpus aus dem Bereich der Werbung eine Methode zur Analyse bildlicher bzw. visu­ eller Metaphern entwickelt, die er als pictorial metaphors bezeichnet (vgl. Forceville, Pictorial Metaphor). 227 Vgl. Forceville, Non-verbal and Multimodal Metaphor, S. 24 (Kap. 2, Anm. 211): „In contrast to monomodal metaphors, multimodal metaphors are metaphors whose target and source are each represented exclusively or predominantely in different modes.“ 228 In ihrem Sammelband zu multimodalen Metaphern versammeln Charles Forceville und Eduardo Urios-Aparisi eine Reihe von Studien, die sich mit verschiedenen metaphorischen Kombinationsmöglichkeiten von Zeichen in unterschiedlichen Modalitäten beschäftigen (vgl. Multimodal Metaphor. Hrsg. von Charles Forceville/Eduardo Urios-Aparisi, Berlin, New York 2009). 229 Vgl. Forceville, Non-verbal and Multimodal Metaphor, S. 24 (Kap. 2, Anm. 211). 230 Vgl. Forceville, Charles: The Role of Non-Verbal Sound and Music in Multimodal Metaphor. In: Multimodal Metaphor. Hrsg. von Charles Forceville/Eduardo Urios-Aparisi, Berlin, New York 2009 (Applications of Cognitive Linguistics 11), S. 383–400, hier S. 386 f.

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Fische mit dem sowohl lautlich als auch sprachlich vermittelten Zielbereich Autos korreliert. Ebensolche multimodalen Verbindungen sind auch für den Bereich des religiösen Schauspiels relevant, das in der Aufführungssituation unterschiedli­ che Zeichenmodalitäten simultan einsetzt. Ihre spezifischen Funktionsweisen sollen im Rahmen der konkreten Analysen näher erläutert werden.

2.2.3 Flächige Formen der Bedeutungskonstitution 2.2.3.1 Topoi Wenige Begriffe haben eine ähnlich lange und komplexe Geschichte durchlau­ fen wie der des Topos. Ausgehend von seiner Verwendung in der Aristotelischen Rhetorik wurde er von der Antike bis heute fortwährend rezipiert, diskutiert und modifiziert.²³¹ Die verschiedenen Ansätze lassen sich grob in zwei Strömungen gliedern, die jeweils auf unterschiedlichen Aspekten der Aristotelischen ToposKonzeption aufbauen. In seinen Schriften zur Rhetorik und Topik entwickelt Aristoteles Topoi als „Hilfsmittel für die dialektische Problemerörterung“²³², als

231 An dieser Stelle soll keine Darstellung der Begriffsgeschichte folgen, die bereits vielfach von anderen Autoren vorgenommen wurde. Für einen knappen Überblick vgl. Hess, Peter: To­ pos. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Jan-Dirk Müller u. a., Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 649–652; einführenden Charakter hat auch der Artikel Thomas Schirrens, der die Entwick­ lung des Topos-Begriffs von Isokrates bis Boethius verfolgt (vgl. Schirren, Thomas: Topik im Rahmen der klassischen Rhetorik. In: Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics. Ein interna­ tionales Handbuch historischer und systematischer Forschung/An International Handbook of Historical and Systematic Research. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, Bd. 2, Berlin, New York 2009, S. 1444–1459). Eine äußerst umfangreiche Behandlung, die die histori­ sche Entwicklung von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit sowie einen Einblick in moderne Ansätze umfasst, liefern Martin Gessmann u. a. (vgl. Gessmann, Martin u. a.: Topos. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, Bd. 9, Tübingen 2009, Sp. 630–724). In seiner Monographie zur Topik führt Lothar Bornscheuer im historischen Teil in die Aristo­ telische Topos-Konzeption und ihre Aufnahme bei Cicero ein; er bespricht zudem kritisch ver­ schiedene fachspezifische moderne Topos-Konzeptionen (vgl. Bornscheuer, Lothar: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, S. 26–90). Das Panora­ ma der Wissenschaftsdisziplinen, die im zwanzigsten Jahrhundert den Topos-Begriff in unter­ schiedlicher Weise aufgegriffen haben, präsentiert ausführlich Martin Wengeler (vgl. Wenge­ ler, Martin: Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985), Tübingen 2003 (Reihe Germanistische Linguistik 244), S. 188–284). 232 Bornscheuer, Topik, S. 28.

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Heuristik also, die er nicht durch eine klare Definition zu greifen versucht.²³³ Sein Topos-Verständnis umfasst ein Spektrum von spezifischen, in einem konkreten thematischen Umfeld verankerten ‚Fundorten‘ bis hin zu allgemein gehaltenen, formalen Schlussregeln, die prinzipiell in jedem Kontext Verwendung finden können.²³⁴ Daraus entwickelt haben sich ein literarisch-poetischer und ein rhe­ torisch-argumentativer Topos-Begriff, die beide für sich in Anspruch nehmen können, in aristotelischer Tradition zu stehen. Im Anschluss an Ernst Robert Curtius’ historische Topik hat sich seit der Mit­ te des zwanzigsten Jahrhunderts ein konkret-materiales Verständnis von Topoi in der Literaturwissenschaft und in anderen Fachdisziplinen etabliert, das auch in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist. Curtius vertritt die The­ se, die Rhetorik habe im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter ihren übli­ chen Zweck – als Hilfsmittel für die Ausarbeitung von Reden zu dienen – verloren, da mit dem Zerfall der griechisch-römischen Kultur auch die Redegattungen ver­ schwanden. Stattdessen habe sie Eingang in alle anderen literarischen Formen gefunden, innerhalb derer den Topoi eine neue Funktion zugekommen sei: „Sie werden Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind, sie breiten sich über alle Gebiete des literarisch erfassten und geformten Lebens aus.“²³⁵ Laut Curtius’ Darstellung verlieren die Topoi folglich ihren rhetorisch-argumentativen Zweck und werden zu fixierten literarisch-poetischen Ausdrucksschemata. Das Ziel sei­ ner historischen Topik ist es, die Entwicklung solcher Topoi diachron zu verfol­ gen.²³⁶ Obwohl die Konzeption Curtius’ vielfältig kritisiert worden ist²³⁷, prägt sie vor allem in der Literaturwissenschaft bis heute das Topos-Verständnis. So will beispielsweise August Obermayer, der einen modifizierten Topos-Begriff vor­ schlägt, Topoi ausdrücklich im Curtius’schen Sinne verstanden wissen.²³⁸ Sei­ ne Konzeption von Topoi als Vorstellungsmodelle geht zwar über Curtius’ Ein­ grenzung hinaus, indem sie Topoi als vorsprachliche Strukturen fasst, die sich

233 Bornscheuer zufolge beruhen „alle Bemühungen der Forschung, solche Definitionen den­ noch herauszufiltern, [. . . ] auf einem gewissen Mißverständnis“, da es sich bei der Topik im Aris­ totelischen Sinne um eine instrumentelle Methode handle, in deren Rahmen Topoi keine Defini­ tion, sondern eine quantitative Bestimmung verlangten (ebd.). 234 Vgl. Gessmann u. a., Topos, Sp. 633 f. (Kap. 2, Anm. 231); Schirren, Topik, S. 1446–1452. 235 Curtius, Ernst R.: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 5 Aufl. Bern 1965, S. 79 f. 236 Curtius führt beispielsweise aus, das Neuerscheinen bestimmter Topoi – etwa die des ‚grei­ sen Knaben‘ und der ‚jugendlichen Greisin‘ – sei „Anzeichen einer veränderten Seelenlage“, die nur durch das Verfahren der historischen Topik erkennbar werde (vgl. hier S. 92). 237 Die zentralen Kritikpunkte fasst Wengeler zusammen (vgl. Wengeler, Topos, S. 190 ff.). 238 Vgl. Obermayer, August: Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft. In: Topos­ forschung. Hrsg. von Max L. Baeumer, Darmstadt 1973, S. 252–267, hier S. 252.

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in unterschiedlichen sprachlichen Ausdrucksformen manifestieren können.²³⁹ Je­ doch bleibt sie dem Kerngedanken der historischen Topik verpflichtet, die Topoi nicht in Argumentationskontexten behandelt, sondern sich für die literarische Wirksamkeit historisch tradierter sprachlicher Muster interessiert. Der rhetorisch-argumentative Topos-Begriff setzt an der Funktionsbestim­ mung von Topoi im Argumentationszusammenhang an. Topoi werden dabei in aristotelischer Tradition als Mittel der Plausibilisierung in enthymemischen Schlüssen verstanden. Die Enthymem-Argumentation lässt sich als ein dreiglied­ riges Schema beschreiben²⁴⁰: Argument

Konklusion Schlussregel = Topos

Abb. 6: Schema der Enthymem-Argumentati­ on

Um eine strittige Aussage (Konklusion) als gültig oder ungültig zu erweisen, wird eine unstrittige Aussage (Argument) herangezogen. Die Plausibilität des ‚argu­ mentativen Sprungs‘ vom Argument zur Konklusion gewährleistet eine allgemei­ nere Schlussregel: Là où le discours argumentatif ‘de surface’ enchaîne deux énoncés, ‘E1 (argument), E2 (conclusion)’, l’analyse argumentative introduit un troisième énoncé ou topos, une forme générique, qui couvre l’enchaînement, garantissant que, abstraction faite des particularités du cas, l’enchaînement est admissible.²⁴¹

Die eingesetzten Topoi bzw. Schlussregeln sind Teil des kollektiv etablierten Wis­ sens einer Kulturgemeinschaft, welches alltagslogische und konventionsbasierte Schlussverfahren ermöglicht. Ein kurzes Beispiel möge dies illustrieren: Die Äu­

239 Vgl. hier S. 262 und 265. 240 Die Darstellung folgt der Schematisierung Manfred Kienpointners (vgl. Kienpointner, Manfred: Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern, Stuttgart-Bad Cann­ statt 1992 (Problemata 126), S. 19), ist aber in ähnlicher Form auch bei zahlreichen weiteren Au­ toren zu finden. Einen Überblick gibt Nina-Maria Klug (vgl. Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 359). Erweiterte Argumentations-Schemata, wie das fünfgliedrige Epicheirem, sollen an die­ ser Stelle nicht diskutiert werden, da Kienpointner überzeugend darlegen konnte, dass diese jeweils in elementare dreigliedrige Schemata untergliedert werden können (vgl. Kienpointner, Alltagslogik, S. 28 f., für eine ausführliche Diskussion der verschiedenen erweiterten Argumen­ tationsschemata vgl. S. 22–30). 241 Plantin, Christian : Forme logique et forme clichée des lieux argumentatifs. In : Clichés et clichages. Mélanges offerts à Anne-Marie Perrin-Naffakh. Hrsg. von Éric Bordas/Catherine Ran­ noux, Poitiers 2002, S. 61–78, hier S. 61.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse |

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ßerung X war die Situation sehr peinlich. kann, wenn sie als strittig gilt, durch fol­ gendes Argument gestützt werden: X ist ganz rot im Gesicht geworden. Der Topos, der den Schluss vom Argument auf die Konklusion plausibel erscheinen lässt, ba­ siert auf einem geteilten Alltagswissen: Wenn jemandem etwas peinlich ist, hat das zur Folge, dass er oder sie rot im Gesicht wird. Nach dem oben gebrauchten Schema lässt sich dies wie folgt darstellen: X ist ganz rot im Gesicht geworden.

X war die Situation sehr peinlich.

Wenn jemandem etwas peinlich ist, hat das zur Folge, dass er oder sie rot im Gesicht wird. Abb. 7: Beispiel eines enthymemischen Schlusses

In dieser vollständigen Form gleicht der enthymemische Schluss dem Schema des logischen Syllogismus, doch zielt er im Gegensatz zu diesem nicht auf letzte Ge­ wissheit, sondern auf Plausibilität.²⁴² Zudem ist er in seiner formalen Struktur nicht festgelegt: Die Teilsätze können in unterschiedlicher Reihenfolge erschei­ nen oder ganz fehlen; die verkürzte Form des Enthymems ist dabei nicht die Aus­ nahme, sondern vielmehr die Regel.²⁴³ So stellt etwa die Reduktion der oben ge­ nannten Beispielargumentation auf Argument und Konklusion (X war die Situa­ tion sehr peinlich, denn X ist ganz rot im Gesicht geworden.) ein Alltagsphänomen dar, bei dem der Topos jedoch immer präsupponiert wird. Sein allgemeiner Be­ kanntheitsgrad im relevanten Kulturkreis ermöglicht es, ihn implizit vorauszuset­ zen. In diesem Topos-Verständnis sind topische Strukturen folglich als Abstrakta

242 Vgl. auch Anscombre, Jean-Claude : La théorie des topoï. Sémantique ou rhétorique ? In : Hermès 15 (1995), S. 185–198, hier S. 191. 243 Clemens Ottmers hält in seiner Darstellung der Enthymem-Argumentation dazu fest, dass „je unstrittiger die herangezogenen Prämissen [Argumente, CP], Schlussregeln und Konklusio­ nen sind, um so ‚verkürzter‘ kann das Enthymem in Erscheinung treten; umgekehrt bedeutet dies, dass die einzelnen Argumentationsschritte bei wenig bekannten, nicht allgemein akzeptierten oder sehr komplexen Inhalten entsprechend ausführlich dargestellt werden müssen.“ (Ottmers, Clemens: Rhetorik. Überarbeitet von Fabian Klotz, 2. aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart 2007 (Samm­ lung Metzler 283), S. 76). Jean-Claude Anscombre zufolge werden Topoi grundsätzlich nicht als Behauptungen geäußert (vgl. Anscombre, Jean-Claude: De l’argumentation dans la langue à la théorie des topoï. In: Théorie des topoï. Hrsg. von Jean-Claude Anscombre, Paris 1995, S. 11–47, hier S. 39): „Ils ne sont jamais assertés en ce sens que leur locuteur ne se présente jamais comme en étant l’auteur (même s’il l’est effectivement), mais ils sont utilisés.“ Vgl. auch Anscombre, La théorie des topoï, S. 190.

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charakterisiert, die einer konkreten Realisierung in Form von Argumenten vor­ ausgehen. In Peirce’schen Termini können Topoi als abstrakte Einheiten auf der type-Ebene gefasst werden, aus denen heraus die Realisierung unterschiedlicher tokens möglich ist.²⁴⁴ Neben diesen zwei deutlich voneinander abgegrenzten Strömungen gibt es jedoch auch Entwicklungen in der Topos-Forschung, die integrative Modelle vorschlagen. Einen solchen Ansatz stellt der durch vier Strukturmomente cha­ rakterisierte Topos-Begriff Lothar Bornscheuers dar. Sein erklärtes Ziel ist es, ein vor- bzw. metawissenschaftliches Topos-Verständnis zu modellieren, das sich nicht einer Fachdisziplin verschreibt, sondern einen breiten, transdisziplinär ausgerichteten methodischen Zugang bietet.²⁴⁵ Er beschreibt Topik als „Instru­ mentarium eines gedanklich und sprachlich schöpferischen, doch zugleich auf den allgemeinen gesellschaftlichen Meinungs-, Sprach- und Verhaltensnormen beruhenden Argumentationshabitus“²⁴⁶ und verbindet somit ein literarisch-poe­ tisches Verständnis mit einem rhetorisch-argumentativen. Aus den Schriften Aristoteles’ und Ciceros leitet er vier zentrale Strukturmerkmale des Topos her, die verschiedene Aspekte aus beiden Traditionen der Topos-Auslegung aufgrei­ fen und miteinander verbinden. Das erste Strukturmerkmal, das Bornscheuer aus dem aristotelischen endoxa-Begriff – der ‚herrschenden Meinung‘ – ableitet, ist das der Habitualität. In Anlehnung an Pierre Bourdieus Habitus-Begriff, der ein System verinnerlichter kultureller Muster beschreibt, definiert Bornscheuer Topoi als Standard des von einer Gesellschaft jeweils internalisierten Bewußtseins-, Sprach- und/ oder Verhaltenshabitus, ein Strukturelement des sprachlich-sozialen Kommunikationsgefü­ ges, eine Determinante des in einer Gesellschaft jeweils herrschenden Selbstverständnisses und des seine Traditionen und Konventionen regenerierenden Bildungssystems.²⁴⁷

Das Strukturmerkmal der Habitualität umfasst sowohl gesellschaftlich veranker­ te Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster auf abstrakter (type-)Ebene als auch ihre konkreten Realisierungen (tokens) durch beispielsweise autoritative Lehrmeinungen oder Sentenzen.²⁴⁸ Damit ist sein Topos-Begriff zu beiden Seiten hin geöffnet: Er integriert Topoi im Sinne konventionsbasierter Schlussregeln sowie konkreter Argumente bzw. verfestigter (literarisch) tradierter Formen.

244 245 246 247 248

Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 358 f. Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 93. Hier S. 94. Hier S. 96. Vgl. hier S. 95.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 105

Die Verankerung der Topik im Argumentationszusammenhang betont das Strukturmerkmal der Potentialität. Diesem zufolge weisen Topoi eine grundlegen­ de Offenheit auf, die sie in unterschiedlichen Kontexten und von entgegengesetz­ ten Argumentationspositionen (in utramque partem-Prinzip) verwendbar macht. Bornscheuer bezeichnet diese Offenheit als „interpretatorische Polyvalenz“²⁴⁹, deren konkrete Nutzung in der inventio mit der Kompetenz der Sprecherin oder des Sprechers zusammenhängt. Die Rolle von Sprecher bzw. Sprecherin hebt das dritte Strukturmerkmal, das Bornscheuer als Intentionalität bezeichnet, hervor. Obwohl durch das Charakte­ ristikum der Habitualität Topoi als vorgefundene, gesellschaftlich tradierte Struk­ turen definiert wurden, lenkt das Merkmal der Intentionalität den Blick auf ihre interessegeleitete Verwendung. Bornscheuer zufolge ist die Normativität von To­ poi immer als Resultat dialektischer Reflexionsprozesse zu verstehen, im Rahmen derer sprachlich Handelnde einen Topos durch seine situations- und problembe­ zogene Verwendung modifizieren.²⁵⁰ Hier schlägt sich ein dezidiert rhetorisches Topos-Verständnis nieder, das sich im Gegensatz zum diskursanalytischen Ansatz in Foucault’scher Tradition nicht ausschließlich für sprachliche Strukturen in­ teressiert, sondern auch für ihren interessegeleiteten Gebrauch. Das vierte Strukturmerkmal schlägt eine Brücke zum literarisch-poetischen Topos-Begriff im Curtius’schen Verständnis. Mit Symbolizität des Topos bezeich­ net Bornscheuer die Eignung „zu einer gewissen formelhaften Fixierung“²⁵¹. Derselbe Topos könne „verschiedene Grade der verbalen wie der semantischen Konzentration annehmen“ und lasse sich „in knappen Regeln, Kurzsätzen, zu­ sammengesetzten Ausdrücken oder bloßen Stichworten formulieren“.²⁵² Eine besondere Wirkungsmacht attestiert Bornscheuer „zu regelrechten Beschwö­ rungsformeln“²⁵³ verdichteten Topoi, die einer rationalen Prüfung nicht mehr zugänglich seien und auch gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen Kon­ tinuität bewahren könnten. Durch das Merkmal der Symbolizität werden somit sprachliche Verdichtungen (Klischees, Gemeinplätze), wie Curtius sie in seiner historischen Topik bestimmt, explizit in Bornscheuers Topos-Konzeption ein­ geschlossen. Er bezeichnet sie als die „konkrete Merkform, in der ein Topos bzw. eine Topik im gruppenspezifischen Individualbewußtsein am konzentriertesten notifiziert und am leichtesten abrufbar ist“²⁵⁴.

249 Hier S. 99. 250 Vgl. hier S. 101. 251 Hier S. 103. 252 Ebd. 253 Ebd. 254 Hier S. 105.

106 | 2 Theoretisch-methodologische Grundlegung

Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit erscheint die Topos-Konzeption Bornscheuers besonders geeignet, da sie zwischen einem literarischen und einem argumentationsbasierten Topos-Verständnis vermittelt. An dieser Schnitt­ stelle setzt auch die hier vorgenommene Untersuchung an: Die Frage nach den persuasiven Strategien des vormodernen Theaters zielt sowohl auf die argumen­ tative Funktion von Topoi als auch auf ihre für das religiöse Schauspiel spezifische sprachlich-performative Umsetzung. Dem liegt das Verständnis zugrunde, dass die in der Regel von rhetorisch geschulten Schreibern konzipierten religiösen Spiele nicht einfach in neutraler Weise eine christliche Thematik auf die Bühne bringen, sondern diese intentional als einen Erweis der christlichen Glaubens­ lehre und des christlichen Lebensmodells gestalten. Die Spiele sind also als argu­ mentativer Zusammenhang zu verstehen. Innerhalb dessen sind Topoi (literarisch und/oder ikonographisch tradierte) habitualisierte Muster, die einer theatralen Bearbeitung gegenüber offen sind (Potentialität) und als Stützung in der theatra­ len Argumentation Verwendung finden (Intentionalität). Die Schauspiele können selbst dazu beitragen, besondere sprachliche oder visuelle Verdichtungen (Sym­ bolizität) weiter zu tradieren oder neu zu erschaffen. Indem diese Untersuchung die auf höherer Abstraktionsebene liegenden konzeptuellen Topoi in den Blick nimmt und die konkrete sprachlich-performative Ausgestaltung (zum Beispiel in Form von Schlagwörtern) dazu in Bezug setzt, lassen sich Schauspiele aus unter­ schiedlichen Sprach- und Zeiträumen vergleichen. Würde die Analyse stattdessen nur die Ebene der punktuellen und flächigeren Formen der Bedeutungskonstitu­ tion berücksichtigen, könnten zwar in den Schauspielen relevante Inhaltsfelder und deren individuelle Bearbeitung eruiert werden, jedoch würde ihre struktur­ gebende Funktionalität nicht sichtbar. So sind beispielsweise judenfeindliche Aspekte in religiösen Schauspielen des deutschen Sprachraums vielfach behan­ delt worden²⁵⁵, doch hat es bisher keinen Versuch gegeben, sie auf ihre Funktion in der theatral etablierten Argumentation hin zu befragen und auf dieser struk­ turellen Ebene verschiedene Spiele miteinander zu vergleichen. Die Ermittlung abstrakterer Topoi, wie sie in dieser Untersuchung vorgenommen wird, ermög­ licht es, konkrete Erscheinungsformen (tokens) nicht nur zu erfassen, sondern auch funktional einzuordnen und auf diesem Wege theatrale Persuasionsstrate­ gien offenzulegen. Die vier Bornscheuer’schen Strukturmerkmale bilden einen angemessenen Rahmen, innerhalb dessen das gesamte topische Spektrum abge­ bildet werden kann. Da die Untersuchung Topoi auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen einbe­ zieht, ist ein differenzierterer Blick auf die verschiedenen topischen Formen not­

255 Für eine Auswahl einschlägiger Arbeiten vgl. Kap. 3, Anm. 8.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 107

wendig. Eine Typologie der formalen, maximal kontextabstrakten Topoi nimmt Manfred Kienpointner vor.²⁵⁶ Er unterscheidet drei Großklassen von Argumen­ tationsschemata, denen er insgesamt 21 Muster zuordnet.²⁵⁷ Die erste Großklasse der Schlussregel- (bzw. Topos-)benutzenden Argumentationsschemata umfasst klassische Inhaltsrelationen. Kienpointner gliedert sie in Einordnungsschemata (z. B. Ganzes-Teil), Vergleichsschemata (z. B. über Gleichheit oder Ähnlichkeit), Gegensatzschemata (z. B. konträr oder relativ) und Kausalschemata (z. B. nach Ursache und Wirkung). Die zweite, Schlussregel-etablierende Großklasse um­ fasst induktive Argumentationen, die von einigen Beispielen auf allgemeine Sätze schließen. Der dritten Großklasse ordnet er Argumentationsschemata zu, die we­ der Schlussregeln benutzen noch diese induktiv etablieren. Kienpointner zählt dazu illustrative Beispiel-Argumentationen, Analogie- und Autoritäts-Argumente. Die Typologie bietet ein formales Raster, in das prinzipiell jede konkrete Argu­ mentation eingeordnet werden kann. Als Grundlage für eine kulturhistorisch orientierte Textanalyse ist die Typologie dennoch nicht geeignet, weil sie nur Rückschlüsse auf eine sehr begrenzte Anzahl formaler Topoi zulässt. Auf diesem Wege können keine Erkenntnisse über die Spezifika bestimmter (Text-)Gattungen oder sozialer Gemeinschaften gewonnen werden. Einige kulturhistorisch moti­ vierte Arbeiten aus der Sprachwissenschaft, die ebenfalls einen semiotischen Ansatz verfolgen, haben hier Möglichkeiten aufgezeigt. Martin Wengeler, der ei­ ne Topos-Analyse des Migrationsdiskurses im späteren zwanzigsten Jahrhundert vornimmt, schlägt einen Mittelweg zwischen formalen und materialen Topoi vor, indem er das Konzept der kontextspezifischen Topoi einführt: Innerhalb des Spannungsfeldes zwischen konkreter Sachargumentation auf der einen und universellem rhetorischen [sic !] Schema auf der anderen Seite sind die hier definierten To­ poi also auf einem mittleren Abstraktionsniveau angesiedelt. Dieses ermöglicht, das Vor­ kommen von Argumentationsmustern in verschiedenen Teildiskursen, also für verschiede­ ne Fragestellungen, zu vergleichen, ohne nur Argumentationsschemata zu analysieren, die völlig unabhängig vom sachlichen Gehalt der Diskurse sind.²⁵⁸

256 Kienpointners Typologie kann gegenwärtig als etabliert gelten. So baut etwa die von Ottmers in seinem Einführungsband zur Rhetorik präsentierte Typologie auf Kienpointners Entwurf auf und modifiziert diesen nur geringfügig (vgl. Ottmers, Rhetorik, S. 92–121). Alter­ native Konzeptionen werden aus diesem Grund nicht vorgestellt, es sei jedoch auf Kienpoint­ ners ausgiebige Diskussion verschiedener Positionen verwiesen (vgl. Kienpointner, Alltagslo­ gik, S. 187–231). 257 Für eine schematische Abbildung der Typologie vgl. Kienpointner, Alltagslogik, S. 246. 258 Wengeler, Topos, S. 278.

108 | 2 Theoretisch-methodologische Grundlegung

Wengeler zieht somit ein mittleres Abstraktionsniveau ein, dem Topoi angehö­ ren, die formale Muster darstellen, welche in einem bestimmten thematischen Be­ reich verortet sind und von diesem inhaltliche Anreicherungen erhalten. Eine noch detaillierte Untergliederung der topischen Skala von materialen bis hin zu kontextabstrakten Topoi nimmt Nina-Maria Klug in ihrer Arbeit zu konfes­ sionellen Flugblättern des späteren sechzehnten Jahrhunderts vor. Anstelle der kontextspezifischen Topoi führt sie auf mittlerem Abstraktionsniveau zwei abge­ stufte Kategorien ein²⁵⁹: min

materiale Topoi (Argumente)

Abstraktionsgrad

kontextbasierte (besondere) Topoi

mesokontextbasierte Topoi

max

kontextabstrakte (allgemeine/formale) Topoi

Abb. 8: Topische Skala nach Klug, Das konfessionelle Flugblatt

Die Klassen der kontextbasierten und mesokontextbasierten Topoi stellen ei­ ne Erweiterung der Konzeption Wengelers dar. Kontextbasierte Topoi sind inhaltlich-kategorial bestimmt und nur in bestimmten Gegenstandsbereichen einschlägig.²⁶⁰ Damit entsprechen sie der Kategorie kontextspezifischer Topoi. Mesokontextbasierte Topoi sind zwar ebenfalls inhaltlich determiniert, unter­ scheiden sich von kontextbasierten Topoi jedoch durch einen erhöhten Grad an Abstraktion, der sich darin äußert, dass ihr Anwendungsgebiet verschiedene Ge­ genstandsbereiche umfasst.²⁶¹ Obwohl die Grenzen zwischen den unterschied­ lichen Kategorien einer solchen topischen Skala notwendig unscharf bleiben müssen, stellt Klugs feine Untergliederung ein geeignetes Instrumentarium dar, um topische Strukturen auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus in einem spe­ zifischen Kontext zu untersuchen. Die folgende Darstellung relevanter Topoi, die die theatralen Strategien der Persuasion offenlegen sollen, basiert auf einem induktiven Vorgehen. Wie schon Wengeler und Klug in ihren Arbeiten betont haben²⁶², wurden keine im Vorhin­ ein angefertigten Arbeitshypothesen oder Kategorien am Text- und Bildmaterial geprüft, sondern alle eruierten Muster stammen aus der eingehenden Analyse,

259 Die schematische Darstellung ist der Abbildung in Klug, Das konfessionelle Flugblatt auf S. 368 nachempfunden. 260 Vgl. hier S. 366 ff. 261 Vgl. hier S. 368. 262 Vgl. Wengeler, Topos, S. 278, 296 f. und Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 369.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse |

109

die durch die Frage nach Persuasionsstrategien geleitet war. Über die Erfassung sprachlicher oder visueller tokens konnten relevante Topoi auf der type-Ebene abstrahiert werden. Im Verlauf der Lektüre und Auswertung wurden diese auf der Basis der anwachsenden Textkenntnis zum Teil spezifiziert oder erweitert. Das angewandte Verfahren der Rekonstruktion impliziter Bedeutungsbildung bleibt dabei immer hermeneutisch erzeugte Interpretation und somit an das subjekti­ ve Urteil der Interpretin gebunden. Die Ergebnisse können keine Objektivität be­ anspruchen. Indem die verfolgten Kriterien offengelegt werden, können jedoch ‚weiche Standards‘ erfüllt werden, in deren Rahmen die Verlässlichkeit der Inter­ pretation überprüfbar ist. Wengeler definiert als solche Standards Plausibilität, Glaubwürdigkeit, empirische Evidenz (d. h. die Ergebnisse müssen so gesi­ chert sein, dass sie nicht sozusagen im Handumdrehen falsifiziert werden können) einer­ seits, Offenheit der Ergebnisse andererseits, insofern durch neue Informationen auch Modi­ fikationen der Ergebnisse möglich sein müssen, Nachvollziehbarkeit.²⁶³

Indem die vorliegende Arbeit das Untersuchungskorpus und die analyseleitenden Prämissen und Kriterien sowie das jeweilige spezifische methodische Vorgehen erläutert, ist sie bemüht, solchen ‚weichen Standards‘ gerecht zu werden. Die Formulierung der aus der Analyse hervorgegangenen Topoi kann unter­ schiedlich erfolgen. Kienpointner stellt in seiner Arbeit jeden formalen Topos als vollständigen Syllogismus dar, der den Topos selbst (Oberprämisse), das Ar­ gument (Unterprämisse) und die Konklusion umfasst.²⁶⁴ Für das oben genannte, triviale, aber zur Illustration geeignete Beispiel könnte das so aussehen: 1. Topos bzw. Oberprämisse: Wenn jemandem etwas peinlich ist, hat das zur Folge, dass er oder sie rot im Gesicht wird. 2. Argument bzw. Unterprämisse: X ist ganz rot im Gesicht geworden. 3. Konklusion: X war die Situation sehr peinlich. Da das Erkenntnisinteresse der hier vorgelegten Untersuchung wiederkehrenden Mustern (d. h. Topoi) gilt, genügt es, die Darstellung auf diese zu begrenzen. Das vollständige Argumentationsschema sei jeweils mitgedacht und kann prinzipi­ ell für jeden dargestellten Topos ergänzt werden. Die konkrete Formulierung der Topoi ist auf zweierlei Arten möglich: Die Verbindung der Propositionen kann über die konditionale Konjunktion wenn oder über die kausale Konjunktion weil erfolgen. Im ersten Fall drückt der Topos eine mögliche Schlussfolgerung aus,

263 Wengeler, Topos, S. 298. 264 Vgl. etwa die Darstellung der Genus-Spezies-Schemata in Kienpointner, Alltagslogik, S. 264–274.

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im zweiten eine Konklusion.²⁶⁵ In der Untersuchung kommen beide Formen zum Einsatz. Mesokontextbasierte oder kontextabstrakte Topoi werden, wenn sie als Stütze auftreten, aus der heraus im Schauspiel angewandte kontextbasierte To­ poi entwickelt werden, mit der konditionalen Konjunktion wenn formuliert. Alle (meso)kontextbasierten Topoi, die eine unmittelbare argumentative Funktion im Schauspiel erfüllen, werden durch die kausale Konjunktion weil ausgedrückt. 2.2.3.2 Stereotype Die untersuchten Schauspiele teilen eine Tendenz zu pointierten und zugleich un­ terkomplexen Formen der Darstellung, die im Hinblick auf evaluative und emo­ tive Persuasionsstrategien (vgl. insbesondere Kapitel 5) Gegenstand der Analyse sind. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, sowohl grundlegende Muster zu benennen, als auch theatrale Formen ihrer Realisierung zu identifizieren. Der Stereotyp-Begriff, welcher sich seit dem zwanzigsten Jahrhundert zu einer bedeu­ tenden Kategorie der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung entwickelt hat, erweist sich hier als hilfreiches analytisches Instrument. Seit der amerikanische Journalist Walter Lippmann den aus der Drucktechnik stammenden Terminus des Stereotyps metaphorisch für verfestigte Denkmuster, pictures in our heads²⁶⁶, gebrauchte, wurde er in einer Vielzahl von Disziplinen aufgegriffen und den verschiedenen Forschungsinteressen und -traditionen ge­ mäß unterschiedlich spezifiziert. Eine führende Rolle nimmt bis heute die Sozial­ psychologie ein. Insbesondere in den Anfängen ihrer Erforschung von Stereoty­ pen wurden diese meist im Sinne von Vorurteilen als „fehlerhafte und generalisie­ rende Einstellung gegenüber bestimmten sozialen Gruppen definiert.“²⁶⁷ Spätere Untersuchungen haben die negative Wertung gegenüber einem kognitivistischen Ansatz zurückgenommen. Arbeiten wie die einflussreichen Studien Daniel Katz’ und Kenneth W. Bralys oder Henri Tajfels konzeptualisieren Stereotype als ko­ gnitive Strukturen der Wirklichkeitsverarbeitung, die soziale Kategorien hervor­ bringen.²⁶⁸ Der Fokus wird dabei teilweise auf das Individuum gelegt; andere Stu­ dien untersuchen Stereotype als kollektive Strukturen unter verstärkter Berück­

265 Vgl. dazu Wengeler, Topos, S. 301. 266 Vgl. das erste Kapitel in Lippmann, Walter: Public Opinion. New York 1929, S. 3–32. 267 Pleitner, Berit: Die ‚vernünftige‘ Nation. Zur Funktion von Stereotypen über Polen und Franzosen im deutschen nationalen Diskurs 1850 bis 1871, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mitteleu­ ropa–Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas 3), S. 101. 268 Vgl. hier S. 102 ff. Eine konzise Übersicht zentraler sozialpsychologischer Positionen gibt zu­ dem Lilli, Waldemar: Grundlagen der Stereotypisierung. Göttingen, Toronto, Zürich 1982, insbe­ sondere S. 3–11.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse |

111

sichtigung sozialer und kultureller Kontexte.²⁶⁹ Im Rahmen beider Strömungen wurde für die Unterscheidung, ob es sich um stereotype Vorstellungen des Eige­ nen oder des Anderen handelt, die Terminologie Auto- und Heterostereotyp eta­ bliert.²⁷⁰ Darüber hinaus hat immer wieder die kernel-of-truth-Frage eine Rolle ge­ spielt, also Überlegungen darüber, ob Stereotype im Kern auf Realitäten basieren, die sie unzulässig überspitzen. Konstruktivistische Ansätze dagegen, die sich un­ ter dem Einfluss diskursanalytischer Arbeiten²⁷¹ herausbildeten, sprechen der so­ zialen Konstruktion von Stereotypen eine wirklichkeitsgenerierende Funktion zu, weshalb die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug obsolet erscheint.²⁷² Es rückt hier der Aussagewert von Stereotypen über ihr Subjekt, also die Personen(gruppen), die sie verwenden, in den Blick.²⁷³ Die zahlreichen weiteren Fachdisziplinen, die den Stereotyp-Begriff pro­ duktiv aufgegriffen haben, setzen an sozialpsychologischen Konzeptionen an. Disziplinen, die stark auf didaktische Vermittlung ausgerichtet sind, wie z. B. Deutsch als Fremdsprache oder die Schulbuchforschung, fokussieren die sozialklassifizierenden Funktionen von Stereotypen und ihre negativen Auswirkungen und stellen das Ziel in den Vordergrund, sie im größtmöglichen Ausmaß zu re­ flektieren und zu reduzieren.²⁷⁴ In der Geschichtswissenschaft wird unter dem Stichwort ‚historische Stereotypenforschung‘ in mentalitätsgeschichtlicher Tra­ dition nach den Identitäts- und Alteritätskonzeptionen von Gesellschaften ge­ fragt. Insbesondere nationale Stereotype haben bisher im Zentrum des Interesses

269 Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Potentiale und Einschränkungen beider An­ sätze evaluieren Charles Stangor und Mark Schaller in einem gemeinsamen Aufsatz (vgl. Stangor, Charles/Mark Schaller: Stereotypes as Individual and Collective Representations. In: Stereotypes and Prejudice. Essential Readings. Hrsg. von Psychology Press, Philadelphia 2000, S. 64–82). 270 Vgl. Hahn, Hans H. und Eva Hahn: Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Ste­ reotypenforschung. In: Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in ge­ sellschaftlichen Diskursen. Hrsg. von Hans H. Hahn, Frankfurt a. M. 2002 (Mitteleuropa – Osteu­ ropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas 5), S. 17–56, hier S. 28–34. Die Kategorien sind allerdings nicht exklusiv zu verstehen, sondern können als Funktionen einund desselben Stereotyps auftreten. 271 Zum Gebrauch des Stereotyp-Begriffs in diskursanalytischen Ansätzen vgl. Amossy, Ruth/ Anne Pierrot Herschberg: Stéréotypes et clichés. Langue, discours, société, Paris 1997, S. 106–113. 272 Vgl. Pleitner, Funktion von Stereotypen, S. 107 f. Vgl. zudem Hentschel, Gerd: Stereotyp und Prototyp. Überlegungen zur begrifflichen Abgrenzung vom linguistischen Standpunkt. In: Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde. Hrsg. von Hans H. Hahn. Oldenburg 1995, S. 14–40, hier S. 28. 273 Vgl. dazu Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 26 f. (Kap. 2, Anm. 270). 274 Vgl. Pleitner, Funktion von Stereotypen, S. 108–111.

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gestanden.²⁷⁵ Aus literaturwissenschaftlich-komparatistischer Perspektive wid­ met sich die Imagologie interkulturellen Stereotypen.²⁷⁶ In rezeptionsorientierter Ausrichtung wurde zudem der aktive Anteil an der Konstruktion von Stereotypen durch die lesende (oder anders rezipierende) Instanz betont.²⁷⁷ Eine intensive Rezeption und Modifikation hat der Stereotyp-Begriff durch die linguistische For­ schung erfahren. Die zentrale Frage, der verschiedene sprachwissenschaftliche Arbeiten nachgehen, ist das Verhältnis zwischen dem Inhalt eines Stereotyps und seiner verbalen Manifestation.²⁷⁸ Der Fokus verschiebt sich damit von der konzeptuellen Ebene, die in sozialpsychologischer Perspektive vor allem durch psychologische, kognitive und gesellschaftliche Funktionsbestimmungen gefasst wurde, auf die Ebene des sprachlichen Ausdrucks. Uta Quasthoff hat in ihrer einflussreichen Monographie Stereotype als verbale Ausdrücke definiert, deren logische Struktur der eines Satzes entspricht.²⁷⁹ Quasthoffs Festlegung des Ste­ reotyps auf die Satzebene wurde vielfach kritisiert und in späteren linguistischen Arbeiten auf alle Sprachebenen ausgeweitet.²⁸⁰ Grundlegend ist die Annahme, dass fixierte Denkmuster in verfestigten verbalen Manifestationen resultieren,

275 Hier sind insbesondere die von Hans H. Hahn herausgegebenen Sammelbände zu nennen, die sowohl theoretisch-konzeptuelle Überlegungen als auch konkrete Fallstudien zur Moderne und Frühen Neuzeit umfassen (vgl. Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegun­ gen und empirische Befunde. Hrsg. von Hans H. Hahn, Oldenburg 1995 und Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Hrsg. von Hans H. Hahn, Frankfurt a. M. 2002 [Mitteleuropa – Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Ge­ schichte Ostmitteleuropas 5]). 276 Einen Überblick geben Amossy/Herschberg Pierrot, Stéréotypes et clichés, S. 69–72 und Pleitner, Funktion von Stereotypen, S. 119–122. 277 Vgl. Amossy, Ruth : Les idées reçues. Sémiologie du stéréotype, Paris 1991 (Le texte à l’œuvre), für eine Zusammenfassung von Amossys Ansatz vgl. Amossy/Herschberg Pierrot, Stéréotypes et clichés, S. 72 ff. 278 Eine ausführliche Darstellung der linguistischen Forschung und ihrer Bezüge zu sozialpsy­ chologischen Konzepten bietet Pümpel-Mader, Maria: Personenstereotype. Eine linguistische Untersuchung zu Form und Funktion von Stereotypen, Heidelberg 2010 (Sprache – Literatur und Geschichte. Studien zur Linguistik/Germanistik 36), S. 35–60. 279 Vgl. Quasthoff, Uta: Soziales Vorurteil und Kommunikation. Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps. Ein interdisziplinärer Versuch im Bereich von Linguistik, Sozialwissen­ schaft und Psychologie, Frankfurt a. M. 1973 (Taschenbücher Sprachwissenschaft), S. 28 (Her­ vorhebung im Original): „Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichtete Überzeugung. Es hat die logische Form eines Ur­ teils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-werten­ der Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. Linguistisch ist es als Satz beschreibbar.“ 280 Vgl. Pümpel-Mader, Personenstereotype, S. 44.

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weshalb angestrebt wird, eine sprachwissenschaftliche Typologie von Stereoty­ pen zu erstellen.²⁸¹ Eine Frage, die ausgehend von der anglophonen linguistischen StereotypForschung unter Einfluss von Hilary Putnam intensiv behandelt wurde, ist das Verhältnis zwischen Stereotyp und Prototyp. Es gibt eine Reihe von Schnittstellen zwischen beiden Konzepten: Der Prototyp im Sinne des ‚besten Beispiels‘, das die typischen oder hervorstechenden Eigenschaften einer Kategorie resümiert²⁸², ist wie das Stereotyp eine vereinfachende, auf bestimmte Aspekte fokussierte Kate­ gorisierung. Zudem widersetzen sich beide Konzepte der strukturalistischen Auffassung einer taxonomischen Organisation lexikalischer Kategorien, der zufolge sie durch notwendige und ausreichende Merkmale miteinander verbunden sind und allen Mitgliedern einer Kategorie der gleiche Status zukommt. In prototypi­ schen und stereotypen Kategorien sind dagegen alle Mitglieder über ‚Familien­ ähnlichkeit‘²⁸³ miteinander verbunden, d. h. Unterkategorien stehen zueinander in Ähnlichkeitsrelationen, doch müssen sie sich nicht notwendig alle miteinander ähneln.²⁸⁴ Darüber hinaus weisen Prototyp und Stereotyp eine große Toleranz ge­ genüber widersprüchlichen Erfahrungen auf, die zu Ausnahmen oder schlicht we­ niger exemplarischen Fällen erklärt werden können.²⁸⁵ Als zentrales Unterschei­ dungsmerkmal zwischen beiden Kategorien ist mit Dirk Geeraerts dennoch fest­ zuhalten, dass sich in ihnen eine jeweils andere Perspektive äußert: La théorie prototypique est une hypothèse sur l’organisation de la connaissance dans le sys­ tème cognitif individuel [. . . ]. D’un autre côté, la théorie stéréotypique est une hypothèse sur la distribution de la connaissance linguistique dans une communauté linguistique [. . . ]. En somme, la notion de ‘prototype’ définit l’efficacité et l’économie organisatrice de la connais­ sance sémantique, tandis que la notion de ‘stéréotype’ définit son efficacité sociale.²⁸⁶

281 Vgl. ebd. 282 Vgl. Amossy/Herschberg Pierrot, Stéréotypes et clichés, S. 93. 283 Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M. 1971 (suhr­ kamp taschenbuch 14), S. 56 ff. (I,66f.). 284 Vgl. Amossy/Herschberg Pierrot, Stéréotypes et clichés und Hentschel, Stereotyp und Prototyp, S. 19–24 (Kap. 2, Anm. 272). Hentschel sieht im Konzept der Prototypen allerdings einen Kompromiss zwischen der strukturalistischen und der kognitiven Linguistik, da „einerseits wie im klassischen Ansatz am Gedanken des kleinsten gemeinsamen Nenners festgehalten wird. Allerdings braucht dieser in der Form mindestens einer gemeinsamen Eigenschaft nicht für alle Unterkategorien untereinander gegeben zu sein.“ (hier S. 24). 285 Vgl. Hentschel, Stereotyp und Prototyp, S. 28 (Kap. 2, Anm. 272). 286 Geeraerts, Dirk: Les données stéréotypiques, prototypiques et encyclopédiques dans le dictionnaire. In: Cahiers de lexicologie 46/1 (1985), S. 27–43, hier S. 30.

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Die im Rahmen dieser Arbeit behandelte Frage nach persuasiven Strategien, die kollektiv verankerte stereotype Muster gebrauchen und produzieren können, zielt stärker auf die sozio- als die psycholinguistische Perspektive, weshalb dem Ste­ reotyp-Begriff als Analyseinstrument der Vorzug gegeben wurde. Über das Studium sprachlicher Manifestationsformen sind in den vergange­ nen Jahren auch visuelle bzw. bildliche Stereotype verstärkt in den Blick gerückt; insbesondere im Bereich der Kommunikations- und Medienwissenschaft, die sich überwiegend mit stereotypen bildlichen Formen in den modernen Massenmedien beschäftigen.²⁸⁷ Sie sprechen Bildern aufgrund ihrer schnellen Prozessierung im menschlichen Gehirn und der emotionalen Aufladung, die sie begünstigen, eine mindestens ebenso ausgeprägte Eignung zur Stereotypbildung zu wie sprachli­ chen Zeichen. An den Begriff des Stereotyps wurde der von Uwe Pörksen geprägte Terminus ‚Visiotyp‘ angelehnt, der die stereotypisierenden Funktionen auf der vi­ suellen Ebene realisiert.²⁸⁸ Visuelle Formen werden meist nicht isoliert betrachtet, sondern in multimodalen Kontexten, insbesondere in Text-Bild-Verbünden.²⁸⁹ Im Gegensatz zu den linguistischen Versuchen, sprachliche Typologien zu erstellen, wird der Versuch, Formtypen visueller Stereotype zu identifizieren, in der Bild­ forschung kritisch gesehen: Ein Visiotyp sei nicht grundsätzlich von einem nicht stereotypen Bild anhand formaler Elemente zu unterscheiden. Vielmehr werde es durch eine symbolische Aufladung zum Stereotyp, die sich aus einer wiederhol­ ten Nutzung in spezifischen inhaltlich bestimmten Zusammenhängen ergebe.²⁹⁰

287 Vgl. die Sammelbände Visuelle Stereotype. Hrsg. von Thomas Petersen/Clemens Schwen­ der, Köln 2014 und Images that Injure. Pictorial Stereotypes in the Media. 3. Aufl. Hrsg. von Su­ san Dente Ross/Paul M. Lester, Santa Barbara, Denver, Oxford 2011. Erstgenannter versammelt Aufsätze, die theoretische und methodologische Überlegungen anstellen sowie konkrete Anwen­ dungen. Letzterer enthält eine Reihe von Fallstudien, die das Thema häufig nicht rein deskriptiv behandeln, sondern ethischen Reflexionen zum Umgang mit Stereotypen eine prominente Stel­ lung zuweisen. 288 Vgl. Pörksen, Uwe: Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype, Stuttgart 1997. Fla­ via Bleuel hat den Begriff aufgenommen und leicht transformiert. Sie spricht von emotionalen Visiotypen, die sie als „materielle, reproduzierbare Abbilder [definiert], die immaterielle, teilwei­ se stereotype Denkbilder erzeugen und zu kommunikativen Zwecken über ein Trägermedium an ein Massenpublikum gerichtet sind“ (Bleuel, Flavia: Emotionale Visiotype. Eine Analyse von Wirkungspotenzialen. In: Visuelle Stereotype. Hrsg. von Thomas Petersen/Clemens Schwen­ der, Köln 2014, S. 96–108, hier S. 97). 289 Vgl. grundlegend Lobinger, Katharina: Visuelle Stereotype. Resultate besonderer Bild-TextInteraktionen. In: Visuelle Stereotype. Hrsg. von Thomas Petersen/Clemens Schwender, Köln 2014, S. 109–122. 290 Vgl. Schwender, Clemens/Thomas Petersen: Visuelle Stereotype in der Kommunikations­ forschung. In: Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung. Hrsg. von Katharina Lobinger, Wiesbaden 2016 (Springer Reference Sozialwissenschaften), S. 1–23, hier S. 8.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 115

Dabei wird jedoch die Untersuchung formaler Aspekte nicht grundsätzlich abge­ lehnt, sondern in Anwendung auf konkrete Medien- und Kommunikationssitua­ tionen als gewinnbringend eingefordert.²⁹¹ Trotz der Vielzahl an disziplinären Zugängen, die zu unterschiedlichen Ge­ wichtungen und Spezifizierungen von Teilaspekten des Stereotyp-Begriffs geführt haben²⁹², lässt sich für grundlegende Elemente eine große Übereinstimmung fest­ stellen. So halten auch Thomas Petersen und Clemens Schwender in der Ein­ führung ihres Sammelbands zu visuellen Stereotypen fest, dass sich die Autorin­ nen und Autoren ungeachtet ihrer verschiedenen wissenschaftlichen Kontexte und methodischen Zugänge „im Verständnis des Begriffs ‚Stereotyp‘ [. . . ] alle er­ staunlich einig“²⁹³ seien. Im Folgenden sollen zentrale Aspekte, die in verschie­ denen Forschungskontexten wiederholt auftauchen und für diese Untersuchung relevant sind, aufgeführt werden. Zudem sei kurz erläutert, in welchem Verhältnis der Stereotyp-Begriff zu anderen hier verwendeten Termini steht. Ruth Amossy bringt zwei zentrale Dimensionen des Stereotyps miteinander in Verbindung, wenn sie schreibt: „Le stéréotype est le schème abstrait, la grille que l’esprit humain applique sur le monde pour mieux l’investir. Il varie infini­ ment selon les époques, les cultures, les milieux.“²⁹⁴ Das Stereotyp ist demnach eine kognitive Struktur, die dem Menschen Orientierung im Umgang mit den Phä­ nomenen der Welt ermöglicht. Zugleich wird diese Struktur durch soziale Interak­ tionen geprägt und prägt diese, worin sich die historisch-kulturelle Dimension des Stereotyps äußert. Für seine Untersuchung bedeutet dies, dass die spezifi­ schen Kontexte stereotyper Manifestationen berücksichtigt werden müssen, um sie als solche erkennen und beschreiben zu können.²⁹⁵ Formal lässt sich das Stereotyp als Wissensstruktur fassen, die eine TrägerMerkmal-Struktur im Sinne einer Eigenschafts- oder Verhaltenszuschreibung auf­ weist.²⁹⁶ Es handelt sich um eine abstrakte Kategorie auf der type-Ebene, die sich

291 Vgl. hier S. 10. 292 Die vielen Definitionen unterscheiden sich nicht nur interdisziplinär, sondern auch inner­ halb ein- und derselben Fachkultur. Maria Pümpel-Mader hat deshalb zu Recht darauf hinge­ wiesen, dass es in der Forschung keinen Konsens darüber gebe, was Stereotype sind (vgl. Püm­ pel-Mader, Personenstereotype, S. 12). Dennoch fällt auf, dass ein Kern von Aspekten in beinahe allen Beschreibungen von Stereotypen Erwähnung findet, wenn auch nicht immer in den Defini­ tionen selbst. 293 Petersen, Thomas/Clemens Schwender: Einleitung. In: Visuelle Stereotype. Hrsg. von Thomas Petersen/Clemens Schwender, Köln 2014, S. 7–11, hier S. 8. 294 Amossy, Les idées reçues, S. 24. 295 Vgl. Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 23 (Kap. 2, Anm. 270). 296 Ich folge hier der Konzeption Pümpel-Maders, die anders als einige andere Autorinnen und Autoren das Stereotyp notwendig als Relation beider Komponenten versteht und es nicht auf ei­

116 | 2 Theoretisch-methodologische Grundlegung

in unterschiedlichen zeichenhaften Manifestationen (tokens) äußern kann und damit um eine flächige Form der Bedeutungskonstitution.²⁹⁷ Als Trägerinstanzen werden in der bisherigen Forschung vor allem Personengruppen (definiert über Geschlecht, sexuelle Orientierung, Beruf, nationale oder religiöse Zugehörigkeit, Ethnizität, Alter, etc.) analysiert²⁹⁸, doch ist grundsätzlich festzuhalten und für diese Arbeit vorauszusetzen, dass Stereotype „sich auf alle Phänomene beziehen [können], die man in Gruppen einteilen und denen man generalisierende Eigen­ schaften zuordnen kann.“²⁹⁹ Darunter fallen neben Menschen etwa auch Tiere oder räumliche Zuordnungen.³⁰⁰ Die Wirkungsweise von Stereotypen lässt sich grundlegend als Komplexitäts­ reduktion beschreiben, die durch die Fokussierung eines oder weniger stereoty­ per Merkmale unter weitgehender Vernachlässigung der übrigen Merkmale ent­ steht.³⁰¹ In der Regel ist dieser Prozess von negativen oder positiven Emotionen

ne davon reduziert, wie etwa auf das Merkmal, das sich im verbalen Ausdruck manifestiert (vgl. Pümpel-Mader, Personenstereotype, S. 12–15). Allerdings müssen beide Instanzen nicht notwen­ dig in der zeichenhaften Aktualisierung realisiert werden. Beispielhaft nennt Pümpel-Mader das Wort ‚Mültükültüralizm‘, welches anhand der ü-Lautung die stereotype Trägergruppe ‚Türken‘ metonymisch (Träger → Merkmal) aufruft, ohne dass diese explizit formuliert würde (vgl. hier S. 33). 297 Vgl. auch Pleitner, Funktion von Stereotypen, S. 124: „Stereotypen als die einem Text zu­ grundeliegenden Muster der Unterscheidung und Beschreibung werden auf der Textebene durch verschiedenartige Textelemente (Textaufbau, Argumentationsstruktur, Metaphern, Allegorien, Mythen, Farbgebung, Ritualisierung, Bildaufbau usw.) dargestellt und vermittelt. Es ist ihnen auch möglich, direkt an der Textoberfläche zu erscheinen.“ 298 Vgl. etwa die Definitionen in Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 20 (Kap. 2, Anm. 270); Pümpel-Mader, Personenstereotype, S. 12; Quasthoff, Soziales Vorurteil, S. 28; Telus, Mag­ da: Gruppenspezifisches Stereotyp. Ein textlinguistisches Modell. In: Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Hrsg. von Hans H. Hahn, Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Mitteleuropa – Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas 5), S. 87–124, hier S. 115. 299 Schwender/Petersen, Visuelle Stereotype, S. 10 (Kap. 3, Anm. 290). 300 Hahn und Hahn verweisen z. B. auf die Stereotypisierung von Krake, unschuldigem Reh und Spinne sowie den stereotypisierenden Gebrauch von Himmelsrichtungen, die sich in Be­ griffen wie ‚Nord-Süd-Konflikt‘ und der Opposition von ‚West‘ und ‚Ost‘ in politischen Diskursen äußern (vgl. Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 21 [Kap. 2, Anm. 270]). 301 Dieses zentrale Charakteristikum ist in sämtlichen Beiträgen zum Stereotyp zu finden und stellt wahrscheinlich den Kern des Stereotyp-Begriffs dar. Besonders treffend formuliert Amossy (Amossy, Les idées reçues, S. 23): „Tout ce qui déborde malencontreusement cet ensemble de traits fixes réunis en un schème stable est relégué au rang de ‘restes’. Du point de vue de la mise en place du stéréotype, ces restes sont à peine problématiques. Dans la plupart des cas, le lecteur les saute purement et simplement.“

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 117

begleitet, denen eine wertend-amplifizierende Wirkung zukommt.³⁰² Stereotype haben darüber hinaus einen apriorischen Charakter: Als Verallgemeinerungen sind sie dem diskursiven Wissen³⁰³ zuzuordnen und durch Erfahrungen kaum fal­ sifizierbar, da gegenteilige Phänomene zu Ausnahmen erklärt werden.³⁰⁴ Stereotype Vorstellungen können auf vielfache Weise zeichenhaft aktualisiert werden. Amossy hat das Stereotyp als omnipräsent und zugleich ewig abwesend bezeichnet, da ein- und dasselbe Schema hunderte verschiedener Aktualisierun­ gen erfahren könne.³⁰⁵ Dem ist zweifellos zuzustimmen, doch hat allen voran die Linguistik und in jüngerer Zeit auch die Bildwissenschaft gezeigt, dass stark ver­ kürzte Schematisierungen nicht nur auf der inhaltlichen Ebene existieren, son­ dern sich auch formal in ihrer zeichenhaften Manifestation niederschlagen. Die vorliegende Arbeit kann auf die Typologie Pümpel-Maders³⁰⁶ und erste Ergebnis­ se der Erforschung visueller Stereotype³⁰⁷ zurückgreifen, um die konkreten For­ men der Stereotypisierung im religiösen Schauspiel zu analysieren. Ausschlaggebend ist für den Untersuchungszusammenhang dieser Arbeit, die nach persuasiven Strategien fragt, die Funktion von Stereotypen im Kommu­ nikationszusammenhang. Verschiedentlich wurde ein gruppenbildender Effekt

302 Vgl. Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 21 (Kap. 2, Anm. 270); Hentschel, Stereotyp und Prototyp, S. 34 (Kap. 2, Anm. 272); Lobinger, Visuelle Stereotype, S. 110 (Kap. 2, Anm. 289); Pleitner, Funktion von Stereotypen, S. 124 und Pümpel-Mader, Personenstereotype, S. 16. Pe­ tersen und Schwender weisen darauf hin, dass das Stereotyp (im Gegensatz zum Vorurteil) nicht notwendig und nicht immer negativ emotional aufgeladen ist, sondern formal Neutralität besitzt, die kontextbezogen ihre wertende Eigenschaft erhält (vgl. Petersen/Schwender, Ein­ leitung, S. 9 [Kap. 3, Anm. 293]). Auch Amossy betont die Bivalenz des Stereotyps (vgl. Amossy, Les idées reçues, S. 35–41). 303 Im Gegensatz zum Wissen aus Erfahrung (vgl. Spitzmüller/Warnke, Diskurslinguistik, S. 42). 304 Vgl. Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 22 und 25 (Kap. 2, Anm. 270) und PümpelMader, Personenstereotype, S. 21–28. 305 Vgl. Amossy, Les idées reçues, S. 23. 306 Pümpel-Mader hat Typen stereotyper sprachlicher Ausdrucksformen auf morphologischer und syntaktischer Ebene ausgemacht (für einen tabellarischen Überblick vgl. Pümpel-Mader, Personenstereotype, S. 69–73). Nicht alle der so bestimmten sprachlichen tokens sind für die vor­ liegende Arbeit einschlägig, doch konnte der Katalog als Heuristik dienen, um die Spieltexte auf sprachliche Formen der Stereotypisierung zu untersuchen. 307 So zeigt etwa Katharina Lobinger (Lobinger, Visuelle Stereotype [Kap. 2, Anm. 289]), wie im israelisch-palästinensischen Konflikt bildliche Darstellungen der Grenzsicherung durch be­ stimmte Selektion und Iteration symbolisch aufgeladen werden und eine verkürzte, emotionali­ sierte Wirklichkeitskonstruktion transportieren.

118 | 2 Theoretisch-methodologische Grundlegung

als zentrale kommunikative Funktion beschrieben. Hans H. und Eva Hahn zu­ folge bezeichnen Stereotype nicht nur bestimmte Gruppen, sondern sie tragen entscheidend zu ihrer Formierung bei, „weil durch die qualitative typisierende Bezeichnung der ‚Anderen‘ gleichzeitig eine qualitative Selbstbezeichnung, daß und wie ‚Wir‘ sind, vorgenommen wird.“³⁰⁸ Auf ähnliche Weise begründet Flavia Telus eine identitätsbildende Funktion des Stereotyps, wenn sie festhält, „daß das Zuschreiben von Eigenschaften im Stereotypisierungsverfahren die Kontu­ ren sozialer Gruppen und damit die Koordinaten der eigenen sozialen Position verdeutlicht.“³⁰⁹ Die Verwendung stereotypisierender Verfahren in Kommunika­ tionsmedien ist folglich eine Wirklichkeitskonzeption³¹⁰, die den Adressatinnen und Adressaten suggeriert, die Welt in den Kategorien des ‚Wir‘ und ‚Sie‘ zu sehen, und somit Inklusionsprozesse nach innen sowie Exklusionsprozesse nach außen verstärkt. Das Stereotyp transportiert also emotional-wertende Kategorisierun­ gen, in denen sich die Dimensionen des Evaluativen und Emotiven verbinden. Der Stereotyp-Begriff ist in der Vergangenheit immer wieder mit anderen wis­ senschaftlichen Termini in Verbindung gebracht worden, von denen einige auch in der vorliegenden Untersuchung Verwendung finden. Um Unklarheiten vorzu­ beugen und das Stereotyp-Konzept eindeutig zu verorten, sei im Folgenden knapp sein Verhältnis zu Topoi und Schlagwörtern erläutert. Stereotype können zumindest partiell einer spezifischen topischen Form zu­ gerechnet werden: den Topoi aus der Person (loci a persona), die in Kapitel 3 erneut von Interesse sind.³¹¹ Wie etwa auch Heiko Hausendorf anmerkt, ent­ sprechen Personenstereotype den inhaltlich fixierten Topoi aus der Person, die bereits in der antiken Rhetorik dazu genutzt wurden, „um in ein Thema einzu­ steigen und an Bekanntes und Eingeführtes anzuschließen.“³¹² Auch Stereotype sind unter anderem in einer Gesellschaft verankerte Verallgemeinerungen über Eigenschaften und Verhaltensweisen von Personengruppen. Sie sind jedoch nicht prinzipiell auf menschliche Gruppen beschränkt und gehen damit über den To­ pos aus der Person hinaus. Überdies unterscheiden sich Stereotype in einem wei­ teren wichtigen Punkt von Topoi, wie sie in dieser Arbeit verstanden werden. An­ ders als letztere stellen Stereotype keine argumentative Struktur dar. Während durch die Identifikation bestimmter Topoi Erkenntnisse über argumentative Mus­

308 Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 34 (Kap. 2, Anm. 270). 309 Telus, Gruppenspezifisches Stereotyp, S. 97 (Kap. 2, Anm. 297). 310 Nach Telus „ein bestimmter Entwurf der sozialen Wirklichkeit, ein Vorschlag zu ihrer Glie­ derung“ (hier S. 106). 311 Zum Wesensart-Topos als einer Spielart des Topos aus der Person vgl. Kapitel 3.1.1.3. 312 Hausendorf, Heiko: Zugehörigkeit durch Sprache. Eine linguistische Studie am Beispiel der deutschen Wiedervereinigung, Tübingen 2000 (Reihe Germanistische Linguistik 215), S. 4 f.

2.2 Das methodische Vorgehen: Verfahren der kulturbezogenen Textanalyse | 119

ter gewonnen werden können, die einem Text zugrunde liegen, ist das Konzept des Stereotyps eine Heuristik, die den Blick auf verkürzend-verallgemeinernde Verfahren lenkt. Diese können, aber müssen nicht notwendig der Evokation ei­ nes Topos dienen. Topos- und Stereotyp-Analysen haben inhaltliche Schnittstel­ len, verfolgen jedoch nicht das gleiche Erkenntnisinteresse. Erstere fragen nach grundlegenden argumentativen Strukturen, die einem Text eingeschrieben sind, wohingegen letztere darauf zielen, gängige Muster der sozialen Kategorisierung zu identifizieren, zu beschreiben und ggf. zu regulieren.³¹³ Die vorliegende Un­ tersuchung nutzt den Stereotyp-Begriff, um komplexitätsreduzierende Darstel­ lungsverfahren in den religiösen Spielen im Hinblick auf ihre persuasive Funkti­ on einzuordnen und konkrete Manifestationsformen als Aktualisierungen dieser persuasiven Strategie identifizieren und analysieren zu können. Terminologien wie Auto- und Heterostereotyp sowie Visiotyp weisen zudem eine gewisse Verwandtschaft mit dem Konzept des Schlagworts in seiner biva­ lenten Form (Stigmawort – Fahnenwort, Hochwertwort – Unwertwort) auf.³¹⁴ Wie Schlagwörter sind Auto- und Heterostereotyp und auch das Visiotyp Formen, die sich durch Verkürzung und Prägnanz auszeichnen und zur Unterscheidung zwi­ schen dem Eigenen und dem Fremden animieren. Da der Begriff des Visiotyps auf bildliche Zeichen begrenzt ist und sich explizit auf konkrete Manifestationen be­ zieht³¹⁵, weist er eine besondere Nähe zum Schlagbild auf. Um Dopplungen und damit einhergehende begriffliche Verwirrungen zu vermeiden, wird er in den Ana­ lyseteilen nicht gebraucht. Auto- und Heterostereotyp bewegen sich nicht auf der gleichen Abstraktionsebene wie Stigmawort und Fahnenwort. Letztere sind im­ mer auf der Textoberfläche angesiedelt und transportieren notwendig eine nega­ tive (Stigmawort) oder positive (Fahnenwort) Wertung, die mit einem Appell ver­ bunden ist (deontische Eigenschaft). In Auto- und Heterostereotyp oder, in den Worten Hahns und Hahns, „dem Bild, das man sich von sich selbst macht (samt

313 Die Regulation des Gebrauchs von Stereotypen ist insbesondere in didaktischen und ethi­ schen Arbeiten intendiert (vgl. z. B. Elliott, Deni: Ethical Responsibilities and the Power of Pic­ tures. In: Images that Injure. Pictorial Stereotypes in the Media. Hrsg. von Susan Dente Ross/ Paul M. Lester. 3. Aufl., Santa Barbara, Denver, Oxford 2011, S. 9–19). 314 Dies gilt selbstverständlich auch für die analogen Bildungen Schlagbild, Schlaggeste und Schlaglaut, die im Folgenden immer mitgedacht sind, aber aus sprachökonomischen Gründen nicht jeweils genannt werden. 315 Uwe Pörksen bezeichnet das Visiotyp als „Typus sich rasch standardisierender Visuali­ sierung“ und bringt es explizit mit dem Schlagbild-Begriff in Verbindung (Pörksen, Visiotype, S. 27 f.). Vgl. auch Bleuel, die emotionale Visiotype „als materielle, reproduzierbare Abbilder [definiert], die immaterielle, teilweise stereotype Denkbilder erzeugen und zu kommunikativen Zwecken über ein Trägermedium an ein Massenpublikum gerichtet sind“ (Bleuel, Emotionale Visiotype, S. 97 [Kap. 2, Anm. 288]).

120 | 2 Theoretisch-methodologische Grundlegung

den Werturteilen, die damit verbunden sind) und dem Bild, das man von den An­ deren hat“³¹⁶, ist der Ausschlag der Wertung nicht festgelegt.³¹⁷ Darüber hinaus handelt es sich um eine abstraktere Kategorisierung, der konkrete Manifestatio­ nen an der Textoberfläche zugeordnet werden können. Stereotype und Schlag­ wörter stehen folglich in einem type-token-Verhältnis und können in der Analyse ergänzend gebraucht werden.

316 Hahn/Hahn, Nationale Stereotypen, S. 28 (Kap. 2, Anm. 270). 317 Ein Autostereotyp kann etwa negativ sein, wohingegen ein Fahnenwort notwendig in positi­ ver Weise auf die eigene Gruppe bezogen ist.

3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien Die Festzeiten des Kirchenjahres, in deren Rahmen die religiösen Spiele gezeigt wurden, erfüllten meditative und soziale Funktionen. Zentrale heilsgeschichtli­ che Ereignisse sollten aktualisiert und vom Einzelnen verinnerlicht und zugleich die Gemeinschaft der Gläubigen konsolidiert werden. In diesem Kontext sind die Stoffe der Spiele – das Leben Christi, Episoden des Alten Testaments sowie Antichrist und Weltgericht – nicht als schlicht gegebene Größen zu verstehen. Das Jahrhunderte alte bzw. noch ausstehende Geschehen musste den Menschen verständlich und sein Bezug zu ihrer Lebenswelt deutlich gemacht werden. Die erfolgreiche Kommunikation der christlichen Botschaft setzte also voraus, dass es den Spielen gelang, ihrem Publikum die Aktualität und Relevanz des jeweils vorgetragenen Gegenstands zu vermitteln. Hier ist der spezifische Zuschnitt, den sie ihrem Stoff geben, von Interesse. Obwohl dieser jeweils mindestens in seinen Grundzügen als bekannt vorausgesetzt werden konnte, leistet das religiöse Schau­ spiel eine instruktive Moderation, die dem Dargestellten eine bestimmte Perspek­ tive einschreibt. Ausgehend von der Lektüre der Spiele lässt sich feststellen, dass sie ihren heilsgeschichtlichen Inhalt als Bedrohungsszenario¹ konstruieren, das die zeitgenössischen Zuschauerinnen und Zuschauer betrifft und so die Notwen­ digkeit, ja Dringlichkeit der Aufführung unterstreicht. Die Heilsgeschichte erhält eine spezifische Dynamik: Das christliche Lebensmodell wird als durch wider­ streitende Mächte bedroht konkretisiert und damit der Appell verbunden, sich auf christliche Werte und Normen zu besinnen und als Gemeinschaft gegenüber einer antagonistischen Position zu agieren. In den beiden genannten Aspekten äußert sich die eingangs angesprochene meditative und soziale Funktion, auf wel­ che die instruktive Persuasionsstragegie zielt. Die Spiele nutzen Narrative, die in der jeweiligen Stofftradition und in der zeitgenössischen Vorstellungswelt veran­ kert sind, um Bedrohungsszenarien plausibel zu generieren.² Die Topos-Analyse

1 Ein Szenario ist hier allgemein als ein Schema zu verstehen, das die grundlegenden Elemen­ te einer Handlung oder einer Handlungsfolge umfasst. Vgl. dazu die Definitionen des Dudens (https://www.duden.de/rechtschreibung/Szenario, 29. Juli 2020) und des Petit Robert de la lan­ gue française (https://petitrobert12.lerobert.com/robert.asp, 29. Juli 2020). Demzufolge ist ein Be­ drohungsszenario das Schema einer Handlung oder einer Handlungsfolge, die eine Bedrohung darstellt. 2 Auch Fabian Fechner u. a. betonen, dass das Anknüpfen an bestehende Deutungsmuster ein zentrales Charakteristikum dafür ist, dass eine Bedrohungskommunikation – sogar im Falle ei­ nes unzutreffenden Realitätsstatus – Erfolg hat: „Die kollektive Deutung des Status quo muss https://doi.org/10.1515/9783110740486-003

122 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

erscheint zur Untersuchung dieser Strukturen besonders geeignet, da sie weiter von der Textoberfläche entfernte, auf der konzeptuellen Ebene liegende Mus­ ter aufdecken kann, die den konkreten Äußerungen zugrunde liegen. Sie zielt folglich auf die Identifikation und Interpretation von Argumentationsmustern auf der Diskursebene ab, welche die Bedrohungsszenarien im Sinne inhaltlicher Bestandteile der Spiele auf der Histoire-Ebene motivieren und strukturieren.

3.1 Der Bedrohungs-Topos Aus der Lektüre der im Korpus enthaltenen religiösen Spiele konnte ein meso­ kontextbasierter Topos extrahiert werden, der – in unterschiedlichen Ausgestal­ tungen – ein Bedrohungsszenario entwirft, das die Aufführung als dringliches Anliegen erweist. In diesem Szenario stehen christliche Werte und Normen sowie christliche Lebensgemeinschaften infrage und werden auf verbaler (z. B. durch Verkündigung alternativer Glaubensvorstellungen) wie physischer Ebene (z. B. durch die Verfolgung von Christen) angegriffen. Es wird jeweils ein Gegendis­ kurs auf die Bühne gebracht, der zwar stets als falsch entlarvt wird, aber dessen Präsenz eine unmittelbare Dringlichkeit suggeriert, die als richtig präsupponier­ te, christliche Position zu aktualisieren und zu verteidigen. Die Relevanz der Aufführung erscheint vor dem Hintergrund eines solchen Bedrohungsszenarios unmittelbar einleuchtend. Der Bedrohungs-Topos basiert auf dem Muster Wenn eine Bedrohungssituation eintritt, muss gehandelt werden, um sie zu bewältigen, das sich auf das Kausalschema nach Grund und Folge (1. Großklasse bei Kien­ pointner) zurückführen lässt. Für seine mesokontextbasierte Verwendung im Schauspiel kann es wie folgt formuliert werden: Weil das christliche Lebensmodell unserer Gemeinschaft bedroht ist, ist die Aufführung des (jeweiligen) religiösen Schauspiels eine notwendige Verteidigungsmaß­ nahme. Durch den Bedrohungs-Topos liegt eine grundlegende Argumentationsstruktur der untersuchten religiösen Spiele vor, die zwar inhaltlich angereichert ist, aber doch allgemein genug bleibt, um in Spielen mit unterschiedlichen Inhalten Ver­

innerhalb des gesellschaftlichen und kulturellen Rahmens glaubhaft sein und an bereits existie­ rende Deutungsmuster (frames) oder Narrative anknüpfen, was auch für strategisch verbreitete Deutungen gilt. Selbst wenn eine wissenschaftliche Analyse zeigt, dass ihr Realitätsstatus in­ szeniert ist, sind sie, sofern sie glaubhaft vermittelt werden, handlungsleitend.“ (Fechner u. a., Bedrohungskommunikation, S. 163 [Kap. 2, Anm. 161]).

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

123

wendung zu finden. Im Folgenden sollen zwei kontextbasierte Lesarten des Be­ drohungs-Topos analysiert werden, die ihre argumentative Kraft aus der hier vor­ gestellten mesokontextbasierten Form ziehen. Indem aufgrund verschiedener ha­ bitualisierter Zuschreibungsmuster ein Kollektiv als Bedrohung der christlichen Gemeinschaft ausgewiesen wird, legitimiert das Schauspiel sich selbst als Ver­ teidigungsmaßnahme. Die Untersuchung von antijüdischen Topoi in Passions­ spielen und Antichristspielen sowie von antiprotestantischen Topoi in einem An­ tichristspiel des sechzehnten Jahrhunderts können dabei nicht nur zeigen, wie ein Gegendiskurs zu Legitimationszwecken funktionalisiert wird, sondern legen auch Wandlungsprozesse topischer Konzeptionen in unterschiedlichen histori­ schen Kontexten offen.

3.1.1 Antijüdische Topoi in Passionsspielen Passionsspiele bringen einen Stoff auf die Bühne, dem eine antagonistische Struk­ tur zwischen dem Erlöser Jesus Christus und dessen Feinden, die seinen für die christliche Heilsbotschaft zentralen Opfertod herbeiführen, eingeschrieben ist. Obwohl sowohl christliche als auch außerchristliche Quellen Jesu Hinrichtung unter römischer Gerichtsbarkeit bezeugen³, wurden die Feinde Jesu seit dem frü­ hen Christentum mit den Juden identifiziert. Pauschalisierende Abgrenzungen finden sich bereits im Neuen Testament, in besonderer Ausprägung im JohannesEvangelium.⁴ Auch die Passionsspiele inszenieren die Heilsbotschaft Jesu samt ei­ nem jüdischen Gegendiskurs und formen so das Bild einer prekären christlichen Glaubensgemeinschaft, die von jüdischer Seite abgelehnt und in ihrer Existenz bedroht wird. Es handelt sich um ein ‚historisches‘ Bedrohungsszenario, da im Rahmen der in den Evangelien kommunizierten Geschichtsauffassung die Biogra­ phie Christi als real vollzogener Wendepunkt in der Geschichte verstanden wird, der das Reich Gottes eröffnet und das Zeitalter der göttlich autorisierten christli­

3 Vgl. Lanczkowski, Günter u. a.: Kreuz. In: Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Horst R. Balz u. a. Bd. 19, Berlin, New York 1990, S. 712–779, hier S. 713–719. Alle für den einschlägigen Zeitraum bezeugten Kreuzigungen in Palästina wurden laut Lanczkowski u. a. darüber hinaus von Römern gegenüber Aufständischen und ihren Sympathisanten durchgeführt (vgl. hier S. 714). 4 Für eine umfassendere Darstellung und Kommentierung der christlichen Adversus Judae­ os-Tradition vgl. Schreckenberg, Heinz: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr lite­ rarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jh.). 4., überarb. und erg. Aufl., Frankfurt a. M. u. a. 1999 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 23. Theologie 172); zum Johannes-Evangelium vgl. hier insbesondere S. 94–97.

124 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

chen Kirche initiiert.⁵ Die Aufführung des Geschehens bedeutet jedoch zugleich eine performative Aktualisierung, die das Bedrohungsszenario erfahrbar macht und damit in die zeitgenössische Gegenwart bringt.⁶ Sie stellt den Vorwurf des Gottesmords besonders eindrücklich vor Augen und überträgt ihn auf zeitgenös­ sische Juden: Diese stehen nicht nur aufgrund der Blutschuld (Mt 27,24) mit ih­ ren Vorfahren in direkter Verbindung, sondern perpetuieren das Bedrohungssze­ nario auch durch ihre fortwährende Verweigerung der Anerkennung Christi und des Christentums.⁷ In diesem Denken manifestiert sich die Auffassung, dass das Fortbestehen jüdischer Glaubensgemeinschaften eine beständige Bedrohung des christlichen Lebensmodells darstelle. Die inhaltlich stärker angereicherte Spielart des Bedrohungs-Topos, den die Passionsspiele so etablieren, lässt sich in Anleh­ nung an seine mesokontextbasierte Formulierung wie folgt greifen: Weil die Juden unsere christliche Gemeinschaft bedrohen, ist die Aufführung des (jeweiligen) Passionsspiels eine notwendige Verteidigungsmaßnahme. Die Darstellung der Juden ist eines der intensiv beforschten Felder der Gattung des deutschsprachigen Passionsspiels.⁸ Für den Bereich der französischen mys­

5 Vgl. Rudolph, Kurt u. a.: Geschichte/Geschichtsauffassung. In: Religion in Geschichte und Ge­ genwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a., Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 776–798, hier Sp. 785 f. 6 Zur „Enthistorisierung des biblischen Geschehens“ vgl. Frey, Winfried: Pater noster Pyrenbitz. Zur sprachlichen Gestaltung jüdischer Figuren im deutschen Theater des Mittelalters. In: Asch­ kenas 2 (1992), S. 49–71, hier S. 55–57, der eine Reihe von Belegen aus verschiedenen deutsch­ sprachigen Schauspielen anbringt, die zeigen, dass die Kostümierung der Darsteller, die jüdische Figuren verkörperten, zeitgenössischen Gepflogenheiten entsprach und gerade keinen Versuch der Historisierung erkennen lässt. 7 Dass die Spiele tatsächlich Aversionen gegen zeitgenössische Juden schürten, zeigen beispiels­ weise Fälle aus den Städten Frankfurt am Main und Freiburg im Breisgau. Im ersten Fall bezeugt ein im Bürgermeisterbuch festgehaltener Ratsbeschluss aus dem Jahr 1469, dass den in der Stadt lebenden Juden aus Sicherheitsgründen vorgeschrieben wurde, sich während der Aufführung von religiösen Schauspielen in ihren Häusern einzuschließen (vgl. Froning, Richard: Das Drama des Mittelalters. Die lateinischen Osterfeiern und ihr Entwicklung in Deutschland. Die Osterspie­ le. Die Passionsspiele. Weihnachts- und Dreikönigsspiele. Fastnachtspiele, Darmstadt (1891/92) 1964, S. 540). In Freiburg im Breisgau fürchtete man offenbar die Auswirkungen judenfeindlicher Spiele auf die jüdische Stadtbevölkerung so sehr, dass man im Jahr 1338 Spiele mit antijüdischen Elementen ausdrücklich verbot (vgl. Neumann, Geistliches Schauspiel I, S. 337). 8 Die große Zahl der Untersuchungen kann hier nicht umfassend aufgeführt werden. Es sei je­ doch auf einige besonders einschlägige Arbeiten hingewiesen, die sich auch mit Spielen, die Teil des Untersuchungskorpus sind, beschäftigen. Edith Wenzels Monographie ist eine zentrale Stu­ die zu antijüdischen Aspekten in deutschsprachigen Spielen; sie behandelt Passionsspiele – un­ ter anderem auch AlPs – und die judenfeindlichen Fastnachtspiele des Hans Folz (vgl. Wenzel,

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

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tères de la Passion liegen weniger zahlreiche Arbeiten vor, die die Inszenierung von Juden analysieren.⁹ Dieser Befund ist allerdings nicht darauf zurückzufüh­ ren, dass die bestürzende Judenfeindlichkeit vieler deutscher Passionsspiele ein Phänomen des deutschsprachigen Raums wäre. Die folgenden Analysen, die alle Passionsspiele des Korpus berücksichtigen, zeigen, dass antijüdische Topoi in der Struktur deutsch- und französischsprachiger Passionsspiele fest verankert sind und als Teil eines Bedrohungs-Topos fungieren, der den Passionsstoff in spezifi­ scher Weise konkretisiert, um die Relevanz seiner Aufführung zu erweisen. 3.1.1.1 Konkurrenz-Topos Die große Mehrheit der behandelten Passionsspiele inszeniert die Auseinander­ setzung zwischen Jesus und dem mehr oder weniger stereotypisierten Kollektiv der Juden als Wettstreit zweier konkurrierender Glaubens- und Lebensmodelle. Damit folgen die Spiele einerseits biblischen Vorgaben, denn in den Evangelien tauchen immer wieder jüdische Schriftgelehrte als Kontrahenten Jesu auf, die um ihr eigenes Ansehen fürchten und versuchen, ihn durch Fangfragen in die Irre

Edith: Do worden die Judden alle geschant. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen. München 1992 [Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur (FGADL) 14]). Auch Natascha Bremer beschäftigt sich in ihrer Monographie mit der Darstellung von Ju­ den in Passionsspielen (u. a. WoPs und AlPs) und setzt diese mit ikonographischen Traditionen in Zusammenhang (vgl. Bremer, Natascha: Das Bild der Juden in den Passionsspielen und in der bildenden Kunst des deutschen Mittelalters. Frankfurt am Main, Bern, New York 1986 [Euro­ päische Hochschulschriften. Deutsche Sprache und Literatur 1,892]). Einschlägige Aufsätze, die neben dem Donaueschinger Passionsspiel häufig AlPs und WoPs behandeln, sind z. B. Frey, Pa­ ter noster Pyrenbitz; Rommel, Florian: ob mann jm vnrehtt thutt, so wollenn wir doch habenn sein blutt. Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters. In: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feinbilder – Rechtfertigungen. Hrsg. von Ursula Schulze, Tübingen 2002, S. 183–207 und Wolf, Monika: so tünd ich dir verbinden din ougen vnd brich dir din baner ouch en zweÿ. Ecclesia und Synagoge in fortwährendem Streit. In: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hrsg. von Ursula Schulze, Tübingen 2002, S. 35–58. 9 Zu nennen sind Dahan, Gilbert: Les juifs dans le théâtre religieux en France du XIIe au XIVe siècle. In: Archives juives 13 (1977), S. 1–10 (in nur leicht variierter Form erneut abgedruckt in Dahan, Gilbert: Les juifs en France médiévale. Dix études. Préface de Danièle Iancu-Agou, Pa­ ris 2017 (Nouvelle Gallia Judaica 10), S. 157–174) ; Lazar, Moshé : Enseignement et spectacle. La Disputatio comme scène à faire dans le drame religieux du moyen-âge. In : Scripta Hierosolymi­ tana XIX (1967), S. 126–151 ; Lifschitz-Golden, Manya : Les juifs dans la littérature française du Moyen Âge (Mystères, Miracles, Chroniques). New York 1935 ; Pflaum, Heinz : Les scènes de juifs dans la littérature dramatique du Moyen Âge. In: Revue des études juives 89 (1930), S. 111–134 und Strumpf, David: Die Juden in der mittelalterlichen Mysterien-, Mirakel- und Moralitätendichtung Frankreichs. Ladenburg 1920.

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zu führen und schließlich auf seinen Tod sinnen.¹⁰ Andererseits lassen die Aus­ wahl und Erweiterung einer signifikanten Menge solcher Episoden und ihre dra­ matische Ausgestaltung darauf schließen, dass diesem Aspekt in der Konzeption der Passionsspiele eine Bedeutung beigemessen wurde, die über die bloße Wie­ dergabe des autoritativen Bibeltextes hinausgeht. Viele Passionsspiele des Kor­ pus berücksichtigen in ihrer Auswahl der kanonisch oder apokryph überlieferten Episoden auffallend viele Szenen, die den jüdischen Widerstand gegen Jesus the­ matisieren und erweitern diese zum Teil erheblich. Demgegenüber integrieren sie zum Beispiel häufig eine geringere, offenbar als repräsentativ empfundene An­ zahl der Wundertaten Jesu.¹¹ Die konkrete Ausgestaltung insbesondere der Ver­ schwörungsszenen weist in allen Spielen (mit Ausnahme von WoPs) recht um­ fangreiche Erweiterungen in Bezug auf die sehr knappe biblische Vorlage¹² auf und verdeutlicht für das Publikum, warum die Juden Jesus fürchten und gegen ihn komplottieren. Das den Spielen eingeschriebene Argumentationsmuster lässt sich mithil­ fe des Topos-Konzepts fassen und wird hier als Konkurrenz-Topos bezeichnet. Ausgehend von dem grundlegenden Verständnis eines Wettstreits, in dem (min­ destens) zwei Beteiligte miteinander wetteifern und Sieg und Niederlage konsti­ tutiv sind, etabliert dieser Topos ein Kausalschema nach Ursache und Wirkung zwischen der inszenierten jüdisch-christlichen Konkurrenz-Situation und der vermeintlichen jüdischen Bedrohung. Um eine Niederlage im Wettstreit um den rechten Glauben und die richtige Lebensführung zu vermeiden, trachten dem­

10 Vgl. beispielsweise die Fragen zu Ehescheidung (Mt 19,3–12; Mk 10,2–12; Lk 16,14–18), kai­ serlicher Steuer (Mt 22,15–22; Mk 12,13–17; Lk 20,20–26), dem höchsten Gebot (Mt 22,34–40; Mk 12,28–34) und der Bestrafung der Ehebrecherin (Joh 8,3–11) sowie den Tötungsplan des Hohen Rats (Mt 26,1–5, Mk 14,1–2; Lk 22,1–2; Joh 11,45–54). 11 Um nur ein Beispiel herauszugreifen: MaPs enthält bis zur Ergreifung Jesu durch die Juden siebzehn Szenen, die die jüdische Verschwörung gegen ihn und direkte Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden zum Thema haben und an verschiedenen Stellen über die bibli­ sche Vorlage hinausgehen. Die Anzahl von zehn Szenen, welche Jesu Wundertaten zeigen, fällt im Vergleich recht gering aus und spart viele biblische Episoden aus (z. B. die Heilung des gelähm­ ten Knechts des Hauptmanns von Kafarnaum (Mt 8,13) oder die der Kranken durch Berühren sei­ nes Mantelsaums [Mt 14,35–36]). In manchen Spielen wird der Passionsstoff von Anfang an als christlich-jüdischer Konflikt eingeführt, indem Szenen, die die Gegnerschaft der Juden zeigen, am Anfang positioniert werden (vgl. PfPs und, vermittelt über die Teufel, auch AlPs). 12 Matthäus, Markus und Lukas halten etwa die Tötungsabsicht lediglich in einem Satz fest (Mt 26,3–4, Mk 14,1–2; Lk 22,1–2), ohne dass die eigentlichen Beratungen wiedergegeben würden, und formulieren keine Erklärungen des Handlungsmotivs. Am ausführlichsten stellt das Johan­ nes-Evangelium die Beratung dar (Joh 11,47–53), doch gehen die Passionsspiele i. d. R. auch über dessen Wortlaut und Inhalt hinaus.

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

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nach die Juden nach der Auslöschung Christi und mithin auch der Christen.¹³ Dieses Schlussschema liefert die Begründung für das antijüdische Bedrohungs­ szenario, das letztlich die Relevanz der Aufführung als Verteidigungsmaßnahme fundiert. Der auf den Stoff der Passionsspiele zugeschnittene und deshalb kon­ textbasierte Konkurrenz-Topos kann wie folgt formuliert werden: Weil die Juden Christus und die Christen als Konkurrenten in einem Wettstreit um den rechten Glauben und die richtige Lebensführung sehen, wollen sie sie vernich­ ten und stellen somit eine unmittelbare Bedrohung für die christliche Gemeinschaft dar (und die Aufführung des (jeweiligen) Passionsspiels ist folglich eine notwendige Verteidigungsmaßnahme). Die übergreifende Präsenz des Konkurrenz-Topos in den Passionsspielen des Korpus lässt sich anhand der Reden jüdischer Figuren nachweisen. Diese the­ matisieren wiederholt und in Erweiterung der biblischen Vorlage das Konkur­ renz-Verhältnis über den Gesetzes-Begriff. In den französischen Spielen ist dieser überwiegend durch das Lexem loy wiedergegeben. Darüber hinaus finden sich in unterschiedlicher graphischer Realisierung auch weitere Lexeme aus dem Wort­ feld ‚Gesetz‘, wie droit oder, in der Funktion einer pars pro toto-Synekdoche, sabbat. Die Spiele des deutschen Sprachraums weisen insbesondere die Lexeme ee, gsatz und lere in variierenden Graphien auf. PaPs erweitert die Szenen, in denen Jesus vor den Hohepriester Cayfas sowie Pilates und Herode geführt wird, durch die Reden jüdischer dramatis personae, welche die Gefährdung ihres Gesetzes als Grund für die Notwendigkeit der Verur­ teilung Jesu herausstellen. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in der Rede eines Juden (Uns Juis), der gegenüber Cayfas anführt: Je vous di, sire, creëz moy, S’il vit, il destruira la loy. Pour ce est drois que on l’ocie, Que la loy n’en soit abessiee. (V. 305–308)

Ich sage Euch, Herr, glaubt mir, wenn er am Leben bleibt, wird er unser Gesetz zerstören, deshalb ist es rechtmäßig, dass wir ihn töten, damit das Gesetz nicht herabgewürdigt wird.

13 Es liegt hier ein Grund-und-Folge-Schlussschema vor, das sich auf eine Relation zwischen Intention und Handlung bezieht und eine stärker inhaltlich angereicherte Variante des folgen­ den Schlussschemas bei Ottmers darstellt: „Wenn eine Person ein Handlungsziel nur durch bestimmte Handlungen erreichen kann, dann wird sie diese Handlungen ausführen.“ (Ottmers, Rhetorik, S. 98, Hervorhebung im Original). Da in der Darstellung der christlichen Literatur die Juden alle Streitgespräche mit Jesus (oder anderen Vertretern des Christentums) ver­ lieren, erscheint Gewalt als die einzige verbleibende Handlungsoption.

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Auch an anderer Stelle kommunizieren jüdische Figuren ein antagonistisches Ver­ hältnis zwischen Jesus und ihrem Gesetz, das eine Koexistenz ausschließt und das Vorgehen gegen ihn stets in einen Zusammenhang mit der Verteidigung des Eige­ nen bringt.¹⁴ Der Gesetzes-Begriff (loy) wird in dieser Verwendung, meist in Ver­ bindung mit dem Possessivpronomen nostre, auf der immanenten Bedeutungs­ ebene zum Fahnenwort für eine kollektive jüdische Identität, die keine weitere inhaltliche Spezifizierung erfährt, sondern ihr Profil aus der Kontrastierung zu Christus und dem christlichen Gesetz gewinnt. In SGPs, das mit 4477 Versen nicht zu den grandes Passions zählt, aber den­ noch bereits bedeutend umfangreicher ist als PaPs (1996 Verse), lässt sich eine Intensivierung der bereits in PaPs beobachteten Strukturen erkennen. Die Unter­ redungen der Juden sind weiter ausgestaltet und die Opposition von nostre loy und der nouvelle loy ist der zentrale Gegenstand, um den sich die Verschwörung gegen Jesus entspinnt. In der ersten Szene, die die jüdische Reaktion auf das Wirken Je­ su zeigt, beschließen die Figuren Marquin und Vivant, den Rat der Juden über die Aktivitäten Jesu zu informieren, da sie diese als Bedrohung ihres eigenen Gesetzes empfinden. Marquin spricht: Nostre loy sera partans morte. Jhesu novelle loy aporte, Et va preschant par ceste terre Pour nos gens a sa loy conquerre ; Converty en a grant partie. (V. 475–479)

Unser Gesetz wird folglich zugrunde gehen. Jesus bringt ein neues Gesetz und zieht predigend durch dieses Land, um unser Volk für sein Gesetz zu gewinnen. Er hat schon einen großen Teil bekehrt.

Auch in den folgenden Dialogen, die die jüdische Ablehnung Jesu zeigen, ist loy das zentrale Schlagwort, welches in Kollokation mit nostre zum jüdischen Fah­ nenwort auf der immanenten Bedeutungsebene wird. Durch die wiederholte Be­ zeichnung der Lehren Jesu als nouvelle loy¹⁵, die eine sprachliche Analogie zwi­ schen dem Gesetz der Juden und den Lehrinhalten Jesu herstellt und somit einen konkurrierenden Geltungsanspruch impliziert, erscheint Jesus als Konkurrent der Juden, dessen Wirken stets zum Schaden ihres Gesetzes geschieht.¹⁶ 14 Vgl. Qui par le païs va preeschant / Et nostre loy amenuisant (V. 323 f.; „der predigend durch das Land zieht und unser Gesetz herabwürdigt“); Car se vivre l’en lessoit / Toute nostre gent destruiroit / Et la nostre loy abatroit (V. 428 f.; „denn wenn wir ihn am Leben ließen, würde er unser gesamtes Volk zerstören und unser Gesetz niederschlagen“); Pilates, nostre loy defant. (V. 685; „Pilates, verteidige unser Gesetz.“). 15 Vgl. V. 476, 1491, 1927, 2142; vgl. auch novelle creance („neuer Glaube“) in V. 1888. Auf der immanenten Bedeutungsebene fungiert der Ausdruck folglich innerhalb des jüdischen Kollektivs als Stigmawort für den christlichen Glauben. 16 Vgl. z. B. V. 490 f.: Seigneurs, de nostre loy destruire / Ne cesse Jhesu, le trahistez („Ihr Herren, Jesus, der Verräter, hört nicht auf, unser Gesetz zu zerstören“). Vgl. außerdem V. 502, 513 f., 553 f.,

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 129

SGPs stellt darüber hinaus das Konkurrenzverhältnis besonders anschaulich durch ein allegorisches Zwischenspiel vor Augen. Auf die Longinus-Szene lässt es ein Streitgespräch zwischen der das Judentum repräsentierenden Synagogue, die auch den Namen Vielle Loy¹⁷ (altes Gesetz) trägt, und Saincte Église (heilige Kirche), der Personifikation des Christentums, folgen. Die Disputation der alle­ gorischen Frauengestalten Ecclesia und Synagoge, die den alten und den neuen Bund verkörpern, ist ein Motiv, das im Mittelalter sowohl literarisch als auch iko­ nographisch vielfach ausgestaltet wurde. Die frühesten Quellen sind theologische Texte des fünften Jahrhunderts.¹⁸ Bildliche Darstellungen finden sich seit dem neunten Jahrhundert und integrieren im Laufe des späteren Mittelalters zuneh­ mend polemische, judenfeindliche Elemente.¹⁹ Seit dem Hochmittelalter werden ein zerbrochenes Banner, die ihrer Hand entgleitenden Gesetzestafeln und vor allem geschlossene oder verbundene Augen als Signum der Blindheit zu wich­ tigen Attributen der Synagoge, die – im Gegensatz zur Ecclesia – ihren königli­ chen Nimbus mehr und mehr verliert.²⁰ Die Disputations-Szene in SGPs ist eine der ältesten dramatischen Bearbeitungen des Streitgesprächs, die heute überlie­ fert sind.²¹ Anders als die Ausgestaltung in AlPs, die später noch Erwähnung fin­ den wird, ist in SGPs das eigentliche Streitgespräch sehr kurz gehalten (69 Ver­

623 f., 1473–1479, 1484 f., 1491–1496, 1740 f., 1747 f., 1799–1804, 1840 f., 1855 f., 1887 ff., 1927 ff., 2140–2143, 2691, 3895 f. 17 Der Name erscheint sowohl im Nebentext als Teil der Regieanweisung, die jeweils die Bezeich­ nung der sprechenden Figur vermerkt (vgl. die Regieanweisung nach V. 3076), als auch in Form einer Anrede, wenn Saincte Église ihre Kontrahentin unter dem Namen Vieille Loy (V. 3147) adres­ siert. 18 Es handelt sich um die lateinische pseudo-augustinische Schrift De altercatione Ecclesiae et Synagogae dialogus und einen weniger bekannten, syrischen Text, die sogenannte Sôgîtha. Heinz bzw. (in hebraisierter Form) Hiram Pflaum vermutet für beide Texte eine gemeinsame griechi­ sche Vorlage aus der byzantinischen Literatur, deren Entstehung er ebenfalls im fünften Jahr­ hundert ansetzt. Für eine ausführliche Besprechung der ältesten Quellen des Motivs vgl. Pflaum, Hiram: Der allegorische Streit zwischen Synagoge und Kirche in der europäischen Dichtung des Mittelalters. In: Archivum Romanicum XVIII (1934), S. 243–340, hier S. 250–261. Als direkte Vorla­ ge für den Eingang der Allegorie in die religiösen Schauspiele hat Pflaum zufolge ein lateinischer Text aus einer heute verlorenen, aber in einem Druck aus dem Jahr 1717 überlieferten Handschrift mit dem Titel Disputatio Ecclesiae et Synagogae gedient, den er Gilbert von Tournai zuschreibt und auf die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts datiert (vgl. hier S. 265–270). 19 Zur ikonographischen Tradition und zu ihrem Verhältnis zum religiösen Schauspiel vgl. We­ ber, Paul: Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst in ihrem Verhältnis erläutert an einer Ikonographie der Kirche und Synagoge. Eine kunsthistorische Studie, Stuttgart 1894 und Wolf, Ecclesia und Synagoge (Kap. 3, Anm. 8). 20 Vgl. hier S. 40 f. 21 Eine Disputations-Szene zwischen zwei allegorischen, den neuen und den alten Bund per­ sonifizierenden Figuren beinhalten neben SGPs (letztes Drittel vierzehnten Jh.) und AlPs (1501)

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se) und zitiert klassische Themen der christlich-jüdischen Auseinandersetzung (Dreifaltigkeit, Jungfräulichkeit Marias) mehr an, als dass eine tatsächliche Ar­ gumentation erfolgte. Die Figur der Synagogue bedroht vornehmlich ihre Kon­ trahentin (z. B. Je te creveray ton oiel destre, V. 3087; „ich werde dir dein rechtes Auge durchbohren“) und führt zur Verteidigung ihrer Stellung ausschließlich die Gültigkeit der loy d’encïenneté (V. 3110; „Gesetz des Althergebrachten“) gegenüber der nouvelleté (V. 3111; „Neuerung“) an. Sie wiederholt folglich das Oppositions­ schema, welches beständig in den Reden jüdischer Figuren kommuniziert wird. Die Redundanz macht den darüber transportierten Konkurrenz-Topos eingängi­ ger. Zugleich lässt sie es jedoch – auch mit Blick auf den reduzierten Inhalt des Streitgesprächs – wenig plausibel erscheinen, dass die allegorische Szene Ein­ gang in das Spiel gefunden hat, um das Publikum mit theologischen Argumenten vertraut zu machen und so auf einem höheren intellektuellen Niveau die Berech­ tigung der christlichen Überlegenheit über das Judentum zu erklären. Vielmehr kommt in der Szene der visuelle Aspekt der Allegorie zum Tragen. Der bisher vor allem sprachlich evozierte Konkurrenz-Topos erhält durch die sichtbare Konfron­ tation der Personifikationen des alten und des neuen Bundes eine unmittelbare Präsenz und Einprägsamkeit. Dem Autor des Spiels war die ikonographische Tra­ dition offensichtlich bekannt, da Synagogue und Saincte Église mit den klassi­ schen Attributen versehen sind, die die beiden Frauengestalten in den bildlichen Darstellungen des Mittelalters tragen. Synagogue führt eine Lanze mit sich, an der vermutlich ihr Banner befestigt ist und hält zudem die mosaischen Gesetzestafeln in den Händen.²² Es ist gut vorstellbar, dass ihr nach dem Sieg der Saincte Église durch den Engel, welcher den Schiedsspruch spricht, die Augen verbunden wer­

auch die Frankfurter Dirigierrolle (Anfang vierzehntes Jh.), die Passion de Sémur (Anfang 15. Jh.), das Donaueschinger Passionsspiel (letztes Drittel fünfzehntes Jh. oder Anfang sechzehntes Jh.), das Künzelsauer Fronleichnamsspiel (1479), das Fastnachtspiel Die Disputation (= Die alt und neu ee, Spiel Nr. 1 nach der Zählung in Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert. 3 Teile und Nachlese. Hrsg. von Adelbert Keller, Darmstadt (1858) 1966) des Hans Folz (um 1480) sowie ei­ ne Reihe von spanischen Autos sacramentales und Farsas aus dem sechzehnten Jahrhundert. Pflaum hat grundlegende Charakteristika der jeweiligen Dramatisierung für alle Spiele bespro­ chen (vgl. Pflaum, Der allegorische Streit, S. 288–331); zum Fastnachtspiel des Hans Folz vgl. au­ ßerdem die Darstellung Beatrice von Lüpkes, die eine verstärkte historische Kontextualisierung in der Stadt Nürnberg vornimmt (Lüpke, Beatrice von: Nürnberger Fastnachtspiele und städti­ sche Ordnung. Tübingen 2017 (Bedrohte Ordnungen 8), S. 92–99). 22 Da SGPs abgesehen von den Bezeichnungen der sprechenden Figuren keine weitergehenden Regieanweisungen enthält, sind die Informationen ausschließlich den Figurenreden zu entneh­ men. Synagogue bedroht Saincte Église mit ihrer Lanze (Ou je te turay de la lance, V. 3090; „oder ich werde dich mit der Lanze töten“) und verweist explizit auf die Gesetzestafeln, die sie offenbar in ihren Händen hält (Mais j’ay la loy Dieu en mes tables, V. 3103; „aber ich habe das Gesetz Gottes auf meinen Tafeln“).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 131

den, da im Anschluss mehrfach von ihrer Blindheit die Rede ist.²³ Ein zentrales Attribut der Ecclesia ist der den neuen Bund symbolisierende Kelch, mit dem sie das Blut des gekreuzigten Jesus aus seiner Seitenwunde auffängt.²⁴ Die Worte der Saincte Église in SGPs legen nahe, dass auch sie mit einem Kelch die ritualisier­ te Geste ausführt.²⁵ Die Figurenreden geben keine Auskunft darüber, ob Saincte Église mit den übrigen traditionellen Attributen der Ecclesia (Lanze mit weißer Fahne oder Kreuzstab, Krone) ausgestattet ist, doch lässt die sonstige große Nä­ he zur ikonographischen Tradition vermuten, dass auch diese Aspekte Teil der Kostümierung waren. Aufgrund der weiten Verbreitung bildlicher Darstellungen des Ecclesia-Synagoge-Motivs im öffentlichen Raum der Kirche²⁶ ist es sehr wahr­ scheinlich, dass dieses nicht nur dem Autor, sondern auch den Rezipientinnen und Rezipienten von SGPs bekannt war.²⁷ Die visuelle Prägnanz der Attribute und die mündlichen Explikationen, die ihnen zum Teil in der Figurenrede beigegeben 23 Saincte Eglise spricht Aussy as tu malvaise veue (V. 3157; „auch siehst du schlecht“) und die letzten Worte der Synagogue selbst sind Le chant que j’ay oÿ chanter / A toute aveuglee ma face ! (V. 3165; „Der Gesang, den ich singen hörte, hat mich völlig erblinden lassen“). Runnalls rechnet ebenfalls damit, dass in Übereinstimmung mit der ikonographischen Tradition der Synagoge die Augen verbunden werden, wie sich im Inszenierungshinweis, den er in seiner Edition der Szene beigibt, äußert: „Pendant son chant, l’ange bande les yeux de Synagogue, lui casse la bannière et les tablettes.“ (Während seines Gesangs verbindet der Engel die Augen der Synagoge, zerbricht ihr Banner und die Gesetzestafeln.) Die Zerstörung der Herrschaftsinsignien erscheint im Hinblick auf die Tradition ebenfalls wahrscheinlich. 24 Die Darstellung Ecclesias mit dem Kelch unter dem Kreuz findet sich bereits im ältesten ikono­ graphischen Zeugnis des Ecclesia-Synagoge-Motivs, einer um 850 entstandenen Elfenbeinarbeit, die sich heute auf dem Deckel des Perikopenbuchs des Kaisers Heinrichs II. befindet (München, Bayer. Staatsbibliothek, Cod. Lat. 4452, Cim. 57). Auch spätere Darstellungen zeigen sie häufig mit dem Kelch in der Hand (z. B. das Anfang des vierzehnten Jhs. entstandene Ecclesia-Medail­ lon des Tucher-Fensters im Freiburger Münster oder die Ecclesia-Tafel des Heilspiegelaltars, den der oberdeutsche Maler Konrad Witz zwischen 1430 und 1435 wahrscheinlich für die Augustiner­ chorherren-Stiftskirche St. Leonhard in Basel schuf, und die heute im Besitz des Kunstmuseums Basel ist). 25 Vgl. V. 3124–3127: Comme bien pert qu’il est pendu / En la crois, et tout respandu / Fut son sang ; et pour ce voir / Yci suy pour le recevoir. („denn es ist offensichtlich, dass er am Kreuz hängt und dass sein Blut vergossen wurde; und um dies zu sehen, bin ich hier, um es zu empfangen“). 26 Zum Konzept von Räumen als Teilöffentlichkeiten und den Spezifika der Kirchenräume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit vgl. Rau, Susanne und Gerd Schwerhoff: Öffentliche Räu­ me in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes. In: Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Köln, Weimar, Wien 2004 (Norm und Struktur. Stu­ dien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 21), S. 11–52, insbesondere S. 13–26 und 33–40. 27 Für die Region der Île-de-France, in dem SGPs zu verorten ist, können die Monumentalstatuen der Ecclesia und Synagoge genannt werden, die Teil der zwischen 1208 und 1225 entstandenen

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sind, machen die Allegorie jedoch auch für ‚Uneingeweihte‘ leicht verständlich. Die Personifikationen erfüllen so die Funktion von Schlagbildern, in denen sich auf der rekonstruierten Bedeutungsebene in kondensierter Form die widerstrei­ tenden Konzepte ‚alter Bund‘ und ‚neuer Bund‘ manifestieren. Die Figur der Syn­ agogue, charakterisiert durch die (zerbrochene) Lanze, die mosaischen Gesetzes­ tafeln und die geschlossenen oder verbundenen Augen, ist somit als Stigmabild zu verstehen, dem das Fahnenbild der Saincte Église gegenübersteht, welche sich durch den Kelch und eventuell Kreuzstab oder Banner sowie Krone auszeichnet. Indem die widerstreitenden Gesetze sich in verkörperter Form auf der Bühne ent­ gegentreten, wird der Konkurrenz-Topos visuell realisiert und für das Publikum in gesteigerter und besonders gut memorierbarer Form fassbar. Die Akte des Auffangens vom Blut Jesu mit dem Kelch und des Verbindens der Augen Synagogues sind in diesem Rahmen als Fahnen- beziehungsweise Stigmagesten zu verstehen, welche die gleiche Funktion erfüllen. MaPs und GrPs zählen mit 24.943 und 34.429 Versen zu den grandes Passi­ ons, die den Umfang aller anderen Passionsspiele des französischen und deut­ schen Sprachraums um ein Vielfaches übersteigen. Beide Spiele entfalten ein umfassendes christliches Geschichtskonzept, indem sie Leben, Tod, Auferste­ hung und Himmelfahrt Christi mit der Erbsünde in Verbindung bringen und dem Erlösungshandeln seinen sinnvollen Platz im Heilsplan Gottes zuweisen. Eine wichtige Funktion erfüllt in diesem Zusammenhang die Rahmenhandlung des sogenannten procès de paradis, des Streitgesprächs zwischen den Allegorien Mi­ séricorde (Barmherzigkeit), Justice (Gerechtigkeit), Vérité (Wahrheit), Sapience (Weisheit) und Charité (MaPs, Nächstenliebe) bzw. Paix (GrPs, Frieden), die als Töchter Gottes auftreten und über das Los des Menschen nach dem Sündenfall debattieren.²⁸ In ihrem Gespräch wird die Funktion des menschgewordenen Got­ tes Jesu expliziert, die im folgenden Spielverlauf ihre dramatische Darstellung Fassade der Pariser Kathedrale Notre-Dame sind. Beide Figuren weisen die traditionellen iko­ nographischen Attribute auf. Die heutigen Statuen sind Nachbildungen aus dem neunzehnten Jahrhundert, da die Originale während der Französischen Revolution zerstört wurden. Zu den Pariser Statuen und der Verbreitung des Motivs in Frankreich vgl. Weber, Annette: Glaube und Wissen – Ecclesia et Synagoga. In: Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Hrsg. von Carsten Kretschmann, Berlin 2003 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 4), S. 89–126, insbesondere S. 106–109. Für eine Auflistung von Standorten in Frankreich und Deutschland vgl. außerdem Weber, Geistliches Schauspiel, S. 137 f. 28 Zu den Quellen des Motivs und weiterführender Literatur vgl. Bordier, Jean-Pierre : Le Jeu de la Passion. Le message chrétien et le théâtre français (XIIIe –XVIe s.). Préface de Daniel Poirion, Paris 1998 (Bibliothèque du XVe siècle 58), S. 191–195. Vgl. außerdem den Aufsatz Agnès Bouteil­ lers, in dem sie die Aufnahme des Motivs in Guillaume de Digullevilles Pèlerinage de Jésus-Christ (1358) mit MaPs und GrPs vergleicht (Bouteiller, Agnès : Le procès de paradis du Pèlerinage de Jésus-Christ. Un débat allégorique, juridique et théologique porté au seuil de la dramatisation.

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findet. MaPs und GrPs enden mit einer Szene, die Gottvater und die versöhnten Töchter im Paradies zeigt und das Geschehen somit in heilsgeschichtlicher Per­ spektive beschließt. In der umfangreichen Rahmenhandlung, die in GrPs auch Aufstand und Höllensturz Luzifers und seines Gefolges, den Sündenfall, Kain und Abel sowie eine Szene im Limbus einschließt, spielt der jüdische Widerstand gegen Jesus zunächst keine Rolle, weshalb der Auftritt jüdischer Figuren länger auf sich warten lässt als in vielen anderen Passionsspielen. Mit ihrem Erscheinen im Spielgeschehen setzt jedoch der gleiche grundlegende Mechanismus ein, der bereits für PaPs und SGPs beschrieben wurde. Auch in MaPs und GrPs kreist der Konflikt zwischen Jesus und den Juden um den Gesetzes-Begriff, in welchem sich der Konkurrenz-Topos ausdrückt. Die konkrete Umsetzung variiert in den beiden Spielen jedoch erheblich.²⁹ MaPs führt den Gesetzes-Begriff nicht über die Reden jüdischer Figuren ein, sondern es ist Maria, die das Gesetz in defensiver Haltung thematisiert. Der Be­ schneidung Jesu (Lk 2,21) lässt das Spiel einen Dialog zwischen Joseph und Maria vorausgehen, in dem der Ehemann gegenüber seiner Frau die Vermutung äußert, dass die rituelle Beschneidung des Sohnes nicht nötig sei, da sie der Befreiung von der Erbsünde diene, mit der Jesus nicht behaftet sei (vgl. V. 2483–2505). Ma­ ria stimmt ihm zu, besteht mit der folgenden Argumentation aber dennoch auf der Beschneidung des Kindes: Je dis ainsi que mon enfant, Que sur tous humains est puissant, N’est pas venu ça jus au monde, Ou toute pestilence habonde, Pour la loy Moyse amenrir Mais pour le du tout acomplir. Que diroyent ja les Juys Se mon fils n’estoit circoncis ? En temps advenir ils diroient Et contre lui proposeroient Que point ne venroit pour instruire Le temple, mais la loy destruire. (V. 2520–2531)

Ich sage also, dass mein Kind, das über alle Menschen mächtig ist, nicht in die Welt hinabgekommen ist, wo alles Elend im Überfluss vorhanden ist, um das Gesetz Mose herabzusetzen, sondern, um es ganz zu erfüllen. Was würden die Juden wohl sagen, wenn mein Sohn nicht beschnitten wäre? In künftiger Zeit würden sie sagen und gegen ihn anbringen, dass er überhaupt nicht käme, um den Tempel zu errichten, sondern, um das Gesetz zu zerstören.

In : Guillaume de Digulleville. Les Pèlerinages allégoriques. Hrsg. von Frédéric Duval/Fabienne Pomel, Rennes 2008, S. 131–158). 29 Obwohl Runnalls MaPs und GrPs derselben Großgruppe von Passionsspielen zuordnet, gibt es keine textgenetischen Bezüge, anhand derer nachweisbar wäre, dass Gréban die Passion Mar­ cadés bekannt war. Ein direkter Einfluss ist zwar vorstellbar, lässt sich aber nicht belegen (vgl. Runnalls, Les Mystères, S. 489).

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In der Rede Marias wird die Reaktion der Juden antizipiert und zugleich das Han­ deln der Mutter als Prävention dargestellt. Ihre Worte an dieser und auch anderer Stelle³⁰ drücken den Concordia-Gedanken aus, demzufolge Altes und Neues Tes­ tament in einem Analogieverhältnis stehen und das Christentum als Vollendung seines Vorgängers, des Judentums, zu verstehen ist.³¹ Selbstverständlich sind die Bemühungen Marias umsonst. Analog zu den bereits behandelten Spielen schlägt sich die jüdische Reaktion auf Jesus in seiner Klassifizierung als Gefährder ihres Gesetzes nieder. Die besondere Präsenz des Konkurrenz-Topos ist in der Vielzahl von Passagen sichtbar, die Jesus als Bedrohung konzipieren und ihn in Opposition zum Gesetz der Juden stellen. An dieser Stelle sei nur ein Beleg exemplarisch zi­ tiert.³² Der Jude Nacor äußert nach der auf das apokryphe Nikodemus-Evangelium zurückgehenden Episode der sich vor Jesus verneigenden Standarten (EvNik 1,5): Sans plus nostre loy abuser, Contendre nous fault à sa mort, Sil eschappe nous arons tort, Car no loy du tout destruira. (V. 13519–13522)

Ohne weiter gegen unser Gesetz zu verstoßen, müssen wir uns um seinen Tod bemühen; wenn er entkommt, werden wir den Schaden haben, denn er wird unser Gesetz vollständig zerstören.

MaPs verortet den Konkurrenz-Topos somit besonders deutlich auf jüdischer Sei­ te. Während in der Darstellung des Spiels die Christen um eine friedliche Überfüh­

30 Der Darbietung Jesu im Tempel (Lk 2,22–40) geht die gleiche Argumentation voraus (vgl. Je ne veul que nul puisse dire / Qu’a la loy veulle contredire, V. 4312 f.; „ich will nicht, dass jemand sagen kann, er wolle dem Gesetz widersprechen“). Maria deklariert auch im Tempel selbst erneut ihr Motiv (vgl. Vray Dieu, je te l’ai presenté, / Lui ne moy ne seront repris / En temps advenir des Juys / Ne de nul de leur parenté / Que nous n’ayons bien consommé / Les poins qu’en la loy sont compris / Qui y sont graves et escrips., V. 4504–4510; „Wahrhaftiger Gott, ich habe ihn dir geweiht, weder er noch ich werden künftig von den Juden oder irgendwem ihres Geschlechts beschuldigt werden, wir hätten uns nicht an die Punkte gehalten, die im Gesetz enthalten sind, die darin eingraviert und geschrieben stehen.“). 31 Zu der einflussreichen Geschichtsdeutung, die Joachim von Fiore in seinem um 1191 abge­ schlossenen Werk Concordia Novi ac Veteris Testamenti entwickelte, vgl. Joachim von Fiore: Con­ cordia Novi ac Veteris Testamenti. Bd. 1. Hrsg. Von Alexander Patschovsky, Wiesbaden 2017, S. XIX ff.; Lerner, Robert E.: Joachim von Fiore (ca. 1135–1202). In: Theologische Realenzyklopä­ die. Hrsg. von Horst R. Balz u. a. Bd. 17, Berlin, New York 1988 und Förschner, Franz: Concordia. Urgestalt und Sinnbild in der Geschichtsdeutung des Joachim von Fiore. Eine Studie zum Sym­ bolismus des Mittelalters, Freiburg i.Br. 1970. 32 Für weitere Belegstellen vgl. V. 8023–8027, 8060–8070, 8099–8104, 8109 f., 8366–8371, 8581– 8587, 9385–9388, 9463–9473, 10738 ff., 10799–10802, 10967–10971, 11583–11551, 11897 f., 12132– 12141, 12156 f., 12196, 12201 ff., 12208, 12321 f., 12327–12349, 12382 f., 12396, 12428 ff., 12582 ff., 12620–12625, 12863, 12903–12911, 12932 ff., 13053 ff., 13732–13736, 14024 ff., 15019–15024, 18005– 18009, 18873–18877, 19057–19060, 19097–19103, 22648–22653.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 135

rung des alten Bundes in das durch Jesus anbrechende Zeitalter des neuen Bun­ des bemüht sind, kreieren die jüdischen Figuren die Situation eines Wettstreits, in dem es schließlich um Leben und Tod geht. Die Opposition zwischen Concordia aus christlicher Perspektive und Konkurrenz von jüdischer Seite äußert sich nicht zuletzt in den Worten Jesu, der – anders als in anderen Passionsspielen³³ – nicht selbst von einer nouvelle loy spricht, sondern von der Erfüllung des Gesetzes: En vostre loy verrez la foy, Ce que vous dy et ay monstré, Enseigniet et endoctriné, Laquelle foy correspondant Est a vo loy et consonant, Et la quelle vo loy remplie (V. 10761–10766)

In eurem Gesetz werdet ihr den Glauben sehen, den ich euch gesagt und gezeigt, beigebracht und gelehrt habe; dieser Glaube entspricht eurem Gesetz und harmoniert mit ihm und er vollendet euer Gesetz.

Gerade die ausdrücklich versöhnliche Haltung Jesu und Marias unterstreicht im Kontrast zu den Reden der jüdischen dramatis personae deren Schuld an der Kon­ fliktsituation. Die dargestellte Konstellation kann darüber hinaus dazu dienen, das Fortdauern des Spannungsverhältnisses bis in die historische Gegenwart des Schauspiels als jüdisches Fehlverhalten zu deuten, denn die Juden erscheinen darin als Schuldige, die sich einem offenen und heilsgeschichtlich legitimierten Christentum verweigern. GrPs weist die gleichen Grundzüge auf wie alle bereits behandelten Spiele. Auch hier äußert sich der Konkurrenz-Topos im schlagwortartigen Charakter des Gesetzes-Begriffs, der im jüdischen Gegendiskurs präsent ist. Angesichts des Um­ fangs von GrPs und der Vergleichsperspektive, welche die Behandlung verschie­ dener Spiele eröffnet, fällt jedoch auf, dass die Passion Arnoul Grébans relativ wenige Belegstellen aufweist.³⁴ Die schlagwortartige Verwendung des GesetzesBegriffs nimmt in der Darstellung der jüdischen Verschwörung gegen Jesus und direkter Konfrontationen zwischen ihm und den Juden in GrPs (in Relation zum Umfang des gesamten Spiels) weniger Raum ein als in allen anderen französi­ schen Passionsspielen. Zugleich geht GrPs stärker als die anderen Spiele über eine schematische Gegenüberstellung des alten und neuen Gesetzes hinaus. In den Re­ den der jüdischen dramatis personae werden die Folgen konkretisiert, welche die

33 Vgl. z. B. SGPs: Establir vous vueil loy nouvelle / Qui sera avenant et belle (V. 1025 f.; „ich will euch ein neues Gesetz bringen, das angemessen und gut sein wird“) oder PfPs: Jch will ewch geben ein neue ee (V. 399; „ich will euch ein neues Gesetz geben“). 34 Folgende einschlägige Passagen geben einen Überblick: V. 12500–12503, 13369–13378, 13413– 13441, 13478–13485, 14543–14548, 15249–15254, 20972.

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Juden bei der Ablösung ihres Gesetzes durch das Gesetz Jesu befürchten. Es sind dies der Verlust von Reputation sowie materieller Güter. In der ersten Szene einer Beratung unter den Juden (V. 13369–13638) klagt etwa der Pharisäer Joathan dar­ über, dass das gemeine Volk aufgrund der Predigten Jesu nous en prise moins de beaucoup (V. 13419; „uns sehr viel weniger hochschätzt“) und Nacor setzt hinzu: Pis yra. Nostre revenue en diminue et nostre avoir, car jadis nous soulions avoir, nous, Pharisïens, la criee d’estre saincte gent et riglee, de faire jeusnes, abstinences, devocions, obedïences, de tenir la loy au destroit; et ainsi chascun ministroit offrandes largement au temple, chascun prenoit a nous exemple, nous estions appeléz seigneurs et avions les premiers honneurs. Et or, par cest homme maldit, nostre fait est comme interdit: chascun le suyt, chascun l’onnore, tout luy vient, riens ne nous demore, tout le peuple luy fait grant chiere et nous sommes mis au derriere. Il cure et sane hault et bas et destruit noz loiz et sabbatz. [. . . ] (V. 13413–13441)

Es wird noch schlimmer kommen. Unser Einkommen wird dadurch weniger und unser Besitz, denn einstmals war es Sitte, dass wir, die Pharisäer, den Ruf hatten, Heilige zu sein und dadurch ausgezeichnet, zu fasten und enthaltsam zu sein, zu beten, Dienste des Gehorsams zu tun, vor Gericht für die Einhaltung des Gesetzes zu sorgen; und so erbrachte jeder große Opfergaben im Tempel, jeder nahm sich uns zum Vorbild, wir wurden Herren genannt und wurden am höchsten geehrt. Und nun, durch diesen verfluchten Mann, ist es, als wäre unser Lebenswandel verboten: Jeder folgt ihm, jeder ehrt ihn, er bekommt alles, uns bleibt nichts, das ganze Volk trägt ihn auf Händen und wir werden links liegen gelassen. Er heilt und kuriert jedermann und zerstört unsere Gesetze und Sabbate. [. . . ]

Die Rede Nacors ist durch Gegenüberstellungen strukturiert, die den KonkurrenzTopos transportieren: Die glückliche Vergangenheit steht im Kontrast zur schlech­ ten Gegenwart und der Aufstieg Jesu entspricht dem Untergang der jüdischen Würdenträger. Die Worte Nacors dienen jedoch auch der verstärkten Charakteri­ sierung der jüdischen Antagonisten Christi, deren Motive deutlich erkennbar im Bereich weltlicher Laster (Superbia, Avaritia, Invidia) zu verorten sind. Sie korre­ spondieren mit dem Vorwurf der Heuchelei und der übermäßigen Fixierung auf weltliche Güter, den Jesus den Pharisäern wiederholt macht (vgl. insbesondere Mt 23,1–36; Lk 11,37–54; 18, 9–14). In GrPs tritt die Verwendung des Gesetztes-Begriffs in der Funktion eines Schlagworts folglich zugunsten einer verstärkten inhaltli­ chen Anreicherung des Konkurrenz-Topos zurück. Obwohl diese keine direkte bi­ blische Vorlage hat, erscheint sie durch ihren Bezug zu den in den Evangelien bezeugten Aussagen Jesu über die Pharisäer jedoch abgesichert.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 137

Das älteste deutschsprachige Passionsspiel, WoPs, enthält als einziges Spiel des Untersuchungskorpus kaum Hinweise auf den Konkurrenz-Topos. Wiewohl auch hier die Juden als Antagonisten Jesu auftreten, werden ihre Motive nicht über die biblischen Ausgangstexte hinaus entwickelt. So hält die in Präcursor-Funkti­ on auftretende Figur des Augustinus nach der Szene, in der die Heilung des Blind­ geborenen durch Jesus (Joh 9,1–41) diskutiert wurde, fest, der Vater des Geheilten hätte sich nur deshalb nicht getraut, die Wahrheit zu sagen, weil er die Drohungen der Juden fürchtete, denen Jesus verhasst sei.³⁵ An späterer Stelle erwähnt Augus­ tinus erneut, dass die Wunderheilungen Jesu ihm den Hass der Juden einbringen (vgl. V. 458 f.), doch expliziert er nicht, warum die Wunder ihr Missfallen erregen. Auch in den Reden jüdischer dramatis personae finden sich darauf fast keine Hin­ weise.³⁶ WoPs erklärt also die feindselige Einstellung der Juden gegenüber Jesus nicht, sondern setzt sie voraus. Wo die anderen analysierten Spiele das Handeln der Juden über den Konkurrenz-Topos dramatisch motivieren, verlässt sich WoPs auf die Vertrautheit des Publikums mit dem Stoff, der den Juden die Rolle der Ant­ agonisten zuschreibt. In PfPs, dessen Umfang (4128 Verse) in etwa dem von SGPs entspricht, lässt sich der Konkurrenz-Topos erneut sehr deutlich in der schlagwortartigen Verwen­ dung des Gesetzes-Begriffs erkennen. Auch wird verschiedentlich der Neid der Ju­ den auf Jesus hervorgehoben, welcher den Gedanken eines Wettstreits, in dem die Juden zu unterliegen drohen, zusätzlich unterstreicht.³⁷ Der unversöhnliche Ant­ agonismus zwischen Juden und Christen findet sich analog zu den französischen 35 Vgl. V. 398–403: Wuszent, daz dorch anders nit / dirre man zwiueliche gith, / wanne dorch der grozen vohte not, / die ime der iuden drauwen gebot. / Er hede sie ez wol bescheiden baz, / wan daz sie Cristo drugen haz. („Wisset, dass dieser Mann wegen nichts anderem zweifelnd sprach als wegen der großen Furcht, die ihm die Drohungen der Juden bereiten mussten. Er ließ es lieber sie entscheiden, weil sie Christus hassten.“) 36 Als einzige Belegstelle sind die Worte des Hohepriesters Annas zu nennen, der in der Sze­ ne des jüdischen Ratschlusses die Befürchtung äußert, die Römer würden die Juden aus ihrem Land vertreiben, wenn Jesus weiterhin Wunder wirke und eine große Anhängerschaft um sich versammle (vgl. V. 555–562). Die Rede ist eng angelehnt an Joh 11,47f. und wird gefolgt von dem Ratschlag Cayphas‘, der Tod eines Einzelnen sei dem Vieler vorzuziehen (Joh 11,49f.). Die Passa­ ge erklärt allerdings nicht hinlänglich den großen Hass der Juden, welcher in WoPs wiederholt Erwähnung findet. 37 Beispielsweise bringt der Präcursor bereits ganz zu Beginn des Spiels mit der Auferweckung des Lazarus den Neid der Juden in Verbindung und präsentiert diesen als Motivation für ihre Intrige gegen Jesus, vgl. V. 9–14: Am ersten wiert ewch kundt gethan, / Wie vber Jhesum den man / Falscher rat geben ist / Durch dy juden mit pösem lyst / Jn ierem falschen rat, / Das merckt an dyser stat, / Als er Lazarum erbeckt het. / Darumb er von den iuden grossen neydt ledt. („Als erstes erfahrt ihr, wie der Mann Jesus zu Unrecht von den Juden in böser Absicht beschuldigt wird, von ihrem lügnerischen Rat, merkt euch das sogleich, weil er Lazarus auferweckt hat. Deswegen leidet er unter dem großen Neid der Juden.“)

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Spielen in der Opposition des eigenen, durch die Autorität Mose legitimierten Ge­ setzes³⁸ und der newen ee bzw. ler³⁹ Jesu wieder. Die weltlichen Beweggründe, die die Juden den Verlust ihres Gesetzes fürchten lassen, sind zwar weniger aus­ geführt als in GrPs, doch werden sie ebenfalls angesprochen. Der Jude Zedonius klagt gegenüber dem Hohepriester Annas und dem Magister Synagoga: Sol dy sach ye lenger werden, Wier komen von seiner ler Vmb leib, guet vnd er, Dar vmb solt ier rat geben, Wie wier ym wider streben (V. 200–204)

Sollte die Sache noch länger andauern, wird uns seine Lehre um unser Leben, unseren Besitz und unsere Ehre bringen. Darum sollt ihr uns dazu beraten, wie wir uns ihm widersetzen können.

Es lassen sich hier die gleichen, durch Jesu Worte in den Evangelien motivier­ ten Lebensbereiche ausmachen wie in GrPs: Reputation (er) und weltliche Güter (guet). In AlPs ist der Konkurrenz-Topos sowohl in Verbindung mit dem GesetzesBegriff als auch mit dem Neid-Motiv ausgestaltet. Jüdische Figuren thematisieren parallel zu den bisher behandelten Passionsspielen Jesu Wirken als Schädigung des eigenen Gesetzes.⁴⁰ Neid wird den Juden nicht nur von anderen Figuren zu­ geschrieben⁴¹, sondern auch von jüdischen dramatis personae selbst explizit als Handlungsmotiv benannt.⁴² Darüber hinaus ist das jüdische Gesetz auch visu­ ell präsent. So endet eine Beratungsszene unter den Juden (V. 2333–2400) damit, dass diese ostentativ aus einem den Talmud repräsentierenden Buch vorlesen: Et tunc Iudei habeant sibi librum Moisi. Et Sinagoga incipit legere librum Moisi scili­ cet talmut. (Regieanw. nach V. 2400; „Und dann sollen die Juden das Buch Mose bei sich haben. Und Sinagoga beginnt, aus dem Buch Mose, nämlich dem Tal­

38 Vgl. vnser ee (V. 122, 1205; „unser Bund“), alt ee (V. 420; „alter Bund“), vnser ler (V. 195, 199; „unsere Lehre“), Vnser recht vnd auch dy ee (V. 840; „unser Recht und auch den Bund“), Moyses gepot (V. 838, 1203; „Moses‘ Gebot“), Vnser gewalt (V. 1530; „unsere Macht“). 39 Vgl. V. 113, 115, 399, 421, 818, 1201. 40 Vgl. z. B. die slogenartige Wendung vnser ee hot hie vorkart / vnd ein ander ee gelart, die so und in ähnlicher Form von jüdischen dramatis personae an verschiedenen Stellen vorgebracht wird (V. 3681–3684, 3698 f., 4066 f.). Für weitere Belegstellen zur Bedrohung des jüdischen Gesetzes durch Jesus vgl. V. 1580–1584, 2333–2353, 2427–2430, 2664 f., 3150–3153, 3448, 4006–4011. 41 Vgl. z. B. die Worte Jesu in V. 2402 f.: die Iudden han eren nyt / szo grymmiglichen vff mich geleyt („die Juden beneiden mich so sehr“) oder die des Proclamators, der das Publikum zu Beginn des zweiten Spieltags dazu auffordert, seine Aufmerksamkeit auf den großen Neid zu richten, den die ‚bösen‘ Juden gegenüber Jesus empfunden hätten (vnd nemmet do by war, / wie der boszen Iudden schar / vff Ihesum trugen groisszen nyt, V. 3006 ff.). 42 Vgl. z. B. den Eigenkommentar des Juden Gumprecht: ich hon vff den trogener grossen nyt (V. 3436; „ich beneide den Betrüger sehr“).

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

139

mud, vorzulesen.“). Dorothea Freise zufolge diente im europäischen Mittelalter der Talmud, der durch die Pariser Universität 1242 offiziell als häretisch klassifi­ ziert wurde, „wie das Passahmahl oder das Goldene Kalb, als Chiffre für alles, was den jüdischen Glauben vom christlichen unterschied, was ihn fremd und verdäch­ tig machte.“⁴³ In AlPs erhält das jüdische Gesetz eine konkrete, visuelle Präsenz, indem es als materielles Buch in die Inszenierung eingebunden wird. Zugleich rei­ chern die Vorstellungen vom Talmud als einer christenfeindlichen Geheimschrift, wie sie spätestens seit dem vierzehnten Jahrhundert zirkulierten, das Konzept des jüdischen Gesetzes um negative, zweifellos emotionsbehaftete Aspekte an. Das li­ ber Moisi erfüllt so die Funktion eines Stigmabildes, welches auf stark verkürzte Weise – nämlich durch seine visuelle Präsenz allein – die christlichen Vorbehalte gegen den Talmud aufruft und auf diesem Wege das jüdische Gesetz gleichzeitig konkretisiert und auf der rekonstruierten Bedeutungsebene diskreditiert. In glei­ cher Perspektive ist das Vorlesen aus dem Buch zu bewerten. Obwohl die Regie­ anweisung nicht näher bestimmt, auf welche Weise die Figur des Sinagoga lesen soll, ist doch aufgrund der kurzen ‚Zitate‘ aus dem Talmud, die zuvor der Jude Gumprecht äußert⁴⁴, davon auszugehen, dass es sich um ein kauderwelschendes Pseudo-Hebräisch handelt, dem in vielen deutschen und französischen Schau­ spielen die Funktion zukam, die Fremdheit der Juden zu unterstreichen.⁴⁵ Die he­ bräisch klingenden (oder zumindest so intendierten) Laute sind als Stigmalaute zu konzeptualisieren, in denen sich die jüdische Devianz über eine identifizier­ bare Prosodie äußert, der Wortsinn dem Publikum aber verschlossen bleibt, was den Eindruck des Fremden und potentiell Bedrohlichen, weil Unverständlichen, verstärkt. Wie bereits erwähnt, bringt auch AlPs das Ecclesia-Synagoge-Motiv auf die Bühne.⁴⁶ Allerdings weicht es in seiner Darstellung stark von der ikonographi­

43 Freise, Dorothea: Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt – Friedberg – Alsfeld, Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 178), S. 454. Einen ausführlichen historischen Überblick über die Polemiken gegen den Talmud im Mittelalter gibt Wenzel (vgl. Wenzel, Juden, S. 197–203). 44 Vgl. V. 2363–2367: Meynster raby, hoch vnd gut, / ich hon dick geleszen den thalmut, / da stehet yn geschribben alszo: / ‚asserere habuch Iericho / enffha hierichy phe man.‘ („Ehrwürdiger und guter Meister Rabbi, ich habe oft den Talmud gelesen, in dem geschrieben steht: ‚asserere habuch Iericho / enffha hierichy phe man.‘“). Vgl. auch V. 2376. 45 Zur Verwendung pseudo-hebräischer Passagen in religiösen Spielen (und zwei Fastnacht­ spielen des Hans Sachs) vgl. Frey, Pater noster Pyrenbitz, S. 58–67; Dahan, Les juifs en France médiévale, S. 160 f.; Schwab, Moïse: Mots hébreux dans les mystères du Moyen Âge. In: Revue des études juives 46 (1903), S. 148–151. 46 Die Platzierung der Szene in der Chronologie des Spiels ist wiederholt diskutiert worden. Die Regieanweisung, welche die Szene einleitet, folgt auf Jesu Verurteilung durch Pilatus (Incipit di­

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schen Tradition ab, zu der SGPs eine so große Nähe aufweist. Das Streitgespräch findet nicht zwischen zwei Allegorien statt, sondern die männliche, das gesamte Spiel über präsente Figur des Sinagoga trifft auf die personifizierte Kirche Eccle­ sia.⁴⁷ Darüber hinaus ist eine Gruppe von Juden anwesend, an die Ecclesia und Sinagoga sich wechselseitig wenden, um sie davon zu überzeugen, den christli­ chen Glauben anzunehmen beziehungsweise dem jüdischen Gesetz treu zu blei­ ben. Die Symmetrie der zwei Königinnen ist damit bereits auf visueller Ebene ge­ brochen: „Der allegorischen Königin Ecclesia tritt hier Sinagoga als mittelalter­ licher Raby entgegen.“⁴⁸ Die Inszenierung der Disputation in AlPs zielt folglich nicht darauf ab, die Schlagkraft des bekannten Tableaus im Sinne eines Stigma­ bildes zu nutzen, um die Opposition von altem und neuem Bund visuell greifbar zu machen, wie dies für SGPs beschrieben wurde. Vielmehr scheint die Allego­ rie bewusst gebrochen zu werden, um die jüdische Position mit zeitgenössischen Juden in Verbindung zu bringen und auf diesem Wege die Aktualität des Gegen­ stands zu unterstreichen. Dafür spricht auch, dass die Figur des Sinagoga durch den ‚Judenhut‘ mit einem zeitgenössischen jüdischen Attribut ausgezeichnet ist.⁴⁹ Die Namen der jüdischen Begleiter Sinagogas, welche er während des Streitge­ sprächs namentlich anspricht, fügen sich ebenfalls in dieses Bild, denn es han­ delt sich in erster Linie nicht um biblische (Aaron, Ismael, Manasse, etc.), sondern um im Spätmittelalter gängige jüdische Namen, die nicht an die Zeitgenossen Je­ su, sondern an die des Publikums denken lassen.⁵⁰ Die Disputations-Szene ist da­

sputacio Ecclesie cum Sinagoga, si placet., vor V. 4480; „Hier beginnt das Streitgespräch zwischen Ecclesia und Synagoge, wenn gewünscht.“). Doch die Randnotiz post crucifixionem („nach der Kreuzigung“) vor Vers 4919 und eine korrespondierende Anmerkung nach der Kreuzigungsszene (vgl. die Regieanweisung nach V. 6838) legen nahe, dass sie im Anschluss an den Kreuzestod Je­ su gespielt werden sollte. Basierend auf diesem Befund wurde vermutet, die Szene sei zweigeteilt und nur der zweite Teil solle nach der Kreuzigung aufgeführt werden. Dem scheint eine fehlende Zensur im Streitgespräch zu widersprechen, weshalb die These vertreten wurde, die gesamte Sze­ ne sei falsch platziert und müsse in der Chronologie nach hinten verschoben werden. Zuletzt hat Wenzel sich dafür ausgesprochen, die widersprüchlichen Angaben nicht als konträre Vorgaben zu verstehen, sondern als Optionen. Aufgrund der wenig fixierten chronologischen Einbettung der Szene in religiöse Spiele sei es vorstellbar, dass die Schreiber diese Offenheit gewährten. Für eine Zusammenfassung der Diskussion und die Darstellung der Position Wenzels vgl. Wenzel, Juden, S. 153–156. 47 Zur Rolle des Sinagoga, der in AlPs als Wortführer der Juden auftritt und keinesfalls als alle­ gorische Figur zu verstehen ist, vgl. Wolf, Ecclesia und Synagoge, S. 51 (Kap. 3, Anm. 8). 48 Ebd. 49 Vgl. die Worte Sinagogas in V. 4628: das sprechen ich by mynem Iuddenhude („das sage ich bei meinem Judenhut“). 50 Vgl. die Verse 4585 f. und 4623 f., in denen Sinagoga jüdische Figuren mit den Namen San­ dermann, Wengker, Snoppenkyle, Kadrot, Rupin, Andernigk, Friddel, Lendikeile und Selden­

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mit in AlPs weder deutlich auf die Zeit des dargestellten Geschehens bezogen, noch besitzt sie überhistorischen Charakter. Sie schreibt sich vielmehr in die Tra­ dition christlich-jüdischer Religionsgespräche ein, die seit der Spätantike belegt sind, aber insbesondere seit dem dreizehnten Jahrhundert in Europa in Form von real abgehaltenen (Zwangs-)Disputationen große Bekanntheit erlangten und als (fiktive) Dialoge in lateinischen und volkssprachlichen theologischen Schriften kursierten.⁵¹ Struktur und Inhalt des Streitgesprächs stimmen ebenfalls grundsätzlich mit dem scholastisch geprägten Verfahren mittelalterlicher christlich-jüdischer Disputationen überein. Ecclesia führt überwiegend Propheten des Alten Testa­

kriegk anspricht. Sandermann (Patronym oder Metronym von Alexander) zählt zu der beson­ ders verbreiteten Gruppe von Namen aschkenasischer Juden und ist in einer Reihe mit Namen wie Seligmann oder Liebermann zu nennen (vgl. dazu Arndt, Wilhelm: Die Personennamen der deutschen Schauspiele des Mittelalters. Breslau 1904 (Germanische Abhandlungen), S. 13 und 35; Guggenheimer, Eva H./Heinrich W. Guggenheimer: Etymologisches Lexikon der jüdischen Familiennamen. München u. a. 1996, S. XXVI und 390). Weiterhin ist Rupin (Ruppin, Rupein, Ru­ bin, Robin) zwar ein biblisch bezeugter Name (Gen 37,21), der jedoch auch im Mittelalter (und bis heute) als männlicher Vorname und Familienname sehr geläufig war (vgl. Arndt, Personenna­ men, S. 35; Guggenheimer/Guggenheimer, Familiennamen, S. 383) und etwa in der jüdischen Gemeinde der Stadt Frankfurt am Main im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert belegt ist (vgl. in Andernacht, Dietrich: Regesten zur Geschichte der Juden in der Reichsstadt Frankfurt am Main von 1401–1519. Teil 1. Die Regesten der Jahre 1401–1455 (Nummern 1–1455), Hannover 1996 (Forschungen zur Geschichte der Juden 1/1) die Einträge im Bürgermeisterbuch zur Zahlung der Stättigkeitszinsen, die einen Rupin (Rubin, Ruben) und seine Familie erwähnen, z. B. Nr. 239 und 348). Abgesehen von Lendikeile und Snoppenkyle können alle Namen als jüdisch ausge­ wiesen werden (vgl. die einschlägigen Stellen bei Arndt, Personennamen und Guggenheimer/ Guggenheimer, Familiennamen). Andernigk weiß Arndt nicht zuzuordnen (vgl. Arndt, Perso­ nennamen, S. 37), eventuell handelt es sich jedoch um eine slawische Diminutivform des Namens Ander, einer oberdeutschen Form des Männernamens Andreas, der als jüdischer Familienname belegt ist (vgl. dazu Guggenheimer/Guggenheimer 1996, S. XXIV und 17). 51 Die bekanntesten Disputationen fanden in Paris (1240), Barcelona (1263) und der katalani­ schen Bischofsstadt Tortosa (Anfang fünfzehntes Jh.) statt. Einen umfassenden Forschungsüber­ blick, der sowohl Quelleneditionen als auch einschlägige Literatur fast vollständig erfasst, gibt Gaby Knoch-Mund (vgl. Knoch-Mund, Gaby: Disputationsliteratur als Instrument antijüdischer Polemik. Leben und Werk des Marcus Lombardus, eines Grenzgängers zwischen Judentum und Christentum im Zeitalter des deutschen Humanismus, Tübingen, Basel 1997 (Bibliotheca Germa­ nica 33), S. 218–248; für eine Aufstellung der wichtigsten Disputationsschriften und Handbücher, die als Hilfsmittel herangezogen wurden, vgl. außerdem S. 203–217). Speziell für den deutsch­ sprachigen Raum vgl. die zentrale Arbeit Manuela Niesners, welche von Knoch-Mund noch nicht erfasst werden konnte (Niesner, Manuela: Wer mit juden well disputiren. Deutschsprachi­ ge Adversus-Judaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts, Tübingen 2005 (Münchener Texte und Un­ tersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 128), für einen allgemeinen historischen Überblick und weiterführende Literatur insbesondere S. 21–36).

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ments an, die also auch für Juden Autorität besitzen. Die Zeugnisse deutet sie als Erweise der Messianität Christi, der bereits im Alten Testament angekündigt werde.⁵² Auch die Inhalte entsprechen geläufigen Themen christlich-jüdischer Disputationsliteratur (Messianität Christi, Jungfräulichkeit Marias, doppelte Na­ tur Christi, Dreifaltigkeit). Es bleibt dahingestellt, ob der raue Umgangston, den sowohl Ecclesia als auch Sinagoga pflegen, auch in tatsächlichen Disputationen angeschlagen wurde.⁵³ Der sprachlichen Grobheiten ungeachtet, die vielleicht zur Unterhaltsamkeit des Streitgesprächs beitragen sollten⁵⁴, zeigen sein Umfang (783 Verse) und seine argumentative Ausgestaltung, dass in AlPs der eigentli­ chen Disputation eine größere Bedeutung beigemessen wird als in SGPS. Pflaum bewertet das Hauptanliegen als ein erbaulich-didaktisches, das darauf abzie­ le, „bei den Zuschauern den christlichen Glauben gegen alle möglichen Zwei­ fel zu befestigen.“⁵⁵ Dies kann die Disputations-Szene leisten, indem sie einem christlichen Publikum⁵⁶ vorführt, wie jegliche Zweifel in einem Streitgespräch ausgeräumt werden. Dass dies jedoch keine vertiefte theologische Unterweisung der Zuschauerinnen und Zuschauer einschließt, zeigt sich darin, dass die von Ecclesia vorgebrachten Argumente in vielen Fällen ungenau oder unzutreffend auf biblische Belegstellen referieren.⁵⁷ Die mangelnde Sorgfalt in der Ausarbei­ tung spricht dafür, dass nicht die Vermittlung christlich-theologischer Bildung im Vordergrund steht, sondern die Demonstration der (bereits vorausgesetzten) Überlegenheit des Christentums über das Judentum. Eine vertiefte Auseinander­ setzung mit den Argumenten und Belegstellen selbst ist für das Publikum im Spielgeschehen kaum möglich und offenbar auch nicht vorgesehen. Entschei­ dend ist der augenfällige Sieg der Kirche. In diesem Zusammenhang fungiert die immer wieder explizit genannte Nominalphrase alde ee als Stigmawort auf 52 Um nur ein Beispiel herauszugreifen, vgl. V. 4967–4970: in vwern buchern ist vch wol bekannt / von dem propheten Dauid gnant. / der kann vch wol berichten yn korczer frist, / wie gott vff das er­ trich kommen ist. („In euern Büchern wird bekanntermaßen von dem Propheten, genannt David, berichtet. Der kann euch in kurzer Zeit gut darüber unterrichten, wie Gott auf die Erde gekommen ist.“). Es folgen ein Zitat und dessen Auslegung (vgl. V. 4972–4978). 53 Wenzel hat darauf hingewiesen, dass es sich bei den von Ecclesia geäußerten Vorwürfen durchweg um antijüdische Stereotype mit theologischer Fundierung handelt (vgl. Wenzel, Ju­ den, S. 156–163). 54 Dies vermutet Pflaum (vgl. Pflaum, Der allegorische Streit, S. 322). 55 Ebd. 56 Im Aufführungszeitraum AlPs gab es keine jüdische Gemeinde in Alsfeld. Missionarische Ab­ sichten sind damit auszuschließen. Zur historischen Situation in Alsfeld vgl. Freise, Geistliche Spiele, S. 464: „Alsfeld hatte spätestens seit der zweiten Hälfte des 15., vermutlich aber bereits seit der Mitte des 14. Jahrhunderts keine jüdische Gemeinde mehr. Einzelne Juden sind erst 1528 wieder in der Stadt bezeugt.“ 57 Eine Reihe von Beispielen findet sich bei Wenzel (vgl. Wenzel, Juden, S. 166).

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der rekonstruierten Bedeutungsebene und unterstreicht das Oppositionsschema, welches die gesamte Szene strukturiert.⁵⁸ Obwohl sowohl AlPs als auch SGPs das allegorische Synagoge-Ecclesia-Motiv für die szenische Adaption nutzen, verdeutlicht die Analyse, dass die Bearbei­ tungen sehr unterschiedlich ausfallen und offensichtlich verschiedene kommu­ nikative Strategien verfolgen. SGPs setzt ganz auf die Prägnanz der visuellen Darstellungsmöglichkeiten des Schauspiels und erhöht in der Szene den Grad der Schematisierung zusätzlich. Die Juden bleiben darin vage und gerade durch diese Vagheit nachdrücklich auf den Status von Feinden reduziert. AlPs bedient sich ebenfalls prägnanter Formen, die die antagonistische Struktur hervortre­ ten lassen (Schlagbild, Schlagwort), doch ermöglicht der ausgedehntere Einsatz sprachlicher Zeichen in argumentierender und inkriminierender Funktion auch eine stärkere inhaltliche Konkretisierung, die es ermöglicht, einerseits die Überle­ genheit der eigenen Position intellektuell (zumindest im Ansatz) nachvollziehbar auszustellen und andererseits die Position des Gegners zu disqualifizieren. Die bereits vielfach erwähnte antagonistische Struktur zwischen den Juden und Christus, die sich besonders konstant durch fast alle Spiele hindurch über die Verwendung des Gesetzes-Begriffs äußert, ist auch in LuPs zu beobachten. Das Wirken Jesu wird von jüdischen dramatis personae als notwendig gegen sie und ihr Gesetz gerichtet aufgefasst und so der Konkurrenz-Topos evoziert, demzufol­ ge Gegenmaßnahmen die gebotene Reaktion auf den Neuerer sind. Die Figur des Zacharias gemahnt in einer Unterredung, die Juden seien gezwungen, gegen Je­ sus vorzugehen, dann söllend wir inn lassen gan, / so münd wir all in schanden stan (V. 6559 f.; „denn wenn wir ihn gewähren lassen, dann werden wir in Schan­ de kommen“). Die Äußerung ist im Rahmen des Konkurrenz-Szenarios sinnvoll, das alle Handlungen Jesu als Teil des Wettstreits definiert und seinen Erfolg not­ wendig mit dem Misserfolg der Juden verknüpft. Dies äußert sich beispielsweise in einer späteren Rede des Zacharias im Gespräch mit Caiphas nach Jesu Ergrei­ fung: er hat doch wider vnns all tan mit vil bösen dingen vnnd sachen. die todten wott er läbendt machen, die lamen grad, die blinden gsächen, das alls vnns Juden zleyd ist gschächen. [. . . ] (V. 7718–7722)

Er hat sich doch uns allen gegenüber durch viele böse Dinge und Sachen feindselig verhalten. Die Toten wollte er lebendig machen, die Lahmen gehend, die Blinden sehend; das alles ist zum Leidwesen von uns Juden geschehen. [. . . ]

58 Vgl. V. 4533, 4544, 4596, 4642, 4939 ff., 4992, 5039, 5053 f.

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Nicht zuletzt dienen die Lexeme gsatz und lere, seltener auch glouben (sowie sa­ bath im Sinne einer pars pro toto-Synekdoche), in LuPs auf der immanenten Be­ deutungsebene den jüdischen Figuren als Fahnenwörter, wodurch sie auf der re­ konstruierten Bedeutungsebene klar als Stigmawörter zu identifizieren sind. Sie finden stets im Zusammenhang mit der Ablehnung Jesu Verwendung und stehen, wie in den anderen Spielen auch, in stark verkürzter Form für den jüdischen Ge­ gendiskurs.⁵⁹ 3.1.1.2 Werkzeug-Topos Ein gängiges Element des mittelalterlichen Legendenbestands ist die Verbindung der Juden mit dem Teufel. In nahezu allen verbreiteten Schrift- und Bildmedien finden sich Darstellungen von Juden mit teuflischen Attributen, als Gehilfen des Teufels oder gar als Teufel selbst.⁶⁰ Auch in einigen Passionsspielen ist ein wieder­ kehrendes Argumentationsmuster erkennbar, das seine Überzeugungskraft aus einem Einordnungsschema gewinnt, das die Juden dem Teufel zuordnet. Voraus­ gesetzt wird bei diesem, dass der Teufel, dessen Tagesgeschäft darin besteht, den Menschen in die Verderbnis zu stürzen, das absolut Böse verkörpert. Er befeh­ ligt die Dämonen, welche im neutestamentlichen Sprachgebrauch mit dem Teufel verschmelzen und als ein Konglomerat des Bösen wahrgenommen werden.⁶¹ Dies äußert sich auch darin, dass in den religiösen Spielen gewöhnlich viele Teufel auf­ treten, die von einem Anführer (meist Lucifer) befehligt werden, jedoch alle das

59 Vgl. z. B. V. 6254: syn leer er zůwider der vnsernn setzt („seine Lehre stellt er der unseren ent­ gegen“). Vgl. außerdem V. 4769, 4847–4852, 5150, 6239, 6505–6508, 6599 f., 7691 ff., 8115 ff., 8298 und in EvWy III V. 1328. 60 Zur Verbindung von Juden und Teufeln im Mittelalter bieten die Darstellungen in Trachten­ berg, Joshua: The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Antisemitism, New York 1966, S. 11–53 und Baron, Salo W.: A Social and Religious His­ tory of the Jews. Late Middle Ages and Era of European Expansion 1200–1650, Bd. XI: Citizen or Alien Conjurer, New York, London 1967, S. 134–146 eine erste Orientierung. 61 Vgl. dazu Klein, Wassilios: Teufel. I. Religionsgeschichtlich. In: Theologische Realenzyklopä­ die. Hrsg. von Horst R. Balz u. a., Bd. 33, Berlin, New York 2002, S. 113–115, hier S. 113: „Der Begriff Teufel (kirchenlateinisch diabolus von griechisch διάβολοσ – vom Verb διαβάλλειν ‚hindurchwer­ ¯ .an ¯ fen, verfeinden, schmähen, verleumden‘; in der Septuaginta zur Wiedergabe von hebräisch śat ‚der Widersacher‘, neben griechisch σατανᾶς) ist aus dem neutestamentlichen Sprachgebrauch in die christliche Tradition eingegangen. Anders als noch im Alten Testament wird der Teufel – und damit gleichbedeutend Satan (Apk 12,9) – hier eindeutig böse und als der Widersacher Gottes verstanden. Er ist Anführer der Dämonen (Mt 9,35), die als gefallene Engel ebenfalls ausschließ­ lich der Sphäre des Bösen zugeordnet sind (Apk 12,4; 12,7 ff.; Eph 2,1f.). In der Folge ist eine Ver­ mischung der Vorstellung von Teufel und Dämonen im Volksglauben wie in der Wissenschaft (Biedermann; Di Nola u. a.) zu beobachten.“

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 145

absolut Böse repräsentieren. Die Spiele ordnen die Juden dieser Sphäre zu, indem sie sie als Werkzeuge des Teufels inszenieren. Der so etablierte Topos wird deshalb im Folgenden als Werkzeug-Topos bezeichnet. Das Einordnungsschema, über das die Verbindung hergestellt wird, lässt sich auf ein Teil-Ganzes-Schema zurückfüh­ ren. Der Teufel repräsentiert dadurch, dass das absolut Böse in ihm personifiziert ist, das ‚Ganze‘ in dieser Relation. Wer seinen Willen ausführt und folglich als Werkzeug des Teufels dient, ist als Teil des Bösen zu verstehen. Allgemein lässt sich die so etablierte Schlussregel wie folgt formulieren: Wenn der Teufel das abso­ lut Böse darstellt und danach trachtet, den Menschen zu verderben, sind auch seine (wissentlichen oder unwissentlichen) Werkzeuge Teile des Bösen und ihr Handeln befördert die Verderbnis des Menschen. Indem also ein Passionsspiel die Juden als Werkzeuge des Teufels ausweist, verortet es sie in der Sphäre des Bösen. Sie er­ scheinen so als virulente Bedrohung für das Wohlergehen der Christen im diesund jenseitigen Leben, auf die das Schauspiel aufmerksam macht. Der mesokon­ textbasierte Werkzeug-Topos kann bezüglich seiner Anwendung in den Spielen wie folgt formuliert werden: Weil die Juden Werkzeuge des Teufels sind, stellen sie eine unmittelbare Bedrohung für die Christen dar (und die Aufführung des (jeweiligen) Schauspiels ist folglich eine notwendige Verteidigungsmaßnahme). Dass es sich, anders als im Fall des Konkurrenz-Topos, um einen mesokontext­ basierten Topos handelt, äußert sich darin, dass er nicht nur im Rahmen der Passionsthematik Anwendung findet, sondern auch in vielen anderen religiösen Spielen eingesetzt wird. Französisch- und deutschsprachige theatrale Bearbei­ tungen des Theophilus-Stoffs, in denen der Vermittler zwischen Theophilus und dem Teufel traditionell ein jüdischer Magier ist, sind dafür prominente Beispie­ le.⁶² Uns wird der Werkzeug-Topos auch in den Antichristspielen wiederbegegnen (vgl. 3.1.2.3). Die Analyse der Passionsspiele zeigt, dass der antijüdische Werkzeug-Topos in sehr unterschiedlicher Intensität den Bedrohungs-Topos mitbestimmt. Alle Spiele beider Sprachräume präsentieren die Marter und Kreuzigung Christi als

62 Die Nähe zwischen den Juden und dem Teufel ist insbesondere in der Handschrift T (Trier, Stadtbibliothek, HS. 1120/128 4°) des mittelniederdeutschen Theophilus-Spiels hervorgehoben, in dem der Teufelsbund nicht direkt durch den Zauberer zustande kommt, sondern nur durch den Besuch einer Synagoge und die vermittelnde Einwirkung eines Juden möglich wird. Ei­ nen schematischen Handlungsüberblick der drei Fassungen des mittelniederdeutschen Theo­ philus-Spiels gibt Schnyder, André: Das mittelniederdeutsche Theophilus-Spiel. Text – Über­ setzung – Stellenkommentar, Berlin, New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 58 [292]), S. 303–308.

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Werk der Juden, doch nur einige – dafür zum Teil mit großem Nachdruck – stellen eine direkte Verbindung zwischen den Juden und dem Teufel her, im Rahmen de­ rer die Juden als seine Handlanger agieren. In den Spielen PaPs, SGPs, WoPs, PfPs und LuPs wird zwar die Beteiligung des Teufels am Verrat Judas‘ und seiner Selbst­ tötung⁶³ meist ebenso dargestellt wie sein Auftritt in der Szene der Versuchung Jesu (Mt 4,1–11; Lk 4,1–13) und somit das Wirken des Bösen in personifizierter Form veranschaulicht. Doch lassen sich in allen genannten Spielen keine Belege dafür finden, dass eine spezifische, über den Werkzeug-Topos argumentierende Verbindung zwischen dem Teufel und den Juden hergestellt würde. In MaPs finden sich einige Figurenreden, die die Juden ganz explizit in spezifi­ scher Weise mit dem Teufel assoziieren. So bezeichnet Nostre Dame in einer ihrer Klagereden nach der Kreuzigung Jesu den Teufel als Meister der Juden⁶⁴ und Saint Jehan nennt die Handlungen der Juden euvres dyabolicques (V. 17176; „teuflische Werke“). Sowohl das darin ausgedrückte hierarchische Verhältnis als auch die ex­ plizite Klassifizierung der Taten als teuflisch weisen die Juden der Sphäre des Bö­ sen zu, die in den Teufeln personifiziert ist. Insbesondere das evozierte Verhältnis von Meister und Untertanen folgt der Logik des Werkzeug-Topos, da es insinuiert, dass die Juden ihre euvres dyabolicques als Handlanger des Teufels und folglich als seine Werkzeuge ausführen. Es muss jedoch auch festgehalten werden, dass MaPs keine direkten Interaktionen zwischen Teufeln und Juden zeigt und letzte­ re nicht die einzige Personengruppe sind, die unter teuflischer Einwirkung han­ deln. Wie in vielen Passionsspielen üblich, führt MaPs die Teufel bereits relativ zu Beginn des Spiels als Repräsentanten des Bösen ein: Auf die Ankündigung der Jungfrauengeburt lässt das Spiel eine Szene folgen, in der Lucifer die Teufel zu­ sammenruft und, von der bevorstehenden Geburt Jesu unterrichtet, Sathan auf die Erde entsendet, um möglichst viele Menschen zu verführen und in die Höl­ le zu bringen (vgl. V. 1111–1207). Die Teufel stehen damit zunächst nicht in einer besonderen Verbindung mit den Juden, sondern werden in allgemeiner Weise als Urheber des Bösen in der Welt präsentiert. Einige dramatis personae werden un­

63 Während die Einwirkung des Teufels auf den Verrat des Judas seine Vorlage in Lk 22,3 und Joh 13,2 hat, ist sein Einfluss auf den Suizid nicht Teil der biblischen Ausgangstexte (vgl. Mt 27,3–10; Apg 1,15–19) oder der kanonisierten Form ikonographischer Darstellungen (zur ikonographi­ schen Tradition vgl. Schnitzler, Norbert: Judas’ Death. Some Remarks Concerning the Iconogra­ phy of Suicide in the Middle Ages. In: The Medieval History Journal 3/1 (2000), S. 103–118). In der Mehrheit sowohl deutsch- als auch französischsprachiger Passionsspiele ist er jedoch zu finden und scheint somit ein für die Gattung des Schauspiels charakteristisches Motiv zu sein. 64 Vgl. V. 16846 ff.: Les peines qui sont perdurables / Vous en sont deues en infer / Avec vo maistre Lucifer. („Die ewigen Qualen erwarten euch in der Hölle, mit eurem Meister Lucifer.“).

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

147

freiwillig Opfer der Teufel⁶⁵, andere gehen wissentlich und willentlich einen Bund mit ihnen ein. Die Juden werden über Fremdkommentare der zweiten Gruppe zu­ geordnet, doch fallen auch Judas oder Metelle, einer der römischen ‚Ritter‘ (che­ valier) des Pilate, in diese Kategorie.⁶⁶ Auffällig ist dennoch, dass die Verbindung mit dem Teufel über Fremdkommentare nur die Juden als Kollektiv betrifft. Keine andere Figur oder Figurengruppe wird explizit über die Reden positiv besetzter dramatis personae, wie Nostre Dame und Saint Jehan, dem Teufel und damit der Sphäre des Bösen zugeordnet, obwohl der Handlungsverlauf dies durchaus recht­ fertigen würde – zum Beispiel im Fall von Metelle. Dass dies nicht geschieht, deu­ tet darauf hin, dass entgegen der szenischen Ausgestaltung, die das Verhältnis zwischen Teufeln und Juden in der Handlung nur begrenzt entwickelt, der Werk­ zeug-Topos in MaPs dennoch als habitualisiertes Muster eingeschrieben ist, das sich punktuell äußert und die negative Wahrnehmung der Juden mitbestimmt. Die Anlage des Werkzeug-Topos in GrPs entspricht in den Grundzügen der von MaPs, doch haben die Szenen der Teufel (frz. diableries) deutlich an Bedeu­ tung gewonnen. Ein klar erkennbares Strukturmoment des im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert äußerst populären Spiels ist die Opposition der wider­ streitenden Prinzipien von Gut und Böse, die sich in den dramatis personae Gott und Engel sowie Lucifer und Teufel und den ihnen zugewiesenen Bühnenorten Paradies und Hölle manifestieren. GrPs stellt die Genese des Bösen ganz an den Anfang der Handlung, indem es die erste Szene mit dem Aufbegehren Lucifers und seiner Anhänger und ihrer Verstoßung aus dem Himmel beginnen lässt (vgl. V. 27–242). Die Teufel dienen als Personifikationen des Bösen und werden in eine direkte Verbindung mit Figuren gebracht, die böse handeln. Sie haben nicht nur in den traditionellen Szenen (Versuchung Jesu und Verrat sowie Suizid des Judas) ihren Auftritt, sondern erscheinen auch als zentrale Triebkräfte des gesamten Pas­ sionsgeschehens. GrPs schließt an die Ankündigung der Jungfrauengeburt Mari­ as eine Zusammenkunft Lucifers und seiner teuflischen Untertanen in der Hölle an, in welcher sie über die Geburt eines Erlösers der Menschen diskutieren und beschließen, den gefürchteten Heilsbringer zu verderben (vgl. V. 3687–3960). Ei­ ne Reihe von Szenen zeigt im weiteren Spielverlauf die wütenden Reaktionen der

65 So erscheint beispielsweise die besessene Tochter der Kanaanäerin, aus der Jesus den Teufel Cerbere austreibt, als bloßes Opfer dämonischen Einflusses, dem keine eigene Intentionalität zugedacht ist (vgl. V. 7855–7874, für die biblische Vorlage vgl. Mt 15,21–28). 66 Judas wendet sich aufgrund von Verzweiflung und Schuldgefühlen an die Teufel, um seine eigene Verdammung herbeizuführen (vgl. V. 13065–13151). Metelle gewinnt in dem Würfelspiel, das Juden und Römer um die Kleidung Jesu spielen, indem er den Teufel als Meister anruft und daraufhin durch einen teuflischen Zauber eine Zehn würfelt (vgl. V. 16511–16516).

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Teufel auf das Wirken Jesu und ihre Überlegungen, wie sie ihn zu Fall bringen könnten. Auf die Episode der Auferweckung des Lazarus folgt zum Beispiel ein Zwischenspiel der Teufel in der Hölle, die über den Verlust der Seele des Laza­ rus klagen, und ein Monolog des auf die Erde entsandten Sathan, der angestrengt überlegt, wie er Jesus zu Tode bringen kann: Se le deable a mon fait ne pense, je suis sur le point d’enraiger. Tous les jours ay nouveau dangier par ce Jhesus, que Dieu confonde, qui me fait tous les maulx du monde. [. . . ] Ha, que Lucifer est dolent maintenant et remply de raige qu’il pert ainsi son prisonnier ! [. . . ] Il me vient bien que pas n’y suis : j’eusse bien des poires dangoisse⁶⁷. Il n’est moyen que j’y congnoisse pour ravoir mes loys coustumieres se n’est de touver les magnieres que ce Jhesus soit mis a mort, car tant a moy nuyre s’amort que tout pers se je n’y pourvois. Aux princes de la loy m’en vois pour les esmouvoir et tempter ; quant ilz ourront ce fait compter, il y ara belles matines. (V. 15131–15166)

Hol mich der Teufel, ich werde bald wahnsinnig. Jeden Tag habe ich ein neues Problem, durch diesen Jesus, Gott möge ihn vernichten, der mir alle Vergehen der Welt antut. [. . . ] Ach, wie wütend Lucifer jetzt ist und voller Zorn darüber, dass er auf diese Weise seinen Gefangenen verliert! [. . . ] Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich nicht dort bin: Ich würde sicherlich die Mundbirne erhalten. Es ist ausgeschlossen, dass ich mich dort sehen lasse, um mein Gewohnheitsrecht zurückzuerlangen, außer ich finde eine Möglichkeit, um diesen Jesus zu Tode zu bringen, denn er ist so darauf erpicht, mir zu schaden, dass ich alles verliere, wenn ich nicht dafür sorge. Ich gehe zu den Gesetzeshütern, um ihre Gemüter zu erregen und sie in Versuchung zu führen; wenn sie von dieser Tat hören, wird es hoch hergehen.

Die Rede Sathans sowie weitere diableries geben dem bösen Prinzip, das hinter dem Handeln der Juden steht, ein Gesicht. Etwas später im Spielverlauf folgt eine Szene, in der Sathan sein bisheriges Versagen beichtet, gefoltert wird, und Luci­ fer schließlich von der neuen List überzeugen kann, den Jünger Judas zum Verrat an Jesus anzustiften (vgl. V. 17284–17423). Lucifer entsendet in der Folge den Teu­ fel Berich, der die Pharisäer weiter gegen Jesus aufhetzen soll, und Sathan, dem die Aufgabe zukommt, Judas zu korrumpieren. Die Verschwörung zwischen Ju­

67 Die poire d’angoisse (dt. Mundbirne) ist ein seit dem Mittelalter bezeugtes Folterinstrument (vgl. GFC 306).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 149

das und den jüdischen Widersachern Jesu, die in der nächsten Szene folgt, wird mithin als Werk der Teufel inszeniert, die sich als stumme Drahtzieher weiterhin im Zentrum des Geschehens befinden (vgl. die Regieanweisung nach V. 17423: Icy s’en va Berich aux Pharisïens et Sathan poursuit Judas., „Nun geht Berich zu den Pharisäern und Satan folgt Judas.“).⁶⁸ Obwohl die Teufel in GrPs nur in seltenen Fällen direkt mit menschlichen Figuren interagieren⁶⁹, deuten die oben genannte sowie weitere Regieanweisungen und Figurenreden⁷⁰ darauf hin, dass die TeufelDarsteller die dramatis personae, die unter ihrem Einfluss stehen, auf der Bühne begleiten. Damit markiert ihre physische Präsenz, dass sich diese Figuren und ih­ re Handlungen im Bereich des Bösen befinden. Die Teufel werden als Stigmabilder eingesetzt, welche die Dimension moralischer Bewertung für das Publikum räum­ lich abbilden und somit auf visueller Ebene besonders gut erkennbar machen. Die Verschwörung der Juden und ihr Vorgehen gegen Jesus bis hin zur Kreuzigung und der Verfolgung seiner Anhänger wird damit auf teuflische Einflüsse zurück­ geführt und die Juden als Werkzeuge des Teufels präsentiert.⁷¹ GrPs gestaltet also

68 Auch Joshua Trachtenberg widmet der Engführung von Juden und Teufeln in GrPs einen kurzen Absatz, wobei er sich ganz auf die Darstellung in Strumpf, Juden, S. 6 verlässt (vgl. Trachtenberg, The Devil and the Jews, S. 22 f.). Beide Autoren betonen jedoch zu Recht die In­ szenierung einer jüdisch-teuflischen Verschwörung in GrPs. 69 Gespräche finden nur in spezifischen Situationen unter besonderen Umständen statt, wie im Fall des Dialogs zwischen Judas und Desesperance (vgl. V. 21747–21967) oder der Erscheinung Sathans im Traum der Frau des Pilatus (vgl. V. 23372–23414, für die biblische Vorlage vgl. Mt 27,19). 70 Vgl. z. B. die Regieanweisung nach V. 15166 (JoII 244), wie Hs. E sie vermerkt: Ici vient Satham aux Pharisiens et, cependant, dit [Neptalin, CP] („Darauf kommt Sathan zu den Pharisäern und währenddessen spricht [Neptalin]“). Auch die Entscheidung des Königs Herode, die männlichen Kinder aus Bethlehem umbringen zu lassen (biblische Vorlage: Mt 2,16), wird explizit als teuflisch motiviert beschrieben (vgl. die Worte Sathans: Ung point luy avoye encorné, / que tous les enfançons petiz / De Bethlëem et des partiz / par mort destruist et exillast, V. 7402–7405; „einen Punkt hatte ich ihm in den Kopf gesetzt: dass er alle kleinen Kindlein aus Bethlehem und dem Umland töten und vernichten soll“). Dass die Handlungen unter teuflischem Einfluss geschehen, drückt sich auch hier zusätzlich darin aus, dass Sathan und Berich an Herodes Seite präsent sind, wenn er die schrecklichen Taten beauftragt. Eine Regieanweisung sieht vor, dass beide Teufel zu Herode gehen (vgl. nach V. 7424: Icy s’en vont vers Herode.) und in Ermangelung weiterer, auf die Teufel bezogener Regieanweisungen bis zum Suizid Herodes, ist naheliegend, dass sie ihn in den folgenden Szenen permanent begleiten. Die Miniaturen in zwei bebilderten Handschriften von MaPs und GrPs zeigen zudem den wahnsinnigen Herode kurz vor seiner Selbsttötung im Bett liegend und in Anwesenheit eines oder mehrerer Teufel (vgl. für MaPs Arras, Bibliothèque municipale, Ms. 625, fol. 71v und für GrPs Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 6431, fol. 51r). 71 GrPs lässt gleichwohl immer wieder erkennen, dass auch das Verhalten der Teufel letztlich Teil des göttlichen Heilsplans ist und auf die Erlösung des Menschen hinsteuert. So inszeniert GrPs (analog zu MaPs, darin V. 14096–14214) den Traum der Frau des Pilatus als Einwirkung der Teufel, die sich ihres Irrtums bewusst geworden sind und versuchen, den Opfertod Jesu in letz­

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szenisch sehr viel stärker aus, was auch in MaPs angelegt ist. Über die perfor­ mative Entfaltung hinaus weisen auch in GrPs Fremdkommentare die Juden als Werkzeuge des Teufels aus. Zum Beispiel bezeichnet der Präcursor zu Beginn des dritten Spieltags die Juden als menistres Sathanas (V. 20062; „Diener Satans“) und ordnet damit sowohl sie als auch ihr Handeln gegen Jesus dem Einflussbereich des Teufels zu. Obwohl, wie auch in MaPs, jüdische Figuren längst nicht die einzigen sind, welche von Luzifers Schergen manipuliert werden, sind wertende Fremd­ kommentare in GrPs ebenfalls den Juden vorbehalten, wodurch eine besondere Nähe zwischen ihnen und dem Teufel insinuiert wird. Sehr deutlich äußert sich der Werkzeug-Topos auch in AlPs. Auf der Struk­ turebene ist er dort in gleicher Weise entwickelt wie in MaPs und GrPs. Durch ein am Anfang des Spiels platziertes Vorspiel wird die Passionsgeschichte als Plan der Teufel ausgewiesen. Während ihrer ersten Zusammenkunft berichtet Sathanas von der erfolgreichen Ausführung seiner Mission: Er habe die Juden verdorben und sie darauf eingeschworen, Jesus zu töten. Als nächstes wolle er sich des Jüngers Judas bemächtigen, damit dieser Jesus an die Juden verrate (vgl. V. 183–198). Seine teuflischen Gefährten beeilen sich, Luciper ebenfalls ihre Mit­ hilfe bei der Vernichtung Jesu zu versichern, die darin besteht, die Juden gegen den Sohn Gottes aufzubringen (vgl. V. 207–367). AlPs markiert somit die Juden bereits vor ihrem ersten Auftritt als zentrale Werkzeuge der Teufel, die diese zur Erfüllung ihres Plans einsetzen. Die Stellung der Szene ist gegenüber MaPs und GrPs zusätzlich hervorgehoben, weil sie nicht in eine umfassendere Rahmen­ handlung eingebunden ist, sondern allein die Rahmung des Passionsgeschehens leistet. Judith Wenzel hat eine ausführliche Analyse der Verknüpfung von Teufeln und Juden in AlPs vorgelegt, die auch die weitere Spieltradition im deutschspra­ chigen Raum miteinbezieht. Obwohl sie nicht mit dem Topos-Konzept arbeitet, benennt sie in ihrer Analyse doch wesentliche Aspekte seiner Realisierung in AlPs.⁷² Aus diesem Grund soll hier keine ausführliche Erläuterung der Umset­ zung des Werkzeug-Topos erfolgen. In vergleichender Perspektive bezüglich der französischen Spiele sei lediglich darauf hingewiesen, dass auch in AlPs exklu­ siv die jüdische Verbindung zum Teufel in Fremdkommentaren positiv besetzter Figuren expliziert wird.⁷³ Stärker als MaPs und GrPs zeigt AlPs direkte Interak­

ter Sekunde zu verhindern (vgl. V. 23233–23371). Das Böse bleibt stets umgrenzt und dem Guten unterlegen. 72 Vgl. Wenzel, Juden, S. 120–131. 73 Vgl. z. B. Ecclesias an die Juden gerichtete Worte in V. 5107: ir hot vch dem tufel vorplicht („ihr habt euch dem Teufel verpflichtet“). Vgl. außerdem V. 4666, 5008 und 5062.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 151

tionen zwischen Teufeln und Menschen. So spricht etwa Sathanas unmittelbar mit Judas, um ihn zum Verrat Jesu zu bewegen (vgl. V. 3130–3139). In GrPs ma­ nifestiert sich der teuflische Einfluss in der Welt in ihrer physischen Präsenz, doch bleiben sie einer anderen Sphäre zugehörige Figuren, die nur als Allegorien oder Traumerscheinungen oder nach dem Tod menschlicher Figuren, durch den diese in ihren direkten Einflussbereich gelangen, zu den Menschen sprechen. Ge­ genüber den wandelnden Stigmabildern in GrPs (und den noch stärker auf den Raum der Hölle beschränkten Teufeln in MaPs) erhalten die Teufel in AlPs einen erweiterten Handlungsspielraum, der auch ihrem Einfluss auf die Juden zusätz­ liche Konkretion verleiht. Insgesamt zeigt der Vergleich der Passionsspiele aus dem französischen und dem deutschen Sprachraum jedoch, dass die Verbindung von Juden und Teufeln, wenn sie als ein Element des antijüdischen BedrohungsTopos identifiziert werden kann, strukturell auf die gleiche Weise inszeniert wird. Die behandelten Spiele setzen alle eine diablerie an den Anfang des dargestellten Geschehens, die die Juden als Werkzeuge der Teufel ausweist, und unterstrei­ chen dieses Verhältnis im weiteren Spielverlauf sowohl performativ als auch sprachlich. Judith Wenzel berücksichtigt nicht die französische Tradition, wenn sie festhält, dass „[d]as Alsfelder Passionsspiel [. . . ] das einzige Spiel [sei], das bereits in seiner Exposition das ‚Gegenspiel‘ der teuflischen Mächte so eindrucks­ voll herausstellt und zugleich die Juden und die Teufel als Bundesgenossen im Kampf gegen Jesus zeigt.“⁷⁴ Ob den Autoren von AlPs, das nach MaPs und GrPs entstanden ist, die französischen Spiele bekannt waren, kann aus ihren struk­ turellen Gemeinsamkeiten nicht geschlossen werden. Die große Breitenwirkung, die insbesondere das in ungewöhnlich vielen Handschriften überlieferte GrPs erfahren hat, lässt dies zumindest nicht unmöglich erscheinen. In jedem Fall wird an dieser Stelle deutlich, dass Motive und persuasive Strategien offenbar über Landesgrenzen hinweg zirkulieren konnten, wir sie aber durch eine einzel­ philologische Perspektive aus den Augen verlieren. Hier liegt das Potential des textsemantischen Ansatzes, der die Topos-Analyse in komparatistischer Perspek­ tive fruchtbar macht und einen erweiterten Zugang zum europäischen Phänomen Schauspiel ermöglicht. 3.1.1.3 Wesensart-Topos Der dritte Topos, der in den Passionsspielen wiederholt begegnet, stellt ein Ar­ gumentationsmuster dar, das direkt aus der Person selbst abgeleitet wird. Diese Kategorie hat keinen Eingang in Kienpointners Typologie gefunden, lässt sich je­

74 Wenzel, Juden, S. 128.

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doch bis in die klassische Rhetorik zurückverfolgen.⁷⁵ Ottmers verhandelt Topoi aus der Person im Rahmen konventionalisierter Schlussverfahren (im Gegensatz zur Gruppe der alltagslogischen Schlussregeln), zu denen er auch den Autoritätsund Analogie-Topos zählt.⁷⁶ Die Topoi aus der Person beruhen in der Regel auf dem Schluss von bestimmten Eigenschaften und/oder Handlungs- und Verhal­ tensweisen auf andere Eigenschaften und/oder Handlungs- und Verhaltenswei­ sen derselben Person (z. B.: Wenn X habgierig ist, wird er/sie vor Diebstahl nicht zurückschrecken). Aufgrund ihres stark konventionalisierten Charakters handelt es sich laut Ottmers um besonders verfestigte Argumentationsstrukturen, die zu Klischees erstarren können.⁷⁷ Eine Spielart des Topos aus der Person, die bereits im oben genannten Bei­ spiel anklingt, ist die Argumentation aus der Wesensart. Einer Person oder Perso­ nengruppe wird eine bestimmte charakterliche Disposition zugesprochen, die als Begründung für daraus resultierende Handlungs- und Verhaltensweisen oder Be­ wertungen der Person bzw. Personengruppe fungiert. Quintilian nennt beispiels­ weise in seiner Institutionis oratoriae unter dem Stichwort ‚Wesensart‘ (animi natu­ ra) die Eigenschaften Habgier, Jähzorn, Mitgefühl, Grausamkeit und Strenge, die Vertrauen erwecken oder zerstören könnten.⁷⁸ Indem das Wesen einer Person als ursächlich für bestimmte Verhaltensweisen dargestellt wird, können diese auch für die Zukunft als das zu erwartende Verhalten der Person prognostiziert werden. Die Analyse der Passionsspiele zeigt, wie diese Argumentation dazu genutzt wird, die Bedrohlichkeit der Juden zu unterstreichen und sie als den Christen grund­ sätzlich wesensfremd zu charakterisieren und aus der Gemeinschaft auszugren­

75 Vgl. etwa Quintilians Auflistung der aus der Person zu ziehenden Argumente, zu denen bei­ spielsweise Abstammung, Körperbeschaffenheit, Alter und Wesensart gehören (Quintilian V, 10, 23–31, konsultiert in Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae. Libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. von Helmut Rahn, Bd. 1, Darmstadt 1988, nach dem auch im Fol­ genden zitiert wird). Unter Verweis darauf, dass die meisten Lehrbücher alles aufzählen, was zur Person gehört, beschränkt Quintilian seine Ausführungen auf die argumentativ nutzbaren Topoi (vgl. Quintilian V, 10, 23 [Kursivierung CP]: „personis autem non quidquid accidit, exsequendum mihi est, ut plerique fecerunt, sed unde argumenta sumi possunt. [. . . ] ich brauche aber nicht al­ les auszuführen, was zu den Personen gehört, wie es die meisten [Lehrbücher] machen, sondern nur das, woher Beweise zu entnehmen sind“). Dies unterstreicht, dass es sich offenbar bereits um eine gängige Kategorie handelt. 76 Vgl. Ottmers, Rhetorik, S. 119 ff. 77 Vgl. ebd. 78 Vgl. Quintilian V, 10, 27 (Kursivierung CP): „animi natura, etenim avaritia, iracundia, miseri­ cordia, crudelitas, severitas aliaque his similia adferunt fidem frequenter aut detrahunt, [. . . ]. [. . . ] die Wesensart; denn Habgier, Jähzorn, Mitgefühl, Grausamkeit, Strenge und anderes dergleichen flößt häufig Vertrauen ein oder nimmt es; [. . . ]“.

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

153

zen. Der Wesensart-Topos, wie er in den Passionsspielen zur Anwendung kommt, lässt sich wie folgt formulieren: Weil die Juden die Wesensart X besitzen, stellen sie jetzt und zukünftig eine Bedro­ hung für die Christen dar (und die Aufführung des (jeweiligen) Schauspiels ist folg­ lich eine notwendige Verteidigungsmaßnahme). Es handelt sich um einen mesokontextbasierten Topos, der auch in Antichrist­ spielen zur Anwendung kommt, wie an späterer Stelle zu sehen sein wird. In Anlehnung an die Kantische Unterscheidung zwischen analytischen und syn­ thetischen Urteilen⁷⁹ kann der Wesensart-Topos von den zwei oben besprochenen Topoi unterschieden werden. Während letztere einen synthetischen Charakter aufweisen, d. h. der Schluss auf einer bestimmten In-Bezug-Setzung der Juden zu anderen empirischen Faktoren beruht, ist der im Wesensart-Topos vorgenommene Schluss analytischer Natur. Der Konkurrenz-Topos basiert auf dem antagonisti­ schen Verhältnis zwischen Juden und Christen und der Werkzeug-Topos etabliert ein spezifisches Verhältnis zwischen dem (als empirisch fassbar vorgestellten) Teufel und den Juden. Demgegenüber argumentiert der Wesensart-Topos analy­ tisch, d. h. er erläutert etwas als dem Kollektiv der Juden intrinsisch Vorgestelltes. Dieser Argumentation zufolge geht das bedrohliche Verhalten der Juden nicht aus einer empirischen Konstellation hervor, sondern aus ihrem eigenen Wesen. Der Wesensart-Topos radikalisiert auf diese Weise das jüdische Feindbild: Weil das unchristliche Verhalten der Juden in ihrer Wesensart wurzelt, unterscheiden sie sich fundamental von den Christen. Eine Versöhnung erscheint folglich unmög­ lich, weil es – in der Argumentation des Wesensart-Topos – nicht äußere Faktoren sind, die die Juden zu Feinden der Christen machen, sondern die Ursache in ihnen selbst begründet liegt. Die konkreten Eigenschaften, die die Spiele den Juden als wesenhafte Züge zuschreiben, stehen in einer langen literarisch-ikonographischen Tradition. Das Schauspiel baut auf dieser auf und schreibt sie gleichermaßen weiter fort. Zwei Ausformungen des Wesensart-Topos lassen sich auf Basis der Lektüre festhalten: Verrohung und Verstocktheit. Auf eine dritte Spielart, Habgier, soll im Rahmen der Passionsspiele nur im Vorübergehen eingegangen werden, um sie im Zusam­ menhang mit den Antichristspielen des Korpus näher zu erläutern.

79 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. III, Wiesbaden 1974, S. 50 (graphische Variationen im Original): „Entweder das Prädikat B gehört zum Subjekt A als etwas, was in diesem Begriffe A (versteckter Weise) enthalten ist; oder B liegt ganz außer dem Begriff A, ob es zwar mit demselben in Verknüpfung steht. Im ersten Fall nenne ich das Urteil a n a l y t i s c h, in dem andern s y n t h e t i s c h.“

154 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

a) Verrohung Seit der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts sind ikonographische Passi­ onsdarstellungen überliefert, die die brutalen Folterer Christi explizit als Juden darstellen.⁸⁰ Sara Lipton weist darauf hin, dass aus dieser Zeit auch die ersten Bildquellen stammen, in denen die Mörder Christi deutlich erkennbar als Juden porträtiert sind.⁸¹ Sowohl deutsch- als auch französischsprachige Passionsspie­ le verleihen den Folterungs- und Kreuzigungsszenen zusätzliches Leben, indem sie sie in die Länge ziehen und sich in der Inszenierung grausamer Foltermetho­ den schier zu überbieten scheinen.⁸² Die Folterknechte sind auch in den Spielen häufig als Juden dargestellt, die ihr grobes Handwerk unverhohlen genießen und sich einen Spaß aus der Demütigung und Versehrung Jesu machen, den sie nicht nur physisch, sondern auch verbal traktieren. Die ikonographische und theatra­ le Inszenierung der Juden als Gottesmörder charakterisiert die Juden folglich als verroht. Unter Verrohung ist eine gefühlsgeleitete, ratiofeindliche Wesensart zu verstehen, die sich in brutalen, enthemmten Taten und Worten äußert und stark mit dem christlichen Ideal der Compassio kontrastiert.⁸³ Die Passionsspiele heben diesen Gegensatz besonders deutlich hervor, indem sie dem Verhalten der Juden im Passionsgeschehen das positiv besetzter Figuren, beispielsweise in der mater dolorosa- und vera icon-Episode, direkt gegenüberstellen. Das Fehlverhalten der Juden tritt so als Negativexempel umso deutlicher hervor. Alle Passionsspiele des Untersuchungskorpus weisen performative und sprachliche Formen der Inszenierung jüdischer Verrohung auf, die sich insbeson­ dere im eigentlichen Passionsgeschehen äußern. Bereits das älteste französische 80 Zur Geschichte der judenfeindlichen Ikonographie im Mittelalter vgl. Lipton, Sara G.: Dark mirror. The Medieval Origins of Anti-Jewish Iconography, New York 2014, zur Rolle der Juden im Passionsgeschehen insb. S. 97–112. Eine repräsentative Sammlung der Darstellungen von Juden in der christlichen Bildkunst des Mittelalters liefert Schreckenberg, Heinz: Christliche Adver­ sus-Judaeos-Bilder. Das Alte und Neue Testament im Spiegel der christlichen Kunst, Frankfurt a. M. u. a. 1999 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 23. Theologie 650). 81 Vgl. Lipton, Dark mirror, S. 101 f. 82 Die Gewalt und ihre Funktionen im Geistlichen Spiel behandelt Eming, Jutta: Gewalt im Geist­ lichen Spiel: Das Donaueschinger Passionsspiel und das Frankfurter Passionsspiel. In: German Quarterly 78/1 (2005), S. 1–22. 83 Im Rahmen der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit, die dem Bild des Christus trium­ phans das des Christus patiens entgegensetzt, wird Compassio im Sinne einer „meditativ-affekti­ ven Angleichung an den leidenden Christus“ (Barton, Ulrich: Eleos und compassio. Mitleid im antiken und mittelalterlichen Theater, Tübingen 2016, S. 94) zu einem zentralen Prinzip religiöser Erfahrung. Ein detaillierter Überblick über die Entwicklung der Mitleidskonzeption im antiken und mittelalterlichen Christentum findet sich hier auf S. 86–105. Die Compassio wird bekannter­ maßen im Kontext der Reformation, insbesondere von Martin Luther und dem Wittenberger Kreis, auch von christlicher Seite stark kritisiert, doch ist keines der Spiele des Untersuchungskorpus dieser Strömung zuzuordnen.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 155

Spiel, PaPs, gestaltet die in der biblischen Vorlage angelegten Brutalitäten, die jüdische dramatis personae Jesus angedeihen lassen, relativ umfangreich aus. So werden die Figuren, die Jesus im Auftrag Pilates‘ foltern, in PaPs als Juden gekennzeichnet, die hocherfreut sind, ihren Rachedurst ausleben zu können. Die Interpretation der Folterer Jesu als Juden wird zwar durch die biblischen Aus­ gangstexte ermöglicht, ist aber keinesfalls zwingend und stellt eine Entscheidung des Autors dar.⁸⁴ Der hebräische Name Cayn markiert den Diener Pilates‘ als Ju­ den und Huitacelin wird als badés (V. 546; „Gerichtsdiener“) beschrieben, der [a]u proonel ou a l’autel (V. 547; „auf der Kanzel oder am Altar“) zu finden sei. Sowohl die Berufsbezeichnung als auch der Aufenthaltsort Huitacelins lassen einen jüdischen Gerichtsdiener vermuten, der sich in einer Synagoge aufhält. Diese Vermutung bestätigt sich in den Worten Pilates‘, der Cayn und Huitacelin mit der Folter Jesu beauftragt, [c]ar il veut vostre loy abatre (V. 385; „weil er euer Gesetz zerstören will“). Durch das Possesivpronomen vostre ist deutlich ausge­ drückt, dass Pilates seine beiden Adressaten zur Gruppe der Juden zählt, die ihr Gesetz als durch Jesus bedroht betrachten. Einen weiteren Hinweis auf die jüdische Identität der Figuren liefert die von beiden ausgedrückte Apostrophe ei­ nes singularischen Gottes.⁸⁵ Dieser ist charakteristisch für den monotheistischen Glauben der Juden; im Falle einer Markierung der Figuren als römisch wäre mit einer pluralischen Formulierung oder einer namentlichen Benennung (Jupiter etc.) zu rechnen. Es folgt eine demütigende und brutale Folterdarstellung, in der Huitacelin und Cayn Jesus seiner Kleider entledigen, diese unter sich auslosen und ihm anschließend so sehr durch Schläge zusetzen, dass sie selbst völlig er­ schöpft sind (vgl. V. 602–669). Ihre Brutalität wird durch Kommentare, die die Handlung begleiten, hervorgehoben; etwa durch den Streit darum, wer den Auf­ trag Pilates‘ ausführen darf (vgl. V. 639–647) oder das Bedauern darüber, dass 84 Die Evangelien vermerken knapp in einem Satz, dass Pilatus Jesus auspeitschen lässt (vgl. Mt 27,26; Mk 15,15; Joh 19,1; in Lk 23,22 wird nur Pilatus‘ Absicht genannt, Jesus züchtigen zu las­ sen). Wer seinen Befehl ausführt, bleibt aufgrund der passivischen Formulierungen in den Evan­ gelien vage (vgl. z. B. Mt 27,26: Tunc dimisit illis Barabban | Iesum autem flagellatum tradidit eis ut crucifigeretur oder Mk 15,15: Pilatus autem volens populo satisfacere | dimisit illis Barabban et tradidit Iesum flagellis caesum ut crucifigeretur; die Vulgata wird grundsätzlich zitiert nach Hie­ ronymus: Biblia Sacra Vulgata. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von Michael Fieger, Widu-Wolfgang Ehlers und Andreas Beriger, 5 Bd., Berlin, Boston 2018 [Tusculum]). Die unmittelbar anschlie­ ßende Dornenkrönung, von der es heißt, dass Pilatus‘ Soldaten sie durchführen (vgl. z. B. Mk 15,16f.: Milites autem duxerunt eum intro in atrium praetorii | et convocant totam cohortem et indu­ unt eum purpuram | et inponunt ei plectentes spineam coronam), legt jedoch nahe, dass sie bereits zuvor mit der Auspeitschung betraut worden waren. 85 Vgl. V. 590: Sire, li grant Dieu m’i envoie ! („Herr, der große Gott möge mich dorthin senden!“); V. 600: Par le grant Dieu, et je l’otroy. („Beim großen Gott, und ich werde ihn gebührend empfan­ gen.“).

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Jesus während der Folter nicht schreit und weint (vgl. V. 664 f.: Je voi qu’il ne brait ne ne crie. / La male passion l’ocie !; „Ich sehe, dass er weder weint noch schreit. Die Pest soll ihn holen!“). Eine zusätzliche Verschärfung erhält die Figu­ renzeichnung der Juden als brutale Schläger, indem PaPs das gesamte folgende Geschehen um Verspottung und Kreuzigung Jesu in die Zuständigkeit der Juden verlegt. Während sowohl im Matthäus- als auch im Markus-Evangelium davon berichtet wird, dass es die römischen Soldaten des Pilatus sind, die Jesus im Prätorium verspotten und seine Kreuzigung durchführen (vgl. Mt 27,27–38; Mk 15,16–26), legt das Lukas-Evangelium nahe, die Kreuzigung läge in der Hand der Juden.⁸⁶ Das Johannes-Evangelium lässt daran schließlich keinen Zweifel mehr: Hier liefert Pilatus Jesus den Juden zur Kreuzigung aus und es heißt explizit, dass diese ihn ausgehändigt bekommen und mit sich führen.⁸⁷ PaPs orientiert sich klar ersichtlich an den Evangelien des Lukas und Johannes, wenn es die jüdischen Fi­ guren Cayphas, Haquin, Marques und Mossé als Handlungsträger der Kreuzigung auftreten lässt⁸⁸, die voller Eifer Nägel bei einer Schmiedin erwerben⁸⁹, Jesus ans Kreuz nageln und ihn mit dem größtem Vergnügen quälen und verspotten (vgl. V. 768–952). Die szenische Gestaltung zeigt, dass der Autor von PaPs dort, wo die biblischen Ausgangstexte sich sichtbar unterscheiden und viel Entscheidungs­ spielraum lassen, immer die judenfeindliste Option wählt.⁹⁰ Er geht dabei so weit,

86 Vgl. Lk 23,25f.33. Die Erwähnung an späterer Stelle (Lk 23,36), dass auch die Soldaten sich über den gekreuzigten Jesus lustig machen, verstärk den Eindruck, dass zuvor von jüdischen Akteuren die Rede war. 87 Vgl. Joh 19,16: Tunc ergo tradidit eis illum ut crucifigeretur | Susceperunt autem Iesum et eduxe­ runt. 88 Auch Herode ist in die Kreuzigungsvorbereitungen eingebunden (vgl. V. 781–784 und 862–865), doch wird die Szene sehr deutlich von jüdischen Figuren dominiert. 89 Die Quelle der nicht biblischen Episode, in der einige Juden Nägel bei einem Schmied kaufen möchten, der sich, als er von ihrem Zweck erfährt, als verletzt ausgibt, dessen Frau jedoch aus Profitgier den Handel trotzdem abschließt, ist meines Wissens unbekannt (für eine ausführliche Darstellung der Legende und weiterführende Literatur vgl. Lommatzsch, Erhard: Die Legende von der Schmiedin der Kreuzesnägel Christi. In: Kleinere Schriften zur romanischen Philologie. Mit 7 Lichtdrucktafeln. Hrsg. von Erhard Lommatzsch, Berlin 1954, S. 82–125). Es handelt sich aber um eine ‚klassische‘ Episode in französischen Passionsspielen, die darüber hinaus (und vermutlich ausgehend von der Spieltradition) auch in anderen literarischen Gattungen und iko­ nographischen Darstellungen zu finden ist. So zeigt zum Beispiel die Miniatur der Kreuztragung in dem von Jean Fouquet Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts geschaffenen Stundenbuch des Éti­ enne Chevalier im unteren Bilddrittel die Schmiedin bei der Herstellung der Nägel. Die Legende hat keinen Eingang in die deutsche Passionsspiel-Tradition gefunden. 90 Er steht damit durchaus in der Tradition der Adversus Judaeos-Literatur, in der wiederholt die Schuld am Gottesmord allein den Juden zugesprochen wird. Schreckenberg hält für die ein­ schlägigen Schriften des Augustinus fest (Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

157

dass er sogar von allen Evangelien abweicht, indem er die Episode der Verspot­ tung im Prätorium, in welcher die Soldaten des Pilatus Jesus einen Purpurmantel anlegen und ihm die Dornenkrone aufsetzen (vgl. Mt 27,27–31; Mk 15,16–20; Joh 19,2f.), in die Kreuzigungsszene verschiebt.⁹¹ In PaPs ist es folglich die jüdische Figur des Mossé, die den bereits gekreuzigten Jesus mit der Dornenkrone peinigt und verhöhnt: Tenez, Jhesu, ceste corone, Car ele est mout bele et mout bone. Sus vostre chief la porteroiz Pour ce que estes des Juis roys. Ele n’est d’argent ne d’or mier, Ains est d’un apres boutonier. (V. 939–944)

Hier bekommt Ihr, Jesus, diese Krone, denn sie ist sehr schön und sehr gut. Auf Eurem Kopf werdet Ihr sie tragen, weil Ihr der König der Juden seid. Sie besteht nicht aus Silber und nicht aus purem Gold, sondern aus einem dornigen Wildrosenstock.

Die Juden rücken somit in PaPs vollständig an die Stelle der römischen Soldaten, was einen deutlich erweiterten Spielraum für die Ausstellung ihrer verrohten Na­ tur eröffnet. Diese drückt sich in prahlerischen Reden über die eigene Brutalität aus⁹², die davon zeugen, dass die Juden sich am Leid Jesu ergötzen, und natürlich in der performativen Ausgestaltung brutaler Handlungen. Zum Beispiel wird der Vorgang, in dem die jüdischen Figuren Mossé und Haquin Jesus ans Kreuz nageln, durch lautes Mitzählen in den Vordergrund gerückt und für das Publikum, das die Hammerschläge auch sehen kann, auf akustischer und visueller Ebene besonders intensiv erfahrbar gemacht.⁹³ Texte, S. 354): „Für den Tod Jesu tragen allein die Juden – nicht etwa die Römer oder auch die Römer – die Verantwortung, ja, ihre Schuld ist eine kollektive; denn den Juden seiner Zeit ruft der Kirchenvater, zu: ‚Ihr habt Christus in euren Eltern getötet‘ (z. B. Adv. Jud. 8,11 [PL 42,60; vgl. 42,59]), und er hält sie für ebenso feindselig wie ihre Eltern, die Jesus verhöhnten, fesselten, mit Dornen krönten, bespuckten, geißelten, schmähten, kreuzigten, ihm am Kreuz Galle und Essig gaben, ihn mit einer Lanze durchbohrten und schließlich begruben (Sermo ad catech. 10 [CChr 46,195]).“ 91 Damit geht PaPs auch über die Darstellung im ältesten Vertreter der französischen Tradition, die epische Passion des Jongleurs, hinaus, die die eigentliche Kreuzigung ebenfalls in die Hände der Juden gibt und etwa auch die Episode der Frau des Schmieds enthält, aber das Geschehen im Prätorium doch bibelkonform als Werk der Soldaten des Pilatus beschreibt, dem die Juden lediglich als Zuschauer beiwohnen (vgl. La Passion des jongleurs. Texte établi d’après la Bible des sept estaz du monde de Geuffroi de Paris. Édition critique, introduction, note et glossaire. Hrsg. von Anne Joubert Amari Perry, Paris 1981, V. 1332–1399). 92 Beispielsweise V. 907 f. : Quant il de moy departyra / Et piez et mains li parcera. („Wenn ich mit ihm fertig bin, werden seine Füße und Hände durchstochen sein.“). 93 Vgl. z. B. V. 915 f. : Et un et deus et cist vaut troys ; / Il est bien enz a ceste foys. („Und eins und zwei und das macht drei. Er sitzt jetzt tief drin.“).

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Ausgehend von der in PaPs sehr deutlichen Konzentration auf die körperli­ chen und sprachlichen Aggressionen gegen Jesus vonseiten der Juden, können auch die anderen Passionsspiele des Untersuchungskorpus daraufhin analysiert werden, ob und wie sie die Rolle der brutalen Antagonisten auf das Kollektiv der Juden zuschneiden. Eine so starke Zuspitzung der Täterschaft auf die Juden wie in PaPs findet sich nur in zwei weiteren Spielen. Auch SGPs lässt jüdische drama­ tis personae als Folterer Jesu, sowohl im Haus des Caÿphas (vgl. V. 1574–1679) als auch auf Pilates Befehl (vgl. V. 2064–2119), auftreten und legt die gesamte Orga­ nisation und Durchführung der Kreuzigung in ihre Hände: Unter dem Befehl von Anne und Caÿphas bereiten die Juden Marquin und Haquin die Kreuzigung vor und führen sie aus, nicht ohne Jesus fortwährend zu misshandeln und zu demü­ tigen. Es sei hier nur eine Passage herausgegriffen, die veranschaulicht, wie SGPs die Figuren als mitleidlose Grobiane inszeniert, deren verrohtes Wesen sich nicht zuletzt darin äußert, dass sie sich einen Spaß aus der Peinigung Jesu machen: Haquin N’ara pour ce respit de mort, Qu’il se face des Juïfz roys.

Haquin Dafür wird er keinen Erlass der Todesstrafe bekommen, dass er sich zum König der Juden macht.

Marquin Tu ly as fait plus de .x. rois De couleur rouge sus les longes.

Marquin Du hast ihm mehr als zehn Furchen aus roter Farbe auf die Lenden gemacht.

Haquin Par le grant Dieu, ce n’est pas songes ! Encor li en feray je maintes, Dont mes escourgees seront taintes ! Et tu, que feras ? Dy le moy !

Haquin Beim großen Gott, das ist wahr! Ich werde ihm noch jede Menge hinzufügen, von denen meine Geißel getränkt sein wird! Und du, was wirst du tun? Sag es mir!

Marquin Foy que je doy l’ame de moy, Son corps sera par moy rouillié, Si que du sang sera broullié. Il n’a ci nul qui l’en deffende.

Marquin Bei meiner Seele, ich werde seinen Körper mit Schlägen überziehen, sodass er von Blut beschmiert sein wird. Er hat hier niemanden, der ihn davor beschützen könnte.

Haquin Roy, malle poissïon t’estende ! Qu’est-ce ? As tu paour ? La char te tramble ! Tu n’as pas mantel, se me sanble, Qui soit fourré de penne vaire. (V. 2452–2467)

Haquin König, die Pest soll dich befallen! Was ist los? Hast du Angst? Du zitterst am ganzen Leib! Mir scheint, du hast keinen Mantel, der mit buntem Pelz gefüttert wäre.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 159

Haquin und Marquin spielen mit der Ambiguität des Wortes roys bzw. rois. Das Homophon [rwɛ] wird hier nicht nur in der Bedeutung ‚Herrscher‘ bzw. ‚König‘ (oder auch erweitert ‚Gott‘) verwendet, sondern denotiert auch für ‚Furche, Spalt, Streifen‘.⁹⁴ Indem die gleichklingenden Wörter in ihren unterschiedlichen Bedeu­ tungen als Reimwörter unmittelbar aufeinander bezogen werden (V. 2453 f.), be­ tonen sie die Opposition zwischen der von den Juden als anmaßend empfunde­ nen Königswürde Jesu und der erniedrigenden, einem König völlig unangemesse­ nen Behandlung, die er dadurch erfährt, dass Haquin ihm mit der Geißel blutige Striemen zufügt. Roie im Sinne von Furche findet besonders häufig im Bereich des Ackerbaus Verwendung (Ackerfurche) und kontrastiert somit auch auf asso­ ziativer Ebene stark mit Attributen, die in der Regel einem König zugeschrieben werden. Die anschließende rhetorische Frage danach, ob Jesus Angst habe, da er am ganzen Leib zittere, leitet ein Sprachspiel ein, das die durch blutige Furchen ‚gestreifte‘ Haut Jesu metaphorisch zum bunten Pelzmantel umdeutet und so die physischen Verletzungen verharmlost und Jesu Leiden ins Lächerliche zieht. Ge­ spielt wird hier mit der visuellen Ähnlichkeitsbeziehung über das Streifenmus­ ter und mit dem Wortfeld ‚Haut‘, dem char sowie mantel und penne im Sinne behaarter Tierhaut (und daraus gearbeiteter Kleidung) zuzuordnen sind. Ihre as­ soziative Verbindung provoziert die Vorstellung von Jesus als Pelztier, etwa als Hermelin, und erzeugt über die Inkongruenz mit der eigentlichen Ursache für Je­ su Entstellung einen komischen Effekt.⁹⁵ Ob dieser nur auf der immanenten Be­ deutungsebene angelegt ist oder auch auf der rekonstruierten Bedeutungsebene die Zuschauenden belustigen konnte, ist ohne Rezeptionszeugnisse nicht zu ent­ scheiden. In jedem Fall zeugt der scherzhafte Umgang, den die beiden jüdischen Figuren an den Tag legen, von ihrer verrohten Wesensart, die das christliche Pu­ blikum nur ablehnen und ggf. verlachen konnte.⁹⁶ Die Verquickung von in ges­

94 Runnalls vermerkt im Glossar seiner Edition die Bedeutungen plaies, jets de sang (Wunden, Blutstrahlen, vgl. Ru 303) für das Lexem rois. Obwohl diese Bedeutungen im Kontext der Szene sinnvoll erscheinen, konnte ich für sie keinen einzigen Beleg in TL, GF, GFC und DMF finden. Wahrscheinlicher ist es deshalb, dass rois hier eine graphische Variante des Lexems roie (Furche, Spalt, Streifen) darstellt, was auch in Einklang mit der Handlung steht. 95 Es handelt sich hier um die ad hoc-Bildung einer multimodalen Metapher über die Kopplung des sprachlichen Quellbereichs Pelzmantel mit dem bildlichen Zielbereich Jesu Haut. Der Meta­ pher Jesu Haut ist ein Pelzmantel kann allerdings kein hoher Konventionalisierungsgrad zuge­ sprochen werden, weshalb wir es nicht mit einer konzeptuellen Metapher zu tun haben, sondern vielmehr mit einer kreativen Neubildung. 96 Zu verschiedenen sozialen Funktionen des Lachens, u. a. dem Verlachen (derision laughter) vgl. Giles, Howard/Geoffrey S. Oxford: Towards a multidimensional theory of laughter causa­ tion and its social implications. In: Bulletin of the British Psychological Society 23/79 (1970), S. 97–105. Den gemeinschaftsbildenden Effekt des gemeinsamen Lachens haben Hans R. Velten

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tischen Zeichen geäußerter Gewalt und sprachspielerisch vermittelter Komik hat hier folglich einen sozial-exkludierenden Effekt, der die Juden auf affektiver Ebe­ ne weit von der christlichen Gemeinschaft entfernt.⁹⁷ Das letzte Spiel, welches die Passion ganz in die Hände der Juden legt, ist MaPs. Auch hier sind es nicht die Soldaten des Pilatus, die auf seinen Befehl hin Jesus geißeln, sondern ausschließlich jüdische dramatis personae (vgl. V. 14274– 14722). Dazu zählen auch die Einkleidung in den Purpurmantel und die Dornen­ krönung, die in der Darstellung des Spiels von Juden erdacht und ausgeführt wer­ den (vgl. V. 14375–14474). Das umfangreiche MaPs zieht die Folterdarstellungen und mit ihnen verbundene Schmähreden noch deutlich mehr in die Länge (448 Verse) als die kürzeren SGPs und PaPs. Auch reichert es sie durch weitere grausa­ me Details an⁹⁸ und legt den jüdischen Figuren Eigenkommentare in den Mund, die von ihrer Verrohung zeugen.⁹⁹ Nicht zuletzt hebt MaPs das verrohte Wesen der Juden zusätzlich hervor, indem es Pilate selbst, der die Folterung beauftragt hat, um Schonung Jesu bitten lässt:

und Werner Röcke hervorgehoben (vgl. Röcke, Werner/Hans R. Velten: Einleitung. In: Lach­ gemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/Hans R. Velten, Berlin, New York 2005 (Trends in Medieval Philology 4), S. IX–XXXI). 97 Zu wortspielerischen Funktionen, die Inklusions- und Exklusionsmechanismen erzeugen, vgl. Winter-Froemel, Esme: Approaching Wordplay. In: Crossing Languages to Play with Words. Multidisciplinary Perspectives. Hrsg. von Sebastian Knospe/Alexander Onysko/Maik Goth, Berlin, Boston 2016 (The Dynamics of Wordplay 3), S. 11–46, hier S. 14 f. und Thaler, Verena: Varieties of Wordplay. In: Crossing Languages to Play with Words. Multidisciplinary Perspectives. Hrsg. von Sebastian Knospe/Alexander Onysko/Maik Goth, Berlin, Boston 2016 (Dynamics of Wordplay 3), S. 47–62, hier S. 51 f. 98 Rainer Warning hat beispielsweise die exzessive Grausamkeit der szenischen Realisierung des Anspeiens Jesu durch die Juden betont (vgl. V. 14610–14658), die über die simple Erwähnung in den biblischen Ausgangstexten (Mt 26,67; 27,30; Mk 14,65; 15,19) so weit hinausgeht, dass sie nicht als bloße imitatio der Vorlage erklärt werden kann (vgl. Warning, Rainer: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des Geistlichen Spiels, München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35), S. 188–191). 99 So buhlen z. B. auch in MaPs die Juden darum, Jesus schlagen zu dürfen, vgl. V. 14338–14341: Le IIe de Sidon. Vous vo porriez trop traveillier, Il nous convient battre à no tour.

Der zweite [Jude] von Sidon Ihr könntet euch zu sehr verausgaben, wir sind jetzt mit dem Schlagen dran.

Le premier de Sidon. J’y bateroie toute jour,

Der erste (Jude) aus Sidon Ich könnte den ganzen Tag lang auf ihn einschlagen, nichts bereitet mir mehr Freude.

Il ne m’est point de tel plaisir.

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

Jocquiez, et entendez a my, Cayphe, Annas, vous, messeigneurs, Cy homs a eust maintes doleurs A souffrir par ce batement, Vueilliez estre de lui content, Il a esté bien corrigiet. (V. 14363–14369)

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Haltet ein und hört mir zu, Kajaphas, Hannas und ihr, meine Herren, dieser Mann musste unzählige Qualen durch diese Schläge erleiden, gebt euch damit zufrieden, er ist ausreichend bestraft worden.

Die jüdischen Figuren sind damit keineswegs einverstanden und treiben weite­ re grausame Spiele mit Jesus, bis sie ihn schließlich Pilate erneut vorführen, um seine Kreuzigung zu erwirken. Nachdem Pilate von ihnen so sehr unter Druck ge­ setzt wurde, dass er der Kreuzigung Jesu zustimmt¹⁰⁰, liegt auch in MaPs die volle Verantwortung bei den Juden, wie bereits der Präcursor (Le Prescheur) des dritten Spieltags ankündigt: Car par grant inhumanité Et par faulte d’entendement Les Juifs moult honteusement Nostre Saulveur en croix pendirent Et estroitement estendirent Au jour du benoit vendredi, Et tant que l’esprit en rendi. (V. 13277–13283)

Denn durch große Unmenschlichkeit und durch mangelndes Verständnis haben die Juden auf schändliche Weise unseren Heiland ans Kreuz gehängt und stark gestreckt, am Karfreitag, so sehr, dass er darüber starb.

Der Ablauf der Kreuzigung umfasst in MaPs analog zu PaPs und SGPs die Aus­ händigung Jesu an die Juden und deren Vorbereitung (Erwerb der Nägel) und Durchführung der Kreuzigung, die von weiteren Erniedrigungen und Handgreif100 MaPs zeigt einen gegenüber den zahlenmäßig überlegenen und respektlosen Juden macht­ losen Pilatus, der beispielsweise in seinen Reden ständig unterbrochen und zur Kreuzigung ge­ nötigt wird: Pilate. Hé ! messeigneur.

Pilatus He, meine Herren!

Le IIIe de Sidon. Quelz messeigneurs ? Il est remplis de maises meurs, Il fault qu’il soit en croix pendus.

Der zweite [Jude] aus Sidon Welche Herren? Er ist voller Sittenlosigkeit, er muss am Kreuz hängen!

Pilate. Je vous diray.

Pilatus Ich werde euch sagen. . .

Cayphas. N’en parlez plus Faictes nous droit. (V. 15025–15028)

Kajaphas Sprecht nicht mehr davon, verhelft uns zu unserem Recht.

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lichkeiten gespickt ist. Die Ausgestaltung des Wesensart-Topos unter dem Aspekt der Verrohung erreicht somit in MaPs eine besondere Intensität, die sich daraus speist, dass es auf struktureller Ebene die Täterschaft auf das Kollektiv der Juden fokussiert und auf der Ebene der sprachlich-performativen Gestaltung einen De­ tailreichtum aufweist, den die früheren Spiele noch nicht besitzen. Alle übrigen Passionsspiele des Untersuchungskorpus legen den Fokus nicht ausschließlich auf das verrohte Wesen jüdischer dramatis personae, sondern zei­ gen auch die Soldaten des Pilatus in der Rolle der Peiniger Jesu. So sind es in GrPs, WoPs, PfPs, AlPs und LuPs römische Soldaten, die in Übereinstimmung mit den Evangelienberichten Jesus auf Pilatus‘ Anweisung hin geißeln und beschämen.¹⁰¹ Einen interessanten Fall stellt diesbezüglich LuPs dar. Die Namen der vier Peini­ ger Jesu wurden in der ältesten erhaltenen Handschrift (Ms 167.II), die als Vorlage für die Aufführung im Jahr 1545 diente, ersetzt. Aus Jesse, Mosse, Ysrael und Mal­ chus wurden Nero, Cirus, Hercules und Agrippa.¹⁰² Wie sich unschwer erkennen lässt, sind hier typisch hebräische Namen, die auch in den anderen Spielen des Untersuchungskorpus (und darüber hinaus) sehr geläufig sind, gegen römische Namen eingetauscht worden. Damit einher geht notwendig eine veränderte Kon­ notation der Folterer. Während die hebräischen Namen sie als Juden markieren, lassen die römischen Umbenennungen an die heidnischen Soldaten des Pilatus denken. Es scheint also, als sei in LuPs eine frühere, judenfeindlichere Interpreta­ tion der Geißelungsszene zugunsten einer stärker mit der biblischen Vorlage über­ einstimmenden Lesart aufgegeben worden. Obwohl die römischen Peiniger Jesu ihren jüdischen Pendants im Hinblick auf performativ und sprachlich geäußerte Brutalität in nichts nachstehen, fällt doch auf, dass alle untersuchten Spiele darum bemüht sind, die Täterschaft der Juden zu unterstreichen. Um nur einige Beispiele herauszugreifen: WoPs macht die Juden zu aktiven Beförderern der Geißelung Jesu, indem es auf Pylatus‘ Befehl die Rede des Juden Rufus folgen lässt, der den milites Geld dafür bietet, Jesus zu foltern.¹⁰³ Bereits im Johannes-Evangelium ist über das Ecce homo eine Entlastung des Pila­ tus angelegt, der den geschundenen Jesus den Juden vorführt, um ihnen die voll­ zogene Satisfaktion zu demonstrieren und sie zum Verzicht auf die Kreuzigung zu bewegen (vgl. Joh 19,5). Zusätzlich zur Ecce homo-Szene legen PfPs, AlPs und LuPs Pilatus bereits vor der Geißelungsszene die Erklärung in den Mund, er lasse Jesus 101 Vgl. GrPs: V. 22677–22968; WoPs: V. 904–919; PfPs: V. 1450–1457 und 1574–1670; AlPs: V. 4234–4313 und 5264–5279; LuPs: V. 8449–8550. 102 Vgl. EvWy II 157 und EvWy I 22. 103 Vgl. V. 910–913: Wůzent vf mine Iudesheit, / ich gelonen vch wol der arbeit. / Ir sollent zwen­ zig marg han, / wollent irn bit flize vnderstan. („Bei meiner jüdischen Art, ihr sollt wissen, dass ich euch gut für eure Mühe belohne. Ihr bekommt zwanzig Mark, wenn ihr ihn euch ordentlich vornehmt.“).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 163

auspeitschen, um seine Kreuzigung zu verhindern.¹⁰⁴ Auf diesem Wege wird nicht nur Pilatus‘ Täterschaft von vornherein relativiert, sondern es scheinen auch alle Grausamkeiten, die Jesus von seinen Soldaten angetan werden, in letzter Instanz auf die Juden zurückzugehen und Zeugnisse ihrer Verrohung zu sein. Die Soldaten werden so zu tumben Werkzeugen einer primär jüdischen Brutalität und Perfidie. Eine weitere Form der Exposition spezifisch jüdischer Verrohung lässt sich zudem in GrPs und PfPs beobachten, die zwar die Szene der Geißelung von den Soldaten des Pilatus ausführen lassen, ihr jedoch in Anlehnung an die synopti­ schen Evangelien (Mt 26,67f.; Mk 14,65; Lk 22,63 ff.) eine Episode der Misshand­ lung und Verspottung Jesu durch die Juden vorschalten, die jeweils die letzte Sze­ ne des Spieltags und zugleich in puncto Brutalität seinen Höhepunkt darstellt.¹⁰⁵ Insbesondere GrPs gestaltet die Episode durch das Stilmittel des rondeau triolet als ein sich bis zum Exzess steigerndes Gewaltritual, wie Rainer Warning gezeigt hat.¹⁰⁶ Während GrPs, WoPs und PfPs die Soldaten des Pilatus als Akteure der Kreu­ zigung auftreten lassen, die zwar von den schadenfrohen Juden begleitet, aber nicht ausgeführt wird¹⁰⁷, inszenieren AlPs und LuPs die Kreuzigung als Gemein­ schaftswerk jüdischer und römischer dramatis personae. In AlPs weist Sinagoga seine jüdischen Gesellen an, die Kreuzigung möglichst schnell zu beginnen, be­ vor die Römer und Jesu Jünger etwas davon erfahren und sie womöglich noch zu verhindern vermögen (vgl. V. 5298–5307). Der Gang nach Golgatha wird im Folgen­ den von jüdischen Figuren dirigiert, deren Verrohung im Kontrast zur trauernden Maria, die hinzukommt und von den Juden barsch abgewiesen wird, erneut zur Geltung kommt: Ganck von vns, du boszes wypp. [. . . ] were noch szo groiß dyn klage, szo enmagestu vns nyt erweichenn. ganck von vns, mer woln dich anders streichenn. (V. 5368–5375)

Lass uns in Ruhe, du böse Frau! [. . . ] Und wäre deine Klage noch so groß, du kannst uns nicht erweichen. Lass uns in Ruhe, sonst werden wir dich schlagen!

104 Vgl. PfPs: V. 1588–1591; AlPs: V. 4235–4241; LuPs: V. 8449–8454. 105 Vgl. GrPs: V. 19729–19880; PfPs: V. 911–950. Auch LuPs enthält eine Szene der Misshandlung Jesu im Hause des Kajaphas (vgl. V. 7559–7654), doch wurden auch hier die vormals hebräischen Namen der vier Peiniger durch lateinische Namen ersetzt und somit zu römischen Soldaten um­ interpretiert. Dass diese sich im Haus des Kajaphays befinden, ist kohärent in den Handlungs­ verlauf eingebunden, da Pilatus den Juden einige seiner Soldaten für die Ergreifung Jesu bereit­ gestellt hatte (vgl. V. 7321–7336). 106 Vgl. Warning, Funktion und Struktur, S. 191 ff. 107 Vgl. GrPs: V. 23583–23954; WoPs: V. 1056–1174; PfPs: V. 1736–1951.

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Pilatus entsendet seine Soldaten (flagellatores) mit den beiden zum Tode verur­ teilten Schächern (vgl. V. 5420–5437), die im weiteren Verlauf die eigentliche Kreu­ zigung mit dem Einschlagen stumpfer Nägel etc. gemeinsam mit den Juden durch­ führen (vgl. V. 5566–5669). Auch in LuPs sind sowohl die vier bereits bekannten Soldaten des Pilatus (Agrippa, Nero, Cirus und Hercules) als auch die jüdischen Hohepriester und weitere jüdische Figuren an der Kreuzigung beteiligt. Die Regie­ anweisung vermerkt alle Figuren, die den Zug nach Golgatha bilden sollen: Johannes gadt mit maria gegem Saluator, so kompt barrabas erstlich mit den mördernn voranhin vnnd annas vnnd Caiphas, vryas vnnd Jechonyas, pylatus vnnd Herodes. Dan der saluator mit dem Crütz. vff inn maria mit Johanni vnnd den wybernn magtalena, marta, veronica, jacobe, Cleophe, salome etc. Darnach die Juden mit irem züg. [. . . ] (Regieanweisung vor V. 8773)¹⁰⁸

Jesus soll folglich von jüdischen und römischen Figuren umringt sein, wenn er das Kreuz nach Golgatha trägt. Die Kreuzigung nehmen die Soldaten des Pilatus unter Anfeuerung und Mithilfe der Juden vor.¹⁰⁹ Eine klare Abgrenzung der Zu­ ständigkeit und Verantwortung zwischen beiden Figurengruppen ist hier und in AlPs nicht möglich. Der Überblick über die Passionsspiele des Korpus zeigt, dass insbesondere die französischen Spiele des vierzehnten und früheren fünfzehnten Jahrhunderts auf struktureller Ebene die verrohte Wesensart ganz auf die Juden zuschneiden und auf diese Weise einen binär angelegten Antagonismus zwischen Juden und Christen etablieren. Dieser Befund mag zunächst überraschen, gelten doch die deutschsprachigen Passionsspiele allgemein als judenfeindlicher als die französi­

108 „Johannes geht mit Maria auf den salvator zu, dann kommen als erstes Barrabas mit den Mördern und Hannas und Kajaphas, Vryas und Jachonyas, Pilatus und Herodes. Dann [folgt] der salvator mit dem Kreuz. Auf ihn [folgen] Maria mit Johannes und den Frauen Magdalena, Marta, Veronika, Maria Jacobi, Cleophe, Salome etc. Danach [folgen] die Juden mit ihrem Zug.“ 109 Der Jude Jechonyas treibt die Soldaten nach der Kreuzigung der Schächer dazu an, nun mit Jesus weiterzumachen (vgl. V. 8989 f.: Es ist nun zyt, ir fulen man, / das ir Jesum gryffend an!; „Es ist nun Zeit, ihr Faulpelze, dass ihr euch Jesus vornehmt!“) und Manasses assistiert den Soldaten bei der Kreuzigung (vgl. V. 9031–9036).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 165

schen.¹¹⁰ Obwohl alle übrigen Spiele die Verrohung nicht spezifisch und exklusiv jüdischen dramatis personae zuschreiben, sondern sie auch als zentrales Charak­ teristikum der Soldaten des Pilatus inszenieren, heben sie doch auf verschiedene Weise die Verantwortung der Juden für das Leiden Jesu hervor und führen somit auch die Brutalität anderer Figuren auf jüdische dramatis personae zurück. Die grandes passions des fünfzehnten Jahrhunderts, aber auch AlPs befördern den Wesensart-Topos unter dem Aspekt der Verrohung mit außerordentlicher Drastik, indem sie die von jüdischen Figuren ausgeführten Folter- und Kreuzigungsszenen in die Länge ziehen und besonders detailreich ausgestalten. An die Stelle einer bi­ nären antagonistischen Struktur tritt hier ein exzessiver Detailrealismus. b) Verstocktheit o judisch veint, ich wol gelaub, ir seit von solhen zewgen taub, e so gar verstaint vnd auch verschut, von der warhait schemleich verrütt, daz ir schült in chomen zeiten nichcz fragen noch wider streiten. B 514ra

O jüdische Feinde, ich weiß genau, dass ihr gegenüber solchen Zeugen taub seid, die ihr so völlig stur und verloren und von der Wahrheit schändlich abgefallen seid, sodass ihr in Zukunft weder etwas fragen, noch widersprechen dürft.

Mit diesen Worten endet eine deutsche Reimparaphrase, die zwei pseudo-augus­ tinische Predigten miteinander verbindet.¹¹¹ Sie ist ein charakteristisches Beispiel der Adversus Judaeos-Literatur, in der von christlicher Seite das Alte Testament als ein auch für die Juden autoritativer Text genutzt wird, um sie von der Messianität Jesu zu überzeugen. Der Vorwurf, die Juden seien zu verstockt, um die Evidenz der Argumentation zu erkennen, was sie ‚unbekehrbar’ mache, ist in diesen Tex­ ten ein wiederkehrendes Motiv. Zu besonderer Berühmtheit ist dieses Motiv in der Tradition der allegorischen Darstellung von Ecclesia und Synagoge gelangt, wie sie uns bereits in SGPs und AlPs begegnet ist. Während die früheren ikonogra­

110 So hält beispielsweise Pflaum fest, die Spiele, „où les Juifs sont traités avec le plus de haine sont les Passions de Donaueschingen, d’Alsfeld et d’Heidelberg“ (Pflaum, Les scènes de juifs, S. 116). 111 Es handelt sich um eine in vierhebigen Paarreimversen gehaltene Übersetzung der zeitge­ nössisch Augustinus zugeschriebenen Predigt De mysterio trinitatis et incarnationis und Auszüge aus dem Sermo contra Judaeos, paganos et Arianos (heute Quodvultdeus zugeordnet). Die Hand­ schriften geben das lateinische Original im Wechsel mit der deutschen Übersetzung wieder. Das Zitat ist der ältesten Handschrift (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1107, 514ra–523rb) entnommen, die auf das Jahr 1387 datiert wird. Eine detailliertere Bespre­ chung der Reimparaphrase unter Berücksichtigung der drei überlieferten Handschriften findet sich in Niesner, Adversus-Judaeos-Literatur, S. 365–381.

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phischen Darstellungen aus dem neunten und zehnten Jahrhundert noch stärker im Zeichen des Concordia-Gedankens stehen, finden sich seit Beginn der Kreuz­ züge zunehmend negative Ausgestaltungen der Synagoge, zu deren wichtigstem Signum seit dem zwölften Jahrhundert die Blindheit wird.¹¹² Ihre Darstellung mit geschlossenen oder durch einen unterschiedlich ausgestalteten Schleier verdeck­ ten Augen steht für die Unfähigkeit des Judentums, die Wahrheit Christi zu erken­ nen.¹¹³ Die metaphorische Ausdeutung der Verstocktheit als Blindheit ist an das im Matthäus-Evangelium überlieferte Gleichnis vom Blindensturz (Mt 15,14) an­ gelehnt.¹¹⁴ Im dortigen Kontext rekurriert Jesus mit der Aussage, dass wenn ein Blinder einen Blinden führe, beide in die Grube fielen, auf die Pharisäer, was in der Folge zum Anlass genommen wurde, das Gleichnis auf die Juden als Kollektiv zu beziehen und mit dem Vorwurf der Verstocktheit gegenüber dem Christentum zu verbinden. In SGPs ist, wie bereits gezeigt wurde, das Feindbild der Synagoge mit ihren charakteristischen Attributen eingegangen, sodass der Vorwurf der jüdischen Ver­ stocktheit über die Blindheits-Metapher sehr prägnant vor Augen gestellt wird. Doch mit Ausnahme von PaPs¹¹⁵ inszenieren auch alle übrigen Passionsspiele des Untersuchungskorpus die Juden als wesenhaft verstockt und somit zur Einsicht unfähig. Der Wesensart-Topos plausibilisiert hier einmal mehr, dass die Juden ei­ ne fortdauernde Bedrohung für die christliche Gemeinschaft darstellen, weil ih­ re Verstocktheit sie für die christliche Wahrheit blind und somit zu ewigen Geg­ nern macht. Die Untersuchung der theatralen Verfahren, über die die jüdische Verstocktheit in den Spielen ausgestellt wird, lässt unter anderem den Mechanis­ mus eines wirkmächtigen Metaphernsystems hervortreten, das theatral aktuali­ siert und variiert wird. Wie bereits in der eingangs zitierten pseudo-augustini­ schen Predigt und im Ecclesia-Synagoge-Motiv angeklungen, wird die Haltung der Juden als Taubheit und Blindheit konzeptualisiert. Hierbei erfolgt eine Kopplung des Quellbereichs Taubheit bzw. Blindheit mit dem Zielbereich Verstocktheit, die sich in den konzeptuellen Metaphern Verstocktheit ist Taubheit bzw. Verstockt­ heit ist Blindheit niederschlägt. Diese sind dem Metaphernsystem Verstocktheit 112 Vgl. Wolf, Ecclesia und Synagoge, S. 39 ff. (Kap. 3, Anm. 8). 113 Ob die ikonographische Darstellung Raum für eine mögliche Einsicht der Juden am Ende der Zeiten lässt, hängt von der jeweiligen konkreten Ausgestaltung der Blindheit ab (vgl. dazu hier S. 41). 114 Das Gleichnis findet sich auch in Lk 6,39, dort aber in einem völlig anderen Zusammenhang, der die Übertragung auf die Juden nicht rechtfertigt. 115 In PaPs scheint der Fokus ganz auf dem verrohten Wesen der Juden zu liegen, das etwa auch in Fremdkommentaren hervorgehoben wird, z. B. in den Klagen Marias (vgl. z. B. V. 1100f: Lasse, trop furent or cruëls / Li felon Juis desordenés !; „Ich Elende, allzu grausam waren sie jetzt, die liederlichen jüdischen Schurken!“).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 167

ist eine Krankheit zuzuordnen und gehören in die Logik der Isotopie des Quell­ bereichs Krankheit. Aus dieser heraus können weitere Aspekte zur Übertragung auf den Zielbereich Verstocktheit genutzt werden (z. B. die für das Mittelalter typi­ sche Verortung von Krankheit im Zusammenhang mit der christlichen Lebensfüh­ rung, in deren Rahmen sie z. B. auf Sündhaftigkeit hindeuten kann¹¹⁶), um diesen anhand konkreter Phänomene greifbar zu machen und konnotativ anzureichern. Die übergreifende Präsenz des Metaphernsystems lässt sich anhand zahlreicher Einzelmetaphern nachweisen, die zum einen in Fremdkommentaren zu finden sind, zum anderen auch von jüdischen dramatis personae in Eigenkommentaren formuliert und performativ im Zusammenspiel von sprachlichen und gestischen Zeichen ausgestaltet werden. Die Charakterisierung der Juden über Fremdkommentare erfolgt meist aus dem Munde positiv konnotierter dramatis personae, die in die Handlung einge­ bunden sind, oder von rahmenden Figuren (Präcursoren etc.). Letztere nehmen in ihrer kommentierenden Funktion eine autoritative Stellung ein, was ihren Aus­ sagen zusätzliches Gewicht verleiht. Häufig nehmen sie das Verstocktheits-Motiv wörtlich auf, ohne zunächst vom Metaphernsystem Verstocktheit ist eine Krank­ heit Gebrauch zu machen, und führen es so sprachlich besonders deutlich ein. Bereits erwähnt wurde die den dritten Spieltag einleitende Rede des Prescheur (Prediger) in MaPs, in welcher die Täterschaft der Juden nicht nur auf ihre grant in­ humanité (V. 13277; „große Unmenschlichkeit“) zurückgeführt wird, sondern auch auf ihre faulte d’entendement (V. 13278; „mangelndes Verständnis“). In letzterer drücken sich Unfähigkeit und Unwille der Juden aus, die Messianität Jesu an­ zuerkennen. Auf ähnliche Weise wird im Prolog des vierten Spieltags von GrPs die Verschließung des Grabes Jesu, dessen Auferstehung die jüdischen Figuren verhindern wollen, mit ihrem cueur obstiné (V. 27409; „verstockten Herzen“) in Verbindung gebracht. In LuPs weist der Proclamator bereits zu Beginn des ersten Spieltags die Zuschauenden darauf hin, dass das Leid und Sterben Jesu von den

116 Zum Beispiel hält das Lorscher Arzneibuch aus dem achten Jahrhundert Sünde als den ersten von drei Gründen dafür fest, dass der Leib von Krankheiten befallen wird (vgl. Stoll, Ulrich: Das ‚Lorscher Arzneibuch‘. Ein medizinisches Kompendium des 8. Jahrhunderts (Codex Bambergen­ sis medicinalis 1). Text, Übersetzung und Fachglossar, Würzburg 1992 (Sudhoffs Archiv. Beiheft 28), S. 51). Grundlegend zum mittelalterlichen Verständnis von Krankheit im damaligen religiö­ sen Deutungsrahmen vgl. Vanja, Christina: Krankheit (Mittelalter). In: Europäische Mentalitäts­ geschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Hrsg. von Peter Dinzelbacher, 2., durchges. und erg. Aufl. Stuttgart 2008 (Kröners Taschenbuchausgabe 469), S. 222–228; spezifisch zur Stig­ matisierung von Blindheit vgl. Horn, Klaus-Peter: Das Lachen der Anderen. Hohn und Spott im Umgang mit blinden Menschen im Spätmittelalter. In: Phänomene der „Behinderung“ im Alltag. Bausteine zu einer Disability History der Vormoderne. Hrsg. von Cordula Nolte, Affalterbach 2013 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 8), S. 307–320.

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Juden herbeigeführt worden sei, da diese sich der Erkenntnis seiner Messianität verweigerten: ..

Figürlich man vch wirdtt gen zverstan, Was gwalltts die Jude im habend than, Nit wöllen erkennen oder sehen Die wunderzeichen durch inn beschehen (V. 83–86)

Gleichnishaft wird man euch zeigen, welche Gewalt die Juden ihm angetan haben; sie wollen die Wunderzeichen, die durch ihn geschehen sind, weder erkennen noch sehen.

Das am Anfang des Spiels eingeführte Motiv der Verstocktheit wird im weiteren Verlauf von den die Handlung einrahmenden Kirchenväter-Figuren immer wieder aufgegriffen und auf diese Weise über das gesamte Spielgeschehen hin präsent gehalten. So erläutert die Figur des Chrisostomos, die zweifellos den Kirchenva­ ter, Johannes Chrysostomos verkörpern soll, die Wundertaten Jesu könnten bei den Juden keine Einsicht, sondern nur Hass und Neid hervorrufen (vgl. V. 6647– 6652). In der Rede der Figur des Augustinus tritt nun auch die konzeptuelle Meta­ pher der Blindheit zur Darstellung der jüdischen Verstocktheit hinzu: Augustinus verbindet den Vorwurf, die Juden seien nicht in der Lage, ihre eigene Schrift aus­ zulegen¹¹⁷, mit dem Blindheits-Motiv: Alls ouch ir by den Juden verstand, Wie wol sy dgschrifftt geläsen hand, So könnend sys bucken, biegen, keren Vnd wend vermeinen, gott zů leeren. Wos inen gfalltt, so nend sys an, Wos inen widrig, wend sys nitt verstan. Wie wol inen Christus gůtten bscheid Selbs gibtt vnds gruntlich klar vßleit, So sinds mitt sehenden ougen stocket blind, [. . . ] (V. 5813–5821)

Wie ihr es auch an den Juden seht: Obwohl sie die Heilige Schrift gelesen haben, können sie sie beugen, verbiegen, verdrehen und behaupten, sie lehrten Gottes Wort. Wo ihnen etwas gefällt, da nehmen sie es an, wo es ihnen zuwider ist, da wollen sie es nicht verstehen. Obwohl Christus selbst ihnen ein gutes Zeugnis gibt und es gründlich und klar auslegt, sind sie mit sehenden Augen stockblind. [. . . ]

Die paradoxe Verknüpfung von Blindheit und sehenden Augen unterstreicht, dass es sich um einen metaphorischen Sprachgebrauch handelt und die Juden

117 Dieser Vorwurf kann als ein Gemeinplatz in der christlichen Adversus Judaeos-Literatur gel­ ten.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 169

nicht im eigentlichen Sinne blind sind, sondern ihre Verstocktheit als Blindheit konzeptualisiert wird. In der Ecclesia-Sinagoga-Szene von AlPs findet die konzep­ tuelle Metapher in gleicher Weise Verwendung, wenn Ecclesia das Streitgespräch mit den Worten beschließt, sie müsse vch boszen Iudden blenden, / das er vnd alle vwer kynt / sijt myt sehenden augen blynt (V. 5237 ff.; „euch böse Juden blenden, weil¹¹⁸ ihr und all eure Kinder mit sehenden Augen blind seid“). Obwohl an die­ ser Stelle keine Regieanweisung Gewissheit geben kann, legt die Rede Ecclesias nahe, dass ihre Worte die Geste des Verbindens der Augen (blenden) begleiten und somit die Metapher Verstocktheit ist Blindheit auch in gestische und bildli­ che Zeichen übersetzt wird, die dem Publikum aus der bereits angesprochenen ikonographischen Tradition bekannt gewesen sein könnten. Das Verbinden der Augen erhält vor diesem Kontext den Status einer Schlaggeste (Stigmageste), die die zugrunde liegende konzeptuelle Metapher besonders prägnant visuell realisiert. Der Blick auf weitere Fremdkommentare, welche von Figuren geäußert wer­ den, die in die Handlung eingebunden sind, zeigt, dass die verstockte Wesensart der Juden häufig direkt benannt, aber auch vielfach metaphorisch in der Logik des Metaphernsystems Verstocktheit ist eine Krankheit ausgedrückt wird. Etwa werden die Juden in LuPs als hallßstarr volck (V. 2040; „halsstarriges Volk“) und in MaPs als hayans raison (V. 19332; „den Verstand hassend“) bezeichnet, deren Herzen en pechiez endurcis, / En obstination nourris (V. 19336 f.; „von Sünden verhärtet, von Verstocktheit genährt“) seien.¹¹⁹ Die Verstocktheit ist jedoch auch verschiedent­ lich metaphorisch als Blindheit und Taubheit ausgedrückt. So ist in MaPs der Je­ sus-Figur das eingangs erwähnte Gleichnis vom Blindensturz direkt in den Mund gelegt (vgl. V. 9823–9828) und ihre Worte De bien oir sont tous lassés (V. 10807; „sie sind es alle leid, gut zu hören“) konzeptualisieren die ablehnende Haltung der Juden gegenüber seiner Botschaft als Taubheit. Dass Blindheit und Taubheit zur Charakterisierung der jüdischen Verstocktheit analogen Status in einem ge­ meinsamen Metaphernsystem haben, zeigt sich zum Beispiel in einer späteren Rede Jhesus‘:

118 Der durch die Konjunktion das eingeleitete Nebensatz ist als Erläuterung des übergeordneten Satzes in kausaler Funktion zu verstehen, weshalb das hier mit ‚weil‘ übersetzt wird, obwohl die Konjunktion selbst keine kausale Bedeutung besitzt. 119 Für weitere Belegstellen in MaPs, in denen die Verstocktheit sehr direkt als mangelnde Ein­ sicht benannt und auch wiederholt mit Sündhaftigkeit in Verbindung gebracht wird, vgl. z. B. V. 21311–21315, 21505–21512 und 21956.

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Pere, humblement te require En vraye amour et charité Qu’il te plaise prendre pité Des Juifz qui cy me toumentent, Car certes, pere, ils n’entendent Ne perçoivent le mal qu’ilz font. Pardonne leur, ignorant sont. (V. 16655–16661)

Vater, ehrfürchtig bitte ich dich, aus wahrer Liebe und Fürsorge, dass du Mitleid haben mögest mit den Juden, die mich hier foltern, denn wahrlich, Vater, weder verstehen noch sehen sie das Böse, das sie tun. Vergib ihnen, sie sind unwissend.

Die erweiternde Ausgestaltung der auf Lk 23,34 basierenden Bitte um Vergebung ist durch das Metaphernsystem Verstocktheit ist eine Krankheit strukturiert. Im alt- und mittelfranzösischen Verb entendre schwingen die Bedeutungen ‚hören‘ im Sinne von ‚durchs Ohr vernehmen‘ und ‚den Sinn von etwas erkennen, etwas ver­ stehen, begreifen‘ mit.¹²⁰ Auch percevoir kann einerseits als Wahrnehmungsvor­ gang, der über die Augen oder die Ohren erfolgt, oder andererseits als kognitiver Prozess aufgefasst werden.¹²¹ Die Ambiguität beider Verben, die Sehen und Hö­ ren mit Verstehen verknüpft, bedingt auch die Kopplung von Unwissenheit und Krankheit, denn wenn die Juden nicht verstehen, dann sehen und hören sie auch nicht. Die Bedeutungsebenen von Taubheit und Blindheit auf der einen und Un­ verständnis auf der anderen Seite werden aufgrund der Mehrdeutigkeit notwen­ dig zusammen gedacht und verleihen der für die Juden proklamierten Unwissen­ heit eine negative, aus der evozierten Kopplung von Verstocktheit und Krankheit resultierende Konnotation. Das Metaphernsystem gibt folglich einen spezifischen Deutungsrahmen vor, der die eigentliche Aussage Jhesus‘ konterkariert, indem er über die metaphorische Bedeutung von Taubheit und Blindheit die Unwissenheit als Verstocktheit konzeptualisiert. Weitere Fremdkommentare, zum Beispiel in GrPs, benennen die Verstockt­ heit verstärkt direkt¹²², zum Teil auch aus dem Munde neutraler oder negativer dramatis personae, die nicht zu den Anhängern Jesu zählen. So äußert in GrPs et­ wa einer der Soldaten des Pilatus, die Jesu Grab bewachen, die Juden fürchteten aus ihrer grande confusion (V. 27498; „großen Verwirrung“) heraus seine Aufer­ stehung. Die Aussage der außerhalb des Konflikts zwischen Jesus und den Juden

120 Vgl. TL 572–578, DMF ‚entendre‘. 121 Vgl. TL 721 f., DMF ‚percevoir‘. 122 Die Juden werden beispielsweise als [f]aulce et perverse nacion / et plaine d’ostination (V. 24739; „falsches und boshaftes Geschlecht voller Verstocktheit“) und peuple banny de verité (V. 21990; „von der Wahrheit ausgeschlossenes Volk“) bezeichnet und der Vorwurf der Verstockt­ heit z. B. auch in einer Rede Jhesus‘ ausgedrückt (vgl. V. 14565 f.: Tant clerement m’oez parler / et jamais vous ne voulez croire.; „Ihr hört mich klar und deutlich sprechen und wollt doch niemals glauben.“).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 171

stehenden Figur verleiht dem Vorwurf den Anschein von Objektivität und erhöht auf diese Weise zusätzlich seine Plausibilität.¹²³ Einige Spiele legen auch den jüdischen dramatis personae selbst Zeugnisse ihrer Verstocktheit in den Mund bzw. in Handlungen, die den Wesensart-Topos performativ ausgestalten. In GrPs antwortet während einer Beratung der Juden Mardocee auf den Ratschlag des Nichodemus, der Jesus befragen und auf dieser Basis entscheiden möchte, ob er tatsächlich ihr Gesetz bedroht: Tant qu’est de l’oÿr langaigier, nous en sommes tous endurcis ; nous contendons qu’il soit occis pour tant que nostre loy blapheme. (V. 13595–13598)

Wenn es darum geht, ihn reden zu hören: dagegen sind wir alle verhärtet; wir bestehen darauf, dass er umgebracht wird, weil er unser Gesetz schmäht.

Die Selbstcharakterisierung als endurci und damit für Jhesus‘ Reden – unabhän­ gig von ihrem Inhalt – völlig unempfänglich bestätigt und unterstreicht den We­ sensart-Topos der jüdischen Verstocktheit. Auch die in MaPs von der Figur des Premier Juif de Sidon (erster Jude aus Sidon) ausgesprochene Aufforderung an seine jüdischen Gefährten, sich die Ohren zuzuhalten (Estouppez trestous voz or­ eilles !, V. 10799), um Jhesus‘ Worte nicht zu hören, vermittelt ihre Verstocktheit und bedient sich zugleich der konzeptuellen Metapher Verstockung ist Taubheit, die an dieser Stelle gestisch umgesetzt wird. Die Worte des jüdischen Hohepries­ ters Anne in GrPs, der die Mitteilung der Soldaten, Jhesus sei auferstanden, mit dem wiederholten Befehl zu schweigen beantwortet, sind ebenfalls in dem Deu­ tungsrahmen zu verstehen, den die konzeptuelle Metapher vorgibt.¹²⁴ Die Verwei­ gerung der Anerkennung Jesu wider besseren Wissens wird darüber hinaus in ei­ ner Reihe von Szenen theatral ausgestaltet, die stets die Verstocktheit der Juden dadurch herausstellen, dass die dramatis personae Jesus keinen Glauben schen­ ken wollen, obwohl sie seine Werke durchaus wahrnehmen. Zum Beispiel führt in WoPs der Jude Rufus Jesus vor den Hohepriester, obwohl er weiß und anerkennt, dass er viel Gutes getan hat¹²⁵, und in AlPs verweigert sich Sinagoga dem Chris­ tentum, obwohl er den Argumenten Ecclesias nichts entgegenzusetzen hat.¹²⁶ 123 Vgl. in gleicher Funktion die in PfPs geäußerte Rede des Quartus Miles (V. 3496–3501) oder die Worte des Pilatus in GrPs (V. 23085–23088). 124 Vgl. V. 29943–2996 : Taisez vous, taisez, folles bestes ! / Nous semez vous ces bourdes cy / pour nous faire entendre cecy ? / Taisez vous, que plus n’en oyons, [. . . ]; „Seid still, Ruhe, ihr dummen Tiere! Tischt ihr uns hier diese Lügen auf, um uns das zu verstehen zu geben? Seid still, wir wollen davon nichts mehr hören.“ 125 Vgl. V. 757 f.: Du můst vor vnsern meister gan, / wie vil gudes habes gedan.; „Du musst vor unseren Meister gehen, wie viel Gutes du auch getan hast.“ 126 Vgl. V. 5246 f.: mer hon dyner rede viel vornummen, / in dynen glauben woln mer nit kommen.; „Wir haben deine vielen Reden gehört; deinen Glauben wollen wir nicht annehmen.“

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Ein weiteres Darstellungsverfahren, das die Verstocktheit der Juden beson­ ders hervortreten lässt, besteht in einer Differenzierung zwischen einsichtigen, ‚guten‘ Juden, die in der Folge zu Christen werden, und verstockten, ‚schlechten‘ Juden, die sich bis zum Ende der Heilsbotschaft verweigern. Ihre Gegenüberstel­ lung scheint auf den ersten Blick die Aussagekraft des Wesensart-Topos zu ver­ ringern, relativiert sie doch die durch ihn kommunizierte Behauptung, die Juden seien zur Einsicht unfähig. Bedenkt man den starken Gegenwartsbezug der Ju­ denfeindlichkeit in den Spielen, der sich etwa in den zeitgenössischen Namen jüdischer Figuren äußert, ist dies jedoch nicht im Geringsten der Fall. Da die als verständig dargestellten Juden in der Handlung zum Christentum konvertieren, gehören alle übrigen Juden und ihre Nachfahren – bis hin zu den Zeitgenossen des Publikums – den ‚verstockten Juden‘ an. Die Kontrastierung beider Gruppen un­ terstreicht somit anhand des positiven Beispiels, das die Möglichkeit der Konver­ sion vor Augen stellt, den Wesensart-Topos der Verstocktheit. Die Bekehrung des Juden Malchus in WoPs, dessen Ohr Jesus heilt, nachdem es ihm von seinem Jün­ ger Petrus abgeschlagen wurde, lässt das Verhalten der übrigen Juden, die trotz­ dem an Jesu Gefangennahme und Verurteilung festhalten, als besonders verstockt hervortreten.¹²⁷ GrPs lässt auf die Auferweckung des Lazarus ein Streitgespräch zwischen jüdischen dramatis personae folgen, von denen sich einige aufgrund der von ihm gewirkten Wunder zum Glauben an Jesus bekehren, andere hingegen auf ihrer ablehnenden Haltung beharren und verstärkt auf die Vernichtung Jesu drängen (vgl. V. 15167–15211). Die direkte Konfrontation betont die Verstocktheit ebenso wie die Inszenierung jüdischer Konversionen in AlPs. Auch dort schließt an die Bekehrung des Lazarus eine Szene an, in der jüdische Figuren ihren Glau­ ben an Jesus proklamieren und ihn anschließend in der Episode des Einzugs in Je­ rusalem feierlich begrüßen (vgl. V. 2532–2655). Obwohl hier keine Gegenstimmen andersdenkender Juden eingebunden sind, wie dies in GrPs der Fall ist, bilden die bekehrten Juden einen starken Kontrast zu den im Spiel ebenfalls sehr prä­ senten ‚verstockten Juden‘ (z. B. in der Ecclesia-Sinagoga-Szene) und heben deren Verwerfung besonders hervor. c) Habgier Die Assoziation von Juden mit Geldgeschäften und ihre Charakterisierung als habgierig gehört wahrscheinlich zu den heute bekanntesten antijüdischen Vorur­ teilen. Dass diese sich bereits im Mittelalter herausbildeten, darf als Forschungs­

127 Vgl. V. 727–752. Zur biblischen Vorlage vgl. Mt 26,47–54; Mk 14,47; Lk 22,49–51; Joh 18,10f. Die Heilung des Ohrs ist nur im Lukas-Evangelium bezeugt, die Namen des Jüngers (Petrus) und des Juden (Malchus) überliefert nur das Johannes-Evangelium.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 173

konsens gelten. Wiewohl auch im Hinblick auf (vor allem deutschsprachige) Passionsspiele verschiedentlich die Verbindung von Juden mit dem Geldwesen thematisiert worden ist¹²⁸, kann anhand des Untersuchungskorpus nicht erhärtet werden, dass diese Verknüpfung sich in einer diesbezüglichen Ausformung des Wesensart-Topos in den Spielen niedergeschlagen hat. Zwar nehmen AlPs, PaPs und PfPs Erweiterungen der biblischen Vorlage¹²⁹ in der Szene des Verrats Jesu durch Judas vor, indem sie die jüdischen Figuren über den Lohn verhandeln und das Geld minutiös zählen lassen¹³⁰, doch gibt es darüber hinaus kaum Anhalts­ punkte dafür, dass die Juden in besonderer Weise als durch pekuniäre Interessen geleitet inszeniert würden.¹³¹ Zweifellos ist das Abwiegen und Zählen von Geld aufgrund seiner häufigen Inszenierung allein im Schauspiel eine Stigmageste, welche die Juden in negativer Weise dem Finanzwesen zuordnet. Es fehlen aber Eigen- oder Fremdkommentare, die den Erwerb von Reichtum als handlungsmo­ tivierend für die jüdischen dramatis personae ausweisen. Da die Untersuchung der Antichristspiele des Korpus zu einem abweichenden Ergebnis kommt, soll die Assoziation von Juden mit Geld und dem daraus resultierenden Wesensart-Topos der Habgier erst in diesem Rahmen eingehender erläutert werden. 3.1.1.4 Zusammenfassung Deutsch- und französischsprachige Passionsspiele weisen die Juden gleicherma­ ßen als die zentralen Antagonisten Christi und der Christen aus. Sie entwickeln dabei keine historisierende Perspektive, sondern aktualisieren das Heilsgesche­ hen um Leben und Sterben Jesu in zeitgenössischer Einfärbung. Die jüdischchristliche Opposition wird so zu einem gegenwärtigen Bedrohungsszenario, in dessen Rahmen historische und gegenwärtige Juden miteinander verschwimmen. In der Analyse von drei antijüdischen Topoi wurde gezeigt, auf welche Weise das Bedrohungsszenario den Stoff der Passionsspiele strukturiert. 128 Vgl. dazu Wenzel, Juden, S. 60–65 und 79 und Wackernell, Joseph E.: Altdeutsche Pas­ sionsspiele aus Tirol. Mit Abhandlungen über ihre Entwicklung, Composition, Quellen, Aufführungen und litterarhistorische Stellung, Graz 1897 (Quellen und Forschungen zur Geschichte, Litteratur und Sprache Österreichs und seiner Kronländer 1), S. LXVI, welcher der Zahlung des Verräterlohns in PfPs eine komische Wirkungsabsicht zuschreibt, da „es ohnehin zum Gaudium des altdeutschen Publikums gehörte, die Juden mit Geld hantieren zu sehen.“ 129 Vgl. Mt 26,14 ff.; Mk 14,10f.; Lk 22,1–6. 130 Vgl. AlPs: V. 3197–3231, PaPs: V. 196–230, PfPs: V. 499–533. In MaPs feilschen die Juden nicht um den Preis des Verrats, sondern um die Umstände der Auslieferung (vgl. V. 10283–10416). 131 In PfPs wird etwa erneut durch langwieriges Hantieren mit dem Geld, das die jüdischen Ho­ hepriester den römischen Soldaten zahlen, die Jesu Grab bewachen sollen, die Verbindung von Juden und Geldwesen deutlich (vgl. V. 2634–2654). Auf ein habgieriges Wesen lässt die Szene dennoch nicht schließen.

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Der kontextbasierte Konkurrenz-Topos basiert auf der Rahmung der Hand­ lung als Wettstreit zweier konkurrierender Glaubens- und Lebensmodelle. Die Ab­ lehnung der Heilsbotschaft Jesu durch die Juden wird dadurch motiviert, dass je­ ne ihn als Konkurrenten betrachten und als einzigen Ausweg, um eine Niederlage zu vermeiden, seinen Untergang sehen. In den Spielen ist der Konkurrenz-Topos insbesondere über den Gesetzes-Begriff greifbar, der auf der rekonstruierten Be­ deutungsebene zum Stigmawort für das Judentum wird. Im Zusammenhang mit dem Ecclesia-Synagoge-Motiv erhalten ‚altes‘ und ‚neues Gesetz‘ darüber hinaus eine visuelle Präsenz, die die Konfrontation zwischen Judentum und Christentum mithilfe einprägsamer Stigma- bzw. Fahnenbilder zum Ausdruck bringt. Nicht zu­ letzt unterstreichen auch mit dem jüdischen Gesetz verbundene Stigmalaute, et­ wa das pseudo-hebräische Vorlesen aus dem Talmud, die Devianz der Juden und die Bedrohung, die in der Darstellung der Spiele für die Christen von ihnen aus­ geht. Der mesokontextbasierte Werkzeug-Topos stellt eine spezifische Verbindung zwischen den Juden und dem Teufel her. Indem einige Passionsspiele das Han­ deln der jüdischen dramatis personae als durch teuflische Einwirkung hervorge­ bracht inszenieren, deuten sie die Juden als Werkzeuge des Teufels und damit als der Sphäre des Bösen angehörig. Der Werkzeug-Topos ist nur in einigen Spielen des Untersuchungskorpus, MaPs sowie GrPs und AlPs, deutlich ausgeprägt und jeweils strukturell auf die gleiche Weise umgesetzt. Die genannten Spiele weisen die Teufel zu Beginn als Drahtzieher des Bösen aus, unter deren Einfluss die Ju­ den im Passionsgeschehen handeln. Der Werkzeug-Topos ist häufig anhand von Fremdkommentaren greifbar, die die Juden als Werkzeuge des Teufels ausweisen. Doch auch performative Verfahren, wie zum Beispiel die als Stigmabilder auf der Bühne agierenden Teufel in GrPs, dienen der szenischen Vermittlung des Werk­ zeug-Topos. Anhand des mesokontextbasierten Wesensart-Topos lassen sich bestimmte Eigenschaften, die den Juden in den Passionsspielen zugeschrieben werden, ana­ lysieren. Der Topos stellt einzelne charakterliche Dispositionen als ursächlich für bestimmte Verhaltensweisen heraus und lässt letztere folglich als notwendiges Resultat erscheinen. Die Juden werden über dieses Verfahren als den Christen grundlegend wesensfremd charakterisiert und das ihnen unterstellte christen­ feindliche Verhalten als unabänderlich dargestellt. Zwei zentrale Ausformungen des Wesensart-Topos, Verrohung und Verstocktheit, dominieren in den unter­ suchten Passionsspielen. Eine dritte Form, Habgier, die in den Antichristspielen nachzuweisen ist, erbrachte einen negativen Befund. Die verrohte Natur der Ju­ den wird insbesondere in den frühen französischen Passionsspielen dadurch hervorgehoben, dass die Täterrolle – zum Teil abweichend von allen Evange­

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 175

lienberichten – ganz auf das Kollektiv der Juden verengt wird, welches auch Handlungsteile in der Passion übernimmt, die in den biblischen Ausgangstexten römischen Akteuren zufallen. Die späteren Spiele des französischen Sprach­ raums und die deutschsprachigen Spiele nehmen eine solche Verengung nicht vor, weisen jedoch anhand sprachlicher Zeichen die Juden als Verantwortliche für die Passion aus und inszenieren die Folter- und Kreuzigungsszenen performativ und sprachlich mit zunehmendem Detailrealismus, in dem die ‚jüdische Ver­ rohung‘ besonders deutlich hervortritt. Die Verstocktheit der Juden äußert sich in den Passionsspielen über Fremdkommentare insbesondere positiv besetzter Figuren, aber auch neutraler oder negativer dramatis personae sowie in Eigen­ kommentaren und Handlungen von jüdischen Figuren selbst. Diese benennen die Eigenschaft zum Teil sehr direkt, doch wird sie auch im Rahmen eines über­ greifend nachweisbaren Metaphernsystems kommuniziert, das Verstocktheit als Krankheit, nämlich Blindheit und Taubheit, konzeptualisiert. Es findet nicht nur sprachliche, sondern auch bildliche und gestische Realisierungen, etwa, wenn in AlPs Sinagoga stellvertretend für alle Juden geblendet wird. Ausgehend von der konventionalisierten metaphorischen Verbindung kann eine solche Darstel­ lung zur Schlaggeste werden, die dem Publikum das zugrunde liegende Konzept prägnant vor Augen stellt.

3.1.2 Antijüdische Topoi in Antichristspielen Der zweite Inhaltstyp religiöser Spiele, der auf topische Verfahren als instrukti­ ve Persuasionsstrategie untersucht wurde, sind die eschatologischen Spiele. Es wurde dabei schnell deutlich, dass das übergreifende Muster eines antijüdischen Bedrohungs-Topos in der Antichrist-Thematik verankert ist. Da nicht alle im Kor­ pus enthaltenen eschatologischen Spiele einen Antichrist-Teil aufweisen, wurde die Analyse auf die vier Spiele eingeschränkt, die eine solche besitzen: JuBe, Ju­ Mo, ChWg und LuA. Die Antichristspiele inszenieren das bedrohliche Szenario einer Usurpation der christlichen Weltordnung durch den Antichristen und bringen damit gewis­ sermaßen bereits das Bedrohungsszenario schlechthin auf die Bühne. Der Anti­ christ ist – sein Name sagt es bereits – der Gegenentwurf aller christlichen Werte. Als fester Bestandteil der Heilsgeschichte ist seine Herrschaft, die auf die Apo­ kalypse hinausläuft, als ein zukünftiges, noch ausstehendes Geschehen gedacht. Die Antichristspiele erfüllen folglich, anders als die meisten anderen religiösen Spiele, keine kommemorative Funktion. Vielmehr aktualisieren sie durch die per­ formative Umsetzung das zukünftige Ereignis und erweisen seine Relevanz für das

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zeitgenössische Publikum, das niemals sicher wissen kann, ob es in der Endzeit lebt.¹³² Die Aktualität der Bedrohung, die letztlich die Relevanz der Aufführung sichert, wird durch die Konkretisierung des antichristlichen Gegendiskurses her­ gestellt. Obwohl die Vita des Antichristen in der legendarischen Tradition deut­ lich umrissen ist, lässt sie viel Raum für die Interpretation, worin genau seine fal­ sche Lehre besteht. Diese Leerstelle besetzen die Spiele, indem sie das antichristli­ che Programm an einen real existierenden Gegendiskurs anbinden. Einen solchen stellt aus zeitgenössischer christlicher Sicht das Judentum dar, das sich der durch Jesus Christus gebrachten Heilslehre verweigert. Die Schauspiele greifen auf ha­ bitualisierte Denkmuster zurück, die in der Antichrist-Tradition angelegt sind, um das Wirken des eschatologischen Widersachers als Ausdruck einer jüdischen Ver­ schwörung gegen die Christen zu erweisen. Ist die Verbindung von Antichrist und Juden über topische Verfahren hergestellt, lässt sich seine Schreckensherrschaft als Kulminationspunkt einer latenten jüdischen Verschwörung deuten, der auch zur Zeit des jeweiligen Spiels Aktualität zukommt. Die Aufführung erscheint folg­ lich als notwendige Verteidigungsmaßnahme, die auf die latente Bedrohung auf­ merksam macht und Empfehlungen für ein Bewältigungshandeln gibt.¹³³ Der Be­ drohungs-Topos, der so etabliert wird, lässt sich analog zu der für das Passions­ spiel verwendeten Formulierung wie folgt greifen: Weil die Juden unsere christliche Gemeinschaft bedrohen, ist die Aufführung des (jeweiligen) Antichristspiels eine notwendige Verteidigungsmaßnahme. In der vergleichenden Sichtung der Antichristspiele konnten vier (meso-)kontext­ basierte Topoi identifiziert werden, durch die der genannte antijüdische Bedro­ hungs-Topos in den Spielen über die Antichrist-Thematik eingeführt wird. Sie sind als stärker inhaltlich angereicherte Lesarten des antijüdischen Bedrohungs-Topos zu verstehen, die für den Gegenstandsbereich des Antichrist-Zusammenhangs plausibilisieren, warum die Juden als Bedrohung aufzufassen sind.

132 Vgl. dazu Selge, Kurt-Victor: Das Autoritätengefüge der westlichen Christenheit im Luther­ konflikt 1517 bis 1521. In: Historische Zeitschrift 223 (1976), S. 591–617, hier S. 609: „Die biblischen Beschreibungen des Antichrist waren gewissermaßen eine verschlüsselte Botschaft, deren Auflösung in der unbekannten nahen oder ferneren Zukunft jederzeit erfolgen konnte.“ 133 Die Antichristspiele etablieren so eine Bedrohungskommunikation, die sich durch drei In­ haltskriterien auf der Akteursebene auszeichnet: erstens die Verständigung über einen status quo, zweitens die Beschreibung eines zukünftigen Szenarios und drittens die Formulierung von Handlungsempfehlungen (vgl. Fechner u. a., Bedrohungskommunikation, S. 161 [Kap. 2, Anm. 161]).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 177

3.1.2.1 Verlierer-Topos Die Vorstellung eines Antagonismus zwischen Juden und Christen, der aus christ­ licher Sicht von jüdischer Seite befördert wird, lässt sich bis zu den Anfängen des Christentums zurückverfolgen und schlägt sich auch im religiösen Schauspiel nie­ der, wie die Analyse des Konkurrenz-Topos in Passionsspielen zeigt. Dieser Ge­ danke wurde in patristischer Auslegung weitergeführt. Als bedeutendes Beispiel sei an dieser Stelle das Wirken von Augustinus von Hippo hervorgehoben. Sei­ ne für das gesamte Mittelalter einflussreichen Schriften befördern die Vorstellung der Ablösung des Judentums durch das Christentum: So wie das Neue Testament als Bezugspunkt und Vollendung des Alten interpretiert wird, gelten die Christen als neues Gottesvolk. Die Juden werden dagegen als Apostaten charakterisiert. Augustinus legt in seinem Traktat Adversus Judaeos ausgehend von der ÖlbaumMetapher (Röm. 11,17–24) die Juden als Abtrünnige vom wahren Glauben aus. Der Apostel Paulus spreche in seinem Gleichnis gewiß von den Juden, die gleichsam als die Zweige von jenem Ölbaum, der in den heiligen Patriarchen wie in einer fruchtbaren Wurzel ‚begründet war’, wegen ihres Unglaubens ab­ gebrochen sind, damit der wilde Ölbaum der Völker um ihres Glaubens willen eingepfropft würde und den fetten Saft ‚jenes’ Ölbaums gewänne, nachdem dessen natürliche Zweige abgeschnitten worden sind. [. . . ] Deshalb wird also, während die Patriarchen die Wurzel bilden, der stolze Unglaube der natürlichen Zweige durch die gerechte Strenge Gottes zer­ schmettert und die gläubige Demut des wilden Ölbaumes durch die Gnade der göttlichen Güte eingepfropft.¹³⁴

Das Fortbestehen der Juden in der Diaspora versteht Augustinus als göttliche Stra­ fe und zugleich als sinnreiche Fügung, die sie in Form eines lebenden Beweises die Wahrheit der christlichen Lehre bezeugen und die Ausbreitung des Christen­ tums befördern lässt.¹³⁵ Der Modus ihrer Existenz besteht demnach im Dienst für die Christen, denen sie hierarchisch unterstellt sind: „Wenn es aber heißt: ‚Der Ältere wird dem Jüngeren dienen’, so hat fast niemand von den unseren dies an­ ders verstanden, als daß das ältere Volk der Juden dem jüngeren Christenvolke dienen werde.“¹³⁶ Dass die Juden selbst dieses Verständnis nicht teilten, läge dar­ an, dass sie – wie ihre Vorfahren, denen allein Augustinus die Schuld am Tod

134 Augustins Judenpredigt in deutscher Übersetzung. I,2. In: Blumenkranz, Bernhard: Die Ju­ denpredigt Augustins. Ein Beitrag zur Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen in den ersten Jahrhunderten, Basel 1946 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 25), S. 89–110, hier S. 90. 135 Vgl. Augustinus’ Darstellung in De Civitate Dei 18,46. 136 De Civitate Dei, 16,35. Hier zitiert nach Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Vollständige Ausgabe in einem Band. Buch 1 bis 10. Buch 11 bis 22. Aus dem Lateinischen übertr. V. Wilhelm Thimme. Eingel. u. komm. V. Carl Andresen, München 1995, S. 339.

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Jesu zuspricht – die Wahrheit zu sehen unfähig seien. So wie ihre Eltern Christus mit Unverständnis und Bitterkeit begegnet seien, hegten auch die Nachkommen einen Groll gegen alle Christen.¹³⁷ Der diesem Verständnis zugrunde liegende To­ pos stellt eine Kausalverbindung zwischen der ‚heilsgeschichtlichen Verliererrol­ le‘ der Juden und ihrem vermeintlichen Hass und Dominationsverlangen gegen­ über den Christen her, der sich mesokontextbasiert wie folgt formulieren lässt: Wenn eine Person in einem Wettstreit unterliegt, ruft dies negative Gefühle hervor und sie wird bei der nächsten Gelegenheit versuchen, den Sieg davonzutragen. Die­ ser Schluss von einem bestimmten Grund (Niederlage) auf eine konkrete Hand­ lung (Revanche) wird auf die Juden als religiös-ethnisches Kollektiv übertragen: Weil die Juden die ‚heilsgeschichtlichen Verlierer‘ sind, hassen sie die Christen und trachten danach, sie zu dominieren. Der so gefasste Verlierer-Topos stellt ein hoch­ gradig habitualisiertes Denkmuster dar, das in den untersuchten Antichristspie­ len funktional aufgegriffen wird, um die Bedrohung, die die Juden vermeintlich darstellen, zu plausibilisieren und ex negativo das christliche Lebensmodell als das Richtige zu erweisen. In seiner kontextbasierten, auf das Schauspiel bezoge­ nen Lesart lässt der Verlierer-Topos sich wie folgt formulieren: Weil die Juden als ‚heilsgeschichtliche Verlierer‘ die Christen hassen und nach ihrer Domination trachten, stellen sie eine unmittelbare Bedrohung für die Christen dar (und die Aufführung des (jeweiligen) Antichristspiels ist folglich eine notwendige Verteidigungsmaßnahme). Im Folgenden werden die konkreten theatralen Formen der Ausgestaltung näher beleuchtet und miteinander verglichen. Alle im Untersuchungskorpus vertrete­ nen Antichristspiele weisen den Juden eine besondere Rolle in der Gefolgschaft des Antichristen zu. Sie werden als seine ersten und eifrigsten Anhänger in­ szeniert, deren Motivation aus dem Verlierer-Topos heraus begründet wird: Der Antichrist soll das ‚alte Gesetz‘ der Juden wiederaufrichten und folglich ihre Herrschaft restituieren. Der Restitutionsgedanke ergibt nur vor dem Kontext der christlichen heilsgeschichtlichen Deutung Sinn, die die jüdische Glaubenslehre als durch die christliche abgelöst betrachtet und die Juden als Verlierer im Streit um den rechten Glauben. Der jüdischen Messias-Erwartung wird so ein auf die Christen bezogenes Dominationsbestreben unterstellt. 137 Vgl. Augustins Judenpredigt in deutscher Übersetzung. V,6. In: Blumenkranz, Die Judenpre­ digt Augustins, S. 95: „sie haben immer noch die Bitterkeit ihrer Eltern, die dem Herrn Galle zur Speise gaben, und sie sind alt durch den Essig, den sie ihm zum Tranke reichten.“ Heinz Schre­ ckenberg weist auf das Missverständnis in der Augustinischen Exegese hin, welche die Gabe von Galle und Essig als Feindseligkeit der Juden gegenüber Jesus auslegt. Tatsächlich handle es sich jedoch um eine habitualisierte Geste des Mitleids, vgl. Schreckenberg, Die christlichen Adver­ sus-Judaeos-Texte, S. 354.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 179

Im französischen JuBe wird dieser Gedanke vor allem über die Figur der Mere Antrechrist, die Mutter des Antichristen, transportiert. Die jüdische Prostituierte lässt sich zu Beginn des Spiels deshalb wissentlich mit dem Teufel ein, weil ihr prophezeit wurde, dass der daraus hervorgehende Sohn die Juden über die Chris­ ten erheben wird. Im Dialog mit ihrer Zofe, La Damoiselle, wird die Motivation der Jüdin sprachlich offengelegt: Quant j’osay faire tel oultraige Qu’avec le deable me couchai ge, Ce fu mont grant forçonnerie. Mais pour tant ne m’en repen mie, Quar bien say que mes filz doit estre Plus puissans que homs nez n’a nestre. C’est tout ce qui me reconforte. Par li yert crestienté morte, Et Juif seront relevé. (V. 383–391)

Als ich es wagte, eine solche Tollkühnheit zu begehen und mit dem Teufel zu schlafen, war das völliger Wahnsinn. Aber ich bereue es dennoch überhaupt nicht, denn ich weiß genau, dass mein Sohn mächtiger sein wird als jeder Mensch, der je gelebt hat und leben wird. Das ist alles, was mich tröstet. Durch ihn wird die Christenheit vernichtet und die Juden zu neuer Größe erhoben werden.

Bereits zuvor wurde durch sprachliche Zeichen eine antagonistische Relation zwi­ schen Juden und Christen etabliert. Vom Teufel Angingnars gefragt, ob sie Jüdin sei, antwortet die Mere Antrechrist bejahend, dass sie unter dem Gesetz, das Gott Moses gegeben habe, geboren sei (Juyve sui et si sui nee / En la loy que Dieux a donnee / A Moÿse et a nous touz, V. 293 ff.) und fügt hinzu: Mais les crestiens ay je touz, / Qui en Jhesu Crit sont croiant, / Quar de leur Dieu ce n’est noiant. (V. 296 ff.; „Aber die Christen hasse ich alle, die an Jesus Christus glauben, denn mit ihrem Gott hat es nichts auf sich.“). Auf die jüdische Glaubenslehre wird hier über das Mosaische Gesetz – das ‚alte Gesetz‘ – referiert, welches dezidiert in Opposition zum ‚neuen Gesetz‘, das durch Jesus Christus verbürgt ist, gebracht wird. Die Re­ flexion über das Verhältnis von Judentum und Christentum anhand der Gesetzes­ bringer Moses und Jesus findet sich bereits im Neuen Testament. Obwohl Moses in der Regel als Vermittler des alten Gesetzes hohes Ansehen genießt, wird gewöhn­ lich eine deutliche Hierarchie etabliert, in der Jesus Christus der Überlegene ist, dessen Gesetz das alte abgelöst hat.¹³⁸ Über die Figur der Mere Antrechrist findet scheinbar die jüdische Perspektive in dieser Frage Eingang in das Spiel. Die Dar­ stellung unterstellt den Juden, die christliche Überlegenheit nicht anzuerkennen und stattdessen auf dem ‚veralteten‘ Mosaischen Gesetz zu beharren und seine

138 Einen Überblick über die Hauptaspekte des Moses-Bildes im Neuen Testament liefert im Le­ xikon für Theologie und Kirche unter dem Eintrag ‚Moses‘ Johannes M. Nützels Artikel (vgl. Nützel, Johannes M.: II. Neues Testament. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Walter Kasper u. a., Bd. 7, Freiburg i. Br. u. a. 1998, Sp. 488–489).

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Restitution zu erhoffen. Der so durch die Dialoge der Mere Antrechrist mit dem Teufel Angingnars und ihrer Zofe eingeführte Verlierer-Topos gewinnt dadurch an Plausibilität, dass er einer jüdischen Figur in den Mund gelegt wird. Die Eigen­ kommentare der Mere Antrechrist bezeugen in dieser Logik den jüdischen Hass auf die Christen und ihren Wunsch nach Vergeltung. Der Verlierer-Topos garan­ tiert, dass der Beischlaf mit dem Teufel in ein Kausalverhältnis mit diesem Motiv gebracht wird und befördert so die Interpretation, die gesamte, im weiteren Spiel­ verlauf entwickelte Antichrist-Vita gründe auf einer jüdischen Verschwörung ge­ gen das Christentum. Auch im Antichristspiel ChWgs wird die Restitution des jüdischen Gesetzes als zentrale Motivation dafür präsentiert, dass die Juden sich in die Gefolgschaft des Antichristen begeben. Auf das Judentum wird, ähnlich wie in JuBe, antono­ masisch durch jüdische Urväter, insbesondere Moses, referiert. Im Bestreben, die Juden für sich zu gewinnen, verweist der Antichrist auf ihr Leben in der Diaspo­ ra, dem er durch die Nennung von Moses, Isaak und Jakob ihre noble Abstam­ mung entgegenhält und ihre Wiedervereinigung unter seiner Herrschaft in Aus­ sicht stellt (Vnnd och ir jüden ſunder vß, / Ich wil uch fieren in min huß, / Moyſes, Yſaac vnnd Jacob ſtannd, V. 1382 ff.; „und auch ihr Juden in der Verbannung, ich will euch in mein Haus führen, den Sitz Moses‘, Isaaks und Jakobs“¹³⁹). Die Na­ men der Urväter¹⁴⁰, insbesondere der des immer wieder erwähnten Gesetzgebers Moses (vgl. auch das folgende Zitat), sind Antonomasien für den Ausdruck der jü­ dischen Glaubensgemeinschaft und fungieren als zentrale Schlagwörter in ChWg. Sie wirken in zwei Richtungen¹⁴¹: Auf der einen Seite dienen sie auf der immanen­ ten Bedeutungsebene den jüdischen Figuren (einschließlich des Antichristen) als

139 Die Rede des Antichristen evoziert die im Mittelalter populäre Vorstellung, der Antichrist werde in Jerusalem den zerstörten Tempel Salomons wieder aufbauen und dort seinen Thron errichten (vgl. Adso Dervensis: De ortu et tempore Antichristi. Hrsg. von Daniël Verhelst, Turn­ hout 1976, S. 24, Z. 57 ff.: Templum etiam destructum, quod Salomon Deo edificauit, in statum suum restaurabit [. . . ]). Auch in den Antichristspielen ist der Wiederaufbau des Tempels ein wieder­ kehrendes Element, das außer ChWg alle Spiele des Untersuchungskorpus aufweisen. Dass es in ChWg nicht umgesetzt ist, mag mit der Kürze des Antichrist-Teils zusammenhängen, der die Handlung dann einsetzen lässt, wenn der Antichrist sich bereits auf der Höhe seiner Macht be­ findet. 140 Isaak und Jakob bilden gemeinsam mit Abraham die Gruppe der Stamm- oder Erzväter des Judentums (vgl. Brocke, Michael: III. Judentum. In: Theologische Realenzyklpädie. Hrsg. von Gerhard Müller. Bd. XVI. Berlin, New York 1987, S. 298–301, hier S. 298). Insbesondere Isaak wird im Frühjudentum „zum Symbol für das gesamte auserwählte Volk“ (Larsson, Göran: II. Judentum. In: Theologische Realenzyklpädie. Hrsg. von Gerhard Müller. Bd. 16. Berlin, New York 1987, S. 466–468, hier S. 467). 141 Zur ideologischen Polysemie vgl. Kap. 2, Anm. 195.

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

181

Fahnenwörter, anhand derer sie ihre eigene Gemeinschaft positiv-deontisch cha­ rakterisieren. Andererseits fungieren sie auf der rekonstruierten Bedeutungsebe­ ne als Stigmawörter, in denen sich die als negativ bewertete Devianz der Juden von der christlichen Gemeinschaft ausrückt. Im weiteren Verlauf der Handlung charakterisiert der Antichrist das neue Gesetz, das er einzuführen verspricht, als jüdisches Gesetz, indem er wiederholt auf Moses und mit dem Judentum assozi­ ierte Riten verweist: Den ſabat, den mir Moyſes ſetzt, Den hand die criſten dick verletzt, Den haltent wir wie Moyſes, Sorgt nit, das ich üch das vergeß, Lactuck vnnd das vnngeheflet brott¹⁴² Eſſent alß, wies Moyſes bott. (V. 1398–1403)

Den Sabat, den Moses mir auferlegt, den haben die Christen oft verletzt. An dem halten wir fest wie Moses, seid unbesorgt, dass ich es euch gegenüber nicht einhalte; Lattich und das ungesäuerte Brot essen sie alles, wie Moses es befahl.

Die Schlagwörter aus dem Bereich der jüdischen Festtagsbräuche fungieren eben­ so wie die bereits oben beschriebenen Eigennamen auf der rekonstruierten Be­ deutungsebene als Stigmawörter, die antonomasisch bzw., im Fall der Bräuche, synekdochisch (pars pro toto) auf das jüdische Gesetz verweisen, welches so ins Zentrum der Verbindung zwischen Antichrist und Juden rückt. Die Reaktion der Figur des Mosse, der das Kollektiv der Juden repräsentiert¹⁴³, bestätigt die durch den Verlierer-Topos etablierte Logik, indem er das Gebot des Antichristen als die zentrale Motivation dafür herausstellt, dass die Juden sich ihm anschließen: O her, meſſias, groſſer gott, Ich her vnnd ken dich an dem bott, e

Du biſt, der vnns erloſen will Lob, er vnnd danck ſag ich dir vil, Zů leben jn ghorſamkait, Sind wir dir, her, alzyt berait. (V. 1406–1411)

O Herr, Messias, großer Gott, ich verherrliche und erkenne dich durch das Gebot, du bist der, der uns erlösen wird, ich bin voll Lob, Ehrerbietung und Dank für dich. In deinem Gehorsam zu leben sind wir, Herr, immer bereit.

142 Lattich und ungesäuertes Brot sind klassische Speisen, die anlässlich des jüdischen Pes­ sach-Festes verzehrt werden. Zur Pessach-Tradition vgl. Goldberg, Sylvie Anne: Jahreslauf. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Hrsg. von Dan Diner. Bd. 3, Stuttgart 2012, S. 159–167, hier S. 163 f. 143 In deutsch- wie französischsprachigen religiösen Spielen ist der Name Mosse (oder Mossé/ Moshé) zur Benennung jüdischer Figuren häufig zu finden (vgl. in diesem Korpus auch in JuBe, PaPs, SGPs und GrPs).

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Anders als in JuBe sind es in ChWg in erster Instanz nicht die Juden selbst, die den Verlierer-Topos sprachlich aufrufen. Vielmehr wird er durch die Worte des Antichristen evoziert, indem er das als verloren präsupponierte jüdische Gesetz zu restituieren verspricht. Dass die jüdische Figur des Mosse dieses Versprechen als zentrale Motivation der Juden für die Unterstützung des Antichristen heraus­ stellt (Ich her vnnd ken dich an dem bott, V. 1407; „Ich ehre und erkenne dich an dem Gebot“), verleiht dem Verlierer-Topos auf Spielebene zusätzliche Evidenz: Tatsächlich begeben sich die Juden in die Gefolgschaft des Antichristen, um ihr Gesetz zu restituieren und es den Christen aufzuzwingen. Besonders deutlich lässt sich die strukturierende Funktion des VerliererTopos in der Argumentation von LuA erkennen. Dort setzt nach den einleitenden Auftritten des Fahnenträgers (Fendrich), Proclamators und einiger alttestament­ licher Prophetenfiguren die eigentliche Spielhandlung mit einer Episode aus dem Neuen Testament ein, die die Konfrontation zwischen Jesus und den Juden zeigt. Basierend auf Joh 5,1–18 tritt der Salvator als dramatis persona in Erscheinung und heilt einen am See liegenden Kranken (vgl. V. 577–592). Nach Jesu Aufforderung, aufzustehen und sein Bett nach Hause zu tragen, geht der Gesundete davon und trifft auf die Juden Core (Korah), Dathan und Abiron (Abiram).¹⁴⁴ Diese echauf­ fieren sich darüber, dass er das Arbeitsverbot am Sabbat missachtet und wollen wissen, wer ihn geheilt und dazu angestiftet hat (vgl. V. 593–602). Als ihnen Jesus gezeigt wird, begegnen sie ihm voll Zorn und Unverständnis: Core zu Saluator Core Worumb brichst du den sabat tztratz den botten gotts vnd sim gesatz? wüss! nitt umb sonst sots han gethan,¹⁴⁵ vngstrafft wen wir dichs nitt erlan. (V. 659–662)

Korah zum Salvator Korah Warum brichst du den Sabbat entgegen der Gebote Gottes und seines Gesetzes? Wisse! Das sollst du nicht umsonst getan haben, wir werden dich nicht ungestraft davonkommen lassen.

Der Salvator antwortet den Juden in einem ausgedehnten Monolog (vgl. V. 671– 778), in dem er ihnen ihr Unverständnis vor Augen führt und ihren Irrweg voraus­ sagt:

144 Die Namen der jüdischen Figuren sind dem Alten Testament entnommen: Korah sowie die Brüder Abiram und Dathan sind die prominenten Figuren eines Aufstandes gegen Moses und Aaron während des Exodus, der mit dem durch Gott herbeigeführten Tod der Aufständischen endet (Num 16,1–35). 145 An dieser Stelle weiche ich von der in Reuschel vorgenommenen Interpunktion ab, der ein Komma nach vngstrafft setzt. Syntax und Semantik des Satzes erfordern jedoch ein Komma nach gethan.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 183

ich ken vch, das jr nütt sönd, zů gott kein liebe in vch hend jn mins vatters namen bin ich kon, ir aber hand mich nitt angnon. so aber der entcrist jn eygnem pracht kompt, den nend ir an tag vnd nacht.¹⁴⁶ (V. 755–760)

Ich erkenne in euch, dass ihr zu Gott keine Liebe in euch tragen werdet. Im Namen meines Vaters bin ich gekommen, aber ihr habt mich nicht angenommen. Wenn aber der Antichrist in eigener Pracht kommt, werdet ihr ihn allezeit annehmen.

Die Episode endet unversöhnlich: Die Juden sinnen auf Jesu Verderben und ge­ hen weiterhin ihren religiösen Riten nach. Die Konfrontation zwischen Jesus und den Juden, wie sie in LuA dargestellt wird, scheint zunächst nicht in Zusammen­ hang mit der Antichristhandlung, dem eigentlichen Inhalt des Spiels, zu stehen. Die Szene, die die Ablehnung Christi durch die Juden zeigt, dürfte dem Publikum jedoch nicht zuletzt aus der Luzerner Passionsspiel-Tradition bekannt gewesen sein.¹⁴⁷ Es handelt sich um eine Aktualisierung des biblischen Geschehens, das der ‚heilsgeschichtlichen Verliererrolle‘ der Juden zugrunde liegt: die jüdische Ab­ lehnung Christi und seiner Offenbarung des ‚neuen Gesetzes‘ und nicht zuletzt der Gottesmord.¹⁴⁸ Dass es in der Episode explizit um Jesu Missachtung des Sab­ bats geht, der hier in Form einer pars pro toto-Synekdoche für das Mosaische Ge­

146 Der Wortlaut ist eng angelehnt an Joh 5,42–43, hier in Übersetzung zitiert nach der Zürcher Bibel 1931: „aber ich habe euch erkannt und weiss, dass ihr die Liebe Gottes nicht in euch habt. Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf; kommt aber ein anderer in eigenem Namen, so nehmt ihr in auf!“ Der ‚Andere’ wird hier explizit als Antichrist bezeichnet und ‚ihr’ auf die Juden bezogen, womit das Spiel eine auf die Antichristhandlung zugespitzte In­ terpretation vornimmt. Zur traditionellen patristischen Auslegung der Stelle vgl. Bousset, Wil­ helm: Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des neuen Testaments und der alten Kirche. Ein Beitrag zur Auslegung der Apocalypse, Göttingen 1895, S. 108. 147 Die Heilung des Gelähmten am Sabbat findet sich in einer ganzen Reihe von Passionsspielen, so beispielsweise auch im Donaueschinger Passionsspiel (vgl. V. 487–654 in Touber, Das Donau­ eschinger Passionsspiel, S. 76–84), das wahrscheinlich im ausgehenden fünfzehnten Jahrhun­ dert in Luzern aufgeführt wurde (vgl. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes I, S. 160–173). Die Textgrundlage des Donaueschinger Passionsspiels steht in einem engen textgenetischen Zusam­ menhang mit LuPs, für das zahlreiche Aufführungen zwischen 1453 und 1616 (u. a. 1531, 1538 und 1545) nachgewiesen sind (vgl. hier S. 162, 610). LuPs enthält ebenfalls die Episode der Heilung des Gelähmten am Sabbat (vgl. Actus 20, V. 4721–4928), an die sich das Publikum der Aufführung von LuA im Jahr 1549 erinnert haben dürfte. 148 Zu einer ähnlichen Konklusion, wenn auch nicht im Rahmen einer Topos-Analyse, kommt Veronika Duncker: „Zugleich geht es Bletz in seiner Eingangsszene zum Luzerner Antichristspiel darum, seinem Publikum den ‚Unglauben‘ der Juden, der sie nach christlicher Auffassung zu ‚Gottesmördern‘ werden ließ, zu demonstrieren.“ (Duncker, Veronika: Antijudaismus, antire­ formatorische Polemik und Zeitkritik im Luzerner Antichristspiel des Zacharias Bletz, Frankfurt a. M. 1994, S. 113).

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setz steht, unterstreicht die Parallele, die das Spiel zwischen dem Handeln der Juden zur Zeit des Antichristen und dem Verhalten ihrer biblischen Vorfahren zieht. Es wird daran erinnert, dass die Juden – aus christlicher Sicht selbstver­ schuldet – ihren Status als auserwähltes Volk, der nun den Christen zukommt, durch stures Beharren auf ihr Gesetz verloren haben. Aus dieser ‚Verlierer-Posi­ tion‘ heraus agieren die jüdischen Zeitgenossen des Antichristen, die sich wie in JuBe und ChWg in seine Gefolgschaft begeben, um ihr Gesetz zu restituieren und die Christen zu dominieren. Wie in den vorherigen Spielen wird ihre Motivation sprachlich zumeist in Form von Eigenkommentaren offengelegt. Abram, der Va­ ter des Antichristen freut sich, dass dieser vnser gsatz wider vff erden / vffrichten, widerbringen, bstäten soll (V. 1414 f.; „dass er unser Gesetz auf Erden erneuern, wiederherstellen und bestätigen wird“) und Dathan¹⁴⁹ sieht ihn als Werkzeug der Unterwerfung der Christen: der soll der cristen gsatz zerbrechen. / dan sond wir juden vns an in rechen. (V. 1443f.; „Der soll das Gesetz der Christen zerbrechen. Dann werden wir Juden uns an ihnen rächen.“). Die in JuBe, ChWg und LuA analysierte zentrale Stellung des Gesetzes-Begriffs in der inszenierten jüdisch-christlichen Konfrontation und seine Verknüpfung mit Äußerungen zu Erlösung (der Juden) und Rache (an den Christen) ist als Hinweis auf den parallel konstruierten Verlierer-Topos zu werten. Die Notwendigkeit der Restitution des eigenen Gesetzes, das die Erlösung bringen soll, präsupponiert immer deren Verlust in der Vergangenheit. LuA inszeniert ebenjenen als einziges der drei Spiele und aktualisiert den Verlierer-Topos so nicht nur sprachlich, son­ dern auch mit gestischen und proxemischen Zeichen in der Konfrontation zwi­ schen den Juden und Jesus. JuMo weicht in der theatralen Umsetzung des Verlierer-Topos von dem Mus­ ter ab, das für die drei anderen Antichristspiele herausgearbeitet wurde. Der Erlö­ sungsgedanke ist hier kaum sprachlich mit dem semantischen Feld ‚Gesetz‘ ver­ bunden.¹⁵⁰ Stattdessen lässt sich beobachten, dass JuMo die Juden als Kollektiv mit den apokalyptischen Zerstörern Gog und Magog (Ez 38–39; Offb 20) in Verbin­ dung bringt. Im Mittelalter wurden diese allgemein als die barbarischen, ‚unrei­ nen‘ Völker ausgelegt, die – der Legende nach im Kaukasus von Alexander dem

149 Dem Personenverzeichnis des Spiels ist zu entnehmen, dass Dathan, der sowohl als bibli­ sche Figur als auch als Zeitgenosse des Antichristen und damit potentiell auch des Publikums auftritt, von nur einem Schauspieler verkörpert wurde (Hanns Sydler, vgl. Reuschel, Die deut­ schen Weltgerichtsspiele, S. 322 f.). Das Gleiche gilt für Core und Abiron. Die Kontinuität der Dar­ steller unterstreicht die enge Verbindung, die das Spiel zwischen den jüdischen ‚Gottesmördern’ und zeitgenössischen Juden herstellt. 150 Dies ist damit zu erklären, dass der Gesetzes-Begriff im Rahmen eines konfessionsbezogenen Topos funktionalisiert wird (vgl. Kapitel 3.1.3.1 zum Gleichheits-Topos).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 185

Großen eingeschlossen¹⁵¹ – auf ihre Befreiung durch den Antichristen warten, um gegen die Christen in den Krieg zu ziehen. Seit dem zwölften Jahrhundert ist zu­ dem eine habitualisierte Identifikation der Völker Gog und Magog mit den soge­ nannten verlorenen Zehn Stämmen Israels nachgewiesen¹⁵², auf der die Darstel­ lung JuMos zweifellos aufbaut. Der Antichrist spricht davon, die nobles roys / Gog et Magog (Gr 52; „die edlen Könige Gog und Magog“) avec les lignes d’Israel (Gr 53; „mit den Stämmen Israels“) zu befreien. Das Spiel deutet Gog und Magog folglich als Herrscher, die in direkter Verbindung mit den Stämmen Israels stehen. Dass es sich bei diesen um ihre Untertanen handelt und folglich sowohl Gog und Magog als auch die ihnen zugeordneten Völker in JuMo als Juden dargestellt werden, äu­ ßert sich sprachlich in zahlreichen Anredeformen. So spricht beispielsweise der Antichrist Gog und Magog sowie ihr Gefolge mit den Worten Rejouisses vous main­ tenant, / Peuple d’Israel peuple esleu (Gr 77; „Nun freue dich, Volk Israel, erwähltes Volk“) an und auch innerhalb des Gefolges adressieren die Figuren sich gegensei­ tig als Juden (z. B. Gr 82: sus, nobles juifz avançons nous; „Auf, edle Juden, lasst uns weitergehen!“). Eine explizite Charakterisierung als Juden erhalten sie zusätzlich in den Worten des antichristlichen Ausschreiers La Trompette: Or, escouttes, or escouttes toute nation judaïque marcher vous fault sans nul replicque et vous mettes tous a un flot avec nous roys Gog et Magog (Gr 81)

Nun hört, nun hört, alle Stämme Israels, laufen sollt ihr ohne jeden Widerspruch und euch alle dem Strom anschließen, gemeinsam mit unseren Königen Gog und Magog.

Die Verlierer-Rolle der Juden erfährt über die Verbindung mit der Legende der ein­ geschlossenen Völker eine Umdeutung. Im Vordergrund steht nicht mehr das Le­

151 Zur legendarischen Tradition um Alexander und die eingeschlossenen Völker vgl. Ander­ son, Andrew R.: Alexander’s Gate, Gog and Magog, and the Inclosed Nations. Cambridge (Mas­ sachusetts) 1932. 152 Ausführlich beschäftigt sich Andrew Gow mit der Vermischung der ursprünglich unabhän­ gigen Traditionen um Gog und Magog, die ‚unreinen Völker‘ und die zehn Stämme Israels in der christlichen Apokalyptik (vgl. Gow, Andrew: The Red Jews. Antisemitism in an Apocalyp­ tic Age. 1200–1600, Leiden, New York, Köln 1995 (Studies in Medieval and Reformation Thought 55), Kap. 2–3; Gow, Andrew: The Jewish Antichrist in Medieval and Early Modern Germany. In: Medieval Encounters 2/3 (1996), S. 249–285). Eine zusammenfassende Darstellung und weiter­ führende Literatur finden sich zudem in einem Aufsatz von Rebekka Voss, der sich mit den Aus­ wirkungen der judenfeindlichen Apokalyptik auf den jüdischen Messianismus beschäftigt (vgl. Voss, Rebekka: Propter seditionis hebraicae. Judenfeindliche Apokalyptik und ihre Auswirkun­ gen auf den jüdischen Messianismus. In: Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern. Hrsg. von Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder, Berlin 2010, S. 197–218).

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ben unter christlichem Gesetz, sondern die Unterdrückung ist als physisches Exil zu verstehen. Einst Alexander unterlegen, warten demnach die Juden gemeinsam mit ihren Königen Gog und Magog auf ihre Befreiung durch den Antichristen, um dieses Mal die Christen vernichtend zu schlagen.¹⁵³ Der Verlierer-Topos erhält in dieser Form eine verstärkt militärische Ausdeutung. JuMo stellt die Juden als Heer des Antichristen dar, dessen Bedrohlichkeit sprachlich und performativ (proxe­ mische Zeichen) über ihre Masse vermittelt wird. Verschiedene Figurenaussagen weisen auf eine große Menge von Juden verkörpernden Statisten¹⁵⁴ hin, die auf der Bühne präsent gewesen sein müssen oder deren Masse sprachlich evoziert wer­ den sollte (z. B. Gr 84: Voyci le peuple tout de bout / qui arrivent de toutes partz; „Seht das ganze Volk in Bewegung, das von überall herkommt“). Die Verwendung des présentatifs ‚voyci‘ legt durch die deiktische Funktion des Adverbs nahe, dass sich Darsteller auf der Bühne befanden, auf die referiert werden konnte. Alternativ vorstellbar ist, dass es sich um eine Form der Teichoskopie handelt, die die physi­ sche Präsenz von Darstellern sprachlich ersetzt. Auf dieser Ebene wird ihre große Zahl weiter durch Vergleiche hervorgehoben (z. B. Gr 138: Asses evidemment me semble / que nous sommes bien plus grand nombre / que la mer ne contient d’arene; „Es scheint mir völlig offensichtlich zu sein, dass wir viel mehr an der Zahl sind als das Meer Sand enthält“). Die militärische Interpretation des Verlierer-Topos äußert sich in der Präsenz eines quantitativ übermächtigen Heeres. 3.1.2.2 Stellvertreter-Topos Der Antichrist findet namentlich erstmals Erwähnung in den Johannes-Briefen (1Joh 2,18–23; 4,3; 2Joh 7), in denen er als derjenige (oder diejenigen) charakte­ risiert wird, der Jesus Christus leugnet. Eine explizite Verbindung des Antichris­ ten mit den Juden findet sich hier ebenso wenig wie bei den mit dem Antichristen

153 Die Vorstellung, dass von exilierten Juden, die sich bei ihrer Freilassung durch den Antichris­ ten zu einer gefährlichen Masse zusammenrotten, eine Bedrohung ausgehen könnte, mag mit der Tatsache zu erklären sein, dass seit der Vertreibung von 1394 unter Karl VI. nur wenige, auf be­ stimmte Regionen beschränkte jüdische Individuen oder Gemeinschaften in Frankreich lebten (zur Situation der Juden im französischen Spätmittelalter vgl. Philippe, Béatrice: Être juif dans la société française du Moyen-Âge à nos jours. Paris 1979, S. 36–46). JuMo stilisiert also einen abwesenden Feind zur apokalyptischen Bedrohung. 154 Das bei Chocheyras abgedruckte Figurenverzeichnis des ersten Spieltages (vgl. S. 183 ff.) enthält keine Nennung des jüdischen Heeres. Jedoch bleiben auch die die Juden darstellenden Fi­ guren der Généalogiens unerwähnt, obwohl ihnen keine unerheblichen Redeanteile zukommen. Es ist zu vermuten, dass nur Figuren mit stärkeren individuellen Zügen (die Généalogiens treten als stereotype Masse auf) aufgeführt wurden. Dies legt nahe, dass das Heer aus einer Gruppe von Statisten bestand.

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

187

identifizierten apokalyptischen Figuren des Verführers und des Ungeheuers aus dem Meer, die im Buch Daniel (Dan 7), in der Johannes-Apokalypse (Apk 13,1–18) und bei Paulus (2Thess 2,1–12) beschrieben werden.¹⁵⁵ Dennoch bildet sich schon früh die Vorstellung eines jüdischen Antichristen heraus. Bereits in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten setzt sich das Verständnis durch, dass der Anti­ christ aus dem jüdischen Stamm Dan hervorgehen und somit Jude sein wird.¹⁵⁶ Weil auch in jüdisch-exegetischer Tradition der Messias als aus dem Geschlecht Dan stammend erwartet wird, etabliert sich in patristischer Auslegung die Identi­ fikation des aus christlicher Sicht falschen jüdischen Messias’ mit dem Antichris­ ten.¹⁵⁷ Aus dem filius perditionis wird damit der ‚falsche Juden-Messias‘.¹⁵⁸ Auf dieser Tradition aufbauend etablieren die untersuchten Antichristspie­ le ein Argumentationsmuster, das hier als Stellvertreter-Topos bezeichnet wer­ den soll. Er basiert auf einem Einordnungsschema (1. Großklasse bei Kienpoint­ ner), innerhalb dessen die Eigenschaften einer Spezies auf das dazugehörige Ge­ nus übertragen werden (Genus-Spezies-Schema). Die Verwandtschaftsbeziehung rechtfertigt es, den Einzelnen als Stellvertreter der Gesamtheit aufzufassen und von ihm auf diese zu schließen. Indem die christlich-exegetische Tradition den Antichristen als Abkömmling des Stammes Dan und somit des Volkes Israel in­ terpretiert, bringt sie den ‚falschen Messias‘ und das Judentum in ein Verhältnis von Spezies und Genus. Diese Relation lässt es in der Folge plausibel erscheinen, Schlüsse vom Einzelnen auf die dazugehörige Allgemeinheit vorzunehmen: Was vom Antichristen ausgesagt wird, wird notwendig auch vom Judentum bzw. den

155 Zu den Quellen der Antichrist-Tradition vgl. ausführlicher Wolter, Michael: Der Gegner als endzeitlicher Widersacher. Die Darstellung des Feindes in der jüdischen und christlichen Apoka­ lyptik. In: Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit. Hrsg. von Franz Bosbach. Köln u. a. 1992 (Bayreuther Historische Kolloquien 6), S. 23–40. 156 Zur Auslegung des Antichristen als Abkömmling des Stammes Dan vgl. Bousset, Der Anti­ christ, S. 112–115 und Emmerson, Richard K.: Antichrist in the Middle Ages. A Study of Medieval Apocalypticism, Art, and Literature, Manchester 1981, S. 73 f. 157 Vgl. Hill, Charles E.: Antichrist from the Tribe of Dan. In: Journal of Theological Studies 46/1 (1995), S. 99–117; Bousset, Der Antichrist, S. 112 f. und Emmerson, Antichrist, S. 73. 158 Diesen Titel erhält der Antichrist zum Beispiel explizit in einem judenfeindlichen Fastnacht­ spiel aus der Feder Hans Folz‘, das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in der Stadt Nürnberg aufgeführt wurde. Im Verlauf des Spiels wird der vermeintliche Messias der Juden als Antichrist entlarvt und als „Falscher Messias“ bezeichnet (vgl. V. 335 in Przybilski, Martin: Hans Folz: Der Juden Messias. In: Frühe Nürnberger Fastnachtspiele. Hrsg. von Klaus Ridder/Hans-Hugo Stein­ hoff, Paderborn u. a. 1998 (Schönighs mediävistische Editionen 4), S. 85–108, hier S. 96). In den Regieanweisungen trägt er sowohl den Namen ‚Messias‘ als auch ‚Endecrist‘, die er in Personal­ union verkörpert.

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Juden ausgesagt. Nach diesem Schema stellen die analysierten Antichristspiele eine unmittelbare Verbindung zwischen Judentum und Antichrist her, die es er­ möglicht, alle Juden als ‚Antichristen‘ zu stigmatisieren. Wenn das Wirken des Antichristen immer in letzter Konsequenz als Wirken der Juden aufzufassen ist, erscheint es unmittelbar plausibel, diese als Bedrohung wahrzunehmen, gegen die es sich zu verteidigen gilt. Der Stellvertreter-Topos lässt sich also wie folgt for­ mulieren: Weil alle Handlungen des Antichristen stellvertretend für die Juden ausgeführt wer­ den und somit Ausdruck eines christenfeindlichen Judentums sind, stellen die Juden eine unmittelbare Bedrohung für die Christen dar (und die Aufführung des (jeweili­ gen) Antichristspiels ist folglich eine notwendige Verteidigungsmaßnahme). Die Antichristspiele aktualisieren den Topos, indem sie eine besondere Nähe zwischen Juden und Antichrist nachdrücklich herausstellen. Einerseits geschieht dies über ihre genealogische Verknüpfung. JuBe, LuA und JuMo betonen die Her­ kunft des Antichristen aus dem Stamm Dan. In JuBe, das nach der Vorrede des Predigers (Le Prescheur) mit dem Komplott der Teufel beginnt, rückt der Stamm Dan sogleich ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Teufel Satam sieht als Mut­ ter für den Antichristen dezidiert eine Jüdin aus ebenjenem Geschlecht vor (vgl. V. 215) und die Figur der Mere Antrecrist betont im weiteren Spielverlauf ihre Zuge­ hörigkeit zum Stamm Dan: Dou linaige a Dam suis sanz doubte (V. 300; „Aus dem Geschlecht Dan stamme ich ohne Zweifel.“). Dass die Zeugung des Antichristen auf der Bühne dargestellt wird – auch die in der Handschrift abgedruckte Minia­ tur zeigt die Jüdin und den Teufel gemeinsam in einem großen Bett¹⁵⁹ – und vom Publikum mitverfolgt werden kann, erzeugt unmittelbare Evidenz. So wird nicht nur sprachlich, sondern auch durch paralinguistische und kinesische Zeichen in der Szene des Beischlafs die Verwandtschaftsbeziehung zwischen Juden und An­ tichrist inszeniert. JuMo nutzt dasselbe Verfahren, doch sind Zeugung und Geburt leider nicht textiert überliefert.¹⁶⁰ Was jedoch vorliegt, ist die Vorrede der Figur

159 Vgl. Besançon, Bibliothèque Municipale (BM), Ms. 579, fol. 6v. Die Miniatur zeigt das in der Umarmung liegende Paar unter einer blauen Decke. Da alle visuellen Darstellungen in der Hand­ schrift eng am Spieltext orientiert sind und gerade nicht ikonographische Gemeinplätze in relati­ ver Unabhängigkeit vom Text präsentieren, können sie als Hinweise auf die Aufführungsrealität – und eine ‚performative Lektüre‘ der Handschrift – gewertet werden (vgl. zu dieser Thematik auch Griffith, Performative Reading). 160 Dem Romanisten Florimond Truchet lag noch eine vollständige Handschrift vor. In seiner Nacherzählung der Handlung, die Jacques Chocheyras abdruckt, schreibt Truchet: „La scène de la séduction a lieu ensuite, après une molle résistance de la jeune fille juive.“ (Chocheyras 1971).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 189

des Messagiers, die den ersten Spieltag einleitet. In dieser wird angekündigt, was im Laufe des ersten Tages zu sehen sein wird. Eine große Rolle spielt dabei die jüdische Herkunft des Antichristen. Die Darstellung evoziert ein Bild zutiefst lasterhafter und fehlgeleiteter Juden, aus denen der Antichrist hervorgeht: En Babylone la cité Ung paillard juifz abhominable, De luxure lors incité Par la tentation du diable, Cognoistra comme juif dampnable Charnellement sa propre fille, Dont naistra le faulx miserable Antechrist, sellon l’evangille. Et combien que de la mauldite Lignee de (Dan) soit-il extrait, Si, aura-il pour sa conduicte Ung bon ange, l’autre imparfaict. (Ch 185)

In der Stadt Babylon geschah es, dass ein abscheulicher jüdischer Taugenichts von Wollust getrieben, durch die Verführung des Teufels, wie ein verachtenswerter Jude seine eigene Tochter in Fleischlichkeit erkannte. Daraus hervor ging der falsche, erbärmliche Antichrist, so heißt es im Evangelium. Und obwohl er aus dem verfluchten Geschlecht Dan stammt, wird er dennoch in seinem Betragen einen guten und einen bösen Engel an seiner Seite haben.

Die wiederholte Charakterisierung des jüdischen Vaters als sündhafter, vom Bö­ sen geleiteter Schurke sowie die inzestuöse Konzeption des Sohnes suggerieren, dass die Verworfenheit des Antichristen bereits aus seiner Abstammung zu erklä­ ren ist. Die verallgemeinernde Formulierung „comme juif dampnable“ weitet die Zuschreibung auf alle Juden aus und lässt Vater wie Sohn als prototypische Vertre­ ter erscheinen. Aus dieser Logik heraus kann der ‚Juden-Messias‘ als Stellvertreter für das gesamte Judentum aufgefasst und sein Handeln auf die Juden zurückbe­ zogen werden. LuA bringt den Akt der Zeugung nicht auf die Bühne. Stattdessen ist die Vi­ ta des Antichristen dem Kirchenvater Hieronymus (Jeronimus ein cristlicher lerer, V. 1165) in den Mund gelegt. Dieser tritt als dramatis persona in Erscheinung und leitet die eigentliche Antichrist-Handlung ein. Annähernd die Hälfte seiner Re­ de kreist um den Stamm Dan und seine genealogische Verbindung mit dem An­ tichristen (vgl. V. 1165–1222). Und auch in LuA werden die Abkömmlinge Dans als verworfenes, mit dem Bösen paktierendes Volk gezeichnet.¹⁶¹ Dass das Ver­

161 Dies äußert sich beispielsweise in V. 1207ff: So han ich dan auch glesen das, / so vom grech­ .. ten enoch gschriben was, / das sathan vwer fürst ist. / Dorumb württ vss inen erboren der entcrist. („Sodann habe ich auch gelesen – wie es vom gerechten Enoch geschrieben steht –, dass Satan euer Fürst ist. Deshalb geht aus ihnen der Antichrist hervor.“). Die negative Charakterisierung der Eltern konzentriert sich hier stärker auf die Mutter des Antichristen. Ähnlich wie in JuBe wird ein Lebenswandel als Prostituierte angedeutet, denn laut der Darstellung des Hieronymus würde e sie vmbhar gan / jn wustinen (V. 1228 f.; „sich unkeusch verhalten“), weshalb der Vater des Anti­

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wandtschaftsverhältnis besonders deutlich hervorgehoben werden soll, äußert sich nicht zuletzt darin, dass die Geburt des Antichristen aus Dan dreimal wie­ derholt wird (vgl. V. 1170, 1210, 1217 f.). Es wird hier das gleiche Schema wie in JuBe und JuMo erkennbar, das der Einführung des Stellvertreter-Topos dient. Einzig ChWg verzichtet in seinem verhältnismäßig sehr kurzen Antichristspiel (179 Verse) auf die Inszenierung oder Nacherzählung der vollständigen Vita. Es ist anzunehmen, dass die Genealogie des Antichristen als bekannt vorausgesetzt wurde. Seine Zugehörigkeit zum Judentum äußert sich jedoch darin, dass er sich als erstes den Juden zuwendet und wiederholt ihr Gesetz als das seine anerkennt (vgl. 3.1.1). Der Stellvertreter-Topos wird hier nicht (explizit) durch die oben be­ schriebene genealogische Verknüpfung evoziert, sondern durch die herausgeho­ bene Stellung der Juden in der Gefolgschaft des Antichristen. Diese wird anhand der Chronologie der Handlung inszeniert. In ChWg wendet sich der Antichrist als erstes den Juden zu, wobei er sich selbst nachdrücklich als Jude ausweist, indem er wiederholt die (Wieder-)Einführung des Mosaischen Gesetzes in Aussicht stellt. Er charakterisiert sich so selbst als Stellvertreter der Juden, der für ihre Belange eintritt. Besiegelt wird das Bündnis durch ein symbolträchtiges gestisches Zei­ chen. Mosse, der als Personifikation des Judentums auftritt, küsst die Füße des vermeintlichen Messias (Laus mich, her, kuſſen dine fueß, V. 1391; „Lass mich, Herr, deine Füße küssen.“). Der Fußkuss ist als symbolischer Akt zu werten, mit dem Mosse ihm stellvertretend für das gesamte Kollektiv der Juden die Treue schwört. Erst im Anschluss an die gegenseitigen Loyalitätsbezeugungen richtet der Anti­ christ sich an die anderen, Todsünden verkörpernden Figuren, um sie ebenfalls für sich zu gewinnen. Auch JuBe, JuMo und LuA setzen die Juden chronologisch an den Anfang der Anhänger des Antichristen. Obwohl die Gefolgschaft der Juden auf die kanonische Überlieferung des Antichriststoffs zurückgeht¹⁶², ist ihre Hervorhebung als erste und damit besonders eminente Anhänger eine Zugabe der Spiele. In Adsos Schrift

christen unklar bliebe (vgl. V. 1235 f.). Auch habe sie von Jugend auf bin mördernn (V. 1228; „bei den Mördern“ – gemeint sind die Juden als Mörder Christi) gelebt und sich mit Schacherern und Schurken herumgetrieben (vgl. V. 1230). 162 Die Bekehrung aller Juden zum Antichristen schildert beispielsweise Adso: Der Antichrist werde sich als Messias der Juden ausgeben, sich beschneiden und alle Juden für sich gewinnen, die, im Glauben ihren Messias gefunden zu haben, dem Teufel anheimfielen (s. Verhelst, De or­ tu, S. 27, Z. 141–146 (Hervorhebungen im Original): "Nam, sicut supra diximus, in ciuitate Babilonie natus, Hierosolimam ueniens, circumcidet se, dicens Iudeis : Ego sum Christus uobis repromissus, qui ad salutem uestram ueni, ut uos, qui dispersi estis, congregem et defendam. Tunc confluent ad eum omnes Iudei, estimantes Deum suscipere, sed suscipient diabolum.). Die eng an Adsos Dar­ stellung angelehnte theatrale Umsetzung in LuA lässt vermuten, dass dem Schreiber Zacharias Bletz der Inhalt von Adsos Schrift bekannt war.

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De ortu et tempore Antichristi sind es Könige und Prinzen, die sich als erste zum Antichristen bekehren, woraufhin das weitere Volk es ihnen gleichtut.¹⁶³ In der ältesten überlieferten theatralen Bearbeitung des Antichriststoffs im deutschen Sprachraum, dem lateinischen Ludus de Antichristo aus dem späten zwölften Jahr­ hundert, schließen sich ebenfalls zunächst die Könige dem Antichristen an. Die Juden (bzw. die Synagoge) sind dagegen die Letzten, die zu ihm übertreten und zudem nicht lange in seiner Gefolgschaft verbleiben, denn in der anschließen­ den Szene werden sie sogleich von den Propheten Elias und Enoch zu Christus bekehrt und sterben in der Folge gemeinsam den Märtyrertod.¹⁶⁴ Dass alle hier untersuchten Antichristspiele von diesem Muster abweichen, indem sie die Ju­ den an die erste Stelle der Gefolgschaft des Antichristen stellen, unterstreicht die dramaturgische Funktion der Änderung in der Chronologie. Weil der Bund am Anfang der Handlung steht, tritt gleich zu Beginn der Antichrist als Messias der Juden in Erscheinung. Die Spiele überblenden auf diese Weise die Figuren des jü­ dischen Messias und des Antichristen vollkommen, sodass eine Differenzierung nicht mehr möglich ist. Wird aber der Antichrist notwendig als Messias der Juden gedacht, der stellvertretend für sie agiert, ist der Schluss auf eine jüdische Bedro­ hung unmittelbar plausibel. Die Identifikation des Antichristen mit dem jüdischen Messias äußert sich nicht nur in der Chronologie der Spiele, sondern wird auch sprachlich und per­ formativ durch die Auftritte der jüdischen Figuren und des Antichristen transpor­ tiert. Auf sprachlicher Ebene wird in JuBe, JuMo und LuA wiederholt auf den An­ tichristen als Messias der Juden referiert, den jene seit langer Zeit erwartet hätten. So spricht in JuBe ein vom Antichristen geheilter Blinder (L’Aveugle), er habe kei­ nerlei Zweifel daran, dass es sich um den wahren Messias handle, auf den die Juden – ihren Prophezeiungen gemäß – gewartet hätten (Je ne suis de riens en doubtance / Que ce ne soit li vraiz Messies, / Lequel, selond les prophecies, / Ont li bon juif attendu, V. 626–629). In JuMo wird der Antichrist immer wieder als Kö­ nig der Juden apostrophiert¹⁶⁵ und in LuA bezeichnet ihn der widerständige König Darius als ein gott der juden (V. 2898).¹⁶⁶ Ein weiteres sprachliches Verfahren zur Evokation des dezidiert jüdischen Antichristen lässt sich daran ablesen, wie jüdi­ 163 Hier S. 24 : Reges autem et principes primum ad se conuertet, deinde per illos ceteros populos. 164 Eine Übersicht des Handlungsablaufs gibt Aichele, Das Antichristdrama, S. 31 ff. 165 Gr 74: roy d’efficace („mächtiger König“), Gr 75: o bon roy des Juifs („o guter König der Juden“), O grand roy des Juifs („o großer König der Juden“), Voyci l’excellent roy des Juifz, / le roy gracieulx et ignel („seht den hervorragenden König der Juden, den großzügigen und gewandten König“). 166 Auf den Antichristen bezogen tritt das Wort ‚Messias‘ zudem häufig in Kollokation mit dem Wort ‚Juden‘ bzw. Derivaten daraus auf (z. B. V. 2428 f.: Messie glouben ist gerecht. / jm volgt al­ les judisch gschlecht; „Der Glaube des Messias ist gerecht. Ihm folgt das gesamte jüdische Ge­ schlecht“; vgl. außerdem V. 1297 f., 1371 f., 1395 ff.).

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sche Figuren ihn adressieren oder auf ihn referieren. Besonders häufig findet sich die Bezeichnung maistre („Herr“) in JuBe (vgl. V. 1051, 1055, 1155, 1224), auch wird der Antichrist wiederholt der himmlischen Sphäre zugewiesen (V. 1056: Li grans Dieux; „der große Gott“; V. 1156: Filz Dieu, Roy celestre; „Sohn Gottes, himmlischer König“). In JuMo begegnen – neben der bereits erwähnten Benennung als König – am häufigsten „Gott“ (dieu¹⁶⁷), „Retter“ (sauveur¹⁶⁸) und „Herr“ (seigneur¹⁶⁹). LuA weist weniger direkte Verweise auf den Antichristen von jüdischen Figuren auf. Hier wird er jedoch ähnlich als allmechtiger herre (V. 4210) und als Messias be­ zeichnet (vgl. V. 3780). Mit Blick auf alle Spiele lässt sich festhalten, dass die Fi­ gurenrede der jüdischen dramatis personae deutlich ihre Zugehörigkeit zum An­ tichristen unterstreicht. Auf performativer Ebene wurde bereits der Fußkuss in ChWg als symbolischer Akt erwähnt. Die gleiche symbolische Bedeutung kommt der Krönung des Anti­ christen in JuMo zu. Mit den Worten des Königs Gog ceste grand coronne d’honneur / nous mettrons dessus vostre chef (Gr 83; „diese große Krone der Ehre werden wir auf Euer Haupt setzen“) krönen die Juden den vermeintlichen Messias zu ihrem Herrscher (vgl. die Regieanweisung in Gr 83: Luy mettent la coronne; „Sie setzen ihm die Krone auf.“). In der Krönungszeremonie wird der Bund zwischen Juden und Antichrist konsolidiert und für das Publikum durch das gestische Zeichen vi­ sualisiert. In LuA schließlich wird die jüdische Identität des Antichristen beson­ ders deutlich performativ umgesetzt. Das Spiel zeigt eine Versammlung der Juden, die mit einer als Initiationsritus¹⁷⁰ anmutenden Beschneidung des Antichristen durch seine jüdischen Anhänger endet (vgl. Regieanweisung nach V. 1550: Sy zient die vmbheng¹⁷¹ für, / beschnyden jn.; „Sie ziehen die Vorhänge zu und beschneiden ihn.“). Die Bedeutung der Beschneidung wird im Anschluss wiederholt hervorge­ hoben. Die Luxuria verkörpernde Figur Vnküschheytt, die den Antichristen neben anderen allegorischen Todsünden begleitet, betont, dass es sich um einen jüdi­

167 Gr 63: nostre dieu („unser Gott“), Gr 72, 73: dieu vivant („lebendiger Gott“), Gr 73: dieu be­ nin sans rigueur („wohlwollender Gott ohne Strenge“), Gr 75: grand dieu pur et monde („großer, vollkommener und unbefleckter Gott“), Gr 76: dieu tres haultain („höchster Gott“). 168 Gr 73: nostre sauveur vivant („unser lebendiger Retter“), Gr 73 und 74: nostre benoict sauveur („unser gesegneter Retter“). 169 Gr 74: très hault seigneur („größter Herr“), Gr 76: seigneur de hault parage („Herr von hoher Geburt“). 170 Zur Bedeutung der Beschneidung als Zeichen des Abraham-Bundes vgl. Duncker, Antiju­ daismus, S. 104 f. 171 Die Szene spielt in einem Bühnenelement, das einen Tempel darstellt, welcher laut Perso­ nenverzeichnis mit einem Vorhang und einem Altar ausgestattet war (vgl. Reuschel, Die deut­ schen Weltgerichtsspiele, S. 323). Für die Beschneidungsszene wurde der Vorhang offenbar von den Darstellern geschlossen.

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

193

schen Brauch handelt (Messias, du bist nun beschnitten / nach dem judischen gsatz vnd sitten., V. 1551 f.; „Messias, du bist nun nach jüdischem Gesetz und Brauch be­ schnitten.“) und der Jude Gyesy verkündet feierlich: Messias, herr, ich loben dich, dast vnser gsatz inprünstigklich lieb hast. beschnitten bist nach orden, alls abraham ist gheissen worden. (V. 1676–1679)

Messias, Herr, ich preise dich dafür, dass du unser Gesetz inständig liebst. Du bist nach dem Gebot beschnitten, wie es Abraham aufgetragen wurde.

Durch die Figurenrede wird ausdrücklich expliziert, dass die Beschneidung ein jüdischer Ritus ist, über den der Antichrist sich eindeutig als Messias der Juden zu erkennen gegeben hat. Die ritualisierten kinesischen Zeichen des Handkus­ ses, der Krönung und der Beschneidung tragen so – immer in Verbindung mit sprachlichen Zeichen – maßgeblich zur Inszenierung der Stellvertreter-Rolle des Antichristen bei. 3.1.2.3 Werkzeug-Topos Der mesokontextbasierte Werkzeug-Topos wurde bereits im Zusammenhang mit den Passionsspielen beschrieben und sei an dieser Stelle nur in seiner grundle­ genden Formulierung erinnert: Weil die Juden Werkzeuge des Teufels sind, stellen sie eine unmittelbare Bedrohung für die Christen dar (und die Aufführung des (jeweiligen) Schauspiels ist folglich eine notwendige Verteidigungsmaßnahme). Die Antichristspiele realisieren denselben Topos im Kontext des apokalyptischen Geschehens. Wie in den Passionsspielen wird das Handeln jüdischer Figuren als Wirken des Teufels inszeniert. Die Untersuchung der vier Spiele hat zwei zentrale Verfahren deutlich werden lassen, anhand derer der Werkzeug-Topos theatral um­ gesetzt wird. Erstens geschieht dies in Verbindung mit dem Stellvertreter-Topos über die Figur des Antichristen. Durch dessen Verschmelzung mit dem jüdischen Messias und die Stellvertreter-Funktion, die er dadurch für das Kollektiv der Juden erhält, bedeutet ein Bund des Antichristen mit dem Teufel immer auch einen Bund der Juden mit demselben. Die Darstellung des Antichristen als Teufelsbündler (im Gegensatz zu Christus, dem wahren Messias und Sohn Gottes) ist ein klassischer Bestandteil der mittelalterlichen Antichrist-Tradition.¹⁷² Die Übertragung der Ver­

172 Adsos einflussreiche Schrift stellt die Verbindung des Antichristen mit dem Teufel, die be­ reits im Mutterleib ihren Anfang nimmt, deutlich heraus, vgl. Verhelst, De ortu, S. 23, Z. 27–31:

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bindung auf die Juden jedoch, die nur über den Stellvertreter-Topos argumentativ zustande kommt, ist ein Spezifikum der Schauspiele. Die beiden französischen Antichristspiele, JuBe und JuMo, inszenieren den Bund als einen bewussten, willentlich durch beide Seiten geschlossenen Akt. In JuBe verspricht der Teufel Satam dem Antichristen die Weltherrschaft, wenn die­ ser sich in seine Dienste begibt (Se tu te vues a moy lancier, / Je te feray le plus grant honme / Qui onques fust, V. 540 ff.; „wenn du deine Lanze in meinen Dienst stellst, werde ich dich zum mächtigsten Mann machen, den es je gab“). Im Austausch ge­ gen Macht und Reichtum verlangt Satam, dass sein Schützling Gott leugnet, sich als Messias ausgibt und die Kirche samt der ganzen Christenheit vernichtet (vgl. V. 548–569). Der Antichrist willigt sofort ein (Je vueil se grant tresor conquerre : / Voz homs devien, de corps et d’ame., V. 570 f.; „Ich will diesen großen Reichtum erlangen: Ich verschreibe mich Euch mit Leib und Seele.“), woraufhin der Teufel ihm seine Macht überträgt (Je met tout en t’obeïssance / Mon pouoir et le ma mai­ gniee / Qui par trestout ont seignorie., V. 574 ff.; „Ich stelle meine gesamte Macht und die meiner Gefolgschaft, die über alles gewaltig sind, unter deinen Befehl.“). Alle Handlungen des Antichristen sind in der Folge durch die Macht des Teufels bewirkt und verweisen auf ihn zurück. In JuMo wird ebenfalls die bewusste Entscheidung des Antichristen insze­ niert, sich vom Guten ab- und dem Teufel zuzuwenden. Bereits die Vorrede, mit welcher der Messagier den ersten Spieltag einleitet, weist deutend auf das Büh­ nengeschehen voraus: Mais par son dampnable attraict Et nature trop miserable, Aux diables fera son retraict, Delaissant son ange famable¹⁷³. (Ch 185 f.)

Aber durch sein abscheuliches Wesen und seine verachtenswerte Natur wird er sich den Teufeln anschließen und seinen guten Engel verlassen.

In ipso uero conceptionis sue [des Antichristen, CP] initio diabolus simul introibit in uterum ma­ trix eius et ex uirtute diaboli confouebitur et contutabitur in uentre matris et uirtus diaboli semper cum illo erit. Dass es der Teufel ist, der durch den Antichristen hindurch wirkt, stellen zudem zahlreiche Quellen des europäischen Mittelalters auch bildlich dar. So wird beispielsweise in der Straßburger Druckausgabe einer bebilderten Antichrist-Vita (Inkunabel Inc. fol. 116 der Stadtund Universitätsbibliothek Frankfurt am Main) dieser stets in Begleitung von Teufeln gezeigt, die Einfluss auf ihn nehmen oder die ihm zugeschriebenen Wundertaten für ihn ausführen (vgl. Der Antichrist und Die Fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Faksimile der ersten typographi­ schen Ausgabe eines unbekannten Straßburger Druckers um 1480. Hrsg. von Karin Boveland, Hamburg 1979). Als ein besonders imposantes Zeugnis darf das aus dem vierzehnten Jahrhun­ dert stammende Antichristfenster der Marienkirche in Frankfurt/Oder gelten. In 37 Abbildungen zeigt es die Vita des Antichristen, der auch hier stets mit teuflischem Gefolge zu sehen ist.

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195

Ihre szenische Umsetzung findet die Ankündigung im Verlauf des ersten Spiel­ tags. L’Antechrist zelebriert sich selbst als Gott und schickt seine Anhänger aus, um den Glauben an ihn zu verkünden (vgl. Gr 53), woraufhin sein guter Engel sich entsetzt von ihm abwendet: Ton gardien plus ne seray Antechrist rempli de malice ; Tu es adonne a tout vice Contre ton Dieu toy eslevant, Son lieu et honneur usurpant, Qui est un cas tres execrable Rempli d’erreur abhominable. Plus ne seray ton protecteur Mais bien plustot accusateur De ta grande obstination (Gr 54)

Dein Behüter werde ich nicht mehr sein, von Boshaftigkeit erfüllter Antichrist. Du bist jeder Sünde verfallen, indem du dich gegen deinen Gott erhebst, seinen Platz und seine Ehre an dich reißt, was eine grauenvolle Tat ist, erfüllt von schrecklichem Irrtum. Ich werde nicht mehr dein Beschützer sein, sondern vielmehr Ankläger deines großen Starrsinns.

Der Engel charakterisiert den Antichristen als von Boshaftigkeit erfüllt und starr­ sinnig¹⁷⁴. Sein blasphemisches Verhalten zwinge den ehemaligen Beschützer da­ zu, seine Rolle aufzugeben und zu seinem Ankläger zu werden. In der Rede des Engels ist es folglich der Antichrist selbst, der für seinen Irrweg verantwortlich ist. Das Scheiden des Antichristen und seines guten Engels setzt darüber hinaus den Übergang von einem moralischen Schwellenbereich zum eindeutig Bösen vi­ suell in Szene: Der Antichrist-Darsteller entfernt sich auch im konkret-materialen Bühnenraum aus dem Bereich des Guten heraus (proxemische Zeichen). Obwohl keine Bühnenpläne für die Aufführungen JuMos überliefert sind, können eini­ ge Spielorte (mansiones) rekonstruiert werden, denn ein erhaltener und in Gros‘ Edition abgedruckter Vertrag mit zwei Modaner Bürgern, die als Maler und Feu­ erwerks-Experten bezeichnet werden, enthält Arbeitsaufträge, die sich auf eine Reihe von Bühnenelementen beziehen (vgl. Gr 27–34). Er gibt unter anderem Aus­ kunft über die Gestaltung der Hölle und des Paradieses.¹⁷⁵ Beide Elemente bilden

173 Ein paar Verse zuvor hatte der Messagier ausgeführt, der Antichrist werde zu Beginn von ei­ nem guten und einem bösen Engel bzw. einem Teufel begleitet (vgl. auch das Zitat auf S. 189). Die Vorstellung, dem Antichristen habe – wie jedem Menschen – von Geburt an ein guter En­ gel beigestanden, scheint ein gängiges Motiv in der Antichrist-Tradition gewesen zu sein. Auch in LuA nimmt die Figur des Jhieronimus, der die Antichrist-Vita in den Mund gelegt ist, darauf Bezug (vgl. V. 1265–1274) und verweist auf etlich lerer (V. 1265; „viele Schriftgelehrte“), die diese Information niedergeschrieben hätten. 174 Die Übertragung der als typisch jüdisch konnotierten Wesensart des Starrsinns auf den An­ tichristen unterstreicht seine Zugehörigkeit zu den Juden. 175 Vgl. Gr 28 : Seront tenus paincter enfer et la marine en toylle ou triolles de telle grandeur que leur sera commandé. [. . . ] Item paincter en Paradis les fenestrages et colompnes. („Sie sind verpflichtet,

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feste Bestandteile des Bühnenaufbaus der religiösen Spiele, durch die moralischethische Pole im Bühnenraum lokalisiert sind.¹⁷⁶ Zwischen diesen Polen liegen die mansiones der irdischen Sphäre, die ebenfalls nicht moralisch neutral sind, sondern in ihrer räumlichen Anordnung ein graduelles Spektrum vom moralisch Positiven (i. d. R. auf der rechten Seite) zum moralisch Negativen (i. d. R. auf der linken Seite) beschreiben.¹⁷⁷ Die Bewegung der Darsteller auf der Bühne ist damit immer zugleich eine Bewegung im symbolisch-moralischen Raum. Indem der An­ tichrist und sein guter Engel voneinander scheiden, wird der endgültige Verlust des moralisch Guten auch visuell greifbar. Während der Engel, der das Gute perso­ nifiziert, vermutlich ins Paradies zurückkehrt¹⁷⁸, zieht der Antichrist mit seinem Gefolge weiter (vgl. Gr 57). Aufgrund der beschriebenen Bühnendisposition ist es naheliegend, dass dies in entgegengesetzter Richtung erfolgt: nach links in Rich­ tung Hölle. Die Hinwendung zum Bösen wird folglich an dieser Stelle zugleich durch sprachliche und kinesische Zeichen ausgestaltet. Dass der Antichrist im Folgenden als Werkzeug des Teufels agiert, wird eben­ falls auf sprachlicher wie performativ-visueller Ebene zum Ausdruck gebracht. Der Messagier kündigt noch in der Vorrede des ersten Spieltags an, dass der An­ tichrist die Menschen durch Bestechung an sich binden werde, car le diable certainement L’enrichira fort grandement Des thresors qu’il lui donnera Qui furent perdus longtemps ha. (Ch 186)

denn der Teufel wird ihn mit Sicherheit sehr reich machen durch die Schätze, die er ihm geben wird, die vor langer Zeit verloren gingen.

die Hölle zu malen und das Meer aus Stoff oder . . . [vermutlich ein stoffähnliches Material, CP] in der Größe anzufertigen, die ihnen vorgegeben wird. [. . . ] Außerdem sind sie verpflichtet, im Paradies die Fenster und Säulen zu malen.“) 176 Zur räumlichen Verortung des Bösen im mittelalterlichen Schauspiel vgl. auch Parussa, Gabriella/Darwin Smith: Entre Bien et Mal. In : Le théâtre français du Moyen Âge et de la Re­ naissance. Histoire, textes choisis, mises en scène. Hrsg. von Darwin Smith/Gabriella Parussa/ Olivier Halévy, Paris 2014 (Anthologie de L’avant-scène théâtre), S. 166–189, hier S. 167. Beson­ ders anschaulich und aus diesem Grund sehr bekannt ist die bildliche Darstellung der Bühne des Mystère de la Passion, das 1547 in Valenciennes aufgeführt wurde. Das 1577 von Hubert Cailleau, der auch an der Aufführung beteiligt gewesen war, angefertigte Bild zeigt Paradies und Hölle an den äußeren Bühnenrändern. Das Bild ist abgedruckt in Smith/Parussa/Halevy, Le théâtre français, S. 232 f. (Kap. 2, Anm. 63). 177 In seiner Monographie zum theatralen Raum im Mittelalter hat Elie Konigson die Bühnenge­ staltung als geschlossenes kosmologisches System herausgearbeitet, das ein vertikal-horizontal aufgespanntes moralisches Feld beschreibt (vgl. Konigson, L’espace théâtral, S. 209–214). 178 Der Text enthält keine Regieanweisung, die Aufschluss darüber gibt, wohin der Engel sich nach seiner Rede bewegt. Da er der Sphäre des Himmlischen zugehört, ist es jedoch naheliegend, dass er sich zum Paradies begibt.

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Die finanziellen Mittel, die dem Antichristen zur Verfügung stehen, um die Men­ schen zu verführen und gefügig zu machen, stammen vom Teufel; der Antichrist erscheint so als sein Handlanger. Auch die vermeintlichen Wunder, die der selbst­ ernannte Messias bewirkt, werden in JuMo durch gestische Zeichen unmissver­ ständlich als Teufelswerk inszeniert. Eine Regieanweisung in der MeerteilungsSzene gibt Aufschluss über die Darstellung der Teufelseinwirkung: Während der Antichrist das Meer dazu auffordert, zu weichen, damit seine Anhänger – ana­ log zu Ex 14,21f. – trockenen Fußes hindurchschreiten können, soll der ebenfalls anwesende Teufel gestische Bewegungen ausführen, woraufhin das Meer trocken wird.¹⁷⁹ Für das Publikum ist so auf visueller Ebene unmittelbar ersichtlich, dass die Macht des Teufels durch das Handeln des Antichristen hindurch wirksam ist. Die Konstruktion des Werkzeug-Topos beginnt auch in LuA bereits im Rahmen der Vorreden des ersten Spieltags. Die einleitend von der Figur des Jhieronimus vorgetragene Antichrist-Vita präsentiert die Verbindung von Teufel und Antichrist als ein Besitz-Verhältnis: Sobald dan disse empfencnus bschicht durch gotts vorhengnus vnnd gericht, württ der tüffel das kind vnd wyb o o anfechten zu bsitzen in mutter lyb, der hoffnung jm, sathan, söll gelingen, o skind durch purtt der mutter an dwellt zpringen. (V. 1237–1242)

Sobald diese Empfängnis geschieht, durch Gottes Fügung und Gerichtsbarkeit, wird der Teufel versuchen, das Kind und die Mutter noch im Mutterleib zu besitzen. Das Vorhaben soll ihm, Satan, gelingen, dass das Kind durch die Mutter zur Welt gebracht wird.

Die Ausführungen der den Kirchenvater, verkörpernden Figur führen den Anti­ christen schon zu Spielbeginn als Subjekt des Teufels ein. Hervorgehoben wird dieses Verhältnis durch die Figurenrede Sathans, der seinen teuflischen Gefähr­ ten mitteilt, der Antichrist sei geboren und werde seinen Willen auf Erden ausfüh­ ren.¹⁸⁰ Obwohl der Entcrist – anders als in JuMo und JuBe – in LuA nicht weiß, dass er von den Teufeln genarrt wird, die ihm einreden, er sei der Messias, wird den­ noch die Verbindung auch als Entscheidungshandeln des Antichristen unterstri­ chen: Jhieronimus führt aus, der Junge sei nicht vollständig vom Teufel beherrscht gewesen, sondern hätte auch den Beistand eines guten Engels genossen, sodass er hätte wählen können, nicht den Willen des Teufels zu tun (vgl. V. 1257–1269).

179 Vgl. die Regieanweisung am linken Rand in Gr 60: Icy le diable faict quelque trafficque et la mer se rend seiche. 180 nach minen rätten württ er handlen, / jn minem willen vnd gfallen wandlen, V. 1349 f.; „er wird so handeln, wie ich es ihm rate und meinen Willen tun.“

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Sein Hochmut (Superbia) brächte ihn als jungen Mann dazu, den Weg des Bösen selbst zu wählen: ..

dan werd er in hochfartt sich vberhan, .. vber alls das erheben, so gottes gwalt geschaffen hett, vnnd jn sölcher gstallt wird gott verhengen, das der tüffel sin sach durch den entcrist zwegen bring vnd mach. (V. 1270–121274)

Dann wird er sich voller Hochmut anmaßen, sich über alles zu erheben, das Gottes Macht geschaffen hat; und auf diese Art wird Gott zulassen, dass der Teufel seine Sache durch den Antichristen zustande bringt.

Der Entcrist LuAs fällt diesem Erklärungsmuster zufolge dem Teufel nicht unver­ schuldet zum Opfer, sondern verschreibt sich dem Bösen aufgrund seines nega­ tiv bewerteten Wesens¹⁸¹. Sprachlich auf den Punkt bringt den Werkzeug-Topos in LuA die Propheten-Figur Enoch, die den Juden vorwirft, sie hätten mit dem Antichristen den Teufel als ihren Gott angenommen (vgl. V. 4120), wan warlich! warlich! der entcrist / allein dess tüffels werchzüg ist (V. 4125 f.; „denn wahrlich, wahrlich: der Antichrist ist einzig des Teufels Werkzeug“). Weniger explizit tritt der Werkzeug-Topos in ChWg zutage. Anders als in Ju­ Be, JuMo und LuA werden keine Interaktionen zwischen Teufel und Antichrist gezeigt. Dennoch folgt ChWg dem gleichen Argumentationsschema wie die an­ deren Spiele, was sich in der Aussage der Figur des Populus äußert, die nach dem Fall des Antichristen klagt: Wie ſind wir doch ſo gantz verplendt, / Das vnns der tuffel hat geſchent (V. 1496 f.; „wie völlig verblendet wir sind, dass der Teufel uns zuschanden gemacht hat“). Populus repräsentiert als Personifikation all die Menschen, die sich dem Antichristen angeschlossen hatten und nach dessen ver­ unglückter Himmelfahrt ihren Irrtum einsehen und das Jüngste Gericht fürchten müssen. Die Figur klagt jedoch nicht, dass der Antichrist ihr übel mitgespielt ha­ be, sondern der Teufel, der im Antichrist-Teil des Spiels gar nicht in Erscheinung getreten ist. Die Aussage ist nur vor dem Hintergrund des Werkzeug-Topos sinn­ voll, der das Handeln des Antichristen mit dem Wirken des Teufels identifiziert. Dass der Schluss vom Antichristen auf den Teufel implizit bleiben kann, weist dar­ auf hin, dass der Topos als dem Publikum bekannt vorausgesetzt werden konnte und folglich in hohem Maße habitualisiert war. Das zweite Verfahren, durch das der Werkzeug-Topos theatral umgesetzt wird, besteht in der Darstellung einer direkten Einwirkung des Teufels auf jüdische Fi­ guren. Mit Ausnahme von ChWg, in dessen Antichrist-Teil der Teufel nicht auf­

181 Zu den charakterlichen Dispositionen, die dem jüdischen Kollektiv unterstellt werden, vgl. 3.1.4.

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tritt, inszenieren alle behandelten Spiele eine besondere Nähe zwischen Juden und Teufeln. In JuBe wird die Mere Antrecrist zum Werkzeug des Bösen, indem sie mit dem Teufel schläft und den Antichristen zur Welt bringt. Die dem Beischlaf vorangehende Szene der Beratung unter den Teufeln unterstreicht, dass die jüdi­ sche Figur zu einem willfährigen Werkzeug reduziert wird: Der Teufel Angingnart erhält die Aufgabe, die Jüdin zu verführen und zu schwängern, damit die Teufel sich aller Christen bemächtigen können: Fay tuit crestien nostre soyent ! (V. 262; „Mach, dass alle Christen uns gehören!“). Die besondere Nähe von Teufeln und Juden äußert sich in JuBe darüber hinaus in gemeinsamen sprachlichen Mustern der Figurenrede: Sowohl jüdische als auch teuflische dramatis personae referie­ ren immer wieder auf Mohammed.¹⁸² In den Invokationen der Teufel wird Gott durch Mohammed ersetzt (s. z. B. Belle, Mahons vous doint santé !, V. 316; „Schö­ nes Fräulein, Mohammed gebe Euch Gesundheit!“) und die Mutter des Antichris­ ten und ihre Zofe verbalisieren ihr Vertrauen in seine Stärke, wie sie gewöhnlich Gott zugesprochen wird (z. B. Je met m’esperance trestoute / En Mahon et en sa puissance., V. 418 f.; „Ich setzte all meine Hoffnung in Mohammed und seine Stär­ ke.“). Der Eigenname referiert hier nicht – oder nur teilweise – auf den islami­ schen Religionsstifter. Vielmehr wird er in seiner generalisierenden Verwendung zum Stigmawort, das auf ein falsches, häretisches Gottesbild verweist. Auf der im­ manenten Bedeutungsebene dient es den heidnischen Figuren als Fahnenwort, wohingegen es auf der rekonstruierten Bedeutungsebene als Stigmawort fungiert, das ebenjene Gruppe für das Publikum als deviant kennzeichnet. Dass dieselbe Nutzung des Eigennamens Mohammed im Sinne eines heidnischen Gottes wie­ derholt in weiteren französischen Spielen zu beobachten ist, bezeugt seinen ha­ bitualisierten Gebrauch als Schlagwort.¹⁸³ Die wiederholten Reverenzbezeugun­

182 Vgl. V. 316, 377–379, 412–414, 418 f., 442 f., 454. 183 Das Lexem in den Schreibungen Mahon und Mahommet ist in anderen französischsprachi­ gen Schauspielen ebenfalls hochfrequent. Beispielsweise rufen auch in PaPs die als heidnisch dargestellten Ritter, welche auf Anweisung der Juden das Grab Jesu bewachen sollen, Mohammed an (Par Mahon, se je truis saint Po, / Je li estuierai tel cop, / Qui en soit la parte ne li gaaing., V. 1688; „Bei Mohammed, wenn ich den heiligen Paulus antreffe, werde ich ihm einen solchen Schlag ver­ passen, der sein Anteil und Gewinn sein soll.“) und in GrPs verabschieden und begrüßen sich die römischen Figuren Cirinus und sein Bote Legeret mit Grußformeln, die auf Mohammed als Gott referieren (Mahommet te garde d’emoy, / et a lëesse te rapporte !, V. 4321 f.; „Mohammed bewah­ re dich vor Schrecken und bringe dich frohen Mutes zurück.“ Sire prevost, mahon vous garde / et vous tiengne en son amitié !, V. 4424 f.; „Herr Vorsteher, Mohammed behüte Euch und schenke Euch sein Wohlwollen.“). Darüber hinaus wird er in GrPs von heidnischen Figuren, die ihren Göt­ tern Opfergaben darbringen wollen, als erster und bedeutendster Gott in einer Reihe römischer und griechischer Göttinnen und Göttern genannt (Il n’y ara dieu ne dëesse, / ung chascun selon sa haultesse, / qui n’ait sacrifice premier. / Mahommet sera le premier, / Apolo, Venus et Mercure.,

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gen von Juden und Teufeln gegenüber Mohammed rücken beide Gruppen näher zueinander und verorten so die Juden nachdrücklich auf der Seite des Bösen. Auch in JuMo ist die Zeugung des Antichristen als Wirken des Teufels im Han­ deln jüdischer Figuren inszeniert. Anders als in JuBe ist es zwar nicht der Teufel selbst, der mit einer Jüdin den Antichristen zeugt, doch wird die inzestuöse Ver­ bindung des jüdischen Vaters mit seiner Tochter durch eine vorhergehende Sze­ ne klar als teuflische Intrige charakterisiert. Dialogisch entwickeln die Teufel un beau mystère (Ch 188; „ein schönes Schauspiel“), eine bonne ruse (ebd., „eine gu­ te List“) gegen einen verwitweten Juden, damit dieser seine Tochter schwängert, die den Antichristen gebären soll. Wie in JuBe geht also der Konzeption des An­ tichristen eine Beratung der Teufel voraus, auf deren Einfluss hin das Geschehen seinen Lauf nimmt. Die so etablierte Handlungslogik weist die jüdischen Eltern des Antichristen als Werkzeuge des Teufels aus. In LuA ist eine Einwirkung des Teufels auf die Zeugung des Antichristen we­ der sprachlich noch performativ ausgestaltet. Der direkte Einfluss teuflischer dra­ matis personae auf jüdische Figuren wird jedoch im Kontext der vermeintlich vom Antichristen gewirkten Wunder inszeniert. So prahlen die Teufel Tarrator und Mellemäl damit, dass sie die Juden Jsmael und Hela gefügig gemacht haben, um die Wundertaten des Messias vortäuschen zu können: Tarrator Mellemäl, nim du acht e sathans nutz han ich tracht den boshafften juden ysmael gnant, den ich von jugett vff han bkantt, e jn minem seyll vnd strick gefurtt, e den han ich durch zouberlist berurtt, das er nitt anderst gloubt sin orden, dan er syg vssetzig worden, o .. thutt sich hertzlich vbel ghan, fürcht, er muss ins siechenhus gan.

Tarrator Mellemäl, pass auf, ich habe etwas zum Nutzen Satans erdacht: Den boshaften Juden, den man Jsmael nennt, den ich von klein auf kenne und in meinen Fängen gehalten habe, den habe ich so verzaubert, dass er nicht anders kann als zu glauben, dass er aussätzig geworden sei. Ihm geht er herzlich schlecht und er fürchtet, er müsse ins Siechenhaus gehen.

Mellemell Tarrator, gloub, ich bin nitt ful. lüff gester mitt eim an ein sul, do ich ein stoub von zouber gmacht. bliess jm den vnder, nam ouch acht,

Mellemäl Tarrator, glaub mir, ich bin nicht faul, gestern lief ich mit einem zu einer Säule, wo ich Staub herbeigezaubert hatte. Den blies ich ihm ein, wobei ich darauf

V. 7443–7445; „Es wird keinen Gott und keine Göttin geben, die, in der Reihenfolge ihrer Bedeut­ samkeit, nicht das erste Opfer empfangen werden. Mohammed wird der erste sein, dann Apollo, Venus und Merkur.“).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 201

das sinen ougen nitt bschech zwee. doch wie ein vnvernüfftig fee jst erstunet, wie sins glichen sind, wänt, er syge stockplind. (V. 1972–1989)

achtete, dass seine Augen keinen Schaden nehmen. Aber wie ein dummes Tier, die seinesgleichen sind, war er verblüfft und glaubt nun, er sei stocklind.

Die beiden vermeintlich Kranken und ein dritter, ebenfalls von Tarrator verzau­ berter Jude werden im weiteren Spielverlauf vom Antichristen geheilt und prei­ sen ihn als Messias (vgl. V. 2061–2074). Die Juden erscheinen in dieser Täuschung keinesfalls als bloße Opfer, denen der böse Wille der Teufel aufgezwungen wird. Die Figurenrede charakterisiert sie bereits zuvor als verdorben und seit Langem im dämonischen Bund lebend: Tarrator bezeichnet den Juden Jsmael als boshaft (vgl. V. 1974) und Mellemäl erklärt die einfache Täuschbarkeit Helas damit, dass er und seinesgleichen sich grundsätzlich wie unverständige Tiere verhielten (vgl. V. 1987). Tarrator betont zudem, er habe Jsmael und den anderen verzauberten Juden, Ambri, schon seit langem in seiner Gewalt (zum Juden Ambri vgl. V. 2006). Die Verbindung der Juden mit dem Teufel wird so nicht auf die durch das Erschei­ nen des Antichristen definierte Endzeit reduziert, sondern als wesenhafter Zug hervorgehoben. An anderer Stelle im Spiel verbalisiert die christliche Figur Go­ mer diesen Gedanken, wenn sie im Streit darum, ob die Wunder des Antichristen göttlichen oder teuflischen Ursprungs sind, dem Juden Joab vorwirft: Der tüffell hett dich aber bsessen. (V. 2548; „Du bist vom Teufel besessen.“). Die christliche Figur gibt sprachlich dem eine klare Fixierung, was das Publikum durch das Han­ deln der Teufel auf der Bühne wiederholt sehen kann. 3.1.2.4 Wesensart-Topos Der mesokontextbasierte Wesensart-Topos, der die Juden aufgrund bestimmter Ei­ genschaften als Bedrohung für die Christen ausweist, trägt auch in den Antichrist­ spielen erheblich zur Strukturierung des Bedrohungsszenarios bei. Dass es sich bei den konkreten Eigenschaften um kulturell fest verankerte, auf literarischen und ikonographischen Traditionen basierende Vorstellungen handelt, wurde be­ reits betont und zeigt sich deutlich in ihrer diachronen Persistenz in den Passions­ spielen. Die Analyse der Antichristspiele verdeutlicht darüber hinaus, dass die den Juden zugeschriebenen charakterlichen Dispositionen auch in unterschied­ lichen Stoffzusammenhängen kaum variieren. Auch für das apokalyptische Sze­ nario konnten auf der Basis der Lektüre Verrohung und Verstocktheit als zentrale Eigenschaften der jüdischen dramatis personae festgestellt werden. Abweichend von den Passionsspielen tritt jedoch in einigen Antichristspielen auch Habgier zur Charakterisierung der Juden hinzu.

202 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

a) Verrohung Anders als die Passionsspiele bringen die Antichristspiele kein (im zeitgenössi­ schen Verständnis) historisches Geschehen auf die Bühne. Die auftretenden Ju­ den sind nicht die Zeitgenossen Jesu¹⁸⁴, sondern eine Projektion in die Zukunft. Obwohl die kanonische Überlieferung des Antichrist-Stoffs eine konkrete Charak­ terisierung der Juden, die sich – wie der überwiegende Rest der Welt – dem Anti­ christen anschließen, kaum ermöglicht, malen die Antichristspiele sie in den düs­ tersten Farben aus. Ein zentraler Bestandteil des Judenbilds, das sie vermitteln, ist ihre verrohte Natur, die den Zuschauern bereits aus den Passionsdarstellungen bekannt ist. Die Spiele übertragen das Bild aus dem Kontext der Passion auf die Antichristthematik und folgen damit exakt der für den Wesensart-Topos herausge­ stellten Argumentation: Ausgehend von dem den Juden zugeschriebenen Charak­ teristikum, das in der Vergangenheit zu negativ bewerteten Handlungen geführt hat (Folterung und Tötung Christi), projizieren sie das gleiche Verhaltensmuster in die Zukunft, das aufgrund der Wesensart ‚Verrohung‘ plausibel erscheint. Ab­ gesehen von ChWg¹⁸⁵ setzen alle untersuchten Spiele die Verrohung dabei verbal und physisch in Szene. JuBe und LuA zeigen von fortwährendem Zorn getriebene jüdische Figu­ ren, deren Aggressionen sich in einem Muster zunehmender Gewalt entladen. Sprachlich äußert sich diese in Beschimpfungen, Drohungen sowie Prahlereien über in der Vergangenheit verübte Gewalttaten. LuA enthält mehrere Episoden, die den Umgang jüdischer Figuren mit jenen, die dem Antichristen widerstehen, behandeln. Sie reagieren stets emotionsgeleitet und zunehmend ungehemmt: Mit Zweifeln an der Authentizität ihres Messias konfrontiert, verfallen sie in Zorn, drohen erst verbal Gewalt an und setzen diese bei weiterer Provokation physisch um. Als Zabulon, der laut Personenverzeichnis einen ehrbaren Bürger darstellt¹⁸⁶, seine Bedenken gegenüber dem Antichristen ausspricht und sich weigert, ihm gefügig zu sein (vgl. V. 1884–1891), geht ihn der Jude Joab zunächst verbal an:

184 Dennoch insinuieren die Antichristspiele eine Kontinuität zwischen biblischen und zukünf­ tig lebenden Juden, indem sie viele der auftretenden jüdischen Figuren mit Namen aus dem Alten und Neuen Testament versehen, die stets negativ konnotierten Vertretern des Judentums zuzu­ ordnen sind. Vgl. dazu auch Kap. 3, Anm. 114. 185 In dessen reduzierter Antichrist-Episode werden die Handlungen der Juden als Schergen des Antichristen nicht ausgeführt. Stattdessen folgt auf einen Dialog zwischen dem Antichristen und einiger personifizierter Todsünden sogleich seine versuchte Himmelfahrt, die zu seiner Vernich­ tung führt. 186 Vgl. Reuschel, Die deutschen Weltgerichtsspiele, S. 322.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 203

jo vast, du vantast! lieber, sag mir, was gfallt dir? war für gsest mich an? nitt ein biderman? ich mins.¹⁸⁷ bin sins, gar nütt böser ze sin. e du furst ein schin allwegen, alls syg ettwas an dir gelegen. bist doch ein thor, sag dir, wie vor: last mich nitt on nott, ich schlan dich ztodtt. (V. 1892–1907)

Na sicher, du Einfaltspinsel! Mein Lieber, sag mir, was fällt dir ein? Wofür hältst du mich? Nicht für einen Edelmann? Ich besitze es und bin der Auffassung, dass ich deshalb gar nicht schlechter bin. Du spielst ein falsches Spiel, fortwährend, als ob du von Bedeutung wärest. Du bist doch ein Narr, ich sage dir wie zuvor: Verärgere mich nicht grundlos, sonst schlage ich dich tot.

Zabulon beharrt auf seiner Meinung (vgl. V. 1908–1911), woraufhin Joab ihn be­ schimpft und erschlägt: Du lüxt, du hund! se! ietz bist gsund! o allso muss bschen, wär an württ gsen mitt der zung lesterung messie ztratz vnd sim gsatz! (V. 1912–1919)

Du lügst, du Hund! Da! Jetzt bist du geheilt! So muss es jedem ergehen, der dabei gesehen wird, wie er Lästerungen gegen den Messias und sein Gesetz ausspricht!

In gesteigerter Form wiederholt sich die Szene etwas später, als der Messias einen scheinbar Toten auferstehen lässt. Dieses Mal richtet sich der Jüngling Gomer ge­ gen den Antichristen und bezichtigt ihn, mit dem Teufel im Bund zu stehen (Durch den tüffel (nement acht!), / hett jn der entcrist lebent gmacht., V. 2538 f.; „Durch den Teufel (gebt acht!) hat ihn der Antichrist zum Leben erweckt!“). Erneut schaltet sich unmittelbar der Jude Joab ein und droht Gomer: Du crist, hests lang triben, hettist wol langest gschwigen. schwygst nit bald, du kompst jn nott. o mitt miner hand dich schlan zu todtt.

Du Christ, du hast es weit getrieben, hättest besser schon früher geschwiegen. Schweigst du nicht bald, ergeht es dir schlecht, eigenhändig schlage ich dich tot.

187 mînen im Sinne von ‚sich als Eigentum aneignen, innehaben’ ist vor allem für den Sprach­ raum der deutschen Schweiz belegt. Joab bezieht sich hier auf das Geld, das er vom Antichristen erhalten hat. Zabulon hatte ihn dafür kritisiert, dieses angenommen zu haben.

204 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

[. . . ]

[. . . ] o

Han ich vor din bruder tödtt, wie du hett er mich gnött. ob hundert cristen oder mee ich tödtt hab (wüss!) vor vnd ee, willtt nitt messiam betten an, o so würts dir wie dim bruder gan. (V. 2544–2557)

Wenn ich vor dir deinen Bruder getötet habe, hat er mich wie du dazu genötigt. Habe ich auch hundert Christen oder mehr zuvor getötet (wisse!), wenn du den Messias nicht anbeten willst, dann wird es dir wie deinem Bruder ergehen.

Die Figur des Juden charakterisiert sich durch ihre eigenen Worte als skrupellos: Joab hat so viele Christen getötet, dass er sie nicht mehr zählen kann und ihn pla­ gen keinerlei Gewissensbisse dabei, ein weiteres Leben zu beenden. Seine Verach­ tung und sein Hass gegen die Christen manifestieren sich bereits im ersten Vers, in dem er das Wort ‚Christ’ in Verbindung mit dem deiktischen ‚du‘ als Beleidi­ gung verwendet. Im Gegensatz zur erstgenannten Szene, in der Joab trotz seiner Aggressivität noch leicht belustigt wirkt und an einigen Stellen ironische Töne anschlägt (z. B. lieber, sag mir, V. 1894), begegnet er Gomer sofort mit unverhoh­ lenem Zorn. Als dieser sich erneut gegen den Antichristen ausspricht, erschlägt Joab ihn augenblicklich (Joab schladt gomer ztodtt., Regieanweisung nach V. 2561; „Joab schlägt Gomer tot.“) und überzieht ihn anschließend mit Verwünschungen: e

Du verfluchte gschöpff vff erden, o wie mag dir straaff gnug werden, das du sollt messiam o zulegen dess entcrist nam? jn dir ist weder gloub noch eer. e verflucht syg, der sich an dich ker! du bist böser dan ein hund. see din lon! jetz bist gsund! (V. 2562–2569)

Du verfluchtes irdisches Geschöpf, wie kannst du genug dafür bestraft werden, dass du den Messias als Antichristen bezeichnet hast? Du besitzt weder Glauben noch Ehre. Verflucht sei, wer sich dir anschließt! Du bist böser als ein Hund. Sieh deinen Lohn! Jetzt bist du geheilt!

Joabs Rede ist erneut entlarvend: Anders als Zabulon und Gomer – sowie das Pu­ blikum! – hat er nicht begriffen, dass (zumindest in der Darstellung des Spiels) der Judenmessias und der Antichrist ein- und dieselbe Person sind.¹⁸⁸ Der Wis­ sensvorsprung, den die anderen Figuren und die Zuschauer vor ihm haben, lässt seine Reaktion umso mehr als unangebracht und die Gewalt als fatal sinnlos er­ scheinen. Die Zuschauer können die Figur des Juden so nicht nur verurteilen, son­ dern aufgrund ihrer Überlegenheit auch auf sie herabblicken. Die Verrohung der Juden bietet damit nicht nur einen Anlass für Kritik, sondern lädt auch zu Spott und Häme ein.

188 Vgl. die Ausführungen zum Stellvertreter-Topos (Kapitel 3.1.2.2).

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

205

Die Charakterisierungstechniken JuBes weisen zahlreiche Parallelen zu den in LuA beobachteten auf. Auch hier werden alle jüdischen Figuren als emotions­ geleitet dargestellt und in Konfliktsituationen ist ihr Aktionsmuster auf verbale und physische Gewalt beschränkt. Besonders deutlich wird dies in der Auseinan­ dersetzung mit den Propheten Elias und Enoch (Elies und Enoc), die gegen den Antichristen predigen. Die Szene ihrer Gefangennahme durch die jüdischen An­ hänger des Antichristen beginnt mit einer Schimpftirade, die der Jude Marquim über sie ausgießt: Fil a putain ! Mauvais gaignon ! Traïtes et villains puant ! Desloial, vil, sale et truant ! Coment estes vous si hardiz Que vous deux avez, des mardi, En ce lieu, si con l’en m’a dit, Le nom mon seigneur contredit ! Saichiez la mort en souffrerez. (V. 1017–1077)

Hurensöhne! Räudige Hunde! Verräter und stinkende Tölpel! Treulos, niederträchtig, dreckig und verachtenswert! Wie konntet ihr so frech sein, dass ihr beide seit Dienstag an diesem Ort, wie man mir gesagt hat, den Namen meines Herrn geleugnet habt! Wisset, dass ihr dafür sterben werdet.

Ein solches Aufgebot an Beschimpfungen wird im gesamten Spiel nur jüdischen Figuren in den Mund gelegt. Doch auch hier bleibt es nicht bei verbalen Entglei­ sungen. Nachdem Elies und Enoc dem Antichristen vorgeführt wurden und im verbalen Schlagabtausch mit ihm nicht zur Widerrufung ihrer Predigten bereit waren, werden sie von Marquim und Malaquim verprügelt: Marquim Par le grant Dieu ! En ce demoigne N’a si grant honme ne si haust Qui parlast si con si ribaut Ont ja parlé a nostre maistre, Qu’il est Filz Dieu, le Roy celestre. Se soit a leur male mescheance ! Compains, foule a cestui la panse, Et je a cestui batray la teste !

Marquim Beim großen Gott! In diesem Reich gibt es keinen so großen oder mächtigen Mann, der jemals so mit unserem Herrn reden würde, wie es diese Wüstlinge getan haben, ist er doch Sohn Gottes und himmlischer König! Das soll sie übel zu stehen kommen! Kamerad, schlag dem da den Bauch entzwei und ich werde diesem den Kopf einschlagen!

Malaquim Mon seigneur ont appellé beste ; Trop li ont dit lait et vergoingne. Ne cuidez ja que je m’en soigne D’eux faire lait et honte assez! Or regardez ! Je suis lassez, Tant l’ay ja rouillié et batu.

Malaquim Meinen Herrn haben sie als Tier bezeichnet; zu sehr haben sie ihn beleidigt und beschämt. Glaubt ja nicht, dass ich Angst hätte, ihnen nicht genug Leid und Schande zu bereiten! Nun seht her! Ich bin erschöpft, so sehr habe ich auf ihn eingeschlagen und eingedroschen.

(V. 1152–1165)

206 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

Die jüdischen Schergen des Antichristen rechtfertigen ihre Gewalt auf die gleiche Weise wie in LuA, was dieselbe Reaktion des Publikums herausgefordert haben dürfte. Der Kontrast zwischen den verblendeten, verrohten Juden und den wei­ sen, altehrwürdigen Propheten könnte nicht größer sein. Die Gewalt kulminiert in der Tötung Elias’ und Enochs, die Marquim und Haquim auf Anordnung des An­ tichristen ausführen (vgl. V. 1166–1199). In der Handschrift sind Gefangennahme, Misshandlung und Tötung der Propheten ausführlich in sechs Miniaturen darge­ stellt.¹⁸⁹ Sie zeigen Marquim, Malaquim, Haquim und weiteres Gefolge in Rüstung und bewaffnet; zunächst mit Speeren und Knüppeln, die sie zur Festnahme und Züchtigung der Propheten einsetzen, dann mit Schwert und Axt, die zur Enthaup­ tung dienen. Besonders anschaulich illustrieren die Miniaturen, wie Elias und Enoch geschlagen und getötet werden (vgl. fol. 18v und 19v). Die sich weiß vom übrigen Bildgrund abhebenden Propheten sind jeweils gebeugt oder kniend ab­ gebildet, über ihnen die zwei Juden, die mit ihren Knüppeln bzw. Schwert und Axt zum Schlag ausholen. Die visuelle Darstellung der physischen Gewalt gegen die Propheten reproduziert die Spielhandlung ohne sichtbare Bezüge zu ikono­ graphisch überformten Schemata herzustellen, wie es zum Teil in anderen visu­ ellen Illustrationen der Fall ist.¹⁹⁰ Dies lässt vermuten, dass die Miniaturen einer realen Aufführung nachempfunden oder zumindest so konzipiert sind, dass sie den zeitgenössischen Leserinnen und Lesern eine als möglich vorstellbare Aufführung und einen adäquaten Rezeptionsmodus vor Augen stellen.¹⁹¹ Sie asso­ ziieren die Juden durch Kleidung, Waffen und Handlungen so auch auf visueller Ebene mit Verrohung und Gewalt. Das Motiv setzt sich über das gesamte Spiel hin­

189 Vgl. Besançon, Bibliothèque Municipale (BM), Ms. 579, fol. 17v–19v. 190 Der bereits erwähnte Straßburger Bildertext (Kap. 3, Anm. 172) präsentiert beispielsweise ei­ ne ausgesprochen schematisierte Weltgerichtsdarstellung (Auswahl der Figuren, Anordnung der Figuren im Bild, Attribute des Weltrichters), die nicht als Visualisierung der im Text entwickel­ ten Handlung gewertet werden kann, sondern rein aus der ikonographischen Tradition heraus verstanden wird (vgl. Boveland, Der Antichrist, S. 37). 191 Jean-Pierre Perrot und Jean-Jacques Nonot vertreten mit der gleichen Argumentation die Auffassung, die Miniaturen seien zweifellos Zeugnisse einer zurückliegenden Aufführung (vgl. Perrot/Nonot, Le Mystère du Jour du Jugement, S. 12). Auch Graham A. Runnals ordnet das Spiel in seiner Typologie mittelalterlicher französischer Schauspiel-Handschriften dem Typ G zu: „a luxury manuscript recording the text of a past performance“ (Runnalls, Typology, S. 99 [Kap. 2, Anm. 51]). Katlyn Griffith schränkt ein, aufgrund fehlender Aufführungsbelege könne nicht ausgeschlossen werden, dass JuBe als reines Lesedrama konzipiert sei, betont aber eben­ falls die herausragende Bedeutung der Miniaturen für eine ‚performative‘ Rezeption des Spiels (vgl. Griffith, Performative Reading, S. 101). Im Anschluss an Griffith verstehe auch ich die Miniaturen als rezeptionssteuernde Elemente des Spiels, die als performative Komponenten ge­ wertet werden können. Entscheidend ist dabei nicht, ob sie auf einer realen Aufführung basieren, sondern dass sie den Lesenden den performativen Nachvollzug einer solchen ermöglichen sollen.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 207

weg fort. Die Juden schikanieren nicht nur die Propheten, sondern sind auch die zentralen Figuren in der Zerstörung christlicher Identität. Sie verwüsten Klöster und Kirchen und vergehen sich am Klerus (vgl. V. 1223–1226). Besonders deutlich wird der typisierte verrohte Jude dem christlichen Ideal entgegengestellt, wenn der Jude Mossez auf die Figur des guten Christen (Li Bons Chrestiens) trifft. Nach­ dem Elies und Enoc auferweckt wurden und zum Himmel aufgefahren sind, lobt Li Bons Chrestiens Gottes Macht und all jene, die ihm treu geblieben sind (vgl. V. 1424–1435). Mossez verfällt darüber in so große Wut, dass er ihn beschimpft, bedroht und verprügelt: Or sa ! Glouton ! riens ne vaura Vostre fause papelardie. C’est en despit dou Fil Marie Que cy avez ramenteü ; Mieux vous vaussist estre teü. Jamais jour tel mot ne direz. Vous seroiz ainssin atirez. Tuit cil qui ce tesmoingneront Mais, au peuple entendre feront Qu’an enfer deable les emporte. (V. 1436–1445)

Ah! Halunke! Nichts wird Euch Eure falsche Heuchelei nützen. Sie gereicht dem Mariensohn nur zur Schande, an den Ihr hier erinnert habt. Besser hättet Ihr den Mund gehalten. Niemals wieder werdet Ihr solche Worte verlieren. So schlecht wird es Euch ergehen! All jene, die sich von jetzt an noch zu Gott bekennen, werden das Volk wissen lassen, dass der Teufel sie in die Hölle zerrt.

Die begleitende Miniatur zeigt, wie der Jude den guten Christen vor einer Grup­ pe von erschrocken wirkenden Menschen, die am rechten Bildrand zu sehen ist, mit einem Knüppel schlägt (vgl. fol. 23r). Weil in der dargestellten Menschenmen­ ge niemand das Zeichen des Antichristen trägt¹⁹², ist anzunehmen, dass sie nicht zum falschen Messias konvertierte Christen oder aber das Publikum repräsentie­ ren. In beiden Fällen verdeutlicht die Kombination aus Text und Bild die Strategie der Einschüchterung, derer sich die Juden in JuBe bedienen. Bereits in LuA verbie­ tet Joel christlichen dramatis personae den Mund (schwygst nit bald, du kompst jn nott., V. 2546) und warnt davor, sich öffentlich zu Gott zu bekennen (vgl. V. 1914– 1919). Das exakt gleiche Muster wiederholt sich in der Konfrontation zwischen Mossez und Li Bons Chrestiens in JuBe. Beide Figuren sind durch ihre Namen und ihre Kleidung deutlich auf eindimensionale Typen reduziert. Mossez ist durch den typisch jüdischen Namen (Moshé) und die Darstellung mit ‚Judenhut’ als proto­ typischer Jude markiert. Die Charakterisierung des guten Christen drückt sich be­ reits in seinem Namen aus. Optisch hebt er sich wie die Propheten durch weiße Kleidung von den übrigen Figuren ab. Wie in LuA wird an ihm ein Exempel sta­

192 Die Anhänger des Antichristen tragen in den Miniaturen JuBes gewöhnlich ein kreisförmiges, orange oder gelb gefärbtes Zeichen auf ihren Gewändern oder sind in Rüstung gekleidet.

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tuiert: Mossez, in der Rolle des ‚verrohten Juden’, verbietet ihm vor Publikum den Mund (Mieux vous vaussist estre teü., V. 1440) und züchtigt ihn öffentlich unter An­ drohung einer noch weit schlimmeren Bestrafung für jeden, der seinem Beispiel folgen sollte (vgl. V. 1443 ff.). Dass die Szene unmittelbar vor dem Weltgerichtsteil des Spiels liegt, der die Herrschaft des Antichristen jäh beendet, unterstreicht die Verstocktheit der Juden, die bis zum Ende auf ihrem Irrtum beharren. In JuMo tritt die Charakterisierung der jüdischen Figuren als verroht stärker in Form physischer als verbaler Gewalt hervor. Das Spiel markiert die Könige Gog und Magog sowie ihr Heer als Juden (vgl. unter 3.1.1 Verlierer-Topos), deren Bruta­ lität es über sprachliche und kinesische Zeichen in Szene setzt. Durch die Identi­ fikation der eingeschlossenen Völker mit dem jüdischen Kollektiv überträgt JuMo auch ihre traditionelle Charakterisierung als brutal und gefährlich auf die Juden im Allgemeinen. Es inszeniert die Könige und ihr Gefolge holzschnittartig als Gro­ biane, deren gesamtes Wesen sich in Kriegstreiberei erschöpft. Sprachlich äußert sich dies in einer Reihe von Eigenkommentaren, in denen die Soldaten mit ihrer Gewaltbereitschaft prahlen und sich gegenseitig ausmalen, wie sie ihre Gegner überwältigen werden (vgl. Gr 130, 134, 138). So betont etwa der zweite Genealo­ gien¹⁹³, er wolle auf keinen Fall der Letzte sein, der sich ins Kriegsgetümmel stürzt (Le dernier je ne veulx poinct estre / a bien frapper de tous coustes, Gr 130) und der Korporal (Le caporal) brüstet sich damit, seine Soldaten seien so kriegserfahren, dass es auf der Erde niemanden gebe, der ihnen die Stirn bieten könne (Soldars si expers au faict de guerre / Qu’il n’y aura gens sur la terre / qu’ayent moyen nous te­ nir teste, Gr 134). Der achte Genealogien versichert, das Heer schlage problemlos fünftausend Krieger (Nous abattrons, je vous asseure / bien cinq mille combattans, Gr 138). Auf die sprachliche Evokation der Gewalthandlungen folgt die physische Konfrontation zwischen dem jüdischen Heer und den widerständigen christli­ chen Königen und ihrem Gefolge. In der Regieanweisung heißt es: Icy ce faict le combat et sont occis les soldartz des roys et le secretayre de l’antechrist est blesse et les trois roys orientaux sont pris par les roys Gog et Magog et Hollofernes. (Gr 146) Nun findet der Kampf statt und die Soldaten der Könige werden getötet und der Sekretär des Antichristen wird verletzt und die drei Könige des Orients werden von den Königen Gog und Magog und Hollofernes ergriffen

193 Zweifellos bezieht sich die Bezeichnung généalogien auf Vertreter der verlorenen zehn Stäm­ me Israels. Indem das Nominalsuffix -ien, das in der Regel eine Personalbezeichnung einführt, an die Basis généalogie (Geschlechterfolge) angehängt wird, denotiert das neu gebildete Lexem eine Person, die in der Geschlechterfolge steht. Da die Figuren der généalogiens im Gefolge Gogs und Magogs auftreten, die traditionell mit den zehn Stämmen assoziiert wurden, kann nur eine jüdische Geschlechterfolge gemeint sein.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 209

Die Gewalt kulminiert auch in JuMo im physischen Angriff der jüdischen Figu­ ren auf Seiten des Antichristen, die sich gegen die christlichen Figuren wendet. Die Opposition von ‚bösen‘ jüdischen Antichristen und ‚guten‘ Christen wird zu Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung durch die Worte Magogs deutlich unterstrichen: Il nous fault mettre en tel terme tous ces faulx chrestiens obstines qu’ilz soyent tous a mort livres et pour ce frappons tous sans deffaut (Gr 146)

Wir müssen so mit all diesen falschen, sturen Christen fertigwerden, dass sie alle umkommen; und darum schlagen wir alle erbarmungslos zu!

Die Verwendung des Demonstrativpronomens ces in Verbindung mit den pejora­ tiven Adjektiven faulx und obstiné im Gegensatz zu nous, das sich auf die eigene Gruppe bezieht, schafft einen sprachlich klar markieren Antagonismus, in dem der jüdischen Seite die Rolle der Aggressoren zufällt. Wie aus der Regieanweisung hervorgeht, soll der Kampf eindeutig durch das Heer Gogs und Magogs entschie­ den werden: Viele christliche Soldaten sterben¹⁹⁴ und die christlichen Könige ge­ raten in Gefangenschaft, wohingegen auf Seiten des antichristlichen Heers nur der Sekretär (le secretayre de l’antechrist) verletzt wird. In dieser Konstellation erscheinen die Christen als Opfer, von denen viele einen Märtyrertod sterben, die Juden dagegen als Täter, deren erbarmungslose Kriegsführung einen Beweis ihrer Verrohung darstellt. b) Verstocktheit Die kanonische Überlieferung der Antichristlegende bedient den Topos der jüdi­ schen Wesensart ‚Verstocktheit‘ nicht. Zwar gehören die Juden zeitweilig zum Ge­ folge des Antichristen, doch sind sie auch die ersten, die sich von ihm abwenden: Laut Adsos Antichrist-Traktat werden die Juden durch die Predigten der Prophe­ ten Elias und Enoch bekehrt und finden unwiederbringlich zu Gott zurück.¹⁹⁵ Die bereits erwähnte, früheste theatrale Bearbeitung des Antichrist-Stoffs, der Ludus de Antichristo, hält sich eng an diese Vorlage, wenn er die Konversion Synagoges durch die Propheten und anschließend sogar deren gemeinsamen Märtyrertod in­ szeniert.

194 Vgl. z. B. die Rede des ersten Soldaten (Le 1er soldarz des roys) in Gr 146: Pour certain mon Dieu je suis mort ; / je te recommande mon esprit.; „Wahrhaft, mein Gott, ich bin tot. Ich befehle dir meine Seele an.“ 195 Verhelst, De ortu, S. 28, Z. 157–160: Filios autem Israel, quicumque eo tempore fuerint in­ uenti, hi duo maximi prophete et doctores ad fidei gratiam conuertent et a pressura tanti turbinis in parte electorum insuperabilem reddent.

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Demgegenüber zeichnen die untersuchten volkssprachlichen Antichristspie­ le ein deutlich anderes Bild. Besonders drastisch weicht JuBe von der kanoni­ schen Vorlage ab. Es zeigt die Juden nicht nur unbeeindruckt von den Predigten Enochs und Elias’, sie sind es gar, die den Antichristen vor den Propheten warnen: Vivans, juif Haa ! Je ay le cuer doulant et triste. Mont bon conseil en couvient querre Quant venuz sont en ceste terre Dui faux prescheeur, dui faux hermitte, Dui traïteur, duy ypocritte Qui a toute la gent deffendent Qu’il n’obeïssent ne n’antendent De nulle riens a nostre maistre. (V. 1044–1051)

Vivans, Jude Ach! Mir ist furchtbar schwer ums Herz. Es bedarf nun eines sehr guten Rats, denn auf diese Welt sind zwei falsche Prediger, zwei falsche Eremiten, zwei Verräter, zwei Heuchler gekommen, die alle Menschen davon abhalten wollen, unserem Meister in irgendeinem Belang zu gehorchen oder Beachtung zu schenken.

In der den Text illustrierenden Miniatur (vgl. fol. 17r) ist Vivans zu sehen, der in Begleitung einiger Gefährten zum Antichristen spricht. Die Juden treten in JuBe als erklärte Gegner der Propheten auf und auch deren Auferstehung und Himmel­ fahrt kann sie nicht von der Wahrheit ihrer Predigten überzeugen, wie die Szene zwischen Mossez und Li Bons Chrestiens nachdrücklich vor Augen führt. Bis zum Ende bleiben die Juden unbelehrbar und so trifft sie auch der Zorn Gottes als erste: Während in Apk 16,1–2 der erste Engel die Schale des Zorns Gottes über alle Men­ schen ausgießt, die den Antichristen angebetet haben, ist die Schale des Premiers Anges à Fiole allein für die Juden bestimmt: J’espandrai sanz nulle demeure La moie sur la pute geste Qui ont aouré l’orde beste Plainne de grant desloyauté ; Il sont tuit plain de cruauté : Ou nom de Dieu je les condampne ! (V. 1512–1517)

Ich werde meine unverzüglich über die schändliche Sippe ausgießen, die das verachtenswerte Biest verehrt hat, das von großer Perfidie erfüllt ist. Sie sind alle voll von Grausamkeit: Im Namen Gottes verdamme ich sie!

Obwohl auch in JuBe die Juden nicht die einzigen Anhänger des Antichristen sind, hebt der Engel ihre besondere Stellung hervor, ja seine Worte lassen es beinahe so erscheinen, als sei das Gefolge des Antichristen auf die Juden reduziert. Die gleich darauf folgende Klage Vivans’ verstärkt diesen Eindruck: Aÿ ! Par la loy Dieu, sire Anne, Bien voy nous sonmes tuit perdu. J’ai le cueur trestout esperdu. Je voy ja la nostre gent morte. (V. 1518–1521)

O weh! Beim Gesetz Gottes, Herr Annas, wir sind eindeutig alle verloren. Ich bin vollkommen außer mir. Ich sehe die Unsrigen schon alle tot daliegen.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 211

Die unmittelbare Reaktion Vivans’, der beim Anblick seiner toten Gefährten außer sich gerät, bestätigt die besondere Betroffenheit der Juden. Dieses Muster wieder­ holt sich im weiteren Verlauf immer wieder: Das Ausgießen einer Schale des Zorns zieht Klagen und Verwünschungen von Seiten der Juden nach sich. Beispielhaft sei hier die Rede Annes’ herausgegriffen: Bien voi nous sommes deceüz. Je ne m’an say ja repantir, Quar li Dieux qui ne puet mentir A sur nous donné sa sentance. Maudite soit sa grant puissance, Ses grans Noms, sa grans poestez ! Maudiz soit yvers et estez, Et li pouoirs de Dieu trestouz ! Je suis li plus mechans de touz ; Ma langue en est ja maigre et arse. (V. 1570–1579)

Ich sehe wohl, dass wir betrogen worden sind. Ich werde es niemals bereuen, denn Gott, der nicht lügen kann, hat über uns gerichtet. Verdammt sei seine große Macht, sein großes Ansehen, sein großes Reich! Verdammt seien Winter und Sommer und alle Mächte Gottes! Ich bin der Armseligste von allen; meine Zunge ist davon schon trocken und verkohlt.

Trotz der Erkenntnis, betrogen worden zu sein, weigert sich Annes, Reue zu zei­ gen und zu Gott zurückzukehren. Stattdessen verflucht er ihn und beklagt sei­ nen eigenen Zustand. Durch die stetige Weigerung der Juden, das Reich Gottes anzuerkennen und an ihm teilzuhaben, inszeniert das Spiel den bekannten To­ pos der jüdischen Verstocktheit: Immer und immer wieder werden die jüdischen Figuren im Spielverlauf auf ihren Irrglauben aufmerksam gemacht, doch sogar als die Katastrophe über sie hereinbricht, verweigern sie sich stur der Erkenntnis. So schreibt JuBe den Topos der jüdischen Verstocktheit – entgegen der kanonischen Tradition – in die Antichrist-Legende ein und nimmt zugleich eine bedeutende Modifikation der Heilsgeschichte vor. Indem die Perspektive einer jüdischen Kon­ version zum Christentum am Ende der Zeiten annulliert wird, erscheinen diese als endgültig verloren, was jede Form der Annäherung oder Auseinandersetzung sinnlos erscheinen lässt. LuA wählt eine differenziertere Form der Darstellung als JuBe. Im Rahmen des äußerst ausführlichen Streitgesprächs zwischen den Propheten Enoch und Elias und dem Antichristen, in dem seine jüdischen Anhänger eine wichtige Rolle spielen, wird eine Unterteilung der Juden vorgenommen. Auf der einen Seite ste­ hen – durch die Figuren Heber, Neptalim und Jetro verkörpert – diejenigen, die überzeugt werden können und zum Christentum konvertieren. Bemerkenswerter­ weise stellt das Spiel durch die Figurenrede die geänderte Zugehörigkeit der zu­ nächst jüdischen dramatis personae sofort heraus. Hatte Heber seine Gefährten zunächst noch mit Jr herren (V. 3406) angesprochen, um seine durch die Reden der Propheten hervorgerufenen Zweifel zu äußern, wendet er sich gleich darauf mit jr juden (V. 3771) an sie, wenn er den bisherigen Irrtum bereut. Im Moment

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seiner Erkenntnis wird er vom Juden zum Christen. Für das Publikum wird dies in der ausgrenzenden Anrede deutlich, durch die er sich selbst von der Gruppe der Juden exkludiert. Folgerichtig antwortet die jüdische Figur Baana auf seine Vorhaltungen mit jr cristen sind nitt vnser herren (V. 3790; „ihr Christen seid nicht unsere Herren“) und Abram ereifert sich mit den Worten Jr cristen plärent zlutt jm .. temppell / [. . . ] / wüssent! wils messias nitt rechen, / so wend wir juden vch erste­ chen. (V. 3833; „Ihr Christen schreit zu laut im Tempel herum [. . . ]. Wisset! Wenn der Messias das nicht rächen will, dann werden wir Juden euch erstechen“). Die jüdischen Figuren ordnen Heber dadurch explizit der Gruppe der Christen zu und schließen ihn aus der eigenen Gemeinschaft aus. Auf der anderen Seite wiederum steht in LuA jene Überzahl der Juden, die sich bis zum Ende nicht bekehren wollen. Im Streitgespräch zwischen Propheten und Antichrist nehmen sie stets die Position ihres Anführers ein und dringen immer wieder darauf, mit den Störenfrieden kurzen Prozess zu machen: Abram Da komptt harfür das recht gsatz. messias, du bist vnser schatz! [. . . ] e vnnd wir hin fur wol wend blyben jn růw, land vns die lugner v‘tryben¹⁹⁶ oder aber sy schlan zů todtt! sy bringent vnns sonst all jn nott. (V. 3370–3383)

Abraham Da hören wir das wahrhafte Gesetz! Messias, du bist unser Schatz! [. . . ] Und weil wir zukünftig unsere Ruhe haben wollen, lasst uns die Lügner vertreiben oder aber sie totschlagen! Sie bringen uns sonst alle in Bedrängnis.

Ihre Verstocktheit wird in der Interaktion mit den bekehrten Juden besonders her­ vorgehoben. Verkörpert durch die Figur Hebers versuchen diese, ihre Gefährten zur Erkenntnis zu bewegen und sie so vor der Verdammung zu retten. Heber redet mehrfach auf seine Kameraden ein, argumentiert mit der Heiligen Schrift¹⁹⁷, ver­ weist auf die Rolle der Propheten¹⁹⁸ und betont, dass es für ihre Errettung noch nicht zu spät sei.¹⁹⁹ Doch Hebers Bemühungen scheitern ebenso wie die Predigten

196 In der Edition Reuschels befindet sich hier aller Wahrscheinlichkeit nach ein Schreibfehler. Gemeint ist vermutlich vertryben. 197 Vgl. z. B. V. 3776: gschryfft bewyst jn syn gott vnd herr („Die Schrift beweist, dass er [Jesus, CP] Gott und Herr ist.“). .. .. 198 Vgl. V. 3798 ff.: enoch vnd helias, / die vch zur warnung gsendett sind / von gott, vch zmachen gottes fründ („Enoch und Elias, die Euch von Gott zur Warnung gesandt sind, um Euch zu Gottes Freunden zu machen“). 199 Vgl. V. 4310 ff.: gsend ir nun durch diss wunder gross, / das ir noch [jm] zytt der gnaden sind? / jr mogen noch werden gottes fründ! („Seht ihr nun durch dieses große Wunder, dass ihr noch in der Zeit der Gnade lebt? Ihr könnt noch Gottes Freunde werden!“).

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

213

Elias’ und Enochs an der Verstockung des Großteils der jüdischen Figuren. Nur Je­ tro und Neptalim, der zuvor schon Zweifel bekundet hatte, folgen seinem Aufruf. Alle anderen Juden verweigern sich nicht nur der Erkenntnis, sondern bedrohen auch wiederholt die abtrünnig gewordenen Kameraden mit dem Tod (vgl. V. 3451, 3782, 3794, 3836). Heber bringt seine Verzweiflung über die Verstocktheit der Ju­ den zum Ausdruck, wenn er fragt Wie kůmpts, das ir dwarheytt hassen / vnd nun gernn die lugin fassen (V. 3795 f.; „Wie kommt es, dass ihr die Wahrheit hasst und euch jetzt bereitwillig auf die Lügen einlasst?“). Gerade im Kontrast zur Figur des Heber, die das richtige Verhalten vorlebt, inszeniert das Spiel die jüdische Ver­ stocktheit als umso törichter. Auch wenn in LuA die Auferstehung der Propheten den Antichristen in Bedrängnis bringt und ihn einige Anhänger kostet, bleiben die übrigen Juden doch in seinem Gefolge und führen ihre brutale Strategie der Ein­ schüchterung weiter fort.²⁰⁰ Als der Antichrist mit seinem Gefolge aufbricht, um seine eigene Himmelfahrt zu inszenieren, die dem Zweck dienen soll, die Aposta­ ten vor seinem Vatergott anzuklagen, begleitet der Jude Nadab ihn mit den Worten Welch nit vom glouben gfallen sint, nochmals syn wend messie kind, die sond von stund empfan den segen, ouch zů jm kon vnnd syn zůgegen siner allerersten himellfartt, wan er sich clagen will ongsparrtt ab denen, so mitt grosser schand [sich] můttwillig von jm abgworffen hand.

Wer nicht vom Glauben abgefallen ist, weil er dem Messias angehören will, der soll von nun an den Segen empfangen und auch zu ihm kommen und bei seiner ersten Himmelfahrt dabei sein. Denn er will sich reichlich über die beklagen, die sich mit großer Schande mutwillig von ihm abgewandt haben.

(V. 4707–4714)

Nadabs Versuch, die Abtrünnigen wieder für den Antichristen zu gewinnen, in­ dem er dafür Belohnung in Aussicht stellt (V. 4709), aber auch droht (V. 4712 ff.), ist zugleich ein sprachlicher Ausweis für die unbedingte Treue der Juden gegen­ über ihrem vermeintlichen Messias. Während der Antichrist und sein Gefolge zu

200 So tötet Gog Aason, als dieser ihn kritisiert und sich gegen den Antichristen ausspricht (vgl. V. 4653–4670). Anders als in JuMo finden sich in LuA keine sprachlichen Indizien (Anredefor­ men, Selbstaussagen etc.) dafür, dass die Völker Gog und Magog als dezidiert jüdisch interpretiert wurden. Im deutschen Sprachraum war jedoch seit dem dreizehnten Jahrhundert ihre Identifika­ tion mit den verlorenen zehn Stämmen Israels, die in volkssprachlichen Texten als ‚rote Juden’ bezeichnet wurden, äußerst populär (vgl. Gow, The Jewish Antichrist; Gow, The Red Jews und Voss, Judenfeindliche Apokalyptik, S. 198 f.). Die weite Verbreitung dieser Tradition legt nahe, dass sie dem Luzerner Publikum vertraut war und es die Figuren Gog und Magog als jüdische Anhänger des Antichristen einordnen konnte.

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einem den Ölberg darstellenden Gerüst²⁰¹ ziehen, wo die Himmelfahrt stattfin­ den soll, tritt Christus (Saluator) auf und weist den Erzengel Rafael (Rauael) an, den Betrüger und seine teuflischen Verbündeten niederzuschlagen (vgl. V. 4715– 4720). Sein Mitleid drückt er den auf ewig verlorenen Anhängern des Antichristen aus: Mich erbarmptt viler völcker vnnd sin arme seel Vnnd vil von den kinden vss ysrael, so mitt jm gantz erstockt vnd plind hinfür ewig mitt jm verdamptt sind. (V. 4723–4726)

Mich dauern die vielen Völker und seine arme Seele und die vielen Kinder aus Israel, die, wie er, völlig verstockt und blind und fortan auf ewig mit ihm verdammt sind.

Neben den unbestimmt bleibenden ‚vielen Völkern‘ tritt die große Zahl der ‚Kin­ der aus Israel‘ unter den Anhängern des Antichristen in der Figurenrede hervor, die durch Verstocktheit und Blindheit charakterisiert werden. Die hier als tauto­ logisch zu verstehenden Attribute erstockt und plind rufen unmittelbar das Meta­ phernsystem Verstocktheit ist eine Krankheit auf, das bereits im Zusammenhang mit den Passionsspielen beschrieben wurde und dessen konzeptuelle Metaphern Verstocktheit ist Blindheit und Verstocktheit ist Taubheit dem Publikum nicht nur aus dem Kontext des religiösen Schauspiels, sondern auch aus Bildquellen und Predigten vertraut gewesen sein dürften. LuA schreibt die metaphorische Verbin­ dung von Verstocktheit und Blindheit in sein apokalyptisches Szenario ein und nutzt sie, um die auf ihre Verstocktheit zurückzuführende Unfähigkeit der Juden, die christliche Wahrheit zu erkennen, in den lebensweltlich anschaulichen Be­ reich der Krankheit zu übertragen und darüber zugleich mit Konnotationen wie Sündhaftigkeit anzureichern. Das Metaphernsystem begünstigt zudem, die direk­ te Gegenüberstellung einsichtiger jüdischer Figuren mit ihren verstockten Pen­ dants im Deutungsrahmen ‚gesund – krank‘ zu verstehen. Folglich verhilft die nuanciertere Darstellung in LuA, die zwischen einer Minderheit bekehrbarer Ju­ den und einer verstockten Mehrheit unterscheidet, wie in den Passionsspielen den Juden nicht zu einem besseren Leumund. Vielmehr hebt der kontrastieren­ de Vergleich noch pointierter das Verhalten jüdischer dramatis personae als Ver­ stocktheit hervor. ChWg verzichtet wie JuBe und LuA darauf, die Bekehrung der Juden durch Eli­ as und Enoch in Szene zu setzen. Das Spiel endet nach dem Fall des Antichristen mit den warnenden Worten der Propheten, den wahren Gott zu ehren und seine 201 In der Regieanweisung (nach V. 4715) heißt es: Entcrist gadt mitt sin folck gegen grüst, so gsett alls ein berg, droben sind vier starck tüffell, sos vffhebent, so er zhimell will faren. „Der Antichrist geht mit seinem Gefolge zu einem Gerüst, das wie ein Berg aufgebaut ist; darauf befinden sich vier starke Teufel, die ihn hochheben, wenn er zum Himmel auffahren will.“

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 215

Gesetze zu achten (V. 1541–1545).²⁰² Gerade im Hinblick auf den alarmierenden Appell, der das Spiel beschließt, präsentiert ChWg die Juden als Negativexempel. Von den drei sprechenden Rollen, die als Anhänger des Antichristen auftreten, ist Mosse die einzige, die durch ihren Namen und den Dialog mit dem selbster­ nannten Messias deutlich als Repräsentant des Judentums charakterisiert wird. Die beiden anderen dramatis personae – Vnus eorum und Populus – verkörpern lediglich die Allgemeinheit, die sich dem Antichristen anschließt, bleiben dar­ über hinaus aber unbestimmt. Es wird so nur das Kollektiv der Juden klar identifi­ zierbar als Gefolgschaft des Antichristen inszeniert. Die blassen Figuren des Vnus eorum und Populus treten dagegen in den Hintergrund. Die Konzeption ChWgs bietet sie nicht als griffiges Feindbild an. Die reuevollen Worte nach dem Sturz des falschen Messias spricht bezeichnenderweise nicht Mosse, sondern Populus (V. 1494–1507). Es entsteht so der Eindruck, die Verblendung der Juden ende nicht mit der Enttarnung des Antichristen. Vielmehr legt der Ausgang des Spiels nahe, dass sie sich in Gegenwart und Zukunft perpetuiert, denn die Reden Elyas‘ und Enochs sprechen nicht nur die Figur des Populus an (vgl. die Regieanweisung vor V. 1516: Ad populum; „zu Populus“ bzw. „zum Volk“), sondern auch das Publi­ kum. Bezögen sie sich nur auf die dramatis persona im Sinne einer Personifikati­ on der allgemeinen Bevölkerung, wäre die rekurrente Verwendung pluralischer Anredeformen nicht zu erklären (vgl. z. B. V. 1530: Darumb nend wider rechten ſin; „deshalb kommt wieder zu Verstand“; V. 1540: So ſond wir uch dann wider bkeren; „dann sollen wir euch wieder zum rechten Glauben bringen“). Der un­ mittelbare Gegenwartsbezug, den die Publikumsansprache herstellt, lässt auch die Bereitschaft der Juden zur blinden Treue gegenüber einem falschen Messias als fortdauernden Zustand erscheinen, der im Moment der Aufführungssituation und zukünftig aktuell ist. Obwohl der Antichrist-Teil JuMos unvollständig überliefert ist, lässt sich das gleiche Schema wie in den anderen Spielen erkennen. Auch in der Darstellung Ju­ Mos gelingt es Elias und Enoch nicht, alle Juden zur Konversion zu bewegen. Der Messagier kündigt im Prolog des ersten Spieltags an, dass der Antichrist die zehn Stämme mit ihren Königen Gog und Magog²⁰³ befreien und sich von ihnen als wah­ 202 Die ungewöhnliche Chronologie ChWgs, das den Antichrist-Teil auf das Weltgericht folgen lässt, ist vielfach diskutiert worden (vgl. Reuschel, Die deutschen Weltgerichtsspiele, S. 137; Jenschke, Georg: Untersuchungen zur Stoffgeschichte, Form und Funktion mittelalterlicher An­ tichristspiele. Münster (Westfalen) 1972, S. 245–251; Schulze 1993, S. 20 ff.). Der Auffassung Jenschkes und Schulzes folgend, kann die geänderte Reihenfolge als didaktisches Moment ge­ wertet werden, das die Aktualität des dargestellten Geschehens und seine Relevanz für das Pu­ blikum unterstreicht. 203 Zur Identifikation der Legenden von den jüdischen zehn Stämmen und den Völkern Gog und Magog vgl. Kap. 3, Anm. 200.

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rer Gott und Messias verehren lassen werde (vgl. Ch 187). Sicher sei, dass sie bis zum Ende seine Anhänger blieben (ebd: car ilz seront, je vous affie, / Ses adherantz jusque[s] a la fin). Den Ausführungen der Propheten begegnen die jüdischen Fi­ guren Phares und Manasses mit Unglauben und traditionellen Gegenargumenten, wie sie in Predigten der Adversus Judaeos-Literatur häufig den jüdischen Gegen­ spielern in den Mund gelegt und entkräftet werden.²⁰⁴ Phares antwortet auf Elias‘ (Elie) Ankündigung, die Propheten seien den Juden gesandt, um sie vom rech­ ten Glauben zu überzeugen, sie wollten ihn nicht hören, egal, was Elie zu sagen habe (nous sommes contres de t’ouyr / raconte ce quil toy plaira; fol. 80r). Wie in LuA wird allerdings eine Differenzierung zwischen den jüdischen dramatis perso­ nae vorgenommen. Einige von ihnen bekehren sich zum Christentum und werden gemeinsam mit dem konvertierten König Ismahel (und einigen ehemals heidni­ schen Konvertiten) von den Anhängern des Antichristen umgebracht (vgl. fol. 82r und 86r–87v). Der Messagier kündigt das Geschehen im allgemeinen Prolog des dritten Spieltags an: Après vous verrés, si je n’erre, Ismael, roy jadis payen, Qui se fera alors chrestien En endurant soudain la mort Par ceulx de l’Antechrist, a tort. Avec aucuns des convertis De la noble race des Juifz. (Ch 196)

Danach werdet ihr sehen, wenn ich mich nicht täusche, wie Ismael, ein zuvor heidnischer König, der dann Christ werden wird, augenblicklich den Tod erleiden wird, zu Unrecht, durch die Schergen des Antichristen, gemeinsam mit einigen der Konvertiten aus dem edlen Geschlecht der Juden.

Ähnlich wie in LuA wird in JuMo folglich zwischen positiv besetzten, konversi­ onsbereiten Juden und negativ konnotierten, verstockten Juden unterschieden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass der Messagier die bekehrten Juden positiv als edles Geschlecht (noble race) bezeichnet, wohingegen jene im Gefolge des Antichristen sprachlich negative Attribute erhalten. Laut dem Prolog des zwei­ ten Spieltags sind es die elenden bzw. des Elends vollen Juden (Juifz remplis de misère; Ch 191), die sich dem Antichristen anschließen. Auch hier lässt die Oppo­

204 So greift zum Beispiel Manasses das Dogma der Jungfrauengeburt an (vgl. fol. 81r). Dieses wird ebenfalls in der bereits erwähnten pseudo-augustinischen Reimparaphrase diskutiert (vgl. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1107, 514ra–523rb, hier B 515va–516va). Niesner verweist zudem auf eine anonym überlieferte Disputacio wider die juden aus dem zweiten Viertel des vierzehnten Jahrhunderts. Sie stellt eine deutsche Prosabearbeitung von zwei lateinischen Adversus Judaeos-Texten dar (Pharetra fidei contra Judaeos und Paschalis Romanus‘ Disputatio contra Judaeos) und enthält im ersten Teil ebenfalls eine Verteidigung der Jungfrauengeburt gegen die Einwände eines imaginierten jüdischen Kontrahenten (vgl. Niesner, Adversus-Judaeos-Literatur, S. 323 ff.).

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

217

sition von geläuterten und verstockten Juden letztere umso negativer erscheinen. Die Gegenüberstellung kulminiert im Gerichtsteil, in welchem Jesus die ‚guten‘ Juden ins Paradies aufnimmt, wohingegen die ‚schlechten‘ zu seiner Linken ihre ewige Verdammung erwarten müssen: presentement sans fiction j’ordonne que tous les bons juifz a ma dextre soyet tous remis et a ma gouche les mechans c’est la ou seront attendantz la derniere conclusion (fol. 30r)

Hier und jetzt ordne ich ohne Täuschung an, dass alle guten Juden zu meiner Rechten gestellt werden und zu meiner Linken alle schlechten. Dort werden sie das endgültige Urteil erwarten.

Der Vorwurf, der den ‚schlechten‘ Juden wiederholt von christlichen dramatis per­ sonae gemacht wird, ist ihre Verstockung im Angesicht der göttlichen Wahrheit. Die Figur des Erlösers zählt alle Bemühungen auf, die sie zur Errettung der Juden aufgewandt habe und kommt zu dem Schluss, dass sie ihre Verdammung verdien­ ten, weil sie zu verstockt gewesen seien, um ihm zu folgen: Dempuis les premiers de mes ans je vous ay preche tres sovent et envoye de gentz savantz de myraches bien evidantz je vous ay faict en lieu et temps je vous ay preche penitence use vous ay de grand clemence excuse n’aves vrayement de vostre juste dampnement car obstines aves este (fol. 27v)

Seit meinen ersten Jahren habe ich sehr oft zu Euch gepredigt und Euch weise Leute gesandt. Unbestreitbare Wunder habe ich für Euch zur rechten Zeit gewirkt. Ich habe Euch Buße gepredigt, Euch mit großer Milde behandelt. Eine Entschuldigung habt ihr wahrlich nicht gegen Eure gerechte Strafe, denn Ihr seid verstockt gewesen.

Das hier angeführte Argument entspricht dem, das eingangs anhand des Auszugs aus der pseudo-augustinischen Reimparaphrase vorgestellt wurde: Dass die Ju­ den das Offensichtliche nicht anerkennen könnten, läge an ihrer Verstocktheit und folglich sei ihre Schmähung und Bestrafung rechtmäßig. Die Figur Johan­ nes des Täufers (Saint Jean Baptiste) greift es erneut in ihrer Rede auf, wenn sie den faulx et malingz juifz (fol. 28v; „falschen und boshaften Juden“) entgegen­ hält, sie hätten keinerlei Anlass, dem Urteil zu widersprechen, denn trotz Saint Jean Baptistes deutlicher Worte (ne vous ay je dict clairement / voyci lagneau de Dieu vivant / et la ranson de noz pechez, ebd.; „habe ich Euch nicht klar gesagt: ‚Seht das lebende Lamm Gottes und die Vergebung unserer Sünden‘?“) seien sie zu verstockt gewesen, um ihn als ihren Gott anzuerkennen (trop aves este obsti­ nes / le recongnoistre vostre Dieu, ebd.). Auch in JuMo dient somit die unmittel­

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bare Gegenüberstellung von ‚guten‘ – nämlich konvertierten – Juden, die letztlich Christen sind, und ‚schlechten‘, verstockten Juden der Diskreditierung jener, die in ihrem Glauben verharren. Indem JuMo, JuBe, LuA und ChWg den Topos der ‚jü­ dischen Verstocktheit‘ als Begründung für ihr Verhalten bedienen, rechtfertigen sie ihre – wenn nötig auch gewaltsame – Exklusion aus der christlichen Gemein­ schaft, denn ein Dialog mit Unbekehrbaren erscheint unmöglich. c) Habgier Das Jüdische Museum Frankfurt am Main widmete 2013 dem Verhältnis von Ju­ den und Geld eine Ausstellung, die es mit Juden. Geld. Eine Vorstellung betitel­ te.²⁰⁵ Als Aufhänger diente das Theater: Shakespeares Shylock (The Merchant of Venice) und Lessings Nathan (Nathan der Weise) sind zwei jüdische dramatis per­ sonae, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch „hatten Shylock und Nathan [. . . ] nicht nur ihr Judentum gemein; sie waren auch beide in der Lage Geld zu verleihen.“²⁰⁶ Die Ausstellung behandelt die beiden Bühnenfiguren als Ausdruck gesellschaftlicher Vorstellungen von Juden, für die die Assoziation von Juden und Geld symptomatisch ist und die immer wieder politischen Zwe­ cken dienten, wie beispielsweise der Beförderung eines negativen Judenbilds im ‚Dritten Reich‘.²⁰⁷ Dass die Ausstellung ihre Frage nach der Verbindung von Ju­ den und Geld mit zwei prominenten jüdischen Bühnenfiguren beginnen lässt, zeigt, welchen Einfluss das Theater auf die Verbreitung der bis heute bestehenden Vorstellung genommen hat. Im Gegensatz zu den bisher analysierten judenfeind­ lichen Topoi, die in den Antichristspielen verarbeitet sind, speist er sich nicht primär aus christlich-religiösen Traditionen²⁰⁸, sondern setzt stärker am zeitge­ nössischen Alltagswissen an. Eine Vielzahl von übergreifenden Forschungsarbei­ ten und detaillierten Fallstudien belegt, dass im Hoch- und Spätmittelalter die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung tatsächlich von Geldgeschäften leb­ te, die zum Teil die einzigen ihnen zugänglichen Möglichkeiten darstellten, ihren

205 Vgl. Juden. Geld. Eine Vorstellung. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, 25. April bis 6. Oktober 2013. Hrsg. von Fritz Backhaus/Raphael Gross/Liliane Weissberg, Frankfurt a. M., New York 2013. 206 Weissberg, Liliane: Prolog. Vorstellungen. In: Juden. Geld. Eine Vorstellung. Eine Ausstel­ lung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main 25. April bis 6. Oktober 2013. Hrsg. von Fritz Backhaus/Raphael Gross/Liliane Weissberg, Frankfurt a. M., New York 2013, S. 14–28, hier S. 17. 207 Vgl. hier S. 16 f. 208 Biblische Episoden wie Jesu Tempelreinigung, von der alle vier kanonischen Evangelien be­ richten, oder die Interpretation Judas Ischarioths als Urvater jüdischer Geldgier werden erst seit dem Spätmittelalter zur Legitimierung des Wuchervorwurfs verwendet. In der früheren Adversus Judaeos-Tradition spielen sie keine bedeutende Rolle.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 219

Lebensunterhalt zu verdienen.²⁰⁹ Dass vom Spätmittelalter an die stereotype Vor­ stellung von Juden als geldgierige Wucherer in der volkssprachlichen Literatur an Bedeutung gewinnt, ist in der Forschung häufig hervorgehoben worden und hat zu der bis heute aktuellen Diskussion über kategoriale Unterscheidungsmög­ lichkeiten zwischen vormoderner und moderner Judenfeindschaft geführt. Die­ se schlägt sich in der Verwendung der Begriffe ‚Antijudaismus‘ und ‚Antisemitis­ mus‘ nieder. Im Allgemeinen werden unter Antijudaismus die in der christlichen Theologie verankerten, religiös motivierten Erscheinungsformen des Judenhas­ ses im Mittelalter verstanden. In welchem Verhältnis dazu Antisemitismus steht, ist umstritten. Im deutschsprachigen Raum wird er häufig als klar distinkte Kate­ gorie „zur Bezeichnung ‚moderner’, rassistisch untermauerter Judenfeindschaft benützt.“²¹⁰ Die in Israel und der englischsprachigen Forschung vorherrschende Definition fasst Antisemitismus deutlich weiter im Sinne eines alle Erscheinungen des Judenhasses über alle Epochen hinweg einschließenden Begriffs.²¹¹ Von die­ sem lässt sich Antijudaismus nicht klar abgrenzen, sondern erscheint allenfalls als Subkategorie. Obwohl die zweite Definition mittlerweile auch im deutschspra­ chigen Raum an Bedeutung gewonnen und zu weiteren Untergliederungsversu­

209 Es sei an dieser Stelle eine kleine Auswahl an einschlägiger Literatur benannt, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Der Frankfurter Ausstellungskatalog widmet der Thema­ tik jüdischer Geldleihe im Mittelalter ein Kapitel, das eine gute erste Orientierung bietet (vgl. Keil, Martha: Credo und Kredit. Unentbehrlich und verachtet: jüdische Geldleihe im Mittelal­ ter. In: Juden. Geld. Eine Vorstellung. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main 25. April bis 6. Oktober 2013. Hrsg. von Fritz Backhaus/Raphael Gross/Liliane Weissberg, Frankfurt a. M., New York 2013, S. 38–50). Sehr ausführlich zeichnet Jacques Attali eine jüdi­ sche Wirtschaftsgeschichte von ihren Anfängen bis zum einundzwanzigsten Jahrhundert nach (vgl. Attali, Jacques: Les Juifs, le monde et l’argent. Paris 2002). Eine Reihe von Einzelstudien zur wirtschaftlichen Situation von Juden im Mittelalter, die einen Fokus auf Aschkenas legt, ver­ sammelt Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen. Hrsg. von Michael Toch, München 2008; speziell zur Erwerbstätigkeit der Juden in der Stadt Luzern vgl. Kaufmann, Robert Uri: Juden in Luzern. Zofingen 1984, S. 5. Zum Vorwurf der Wucherei und der ökonomischen Situation der Juden in Frankreich vgl. Philippe, Être juif, S. 26–33. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die historisch belegte Ausübung von Geldgeschäften durch Juden im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass sie in Mittelalter und Früher Neuzeit die einzige oder die wichtigste Personengruppe gewesen wären, die als Geldleiher tätig war (vgl. dazu Frey, Winfried: zehen tunne goldes. Zum Bild des ‚Wucherjuden‘ in deutschen Texten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Sô wold ich in fröiden singen. Festgabe für Anthonius H. Touber zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Carla Dauven-van Knippenberg/Helmut Birkhan, Amsterdam, Atlanta 1995 (Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 43–44), S. 177–194, hier S. 178 f.) 210 Frey, Winfried: Antijudaismus. In: Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Bd. 2: Religion, Kultur, Alltag. Hrsg. von Elke-Vera Kotowski/Julius H. Schoeps/Hiltrud Wallenborn, Darmstadt 2012. S. 367–378, S. 367. 211 Vgl. ebd. und Wenzel, Juden, S. 22.

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chen geführt hat, bleibt die Kategorisierung kontrovers. Zu Recht hat Judith Wen­ zel darauf hingewiesen, dass sie häufig eine zeitliche Abfolge suggeriert – vom mittelalterlichen religiösen Antisemitismus über einen spätmittelalterlich-früh­ neuzeitlichen wirtschaftlichen Antisemitismus hin zu einem modernen rassisti­ schen Antisemitismus –, die sich jedoch als problematisch erweist: „Der religiöse Antijudaismus wird nicht verdrängt oder völlig abgelöst vom wirtschaftlichen An­ tisemitismus, vielmehr zeigt sich, daß sich bereits in literarischen Zeugnissen des Mittelalters der wirtschaftliche und der religiöse Antisemitismus vermischen.“²¹² Dennoch sieht auch Wenzel an der Grenze zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit eine Zäsur: Das Judenbild in der volkssprachlichen Literatur – speziell im mittelalterlichen Spiel – ist einerseits geprägt von den im Zusammenhang mit dem theologischen Antijudaismus ausge­ bildeten Sprachregelungen, stereotypen Vorstellungen und Gattungsformen, andererseits aber macht die Analyse der volkssprachlichen Texte deutlich, daß vor allem im 15. Jahrhun­ dert die Grenzen zwischen der theologisch begründeten Judenfeindschaft und dem wirt­ schaftlich bedingten Judenhaß fließend geworden sind. Theologische Denkschablonen wer­ den zwar weiter tradiert, doch geht ihre spirituelle Dimension verloren, und sie wird ersetzt durch profane Deutungsmuster, die die gesellschaftliche und politische Ausgrenzung der Juden legitimieren helfen. Zahlreiche dieser Vorstellungen können so bis in die Gegenwart nachwirken.²¹³

Wenzel vertritt nicht die Position einer Ablösung antijudaistischer bzw. religiös antisemitistischer Elemente durch wirtschaftlich (und schließlich rassisch) moti­ vierte antisemitistische Elemente, sondern propagiert eine schrittweise Überlage­ rung und Vereinnahmung der einen durch die anderen seit dem fünfzehnten Jahr­ hundert. Vor diesem Hintergrund ist die Untersuchung der topischen Verbindung von Juden und Geld in den untersuchten Spielen besonders aufschlussreich, da sie die Zeitspanne vom vierzehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert und somit die gesamte Tradition der Antichristspiele in Ausschnitten umfassen. Die Darstellung der Juden im ältesten untersuchen Spiel, JuBe, enthält tat­ sächlich kaum monetäre Aspekte. Obschon Bestechung als eine der Strategien des Antichristen zur Erlangung und Sicherung seiner Macht fest in die AntichristTradition eingeschrieben ist²¹⁴, legt JuBe einen deutlichen Akzent auf die anderen

212 Wenzel, Juden, S. 24. 213 Hier S. 29. Ähnlich beschreibt es Attali: Seit dem elften Jahrhundert, in dem schätzungs­ weise 300.000 Juden im christlichen Europa lebten, entstehe „la nouvelle image du Juif : l’usurier parasite, et non plus seulement le déicide. Dans cette histoire, l’économie va prendre peu à peu le relais de la théologie“ (Attali, Les Juifs, S. 186). 214 Adso zählt die drei Methoden des Antichristen auf (vgl. Verhelst, De ortu, S. 25, Z. 79 f. : Eriget itaque se contra fideles tribus modis, id est, terrore, muneribus et miraculis.).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 221

beiden Formen: Zauberei und Terror. Der Antichrist kann in der Darstellung des Spiels einen Großteil seiner Anhänger – unter anderem auch die Juden – durch Wundertaten wie Heilungen und Totenerweckungen für sich gewinnen. So bekeh­ ren sich die Juden zu ihm, nachdem er einen Blinden sehend gemacht hat (vgl. V. 606–649). Gewaltandrohungen, Festnahmen sowie Folter und Mord richtet der Antichrist in JuBe gegen bekehrungsunwillige Christen. Bestechung ist nur in ei­ ner einzigen Szene das Mittel der Wahl, als es um die Gewinnung von vier Armen geht, denen der Antichrist Reichtum verspricht: Je vous donray assez avoir, / Mais que de bon cuer m’aourez / Et en ma creance demourez. (V. 972 ff.; „Ich werde Euch reichlich Besitz verschaffen, wenn Ihr mich von Herzen verehrt und dem Glauben an mich treu bleibt.“). Die Armen sind durch ihre Worte eindeutig als christliche Apostaten zu identifizieren, da sie mehrfach wiederholen, sich nun von Christus abwenden zu wollen, dem sie sich vorher offenbar zugehörig gefühlt hatten (vgl. V. 978–981 und 989). Es sind also nur christliche Figuren, die sich in JuBe durch Geld verführen lassen. Als Motive der Juden, dem Antichristen zu folgen, insze­ niert das Spiel deren Dominationsbestreben gegenüber den Christen (vgl. 3.1.1). Die einzige Stelle, an der das Spiel eine direkte Verbindung zwischen Juden und Geld herstellt, findet sich in der Figurenrede Annes’, in der er sich (stellvertretend für alle Juden) nach der Heilung des Blinden zum Antichristen bekennt: Par la loy Dieu, bien entendu T’avons : tu as dit verité. Biau sire, par ceste cité, Si vous plaist, faites publier Vostre puissance, et crier Qui en vous ne sera creans Mis ert avec les mecheans En chartre ou en prison ferme Ou mourra sanz attendre terme. Faites que chascuns en vous croye ! Et faites faire tel monnoie Ou vostre ymaige soit pourtraite ; Et tantost qu’elle sera faite, Faites crier chascun en praingne En signe de la vostre ensaigne, Et aourt chascuns vostre ymage ! Et se aucun, sot non pas saige, Sont sanz vostre enseigne trouvé, Soient con traïtour prouvé Mis a la mort sanz recouvrer ! (V. 630–649)

Beim Gesetz Gottes, wir haben dich verstanden: Du hast die Wahrheit gesagt. Mein Herr, lasst in dieser Stadt, wenn es Euch gefällt, Eure Macht bekannt werden und lasst ausschreien, dass, wer nicht an Euch glaubt, gemeinsam mit den Schurken in den Kerker oder ins sichere Verließ geworfen wird, wo er schnell sterben wird. Macht, dass jeder an Euch glaubt! Und lasst Münzen herstellen, die Euer Bild zeigen; und lasst, sobald sie hergestellt sind, ausschreien, dass jeder sie als Euer Zeichen tragen und Euer Bild anbeten soll! Und wenn irgendwelche Dummköpfe ohne Euer Zeichen gefunden werden, sollen sie als Verräter überführt und unweigerlich getötet werden!

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Annes fordert die Herstellung von Münzen, die als Zeichen des Antichristen von all seinen Anhängern getragen werden sollen. Die Markierung seines Gefolges durch ein Zeichen ist ein gängiger Bestandteil der Antichrist-Überlieferung.²¹⁵ Ge­ wöhnlich handelt es sich jedoch nicht um die Prägung von Münzen, sondern um ein direkt auf den Körper aufgetragenes Mal. Die Anhänger des Antichristen in den Miniaturen JuBes tragen dagegen die Münze auf ihrer Kleidung. Es ist schwerlich vorstellbar, dass die Abweichung von der kanonischen Überlieferung inszenatori­ schen Zwängen geschuldet sein könnte, denn ein Zeichen auf der Stirn oder Hand wäre ebenso gut sichtbar gewesen. Auch ist es ungewöhnlich, dass nicht der Anti­ christ selbst die Idee eines Zeichens ersinnt und durchsetzt, sondern eine jüdische Figur. Sollte es sich bei den Abwandlungen um eine Zugabe des Autors handeln²¹⁶, wäre vorstellbar, dass dieser aus dem Grund Münzen als Zeichen des Antichristen wählte, weil diese mit der Lebenswelt und Wahrnehmung zeitgenössischer Juden eng verknüpft waren. Da es der Jude Annes ist, der die Verpflichtung zum Tragen des Zeichens und die Repressalien bei Verweigerung aufbringt, erscheinen sie in JuBe als jüdisches Werk. Die Abwandlung des auf den Körper aufgemalten Zei­ chens zu einer geprägten Münze passt in die jüdische Lebenswelt oder zumindest in die Vorstellung des Publikums von dieser. Weil jedoch im weiteren Spielver­ lauf jeder Hinweis auf eine negativ besetzte Assoziation von Juden und Geld fehlt und an keiner Stelle eine besondere jüdische Gier nach Reichtum inszeniert wird, kann im Fall JuBes nicht von einer topischen Ausformung jüdischer Habgier ge­ sprochen werden. Durchaus vorstellbar ist aufgrund der theatralen Interpretation des antichristlichen Zeichens eine topische Verbindung von Juden und Geld, der das Spiel jedoch keine dezidierte Wertung zukommen lässt. Das aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert (1517) stammende ChWg weist ebenfalls keine deutliche Charakterisierung der Juden als habgierig auf. Als zen­ trales Motiv für ihre Konversion zum antichristlichen Glauben präsentiert das Spiel – wie JuBe – ihren Wunsch nach der Restitution des jüdischen Gesetzes und der Herrschaft über die Christen. Zwar tritt als eines der Hauptlaster die personi­ fizierte Habgier (Auarus) auf und schließt sich dem Antichristen an, doch steht sie in keiner Verbindung zu der das Judentum verkörpernden Figur des Mosse. Ein vollkommen anderes Bild bietet der 1549 aufgeführte LuA. Ganz im Ge­ gensatz zu JuBe und ChWg inszeniert das Spiel Bestechung als eine zentrale, vom Antichristen verwendete Strategie zum Ausbau seiner Macht und als bedeutende 215 In der Johannes-Apokalypse heißt es, dass das endzeitliche Tier die Menschen dazu veran­ lasst, ein Zeichen an der rechten Hand oder auf der Stirn zu tragen (Apk 13,16) und auch Adso erwähnt ein Zeichen, das von allen Gläubigen auf der Stirn getragen wird (Verhelst, De ortu, S. 28, Z. 170 f.: Et quicumque in eum crediderint, signum caracteris eius in fronte accipient.). 216 Mir ist keine mögliche Vorlage bekannt, die das Zeichen des Antichristen in Form von Mün­ zen darstellen oder dessen Produktion in die Hände der Juden legen würde.

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

223

Motivation für die Juden, sich ihm anzuschließen. Wiederholt stellt der Antichrist Reichtümer in Aussicht, lässt Geld verteilen oder argumentiert mit Geldgeschen­ ken, um sich der Treue seiner Anhänger zu versichern.²¹⁷ Beispielhaft sei an die­ ser Stelle die Entlohnung der Juden für den Wiederaufbau des Tempels heraus­ gestellt: Der Antichrist will die Arbeit seines Gefolges nitt vnbelonett lan (V. 1799; „nicht unbelohnt lassen“), weist seinen Schatzmeister an, jedem Tagelöhner Geld auszuzahlen (vgl. V. 1800 f.) und wirft gleich darauf selbst mit den Worten Jr wyb vnd kind, nend hin das gold vnd gellt! diss ist vwer sold. .. kein gůtt vnd gellt ich an vch spar. mir sind je all schätz offenbar, deren ich han vnd weyss so uil, .. das ich vch all rych machen will. (V. 1802–1807)

Ihr Frauen und Kinder, empfangt das Gold und Geld! Dies ist Euer Lohn. Weder Besitz noch Geld spare ich an Euch. Mir stehen von jeher alle Schätze offen, von denen ich so viele kenne und besitze, dass ich Euch alle reich machen will.

Geld unter die Menge. Die unerschöpflichen Ressourcen, mit denen er sich brüs­ tet, stehen im Zeichen des Hauptlasters der Avaritia und laufen deutlich der christ­ lichen Armutsforderung²¹⁸ entgegen. Damit ist der Geldsegen aber noch nicht be­ endet. Der Antichrist lässt vor aller Augen den Juden Nemrott einen Schatz aus­ graben, durch den er seine Glaubenslehre beweisen will (mitt der thatt bwär ich min glouben, V. 1813). Nemrott bringt denn auch sogleich mitt vil seltzamen ge­ berden (Regieanweisung nach V. 1813; „mit vielen befremdlichen Bewegungen“) den Schatz an die Oberfläche. Das Adjektiv seltzam ist ein Lexem des Wortfel­ des ‚fremd’ und ist in der Regieanweisung mit pejorativer Bedeutung zu verste­ hen. Das Verhalten des Juden soll auch performativ als von der positiv bewerteten Norm abweichend dargestellt werden. Die Figur des Schatzmeisters (Schatzmeys­ ter) paraphrasiert anschließend noch einmal die Argumentation des Antichris­ ten: Dessen Zugriff auf alle irdischen Güter beweise seine Macht, weshalb jeder ihm treu ergeben sein solle (jr sond styff hallten syn gebott! / gsend ir, das er al­ 217 Eine Schlagwortsuche anhand der Lexeme Reichtum (rychtumb, richtumb), reich (rych), Gold (gold, golld), Geld (gellt), Besitz (gůt) und Schatz (schatz, schätz) ergibt für die Figur des Antichris­ ten fünfzehn einschlägige Stellen (vgl. V. 1546, 1682, 1688, 1708, 1774, 1780 f., 1798–1813, 2361, 2185 f., 3701, 3481 f., 3485, 4175 f., 4425 f., 4449). Alle Wörter wurden nur dann berücksichtigt, wenn sie in eindeutig monetärer Bedeutung verwendet wurden. Ausgeschlossen wurden die Le­ xeme zudem, wenn sie in Apostrophen mit rein enumerativer Funktion gebraucht wurden (z. B. V. 1782 f.: Wol har, ir juden! mitt freüden dran, / jung, allt, arm, rych, jeder man!). 218 Das Gleichnis vom Nadelöhr (Mk 10,17–27, Mt 19,21–24, Lk 18,18–27), das klassischerweise zur Illustration der Armutsforderung verwendet wird, ist in LuA theatral umgesetzt (vgl. V. 855–922) und steht in deutlichem Kontrast zur hedonistischen Lebensweise, die der Antichrist repräsen­ tiert. Zudem erinnert auch die Figur des Elias an das Gebot Jesu (jr, min junger, sond nitt bsitzen gold vnd gelltt, V. 3976; „Ihr, meine Jünger, sollt kein Gold und Geld besitzen.“).

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les hatt / so er will?, V. 1819 ff.; „Ihr sollt Euch fest an sein Gebot halten! Sehr ihr, dass er alles haben kann, was er will?“). Als Anreiz stellt er seinen Anhängern nicht nur das ewige Leben, sondern auch weltliche Güter in Aussicht (dan württ er vch sampt ewigem leben / gross richtumb, gold vnd gellt geben., V. 1822 f.; „Dann wird er euch zusätzlich zum ewigen Leben großen Reichtum, Gold und Geld ge­ ben.“). Wie die jüdischen Figuren reagieren sollen, beschreibt die darauffolgende Regieanweisung (nach V. 1827): entcrist gadt in tempell, setzt sich. Sinagog singt. die tüffel erhebent inn hoch vff. so schrient die juden: messias! messias! so wirfft der schatzmeister dz gellt vnder die juden vss. („Der Antichrist geht in den Tempel und setzt sich. Der Vorsteher der Synagoge singt. Die Teufel heben ihn hoch. Daraufhin schreien die Juden: Messias! Messias! Dann wirft der Schatzmeister das Geld un­ ter den Juden aus.“) Das Spiel zeigt die frenetisch jubelnden Juden im Goldrausch; zweimal werden sie mit Geld überschüttet. Die Regieanweisung gibt keine detail­ lierteren Informationen darüber, wie die Juden mit dem auf sie gekommenen Geld umgehen sollen, doch ist eine Schar eifrig das ausgeworfene Geld an sich raffen­ der Darsteller gut vorstellbar. Das Bild jüdischer Geldgier wird hier deutlich sicht­ bar aufgerufen und durch kinesische Zeichen umgesetzt. Auch in der Figurenrede der jüdischen dramatis personae spielt Reichtum auffallend häufig eine Rolle. Es finden sich sechzehn Stellen, an denen eine jüdische Figur Geld und Gold positiv erwähnt oder Münzen auswirft.²¹⁹ Die Reden anderer, nicht als Juden zu charakterisierender Figuren, enthalten dagegen nur fünf Er­ wähnungen²²⁰, in denen Geld und Besitz eine positive Bedeutung zugesprochen wird und sie erkennbar das eigene Handeln motivieren. Allein die quantitative Verteilung der Figurenreden, die das Themenfeld Geld in positiver Konnotation thematisieren, zeigt, dass LuA in erster Linie die Juden und den Antichristen mit monetären Interessen assoziiert. Darüber hinaus äußern verschiedene jüdische Figuren ihr Streben nach Reichtum ganz unverblümt. Für Joab sind die materiel­ len Geschenke des Antichristen Grund genug, ihn als Gott anzunehmen: Der kan ein rechter gott syn, thůtt vns mit synen werchen schin, gibt vns gůtts vnd gellts gnug. diser gott ist vnser fůg. (V. 1872–1875)

Das kann ein wahrhaftiger Gott sein, der es uns durch seine Werke zeigt und uns reichlich Besitz und Geld gibt. Dieser Gott ist unser Glück.

219 Zur Ermittlung der Stellen wurde eine Schlagwortsuche wie in Kap. 3, Anm. 217 beschrieben durchgeführt. Zu den sechzehn Einträgen vgl. V. 1533, 1737, 1874, 1881, 2100 f., 2105, 2109 f., 2124 f., 2203, 2384 f., 2399, 2958 f., 4203 und die Regieanweisungen nach V. 2116 und 4202. 220 Vgl. V. 787, 894, 2899 f., 2911, 2934. Es handelt sich um die Figur des Reichen in der Inszenie­ rung des Gleichnisses vom Nadelöhr (vgl. Kap. 3, Anm. 218), der in LuA den Namen Simon trägt, und um die beiden Könige Darius und Can.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 225

Auch der ehemals scheinbar aussätzige Jsmael nennt das Geld, das er vom An­ tichristen erhalten hat, an erster Stelle, wenn er begründet, warum er ihm treu bleiben will: Jch hab empfangen gellt vnd gab. zů dem gsůndtheytt erlangt hab. von messia mich nitt will wenden jmer vnd ewig an deheinen enden. (V. 2105–2108)

Ich habe Geld und Geschenke erhalten. Zusätzlich bin ich gesund geworden. Vom Messias will ich mich nie und nimmer abwenden.

In Jsmaels Rede wird die Priorisierung von Reichtum vor seiner eigenen Gesund­ heit sehr deutlich und als wesentliche Motivation für seine Treue zum Antichris­ ten herausgestellt. Der anschließend sprechende Hela bringt die Charakterisie­ rung der Juden, wie das Spiel sie vermittelt, auf den Punkt: gellt vnd gůt ist vnnser fůg messias gibtt vns dess alls gnůg. lyb vnd gůtt zů jm wend setzen. er mag vnns alles leytts ergetzen (V. 2109–2112)

Geld und Besitz sind unser Glück. Der Messias gibt uns von all dem genug. Unser Leben und Vermögen wollen wir ihm anvertrauen. Er kann uns für alles Leid entschädigen.

Die Bezeichnung von Geld und Besitz als Glück der Juden markiert Geldgeschäf­ te als ihren Lebensmittelpunkt. Die quantitative Bedeutung des Wortfelds ‚Geld‘ in den Reden jüdischer Figuren und ihre Interaktionen mit physischen Münzen unterstreichen dies und lassen es auf der rekonstruierten Bedeutungsebene zum Stigmawort werden. LuA charakterisiert die Juden so als primär von monetären Interessen geleitet. Ihre Habgier dient als ein zentrales Erklärungsmoment dafür, dass sie den Verführungen des Antichristen sofort erliegen. Das jüngste der untersuchten Spiele, JuMo aus dem letzten Drittel des sech­ zehnten Jahrhunderts, thematisiert das Laster der Habgier wiederholt, nicht jedoch mit einem speziellen Fokus auf die jüdischen dramatis personae. In Über­ einstimmung mit der kanonischen Antichrist-Überlieferung ist auch in JuMo Bestechung ein zentrales Mittel zur Gewinnung neuer Anhänger. Die antichrist­ lichen Missionare versprechen materiellen Reichtum, der dem gegeben wird, der sich zum Antichristen bekennt (vgl. z. B. die Worte des Predigers Giesy in Gr 113: Aussy aures abondement / d’or et d’argent a grand foyson; „auch werdet ihr Gold und Geld im Überfluss haben“). Die Namen der Figuren – Balaam, Annagoras und Giesy – legen nahe, dass sie nicht als jüdische Anhänger des Antichristen insze­ niert sind²²¹ und auch der Schwerhörige (Le sourd) und der Lahme (Le boeteux),

221 Es ist davon auszugehen, dass die Frage der Zugehörigkeit sich dem Publikum nicht stellte, da sie in der Kostümierung der Darsteller sichtbar war. Weil die Erscheinung der Darsteller der

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die nicht nur geheilt werden, sondern auch Geldgeschenke erhalten, sind nicht als Juden, sondern als christliche Apostaten dargestellt.²²² Der Erwerb materi­ ellen Reichtums ist zwar nicht ihre primäre Motivation, sich dem Antichristen anzuschließen, doch folgt sie gleich an zweiter Stelle, wie die Rede des boeteux verdeutlicht: O vray messias me voy ci bien console a tous en droictz premierement droictement vais sans resentir doulleur ny peyne et puis encoures l’on m’a donne d’or et d’argent pour ma substance ; (Gr 100)

O wahrhaftiger Messias, nun bin ich in jeglicher Hinsicht gut gestärkt: Erstens laufe ich aufrecht, ohne Schmerz oder Leid zu ertragen, und darüber hinaus hat man mir Gold und Geld für meinen Unterhalt gegeben.

Die Szene zeigt, wie in JuMo nicht-jüdische Figuren Geld erfolgreich nutzen, um andere, hier ursprünglich christliche dramatis personae zu korrumpieren, die ge­ genüber dem Laster der Avaritia empfänglich sind. Weitere Beispiele dafür finden sich im Gerichtsteil des Spiels. So werden der schlechte Herrscher (L’empereur maulvais) und der falsche Richter (Le faulx juge) aufgrund ihres habgierigen Ver­ haltens angeklagt (vgl. fol. 42r–43r). Der empereur maulvais ruft angesichts seiner Verurteilung aus: j’ayme mieulx venir a rien / que d’estre prive de tout bien (fol. 43r; „ich will lieber sterben als allen Besitz zu verlieren“). Zu Beginn des dritten Spiel­ tags tritt die Habgier selbst in Erscheinung (Avarice) und klagt über die Sünden, zu denen das Streben nach materiellen Gütern sie verführt habe (vgl. fol. 8v). Obwohl ein habgieriges Wesen in JuMo nicht den Juden vorbehalten ist, er­ scheint Habgier doch als charakteristischer Zug der jüdischen dramatis personae.

Untersuchung heute nicht mehr zugänglich ist, können die Bezüge nur anhand der überlieferten, sprachlichen Zeichen rekonstruiert werden. Balaam (oder Bileam) begegnet im Alten Testament (prominent in Num 22–24) und gilt dem nachbiblischen Judentum als ein Prophet der Heiden­ völker (vgl. Schmidt, Ludwig/Peter Schäfer: Bileam. In: Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Horst R. Balz u. a., Bd. 6, Berlin, New York 1980, S. 635–640). Aichele verweist darauf, dass Balaam ebenso wie Giesy (Gehazi), der habgierige Diener des Propheten Elischas, der zur Stra­ fe mit Aussatz geschlagen wird (2Kön 5,20–27), zu typisierten, Bestechlichkeit repräsentierenden Figuren wurden (vgl. Anm. 54 in Aichele, Das Antichristdrama, S. 96). Der griechische Klang des Namens Annagoras – nicht unähnlich dem des antiken Philosophen Anaxagoras – deutet auf ei­ ne heidnische Assoziation hin. Durch den Inhalt ihrer Reden sind die Prediger des Antichristen zudem deutlich als Protestanten gekennzeichnet (vgl. Kapitel 3.1.3.1: Gleichheits-Topos). 222 Auf die Frage, ob er an den Messias, genannt Antichrist, glaube, antwortet Le boeteux zu­ nächst, er glaube an Jesus Christus (vgl. Gr 98). Als Balaam von ihm fordert, er solle Christus hassen, um von seinem Leiden geheilt zu werden, willigt der Lahme sofort ein (Je deteste donc Jesus Christ / afin que je soye gueri, Gr 99; „ich hasse also Jesus Christus, damit ich geheilt werde“).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 227

Der Figur des Judas (Judas Iscaryot), deren Verrat auch die Passionsspiele tradi­ tionell mit Avaritia begründen, werden reuevolle Worte in den Mund gelegt, in denen Geld die zentrale Rolle spielt: D’avoir d’argent trop grand desir o malheureux mauldict argent que tu me coustes maintenant fondre vouldrois comme’ æs fondu (fol. 17r)

Weil ich zu großes Verlangen nach Geld hatte, – o unglückseliges, verfluchtes Geld, was kostest du mich nun! – wollte ich, ich könnte schmelzen wie geschmolzenes Erz.

[. . . ] mais j’ay este trop addonne a la rapine de l’argent (fol. 18r)

[. . . ] aber ich war zu sehr auf das Rauben von Geld versessen.

Weil Judas Ischarioth bereits seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert als Vertreter des Judentums interpretiert wird und die Verbindung sich in der Folge­ zeit zu einem hochgradig konventionalisierten Topos entwickelt²²³, kann ange­ nommen werden, dass auch in JuMo Judas mit den Juden assoziiert wird. Sein Eigenkommentar ist folglich als Charakterisierung nicht nur seiner selbst als von Habgier besessen zu werten, sondern schließt das Kollektiv der Juden mit ein. Vi­ suell tritt die Assoziation von jüdischen Figuren und Geld auch durch gestische Zeichen zutage, wenn die Genealogiens den beiden Gaunern (Le 1° Cocquin, Le 2° Cocquin) Geld vor die Füße werfen, damit sie die in der Schlacht Gefallenen begraben (jettent d’argent sur terre, Gr 149; „sie werfen Geld auf den Boden“). Vor dem Hintergrund der auch in LuA wiederkehrenden Szenen, die zeigen, wie Ju­ den Geld auswerfen oder ausgeworfenes Geld einsammeln, kann von der Evoka­ tion eines Stigmabildes jüdischer Geldgier gesprochen werden. Durch die wieder­ holte Abfolge kinesischer Zeichen (Auswerfen bzw. Einsammeln von Geld durch jüdische dramatis personae) verfestigt sich auf visueller Ebene der Topos der hab­ gierigen jüdischen Wesensart. Sprachlich wird der Topos in weiteren Eigen- und Fremdkommentaren aufgerufen. Im Gerichtsteil JuMos gesteht der Jude Phares angesichts seiner Verurteilung seine Habgier unter expliziter Nennung des Las­ ters der Avaritia:

223 Zur Rolle Judas‘ als Repräsentant der Juden vgl. Dorninger, Maria. Judas. In: Handbuch Jü­ dische Kulturgeschichte. http://hbjk.sbg.ac.at/kapitel/judas/ (4. September 2018) und Dornin­ ger, Maria: Judas Ischarioth. In: Verführer, Schurken, Magier. Hrsg. von Ulrich Müller/Werner Wunderlich, St. Gallen 2001 (Mitterlaler Mythen 3), S. 411–455, hier S. 434 ff.

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Trop aussi me suys amuse a rapvier or et argent que j’ay ravi a pauvres gentz et par ma trop grand avarice j’auray tousiour fort grand supplice avec les dyables en enfer (fol. 31r)

Auch hatte ich zu viel Spaß daran, Gold und Geld zu stehlen, das ich armen Leuten geraubt habe, und wegen meiner zu großen Habgier werde ich für immer schreckliche Qualen mit den Teufeln in der Hölle erleiden.

Malcharon, einer der Teufel, die die ‚schlechten Juden‘ in die Hölle zerren, bringt ihre Strafe unmittelbar mit ihren Geldgeschäften in Verbindung: Voz usures et faulx argent ne vous garderont de bruler a tout jamais en nostre’ enfer souffrantz dure peinne et doleur (fol. 30v)

Eure Wuchergeschäfte und euer falsches Geld werden euch nicht davor bewahren, auf ewig in unserer Hölle zu brennen, wo ihr große Qual und Schmerz erleiden werdet.

Der Teufel konkretisiert nicht, gegen welche Aktionen der Wucher- und Betrugs­ vorwurf sich genau richtet. Stattdessen setzt die generalisierende Formulierung voraus, dass das genannte Verhalten als grundsätzlich gegeben und allgemein be­ kannt vorgestellt wird. Die Assoziation von Juden und Geldhandel sowie die Un­ terstellung einer habgierigen jüdischen Wesensart sind folglich in JuMo präsent, doch überlagern sie andere judenfeindliche Topoi weniger als in LuA. Während in letzterem die Habgier so prominent und nahezu exklusiv als jüdische Eigenschaft inszeniert wird, dass sie gegenüber anderen Ausformungen des Wesensart-Topos hervortritt, ist sie in JuMo relativ wenig entwickelt. Mehr Raum nimmt hier die Inszenierung der Verrohung ein. Die Untersuchung JuBes, JuMos, ChWgs und LuAs kann nicht den Anspruch erheben, die theatrale Antichrist-Tradition in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Den­ noch lässt der analysierte Ausschnitt einige Bemerkungen zu sichtbar werden­ den Tendenzen zu. In Übereinstimmung mit Wenzels These von einer dynami­ schen Überlagerung theologischer und profaner Denkschablonen ist eine deutli­ che Priorität theologisch begründeter Deutungsmuster im frühen JuBe erkennbar, wohingegen die späteren Spiele ein heterogenes Bild bieten. Den größten Kon­ trast weisen JuBe und LuA auf. Während in ersterem der Habgier-Topos keine Rolle spielt, wird er in letzterem zum zentralen Charakteristikum der jüdischen dramatis personae, das immer wieder sprachlich und performativ als Ursache für ihr Verhalten inszeniert wird. Dass von einer Ablösung religiös begründeter Ju­ denfeindschaft durch eine wirtschaftlich motivierte Ablehnung dennoch nicht die Rede sein kann, zeigen ChWg und JuMo. Der Antichristteil ChWgs ist stark auf die Exposition des Verlierer-Topos fokussiert, andere Aspekte treten nur bedingt her­ vor. Der Wesensart-Topos in allen behandelten Ausformungen spielt lediglich eine

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untergeordnete Rolle, das Merkmal der Habgier ist nicht präsent. In JuMo ist die Habgier-Ausformung des Wesensart-Topos neben den anderen Spielarten greif­ bar, doch nimmt sie keine herausgehobene Stellung ein. Die in theologischer Tra­ dition stehenden antijüdischen Topoi prägen den evozierten Bedrohungs-Topos stärker und werden zugleich mit der jüngeren, profan verankerten Denkschablo­ ne vermengt, die im Habgier-Topos präsent ist. Dies spricht dafür, dass in den deutsch- und französischsprachigen Antichristspielen des sechzehnten Jahrhun­ derts aus dem Mittelalter tradierte judenfeindliche Denkmuster fortbestehen, ja aktiv genutzt werden, und sich zugleich mit primär profanen Schablonen verbin­ den, ohne von diesen unterminiert zu werden. 3.1.2.5 Zusammenfassung Im apokalyptischen Szenario von Herrschaft und Fall des Antichristen wird stets das ‚Andere‘, dem Christentum entgegengesetzte auf die Bühne gebracht. In den behandelten Antichristspielen lässt sich feststellen, dass die Inhalte des antichristlichen Gegendiskurses durch eine real existierende deviante Positi­ on ausgefüllt werden: die des Judentums, das sich der von Christus gebrachten Heilslehre verweigert. Die Spiele inszenieren so das Wirken des Antichristen als Ausdruck einer jüdischen Verschwörung gegen die Christen. Es konnten vier (meso)kontextbasierte Spielarten des Bedrohungs-Topos identifiziert werden, anhand derer die ‚jüdische Bedrohung‘ in die Antichristspiele eingeschrieben wird. Der Verlierer-Topos setzt an der Vorstellung der Ablösung des Judentums durch das Christentum an und baut gewissermaßen auf dem Konkurrenz-Topos auf. Er weist den Juden die Rolle der ‚heilsgeschichtlichen Verlierer‘ im Wettstreit um die Deutungshoheit über den wahren Glauben und die richtige Lebensfüh­ rung zu und unterstellt ihnen davon ausgehend den fortwährenden Wunsch nach Vergeltung. Ähnlich wie für den Konkurrenz-Topos in den Passionsspielen beobachtet, wird der Konflikt in den Antichristspielen zentral über den GesetztesBegriff (und metonymisch und synekdochisch mit ihm verbundenen Lexemen) ausgetragen. Das Gesetz markiert als Stigma- bzw. Fahnenwort die Opposition von Juden (‚altes Gesetz‘) und Christen (‚neues Gesetz‘) und die Restitution des erstge­ nannten wird stets als Motivator für das feindliche Handeln der Juden gegenüber den Christen präsentiert. Einzig in JuMo erhält die Vergeltungsabsicht der Juden eine andere Rahmung, die nicht über den Gesetzes-Begriff kommuniziert wird. Dort erfolgt eine Identifikation des jüdischen Kollektivs mit den apokalyptischen Zerstörern Gog und Magog, die der Legende nach von Alexander dem Großen im Kaukasus eingeschlossen wurden, und den sogenannten verlorenen zehn Stäm­ men Israels, die jeweils Teil des Antichrist-Stoffs sind und in der Interpretation

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JuMos miteinander verschmelzen. Die Verlierer-Rolle wird so von einem Leben unter christlichem Gesetz zur Unterdrückung im physischen Exil umgedeutet und der Verlierer-Topos verstärkt militärisch ausgelegt. Basierend auf der in patristischer Tradition stehenden Identifikation des An­ tichristen mit dem jüdischen Messias etablieren die Antichristspiele den Stell­ vertreter-Topos, demzufolge der Antichrist aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Ju­ dentum als dessen Stellvertreter aufzufassen ist. Indem die Handlungen des An­ tichristen immer in letzter Instanz als Handlungen der Juden gedeutet werden, erfahren alle jüdischen Figuren eine Stigmatisierung zu ‚Antichristen‘. Die Spie­ le kommunizieren den Topos über die Betonung der Herkunft des Antichristen aus dem jüdischen Stamm Dan und die Hervorhebung einer besonderen Nähe zwischen Juden und Antichrist anhand sprachlicher und performativer Zeichen sowie chronologischer Veränderungen in der Handlung. Entgegen der Darstel­ lung in der einflussreichsten Vorlage, der Antichrist-Vita des Abtes Adso von Mon­ tier-en-Der, lassen sie die Juden als erste Anhänger auftreten, die ihm bis zum En­ de treu ergeben bleiben. Der Werkzeug-Topos hat in die Antichristspiele sowohl in Verbindung mit dem Stellvertreter-Topos als auch durch die Darstellung direkter Einwirkungen des Teufels auf jüdische dramatis personae Eingang gefunden. Die Charakterisie­ rung des Antichristen als Teufelsbündler ist ein klassischer Bestandteil der mit­ telalterlichen Antichrist-Tradition, doch wird vermittels des Stellvertreter-Topos eine zusätzliche Verbindung zu den Juden hergestellt, die eine Zugabe der Spie­ le ist. Da der Antichrist stellvertretend für das gesamte jüdische Kollektiv steht, bedeutet ein Bund des Antichristen mit dem Teufel immer auch einen Bund der Juden mit dem Teufel. Die Einwirkung des Teufels auf den Antichristen wird in den Spielen sowohl über Fremdkommentare dezidiert benannt als auch in der Verbindung sprachlicher und kinesischer Zeichen performativ ausgestaltet. Die direkten Interaktionen zwischen Teufeln und jüdischen Figuren in den Spielen insinuieren eine besondere Nähe, die sich auch in gemeinsamen sprachlichen Mustern äußert. Die Ausformungen des Wesensart-Topos in den Antichristspielen weisen eine große gemeinsame Schnittmenge mit denen der Passionsspiele auf. Besonders deutlich zeigt sich die dem Wesensart-Topos zugrundeliegende Argumentation in der Eigenschaft ‚Verrohung‘, da hier ein bereits aus den Passionsdarstellungen bekanntes Charakteristikum, das in der Vergangenheit zu negativ bewerteten Handlungen geführt hat (Folterung und Tötung Christi), mit der Begründung auf zukünftige Handlungen projiziert wird, dass es im verrohten Wesen der Ju­ den begründet sei. Die Antichristspiele tradieren den Topos durch die Insze­ nierung verbal und physisch aggressiver, zorngeleiteter Juden. Die Wesensart ‚Verstocktheit‘ wird von den Spielen entgegen der kanonischen Überlieferung

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

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der Antichrist-Legende aufgenommen, die deren letztendliche Bekehrung vor­ sieht. Die Antichristspiele des Untersuchungskorpus zeigen demgegenüber keine kollektive Konversion, vielmehr inszenieren sie die jüdischen Figuren als zu ver­ stockt, um sich dem christlichen Glauben zuwenden zu können. Der Auftritt einsichtiger Juden, die in der Konsequenz zu Christen werden, wie ihn einige Spiele enthalten, trägt nicht zu einem positiveren Bild der Juden bei, sondern verschlechtert es zusätzlich, da die jüdische Verstocktheit im Kontrast mit ihren bekehrten (und folglich nicht mehr jüdischen) Landsleuten umso deutlicher her­ vortritt. Derselbe Mechanismus wurde in den Passionsspielen beobachtet. Zuletzt lässt sich die Zuschreibung von Habgier als zentrale Eigenschaft der Juden in eini­ gen Antichristspielen festhalten. Sie entstammt im Gegensatz zu Verrohung und Verstocktheit nicht primär christlich-religiösen Traditionen, sondern einer Le­ gendenbildung auf der Basis mittelalterlichen Alltagswissens. In der Forschung wurde die Verbindung von Juden mit Geldgeschäften häufig im Zusammenhang mit einer Unterscheidung zwischen mittelalterlich-religiös und neuzeitlich-wirt­ schaftlich (sowie später rassistisch) motivierten judenfeindlichen Elementen diskutiert, die sich auch im abweichenden Gebrauch der Begriffe ‚Antijudaismus‘ und ‚Antisemitismus‘ niederschlägt. Die kaum ausgeprägte und nicht mit expli­ ziten oder rekonstruierbaren Wertungen versehene Verbindung von Juden und Geld im frühen JuBe sowie die unterschiedlich stark ausgeprägte Ausformung des Wesensart-Topos ‚Habgier‘ in den späteren Spielen stützt vor dem Hintergrund der übrigen behandelten Eigenschaften die These einer späteren Entstehung wirtschaftlich motivierter judenfeindlicher Stereotype sowie der dynamischen Überlagerung theologischer und profaner Denkschablonen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit.

3.1.3 Antiprotestantische Topoi in einem eschatologischen Spiel des sechzehnten Jahrhunderts Eine der großen Zäsuren, die in der gängigen europäischen Geschichtsschreibung den Beginn der Frühen Neuzeit markieren, ist die Reformation. Die Überlieferung von Spieltexten und Aufführungsnachrichten macht deutlich, dass in dieser Zeit tiefgreifender religionspolitischer und sozialer Umbrüche religiöse Schauspiele im deutsch- und französischsprachigen Raum weiterhin geschrieben und aufge­ führt wurden. Es stellt sich die Frage, ob und wenn ja, inwiefern, sich die interkon­ fessionellen Auseinandersetzungen in der theatralen Inszenierung traditioneller religiöser Stoffe niederschlugen. Vor dem Hintergrund der vorgängigen Analysen des Bedrohungs-Topos ist es möglich, (Dis-)Kontinuitäten zu benennen und Aus­ sagen über ihre strategische Nutzung zu treffen.

232 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

Zwei eschatologische Spiele des Korpus, LuA und JuMo, fallen in die Zeit der konfessionellen Glaubensspaltung und sind aufgrund ihres Produktions- und Aufführungsortes eindeutig in einem katholischen Kontext verankert.²²⁴ Die übri­ gen deutschsprachigen Weltgerichtsspiele des sechzehnten Jahrhunderts (GüWg, MüWg, ChWg, LuWgI, JaWg) tragen keine konfessionalisierenden Züge. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass sie vor 1517 oder in der frühen Phase der Reformation entstanden sind und damit vor Einsetzen der Konfessionalisie­ rung. Die Untersuchung spezifisch konfessionspolemischer Bedrohungs-Topoi musste sich deshalb auf LuA und JuMo beschränken, konnte jedoch zugleich von der relativ breiten Überlieferung vorkonfessioneller eschatologischer Spiele als Normvorlage profitieren. Aus dem Korpus der Passionsspiele fällt lediglich LuPs in den einschlägigen Zeitraum. Da es nur sehr vereinzelt Aspekte aufweist, denen ein impliziter Zusam­ menhang mit den konfessionellen Auseinandersetzungen zugesprochen werden könnte²²⁵, konzentriert sich die Darstellung auf die Antichristspiele. In der vergleichenden Lektüre LuAs und JuMos wurde deutlich, dass sich zwar beide Spiele durch konfessionalisierende Aspekte auszeichnen, dabei jedoch sehr unterschiedliche kommunikative Strategien verfolgen. Während JuMo offen ge­ gen den konfessionellen Gegner polemisiert, nimmt LuA eine apologetische Hal­ tung ein, indem es die Universalität der apostolischen Kirche verteidigt und die Reformatoren konsequent ignoriert.²²⁶ Die antijüdischen Bedrohungs-Topoi, wie

224 Der jeweilige kommunikativ-pragmatische Rahmen der Spiele im historischen Kontext wird im Anhang erläutert und ist deshalb an dieser Stelle ausgespart. 225 Zwei einschlägige Passagen beziehen sich auf die an Heilige gerichteten Fürbittgebete, die von den protestantischen Lagern abgelehnt wurden und als katholische Affirmationen gedeutet werden können. Zum einen werden die Fürbitten, die Moses im Rahmen einer inszenierten his­ tori für das jüdische Volk gegenüber Gott einlegt, durch eine Prälocutor-Rede explizit im Sinne einer Präfiguration gedeutet und so als Argument für die Wirksamkeit von Fürbitten Heiliger ver­ wendet (Darumb sol man abschlahen nitt / Die fürpitt der heiligen, / wann Gottes fründ / Erhörtt gott, so bittend für vnser sünd., V. 2156 ff.; „Deshalb soll man die Fürbitte der Heiligen nicht ver­ weigern, denn Gott erhört Gottes Freund; deshalb legt Fürbitte für unsere Sünden ein.“). Zum anderen formuliert auch die Figur des Jacobus Maior die verallgemeinernde Konklusion, aus der theatralen Darstellung sei zu entnehmen, dass Menschen Fürbitte halten und fasten sollten (vgl. V. 5279–5288). 226 Vgl. dazu Posth, Carlotta : L’apologie de la vraie foi dans le théâtre catholique. L’Antéchrist de Lucerne (1549). In: Revue d’Histoire du Théâtre 286 (2020), S. 65–76. Stärker von polemischen Elementen ist der zweite Spieltag LuAs gekennzeichnet, in dem das eigentliche Weltgericht ge­ zeigt wird. Vgl. dazu Thali, Johanna: Schauspiel als Bekenntnis. Das geistliche Spiel als Medium im Glaubensstreit am Beispiel des Luzerner Antichrist- und Weltgerichtsspiels von 1549. In: Das Geistliche Spiel des europäischen Spätmittelalters. Hrsg. von Wernfried Hofmeister/Cora Dietl, Wiesbaden 2015 (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 20), S. 440–461.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 233

sie im vorgängigen Kapitel analysiert wurden, lassen in LuA die interkonfessionel­ len Differenzen gegenüber einem geteilten Feindbild in den Hintergrund treten. Das Spiel bedient sich – offenbar erfolgreich²²⁷ – traditioneller Ausformungen des Bedrohungs-Topos, um einer veränderten, religiös und gesellschaftlich prekären Situation zu begegnen. Auch in JuMo finden sich, wie oben besprochen, die tra­ ditionellen Ausformungen des antijüdischen Bedrohungs-Topos. Doch sind hier Verschiebungen zugunsten antiprotestantischer Topoi zu beobachten, die Gegen­ stand der folgenden Analysen sind. Die Spielarten des Bedrohungs-Topos, die sich gegen die Reformatoren wen­ den, werden als antiprotestantisch bezeichnet. Dies mag auf den ersten Blick in­ akkurat erscheinen, denn „Einheit im Sinne von Einheitlichkeit und Gleichför­ migkeit der Reformation gibt es – wenn überhaupt – nur in der Außenperspek­ tive der Nachgeborenen, nicht aber als Realität der Reformation selbst.“²²⁸ Der Begriff ‚Protestantismus‘ läuft deswegen Gefahr, eine unzutreffende Homogeni­ tät der unterschiedlichen reformatorischen Bewegungen, die sich im sechzehn­ ten Jahrhundert herausbildeten²²⁹, zu suggerieren. Dennoch ist er aus zwei Grün­ den zur Bezeichnung des Analyseziels hervorragend geeignet. Zum einen umfasst der Begriff ‚Protestantismus‘ im aktuellen Sprachgebrauch die „Gesamtheit der christl. Kirchen und Gruppen, deren Ursprünge auf die Reformation des 16. Jh. zurückgehen“²³⁰ und verdeutlicht so für heutige Leserinnen und Leser, dass es sich um topische Formen handelt, die generalisierend funktionieren. JuMo ver­ sucht gerade nicht, die verschiedenen reformatorischen Positionen durch die to­ pischen Verfahren in ihrer Heterogenität zu erfassen, sondern zielt auf ein homo­ genes Feindbild ab. Dies führt unmittelbar zum zweiten Grund, warum der Begriff ‚Protestantismus‘ gewählt wurde. Historisch leitet sich dieser von der Protestation von Speyer her, „mit der auf dem Reichstag von Speyer 1529 eine Minderheit ev.

227 Die Briefe Giovanni Angelo Rizios, eines Gesandten Karls V., welcher der Aufführung an al­ len Tagen beiwohnte, geben Auskunft darüber, dass LuA von einem großen interkonfessionellen Publikum (ca. 8.000 Zuschauerinnen und Zuschauer) rezipiert und insgesamt sehr positiv aufge­ nommen wurde (vgl. Haas, Über geistliche Spiele, S. 117–120). 228 Hamm, Berndt: Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Re­ formation machte. In: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation. Hrsg. von Berndt Hamm/Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg, Göt­ tingen 1995, S. 57–127, hier S. 57. 229 Einen einführenden Überblick über die unterschiedlichen intrakonfessionellen theologi­ schen Positionen bietet Campi, Emidio: Das theologische Profil. In: Die schweizerische Reforma­ tion. Ein Handbuch. Hrsg. von Amy Nelson Burnett/Emidio Campi, Zürich 2017, S. 449–494. 230 Wallmann, Johannes/Darell Guder/Stephen Holmes: Protestantismus. In: Religion in Ge­ schichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a., Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1727–1743, hier Sp. 1727.

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Fürsten und Städte gegen einen Mehrheitsbeschluß des Reichstages Rechtsver­ wahrung einlegte.“²³¹ In den Folgejahren etablierte sich die Bezeichnung protes­ tantes oder volkssprachlich ‚Protestanten‘ sehr viel schneller auf katholischer als auf evangelischer Seite.²³² Zur Zeit der Konfessionalisierung fand er in der katho­ lischen Kontroverstheologie Verwendung, während er von evangelischen Theolo­ gen kaum rezipiert wurde, „weil er den als fundamental empfundenen Gegensatz zw. luth. und ref. Konfession nivellierte.“²³³ Da JuMo eine katholische Position kommuniziert, ist der Begriff ‚antiprotestantische Topoi‘ folglich auch hinsicht­ lich des zeitgenössischen Wortgebrauchs besonders treffend.²³⁴ Wenn im Folgen­ den die Bezeichnungen ‚Protestantismus‘ und ‚Protestanten‘ verallgemeinernd gebraucht werden, beziehen sie sich immer auf ein konstruiertes Kollektiv, das es historisch in dieser Einheitlichkeit nicht gegeben hat, aber in JuMo und ande­ ren katholischen Quellen als solches konstruiert wird. Auf Basis der Spiellektüre konnten zwei antiprotestantische Bedrohungs-Topoi identifiziert werden. Exkurs: Der reformatorische Gegendiskurs im sechzehnten Jahrhundert Die antiprotestantischen Topoi können hier vor dem Hintergrund der vorgängigen Analysen in ihren Bezügen zu antijüdischen Topoi beleuchtet werden und somit Erkenntnisse über die Tradierung und Modifizierung von Persuasionsstrategien ermöglichen. Zugleich sind die antiprotestantischen Topoi jedoch im Zusammen­ hang mit zeitgenössischen Diskursen zu sehen, auf die sie eine Reaktion darstel­ len. Ein solcher zentraler Diskurszusammenhang ist die schrittweise Herausbil­

231 Ebd. 232 Christian V. Witt zeigt in seinem Forschungsüberblick zur Begriffsgeschichte des Termi­ nus ‚Protestanten‘, dass dieser bereits früher als in der älteren Forschung angenommen auch als Selbstbezeichnung Verwendung fand (vgl. Witt, Christian V.: Protestanten. Das Werden eines Integrationsbegriffs in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2011 (Beiträge zur historischen Theologie 163), S. 1–13), doch hält er auch fest, dass „[d]er frühe Gebrauch des Begriffs Protestantes bzw. Protestierende als Fremdbezeichnung für diejenigen Reichsstände, die sich der Reformation an­ geschlossen hatten, [. . . ] als gesichert gelten“ kann (hier S. 14). 233 Wallmann/Guder/Holmes, Protestantismus, Sp. 1728. 234 Andere Fremdbezeichnungen, die wiederholt in den hier behandelten Quellen auftreten, bieten sich aufgrund großer Differenzen zwischen ihrem historischen Gebrauch und ihrer aktu­ ellen Verwendung nicht an. So ist für heutige Leserinnen und Leser nicht unmittelbar einleuch­ tend, dass mit dem ‚neuen Glauben‘ bzw. der ‚neuen Religion‘ reformierte oberdeutsche Kirchen gemeint waren und die Bezeichnung luthériste lässt intuitiv an das Wittenberger Lager denken, wohingegen sie von französischen katholischen Theologen verallgemeinernd für alle reforma­ torischen Flügel verwendet wurde (vgl. dazu Kap. 3, Anm. 326). Begriffsbildungen wie ‚antilu­ therische‘ oder ‚gegen die Neugläubigen gerichtete‘ Topoi böten demnach zu viel Potential für Missverständnisse.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 235

dung einer konfessionellen Identität der Protestanten in Verbindung mit vielfälti­ gen antikatholischen Polemiken, die im sechzehnten Jahrhundert in zahlreichen Medien produziert wurden. Die nachfolgenden Analysen beziehen solche Erzeug­ nisse an relevanten Stellen immer wieder mit ein. Dieser Exkurs soll dazu dienen, Leserinnen und Lesern, die mit zentralen Formen reformatorischer Propaganda und antikatholischer Polemik nicht vertraut sind, vorab einen Überblick über den historischen Gegendiskurs zu verschaffen, auf den die antiprotestantischen Topoi reagieren. Es überrascht nicht, dass die Predigt eine zentrale Form der Verbreitung des ‚neuen Glaubens‘ und der Diskreditierung der römisch-katholischen Kirche war.²³⁵ Der primäre Weg, wie lutherisches Gedankengut sich in Deutschland ver­ breiten und nach Frankreich, in die Schweizerische Eidgenossenschaft und in viele weitere europäische Länder gelangen und dort wirken konnte, war seine Behandlung im Rahmen der Verkündigung. Wiewohl volkssprachliche Predigten im sechzehnten Jahrhundert grundsätzlich keine Neuerung darstellten, unter­ schied sich die reformatorische Praxis vom vorher Dagewesenen: inhaltlich durch die Fokussierung auf die Bibel als der einzigen, überprüfbaren Quelle religiöser Wahrheit; formal durch die Aufweichung bestehender Traditionen. Es wurde mit gesteigerter Intensität nicht nur in Kirchen, sondern auch im Freien (z. B. auf Marktplätzen) und in privaten Haushalten gepredigt, was einen informelle­ ren Charakter schuf, der auch dadurch unterstützt wurde, dass einige Prediger in Laienkleidung auftraten. Ein wichtiger Aspekt war darüber hinaus der par­ tizipative Charakter der frühen reformatorischen Predigten, die nicht nur eine bewegte Zuhörerschaft forderten, sondern eine aktive Auseinandersetzung mit den besprochenen Inhalten im Rahmen der Predigt selbst anregten.²³⁶ Dies ging häufig Hand in Hand mit der Absicht, das Publikum zu schockieren: Nicht sel­

235 Vgl. Scribner, Robert W.: Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen? In: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980. Hrsg. von Hans-Joachim Köhler, Stuttgart 1981 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 13), S. 65–76, hier S. 66: „Das wichtigste Mittel der Massenkommunikation war sicherlich die Kanzel, und es ist nicht zu übersehen, daß die Reformation zuerst eine Wieder­ belebung der Predigt war. Eine Gemeinde, die sich für die neuen Ideen interessierte, verlangte zuerst einen Prediger, der das Wort Gottes verkündigte. Bemerkenswert ist, daß man nicht mit dem Lesen von Flugschriften, auch nicht mit dem Bibellesen befriedigt war; man wollte das Wort hören.“ 236 Vgl. Scribner, Oral Culture, S. 84 ff. (Kap. 1, Anm. 17). Dass die Reformatoren keine neue Predigtpraxis ex nihilo schufen, sondern gerade in der Verbindung von docere und movere aus mittelalterlichen Traditionen schöpften, zeigt der informative und kondensierte Überblick in Pet­ tegree, Andrew: Reformation and the Culture of Persuasion. Cambridge 2005, S. 10–39, insbe­ sondere 12–17.

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ten verurteilten die Prediger Missstände auf aggressive Weise und präsentierten das reformatorische Gedankengut vor der Folie eines durch die katholische Kir­ che zutiefst pervertierten Christentums.²³⁷ Dass die reformatorischen Predigten eine enorme Resonanz erzeugten, belegen historische Quellen zu Publikumszah­ len und nicht zuletzt die Tatsache, dass erfolgreiche Prediger immer wieder zur Flucht gezwungen wurden, da man ihre Auftritte als Gefährdung der städtischen Ordnung empfand.²³⁸ Sehr deutlich zeigt sich die beeindruckende Zahl von refor­ matorischen Predigten, die in den 1520er Jahren verfasst und im Regelfall auch vor Publikum gehalten wurden, in der Produktion von Flugschriften. Sie zeugen von mehreren hunderttausend Predigten, die sich – in vielen Fällen vermutlich im Anschluss an einen Aufsehen erregenden mündlichen Vortrag – in gedruckter Form im Umlauf befanden.²³⁹ Dass die rasche Verbreitung reformatorischer Ideen durch die neuen Mög­ lichkeiten des Buchdrucks in signifikanter Weise begünstigt wurde, darf als Forschungskonsens gelten.²⁴⁰ In diesem Zusammenhang kommt den Medien des Flugblatts und der Flugschrift eine erhebliche Bedeutung zu. Die häufig il­ lustrierten Einblattdrucke und kurzen, oft mit einer Titelgraphik versehenen Druckschriften (durchschnittlich ca. 4–16 Seiten) waren technisch einfach sowie kostengünstig herzustellen und zu erwerben, was sie zu den wahrscheinlich ein­

237 Für einige Beispiele vgl. Scribner, Oral Culture, S. 85 f. (Kap. 1, Anm. 17). 238 Vgl. dazu die Ausführungen Bernd Moellers, die nahelegen, dass eine Zuhörerschaft aus tausenden von Menschen (z. B. mehr als viertausend regelmäßige Besucher der Predigten des Bamberger Theologen Johann Schwanhauser) keine Seltenheit waren und regelmäßig damit en­ deten, dass der jeweilige Prediger die Stadt verlassen musste (Moeller, Bernd: Einige Bemer­ kungen zum Thema: Predigten in reformatorischen Flugschriften. In: Flugschriften als Massen­ medium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980. Hrsg. von Hans-Joachim Köhler, Stuttgart 1981 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 13), S. 261–268, hier S. 266 f.). Ein ähn­ liches Schicksal konnte auch allzu reaktionsbereite Kleriker von katholischer Seite ereilen, wie dies etwa dem vehementen Reformationsgegner Thomas Murner geschah, der sich nach wieder­ holten heftigen antiprotestantischen Polemiken dazu gezwungen sah, die Stadt Luzern zu ver­ lassen, in der er von 1525 bis 1529 gewirkt hatte (vgl. dazu Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes I, S. 289–295). Eine skandalträchtige reformatorische Predigt, die in der Eidgenossenschaft ein großes Echo nach sich zog, war etwa ein von Polemiken durchzogener Vortrag des Johanniter­ komturs Konrad Schmid, den er anlässlich des traditionellen Museggumgangs im Jahr 1522 in Luzern hielt. Auf dessen Inhalt und die Reaktionen, die er hervorrief, geht Greco-Kaufmann ausführlich ein (vgl. hier S. 284–289). 239 Vgl. Moeller, Predigten, S. 261–263 (Kap. 3, Anm. 238). 240 Vgl. z. B. Strassner, Erich: Kommunikative Aufgaben und Leistungen des Flugblatts und der Flugschrift. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kom­ munikationsformen. Hrsg. von Joachim-Felix Leonhard u. a., 1. Teilband, Berlin, New York 1999 (HSK 15.1), S. 794–802, S. 794 f.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 237

flussreichsten publizistischen Medien des sechzehnten Jahrhunderts machte.²⁴¹ Neben weiteren kommunikativen Aufgaben, wie beispielsweise die der religiösen Erbauung oder der raschen Informationsweitergabe²⁴², dienten zahlreiche Flug­ blätter und Flugschriften der konfessionellen Agitation und Propaganda.²⁴³ Nicht zufällig verbindet man den Beginn der Reformation mit der Veröffentlichung ei­ nes Flugblatts: Luthers 95 Thesen. Flugblätter und Flugschriften zeichneten sich durch eine aggressive (Bild-)Rhetorik aus, die weniger über Argumentationen als durch Parodien und Invektiven zu überzeugen suchte.²⁴⁴ Zentrale Themen der Kritik an Papst, Klerus und Mönchtum waren unter anderem der Ablasshan­ del, die katholische Messe, die Heiligenverehrung, Korruption und Bereicherung und der Vorwurf eines zutiefst unchristlichen Lebenswandels. In vielen Fällen richteten sich antikatholische Flugblätter und Flugschriften (Pasquille) gegen Einzelpersonen, die als Vertreter der verworfenen katholischen Kirche karikiert und moralisch diskreditiert wurden.²⁴⁵ Im Hinblick auf die Analyse antiprotes­ tantischer Topoi in Antichristspielen ist von Interesse, dass die Darstellung von Papst und Papsttum als Antichrist zu einem charakteristischen Motiv der anti­ katholischen publizistischen Propaganda wurde, das die konfessionellen Aus­ einandersetzungen zu einem endzeitlichen Bedrohungsszenario stilisierte.²⁴⁶ Zu besonderer Berühmtheit brachte es bereits in den frühen Reformationsjahren das bis heute bekannte Passional Christi und Antichristi, das 1521 in Wittenberg

241 Vgl. hier S. 795 sowie Bangerter-Schmid, Eva-Maria: Herstellung und Verteilung von Flug­ blättern und Flugschriften in ihrer geschichtlichen Entwicklung. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Hrsg. von Joachim-Felix Leonhard u. a. 1. Teilband. Berlin, New York 1999 (HSK 15.1), S. 785–789, hier S. 788. 242 Vgl. dazu Strassner, Kommunikative Aufgaben, S. 794 f. und 799 ff. (Kap. 3, Anm. 240). 243 Besonders anschaulich ist die Auswertung Richard G. Coles der unterschiedlichen Kate­ gorien, welche in der bedeutenden Flugschriftensammlung Gustav Freytags zu finden sind. Von den insgesamt 3410 Flugschriften aus dem sechzehnten Jahrhundert machen Polemiken mit 1020 fast ein Drittel aus und sind die mit Abstand umfangreichste Kategorie (vgl. Cole, Richard G.: The Reformation Pamphlet and Communication Processes. In: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980. Hrsg. von Hans-Joachim Köhler, Stuttgart 1981 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 13), S. 139–161, hier S. 146 f. und 155). 244 Vgl. hier S. 796 und Oelke, Harry: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin, New York 1992 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 57), S. 21. 245 Zur protestantischen Kritik an Papst, Klerus und Mönchtum vgl. hier S. 239–247. Einen Über­ blick über zentrale Autoren und Schriften in lateinischer und deutscher Sprache gibt zudem Hans Rupprich (vgl. Rupprich, Hans: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Zweiter Teil: Das Zeitalter der Reformation. 1520–1570, München 1973 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 4), S. 102–127). 246 Vgl. Oelke, Konfessionsbildung, S. 240 sowie Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 263–268.

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entstand und in den Folgejahren in zahlreichen Editionen auch im Ausland, un­ ter anderem in der Eidgenossenschaft und in Frankreich, verbreitet wurde. Die Flugschrift enthält 26 von Lucas Cranach dem Älteren angefertigte Holzschnitte, die jeweils mit einem Kommentar aus der Feder Philipp Melanchthons versehen sind. Die Bild-Text-Einheiten sind als dreizehn kontrastierende Paare organisiert, welche die Antithese zwischen Christus und dem zum Antichristen stilisierten Papst zeigen.²⁴⁷ Die einflussreiche Flugschrift verwendet somit bereits das Mit­ tel der antithetischen Gegenüberstellung, welches zu einer zentralen Strategie reformatorischer Polemik wurde.²⁴⁸ Der aggressiv geführte Flugblattkampf, der die erste Phase der Reformation im lutherischen Deutschland prägte, erlebte im Kontext von Gegenreformation und innerkonfessionellen Streitigkeiten einigen Wandel, doch setzten sich zentrale publizistische Strategien aus der Frühphase auch in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts fort.²⁴⁹ Ein Blick auf Frankreich bietet ein sehr anderes Bild. Im Gegensatz zu Deutsch­ land und der Schweiz, wo die großen Zentren des Buchdrucks protestantisch wa­ ren, blieben die einflussreichen, von der Sorbonne kontrollierten Pariser Drucke­ reien fast ununterbrochen der Krone treu und damit der katholischen Seite ver­ bunden.²⁵⁰ Die lateinischen Schriften Luthers sowie vereinzelte volkssprachliche Texte, die seit den frühen 1520er Jahren in Frankreich zirkulierten, wurden nicht in der Hauptstadt, sondern in weniger überwachten Städten wie Alençon und Lyon gedruckt oder kamen aus bedeutenden Druckerzentren im Ausland, zum Beispiel Straßburg, Genf und Basel.²⁵¹ Bis in die 1560er Jahre finden sich kaum polemische

247 Für eine eingehende Analyse des Passionals sowie von ihm inspirierter antikatholischer Wer­ ke des sechzehnten Jahrhunderts vgl. Scribner, Robert W.: For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Cambride 1981 (Cambridge Studies in Oral and Litera­ ture Culture 2), S. 148–163. 248 Vgl. dazu Oelke, Konfessionsbildung, S. 247–251. 249 Ein klares Bild davon gibt die bereits zitierte Dissertation Harry Oelkes (Oelke, Konfessi­ onsbildung). Die Ergebnisse werden auch von der Dissertation Klugs (Klug, Das konfessionelle Flugblatt) gestützt, die sich auf die zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts konzentriert. 250 Zum Einfluss der politischen Situation in Frankreich auf die Nutzung des Buchdrucks von protestantischer und katholischer Seite vgl. Pettegree, Andrew: La Réforme en France, 1520– 1570. Les leçons à tirer de la culture de l’imprimé. In: La Réforme en France et en Italie. Contacts, comparaisons et contrastes. Hrsg. von Philip Benedict/Silvana Seidel Menchi/Alain Tallon, Rom 2007 (Collection de l’École française de Rome 384), S. 37–52; spezifisch zur Situation der Druckereien in Paris vgl. Febvre, Lucien/Henri-Jean Martin: L’apparition du livre. Avec 2 cartes en dépliant et 24 planches hors texte, Paris 1958 (L’évolution de l’humanité XLIX), S. 445 f. 251 Vgl. Gilmont, Jean-François : La Diffusion des Idées évangeliques et protestantes, C. 1520–C. 1570. In : La Réforme en France et en Italie. Contacts, Comparaisons et Contrastes. Hrsg. von Philip Benedict/Silvana Seidel Menchi/Alain Tallon, Rom 2007 (Collection de L’École Française de Rome 384), S. 69–83, hier S. 72.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 239

Schriften, die offen gegen das Papsttum und seine Institutionen agitieren, sondern vielmehr als Erbauungsliteratur getarnte Texte, denen ihr protestantischer Inhalt auf den ersten Blick nicht anzumerken ist.²⁵² Auch scheinen Bildwerke, die ins­ besondere in Form von Holzschnitten in der deutschen antikatholischen Polemik eine bedeutende Rolle spielten²⁵³, in Frankreich weit weniger verwendet worden zu sein: Die meisten Flugblätter und Flugschriften waren nicht illustriert.²⁵⁴ Die Situation änderte sich für kurze Zeit in den Jahren 1559 bis 1565, die durch den Tod des Königs Henry II. politische Instabilität mit sich brachten, welche der pro­ testantischen Publizistik größere Freiheiten bescherte. Aus dieser Periode stam­ men viele antikatholische Polemiken, die denen der frühen Reformationsjahre in Deutschland in nichts nachstehen und sich der gleichen Motive bedienen.²⁵⁵ Neben den genannten Druckerzeugnissen und Predigten waren weitere mündlich-performative Ausdrucksformen erheblich an der Verbreitung refor­ matorischer Glaubensinhalte und der Diskreditierung der katholischen Kirche beteiligt. Eine wichtige Rolle spielte die Etablierung reformatorischer Traditionen volkssprachlicher Kirchenlieder. Seit den frühen 1520er Jahren bemühten sich in Deutschland Reformatoren wie Martin Luther oder Thomas Müntzer darum, die lateinischen, gewöhnlich von Klerikern intonierten liturgischen Gesänge durch volkssprachliche Kirchenlieder zu ersetzen, die von der gesamten Gemeinde gesungen wurden. Zu diesem Zweck publizierte etwa Müntzer 1523 zwei Gesang­ bücher, das Deutsche Kirchenamt und die Evangelisch-Deutsche Messe, bei denen es sich um Adaptionen traditioneller gregorianischer Gesänge handelte, die mit deutschen Texten versehen wurden.²⁵⁶ Die Sammlungen, die zum untergang aller prechtigen geperde der gotlosen²⁵⁷ Gottes Licht erneut für alle sichtbar machen 252 Vgl. ebd. Freilich gab es Ausnahmen wie den polemischen Flugblattkampf, der in der Stadt Meaux von 1524 bis 1525 ausgetragen wurde und während dem man Flugblätter an den Mauern der Kathedrale aushängte, die den Papst als Antichristen anprangerten. Ein weiteres Beispiel ist die berühmte Plakataffaire (affaire des Placards), die im Jahr 1534 zur verstärkten Unterdrückung und Verfolgung der Protestanten durch den König François I. führte. Vgl. dazu ebd. sowie Febvre/ Martin, L’apparition du livre, S. 436. 253 Den Einfluss visueller Medien (auch außerhalb des Buchdrucks) auf die Verbreitung re­ formatorischer Ideen und die Verunglimpfung der römisch-katholischen Kirche hat Robert W. Scribner unter anderem in seiner Monographie For the Sake of Simple Folk (Scribner, Popular Propaganda) eindrücklich für den deutschsprachigen Raum herausgestellt. 254 Vgl. Pettegree, La Réforme, S. 50. 255 Vgl. hier S. 45–48 und Pettegree, Reformation, S. 177–184. 256 Vgl. Müntzer, Thomas: Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe. Unter Mitarb. von Paul Kirn hrsg. von Günther Franz, Gütersloh 1968 (Quellen und Forschungen zur Reformati­ onsgeschichte XXXIII), S. 25–206. 257 Hier S. 30; „zum Untergang aller pompösen Zeremonien der Gottlosen“. Gemeint sind die katholischen Messen.

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sollten, besitzen einen deutlichen antikatholischen Impetus. Stets wird die Ein­ führung neuer musikalischer Traditionen damit begründet, dass die Gläubigen durch die vorherigen in schädlicher Unwissenheit gehalten worden seien.²⁵⁸ Auch die volkssprachlichen Lieder aus der Feder Martin Luthers und weite­ rer Autoren, die er für die Sache gewinnen konnte, zielten darauf, vorhandene musikalische Traditionen so zu adaptieren, dass sie die christliche Lehre in re­ formatorischer Auslegung für alle verständlich vermittelten. Zu diesem Zweck schrieben er und Gleichgesinnte wie Johannes Agricola, Johann Walther oder Hans Sachs neue, deutsche Texte für bekannte Melodien (Kontrafakturen) aus der geistlichen, aber auch weltlichen Musik und fertigten zum Teil auch eige­ ne Kompositionen nach deren Vorbild an.²⁵⁹ Sie sollten von der Popularität und Eingängigkeit der mittelalterlichen Gesangstraditionen profitieren und ihnen zugleich neue Inhalte einschreiben, die umso effizienter verbreitet werden könn­ ten.²⁶⁰ Das Gleiche gilt für den Typus des ‚Zeitungslieds‘, das insbesondere von Luther dazu gebraucht wurde, aktuelle, die Reformation betreffende Ereignisse zu kommunizieren. Auch diese Lieder waren als Kontrafakturen angelegt und vermittelten ihren Inhalt auf Deutsch und in gereimter Form, sodass sie leicht zu memorieren und zu wiederholen waren.²⁶¹ Dass sich die neuen, lutherischen Traditionen tatsächlich schnell ausbreiteten und nicht nur innerhalb der Kirche gesungen wurden, sondern auch Eingang in den Alltag der Menschen (z. B. auf Marktplätzen, in Badehäusern, Wirtshäusern und privaten Haushalten) fanden, belegen die Zeugnisse katholischer Zeitgenossen.²⁶² In diesem Zusammenhang entstanden viele antikatholische Parodien, die auf partiellen Umdichtungen der Liedtexte beruhten.²⁶³

258 Vgl. auch in der Vorrede zur Evangelisch-Deutschen Messe Müntzers Argumentation, die Ge­ e sänge seien „durch die bepstischen pfaffen und monche lange zeyt zum nachteyl des christen­ glaubens in Latein gehandelt“ worden und die deutschen Lieder dienten nun „zur errettung der armen, elenden, blinden gewissen der menschen [. . . ], was etwan im Latein durch betrickliche, e e falsche pfaffen, monche, nonnen in kirchen und clostern gesungen und gelesen sey, und dem ar­ men hauffen der leyen zcum untergang des glaubens, evangelion und wort Gottis wider die klare helle leere des heylgen aposteln Pauli 1.Corin.14 vorhalten sey“ (hier S. 163). 259 Vgl. dazu Robinson-Hammerstein, Helga: The Lutheran Reformation and its Music. In: The Transmission of Ideas in the Lutheran Reformation. Hrsg. von Helga Robinson-Hammerstein, Dublin 1989, S. 141–171, hier S. 151–154. 260 Vgl. ebd. (Kap. 3, Anm. 258). 261 Vgl. hier S. 155 (Kap. 3, Anm. 258). 262 Vgl. hier S. 161 ff. Vgl. auch Scribner, Oral Culture, S. 92 f. (Kap. 1, Anm. 17). 263 Robinson-Hammerstein erwähnt beispielsweise eine antipäpstlich gewendete Parodie des Lieds Aus tiefer Not, vgl. Robinson-Hammerstein, The Lutheran Reformation, S. 161 f. (Kap. 3, Anm. 258). Vgl. auch die Beispiele in Scribner, Popular Propaganda, S. 69 f.

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

241

Auch für die Schweizerische Eidgenossenschaft, deren reformierte Lager ei­ ne andere Liedtradition entwickelten als in Deutschland²⁶⁴, sind antikatholische Schmählieder belegt. Ein Beispiel ist das sogenannte ‚Bohnenlied‘, das nach der Berner Fastnacht von 1523 in aller Munde war und den Ablasshandel verhöhn­ te.²⁶⁵ Wiewohl die Vertreter der schweizerischen und französischen reformierten Kirchen neue Gesangstraditionen in restriktiverer Form einführten als Luther²⁶⁶, waren auch hier die von Klerikern und Laien gemeinschaftlich gesungenen volks­ sprachlichen Lieder ein distinktives Merkmal der Protestanten in Abgrenzung zur katholischen Kirche. Insbesondere in Frankreich wurde unter dem Druck von Ver­ boten und Verfolgungen das gemeinschaftliche Singen auch außerhalb des Got­ tesdienstes zu einer identitätsstiftenden Praxis.²⁶⁷ Abschließend soll ein Blick auf das große Feld des Theaters im Dienste der Reformation geworfen werden. Im Gegensatz zu volkssprachlichen katholischen Produktionen aus dem sechzehnten Jahrhundert sind die protestantischen Er­ zeugnisse heute relativ gut erforscht: Die meisten überlieferten Texte liegen in modernen Editionen vor und ihre Inhalte sowie historischen Zusammenhänge sind in vielen Fällen sehr gut aufgearbeitet. Neben umfassenden, dem refor­ matorischen Theater gewidmeten Monographien²⁶⁸ sind auch einige kompakte

264 Für einen knappen Überblick der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der luthe­ rischen Kirche und den reformierten Kirchen Frankreichs und der Schweiz vgl. Weber, Édith: La musique protestante de langue française. Paris 1979 (Musique – Musicologie 7), S. 37–59. Eine umfassendere Darstellung, die neben Deutschland, Frankreich und der Schweiz auch die Nieder­ lande, England und Schottland berücksichtigt, bietet Pettegree, Reformation, S. 40–75. 265 Vgl. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes I, S. 296 ff. Für eine vertiefende Analyse und his­ torische Einordnung vgl. zudem Pfrunder, Peter: Pfaffen, Ketzer, Totenfresser. Fastnachtskultur der Reformationszeit – Die Berner Spiele von Niklaus Manuel, Zürich 1989, S. 176–230. 266 Jean Calvin und Martin Bucer unterschieden im Gegensatz zu Luther strikt zwischen geist­ licher und weltlicher Musik und akzeptierten nur die erstgenannte als förderlich (vgl. Weber, La musique protestante, S. 40 ff.). Die zentrale Form des reformierten Gesangs im protestanti­ schen Frankreich war der sogenannte Hugenottenpsalter (psautier huguenot), gereimte französi­ sche Paraphrasen von Psalmtexten. Zu den wichtigsten Autoren zählen neben Jean Calvin auch Clément Marot und Théodore de Bèze (vgl. hier S. 123–139). Unter Huldrych Zwingli wurde in Zürich der gottesdienstliche Chorgesang gänzlich abgeschafft und der Gemeindegesang erst zur Amtszeit seines Nachfolgers, Heinrich Bullingers, eingeführt (vgl. Reimann, Hannes: Huldrych Zwingli – Der Musiker. In: Archiv für Musikwissenschaft. 17/2,3 (1960), S. 126–141, hier S. 137). 267 Vgl. Weber, La musique protestante, S. 52 f. 268 Vgl. Metz, Detlef: Das protestantische Drama. Evangelisches geistliches Theater in der Re­ formationszeit und im konfessionellen Zeitalter, Köln, Weimar, Wien 2013; Washof, Wolfram: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deut­ schen Bibeldrama der Reformationszeit, Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und ge­

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Überblicksdarstellungen zu finden.²⁶⁹ Dieser Befund gilt nicht in gleicher Wei­ se für den französischen Sprachraum. Obwohl in jüngerer Zeit einige Tagungen und Sammelbände von einem verstärkten Interesse am reformatorischen Theater zeugen²⁷⁰, liegen nur wenige einschlägige Monographien älteren Datums vor.²⁷¹ Eine größer angelegte, auf Deutsch verfasste Gesamtdarstellung stammt aus dem Jahr 1903.²⁷² Das Ziel dieses kurzen Einblicks ist es folglich, aus der Fülle des deutschen Materials zentrale Elemente auszuwählen und durch Informationen zum französischen Sprachraum zu ergänzen, um so das Panorama aufzuzeigen, vor dem die antiprotestantischen Topoi JuMos zu sehen sind. Obwohl die Mehrheit der deutsch- und französischsprachigen Reformatoren eine ambivalente bis ablehnende Haltung dem Theater gegenüber verband²⁷³, wurde es von protestantischer Seite ausgiebig zur Verbreitung der eigenen Ideen

sellschaftliche Wertesysteme 14); Ehrstine, Theater; Pfrunder, Fastnachtskultur und Michael, Wolfgang F.: Das deutsche Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1984. 269 Vgl. Pettegree, Reformation, S. 76–101, der weitere Sprachräume – neben Frankreich und der Schweiz u. a. England – miteinbezieht; Tschopp, Silvia S.: Reformationsdrama. In: Real­ lexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Jan-Dirk Müller u. a., Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 247–249 und Dietl, Cora: Das frühe deutsche Drama von den Anfängen bis zum Barock. Helsinki 1998, S. 98–119 und 135 f. 270 Vgl. Bouhaïk-Gironès/Koopmans/Lavéant, Le Théâtre polémique (Kap. 1, Anm. 16) sowie die Tagung La Réforme en Spectacles. Protestantisme et théâtre en Normandie et en Europe au XVIe siècle, die 2018 im Centre Culturel International de Cerisy stattfand und deren Beiträge in der Revue d’Histoire du Théâtre (vgl. Théâtre, guerres et religion (Europe, XVIe siècle). In: Re­ vue d’Histoire du Théâtre 286 (2020). Hrsg. von Charlotte Bouteille-Meister/Fabien Cavaillé/ Estelle Doudet) zu finden sind. 271 Vgl. Beck, Théâtre et propagande und Picot, Émile : Les moralités polémiques ou la contro­ verse religieuse dans l’ancien théâtre français. Réimpression de l’édition de Paris, 1887, Genève 1970. Einschlägig ist zudem das ausführliche Kapitel Les tragédies bibliques écrites en français par les Protestants in Lebègue, Raymond : La tragédie religieuse en France. Les débuts (1514–1573), Paris 1929 (Bibliothèque littéraire de la Renaissance XVII), S. 289–439. 272 Holl, Fritz: Das politische und religiöse Tendenzdrama des 16. Jahrhunderts in Frankreich. Erlangen u. a. 1903 (Münchener Beiträge zur romanischen und englischen Philologie 26). 273 Bekannt ist Luthers Ablehnung von Passionsspielen und seine Empfehlung von Bibeldra­ men und Komödien, wenn diese erbaulichen Charakter hätten. Eine ähnliche Position vertraten etwa Martin Bucer und Heinrich Bullinger, während Jean Calvin dem Theater deutlich kritischer gegenüberstand und Wilhelm Farel es durchweg ablehnte. Für eine ausführliche Behandlung der unterschiedlichen Positionen der lutherischen und reformierten Theologen vgl. Metz, Das pro­ testantische Drama, S. 123–219 und 256–315 sowie mit einem Fokus auf den französischsprachi­ gen Raum Joblin, Alain: Le théâtre protestant au XVIe siècle. Une ‚mommerie‘ nécessaire. In : Les protestants et la création artistique et littéraire (Des Réformateurs aux Romantiques). Hrsg. von Alain Joblin/Jacques Sys, Arras (2008) 2020 (Lettres et civilisations étrangères), https://books. openedition.org/apu/9438 (19. August 2020), Abs. 22–27.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 243

genutzt. Ein einheitliches Profil des reformatorischen Theaters, das anhand be­ stimmter charakteristischer Aspekte skizziert werden könnte, gibt es allerdings schon deshalb nicht, weil sich die Autoren der unterschiedlichsten theatralen Traditionen bedienten. Aus den 1520er Jahren stammen eine Reihe von Spie­ len, die sich durch aggressive Polemik auszeichnen und in der Forschung häufig als Kampf- oder Propagandaspiele bezeichnet werden.²⁷⁴ Im deutschsprachigen Raum verorten sich diese Spiele im Kontext der Fastnacht: Sie wurden anlässlich des fastnächtlichen Treibens im Kirchenjahr aufgeführt und schlossen ebenso an bestehende Traditionen an wie sie diese zum Zwecke antikatholischer Pole­ mik variierten.²⁷⁵ Besonders gut dokumentiert ist die Situation der Stadt Bern in der Eidgenossenschaft.²⁷⁶ Den spektakulären Beginn des reformatorischen Fastnachtspiels markieren die Produktionen des vielbegabten Berner Stadtpoli­ tikers Niklaus Manuel. Zur Herrenfastnacht 1523 wurden seine zwei ersten Spiele aufgeführt: Vom Papst und seiner Priesterschaft – auch unter dem Titel Die To­ tenfresser bekannt – und Von Papst und Christi Gegensatz. Ersteres prangert in einer Reihe von lose miteinander verbundenen szenischen Einheiten Missbräu­ che des Papstes und des katholischen Klerus an, indem es Totenmessen, das Pfründewesen und den Ablasshandel als Strategien der Selbstbereicherung und Machtausweitung darstellt. Explizit wird der Papst in einer der Szenen als An­ tichrist bezeichnet. Das zweite Spiel greift mit der antithetischen Strategie des bereits erwähnten Passionals ebenfalls das Motiv des Papstes als Antichrist auf und lässt zwei theologisch versierte Bauern die parallel verlaufenden Prozessio­ nen von Christus und seinen Begleitern sowie dem als Kriegsherr auftretenden Papst mit seinem Heer kommentieren. Die beiden Fastnachtspiele trugen zeitge­ nössischen Quellen zufolge intensiv zur Popularisierung der Reformation in Bern bei und wurden durch zahlreiche Drucke auch über die Stadt hinaus bekannt.²⁷⁷

274 Vgl. z. B. Dietl, Das frühe deutsche Drama, S. 98 oder Simon, Eckehard: Fastnachtspiele in­ szenieren die Reformation. Luthers Kampf gegen Rom als populäre Bewegung in Fastnachtspiel­ zeugnissen, 1521–1525. In: Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten. Hrsg. von Klaus Ridder, Tübingen 2009, S. 115–135, hier S. 117. 275 Zur Frage nach Kontinuität und Innovation im reformatorischen Fastnachtspiel vgl. Ridder, Klaus: Ordres menacés et innovations littéraires. Le théâtre carnavalesque de Niklaus Manuel pendant la Réforme. In : Innovation – Révolution. Discours sur la nouveauté littéraire et artis­ tique dans les pays germaniques. Hrsg. von Fanny Platelle/Nora Viet, Clermont-Ferrand 2018, S. 37–54. 276 Hervorzuheben ist hier die bereits mehrfach erwähnte Monographie Glenn Ehrstines (Ehrstine, Theater), die die Inhalte und religions- wie soziopolitischen Kontexte theatraler Ak­ tivitäten in Bern ausführlich aufarbeitet. 277 Vgl. Pfrunder, Fastnachtskultur, S. 241–248 und Simon, Fastnachtspiele, S. 117 (Kap. 3, Anm. 274). Manuels drittes Fastnachtspiel, Der Ablasskrämer (1525), in dem eine Gruppe von

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Im lutherischen Deutschland wurden in den frühen 1520er Jahren nachweis­ lich ebenfalls Fastnachtspiele und fastnächtliche Aktivitäten im weiteren Sinne organisiert, die gegen die römisch-katholische Kirche polemisierten, doch sind sie in der Regel nicht textiert überliefert.²⁷⁸ Auch in Frankreich entwickelte sich trotz Verboten und Repressalien gegen Autoren, Organisatoren und Spieler ein reformatorisches Theater, das vor offensiver Polemik gegen die katholische Kir­ che nicht zurückschreckte.²⁷⁹ Es handelt sich bei diesen Spielen um moralités, farces und sotties, die bereits in vorreformatorischer Zeit Medien der Kritik an geistlichen und weltlichen Obrigkeiten gewesen waren. Auch in Frankreich wur­ den also bestehende Traditionen genutzt, um reformatorisches Gedankengut zu popularisieren und Missstände des bestehenden Systems anzuprangern. Das frü­ heste überlieferte Spiel ist die Farce des Théologastres, die 1523 vermutlich von dem aus Arras stammenden Louis de Berquin geschrieben wurde, der sechs Jah­ re später als Luther-Anhänger hingerichtet werden würde.²⁸⁰ Das von Personifi­ kationen bevölkerte Spiel übt deutliche Kritik an der Sorbonne und stellt ihr die lutherischen Lehren als heilbringende Alternative gegenüber: Foy (Glaube) fürch­ tet, dem mal sorbonique zum Opfer zu fallen und sucht nach medizinischem Rat in Deutschland, wo Raison (Vernunft) beheimatet ist.²⁸¹ Anders als im deutsch­ sprachigen Bereich, in dem sich die Produktion polemischer Fastnachtspiele auf die frühe Phase der Reformation beschränkte, wurden die französischen Spiele bis weit in die zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts hinein geschrieben und aufgeführt. Zu großer Bekanntheit gelangte etwa die Moralité de Maladie de Chrestienté à xiii personnages. Sie wurde 1533 in Neufchâtel gedruckt und bis in die 1650er Jahre hinein viele Male in der französischsprachigen Schweiz und in Frankreich aufgeführt.²⁸² Ihr Autor ist Mathieu Malingre, der vermutlich auch die Bäuerinnen und Bauern einen Ablasskrämer für sein unehrliches Geschäft bestraft, wurde nicht gedruckt und auch seine Aufführung bleibt unsicher. Dies wird im Allgemeinen auf eine geänder­ te religionspolitische Lage in Bern zurückgeführt (vgl. Pfrunder, Fastnachtskultur, S. 196–203 und Ehrstine, Theater, S. 107–113). 278 Zu dokumentarischen Zeugnissen und Chronikberichten von zehn reformatorischen Fast­ nachtspielen in acht deutschen Städten zwischen 1521 und 1525 vgl. Simon, Fastnachtspiele, S. 118–132 (Kap. 3, Anm. 274). Vgl. außerdem Michael, Das deutsche Drama, S. 39–44 und Rid­ der/Lüpke/Nöcker, Carnival Theater, S. 163 (Kap. 1, Anm. 16). 279 Zu Spielverboten und Verfolgungen, Folterungen bis hin zu Exekutionen vgl. Lebègue, La tragédie religieuse, S. 291; Beck, Théâtre et propagande, S. 27 f. und Joblin, Théâtre protestant, Abs. 16 f. (Kap III, Anm. 273). 280 Vgl. Joblin, Théâtre protestant, Abs. 11 (Kap III, Anm. 273) und Holl, Tendenzdrama, S. 115–120. 281 Vgl. Joblin, Théâtre protestant, Abs. 11. 282 Vgl. Chamay, Charles-Antoine : La moralité de maladie de chrestienté à XII personnages de Mathieu Malingre et la polémique religieuse. In : Le Théâtre polémique français 1450–1550. Hrsg.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 245

Flugblätter schuf, welche ein Jahr später die Plakataffaire auslösten.²⁸³ Malingre wird häufig zudem die im selben Jahr publizierte moralité der Vérité cachée devant cent ans faicte et composée à six personnages zugeschrieben.²⁸⁴ Insgesamt ist ei­ ne durchaus beachtliche Zahl von polemischen Spielen überliefert, zu denen eine Reihe von Aufführungszeugnissen hinzukommen.²⁸⁵ Sie zeigen, dass das Theater im französischsprachigen Raum vor und in der Zeit der Religionskriege ein bedeu­ tendes Medium religiöser Propaganda und Satire war. Neben Fastnachtspielen, moralités, farces und sotties, in denen antikatholi­ sche Polemiken ein essentieller Bestandteil waren²⁸⁶, verbreitete man reforma­ torisches Gedankengut auch im Rahmen anderer Theatertraditionen, die häufig keine polemische Ausrichtung besaßen. Einen bedeutenden Einfluss auf viele Re­ formatoren übte das Humanistendrama aus, das sich an antiken Vorbildern wie Terenz und Plautus orientierte.²⁸⁷ So flossen zunehmend antike Gestaltungsprin­ zipien in die Dramatisierung religiöser Stoffe ein und es entstanden explizit als solche bezeichnete Tragödien, Komödien und Tragikomödien. Ein bekanntes Bei­ spiel aus dem französischen Sprachraum ist Théodore de Bèzes Tragödie Abra­ ham sacrifiant, die er 1550 bei dem Genfer Drucker Conrad Badius publizierte und die bis heute zahlreiche Wiederauflagen und Übersetzungen erlebte.²⁸⁸ Aus einem Brief des Autors geht hervor, dass es sich um ein Auftragswerk handelt, welches für die Aufführung durch Genfer Schüler bestimmt war.²⁸⁹ Dies ist kein Einzel­ fall; vielmehr entstanden viele reformatorische Dramen im schulischen Kontext und wurden in lateinischer oder deutscher Sprache von Schülern gespielt.²⁹⁰ Auf von Marie Bouhaïk-Gironès/Jelle Koopmans/Katell Lavéant. Rennes (2008) 2016, S. 179–187. Online unter : https://books.openedition.org/pur/29452 (24. August 2020), Abs. 20 und Beck, Théâtre et propagande, S. 40. 283 Vgl. Chamay, La moralité, Abs. 3 (Kap. 3, Anm. 282). 284 Vgl. hier Abs. 4. 285 Für Überblicksdarstellungen vgl. Beck, Théâtre et propagande, S. 33–36; Lebegue, La tragé­ die religieuse, S. 290 ff. und Holl, Tendenzdrama, S. 92–163. 286 Das französische allegorische und moralisierende Schauspiel umfasst auch eine Reihe von Spielen, die reformatorisches Gedankengut vermitteln, ohne zu polemisieren. Berühmte Beispie­ le sind die moralités und farces Marguerites de Navarre; etwa L’Inquisiteur oder Le Mallade. Für einen Überblick über diese und weitere Spiele vgl. Holl, Tendenzdrama, S. 71–91. 287 Vgl. Tschopp, Reformationsdrama, S. 247 f. 288 Vgl. Lebegue, La tragédie religieuse, S. 312 f. 289 Vgl. hier S. 295. Ein Aufführungszeugnis aus Genf gibt es nicht, es wurde jedoch vermu­ tet, dass man die Tragödie anlässlich der Schulabschlussfeier im Mai 1550 inszenierte (vgl. hier S. 295 f.). Auch erinnert sich de Bèze selbst in einem 1598 an seinen Übersetzer Jacomot gerichte­ ten Brief an zahlreiche Aufführungen, die es in Frankreich gegeben habe (vgl. hier S. 312). 290 Vgl. Schade, Richard E.: Schultheater. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Jan-Dirk Müller u. a., Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 403–405.

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protestantischer Seite war das sogenannte Bibeldrama besonders populär, das ge­ wöhnlich Stoffe des Alten Testaments, der Apokryphen und Gleichnisse aus dem Neuen Testament auf die Bühne bzw. zu Papier brachte.²⁹¹ Ein besonders belieb­ ter Stoff war etwa das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32). Sehr bekannt ist dessen theatrale Adaption Die Parabel vom verlorenen Sohn, die Burkhart Wal­ dis 1527 kurz nach seiner Konvertierung zum neuen Glauben verfasste und die noch im selben Jahr auf dem Marktplatz der Stadt Riga aufgeführt sowie gedruckt wurde. Die Inszenierung bestritten in diesem Fall Bürger, die neben der Instituti­ on Schule die wichtigste Trägergruppe darstellten.²⁹² Waldis gestaltet den Stoff als Ausweis der reformatorischen Prinzipien des sola gratia und sola fide, ver­ zichtet aber auf aggressive Polemiken gegen die katholische Kirche.²⁹³ Ähnlich gelagert sind weitere volkssprachliche Bibeldramen wie zum Beispiel die Susan­ na (1535) des vom Wittenberger Kreis beeinflussten Paul Rebhun²⁹⁴, der Joseph (1538) des Schweizers Hans von Rüte²⁹⁵ oder die Trilogie David combattant, Da­ vid triomphant, David fugitif (1566) des Calvinisten Louis Des Masures.²⁹⁶ Auch die von Reformatoren verfassten Passionsspiele, die Luthers ablehnender Hal­ tung zum Trotz entstanden, enthalten sich offener Polemiken gegen den Papst und den katholischen Klerus. Das von Jacob Rueff 1545 geschriebene Züricher Pas­ sionsspiel vermittelt konfessionalisierende Inhalte, indem es den Akzent auf die Auferstehung Christi anstelle der Passion legt und den Gnadenaspekt deutlich hervorhebt.²⁹⁷ Eine gänzlich andere Ausrichtung besitzt die im sechzehnten Jahr­ hundert über deutsche Grenzen hinaus populäre Tragödie Pammachius (1538) von Thomas Naogeorgus (Kirchmeyer). Das lateinische Drama nutzt den Antichrist-

291 Cora Dietl zufolge intendierten die Reformatoren systematisch eine Breitenwirkung ihrer Spiele nicht primär über die Aufführung, sondern durch die Drucklegung der Dramentexte (vgl. Dietl, Das frühe deutsche Drama, S. 118): „Die Aufführungsform ist die des Humanistendramas, doch die eigentliche Wirkung soll nicht auf der Bühne erzielt werden, sondern bei der Lektüre: Im Gegensatz zu den katholischen Passionsspielen, die nur als Aufführungshandschriften über­ liefert sind, werden die protestantischen Spiele in der Regel noch im Jahr ihrer Erstaufführung gedruckt, um eine möglichst große Massenwirksamkeit zu erreichen.“ 292 Zur Parabel vom verlorenen Sohn vgl. hier S. 105. Die Mehrheit der im Folgenden genannten Spiele wurden von der Bürgerschaft einer Stadt öffentlich aufgeführt. 293 Für eine Inhaltsübersicht und konzise Analyse vgl. hier S. 106–111. 294 Vgl. hier S. 100–105. 295 Vgl. Michael, S. 138–141. Mit seinem früheren Fastnachtspiel, Abgötterei (1531), schloss Hans von Rüte noch an die von Niklaus Manuel geschaffene Tradition antikatholischer Polemik an, doch veränderte sich der Ton deutlich in seinen Bibeldramen (vgl. hier S. 136ff). 296 Vgl. Holl, Tendenzdrama, S. 167 ff. 297 Zu Inhalt und Analyse des Züricher Passionsspiels vgl. Dietl, Das frühe deutsche Drama, S. 112–117.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 247

Stoff, um den Papst als endzeitlichen Widersacher und die Aktualität als apo­ kalyptisches Szenario zu charakterisieren.²⁹⁸ Auch die darauffolgende Tragödie Mercator (1540) ist eine äußerst zynische Polemik gegen das Konzept der ‚Werk­ gerechtigkeit‘: Ein Kaufmann wird von seinen vor dem Jüngsten Gericht nutzlosen Werken befreit, indem er diese erbricht. Die Tragödie gelangte auch im französi­ schen Raum zu einiger Bekanntheit. Sie wurde 1558 von Jean Crespin ins Fran­ zösische übersetzt und 1560 in Straßburg aufgeführt; möglicherweise auch in Sa­ voyen.²⁹⁹ Das Motiv des Erbrechens findet sich etwa auch in der Comédie du Pape malade von Conrad Badius, die im Folgejahr aufgeführt und gedruckt wurde.³⁰⁰ Mit diesem Beispiel lässt sich abschließend festhalten, dass die reformatorischen Lager im deutschen und französischen Sprachraum eigene Traditionen entwickel­ ten, die insbesondere über das Medium des Buchdrucks jedoch miteinander in Kontakt kamen und sich gegenseitig beeinflussten. Neben Flugblättern und Flug­ schriften dürften viele protestantische Spiele in katholischen Kreisen durchaus auch über Sprachgrenzen hinweg bekannt gewesen sein. 3.1.3.1 Gleichheits-Topos An verschiedenen Stellen nehmen die in JuMo auftretenden dramatis personae unmissverständlich auf den Protestantismus Bezug.³⁰¹ So diskreditiert beispiels­ weise die Figur des Saint Paul (Paulus) im Streitgespräch mit dem Apostaten ex­ plizit Luther und Calvin:

298 Der Kunstgriff Naogergus‘, nicht die Vernichtung des Antichristen zu zeigen, sondern das Ende offen zu lassen, ist zweifellos als Appell an das Publikum zu verstehen, sich zur Errettung der eigenen Seelen von der katholischen Kirche abzuwenden (vgl. dazu hier S. 111). Wolfgang F. Michael wertet das offene Ende als ein durch Naogeorgus eingeführtes Novum (vgl. Michael, Das deutsche Drama, S. 83), was in Anbetracht früherer Spiele, die von der gleichen Aktualisie­ rungsstrategie Gebauch machen, relativiert werden muss. Zum Beispiel endet bereits im deutlich älteren Fastnachtspiel Des Entkrist Vasnacht (2. Hälfte 15. Jh.) die Handlung vor dem Fall des Anti­ christen. Dennoch kann festgehalten werden, dass im Pammachius die Interpretation der Gegen­ wart als Endzeit durch das betont bewusste Aussparen des letzten Aktes (neben anderen theatra­ len Strategien, vgl. dazu Ridder, Klaus: Latenz und Aktualität. Bedrohungskommunikation im mittelalterlichen Schauspiel. In: ZfdA 149 (2020), S. 479–497) in besonderer Weise hervorgehoben wird. 299 Vgl. Lebegue, La tragédie religieuse, S. 291. 300 Vgl. Holl, Tendenzdrama, S. 143. Holl verweist darüber hinaus auf die Aufführung eines anderen Spiels im Jahr 1560 in Grenoble, dem der Mercator neben der Maladie de Chrestienté als Vorlage gedient haben soll (vgl. hier S. 126). 301 Vgl. auch die Ausführungen von Gros (Gr 10–13), der einige einschlägige Textstellen zitiert, welche in unverkennbarem Bezug zu reformatorischen Lehren stehen und auch in der folgenden Analyse zur Sprache kommen werden.

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Lapostat quant a moy certes je conclus quavoir je doibz fort bonne escuse car jay suyvi le test’ et glause de ceulx qu’estoient scavans et doctes comme calvin luther et daultres quavoient receu le sainct esprit

Der Apostat Was mich betrifft, ich halte gewisslich fest, dass ich eine sehr gute Entschuldigung habe, denn ich habe nach Text und Kommentar derer gelebt, die weise und gebildet waren, wie Calvin, Luther und andere, die den heiligen Geist empfangen hatten.

Saint paul Cest par toy faulcement deduict car les docteurs quas allegue ont corrompu par faulcete le sens de la saincte scripture et se mettantz a ladventure ilz ont preche de faulx erreurs qui ont cause mille doulleurs a ceulx qui les ont voullu suyvre car ilz seront tous a vray dire dampnes perpetuellement [. . . ] (fol. 14r–14v)

Paulus Das hast du falsch geschlussfolgert, denn die Doktoren, die du angeführt hast, haben durch Falschheit den Sinn der Heiligen Schrift verdorben und aufs Geratewohl haben sie falsche Irrlehren gepredigt, die denen tausend Schmerzen bereitet haben, die ihnen folgen wollten, denn sie werden wahrhaftig alle auf ewig verdammt sein. [. . . ]

Dennoch bestehen in der Forschung sehr unterschiedliche Meinungen darüber, welche Stellung dem Protestantismus in JuMo zukommt. Louis Gros zufolge handelt es sich um ein im Kern antiprotestantisches Spiel, das den Antichristen mit dem Protestantismus identifiziert (Gr 10): „Pour l’auteur du Mystère joué à Modane en 1580 et en 1606, l’Antéchrist c’est le protestantisme.“ Auch Jacques Chocheyras attestiert JuMo anticalvinistische Züge und sieht es als eine von der Gegenreformation³⁰² inspirierte Antwort auf die vor allem aus Genf stammenden Attacken gegen die katholische Kirche, die den Papst mit dem Antichristen iden­ tifizierten (vgl. Ch 27). Zu einer gänzlich anderen Einschätzung kommt Klaus Aichele. Dass es sich „[z]weifellos nicht“ um ein antiprotestantisches Spiel handle, begründet er damit, dass Antichrist und Weltgericht nicht als aktuel­ les Geschehen dargestellt würden und keine Identifizierung des Antichristen mit dem Protestantismus erfolge:

302 Chocheyras verwendet den Begriff Contre-Réforme, der die im Französischen gebräuchli­ che Übersetzung des deutschen Begriffs ‚Gegenreformation‘ darstellt. In Ermangelung einer neu­ tralen Bezeichnung wurde der Begriff textnah übersetzt, ohne Chocheyras eine Wertung un­ terstellen zu wollen. Die alternative Bezeichnung ‚Katholische Reform‘ (frz. Réforme catholique) möge an dieser Stelle mitgedacht werden.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 249

Handelt es sich um ein antiprotestantisches Drama? Zweifellos nicht. Das Weltende ist in fer­ ner Zukunft vorgestellt, zu einer Zeit, da nur noch eine christliche Konfession, die Römische Kirche, existiert. Die Propaganda des Antichristen deckt sich zwar in vielen Punkten mit der protestantischen Propaganda gegen die Römische Kirche (besonders ist die Diskussion über das Fegefeuer breit ausgeführt), das soll jedoch, wie in allen nachlutherischen katholi­ schen Antichristdramen allenfalls die häretische Tendenz des Protestantismus bloßstellen, keineswegs jedoch den Protestantismus mit dem Antichrist identifizieren.³⁰³

Anhand der Topos-Analyse lässt sich nachweisen, dass JuMo weit über die bloße Darstellung häretischer Tendenzen im Protestantismus hinausgeht. Tatsächlich wird er systematisch mit dem Antichristen gleichgesetzt und das Geschehen so von einer fernen Zukunft in die Gegenwart verlegt. Wie gelingt es JuMo, die mittel­ alterliche Tradition der eschatologischen Spiele ohne markante Brüche fortzufüh­ ren und zugleich den Protestantismus als Feindbild daran anzubinden, obwohl er der Stofftradition zunächst gänzlich fremd ist? Vor dem Hintergrund der oben behandelten antijüdischen Topoi ist in JuMo die Konstruktion eines neuen Topos zu beobachten, der traditionelle topische Strukturen partiell überlagert, ohne sie vollständig abzulösen. Er erklärt auch die Sonderstellung, die JuMo im Hinblick auf den Verlierer-Topos zukommt (vgl. unter 3.1.2.1). Anders als in allen übrigen Antichrist-Spielen des Korpus, erfolgt in JuMo die Konstruktion dieses Topos nicht zentral über den Gesetzes-Begriff. In der Analyse zeigte sich, dass die Fokussierung des jüdischen Feindbilds auf die zehn Stämme Israels sowie Gog und Magog zu einer verstärkt militärischen Aus­ gestaltung des Verlierer-Topos führte. An die Stelle des ‚jüdischen Gesetzes‘, das traditionell die antichristliche Lehre inhaltlich spezifiziert, tritt in JuMo der Pro­ testantismus.³⁰⁴ Das Verfahren, das dabei zum Einsatz kommt, ist der Topos aus der Gleichheit. Das grundlegende Schema, auf dem dieser in seiner deskriptiven Form aufbaut, lässt sich mit Kienpointner wie folgt fassen: „Von (hinsichtlich eines quantitativen/qualitativen Kriteriums Z) gleichen/ähnlichen Gegenständen [oder Personen, CP] X werden gleiche/ähnliche Eigenschaften Y ausgesagt.“³⁰⁵ Indem JuMo die Inhalte des antichristlichen ‚neuen Gesetzes‘ mit Lehrinhalten identifiziert, die dem Protestantismus zugesprochen werden, schafft es ein Kri­ terium, auf dessen Basis die Protestanten als Antichristen Eingang in das Spiel finden können: Wenn Antichrist und Protestanten das gleiche Gesetz vertreten, gleichen sie sich auch in ihrem Verhalten und ihrer heilsgeschichtlichen Rolle. In der Ausformung des Topos wird ausgehend von der Antichrist-Tradition prä­

303 Aichele, Das Antichristdrama, S. 99. 304 Auch Gros hält fest (Gr 10): „Les prophètes et les prédicants de l’Antéchrist prêchent en effet la même loi que le protestantisme.“ 305 Kienpointner, Alltagslogik, S. 284.

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supponiert, dass das Verhalten des Antichristen schlecht ist und ihn und seine Anhänger in die Hölle bringen wird. Folglich ist auch das Verhalten der Protestan­ ten schlecht und führt zu ewiger Verdammung. Der Gleichheitstopos kann auch normativ zur Einforderung derselben Behandlung oder Bewertung aufgrund von Gleichheit verwendet werden.³⁰⁶ Bezogen auf JuMos Argumentation lässt sich for­ mulieren: Wenn Antichrist und Protestanten das gleiche Gesetz vertreten, müssen sie auch gleich behandelt/bewertet werden. Auch hier gibt die Antichrist-Tradition vor, dass der falsche Messias als gefährlich zu bewerten und zurückzuweisen ist. Der Gleichheits-Topos schreibt die Übertragung auf Vertreter des Protestantismus vor. Aufgrund der Übereinstimmung mit dem Antichristen sind sie selbst als An­ tichristen zu bewerten und zu behandeln. Der Gleichheits-Topos geht damit über eine deskriptive Analogiebildung hinaus und fordert normativ die Gleichsetzung von Antichrist und Protestanten ein: Die Protestanten sind nicht nur wie der Anti­ christ, sie sind Antichristen.³⁰⁷ Die kontextbasierte Lesart des Gleichheits-Topos, wie sie in JuMo zur Anwendung kommt, kann demgemäß auf folgende Weise formuliert werden: Weil Protestanten Antichristen sind, stellen sie eine unmittelbare Bedrohung für die Christen dar (und die Aufführung des (jeweiligen) Antichristspiels ist folglich eine notwendige Verteidigungsmaßnahme). Der Gesetzes-Begriff wird in Kollokation mit einem spezifischen Schlagwort pro­ testantisch besetzt. Der Antichrist sendet seine Propheten mit dem Auftrag aus, das christliche Gesetz zu zerbrechen und durch sein eigenes zu ersetzen. Er cha­ rakterisiert es mit den Worten flaterie und liberté (Schmeichelei und Freiheit, vgl. Gr 51). Liberté wird im weiteren Spielverlauf zum zentralen Schlagwort, um auf

306 Kienpointners Formel dazu lautet (hier S. 286): „Wenn X und Y hinsichtlich eines quantita­ tiven/qualitativen Kriteriums Z gleich/ähnlich sind, sind sie im Normalfall diesbezüglich gleich/ ähnlich zu bewerten bzw. zu behandeln.“ 307 Diese Argumentation lässt sich auch mit der Identifikation des konfessionellen Gegners als Antichristus mixtus, der nach joachimistischer Lehre aufgrund von Ähnlichkeiten als Vorläufer des endgültigen Antichristen (Antichristus purus) verstanden wurde, in Verbindung bringen. So­ wohl in den katholischen als auch in den reformatorischen Lagern wurde diese Zuschreibung zur Charakterisierung des jeweiligen Gegners bemüht (vgl. dazu z. B. Sandl, Marcus: Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation, Zürich 2011 (Medienwandel – Medienwech­ sel – Medienwissen 18), S. 250; Richardsen-Friedrich, Ingvild: Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Argumentation, Form und Funktion, Frankfurt a. M. u. a. 2003 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur 1855), S. 173–177 und Troncarelli, Fabio: Un codice con note autogra­ fe di Gioacchino da Fiore (Vat. Barb. Lat. 627). In: Scriptorium 43/1 (1989), S. 3–34, hier S. 33).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 251

das antichristliche Gesetz zu referieren³⁰⁸ – auf der immanenten Bedeutungsebe­ ne im Sinne eines Fahnen- bzw. Stigmaworts unter den Anhängern respektive Gegnern des Antichristen, und ausschließlich als Stigmawort für das Publikum (rekonstruierte Bedeutungsebene). Diese Spezifizierung des antichristlichen Ge­ setzes steht in deutlichem Kontrast zu allen anderen hier behandelten Antichrist­ spielen, die es mit jüdischen Bräuchen in Verbindung bringen. In JuMo bedeutet das Gesetz der Freiheit dagegen moralische Anarchie, deren einzige Vorgabe das Primat körperlicher Gelüste darstellt.³⁰⁹ Auch in französischsprachigen kontro­ verstheologischen Schriften, die seit Mitte der 1550er Jahre kursierten, war dies ein rekurrentes Motiv. Autoren wie Artus Desiré und Antoine de Mouchy deute­ ten die Glaubensspaltung als apokalyptisches Geschehen und warnten vor der Freiheit, die die Reformatoren proklamierten. Sie legten diese aus als excessive liberté et relaxation de justice, die die Menschen dazu brächte à croire et tenir le mal estre bien, et le bien estre mal.³¹⁰ Die Charakterisierung des antichristlichen Gesetzes als loi de liberté greift folglich ein gängiges antiprotestantisches Motiv auf und dürfte aus diesem Grund für das zeitgenössische katholische Publikum JuMos als Konnex zwischen Reformatoren und Antichristen leicht erkennbar ge­ wesen sein. Die weitere inhaltliche Spezifizierung des antichristlichen Gesetzes erfolgt durch Eigen- und Fremdkommentare antichristlicher und christlicher dramatis

308 Das antichristliche Gesetz wird wiederholt als loi de liberté (Gesetz der Freiheit) bezeichnet (vgl. Gr 93, 110, 113, 121) und die Phrase (re)mettre en liberté (die Freiheit (zurück)geben) findet häufig Verwendung, um die Wirkung des Gesetzes zu benennen (vgl. Gr 65, 66, 70, 80, 81, 84). 309 Nicht zufällig betrifft die erste Gesetzesänderung, die der Antichrist seinen Propheten zu predigen aufträgt, die Öffnung der Ehe für alle Stände und Verwandtschaftsgrade (vgl. Gr 51). Er selbst möchte sich die Nonnen eines Klosters als Konkubinen halten (vgl. Gr 132). Die in JuMo verwendeten Begriffe liberté und libertin stehen damit in direktem Zusammenhang mit dem Kon­ zept des Libertinismus, der „die christl. Freiheitsbotschaft im Sinn von ‚alles ist erlaubt‘ (1Kor 6,12; 10,23) versteht und sich theoretisch wie lebenspraktisch über anerkannte Ordnungen und Verpflichtungen hinwegsetzt“ (Hilpert, Konrad: Libertinismus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a., Bd. 5, Tübingen 2002, Sp. 325–326, hier Sp. 325). 310 Desiré, Artus : Passevent parisien respondant à Pasquin romain. De la vie de ceux qui sont allez demourer à Genève, et se disent vivre selon la réformation de l’Évangile : faict en forme de Dialogue, 3. Aufl., Paris (1556) 1875, S. X. Für polemische Schriften, die sich gegen die Reformato­ ren richten und zum Teil apokalyptische Szenarien beschwören, vgl. außerdem Sypher, G. Wylie: Faisant ce qu’il leur vient a plaisir. The Image of Protestantism in French Catholic Polemic on the Eve of the Religious Wars. In: The Sixteenth Century Journal 11/2 (1980), S. 59–84, hier S. 69; Taylor, Larissa: Soldiers of Christ. Preaching in Late Medieval and Reformation France, Oxford 1992, S. 220 f. und Crouzet, Denis : La sagesse et le malheur. Michel de L’Hospital, chancelier de France, Seyssel 1998 (Époques), S. 264 f.

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personae. Sie dienen dazu, eine klar abgegrenzte Dichotomie zu etablieren, inner­ halb derer auf der einen Seite das wahre Christentum steht, welches die katholi­ sche Kirche verkörpert, und auf der anderen Seite der antichristliche Irrweg, der mit dem Protestantismus identifiziert wird. Dies äußert sich in Bezeichnungen, mit denen antichristliche Figuren auf Christen referieren. Der Antichrist sendet seine Prediger aus, weil es zu viele Anhänger des falschen Propheten Jesus gebe (de faulx adherans / y ha beaucoup de ce Jesus / faulx prophete, très faulx christus, Gr 51). Er fordert sie auf, mit den konversionsunwilligen Christen nicht zimperlich umzugehen: Je vous commande expressement que faictes endurer torment a tous ces papistes chrestiens qui ce Jesus sont ensuyvantz persistantz tousjours en sa loy. (Gr 51)

Ich befehle euch ausdrücklich, dass ihr die Folter all diesen christlichen Papisten zu spüren geben sollt, die diesem Jesus folgsam sind, indem sie auf seinem Gesetz beharren.

Die Bezeichnung papiste wurde im sechzehnten Jahrhundert auf protestantischer Seite abwertend für Anhänger der römischen Kirche verwendet und muss für das katholische Publikum JuMos als Stigmawort erkennbar gewesen sein.³¹¹ Dass es in Kollokation mit dem Attribut chrestien auftaucht und im Folgenden als diejenigen expliziert wird, die dem Gesetz Jesu folgen, führt zur Überblendung der Konzepte von ‚Christ‘ und ‚Papist‘. Aichele hat demnach recht, wenn er festhält, die einzige christliche Konfession in JuMo sei die katholische Kirche. Tatsächlich lassen sich weitere Belege dafür anbringen, dass über Fremdkommentare antichristlicher Fi­ guren Christen immer als Vertreter der Römischen Kirche verstanden werden. Von seinen Predigern über die widerständigen Könige unter dem Einfluss des Catho­ lique unterrichtet, rüstet der Antichrist sein Heer zum Kampf und stellt seinen Propheten einen großartigen Sieg in Aussicht: Ne vous soucies mes apostres car je vous jure ma coronne que la suitte en sera si bonne que les papaulx s’en ressentront (Gr 130)

Seid unbesorgt, meine Apostel, denn ich schwöre euch bei meiner Krone, dass der Ausgang davon so gut sein wird, dass die Päpstlichen unter den Folgen leiden werden.

Indem der Antichrist seine Gegner als papaulx bezeichnet, wird auch an dieser Stelle deutlich, dass die Christen in JuMo Römisch-katholisch sind. Daraus resul­ tiert jedoch nicht, wie Aichele folgert, dass das Geschehen in einer fernen Zu­

311 Vgl. den Eintrag in LPR, S. 1796.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 253

kunft angesiedelt ist. Ganz im Gegenteil zeigt insbesondere die Verwendung des Stigmawortes papiste, dass der Kampf zwischen Christen und Antichristen – Gut und Böse – in die zeitgenössische Gegenwart verlegt wird. Weil es sich um eine Bezeichnung handelt, die auf protestantischer Seite als Kampfbegriff verwendet wurde, gibt sich der Antichrist durch seinen Wortgebrauch als Protestant zu er­ kennen. Der Protestantismus erhält dadurch einen eindeutigen Platz in der Dicho­ tomie des apokalyptischen Szenarios. Er repräsentiert die Seite des Bösen. JuMo etabliert somit ein einfaches Schema, um das historische Zeitgeschehen zu in­ terpretieren. Diesem zufolge sind die Glaubenskämpfe als eine endzeitliche Kon­ frontation zwischen Gut und Böse zu verstehen. Innerhalb dieses Szenarios ist auch der Ausgang bereits gewiss: Die Römisch-katholische Kirche wird als wahre Vertreterin des Christentums den Sieg davontragen, während die Anhänger des Protestantismus ewige Verdammung erwartet. Die Verbindung von Antichrist und Protestantismus über ein gemeinsames Gesetz verkörpern im weiteren Spielverlauf größtenteils die antichristlichen Pre­ diger Annagoras, Balaam und Giesy. Sie sind nicht nur durch die Thematisie­ rung bestimmter Inhalte, sondern auch durch einen spezifischen Habitus als Protestanten markiert. Wie die Analyse zeigen wird, geht es JuMo dabei nicht um eine differenzierte Darstellung der mitunter stark voneinander abweichen­ den Positionen unterschiedlicher Reformatoren. Vielmehr greift es protestanti­ sche Inhalte in häufig verkürzter, klischeehafter und zum Teil auch entstellender Form auf. Im Streitgespräch zwischen den Predigern des Antichristen und den christli­ chen Figuren des Catholique und des Archevesque verspricht Balaam die Ehe für alle Stände: l’on vous donne a tous liberte de vous joindre en mariage sans peche ny concubinage au second, tiers et quart degre (Gr 91)

Wir geben euch allen die Freiheit, in der Ehe zusammenzufinden, ohne Sünde oder uneheliche Unzucht, bei Verwandtschaft zweiten, dritten und vierten Grades.

Die Aufwertung der Ehe und ihre Öffnung auch für den geistlichen Stand wurden im lutherischen wie reformierten Protestantismus als wichtige Errungenschaf­ ten gefeiert und als wirkungsvolle Prävention von sündhaften, weil unehelichen Verbindungen angesehen.³¹² Diese Auffassung geht zurück auf den protestanti­

312 Zum lutherischen und reformierten Eheideal vgl. Ratschow, Carl Heinz u. a.: Ehe/Eherecht/ Ehescheidung. In: Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Horst R. Balz u. a., Bd. 9, Berlin, New York 1982, S. 308–362, hier S. 337–342.

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schen Grundgedanken des ‚Priestertums aller Gläubigen‘, der die Existenz eines geweihten Stands ad absurdum führte.³¹³ In scharfem Kontrast dazu stand das auf katholischer Seite vertretene Primat der Virginität und des Zölibats, das mit der Ablehnung der Priesterehe als Herd der Lasterhaftigkeit einherging.³¹⁴ Aus diesem Grund wurde das Ehekonzept der Reformatoren zu einem wiederkeh­ renden Gegenstand katholischer Polemik, wie sich etwa in Flugblättern aus der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts nachweisen lässt.³¹⁵ Balaams Rede gibt die protestantische Argumentation wieder, indem sie den uneingeschränk­ ten Zugang zur Ehe mit der Vermeidung von Sünde und unehelicher Unzucht in Verbindung bringt. Dass das vertretene Ehekonzept auf der rekonstruierten Bedeutungsebene als lasterhaft markiert werden soll, äußert sich in der zusätz­ lichen Zuspitzung, die es durch die Assoziation mit inzestuösen Verbindungen erfährt. Weil die Eheauffassung der Reformatoren bereits in den ersten Versen aufgerufen wurde, erscheint es offensichtlich, dass auch die Ehe zwischen Ver­ wandten als Teil des protestantischen Ehekonzepts aufzufassen ist und somit gegen kanonisches Recht verstößt.³¹⁶ Tatsächlich definierte Luther in seiner 1522 publizierten Schrift Vom ehelichen Leben nur Verwandtschaft bis zum zweiten Grad als Ehehindernis und wich damit vom kanonischen Recht ab.³¹⁷ Die Aus­ sage Balaams geht einen Schritt weiter, indem sie unter Einschluss des zweiten Verwandtschaftsgrads auch Ehen zwischen Geschwistern zulässt. Dieser Schritt ist für die Skandalisierung entscheidend und bleibt zugleich nahe genug an der

313 Berndt Hamm hält das „Gemeindeprinzip“ als grundlegendes Gemeinsames der Reformation fest, das in Abgrenzung zum spätmittelalterlichen Gradualismus den Laienstand dem geistlichen gleichstellte, was in der Ablehnung des Sakraments der Priesterweihe und des sakralen Priester­ stands sowie der Einführung der Priesterehe resultierte (vgl. Hamm, Einheit und Vielfalt, S. 82 f. und 91 f. [Kap. 3, Anm. 228]). 314 Die Priorisierung des Zölibats gegenüber der Ehe wurde am Ende der dritten Tagungsperiode des Tridentinums dogmatisiert (vgl. Ratschow u. a., Ehe, S. 344 und Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 272). 315 Vgl. dazu die Ausführungen von Klug (Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 271 ff.). 316 Obwohl im sechzehnten Jahrhundert vermögensrechtliche Aspekte der Eheschließung welt­ lichem Recht unterlagen, besaß für alle übrigen Belange (auf katholischer Seite) das kanonische Eherecht Gültigkeit, welches Blutsverwandtschaft bis zum vierten Grad als Ehehindernis fest­ legte (vgl. Zapp, Hartmut: Kanonisches Eherecht. Begründet von Ulrich Mosiek, 6., völlig neu­ bearb. Aufl. Freiburg i. Br. 1983 (rombach hochschul paperback 110), S. 129–133, 264 f.; Gerhard, Ute: Ehe-Recht. In: Reformation heute. Die sozialethische Schriftenreihe zum 500. Jubiläum der Reformation. Hrsg. von Sozialwissenschaftliches Institut der EKD. Hannover 2016, S. 7–31, hier S. 9 ff. und 15). 317 Vgl. hier S. 15.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 255

tatsächlichen Position des Reformators, um unhinterfragt als protestantische Position aufgefasst zu werden.³¹⁸ Eine weitere Konsequenz des reformatorischen Gemeindeprinzips bestand in der Ablehnung des Mönchtums. Auch diese wird von den Predigern des Antichris­ ten kommuniziert. Annagoras rät dem Antichristen, alle kirchlichen Orden und Klöster zu zerstören³¹⁹: Il me semble qu’il seroyt bon de mettre du tout a neant religions et tout covant: archevesques, abbes et prestres tous ordres ecclesiasticques et monasteres de nonains affin que faulx propos et vains de la loy de ce Jesus Christ par ce moyen on abattit car sans cela je vous affie qu’a peyne jour de nostre vie en porrons venir au dessus. (Gr 131)

Es scheint mir, dass es gut wäre, Ordensgemeinschaften und alle Konvente vollständig zu vernichten: Erzbischöfe, Äbte und Priester, alle kirchlichen Orden und Nonnenklöster, damit wir die falschen und wertlosen Inhalte von dem Gesetz dieses Jesus Christus durch dieses Mittel zerstören, denn ansonsten, das versichere ich Euch, werden wir dem zu unseren Lebzeiten kaum Herr werden können.

Der Antichrist antwortet darauf, Annagoras‘ Absichten entsprächen den seinen (je cognois que vostre volloir / au mien s’accorde a dire voir, Gr 131) und verbalisiert so den Gleichheits-Topos, der sich im weiteren Spielverlauf bestätigt, denn tat­ sächlich plündern und zerstören die Anhänger des Antichristen am Ende des ers­ ten Spieltags Klöster und verbrennen die sie bewohnenden Geistlichen (vgl. den Prolog des ersten Spieltags, Ch 188). Die übereinstimmenden Lehrinhalte äußern sich in gemeinsamen Handlungen gegen die Christenheit, welche auch an dieser

318 Tatsächlich wurde den Protestanten in polemischen volkssprachlichen Schriften der späten 1550er und frühen 1560er Jahre unter anderem Inzest vorgeworfen (vgl. Sypher, The Image of Protestantism, S. 69). 319 Gros bringt die Aussage des antichristlichen Predigers mit dem Übertritt der Region Chab­ lais zum reformierten Protestantismus in Verbindung, die er als Annexion beschreibt (Gr 11 f.): „Pour la diffusion de leur doctrine, les Bernois n’hésitèrent pas à envahir le Chablais, à incendier les églises.“ Die Ausbreitung der Reformation im nahegelegenen Chablais wurde zweifellos mit Besorgnis in der Maurienne verfolgt, doch kam es Hubert Wyrill zufolge nicht zu militärischen Auseinandersetzungen und massiven Zerstörungen (vgl. Wyrill, Hubert: Réforme et ContreRéforme en Savoie. 1536–1679. De Guillaume Farel à François de Sales, Lyon 2001, S. 67–76). Des­ sen ungeachtet waren den Verfassern JuMos und seinem Publikum aufgrund der andauernden Hugenottenkriege (1562–1598) mit großer Wahrscheinlichkeit Gewalttaten von protestantischer Seite bekannt. Auch kursierten in Frankreich insbesondere in den 1560er Jahren polemische Flug­ schriften, wie zum Beispiel die 1562 gedruckte Consommation d’idole de Paris, die aus protestan­ tischer Sicht Gewalt gegenüber Katholiken rechtfertigte (vgl. Pettegree, La Réforme, S. 47).

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Stelle unmissverständlich mit der Römisch-katholischen Kirche identifiziert wird. Demgegenüber verschmelzen die Konzepte von ‚Protestanten‘ und ‚Antichristen‘. Ein weiterer zentraler protestantischer Grundsatz, den JuMo wiederholt in ne­ gativem Sinne aufgreift, ist die Rechtfertigung allein durch den Glauben (sola fi­ de), der dem Menschen aus Gottes Gnade heraus (sola gratia) gewährt wird.³²⁰ Ausgehend von diesem Grundgedanken lehnten die Reformatoren die Vorstellung ab, der Mensch könne oder müsse durch gute Werke an seiner Rechtfertigung vor Gott partizipieren.³²¹ Eine Vielzahl kirchlicher Bräuche wurde deshalb als rein menschliche Erfindung in Misskredit gebracht und zurückgewiesen. So hält etwa die Confessio Gallicana (auch Confession de foy oder Confession de La Rochelle), das 1559 in Paris verfasste und 1571 anlässlich der Nationalsynode in La Rochelle von den drei nationalen reformierten Kirchen offiziell angenommene Glaubens­ bekenntnis, fest: Enfin, nous considérons le purgatoire comme une erreur provenant de cette même boutique, d’où découlent aussi les vœux monastiques, les pèlerinages, l’interdiction de se marier et de consommer certains aliments, l’observation cérémonieuse des jours, la confession auricu­ laire, les indulgences et toutes choses semblables, par lesquelles on pense mériter la grâce et le salut. Toutes ces choses, nous les rejetons non seulement à cause de l’idée menson­ gère de mérite qui y est attachée, mais aussi parce qu’elles sont des inventions humaines qui imposent un joug aux consciences des hommes.³²²

320 Obwohl die Rechtfertigungslehre Gegenstand zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen den Wittenberger und oberdeutschen Theologen sowie innerhalb der zwei reformatorischen La­ ger war, wurde sie zum protestantischen Konfessionsmerkmal, das in deutlicher Opposition zum katholischen Verständnis stand (vgl. Spieckermann, Hermann u. a.: Rechtfertigung. In: Theolo­ gische Realenzyklopädie. Hrsg. von Horst R. Balz u. a., Bd. 28, Berlin, New York 1997, S. 282–364, hier S. 316). Emidio Campi hält fest, dass die Reformatoren die Überzeugung „von der bedingungs­ losen Zuwendung Gottes zu den Menschen allein aus Gnade und allein um Christi willen“ ver­ band und sie klar abgrenzte von „der damals herrschenden kirchlichen Lehre und Praxis, nach der die Menschen durch ein reines Herz und Liebeswerke das Heil erlangen könnten“ (Campi, Das theologische Profil, S. 458 [Kap. 3, Anm. 229]). 321 Trotz durchaus bestehender Kontroversen um die Stellung guter Werke innerhalb der refor­ matorischen Lager, stimmen die Rechtfertigungslehren Luthers, Zwinglis und Calvins darin über­ ein, dass gute Werke aus dem Glauben folgen und diesbezüglich ein christliches Leben auszeich­ nen, ohne Bedingung der Rechtfertigung zu sein (vgl. Beltz, Walter/Wolf Krötke/Hans G. Ul­ rich: Gute Werke. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a., Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1343–1346, hier Sp. 1344). Für eine detaillierte Darstellung der Rechtfertigungslehren einzelner lutherischer und reformierter Positionen vgl. McGrath, Alister E.: Iustitia Dei. A His­ tory of the Christian Doctrine of Justification, 2. Aufl., Cambridge 1998, S. 188–226. 322 La Confession de foi des Églises réformées en France dite Confession de La Rochelle, en français moderne. Hrsg. von Eglise réformée de France, Cahors 1963, S. 30. Für die Genfer

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Beinahe alle der genannten Bräuche werden auch von den Predigern des Anti­ christen thematisiert. Bereits erläutert wurde das Thema Ehe. Giesy kündigt dar­ über hinaus an, der Messias werde den Menschen ohne die Beichte alle ihre Sün­ den vergeben (sans confession / tous vous peches il vous pardonne, Gr 91), denn de vous ne veulx³²³ rien avoir / sinon la bonne affection („von euch will er nichts ha­ ben als eure Zuneigung“, Gr 90 f.). Das Einhalten von Speisevorschriften (et aussi liberte vous donne / de manger la chair en tous temps, Gr 91; „und er gibt euch auch die Freiheit, immer Fleisch zu essen“) wird ebenso verworfen wie das Fasten und das Abhalten von Nachtwachen vor kirchlichen Festen (Vigilien): puis je vous dictz c’est chose seure que si volles aller lassus³²⁴ otter vous fault tous ces abus de jeuner quart temps et caresme et vigilles qui sont a l’homme contraires et a liberte donc par cella est incite fere chose conte son vueil et plusieurs foys menner grand duil qui est un faict de grand rigueur fort desplaisant a l’hault seigneur et a la loi Antechrestienne (Gr 92)

Dann sage ich euch, das ist gewiss, dass ihr euch, wenn ihr da hinaufgelangen wollt, von all diesen Missbräuchen befreien müsst, vierzig Tage zu fasten, und von der Fastenzeit und den Vigilien, die entgegen der Natur und Freiheit des Menschen sind, weshalb er durch sie dazu getrieben wird, Dinge gegen seinen Willen zu tun und mehrfach große Trauer zu tragen, was eine Sache von großer Strenge ist, zur großen Unzufriedenheit des hohen Herrn und des antichristlichen Gesetzes.

Die Prediger zählen eine Reihe von protestantischen Forderungen auf und kenn­ zeichnen sie als antichristliches Gesetz, indem dieses ausdrücklich genannt wird (la loi Antechrestienne). Die protestantische Rechtfertigungslehre wird dabei als Laxheit umgedeutet: Weil im reformatorischen Verständnis (das in der Darstel­

reformierte Kirche unterschrieb Théodore de Bèze, für die der Provinz Béarn Jeanne d’Albret und schließlich Coligny für die reformierte Kirche Frankreichs (vgl. hier S. 3). Zur Überlieferungsge­ schichte der Confessio Gallicana vgl. Jahr, Hannelore: Studien zur Überlieferungsgeschichte der Confession de foi von 1559. Neukirchen-Vluyn 1964 (Beiträge zur Geschichte und Lehre der Refor­ mierten Kirche 16), insbesondere S. 16–30. 323 Es ist naheliegend, dass es sich hier um einen Fehler des Schreibers handelt, da Giesy und in der Folge auch Balaam ausschließlich die Lehre des Antichristen referieren. Das Verb vouloir müsste demgemäß in der 3. Pers. Sg. konjugiert werden (veult), nicht in der 1. Pers. Sg. (veulx). Da beide Flexionsformen im Französischen gleichklingend sind, ist die Schreibung für den münd­ lichen Vortrag im Rahmen der Aufführung irrelevant. Wie im Mittelfranzösischen noch geläufig, ist das Subjekt im ersten Hauptsatz der Parataxe elidiert, was – zumindest mündlich – Raum für Ambiguität lässt. Jedoch ist das Subjekt des über die Konjunktion et verbundenen zweiten Haupt­ satzes das Personalpronomen il, welches sich auf den Antichristen bezieht und somit nahelegt, dass auch im ersten Hauptsatz nach der 3. Pers. Sg. konjugiert werden müsste. 324 Gemeint ist das himmlische Paradies.

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lung JuMos dem des Antichristen entspricht) Gott vom Menschen nichts einfordert und ihm alle Freiheiten lässt, steht einem lasterhaften Leben nichts entgegen. Die vermeintliche Sicherheit des Paradieses führt die Menschen so geradewegs in die Hölle. JuMo inszeniert die desaströsen Folgen des antichristlich-protestantischen Lebens im Weltgerichtsteil des dritten Spieltags, in dessen Verlauf der Mangel gu­ ter Werke in ewiger Verdammung resultiert. Nostre Dame klagt über die grand faulte’ et grand malheur (fol. 57r; „große Verfehlung und großes Unglück“), die diejenigen über die Menschen gebracht hätten, die gegen die Notwendigkeit gu­ ter Werke predigten, denn nostre Dieu tresvistement / compte les euvres pitoyables (ebd.; „unser Gott zählt die mitleidigen Werke sehr schnell“). Jesus beschließt das Gericht über ceulx qui n’ont voulu labourer / en faisant euvres de vertu (ebd.; „die­ jenigen, die sich nicht anstrengen wollten, um Werke der Tugend zu vollbringen“) folgerichtig mit ihrer Verbannung in die Hölle: la vous seres tousiour brulantz car les euvres de charite vous naves faict en æquite pource vous juge justement (fol. 61r–61v)

Dort werdet ihr für immer brennen, denn ihr habt die Werke der Nächstenliebe nicht angemessen geleistet. Deshalb urteile ich gerecht über euch.

Ein weiterer Kritikpunkt der Confessio Gallicana, das Fegefeuer, begegnet eben­ falls in JuMo. Die Figuren Le mauvais gentilhomme (Der schlechte Edelmann) und Le mauvais laboreur (Der schlechte Arbeiter) kritisieren den Brauch der Totenmes­ se als chose frivolle et vaine (Gr 114; „eine unsinnige und trügerische Sache“), denn de purgatoyre n’est point (ebd.; „es gibt kein Fegefeuer“). Die folgenden Ausfüh­ rungen des Mauvais gentilhomme greifen das ‚Totenfresser‘-Motiv auf, welches in protestantischen Polemiken des deutschsprachigen Raums eine zentrale Rolle spielt³²⁵: Or nous prescheurs clerz et scavantz nous disent par conclusion que ce n’est qu’une abusion et que ces caffars glorieux ont invente cella entre eulx pour une cauttelle finesse afin qu’on fasse dire messe pour leur proffit particulier (Gr 116)

Nun schließen unsere Prediger, Geistlichen und Gelehrten daraus, dass es nichts als ein Missbrauch ist und dass diese anmaßenden Heuchler sich das zusammen ausgedacht haben, durch Lug und Trug, damit wir die Messe lesen lassen, zu ihrem persönlichen Gewinn.

325 Für die theatrale Tradition hervorzuheben sind Pamphilus Gengenbachs reformatorische Flugschrift Diß ist ein iemerliche clag vber die Todten fresser (1522 gedruckt in Straßburg) und Niklaus Manuels Fastnachtspiel Vom Papst und seiner Priesterschaft (aufgeführt 1523 in Bern).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 259

Es besteht kein Zweifel daran, wer mit ‚unseren Predigern, Geistlichen und Ge­ lehrten‘ gemeint ist. Spätestens die Replik des Prelaten (Le prelat) weist die Po­ sition eindeutig als protestantisch aus, wenn er gegen die Auffassung der secte lutheriste (Gr 117) argumentiert.³²⁶ Auch die Verwendung des Stigmawortes caffar, das an anderer Stelle ebenfalls zur Bezeichnung der Altgläubigen gebraucht wird (vgl. Gr 89 f.), weist den Mauvais gentilhomme für das Publikum erkennbar als Protestanten aus, denn es handelt sich um ein gängiges antikatholisches Schmäh­ wort des französischsprachigen protestantischen Lagers.³²⁷ Deren fataler Irrtum wird wiederum im Weltgerichtsteil aufgedeckt. Zwei Seelen, die im Fegefeuer für ihre Sünden gebüßt haben, werden in das himmlische Paradies aufgenommen. Sie berichten von der reinigenden Wirkung des Purgatoriums (maintenent nous sommes laves / de nos faultes et grandz peches, fol. 53r; „jetzt sind wir gereinigt von unseren Verfehlungen und großen Sünden“) und heben mahnend das Schick­ sal seiner Leugner hervor: grandement estourdis furent / ceux qu’ont nye par leurs faulx dictz / le remede de purgatoire (fol. 53v; „Heftig erschüttert wurden diejeni­ gen, die durch ihre falschen Worte die Vergebung durch das Fegefeuer geleugnet haben“). Die unmittelbare Evidenz des Augenzeugenberichts wird weiter gestützt durch den Auftritt christlicher Autoritäten, die die Heilige Schrift zum Beweis der Existenz des Fegefeuers und der Notwendigkeit von Fürbitten auslegen. Beispiel­ haft sei die Rede des Apostels Saint Jaques mineur (Jakobus der Jüngere) genannt, der aus dem zweiten Makkabäerbuch (2Mkk 12,46) zitiert: des passages avons assez au vieux et nouveau testament qui nous monstrent apertement qu’il est bon prier pour les mortz voicy’ ung passage des plus fortz sancta et salubris est cogitatio pro defunctis exorare ut a peccatis solvantur sainccte ’et salubre ’est l’oraison que l’on faict en devotion pour les ames des trespasses

Wir haben genug Passagen im Neuen und Alten Testament, die uns klar und deutlich zeigen, dass es gut ist, für die Toten zu beten. Hier eine der aussagekräftigsten Stellen: Heilig und heilsam ist der Gedanke, für die Verstorbenen zu bitten, damit sie von ihren Sünden erlöst werden. Heilig und heilsam ist das Gebet, das wir in Andacht für die verstorbenen Seelen tun,

326 Chocheyras verweist darauf, dass im zeitgenössischen Sprachgebrauch der Begriff luthé­ riste undifferenziert zur Bezeichnung aller protestantischen Lager verwendet wurde (vgl. Ch 199). Belege für diese These liefert z. B. Marc Mudrak (vgl. Mudrak, Marc: Reformation und alter Glau­ be. Zugehörigkeiten der Altgläubigen im Alten Reich und in Frankreich (1517–1540), Berlin, Bos­ ton 2017 (Ancien Régime. Aufklärung und Revolution 43), S. 135 ff.). 327 Vgl. dazu Artus Desirés Ausführungen zur Einschätzung der Katholiken durch die Protes­ tanten (Desiré, Passevent parisien, S. XVI: telz sont tenuz d’eux comme séducteurs et abuseurs de peuple, et appellés Caffars, [. . . ]).

260 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

en remission de leurs peches qu’ilz ont ont commis en leur vivant (fol. 54v)

damit ihnen ihre Sünden vergeben werden, die sie zu ihren Lebzeiten begangen haben.

Neben der Ablehnung des Fegefeuers war auch die Heiligenverehrung ein zen­ traler Kritikpunkt der Reformatoren, der sie von der apostolischen Kirche trenn­ te und zu einem Merkmal ihrer konfessionellen Identität wurde.³²⁸ In JuMo for­ dert Balaam in protestantischer Manier die Abschaffung des Heiligenkults ein und knüpft daran den Aufruf zum Ikonoklasmus: oultre je dictz par mon decharge que l’on cesse tous propos vains scavoir est de prier les sainctz qui sont lassus en paradis car point ne scavent que tu dis ; d’aultre part dieu en est jaloux et se corrosse contre nous le prenant a grand vitupere car c’est diminuer sa gloire et l’honneur que l’on doibt a luy est attribue a aultruy ; pour ce changes tous ces usages ; abattes aussi les images que vous aves des sainctz et sainctes que sont de boys et pierres tainctes car ydolatre ce vous faict et delaisses³²⁹ le dieu parfaict pour adorer sa createure ;

Darüber hinaus bin ich befugt mitzuteilen, dass wir alle irrigen Annahmen aufgeben sollen, womit gemeint ist, zu den Heiligen zu beten, die dort oben im Paradies sind, denn sie wissen überhaupt nicht, was du sagst. Auf der anderen Seite ist Gott darüber eifersüchtig und erzürnt sich gegen uns, weil er es als Geringschätzung versteht, denn es bedeutet, seine Herrlichkeit zu verringern und dass die Ehre, die ihm gebührt, anderen beigemessen wird. Deshalb ändert all diese Bräuche! Zerstört auch die Bilder, die ihr von den Heiligen habt, die aus Holz und gefärbten Steinen gemacht sind, denn sie machen euch zu Götzendienern und lassen euch den vollkommenen Gott vernachlässigen, um seinem Geschöpf zu huldigen.

(Gr 91)

Das zentrale Argument für die Ablehnung der Heiligenverehrung des antichrist­ lichen Predigers stimmt mit einer Passage aus der Confessio Augustana variata

328 Während einige Reformatoren dem Gedenken an die Heiligen eine moralisch förderliche Funktion zusprachen, wurde ihre Rolle als Heilsvermittler allgemein verworfen (solus Christus) und an sie gerichtete Gebete abgelehnt (vgl. Bergunder, Michael u. a.: Heilige/Heiligenvereh­ rung. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religions­ wissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a., Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1539–1546, hier Sp. 1542). 329 Aufgrund inhaltlicher Kohärenz ist anzunehmen, dass hier die durch die Flexionsendung -s markierte 2. Pers. Pl. Ind. Akt. auf einen Kopierfehler des Schreibers zurückzuführen ist. In­ haltlich sinnvoll erscheint an dieser Stelle nur der Infinitiv. Da auch in der Handschrift B JuMos (Ms. Français 15063) gelegentlich die Endungen auf -r und -s verwechselt werden, kann an dieser Stelle ein Fehler ebenfalls als wahrscheinlich angenommen werden.

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

261

secunda (CA variata secunda) überein, die 1540 publiziert wurde und ein gemein­ sames Glaubensbekenntnis der Wittenberger und oberdeutschen Theologen dar­ stellt.³³⁰ Darin wird die Rolle der Heiligen als Mittler zwischen Gott und den Men­ schen mit der Begründung abgelehnt, sie verringere die Herrlichkeit Gottes, da in der Anbetung der verstorbenen Heiligen eine ungerechtfertigte Übertragung der Allmacht Gottes auf jene Menschen erfolge. Einziger Mittler zwischen Gott und den Menschen sei Christus (solus Christus), dessen Herrlichkeit durch die Heili­ genverehrung verdunkelt werde.³³¹ Die Verwendung der gleichen Argumentation in der Rede Balaams spricht dafür, dass der bzw. die Schreiber JuMos die Con­ fessio Augustana variata secunda kannten oder mindestens mit der in ihr entfal­ teten Beweisführung vertraut waren und so dem antichristlichen Prediger eine protestantische Argumentation in den Mund legen konnten. Einem weniger theo­ logisch gebildeten Publikum dürfte der Bezug spätestens dann deutlich geworden sein, wenn Balaam die Zerstörung sämtlicher Heiligenbilder als konsequente Fol­ gerung aus der vorgängigen Argumentation präsentiert. Obwohl sich die Reforma­ tion in der Maurienne nicht durchsetzen konnte und es weder in Modane noch in umliegenden Orten zu ikonoklastischen Handlungen kam, waren ihre Bewohne­ rinnen und Bewohner zweifellos über die Bilderstürme – vor allem im nahegele­ genen Chablais, Genf und in der Eidgenossenschaft – informiert.³³² Es ist folglich

330 Anlässlich der von Karl V. einberufenen Religionsgespräche überarbeitete Philipp Melanch­ thon eine bereits bestehende lateinische Fassung (Confessio Augustana variata prima, 1533) der deutschen Confessio Augustana (1530). Die lateinische Fassung aus dem Jahr 1540 enthält Ände­ rungen auf der Basis der Wittenberger Konkordie vom 28. Mai 1536, die eine Übereinkunft zwi­ schen dem Wittenberger und dem oberdeutschen Lager dokumentierte (vgl. Peters, Christian: Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana). In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Hand­ wörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a., Bd. 1, Tübingen 1998, Sp. 953–956, hier Sp. 956; Die Confessio Augustana – Texte und Kontexte. Bd. 1. Von den altkirchlichen Symbolen bis zu den Katechismen Martin Luthers. Hrsg. von Volker Leppin, Göttingen 2014, S. 119). 331 Vgl. CA variata secunda XXI, Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK) 138, 24–30, zitiert nach Leppin, Die Confessio Augustana, S. 138: Econtra vero taxanda et ex Ecclesia prorsus eiicienda est consuetudo invocandi sanctos homines, qui ex hac vita decesserunt, quia hic mos gloriam soli Deo debitam transfert ad homines, tribuit mortuis omnipotentiam, quod sancti aspiciant mortis cordium, tribuit item mortuis officium mediatoris Christi et haud | dubie ob­ scurat gloriam Christi. Ideo totum morem invocandi sanctos homines, qui ex hac vita discesserunt, damnamus et fugiendum esse censemus. 332 Ikonoklastische Handlungen im Chablais sind für das Jahr 1536 belegt (vgl. Wyrill, Réfor­ me, S. 67 ff., 75 f.). Ab 1523 kam es zur Zerstörung von Bildern in Zürich, 1535 folgte Genf und während der Hugenottenkriege (1562–1598) wurden im französischen Sprachgebiet wiederholt sakrale Bilder und Bauten beschädigt und zerstört (vgl. Gladigow, Burkhard u. a.: Bilderkult. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissen­

262 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

anzunehmen, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer Balaams Aufruf zum Bil­ dersturm mit dem Protestantismus assoziierten und mit einem tagespolitischen Geschehen in Verbindung brachten. Die Charakterisierung der antichristlichen dramatis personae als Protestan­ ten erfolgt neben der Thematisierung von mit der Reformation verknüpften In­ halten auch anhand sprachlicher und kinesischer Zeichen, die den Figuren einen protestantischen Habitus³³³ verleihen. Mit anderen Worten: Indem die Darsteller Verhaltensweisen zeigen, die als protestantisch kodiert sind, kann das Publikum sie dem Kollektiv der Reformatoren zuordnen, ohne dass die explizite Nennung spezifisch protestantischer Inhalte nötig wäre. Dieses Verfahren lässt sich in der Szene des Streitgesprächs zwischen den Predigern des Antichristen und den bei­ den christlichen Geistlichen – Le catholique und L’archevesque – beobachten. Annagoras begrüßt die beiden Christen und kündigt an, er und seine Gefährten seien zum Gespräch gekommen, um ihnen zu zeigen, dass sie nach katholischer Art predigen würden (nous conferons avecque vous / aux fins que vous saches que nous / prescherons catholiquement, Gr 88).³³⁴ Im Folgenden legt er dar, warum

schaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a. Bd. 1, Tübingen 1998, Sp. 1562–1574, hier Sp. 1574). 333 Im Sinne des Habitus-Konzepts Pierre Bourdieus wird Habitus als „Dispositionssystem so­ zialer Akteure“ (Schwingel, Markus: Bourdieu zur Einführung. 1. Aufl., Hamburg 1995, S. 53) verstanden, das auf der Basis gesellschaftlicher Prägung Strukturen sozialer Praktiken hervor­ ruft und zugleich das System ihrer Bewertung bildet (vgl. Bourdieu, Pierre: La distinction. Cri­ tique sociale du jugement, Paris 1979, S. 190: „l’habitus est en effet à la fois principe générateur de pratiques objectivement classables et système de classement [principium divisionis] de ces pra­ tiques“). Besonders relevant für die Wirkungsweise des Schauspiels ist die Verankerung des Ha­ bitus im Körper. Bourdieu bezeichnet diese Dimension an einigen Stellen als Hexis, die er als ei­ ne Form der körperlich sichtbaren, objektiven Verstetigung des Habitus beschreibt, welche auch auf das principium divisionis zurückwirkt: „L’hexis corporelle est la mythologie politique réalisée, incorporée, devenue disposition permanente, manière durable de se tenir, de parler, de marcher, et, par là, de sentir et de penser.“ (Bourdieu, Pierre: Le sens pratique. Paris 1980, S. 117). Konkret bedeutete dies für das Schauspiel, dass durch kinesische und sprachliche Zeichen ein bestimm­ ter Habitus mimetisch erzeugt werden kann, der es dem Publikum ermöglicht, die jeweilige Figur einer bestimmten gesellschaftlich-religiösen Gruppe zuzuordnen. 334 Obwohl die Maurienne katholisch blieb, konnten die Obrigkeiten protestantische Einflüsse aufgrund der geographischen Nähe zum Chablais, Genf und der Eidgenossenschaft nicht gänz­ lich unterbinden. Immer wieder gelang es zunächst unerkannten protestantischen Predigern in katholischen Gemeinden reformatorische Inhalte zu lehren (vgl. Wyrill, Réforme, S. 19 und Gros, Adolphe: Histoire de Maurienne. Bd. 2, Chambéry 1946, S. 146–149). Die Bedrohung durch inkognito agierende Prediger wurde in der Maurienne als äußerst real empfunden und zum Teil mit groß angelegten Ermittlungen beantwortet (vgl. hier S. 148 f.). In diesem Zusammenhang kann auch die Aussage Annagoras‘, katholisch predigen zu wollen (und sich damit die Erlaubnis

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 263

Jesus Christus ein Betrüger und der Antichrist der wahre Messias sei. Seine Aus­ sagen stützt er dabei durch das Zitieren biblischer Passagen und liturgischer Ge­ sangstexte: Parate viam domini rectas facite semitas dei Esaye escript ce tiltre en son quarantiesme chappitre parlant en saincte prophetie de la venue du messie et je le vous veulx reciter afin de vous amonester que vous debves fere honneur a la venue du sauveur et aussi exequuter sa loy car je vous declayre pour vray qu’il regnera trihumphement a jamais pardurablement en impériale puissance ; donc l’escript nous faict remembrance : Ecce adveniet dominator dominus et regnum in manu ejus potestas et imperium. [. . . ] Cestuy seigneur est ja venu il est ja sur terre regnant il est ja venu fort et puissant pour garder comme bon pasteur ses troppeaux de nuict et de jour que les loupz ne le puissent prendre et pour assembler et defendre ses agnos comme le prophete audict chappitre le repete en disant comme bien le scet: Sicut pastor gregem suum pascet in brachio suo congregabit agnos Esaye a ce propos parle du sauveur Antechrist et si quelqu’un d’entre vous dict qu’il est venu ja de longtemps a cella point je n’y consens

Bereitet dem Herrn den Weg, macht gerade die Pfade Gottes. Jesaja schreibt diese Passage in seinem vierzigsten Kapitel, in dem er in heiliger Prophezeiung von der Ankunft des Messias spricht. Und ich will es für euch rezitieren, um euch zu ermahnen, dass ihr voll Ehrfurcht die Ankunft des Heilands erwarten und auch sein Gesetz befolgen sollt, denn ich verkündige euch wahrhaftig, dass er ruhmreich herrschen wird, für immer und ewig, mit herrschaftlicher Macht. Deshalb lässt uns die Schrift gedenken: Siehe, es kommt der Herrscher, der Herr, und die Herrschaft ist in seiner Hand, und die Macht und das Reich. [. . . ] Dieser Herr ist schon gekommen, er regiert schon auf Erden, er ist schon gekommen, stark und mächtig, um als guter Hirte seine Herden Nacht und Tag zu hüten, damit die Wölfe sie nicht holen können und um seine Lämmer zu versammeln und zu verteidigen, wie es der Prophet im genannten Kapitel wiederholt, indem er wohlwissend sagt: Wie ein Hirte wird er seine Herde weiden, in seinem Arm wird er die Lämmer versammeln. Jesaja spricht mit diesen Worten über den Heiland Antichrist, und wenn jemand von euch sagt, dass er schon vor langer Zeit gekommen sei, stimme ich dem ganz und gar nicht zu,

zu erschleichen, predigen zu dürfen), als Teil des inszenierten protestantischen Habitus verstan­ den werden.

264 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

car encoures que l’on vous die que ce Jesus filz de Marie fust le sauveur et Dieu promis ne le croyes point mes amis car c’estoyt un grand abuseur un droict caphart et enchanteur qui tout le monde a deceu. [. . . ] (Gr 89 f.)

denn auch wenn man euch sagt, dass dieser Jesus, Marias Sohn, der Heiland und prophezeite Gott sei, glaubt es nicht, meine Freunde, denn er war ein großer Betrüger, ein rechter Heuchler und Zauberer, der alle Welt getäuscht hat. [. . . ]

Das Verhalten Annagoras’ entspricht exakt dem gängigen Vorwurf von katholi­ scher Seite, das sola scriptura-Prinzip der Reformatoren sei ein gefährliches Täu­ schungsmanöver, weil sie den Sinn der Heiligen Schrift absichtlich oder aus man­ gelnder Expertise entstellten, um wenig gebildete Laien zu verführen.³³⁵ In seiner 1562 gedruckten Schrift Les Ruses et finesses du diable pour taschir a abolir le saint sacrifice de Iesus Christ wirft der französische Theologe Gentian Hervet den Re­ formatoren etwa vor, die Worte der Heiligen Schrift mutwillig zu verfälschen und aus dem Zusammenhang zu reißen, um die einfachen Leute davon zu überzeu­ gen, dass sie leicht auszulegen sei.³³⁶ Ein ähnlicher Vorwurf wird in JuMo von der Figur Saint Paul formuliert, die eingangs zitiert wurde. Im Gerichtsteil über die schlechten Geistlichen kommt das Thema erneut zur Sprache.³³⁷ Verkörpert wird dieser protestantische Habitus durch den antichristlichen Prediger Annagoras. Er beginnt seine Rede mit einem biblischen Zitat, das er durch die Verwendung der lateinischen Sprache und die Nennung der Bibelstelle explizit als solches kenn­

335 Insbesondere in den 1560er Jahren zeugen die Drucke volkssprachlicher Polemiken, die sich vor allem an ein Laienpublikum richten, von der Rekurrenz des Motivs. Französische Theologen wie Gentian Hervet, Antoine Du Val und François Le Picart stellen die Reformatoren mit der Be­ gründung als besonders gefährlich dar, dass sie in verfälschender Weise aus der Heiligen Schrift zitierten und so für die theologisch unerfahrenen Laien überzeugend wirkten (vgl. Sypher, The Image of Protestantism, S. 66 und Taylor, Soldiers of Christ, S. 220). 336 Vgl. Sypher, The Image of Protestantism, S. 66. 337 Saint Matthieu klagt den ersten Mauvais pasteur (schlechten Pastor) an: faulce avez les scainctz escriptz / pour maintenir les appetis / de la chair et non de l’esprit (fol. 37r; „Ihr habt die Heilige Schrift verfälscht, um die Gelüste des Fleisches und nicht des Geistes zu fördern“). In diesem Zusammenhang interessant ist, dass der Vorwurf, die Heilige Schrift zu verfälschen, in früheren Spielen gegen die Juden gerichtet wird. So leert in JuBe ein Engel in der Szene der Aus­ gießung der Zornschalen Gottes seine Schale über die Juden, qui avez Escriptures / Seur Jhesucrist faites obscures, / Qui avez par vos faux diffames / En enfer mis plus de mil ames (V. 1535–1538; „die ihr die Schriften über Jesus Christus verfälscht habt, die ihr durch eure falschen Behauptungen mehr als tausend Seelen in die Hölle gebracht habt“). Das Argumentationsmuster wird im Kon­ text der konfessionellen Auseinandersetzungen auf ein anderes Kollektiv, das der Protestanten, übertragen.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 265

zeichnet. Scheinbar kohärent schließt er daran auf Französisch die Verkündigung der Ankunft des Messias an. Das Ecce adveniet dominator dominus dürfte dem Publikum aus dem Messzusammenhang vertraut gewesen sein, da es einen In­ troitus, den begleitenden Gesang beim Einzug des Altardienstes, darstellt, dessen umfangreiche Überlieferung von einer großen Verbreitung zeugt.³³⁸ Der Prediger des Antichristen gibt seinen Worten auf diese Weise einen orthodoxen Anstrich, der in scharfem Kontrast zu seinen folgenden Ausführungen steht. Insbesonde­ re seine Auslegung der Hirten-Metapher aus Jes 40,11 besitzt einen satirischen Charakter, da sie auch in französischsprachigen katholischen Polemiken gegen die Protestanten häufig Verwendung fand. Der Wolf im Schafspelz, vor dem es die Herde zu hüten gilt, war darin freilich der Protestant.³³⁹ JuMo lässt den Wolf selbst auftreten und die gleiche biblische Referenz zu seiner eigenen Maskerade nutzen. Annagoras und seine Gefährten spielen sich als Experten der Heiligen Schrift auf, um die katholisch-christlichen Figuren (Le catholique, L’archevesque) zu diskre­ ditieren und ihre eigene Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Balaam weist die Einwände des Archevesque lässig zurück, indem er ihm eine mangelnde Bibelkenntnis un­ terstellt (Regardes que dict l’escripture / si jamais en fistes lecture., Gr 105; „Schaut, was die Schrift sagt, solltet Ihr sie jemals gelesen haben.“). Die Orientierung al­ lein am biblischen Wort (sola scriptura), verbunden mit dem Anspruch auf eine besondere Expertise in dessen Auslegung sind protestantische Charakteristika, die die Prediger des Antichristen verkörpern und auf diese Weise einen protestan­ tischen Habitus annehmen.³⁴⁰ Zugleich wird damit das klassische Motiv der ‚fal­ schen Propheten‘ aus der Antichrist-Tradition auf die Protestanten übertragen. Ihr desaströser Einfluss auf die ‚einfachen Leute‘ zeigt sich erneut im Weltgerichtsteil.

338 Die Überlieferung von Text und Melodien kann in der online-Datenbank antiphonale syn­ opticum eingesehen werden (Antiphonale Synopticum. Unter der Leitung von Harald Buch­ inger. Ein Projekt der Universität Regensburg, gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung. http: //gregorianik.uni-regensburg.de/ [5. November 2018]), die mit Cantus, der digitalen Datenbank für lateinischen Kirchengesang verknüpft ist, welche für das Ecce advenit dominator dominus 86 Zeugen auflistet (Cantus. A Database for Latin Ecclesiastical Chant – Inverntories of Chant Sources. Unter der Leitung von Debra Lacoste (2011–), Terence Bailey (1997–2010) und Ruth Steiner (1987–1996). Web developer: Kann Koláček (2011–). http://cantus.uwaterloo.ca/ [6. März 2019]). 339 Vgl. Sypher, The Image of Protestantism, S. 65: „‚The thing to fear most,‘ Hervet warned, ‚is that the wolf will disguise himself, and being covered in sheep’s clothing will enter the sheep­ fold.’” Vgl. auch Taylor, Soldiers of Christ, S. 220. 340 Der gängige Vorwurf von reformatorischer Seite, katholische Kleriker hätten eine schlechte Bibelkenntnis und verließen sich zu sehr auf Glossen und Kommentare, findet sich unter ande­ rem auch in antikatholischen Spielen, wie zum Beispiel in der Farce des Théologastres (1523), in der die Sorbonner Theologen auf die Heilige Schrift schimpfen und zugleich bekennen, diese nie gelesen zu haben (vgl. dazu Holl, Tendenzdrama, S. 115f).

266 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

Die dort verurteilten schlechten Geistlichen sind deutlich erkennbar als Überläu­ fer zum Protestantismus konstruiert. Sie verteidigen sich damit, nach der fasson de maintanent / comme sembloit qu’il fust requis (fol. 36v; „nach der jetzigen Art, wie es gefordert zu sein schien“) gepredigt zu haben und dass ihnen durch die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache deren eigentlicher Sinn verschlossen geblieben sei: Et quant a moy certes je pense que la bible’ en nostre langage nous porte fort grand domage car nous n’avons peu bien comprendre le vray sens que debvions entendre pource debvons estre’ excusez (fol. 37r)

Und was mich angeht, ich denke gewiss, dass die Bibel in unserer Sprache uns großen Schaden bringt, denn wir konnten nicht richtig den wahren Sinn verstehen, den wir hören sollten, deshalb muss man uns entschuldigen.

Der Eindruck von ungebildeten Laien, die sich zu Unrecht in der Rolle Geistlicher versuchen, wird durch die Repliken der Apostel Saint Symon und Saint Jude Tha­ dee zusätzlich verstärkt. Ohne richtig lesen zu können, hätten sie die Heiligen und Sakramente sowie die guten Pastoren in Misskredit gebracht, wirft ihnen Saint Sy­ mon vor (vgl. ebd.), und auch Saint Jude Thadee stellt unter Bezugnahme auf Mt 15,14 das Predigtamt für Laien als große Dummheit dar: Si cæcus cæcum ducat ambo in foveam cadunt que doibt precher ung cordonnier ou bien quelcun de tel mestier qui n’entend non plus du latin que lasne qui s’en va’ au molin tel conduyct droit a perdition tous ceulx qui sont de sa fasson qui de leurs ames nont soulci (fol. 37r–37v)

Wenn ein Blinder einen Blinden führt, fallen beide in die Grube. Was soll ein Schuster predigen, oder jemand aus einem solchen Beruf, der nicht mehr Latein versteht als der Esel, der zur Mühle geht? So etwas führt alle diejenigen geradewegs in die Verdammnis, die von seiner Art sind und sich um ihre Seelen nicht scheren.

Sowohl die Eigenkommentare der schlechten Geistlichen als auch die Fremdkom­ mentare der Apostel charakterisieren die fehlgeleiteten Prediger als einfache Leu­ te, die auf die protestantischen Wölfe hereingefallen sind und somit ihr Seelen­ heil verspielt haben. Damit einher geht die Disqualifizierung eines großen Teils der Protestanten als Stümper, die den Aufgaben des geistlichen Amtes nicht im mindesten gewachsen sind. Die Überblendung von antichristlichem und protestantischem Verhalten er­ folgt des Weiteren über den finanziellen Bereich. Wie bereits unter dem Punkt

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

267

‚Habgier‘ näher erläutert (vgl. 3.1.3.2), zählt Bestechung zu den traditionellen Mit­ teln des Antichristen, um Anhänger zu gewinnen, und ist auch in JuMo ausgestal­ tet. Hier erfolgt allerdings keine Verknüpfung der Juden mit dem Thema, wie dies in LuA zu beobachten ist, sondern das antichristliche Prinzip der Bestechung wird als perfide Strategie entlarvt, die hinter der protestantischen Ablehnung peku­ niärer frommer Werke (Ablasshandel, Stiftungen usw.) steckt. Die gängige Kritik der Reformatoren, die Kirche bereichere sich durch das Schüren falscher Ängste und die vermeintliche Käuflichkeit des Heils an den Menschen, wird auch in Ju­ Mo von als protestantisch markierten dramatis personae formuliert (vgl. die Rede des Mauvais gentilhomme in Gr 116). Ein gegensätzliches Verhalten legen die anti­ christlichen Propheten an den Tag: Sie lehnen Zahlungen für ihre heilbringenden Taten rundheraus ab. Balaam weist entschieden das Geld des Schwerhörigen (Le sourd) zurück, welches dieser ihm für seine Heilung anbietet (Poinct cela, vous vous abuses, / ja ne vollons vostre pecune, Gr 98; „Auf keinen Fall, Ihr täuscht Euch, keineswegs begehren wir Euer Geld.“) und antwortet auf sein wiederhol­ tes Angebot: Ja ne ferons en verite Penses vous que par ces myracles veuillions estre simoniacles ? A dieu ne plaise, en verite ; nous le faisons pour charite. Gardes vostre bien et chevance et ayes de nous soubvenance ; au lieu de prendre vostre bien je vous departiray du mien [. . . ] Nous ne sommes pas en ce lieu pour vendre la grace de dieu comme font bien plusieurs cafars de ces chrestiens à tous azars lesquelz diaboliquement par art et par enchantement abusent le monde ainsi (Gr 100)

Das werden wir wahrhaftig niemals tun. Denkt Ihr, dass wir uns durch diese Wundertaten der Simonie schuldig machen wollen? Das möge uns bei Gott nicht einfallen, wahrlich! Wir tun es aus Nächstenliebe. Behaltet Euer Gut und Vermögen und behaltet uns gut in Erinnerung. Anstatt Euer Gut zu nehmen, werde ich Euch von meinem geben. [. . . ] Wir sind nicht an diesem Ort, um die Gnade Gottes zu verkaufen, wie es so einige Heuchler dieser Christen bei jeder Gelegenheit tun, welche teuflisch durch Raffinesse und Zauberei so die Welt betrügen.

Balaams Distanzierung von der Käuflichkeit kirchlicher Ämter und Leistungen so­ wie göttlicher Gnade imitiert klar ersichtlich die protestantische Position und de­ kuvriert diese im gleichen Zug als Maskerade, hinter der sich die klassische Stra­ tegie des Antichristen verbirgt. Denn das Handeln der antichristlichen Propheten entspringt keinesfalls aus Nächstenliebe, sondern aus purem Kalkül, wie bereits im ersten Viertel des ersten Spieltags JuMos deutlich wird. Bevor der Antichrist

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seine Prediger entsendet, berät er sich mit ihnen über die Vorgehensweise und Balaam empfiehlt ihm: si nous vollons le monde avoir ne tachions point leur bien avoir car c’est cella qui les empire et leur fait souffrir martyre quand de leur bien leur fault donner (Gr 50)

Wenn wir uns die Welt zu eigen machen wollen, sollten wir nicht versuchen, uns ihren Besitz anzueignen, denn das ist es, was sie beherrscht, und es quält sie, wenn sie von ihrem Besitz etwas abgeben müssen.

Indem die Prediger des Antichristen die protestantische Ächtung materiellen Missbrauchs durch die Kirche imitieren und sie zugleich mit antichristlichen Mo­ tiven verknüpfen, denunziert JuMo die protestantische Position als Täuschungs­ manöver, hinter dem sich der Wunsch nach Machtausweitung durch Bestechung verbirgt. Eine besonders ironische Note erhält die Selbstdarstellung der Prophe­ ten durch den offensichtlichen Kontrast, in dem sie zu ihren Namen steht, denn Balaam und Giesy sind biblische Gestalten, die in der mittelalterlichen Tradition zu stereotypen Repräsentanten der Bestechlichkeit wurden.³⁴¹ Die Überblendung von Antichristen und Protestanten durch die Imitation eines protestantischen Habitus zeigt besonders deutlich, dass der GleichheitsTopos hier stets in zwei Richtungen wirkt: Einerseits wird die Antichrist-Tradition mit diskursivem Wissen³⁴² über protestantische Positionen angereichert, die heu­ te anhand intertextuell rekurrenter Schlagwörter, Motive usw. fassbar sind. Auf diese Weise gelingt es JuMo, die Reformatoren als Bedrohung kohärent in das eschatologische Narrativ einzubinden. Andererseits wirkt die Antichrist-Traditi­ on auch in die historische Gegenwart zurück. Die Identifikation protestantischer Inhalte und Verhaltensweisen mit klassischen Bestandteilen der Antichrist-Tra­ dition suggeriert, dass auch das Handeln zeitgenössischer Reformatoren auf eine antichristliche Agenda zurückgeführt werden kann. JuMo etabliert so über den Gleichheits-Topos den Antichrist-Stoff als Deutungsschablone für das historische Zeitgeschehen.

341 Vgl. dazu Kap. 3, Anm. 221. 342 Die Begriffsverwendung folgt einem diskurslinguistischen Wissensverständnis. Diesem zu­ folge ist Wissen „nicht Erkenntnissicherung zeitloser, ontologischer Fakten, sondern ein sozial verhandeltes Gut der Vergesellschaftung, das Resultat von Vereinbarungen auf der Grundlage historischer, gegenseitiger Zusagen“ (Spitzmüller/Warnke, Diskurslinguistik, S. 41). Diskursi­ ves Wissen ist demnach das Resultat eines sozialen Aushandlungsprozesses, der historisch und machtgebunden ist, und hat folglich grundsätzlich einen prozessualen Charakter (vgl. hier S. 43).

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 269

3.1.3.2 Wesensart-Topos Wie bereits in Abschnitt 1.1.3 erläutert, dient der Wesensart-Topos dazu, von der charakterlichen Disposition einer Person oder Personengruppe auf ein daraus re­ sultierendes Verhalten zu schließen. In Bezug auf das Kollektiv der Juden wurde gezeigt, wie der Wesensart-Topos verwendet wird, um sie als grundsätzlich we­ sensfremd aus der christlichen Gemeinschaft auszugrenzen. Der gleiche Mecha­ nismus ist in JuMo zu beobachten und kann parallel zum antijüdischen Wesens­ art-Topos wie folgt formuliert werden: Weil die Protestanten die Wesensart X besitzen, stellen sie eine Bedrohung für die Christen dar (und die Aufführung des Schauspiels ist folglich eine notwendige Ver­ teidigungsmaßnahme). Die Unterstellung einer spezifisch protestantischen Wesensart erleichtert die Wahrnehmung einzelner Vertreter der Reformation als gegnerisches Kollektiv und befördert so das generalisierende Feindbild, das JuMo konstruiert. Die Zu­ schreibung einer Eigenschaft hat sich auf Basis der Lektüre als besonders domi­ nant erwiesen. Triebhaftigkeit Indem JuMo verschiedene protestantische Lehrinhalte unter das ‚Gesetz der Frei­ heit‘ (loi de liberté) subsumiert, suggeriert das Spiel, weltliche Gelüste seien die Wurzel des Protestantismus. Das Gesetz, welches alle Freiheiten erlaubt und nur das Unliebsame verbietet, erscheint als Resultat eines triebhaften Wesens, das alle Protestanten vereint. In der Darstellung JuMos stellt die Triebhaftigkeit eine eminente Bedrohung für die christliche Gemeinschaft dar, weil sie zum Einbruch der gesellschaftlichen Ordnung führt und darüber hinaus die Hoffnung auf jensei­ tiges Heil für immer zerstört. Über Fremdkommentare christlicher Figuren werden die Prediger des Antichristen, welche den Protestantismus verkörpern, wieder­ holt als lüstern charakterisiert. In diesem Zusammenhang finden sich regelmä­ ßig Verweise auf das – negativ konnotierte – Wortfeld ‚Freiheit‘ (liberté). Seine Bestandteile erfüllen die Funktion von Stigmawörtern, die das triebhafte Wesen der Protestanten aufrufen. Der ägyptische König (Le roy d’Egipte) klagt, die anti­ christlichen Prediger verführten rechtschaffene Leute, indem sie sich der Freiheit bedienten (Ilz contrefont les gens de bien / usantz tousjours de liberte, Gr 124). Die Figur des Archevesque spezifiziert, dass dies die Mittel und Waffen seien, die die­ jenigen ins Wanken brächten, die ihren fleischlichen Gelüsten folgten (Ce sont les armes et moyens / de fere ceulx la varier / qui suyvent leur plaisir charnel, ebd.). Freiheit wird so als Zügellosigkeit hinsichtlich fleischlicher Laster ausgelegt. Auch die Figur des Catholique bedient sich zur Charakterisierung der antichristlichen

270 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

Propheten des Wortfelds ‚Freiheit‘ und verbindet es mit Verführung und ewiger Verdammung: Grandz libertins aussi flateurs qui par doulx propos seduiront beaucoup de gens et meneront au gouffre infernal leurs ames (Gr 125)

Große Libertins, auch Schmeichler, die durch süße Worte viele Leute verführen werden und ihre Seelen in den Höllenschlund bringen werden.

Besonders deutlich äußert sich die Auslegung von Freiheit als Triebhaftigkeit im Gespräch zwischen der Äbtissin (L’abesse) und einigen Nonnen im Kloster, das die unmittelbare Bedrohung thematisiert, die für ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Seelenheil von den Predigern des Antichristen ausgeht. Jene werden von der Äbtissin (L’abesse) als Verführer und Schmeichler charakterisiert (tant de su­ borneurs, / de predicantz et abuseurs / nous frequentent par flaterie, Gr 120; „so viele Verführer, Prädikanten und Betrüger schmeicheln sich bei uns ein“), vor de­ nen die Nonnen ihre Jungfräulichkeit schützen müssen: Regardes aussi d’abondant fere tousjours quelque bonne euvre que l’ennemy point ne vous treuve oiseuses pour vous fere choir au maudict peche de la chair car c’est alors qu’il se travaillie fere la guerre et bataillie ; (Gr 119 f.)

Achtet überdies auch darauf, immer einige gute Werke zu tun, damit der Feind euch keinesfalls untätig vorfindet, um euch dazu zu bringen, der bösen Sünde des Fleisches zu erliegen, denn dort ist es, wo er Krieg und Schlacht austragen will.

Der Körper der Nonnen wird durch die Kriegsmetaphorik zum Schlachtfeld der Protestanten und ihre Defloration zur Niederlage der christlichen Ordnung. Dass auch ihr jenseitiges Heil auf dem Spiel steht, wird in der Exklamation der zweiten Nonne (La 2° nonain) deutlich, die die Jungfrau Maria um Beistand bittet, um auf dem rechten Weg zu bleiben und so das Himmelreich zu erlangen (faictz nous te­ nir le droict chemin / pour avoir le regne des cieulx, Gr 121). Der falsche Weg, den die Propheten des Antichristen predigen und gegen dessen verführerische Anzie­ hungskraft es sich zu wappnen gilt, wird von der dritten Nonne (La 3° nonain) klar benannt. Es ist la loy de liberte (ebd.). Auch im Gespräch der geistlichen Frauen ist das protestantische Gesetz der Freiheit folglich Ausdruck ungezügelter, lasterhaf­ ter Sexualität. Diese Charakterisierung der Reformatoren bestätigt sich in Eigen­ kommentaren protestantischer Figuren. Balaam beschreibt im Gespräch mit dem Antichristen die Nonnen als deeses er³⁴³ muses / pucelles joulies recluses (Gr 131;

343 Es handelt sich zweifellos um einen Schreibfehler. Anstelle des -r ist ein -t zu lesen (et).

3.1 Der Bedrohungs-Topos |

271

„Göttinnen und Musen, schöne abgeschiedene Jungfrauen“), die zu verführen ei­ nes jeden Mannes Traum sei (vgl. ebd.). Als daraufhin der Antichrist den Wunsch äußert, die Nonnen zu erobern, lässt Giesys Antwort darauf schließen, dass er bereits Erfahrung mit der Verführung und gewaltsamen Eroberung von Nonnen hat: Cella ne vous est point costable vous en aures facillement ne fault que flater seullement car facilles sont a gaignier et puis³⁴⁴ celles veullent groignier prendre les fault en despit d’eulx (Gr 132)

Das ist für Euch überhaupt nicht schwer, Ihr werdet sie leicht besitzen, man muss ihnen nur schmeicheln, denn sie sind leicht zu erobern; und jene, die murren wollen, muss man gegen ihren Willen nehmen.

Zudem verwenden auch die Prediger des Antichristen Lexeme aus dem Wortfeld ‚Freiheit‘, um – im Sinne eines Fahnenwortes – auf ihre ungezügelte Lebens­ weise zu referieren. Im Streitgespräch mit dem Catholique und dem Archeves­ que stellt Giesy in Aussicht, auch die beiden Christen würden der Herrschaft des Antichristen zustimmen, hätten sie erst einmal sein Gesetz ‚gekostet‘: mais quand vous aures bien goste / la noble loy de liberte / ce vous sera tant amyable. (Gr 93; „aber wenn ihr das edle Gesetz der Freiheit ausgekostet haben werdet, wird es euch ganz versöhnlich stimmen“). Im Weltgerichtsteil JuMos sind es die Anhänger des Antichristen, die nun die Freiheit in negativem Sinne als Grund für ihre Verdammung thematisieren. Die Wollust verkörpernde dramatis perso­ na Luxure, die auch den Namen Pallhardise trägt, verflucht ihren ausufernden Lebensstil, der sie in die Hölle gebracht hat, denn par trop grande liberte / j’ay abandonne chastete (fol. 49r; „durch zu große Freiheit habe ich die Keuschheit aufgegeben“). Freiheit in Opposition zu Keuschheit wird hier mit sexueller Aus­ schweifung identifiziert. Auch die Figur des Apostaten nennt als Motivation für den Übertritt zum antichristlichen Gesetz die Aussicht, den eigenen Gelüsten folgen zu können und beklagt diese Torheit im Augenblick der Verurteilung zu ewigen Höllenqualen:

344 Aufgrund inhaltlicher Kohärenz ist anzunehmen, dass et puis an dieser Stelle eine enume­ rative Funktion zukommt. Würde puis als temporales oder kausales Adverb verstanden, müsste celles auf die verführungswilligen Nonnen bezogen werden, was der Logik wiederspräche, denn dasselbe Subjekt kann nicht zugleich willig und unwillig sein. Die enumerative Lesart verlangt allerdings die Ergänzung des Relativpronomens qui (celles qui veullent groignier).

272 | 3 Bedrohungsszenarien als instruktive Persuasionsstrategien

ne suys je pas sur tous meschant d’avoir laisse mon bon couvent pour me rendre droit en enfer avec le dyable ’et lucifer je pouvois estre ’avec les anges et donner a dieu grandz loanges et maintenent je suis damne o malereux mal fortune qu’ay voulu suyvre mon desir (fol. 61v)

Bin ich nicht der Armseligste von allen, weil ich meine Klostergemeinschaft verlassen habe, um mich geradewegs in die Hölle zu begeben, mit dem Teufel und Luzifer? Ich konnte bei den Engeln sein und Gott große Ehre erweisen, und jetzt bin ich verdammt, o ich Elender, Unglückseliger, der ich meinem Verlangen folgen wollte!

Die Aussagen christlicher und antichristlicher Figuren konstruieren folglich un­ ter häufiger Verwendung des Wortfelds ‚Freiheit‘ Triebhaftigkeit als zentrale We­ sensart, welche nicht nur den Predigern des Antichristen unterstellt wird, son­ dern auch all jenen, die sich dem Protestantismus zuwenden. In der Konsequenz ist jede Person, die mit reformatorischen Lehren sympathisiert, als Libertin auf­ zufassen, der einen Vorwand sucht, um seine Lüsternheit auszuleben.³⁴⁵ 3.1.3.3 Zusammenfassung Eschatologische Spiele wurden auch in der bewegten Zeit des sechzehnten Jahr­ hunderts weiterhin aufgeführt. Der traditionelle Stoff blieb dabei von den inter­ konfessionellen Auseinandersetzungen nicht unberührt. Während einige Schau­ spiele keine Strategie der offenen Konfrontation verfolgen, zeigt die Analyse JuMos, wie unter geänderten historischen Bedingungen ein weiterer BedrohungsTopos in das apokalyptische Szenario integriert wird, der sich aus katholischer Sicht gegen ein konstruiert monolithisches protestantisches Kollektiv richtet. Die Untersuchung identifiziert zwei antiprotestantische Bedrohungs-Topoi, durch die JuMo konfessionalisierende Züge erhält. Der Gleichheits-Topos fordert auf der Basis eines übereinstimmenden Gesetzes die Gleichsetzung von Anti­ christ und Protestanten ein. Die Übereinstimmung wird durch sprachliche und kinesische Zeichen ausgestaltet. Antichristliche Figuren präsentieren zentra­

345 Die Argumentation, insbesondere lasterhaft lebende Menschen schlössen sich bereitwillig den Reformatoren an, findet sich auch in französischen kontroverstheologischen Schriften, wie etwa in Artus Desirés Antwort auf Théodore de Bèzes hocherfolgreiche, in neun Auflagen erschie­ nene Satire des Passavant (Epistola magistri Benedicti Passavantii etc.). Im Vorwort seiner Schrift Passevent parisien respondant à Pasquin romain. De la vie de ceux qui sont allez demourer à Ge­ nève, et se disent vivre selon la réformation de l’Évangile etc. (Desiré, Passevent parisien, S. XV), schreibt Desiré : Et ces hérétiques font tout au contraire, induisant chacun à vivre en toute liberté et volupté effrénée, tant par leur doctrine, que par leur manière de vivre : qui est la cause principalle, que ceux qui sont de mauvaise vie, facillement adhèrent à eux, et les maintiennent et acceptent comme prêcheurs de vérité.

3.1 Der Bedrohungs-Topos | 273

le mit der Reformation verknüpfte Lehrinhalte als Gesetz des Antichristen und kennzeichnen es so als protestantisch. Zudem imitieren insbesondere die dra­ matis personae der antichristlichen Prediger einen protestantischen Habitus, indem sie Verhaltens- und Argumentationsweisen übernehmen, die zeitgenös­ sisch als protestantisch gelten, wie aus katholischen kontroverstheologischen Schriften hervorgeht. Das Verfahren des Gleichheits-Topos ermöglicht es JuMo, alle Protestanten als Antichristen auszuweisen und so das endzeitliche Szenario als Interpretationsschema für das gegenwärtige Geschehen anzubieten. Diesem zufolge ist die Glaubensspaltung als apokalyptisches Geschehen zu deuten, in dessen Rahmen die Protestanten die Rolle des Antichristen verkörpern, weshalb sie eine eminente Bedrohung für die christliche Gemeinschaft darstellen, gegen die es sich zu verteidigen gilt. Der Wesensart-Topos befördert, wie auch im Fall seiner antijüdischen Aus­ formungen, ein generalisiertes Feindbild, das es erleichtert, eine klare Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu ziehen. Eigenkommentare anti­ christlicher sowie Fremdkommentare christlicher dramatis personae identifizie­ ren Triebhaftigkeit über das Wortfeld ‚Freiheit‘ als den zentralen Antrieb aller protestantisch-antichristlichen Figuren, auf den sämtliche Gesetze zurückzu­ führen sind. Das Bekenntnis zur Reformation bedeutet damit in der Auslegung JuMos immer auch ein Bekenntnis zur eigenen lasterhaften Triebhaftigkeit, die den Protestanten vom wahren Christen unterscheidet und ihn für das Publikum stigmatisiert. Die Integration eines neuen Feindbilds über die beiden analysierten topi­ schen Verfahren zeigt, dass die theatrale Bearbeitung traditioneller Stoffe ge­ genüber veränderten religiösen und gesellschaftspolitischen Bedingungen offen ist. Das eschatologische Szenario stellte offenbar ein Narrativ zur Verfügung, das sich für die Deutung historischen Geschehens bewährt hatte und zugleich genü­ gend Flexibilität aufwies, um neue Elemente aufnehmen zu können. Gleichzeitig macht die Untersuchung JuMos deutlich, dass topische Strukturen in keinem exkludierenden Verhältnis zueinander stehen, sondern koexistieren und sich (partiell) überlagern können. Durch die Konstruktion antiprotestantischer To­ poi verschwinden die aus der älteren Tradition bekannten antijüdischen Topoi nicht. Stattdessen werden Transformationsprozesse sichtbar, wie etwa die Ver­ lagerung und Eingrenzung des jüdischen Kollektivs auf Gog und Magog und die zehn Stämme Israels. Besonders deutlich zeigt sich der Überlagerungsprozess in der Konzeption der Figur des Antichristen, der in JuMo ein hybrides Wesen aus jüdischen und protestantischen Anteilen zugleich ist.

4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie Obwohl das religiöse Schauspiel sich aus liturgischen Zusammenhängen entwi­ ckelte und Autor- und Trägerschaft ursprünglich beim Klerus lagen, blieb die Gat­ tung theologisch umstritten. Strikt ablehnende Haltungen äußern sich etwa in den allgemeinen Spielverboten, die die Päpste Innozenz III. und Gregor IX. im dreizehnten Jahrhundert für den Kirchenraum festlegten. Allerdings wurden die­ se noch im dreizehnten Jahrhundert relativiert.¹ Das Nebeneinander von Geneh­ migungen und Verboten der Aufführung religiöser Spiele im Spätmittelalter, wie sie für den deutsch- und französischsprachigen Raum überliefert sind², zeugt von erheblichen Divergenzen in der zeitgenössischen Beurteilung der Spiele. Da letz­ tere kein Bestandteil der Messe waren und ihnen nicht der Status von Sakramen­ ten zukam, bildeten sie, obwohl meist klerikal kontrolliert, kein konstitutives Ele­ ment des abendländisch-christlichen Ritus und waren aus diesem Grund nicht per se durch dessen autoritative Stellung legitimiert.³ Dennoch begründeten vie­ le zeitgenössische Befürworter des geistlichen Schauspiels dessen Legitimation mit seiner Wirkungsabsicht, die auf religiöse Unterweisung und Erbauung ziele.⁴ Auch die gelegentliche Gewährung von Ablässen für die Partizipation in der Insze­ nierung und für den Besuch von religiösen Schauspielen verdeutlicht, dass den Spielen eine heilsrelevante Wirkung zugesprochen wurde.⁵ Nicht zuletzt sind es die Schauspiele selbst, die fast ausnahmslos religiöse Unterweisung und Erbau­

1 Die relevanten Passagen der päpstlichen Dekrete sowie die einschränkende Glosse sind bei Neumann abgedruckt (vgl. Neumann, Bernd: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, Bd. 2, München, Zü­ rich 1987 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 85), S. 869 f.). 2 Beispiele für konkrete Verbote finden sich für den deutschsprachigen Raum bei Neumann (vgl. hier z. B. Nr. 1864 (S. 387 f.), 3700 (S. 8872 f.) oder 3705 (S. 877) und 3706 [S. 877 f.]) und für Frank­ reich bei Petit de Julleville (vgl. Petit de Julleville, Histoire du théâtre II, z. B. S. 6, 79 oder 414). 3 Zur Beziehung von Spiel und Kult vgl. Schulze, Geistliche Spiele, S. 15 f. 4 Dies ist die Argumentation der einschränkenden Glosse zum Dekret des Papstes Gregor IX.: [. . . ] cum talia potius inducant homines ad compunctionem quam ad lasciviam vel voluptatem, sicut in Pasca sepulchrum Domini et alia representantur ad devotionem excitandam. (Neumann, Geist­ liches Schauspiel II, Nr. 3694 [S. 870]). Für einen Überblick theologischer Positionen im Hochund Spätmittelalter sowie im sechzehnten Jahrhundert vgl. Freise, Geistliche Spiele, S. 47–69, zur Rechtfertigung religiöser Spiele im Spätmittelalter insbesondere S. 59 ff. 5 Berichte über Ablässe, die für die aktive und passive Beteiligung an religiösen Spielen gewährt wurden, sind ebenfalls bei Neumann zu finden (vgl. Neumann, Geistliches Schauspiel I, S. 59 und https://doi.org/10.1515/9783110740486-004

4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie

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ung als Ziele der Aufführung in ihren Prologen herausstellen.⁶ Auch im sechzehn­ ten Jahrhundert zeichnet sich in den Kontexten von Reformation, Konfessionali­ sierung und dem zunehmenden Einfluss des Jesuitentheaters eine ambivalente Bewertung der mittelalterlichen Tradition religiöser Spiele ab.⁷ Das dem religiösen Schauspiel inhärente Spannungsverhältnis zwischen christlichem Ritus und theatralem Spektakel änderte letztlich nichts an seiner großen Beliebtheit und weiten Verbreitung vom vierzehnten bis ins sechzehn­ ten Jahrhundert, doch sah es sich wiederholt Zweifeln daran ausgesetzt, ob es tatsächlich eine angemessene religiöse Unterweisung bieten könne. Vor diesem Hintergrund kommt axiomativen Persuasionsstrategien eine große Bedeutung für die Spiele zu. Obwohl die biblischen Stoffe, die sie inszenierten, selbst keiner weiteren Legitimation bedurften, blieb die theatrale Ausgestaltung in hohem Ma­ ße angreifbar. Anders als im Fall der dramatischen Bearbeitung profaner Stoffe, verlangte der Gegenstand des religiösen Schauspiels grundsätzlich ein hohes Maß an theologischer Kompetenz, um das richtige decorum zu treffen. Damit es gegenüber seinem Publikum den Anspruch verteidigen konnte, nicht bloßes Spektakel, sondern religiöses Spiel mit einer berechtigten didaktisch-erbaulichen Wirkungsabsicht zu sein, bedurfte das religiöse Schauspiel eines verstärkten Aus­ weises seiner Legitimation. Dies gilt für das Spätmittelalter und in womöglich gesteigerter Form für den Beginn der Neuzeit, denn im sechzehnten Jahrhundert, das im Rahmen von Reformation und Konfessionalisierung eine Krise christlicher Nr. 32 (S. 118), 1055 (S. 259), 2058 (S. 443) und 2106 [S. 504 f.]); für jüngste Arbeiten zu spezifischen Ablass-Praktiken vgl. z. B. Ehrstine, Raymond Peraudi. 6 Es sollen an dieser Stelle keine Passagen zitiert werden, doch gilt der Befund für fast alle Pro­ loge und Epiloge der Spiele des Untersuchungskorpus. 7 Über die bereits genannte Darstellung Freises hinaus hat zuletzt Christian Schmidt die un­ terschiedliche Rezeption Luthers im sechzehnten Jahrhundert für und gegen die PassionsspielTradition beleuchtet und Inszenierungsmodelle der Passion innerhalb der katholischen und pro­ testantischen Konfession miteinander verglichen (vgl. Schmidt, Christian: Drama und Betrach­ tung. Meditative Theaterästhetiken im 16. Jahrhundert, Berlin, Boston 2018 (Quellen und For­ schungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 93 [327]), S. 229–281). Die Erschütterung alther­ gebrachter theatraler Traditionen durch das Jesuitentheater macht etwa Greco-Kaufmann für die Stadt Luzern deutlich, in der 1579 anlässlich des neu erbauten Schulgebäudes der Jesuiten auf dem Weinmarkt ein lateinisches Stück aufgeführt wurde: „Bis anhin hatte man jeweils wohl­ bekannte Episoden aus der christlichen Heilsgeschichte sowie populäre religiöse und weltliche Erzählstoffe aufgeführt, nun konfrontierte man die Zuschauer mit einer fremden, an den Werken der klassischen Antike geschulten Gelehrtenkultur, die wenig zu schaffen hatte mit den einhei­ mischen Lebenswelten. Dass der finanzielle Aufwand für die Veranstaltung vollumfänglich von der Staatskasse getragen wurde und die gesamte städtische Führungsschicht dem Ereignis bei­ wohnte, demonstriert eindrücklich das machtvolle Eindringen der neuen Kraft in das kulturelle Gefüge der Stadt und die obrigkeitliche Unterstützung, die ihr zuteil wurde.“ (Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes I, S. 562 f.).

276 | 4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie

Wert- und Normvorstellungen erlebte, sahen sich die religiösen Spiele einem ver­ stärkten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Die folgende Analyse behandelt den systematischen Gebrauch von christlichen Autoritäten, der dem Ziel dient, eine Zustimmungsneigung im Publikum herzustellen.

4.1 Der Autoritäts-Topos Das Mittelalter ist über die starke Rezeption Ciceros, aber auch Quintilians in besonderem Maße von den grundlegenden Reflexionen der antiken römischen Rhetoriktradition geprägt, die Autorität als Mittel der Überzeugung einsetzte. Cicero und Quintilian unterscheiden zwischen inneren und äußeren ‚Fundor­ ten‘ der Argumente.⁸ Dabei stellt für sie Autorität das zentrale Beweismittel dar, welches nicht aus dem Gegenstand selbst gewonnen wird.⁹ Eine aufgrund natür­ licher Disposition oder durch ihren Lebenswandel allgemein angesehene Person kann demzufolge herangezogen werden, um einer Aussage Glaubwürdigkeit zu verleihen.¹⁰ Die moderne Definition des Autoritäts-Topos schließt unmittelbar an diese Bestimmung an, wenn er als ein kontextabstrakter Topos bestimmt wird, der Plausibilität nicht durch ein unstrittiges Argument herstellt, sondern über ei­ ne anerkannte Autorität, welche die Wahrheit der getätigten Aussage verbürgt.¹¹ In seiner kontextabstrakten Form kann der Autoritäts-Topos wie folgt formuliert werden: Wenn eine als Autorität anerkannte Person oder Instanz X den Sachverhalt Y für wahr erklärt, ist Y wahr.¹² In der Regel beruht das Gewicht der Autorität laut Kienpointner „entweder auf ihrer Spezialkenntnis in einem bestimmten Gebiet (Paradebeispiel: der wissenschaftliche Experte) oder auf ihrer Befugnis im Rah­ men politischer oder religiöser Institutionen (Paradebeispiel: der Richter oder der Priester).“¹³ Zwar schließt Kienpointner zur Begründung des autoritativen

8 Vgl. Cicero, Topica, 8 (hier und im Folgenden zitiert nach Marcus T. Cicero: Topik. Hrsg. von Hans G. Zekl, Hamburg 1983): „Sed ex his locis in quibus argumenta inclusa sunt, alii in eo ipso de quo agitur haerent, alii adsumuntur extrinsecus. Was nun diese Stellen angeht, auf denen die Argumente abholbar angesiedelt sind, so sind [A] die einen davon in dem Gegenstand, um den es jeweils geht, inbegriffen, [B] die anderen werden von außen herzugezogen.“ 9 Vgl. Cicero, Topica, 24 und Quintilian V, 11, 36. 10 Cicero nennt als ‚natürliche Autorität‘ insbesondere Tüchtigkeit (virtus) und als ‚durch die Zeit erworbene Autorität‘ beispielsweise ausgebildetes Talent, erworbenen Reichtum und Erfahrung (Cicero, Topica, 73). 11 Vgl. z. B. Ottmers, Rhetorik, S. 114. 12 Die äquivalente normative Form würde lauten: Wenn eine als Autorität anerkannte Person oder Instanz X die Handlung/Einstellung Y fordert, ist Y zu tun/zu übernehmen. 13 Kienpointner, Alltagslogik, S. 394.

4.1 Der Autoritäts-Topos |

277

Status anders als Cicero eine natürliche Disposition nicht mit ein, doch stimmen beide Konzeptionen darin überein, dass der Autoritäts-Topos notwendig an eine kontextbasierte Ebene angebunden werden muss: Ob eine Person, Personen­ gruppe, Institution oder Organisation als Autorität anerkannt wird und sinnvoll zur Stützung einer Aussage verwendet werden kann, hängt von im Einzelfall zu bestimmenden Eigenschaften ab und ist damit immer auf einen konkreten kulturellen Kontext bezogen. Es schließt sich die Frage an, welches Verständnis von Autorität und welcher diskursive Umgang mit Autoritäten für den Untersu­ chungszeitraum, das vierzehnte bis sechzehnte Jahrhundert, anzusetzen ist. Im Folgenden soll ein knapper Abriss der Entwicklung des Autoritäts-Begriffs den Kontext beleuchten, innerhalb dessen die Verwendung des Autoritäts-Topos in den Spielen verstanden werden muss. Der Begriff der auctoritas ist zunächst im Zusammenhang mit dem römischen Zivilrecht belegt, wo er die Rechtmäßigkeit einer Eigentumsübertragung gewähr­ leistet. Die auctoritas wird von einer Person (auctor, i. d. R. der Veräußerer oder ein Vormund) aufgrund ihrer überlegenen Einsicht oder Position ausgeübt, die etwa in Fachwissen, Sozialprestige oder Wirtschaftskraft bestehen kann.¹⁴ Eine tiefere Einsicht in ihre Beweggründe ist somit nicht notwendig; der Status der auc­ toritas innehabenden Person genügt. In erweiterter Perspektive ist Autorität damit im öffentlichen wie privaten Leben „die Fähigkeit, andere durch sein besonderes Ansehen zu beeinflussen.“¹⁵ Die Autorität als ‚Ansehensmacht‘ wird zunächst von der potestas unterschieden. Während letztere als „Amtsgewalt, die befugt ist, zur Durchsetzung ihres Willens Gewalt anzuwenden“¹⁶ in der Römischen Republik den Magistraten zukam, gründete der Einfluss des Senats auf seiner auctoritas bzw. Autorität im Sinne einer beratenden Funktion, die nicht rechtlich bindend war, aber faktisch großes Gewicht besaß.¹⁷ Bereits zur Zeit der Republik, verstärkt aber mit Anbruch der Römischen Kaiserzeit, näherten sich auctoritas und potes­ tas an, indem auctoritas zu einem festen Bestandteil institutionalisierter Rechts­ macht bzw. Herrschaftsgewalt wurde und folglich einen zunehmend amtlichen

14 Vgl. Miethke, Jürgen u. a.: Autorität. In: Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Horst R. Balz u. a., Bd. 5, Berlin, New York 1980, S. 17–51, hier S. 18. 15 Kalivoda, Gregor/Luia Calboli Montefusco/Stephan Zimmermann: Auctoritas. In: Histo­ risches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 1177–1188, hier Sp. 1178. 16 Eschenburg, Theodor: Über Autorität. Frankfurt a. M. 1976, S. 16. 17 Vgl. dazu hier S. 14: „Auctoritas ist das ‚verbindliche Beratungsrecht des Senats‘ (S. 1032). Dieses gab dem Senat, ganz abgesehen vom traditionellen und gesellschaftlichen Vorrang, allein schon dadurch ein Übergewicht, daß für die Volksversammlung nur ein Abstimmungsrecht, nicht aber ein Rederecht bestand; in ihr durfte gewohnheitsrechtlich kein Vorschlag zur Abstimmung gebracht werden, der nicht vom Senat gebilligt war.“

278 | 4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie

Charakter erhielt.¹⁸ So äußert sich in Augustus’ vielzitiertem Selbstzeugnis, dem­ zufolge er alle anderen an auctoritas überrage, wohingegen seine potestas die der anderen nicht übersteige¹⁹, ein Verständnis von auctoritas als „persönliche Füh­ rungsbegabung und als anerkannte und daher berechtigte Führungsposition.“²⁰ In der lateinischen Patristik wurde der römische auctoritas-Begriff aufgegrif­ fen und auf den christlich-theologischen Diskurs zugeschnitten. Er bezeichnete nun den Willen Gottes (auctoritas dei oder auctoritas divina), der – von der poli­ tischen Bedeutung des ‚verbindlichen Rats‘ herkommend – „dem Menschen hel­ fender Wille sein will“²¹ und im Gegensatz zum potestas-Begriff die freiwillige Un­ terwerfung des Menschen unter die wohlmeinende Autorität Gottes akzentuiert. Zugleich wurde in der Übertragung des auctoritas-Begriffs auf Gott jedoch auch die bereits in seinem profanen römischen Gebrauch einsetzende Überlagerung von auctoritas und potestas weiter vertieft, wie Karl-Heinrich Lütcke festhält: „Einer auctoritas divina gegenüber, die jede auctoritas humana unvergleichlich übertrifft, kann es nur bedingungslosen Gehorsam geben.“²² Erfahrbar wird die göttliche Autorität nach Tertullian in sichtbaren Zeichen bzw. Erscheinungen, im inkarnierten Christus und in den kanonischen Schriften der Bibel sowie der regula fidei.²³ Theodor Eschenburg betont, dass Tertullian sich des aus der römischen Herrschafts- und Rechtssprache stammenden auctoritas-Begriffs auch aus poli­ tischen Gründen bediente, um den Alleinanspruch des Christentums gegenüber anderen, als Häresie angesehenen Lehren abzusichern, denn [w]ie keine andere Regel als lediglich das kaiserliche Gesetz auctoritas besaß, so hatte in den christlichen Gemeinschaften Autorität nur die Heilige Schrift. Wie nur die kaiserlichen Gesetze Anspruch auf unbedingten Gehorsam hatten, so hatte die Heilige Schrift allein An­ spruch auf unbedingten kirchlichen Gehorsam. [. . . ] Der Macht des Kaisers entspricht die Allmacht Gottes, des Imperator Deus.²⁴

Die Autorität des in der alten Kirche entstehenden bischöflichen Amtes gründet sich auf ein Sukzessionsprinzip, das an den zivilrechtlichen Ursprung des aucto­ ritas-Begriffs anschließt. Wie die auctoritas eines Vorbesitzers bzw. Vormunds die

18 Zum Verhältnis von auctoritas und potestas im Römischen Reich vgl. Lütcke, Karl-Heinrich: Auctoritas bei Augustin. Mit einer Einleitung zur römischen Vorgeschichte des Begriffs, Stuttgart u. a. 1968, S. 29–34 und Eschenburg, Über Autorität, S. 27–31. 19 Im lateinischen Original zitiert und auf Deutsch übersetzt in Miethke u. a., Autorität, S. 19. 20 Eschenburg, Über Autorität, S. 29. 21 Lütcke, Auctoritas, S. 54. 22 Ebd. 23 Vgl. hier S. 55 und Miethke u. a., Autorität, S. 20. 24 Eschenburg, Über Autorität, S. 34 f.

4.1 Der Autoritäts-Topos | 279

Legitimität des Rechtsgeschäfts absichert, sind die Apostel laut Tertullian „als die Augenzeugen und ersten ‚Besitzer‘ der christlichen Lehre auctores, Rechtsvorgän­ ger der nachfolgenden Vertreter der Kirche, und damit Garanten für die Wahrheit der Lehre.“²⁵ Seit Cyprian wurde der Episkopat auf dem Fundament einer durch Sukzession gewährleisteten Tradition zum alleinigen Verwalter der Wahrheit, da ihm als dem rechtmäßigen Nachfolger der Apostel die göttliche Herrschaftsgewalt (potestas und auctoritas fallen hier vollends zusammen) übertragen wurde.²⁶ In der kirchlichen Amtssprache etablierte sich auctoritas als legitimierendes Analo­ gon zur Bezeichnung der Herrschaftsgewalt des Kaisers (ex sedis apostolicae auc­ toritate – ex auctoritate principis).²⁷ Auch während der Entstehung des Papsttums äußerte sich das Sukzessionsprinzip in der Berufung auf Mt 16,18–19 zur Legiti­ mierung des Nachfolgers Petri als Oberhirte der Kirche.²⁸ Mit dem Kirchenvater, Augustinus gerät das Verhältnis von auctoritas und ra­ tio in den Blick, welches im Christentum bis dahin keine besondere Aufmerksam­ keit erfahren hatte. Augustinus verwendet den Autoritäts-Begriff nicht primär ek­ klesiologisch wie Tertullian und Cyprian, sondern epistemologisch. In der Frage, wie der Mensch zur Erkenntnis gelangen kann, stellt er auctoritas und ratio ein­ ander gegenüber. Augustinus beschreibt sie einerseits als zwei verschiedene We­ ge der Erkenntnis, die zu unterschiedlichen Zielen führen: erstens zum Glauben und zweitens zum Wissen. Sie sind verschiedenen sozialen Gruppen zugeordnet und stehen nicht miteinander in Konkurrenz. Andererseits setzt er beide Begriffe in unterschiedlichen chronologischen Abfolgen zueinander in Bezug. Zum einen geht demnach die auctoritas dem rationalen Verständnis voraus, dem als voll­ endendem Schritt eine höhere Wertung beigemessen wird; zum anderen setzt der Autoritäts-Glaube rationale Befähigung bereits voraus.²⁹ Lütcke hat gezeigt, dass Augustinus’ Unterscheidung zwischen menschlicher und göttlicher auctoritas ei­ nen tatsächlichen Konflikt zwischen auctoritas und ratio unmöglich macht, da so­ wohl Autorität als auch Vernunft aus der auctoritas divina entspringen und wahre

25 Lütcke, Auctoritas, S. 56. 26 Vgl. hier S. 57 f. 27 Vgl. hier S. 58. 28 Zur Bedeutung des Autoritäts-Begriffs im entstehenden Papsttum vgl. Eschenburg, Über Au­ torität, S. 48–54. 29 Vgl. Augustinus: De Ordine, II, 16 (konsultiert in Aurelius Augustinus: Contra Academicos. Hrsg. von Therese Fuhrer und Simone Adam, Berlin, Boston 2017 (Bibliotheca scriptorum Grae­ corum et Romanorum Teubneriana BT 2022), S. 154; für die deutsche Übersetzung vgl. Aureli­ us Augustinus: Die Ordnung. Hrsg. von Carl Johann Perl, Paderborn 1940 (Aurelius Augusti­ nus’ Werke in deutscher Sprache. Erste Abteilung. Die frühen Werke des heiligen Augustinus), S. 62 f.). Zentrale Elemente des Augustinischen auctoritas-ratio-Verhältnisses stellt Lütcke dar (vgl. Lütcke, Auctoritas, S. 182–195).

280 | 4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie

Einsichten somit notwendig in Übereinstimmung mit dem autoritativen Wort der Bibel stehen müssen. In der Regel seien Widersprüche nur scheinbarer Natur, die mit der Fehlbarkeit der menschlichen Einsicht erklärt werde, die Augustinus be­ zeichnenderweise nicht ratio, sondern praesumptio, coniectura oder astutia hu­ mana nenne. Trete dennoch ein Konflikt auf, der nicht aus einer menschlichen praesumptio hervorgehe, führe Augustinus diesen auf Fehler in der Exegese zu­ rück.³⁰ Ein Spannungsverhältnis zwischen auctoritas und ratio bleibt auf der Ebe­ ne des Menschen aber dennoch bestehen. Obwohl menschliche Autorität als ‚Tür­ öffner‘ auf dem Weg zur Erkenntnis fungiert und folglich die Ausbildung der ratio begünstigt, ja ermöglicht, bleibt die auctoritas humana im Gegensatz zur aucto­ ritas divina fehlbar und rationes können im konkreten Meinungsstreit durchaus gegen sie ins Feld geführt werden.³¹ Als Gegensatz sind auctoritas und ratio hier trotzdem nicht gefasst, sondern werden im Anschluss an den griechischen logosBegriff als Bestandteile der Erkenntnis gedacht.³² Das Mittelalter war von den genannten Konzeptionen stark geprägt. In der auctoritas apostolica der Päpste klingt potestas notwendig mit, die auch hier nicht mehr deutlich von auctoritas unterschieden wird.³³ Bis ins zwölften Jahrhundert hinein galten neben der Heiligen Schrift auch die Textzeugnisse der Kirchenväter als Autoritäten, um deren rationalen Nachvollzug man sich bemühte.³⁴ Seit dem elften Jahrhundert zeigten sich jedoch verstärkt Tendenzen, auctoritas und ratio als Gegenbegriffe zu verstehen. Während Theologen wie Anselm von Besate oder Berengar von Tours ausgehend von Rhetorik und Grammatik der ratio den Vorzug gaben, setzten monastische Theologen wie beispielsweise Manegold von Lauten­ bach auctoritas an oberste Stelle, die bis zu einem polemischen Antirationalis­ mus gesteigert werden konnte.³⁵ Auch zeigten sich insbesondere seit dem zwölften Jahrhundert erste Tendenzen, zwischen verschiedenen christlichen Autoritäten zu differenzieren. Rupert von Deutz unterschied systematisch zwischen der auc­ toritas der Heiligen Schrift und der der Kirchenväter und im Zusammenhang mit der zunehmenden Gründung von Schulen und Universitäten traten weitere Auto­

30 Hier S. 184–186. 31 Vgl. hier S. 110–118. 32 Vgl. hier S. 194 f. 33 Zur immer stärker synonymen Begriffsverwendung von auctoritas und potestas zur Fundie­ rung der geistlichen und weltlichen Herrschaftsgewalt des Papsttums in Spätantike und Frühbis Hochmittelalter vgl. Miethke u. a., Autorität, S. 23–26. Die einflussreiche Gelasianische For­ mel, in welcher Papst Gelasius I. pontifikale auctoritas von königlicher potestas unterscheidet, wird hier stärker als rhetorische Antithese denn als tatsächliche Kategorisierung gedeutet, was am Begriffsgebrauch zahlreicher Quellen belegt wird. 34 Vgl. hier S. 26. 35 Vgl. ebd.

4.1 Der Autoritäts-Topos | 281

ritäten in Form zeitgenössischer Gelehrter hinzu.³⁶ Das Anrufen von Autoritäten blieb auch in der Hoch- und Spätscholastik ein zentrales Prinzip, doch erschien dieses ohne rationes nicht ausreichend, da „alle Benutzung und Ausschlachtung von auctoritates die mittelalterliche Wissenschaft, auch nach dem Bewußtsein ih­ rer führenden Vertreter, nicht aus ihrer Verpflichtung einer sachangemessenen Aussage und damit aus dem rationalen Diskurs entließ.“³⁷ Das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert waren im Kontext von Renais­ sance-Humanismus und Reformation von intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen kirchlichen Tradition geprägt, die von Rudolf Mau als ein „weitreichender Autoritätenkonflikt [. . . ], ausgelöst durch radikale Umwertungen innerhalb des traditionellen Autoritätengefüges“³⁸ beschrieben wurden. Unter dem Einfluss des italienischen Humanismus bildeten sich in Deutschland und Frankreich huma­ nistische Strömungen heraus, die „von einem traditionskritischen Impuls ange­ trieben [waren], wonach das Erbe der Alten, durch unsachgemäße Verwaltung in der Gegenwart und während der voraufgehenden ‚dunklen Jahrhunderte‘ verun­ staltet, in Teilen verloren wurde und deshalb im Rückgang der Quellen (,ad fon­ tes‘) wieder zu entdecken sei.“³⁹ Die Humanisten warfen den Scholastikern vor, aufgrund mangelnder sprachlicher Expertise und einer ungenügenden Textüber­ lieferung die Schriften des Aristoteles, an denen sie sich zu ausschließlich orien­ tierten, zu verfälschen und erklärten das Studium der Quellen in Originalsprache und deren Neuevaluation für notwendig.⁴⁰ Insgesamt ging die verstärkte Lektüre lateinischer und griechischer Klassiker wie Cicero oder Platon und die stilistische Orientierung an ihnen mit einer Abwertung der mittelalterlich-scholastischen Me­ thode einher. Text- sowie stilkritische Bearbeitungen, die die Humanisten an der Bibel vornahmen, stießen auf heftige Ablehnung innerhalb der katholischen Kir­ che.⁴¹ Die Empörung über die humanistische Anmaßung, in die Heilige Schrift einzugreifen, erklärt sich vor dem Hintergrund des abendländisch-christlichen Traditionsverständnisses, demnach die Autorität der Bibel über das Sukzessions­ prinzip auf Gott selbst zurückgeht und somit als sein authentisches Wort unan­

36 Vgl. hier S. 27. 37 Hier S. 28. 38 Hier S. 30. 39 Jaumann, Herbert: Humanismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neu­ bearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Harald Fricke u. a., Bd. 2, Berlin, New York 2000, S. 95–100, hier S. 96. 40 Vgl. Rummel, Erika: The Humanist-Scholastic Debate in the Renaissance and Reformation. Cambridge, London 1995 (Harvard Historical Studies 120), S. 153. 41 Erika Rummel hat eine Vielzahl historischer Zeugnisse des Konflikts um den Umgang mit Tradition zusammengestellt und kommentiert (vgl. hier S. 96–125).

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tastbare Geltung besitzt. Zugleich zeigt sich in der humanistischen Praxis, dass dieses Autoritätsverständnis ins Wanken geriet. Die Bibel und auch die Kirchen­ väter galten den Humanisten (in deutlicher Favorisierung gegenüber gelehrten Autoritäten der vorgängigen Jahrhunderte und ihrer eigenen Zeit) zwar weiterhin als auctoritates, doch genoss ihre Überlieferung keinen autoritativen Status und musste editorischen Bearbeitungen gegenüber ebenso offen sein wie jedes andere Textzeugnis. Die Rückbesinnung auf die antiken biblischen Texte und ihr Studium in Ori­ ginalsprache hatten großen Einfluss auf die Reformation. Dass Reformatoren wie Philipp Melanchthon, Huldrych Zwingli oder Johannes Calvin eine humanisti­ sche Bildung genossen hatten und mit einflussreichen humanistischen Gelehr­ ten ihrer Zeit in Kontakt standen, ist ebenso bekannt wie Martin Luthers Hoch­ schätzung der humanistischen Sprachstudien. Das reformatorische Prinzip der Schriftautorität, welches der Autorität der kirchlichen Tradition entgegengestellt wurde, wurzelte in den philologischen Arbeiten der Humanisten.⁴² Der reforma­ torischen Idee des ‚Priestertums aller Gläubigen‘, die mit der Forderung verbun­ den war, die Hierarchien der römischen Kirche und insbesondere das Papsttum abzuschaffen, stand der gegenreformatorische Katholizismus ablehnend gegen­ über. Zwar wurde die auch in früheren Zeiten von der christlichen Kirche nie­ mals bestrittene Autorität der Bibel anerkannt, doch hielt das Tridentinum aus­ drücklich fest, dass „außer den Büchern des Alten und Neuen Testaments auch die mündliche von Christus oder dem Heiligen Geist diktierten, in der katholi­ schen Kirche bewahrten Traditionen für die Glaubens- und Sittenlehre verbind­ lich und in gleicher Weise zu verehren seien (DS 1501).“⁴³ Die Auffassung der Tra­ dition als Bewahrerin und Vermittlerin der göttlich offenbarten Wahrheit steht ganz im Zeichen des von Tertullian und Cyprian formulierten Sukzessionsprin­ zips, in dessen Nachfolge die römisch-katholische Kirche sich sah. Dessen An­ fechtung durch die reformatorischen Lager führte zu fundamentalen Autoritäten­ konflikten, wie das Mittelalter sie nicht gekannt hatte. Der Autoritäts-Topos als Teil der Beweisführung wurde selbst allerdings nicht grundlegend in Zweifel ge­ zogen und blieb auch im sechzehnten Jahrhundert ein gängiges und akzeptiertes Element axiomativer Persuasionsstrategien.⁴⁴ Als solches konnte er mit rationa­

42 Zu Luthers Verständnis der Schriftautorität vgl. Miethke u. a., Autorität, S. 32 f.; zum Einfluss des Humanismus auf die Reformation vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, S. 81. 43 Miethke u. a., Autorität, S. 35. 44 So wurden die Kirchenväter nicht zuletzt in innerprotestantischen Auseinandersetzungen als Beweismittel zur Stützung widerstreitender Aussagen herangezogen, was auch hier zu einem ver­ stärkten Interesse an Textkritik, Korruption und Authentizität von Textzeugen etc. führte, nicht jedoch den autoritativen Status der Väter selbst schädigte (vgl. Bergjan, Silke-Petra: Patristik/

4.1 Der Autoritäts-Topos |

283

len Verfahren harmonieren oder konfligieren. Die massive Kritik am Autoritäts­ beweis, die ihn als Scheinargument entlarvt und mit autoritären Regimentern in Verbindung bringt, ist ein Phänomen der Aufklärung und des zwanzigsten Jahr­ hunderts, welches das Autoritäts-Verständnis heute ganz anders prägt als im Un­ tersuchungszeitraum.⁴⁵

4.1.1 Sprachliche, bildliche und lautliche Evokationsformen des Autoritäts-Topos Die untersuchten Schauspiele machen in hohem Maße von christlichen Autoritä­ ten Gebrauch, um die Legitimation des Dargestellten zu unterstreichen. Die Ana­ lyse zeigt, dass bestimmte Autoritäten offenbar kanonischen Status besaßen, da sie Spieltyp- und zeitübergreifend Verwendung fanden: Sowohl eschatologische Spiele als auch Passionsspiele bedienen sich ihrer und sie sind zudem über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg in den Texten präsent. Es handelt sich um Figuren des Alten Testaments und Kirchenväter, insbesondere die in der rö­ misch-katholischen Kirche kanonisierten doctores ecclesiae Ambrosius, Hierony­ mus, Augustinus und Gregor I. der Große. Figuren des Neuen Testaments werden demgegenüber in den untersuchten Spielen seltener als Autoritäten zu Legitimati­ onszwecken herangezogen. Die allumfassende Autorität ist das Wort Gottes, wel­ ches in der Heiligen Schrift tradiert ist. Die Evokationsformen des Autoritäts-Topos sollen nachfolgend zunächst in der Rahmung der Schauspiele analysiert werden. Fast alle eschatologischen Spie­ le und Passionsspiele verfügen über Pro- und Epiloge, die in vielen Weltgerichts­ spielen als ‚Prophetenvorspiel‘ ausgestaltet sind.⁴⁶ Die Rahmung dient dazu, das Publikum zu begrüßen und zu verabschieden, eine bestimmte Rezeptionshaltung einzufordern sowie inhaltlich in die jeweilige Thematik einzuführen und diese zu interpretieren. Die Exposition stellt in der Regel eine besondere Nähe zu den Zu­ schauerinnen und Zuschauern her, an die sich die Figuren meist direkt wenden (Kommunikationsniveau N2), und erscheint nicht zuletzt aus diesem Grund als

Patrologie. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Reli­ gionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a., Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1015–1019, hier Sp. 1017). 45 Vgl. dazu Eschenburg, Über Autorität, S. 102 f. und 217–232; Perelman, Chaim/Lucie Ol­ brechts-Tyteca: Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren. Hrsg. von Josef Kopperschmidt, Bd. 2, Stuttgart 2004 (Problemata 149), S. 433. 46 Einigen Vorspielen bzw. Präludien geht ein zusätzlicher Prolog voraus, andere setzen unmit­ telbar mit dem Präludium ein.

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besonders geeignet, um auch die Legitimation der Aufführung bereits eingangs zu unterstreichen. Im Folgenden ist zu erläutern, wie die Spiele zu diesem Zweck die Bibel, biblisches Personal oder Figuren aus der christlichen Tradition im Sin­ ne des Autoritäts-Topos, also als anerkannte Autoritäten, nutzen, um die Wahrheit einer Aussage zu verbürgen.⁴⁷ Anschließend sei in einem zweiten Schritt das Au­ genmerk auf Handlungsepisoden gerichtet, in denen das dargestellte Geschehen mithilfe des Autoritäts-Topos legitimiert wird. Eschatologische Spiele wie Passionsspiele sichern die Legitimation der Dar­ stellung und ihrer Interpretation mithilfe des Autoritäts-Topos, der über sprach­ liche und bildliche Verfahren evoziert wird. Besonders augenfällig ist dies in den Vorspielen der deutschsprachigen Weltgerichtsspiele des Schaffhauser Ty­ pus: BnWg, SchaWg, KoWg, BeWg, GüWg, MüWg, ChWg, LuWgI und JaWg (mit Ausnahme von LuA). Sie stellen die fünfzehn Vorzeichen des Weltgerichts und das Gericht selbst zunächst nicht szenisch dar, sondern lassen das zukünftige Geschehen durch christliche Autoritäten ankündigen. Diese sind die alttesta­ mentlichen Figuren Joel und Sophonias (Zephania), Job bzw. Hiob und König Salomo sowie die Kirchenväter Gregorius (Gregor I.) und Hieronymus. Mit nur ge­ ringen Abweichungen handelt es sich in allen genannten Weltgerichtsspielen um das gleiche Personal.⁴⁸ Die Propheten und Vorbilder des Alten Testaments sowie die kanonisierten Lehrautoritäten bezeugen jeweils zu Spielbeginn die Wahrheit und Relevanz des Weltgerichts als eines noch ausstehenden Geschehens, das aufgrund dieses Faktums womöglich einer stärkeren Legitimierung bedurfte als die bereits vollzogene Heilsgeschichte. Dass die Identität der eingangs auftreten­ den Figuren von großer Bedeutung für die Tragweite ihrer Aussagen ist, äußert sich darin, dass alle ihre Reden dem gleichen Schema folgen: Erst auf die eigene namentliche Vorstellung, die in der Regel durch eine Rangbezeichnung ergänzt wird, folgt das Zeugnis über die Vorzeichen und das Weltgericht.⁴⁹ Beispielhaft

47 Der bloße Auftritt einer Figur, die den Status einer christlichen Autorität besitzt (z. B. Jesus), ist somit nicht als Verwendung des Autoritäts-Topos zu verstehen. Erst die erkennbare Nutzung einer Autorität als solcher zu argumentativen Zwecken erlaubt die Identifikation als AutoritätsTopos. 48 In JaWg fehlt Job und in SchaWg wurde auf Joel, Hieronymus und Salomo verzichtet. Die üb­ rigen Figuren entsprechen dem genannten Personal. Unterschiede bestehen im Hinblick darauf, ob die Figuren verkörpert in Erscheinung treten oder rein sprachlich evoziert werden. Vgl. dazu Kap. 4, Anm. 61. 49 Es handelt sich um einen höchst formalisierten Sprachgebrauch, der etwa auch in volks­ sprachlichen Chroniken des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts in legitimierender Funk­ tion zu finden ist. Vgl. Marchello-Nizia, Christiane : L’Historien et son prologue. In : La chro­ nique et l’histoire au Moyen-Âge. Hrsg. von Daniel Poirion, Paris 1984 (Cultures et civilisations médiévales 2), S. 13–25 und Marnette, Sophie: The Experiencing Self and the Narrating Self in

4.1 Der Autoritäts-Topos |

285

sei an dieser Stelle der Anfang der Rede des Gregorius herausgegriffen, die in allen Spielen fast wortgleich zu finden ist und schematisch mit den Reden der übrigen Figuren des Vorspiels übereinstimmt:⁵⁰ Tab. 2: Gregorius-Passage in den neun untersuchten Weltgerichtsspielen des Schaffhauser Typus, hier zitiert nach LiII1 40 f. BnWg

SchaWg

KoWg

BeWg

GüWg

GREgorius der erſte lerer u Vnd des globen ein merer Bin ich von der gottes wiſheit (V. 83 ff.)

[ ] gregorius der erſte lerer vnd des globens eïn merer bin ich von der gottes wiſſheit (V. 35 ff.)

GRegorius ein lerrer Vnd des geloben ein merrer Bin ich von der gottes wiſheit (V. 65 ff.)

GRegorius | der hailigen | geſchrifft ain | lerer Vnd | des gelaubens | ein merer Bin ich uon der | gottes weÿßheit | (V. 73 ff.)

Gregorius der erſt lerer vnd des gelauben ain merer pin ich von gottes weiſhait (V. 67 ff.)

MüWg

ChWg

LuWgI

JaWg

Gregorius haiſz ich ain lerer des kriſten gelaubens ain merer Bin ich von gottes weiſſhait (V. 99 ff.)

Jch bin gregorius der lerer Des criſten glaübens ein merer Vnnd bin glert von gottes wÿßheit (V. 99 ff.)

Jch Gregorius ein lerer Vnd criſtenlichs gloubens ein merer Bin jch van gottes wÿßheit (V. 103 ff.)

Diſſ ſeit gregorius der erſte lerer Vnd des gloubens ein merer || Von des Gottes wiſheit (V. 41 ff.)

Indem die Figur zunächst ihre Identität explizit benennt, kann der AutoritätsTopos wirksam werden. Ottmers hält fest, dass „[b]ei Autoritätsargumentatio­ nen mit Einzelpersonen [. . . ] meist die Nennung des Namens [ausreicht], wenn die Person durch entsprechende Leistungen oder Qualitäten ausgewiesen ist“, und dass darüber hinaus „Titel und Rangbezeichnungen [. . . ] den Autoritätsan­

Medieval French Chronicles. In: The Medieval Author in Medieval French Literature. Hrsg. von Virginie Greene, New York 2006, S. 117–136, hier S. 122. 50 Das gleiche Schema weist auch das Nachspiel bzw. Postludium der Weltgerichtsspiele auf, in dem die zwölf Apostel sowie, in einigen Fällen, auch weitere neutestamentliche Figuren und Heilige Christus danken und die göttliche Gerechtigkeit preisen. In der Regel nennen auch sie zu Beginn ihren Namen und zentrale Aspekte ihrer Biographie, die sie für das Publikum erkennbar machen und das Gewicht ihres positiven Zeugnisses über die Wahrheit der göttlichen Herrlichkeit vergrößern.

286 | 4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie

spruch noch erhöhen“⁵¹. Der kanonische Status und große Bekanntheitsgrad Gre­ gors des Großen dürften ausgereicht haben, um seine autoritative Stellung und somit die erfolgreiche Anwendung des Autoritäts-Topos zu sichern.⁵² Dieser er­ hält eine zusätzliche Festigung durch den Hinweis, dass es sich um einen bzw. den ersten Kirchenlehrer handele. Auch Zuschauerinnen und Zuschauer, die den Namen nicht sofort korrekt zuordnen konnten, dürften in der Folge gewusst ha­ ben, dass sie es mit einer herausragenden theologischen Autorität zu tun hatten. Vor dem Hintergrund der Engführung von antiquitas mit der doctrina authentica in der mittelalterlichen Kirchenlehre ist die Präzisierung, es handle sich um den ersten Lehrer, als Mittel zu verstehen, die Autorität der Figur weiter hervorzuhe­ ben.⁵³ Der Verweis auf die Weisheit Gottes, welche Gregorius zu einem Verbreiter des christlichen Glaubens (des gloubens ein merer) gemacht habe, stellt den drit­ ten Schritt der Demonstration seines autoritativen Status dar. Gott als absolute Autorität macht die Stellung Gregors unangreifbar und somit auch seine durch göttliche Weisheit inspirierten Aussagen.⁵⁴ Im Auftritt der Autoritäten, die die eigentliche Gerichtshandlung episierend einrahmen, verknüpfen die Weltgerichtsspiele zur Evokation des Autoritäts-Topos sprachliche und bildliche Verfahren, wie sie insbesondere das Medium Theater er­ möglicht. Über die Nennung von Name und Rang sowie Gott als übergeordneter Autorität wird die Person Gregor I. sprachlich konstruiert und stützt den Geltungs­ anspruch der nachfolgend getätigten Aussagen über das Weltgericht. Zugleich tritt der Kirchenvater in der Aufführung jedoch auch persönlich in Erscheinung: Der Gregorius-Darsteller fungiert als Verkörperung⁵⁵ der Person Gregors des Gro­

51 Ottmers, Rhetorik, S. 115; Hervorhebung im Original. 52 Nicht zuletzt führt die Legenda aurea, die als bedeutende Quelle des Mittelalters auch zur zeitgenössischen Weltgerichts-Vorstellung beigetragen hat, Gregor I. wiederholt als Autorität im Zusammenhang mit dem jüngsten Tag an, worauf in der Forschung bereits verschiedentlich hin­ gewiesen wurde (vgl. z. B. Reuschel, Die deutschen Weltgerichtsspiele, S. 113; Blosen/Laurid­ sen 1988, S. 63; Schulze, Erweiterungs- und Veränderungsprozesse, S. 219). 53 Zum Zusammenhang von Alter und Authentizität in der Kirchenlehre vgl. Miethke u. a., Au­ torität, S. 29. Tatsächlich ist Gregor I. jedoch der jüngste unter den vier kanonisierten lateinischen Kirchenvätern. Das Attribut ‚erster‘ kann statt temporal auch wertend aufgefasst werden und so­ mit Gregor I. als den bedeutendsten Kirchenlehrer ausweisen. 54 Die besondere Nähe Gregors des Großen zur göttlichen Weisheit äußert sich auch in der christ­ lichen Ikonographie, die ihm in Mittelalter und Früher Neuzeit als individuelles Attribut die den Heiligen Geist symbolisierende Taube beigibt (vgl. Thomas, Alois: Gregor I. der Große. In: Lexi­ kon der christlichen Ikonographie. Begründet von Engelbert Kirschbaum. Hrsg. von Wolfgang Braunfels, Bd. 6, Rom u. a. 1974, Sp. 432–441, hier Sp. 434 und 436). 55 Der Begriff der Verkörperung ist hier im Sinne des in der Aufführung agierenden Körpers als Zeichen verstanden, „das die Bedeutungen des [Dramen-]Textes zu repräsentieren vermag“

4.1 Der Autoritäts-Topos | 287

ßen, also als ikonisches Zeichen, das dem Kirchenvater eine körperliche Präsenz verleiht. Die Miniaturen BeWgs und KoWgs, welche die Reden der jeweils spre­ chenden Figuren im Sinne von first speech miniatures⁵⁶ begleiten, zeigen, dass die Spiele die Autorität Gregors I. auch visuell kommunizieren. Beide Miniaturen stellen ihn mit dem imperialen Attribut der heiligen Päpste, der Tiara, gekrönt dar, die mit drei Kronreifen versehen ist.⁵⁷ Die Darstellung Gregors I. mit einer solchen dreifachen Tiara entspricht der seit dem fünfzehnten Jahrhundert zunehmend gängigen ikonographischen Form seiner Inszenierung.⁵⁸ In BeWg hält er zudem die päpstliche Insignie des Kreuzstabs bzw. der Ferula in der Hand; KoWg zeigt ihn mit einem Bischofsstab. In beiden Fällen handelt es sich um Attribute, die re­ ligiöse Autorität visuell sichtbar und gemeinsam mit der Tiara die Gregorius-Figur zu einem Hochwertbild des christlichen Lehramts machen.⁵⁹ Die Miniaturen erlauben keine definitive Aussage darüber, wie die GregoriusFigur in historischen Aufführungen aussah, doch legt ihre große Übereinstim­ mung sowohl untereinander als auch mit ikonographischen Quellen ihrer Zeit⁶⁰ nahe, dass hier eine Tradition bestand, der auch die Erscheinung des jeweiligen Gregorius-Darstellers im Aufführungszusammenhang folgte. Für die imaginier­ te Aufführung, die die Miniaturen im Zusammenspiel mit dem schriftlichen Text evozieren, gilt dies allemal. In der theatralen Nutzung Gregors des Großen überla­ gern sich folglich sprachliche und bildliche Verfahren, wenn die Gregorius-Figur zugleich verkörpert in Erscheinung tritt und sprachlich auf ihr Objekt, Gregor den Großen, verweist. Die sprachliche und visuelle Evokation erzeugt in ihrem Zusam­

(Weiler, Christel/Jens Roselt: Aufführungsanalyse. Eine Einführung, Tübingen 2017, S. 177). Mitgedacht ist dabei keinesfalls eine hierarchische Abstufung zwischen der idealen, im Dramen­ text sprachlich fixierten Rolle und dem defizitären Körper, welcher eine maximale Annäherung an dieses Ideal zu leisten hat. Vielmehr äußert sich in der Verkörperung ein semiotisches Po­ tential, das über den Dramentext hinausgeht, welcher seinerseits als „Auftrag zur Gestaltung“ (hier S. 178) zu verstehen ist. Zur historischen Genese des Verkörperungs-Konzepts sowie Kritik und Wandlungen in der Theaterwissenschaft vgl. auch Fischer-Lichte, Erika: Verkörperung. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. 2., akt. und erw. Aufl. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte/Doris Ko­ lesch/Matthias Warstat, Stuttgart, Weimar 2014, S. 403–405. 56 Vgl. Kapitel 2.1.3. 57 Zur ikonographischen Bedeutung der Tiara vgl. Kretschmer, Hildegard: Lexikon der Sym­ bole und Attribute in der Kunst. Mit 30 Abbildungen, Stuttgart 2008, S. 225 und 241 f. 58 Vgl. Thomas, Gregor I., Sp. 435. 59 Zur Bedeutung der Stabsymbolik in der christlichen Ikonographie vgl. Kretschmer, Symbole und Attribute, S. 400–403. 60 Besonders frappierend ist etwa die Ähnlichkeit zwischen der Gregorius-Darstellung BeWgs und eines Idealportraits des italienischen Malers Antonello da Messina, das im letzten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts entstand und heute in der Galleria Regionale della Sicilia zu finden ist.

288 | 4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie

Abb. 9: Gregorius-Miniatur in BeWg

menspiel einen besonderen Präsenz-Effekt, der es dem Autoritäts-Topos ermög­ licht, in doppelter Hinsicht seine Wirkung zu entfalten.⁶¹ Die Rahmungen der übrigen eschatologischen Spiele sowie der Passionsspie­ le weisen nicht die Form des ‚Prophetenvorspiels‘ der deutschen Weltgerichtsspie­

61 Formulierungen in der dritten Person, wie sie bisweilen vorkommen (vgl. z. B. JaWg: Diſſ ſeit gregorius der erſte lerer), zeugen von einer Entwicklung rein sprachlich durch Zitate evozierter Figuren hin zu Verkörperungen. In einigen Texten, wie z. B. LuWgI, ist klar ersichtlich, dass ei­ nige Figuren ‚nur‘ zitiert werden: Die Worte Jobs und Salomos sind Teil von Gregorius’ Rede. In anderen Spielen, wie etwa MüWg, sind alle Figuren deutlich erkennbar als Verkörperungen aus­ geformt. Reuschel hat diesbezüglich die These vertreten, dass in einer Urform lediglich Joel, Sophonias, Gregorius und Hieronymus aufgetreten und im Laufe der Überlieferungsgeschichte aus Zitaten die Rollen der übrigen Figuren gemacht worden seien (vgl. Reuschel, Die deutschen Weltgerichtsspiele, S. 110 f.). Im Hinblick auf Editionsfragen hat dies in der Forschung die Frage angeregt, wie der in den verschiedenen Spielen unterschiedlich entwickelte Veränderungspro­ zess zu bewerten und abzubilden sei. Schulze hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Ent­ wicklung nicht als ‚Fehler‘ in den betroffenen Handschriften zu charakterisieren sei, sondern als bewusst vorgenommene Variation (vgl. Schulze, Erweiterungs- und Veränderungsprozesse, S. 212). Die Steigerung der persuasiven Wirkung mag (neben pragmatischen, etwa personal- und zensurbedingten Gründen) hier eine Rolle gespielt haben.

4.1 Der Autoritäts-Topos | 289

Abb. 10: Gregorius-Miniatur in KoWg

le auf⁶², doch finden sich die gleichen sprachlichen und bildlichen Verfahren zur Konstruktion des Autoritäts-Topos – allerdings in unterschiedlicher Ausprägung und meist in separierter Form. WoPs und LuPs amalgamieren die Präcursor-Rolle mit Kirchenväter-Figuren. In WoPs ist es Augustinus, der eine rahmende Funktion einnimmt, indem er zu Beginn in das Spiel einführt und im weiteren Verlauf durch wiederholte kommen­ tierende Redebeiträge die Handlung gliedert. Die Identität der Figur geht aus den Regieanweisungen hervor (z. B. Quo finito dicat augustinus, Regieanweisung vor V. 1; „Nachdem dies beendet ist, spreche Augustinus“), jedoch stellt sich die Au­ gustinus-Figur, anders als in den oben besprochenen Weltgerichtsspielen, nicht auch sprachlich dem Publikum vor. Ebenso verhält es sich in LuPs, wo die alt­ testamentlichen und einige der neutestamentlichen Episoden (figur und histori) jeweils von einer der Kirchenväter-Figuren Gregorius, Jheronimus, Augustinus,

62 Eine Ausnahme bildet LuA, in dem die Propheten Isaias (Jesaja), Etzechiel, Daniel und Za­ charias (Sacharja) in einem die Haupthandlung rahmenden Präludium auftreten. Da es sich trotz der strukturellen Übereinstimmung mit dem Vorspiel der oben behandelten deutschsprachigen Weltgerichtsspiele um eine deutlich abweichende Realisierung handelt, wird LuA weiter unten gesondert besprochen.

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Ambrosius und Chrysostomus⁶³ eingeleitet und interpretiert werden. Der lesen­ den Rezeption erschließt sich ihre Identität anhand ihrer im Nebentext aufgeführ­ ten Namen. Dem Publikum muss sie im Aufführungszusammenhang durch das Erscheinungsbild der Darsteller verdeutlicht worden sein. Vor dem Hintergrund der ausgeprägten ikonographischen Tradition im Mittelalter, die auch die Darstel­ lung der Kirchenväter betrifft, dürfte dies unschwer möglich gewesen sein. Dar­ über hinaus ist etwa auch die Verwendung von Tafeln oder Spruchbändern, deren Einsatz in anderen Spielen belegt ist⁶⁴, vorstellbar. Da die Nebentexte von WoPs und LuPs keine Angaben zum Aussehen der Figuren enthalten und auch bildliche Darstellungen in den Handschriften nicht vorhanden sind, kann über ihr konkre­ tes Erscheinungsbild nur spekuliert werden. Weil die Präcursor-Figuren in beiden Spielen nicht, wie durchaus gängig, funktionsanzeigende Namen tragen (prelocu­ tor, precursor, proclamator etc.), erscheint es wenig plausibel, dass ihre Identität dem Publikum nicht ersichtlich war.⁶⁵ Der Autoritäts-Topos wird folglich auf der rein visuellen Ebene evoziert. Dies erfolgt nicht nur durch persönliche Attribute der Figuren, die eine je­ weils spezifische Autorität markieren, sondern auch mithilfe von Requisiten, die auf allgemeiner Ebene den autoritativen Status bildlich vermitteln. Eine solche ist die Kanzel. Als Ort der Predigt ist sie in Spätmittelalter und Früher Neuzeit mit ei­ ner kirchlich reglementierten Form der religiösen Unterweisung verbunden, die von autorisierten Klerikern erteilt wird.⁶⁶ Sie markiert folglich nicht nur eine spe­ zifische, dem zeitgenössischen Publikum zweifellos vertraute Situation, sondern auch den Status der von ihr herabsprechenden Person bzw. Figur. Das Betreten

63 Johannes Chrysostomus ist der einzige der in der orthodoxen Kirche als ökumenische Leh­ rer verehrten Drei Hierarchen, welcher in den behandelten Spielen immer wieder als Autorität verwendet wird. 64 Vgl. Smith, Écriture dramatique, S. 164. In AlPs wurden im Rahmen des Einzugs der Spie­ ler zu Beginn der Aufführungen Fahnen (vexilli) vor den Darstellern hergetragen, die über ihre Rollenidentität informierten (vgl. Freise, Geistliche Spiele, S. 264). 65 In LuPs geht dem Auftritt des ersten Kirchenvaters, (Gregorius) ein Prolog der als Schilltknab Proclamatoris, Fendrich und Proclamator bezeichneten Figuren voraus, die eine erste rahmende Ebene bilden. Die Tatsache, dass hier eine Unterscheidung zwischen den funktional bezeichne­ ten Figuren und den Kirchenvätern vorgenommen wird, deutet ebenfalls darauf hin, dass letztere bewusst eingesetzt wurden und nicht beliebig durch anonyme Präcursor-Figuren ersetzbar sind, weshalb ihre Identität in der Aufführung visuell sichtbar werden musste. 66 Zu Gestalt und Entstehung der Kanzel vgl. Poscharsky, Peter: Kanzel. In: Theologische Re­ alenzyklopädie. Hrsg. von Horst R. Balz u. a., Bd. 17, Berlin, New York 1988, S. 599–604. Für ei­ nen groben Überblick über Predigtformen und zur Predigt kirchlich autorisierte Institutionen in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. Beutel, Albrecht u. a.: Predigt. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a., Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1585–1607, hier Sp. 1586 ff.

4.1 Der Autoritäts-Topos | 291

der Kanzel weist im Kontext des Schauspiels die Figur als Lehrbefugte aus, die aus einer autoritativen Stellung heraus spricht. Ebenjenen Effekt machen sich mehre­ re Spiele des behandelten Korpus zunutze. In LuPs wird der Auftritt Gregorius’, der am ersten Spieltag unmittelbar auf die Rede des Proclamators zur Einführung in die erste Episode – Paradies und Sündenfall – folgt, durch eine Regieanwei­ sung näher beschrieben: Enmitten im platz, o stat in einem sonderbaren, harzu gerüsten Cantzel oder stand, wol oben har under dem Paradys gestellt. den tragt man fürher, so offt ein Leerer reden sol, dann die Leerer gand nit am platz vmbher. (Regieanweisung vor V. 105) In der Mitte des Platzes steht er [Gregorius, CP] auf einer besonderen, hierfür angefertigten Kanzel oder einem Stand, der erhöht unterhalb des Paradieses aufgestellt ist. Den trägt man herbei, wann immer ein Lehrer sprechen soll, denn die Lehrer laufen nicht auf dem Platz umher.

LuPs kennzeichnet alle in kommentierender Funktion auftretenden Kirchenleh­ rer-Figuren durch die Kanzel, die ihnen vorbehalten ist und sie räumlich von den übrigen dramatis personae abgrenzt, als christliche Autoritäten. Indem die Requi­ site der Kanzel auf das kirchlich legitimierte Predigtamt verweist, kann über ih­ ren Einsatz im theatralen Kontext institutionelle Autorität ‚geliehen‘ werden. Die Kombination von Präcursor-Figur und Kanzel fungiert ausgehend von der allge­ meinen Anerkennung des Predigtamtes als Hochwertbild: Durch das Betreten der Kanzel wird bereits visuell die autoritative Stellung der Figur betont und ihre Rede schon im Vorhinein als wahr und bedeutsam markiert. Die Kanzel findet nicht nur in LuPs Verwendung. Auch die Miniaturen von Ju­ Be, MaPs und einer Handschrift GrPs⁶⁷ zeigen Figuren, die von einer Kanzel herab sprechen. In der Handschrift JuBes ist die Präcursor-Figur Le Prescheur (Der Pre­ diger), die zu Beginn des ersten Spieltags die Handlung einleitet, ebenfalls auf einer Kanzel stehend abgebildet. In MaPs zeigt jeweils eine Miniatur am Ende des zweiten und dritten Spieltags den Prescheur auf einer Kanzel. GrPs stellt die Prä­ cursor-Figur ebenso auf einer Kanzel dar. In den drei Spielen ist die Präcursor-Figur, die den funktionsanzeigenden Na­ men Le Prescheur trägt bzw. unbenannt bleibt⁶⁸, nicht als Kirchenvater, insze­ niert. Trotz dieser Anonymität unterstreicht ihre Verortung auf der Kanzel, dass es sich um Figuren handelt, die mit christlicher Autorität versehen sind. Darüber

67 Es handelt sich um Ms. 6431 der Bibliothèque de l’Arsenal in Paris. 68 In GrPs ist die entsprechende Passage im Nebentext mit Prologue finable (vgl. vor V. 9905; „abschließender Prolog“) überschrieben.

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Abb. 11: Le Prescheur auf einer Kanzel vor Publikum im Prolog JuBes

Abb. 12: Präcursor-Figur auf einer Kanzel vor Publikum am Ende des ersten Spieltags in GrPs

hinaus zeigen JuBe und MaPs auch einige in die Handlung integrierte Figuren (S1) auf Kanzeln. In MaPs ist Jesus mehrfach predigend auf einer Kanzel dargestellt⁶⁹ und in JuBe stehen die predigenden Propheten Enoc und Elie ebenso auf einer Kanzel wie der Antichrist, wenn er dem Volk seine Lehre verkündet.⁷⁰ Die Kanzel markiert folglich auch innerhalb der Handlung Situationen lehrhafter Unterwei­ sungen und ist religiösen Autoritäten vorbehalten.⁷¹ Sprachliche Evokationen des Autoritäts-Topos erfolgen durch den direkten, meist namentlichen Verweis auf konkrete Autoritäten oder durch Zitate. Es zeich­ nen sich hier spezifische Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Spiel­ typen sowie innerhalb des gleichen Typs ab. Die Pro- und Epiloge der Passions­

69 Vgl. Arras, Bibliothèque municipale, Ms. 625, fol. 94v und 111v. Auch Johannes der Täufer (saint Jehan Baptiste), dessen Predigt den zweiten Spieltag einleitet, ist auf einer Kanzel darge­ stellt, vgl. fol. 83r. 70 Vgl. Besançon, Bibliothèque municipale, Ms. 579, fol. 10v. 71 Zur negativen Autorität des Antichristen vgl. das folgende Teilkapitel.

4.1 Der Autoritäts-Topos | 293

Abb. 13: Zwei Miniaturen aus MaPs; links: Le Prescheur und weitere Figuren am Ende des zwei­ ten Spieltags; rechts: Le Precheur und weitere Figuren am Ende des dritten Spieltags

spiele verwenden deutlich seltener den Autoritäts-Topos als die eschatologischen Spiele und referieren häufiger direkt auf die Heilige Schrift als auf biblisches Per­ sonal oder Kirchenlehrer.⁷² Es finden sich in den Rahmungen der Passionsspie­ le, wenn überhaupt, nur vereinzelt namentliche Nennungen biblischer Personen oder bedeutender Kirchenväter. In der Regel dienen diese Nennungen dazu, ei­ ne spezifische Bibelstelle oder Kommentarliteratur anzuzeigen.⁷³ Ein solcher Ge­

72 Vgl. z. B. GrPs, V. 1088: Et font les escripz mencion („und die Heilige Schrift besagt“) oder LuPs, V. 58: Die heilig gschrifftt dasselb gar grundtlich seit („die Heilige Schrift sagt ebenjenes ganz ge­ nau“). 73 Für einige Belegstellen vgl. GrPs, MaPs, PfPs und WoPs: In GrPs vgl. V. 1692–1695: S’argurons que sy et que non / comme saint Thomas l’a traictié / soubtillement en son traictié / sur le tiers livre des Sentences. („Sie werden über das Für und Wider debattieren, wie es der Heilige Thomas [Tho­ mas von Aquin, CP] scharfsinnig in seiner Schrift über das dritte Buch der Sentenzen [Sentenzen des Petrus Lombardus, CP] behandelt hat.“). Der Verweis auf Thomas von Aquin dient in der Pas­ sage dazu, die allegorische Darstellung des procès de paradis theologisch abzusichern, in der über die Erbsünde und deren Tilgung durch Gottvater, Sohn oder Heiligen Geist diskutiert wird. In MaPs vgl. V. 13256–13259 : Oez la parolle dolente / Que nostre Saulveur nous presente / Parmi la bouche d’Isaie / Qui le nous dist par prophetie. („Hört die schmerzliche Rede, die unser Herr uns aus dem Munde Jesajas übermittelt, welcher sie uns prophezeit.“). In PfPs vgl. V. 984–991: Jer sült mit andacht sein berayt / Zw schreiben in eür hercz di wort, / Got selbs gesprochen hat / Durch den propheten an ainer stat, / Des nam ist Moyses genant, / Das puech Leuiticus wol erkant,

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brauch deutet darauf hin, dass die biblischen Autoritäten hier weniger als histo­ rische Personen evoziert werden, denn als Spezifikationen der Heiligen Schrift. Es handelt sich folglich um Metonymien des Typs ‚Erzeuger für Erzeugnis‘: Die Autorennamen stehen für die ihnen zugeschriebenen Kapitel der Bibel. PaPs verfügt nicht über eine Rahmenhandlung und die von SGPs beinhal­ tet keine Evokationen des Autoritäts-Topos. In den Prologen von AlPs, LuPs und MaPs wird die Autorität der Heiligen Schrift (und weiterer theologischer Lehrwer­ ke) über Verweise oder Zitate evoziert. Die Präcursoren in AlPs und LuPs refe­ rieren auf diese und den Akt des Lesens, der einer klerikal gebildeten Elite vor­ behalten war und somit nicht nur auf die Schriftautorität, sondern auch auf die Kompetenz der rahmenden Figur verweist.⁷⁴ Der Präcursor von MaPs schließlich verwendet zu Beginn jedes Prologs aller vier Spieltage ein lateinisches Bibelzitat, welches das Thema des Spieltags schlagwortartig zusammenfasst und innerhalb des jeweiligen Prologs mehrfach wiederholt wird.⁷⁵ Die Verwendung der lateini­ schen Sprache, die im Mittelalter als die Sprache der Heiligen Schrift galt, lässt / Dar in dye wort geschriben stant / Von den ich willen ze reden han. („Ihr sollt euch mit Andacht darauf vorbereiten, die Worte in euer Herz zu schreiben, die Gott selbst an einer Stelle durch den Propheten gesprochen hat, der Moses genannt wird: das bekannte Buch Leviticus, in dem die Worte geschrieben stehen, von denen ich sprechen will.“). In WoPs vgl. V. 771 f.: Wuzent auch vor die warheit sunder wan, / die ewangelisten haben gelan. („Ihr sollt wissen, dass dies die Wahrheit ohne Trug ist, welche die Evangelisten hinterlassen haben.“). 74 Vgl. AlPs, V. 5: szo wie ich dick hon geleszenn („so wie ich es häufig gelesen habe“); LuPs, V. 58: Die heilig gschrifft dasselb gar grundtlich seit („die Heilige Schrift sagt dieses ganz deutlich“). Der Verweis auf die eigene Lektüre in AlPs ist an dieser Stelle klar ersichtlich auf die Lektüre der Bibel oder autoritativer Lehrwerke bezogen, welche die Notwendigkeit der Bußgesinnung thematisie­ ren. 75 Da die ca. 80 ersten Verse von MaPs fehlen, ist die vollständige Nennung des ersten Zitats, das zweifellos die Rede anführte, nicht überliefert. Die erhaltenen Teile des Prologs lassen je­ doch darauf schließen, dass es sich um A summo celo egressio ejus. Et occursus ejus usque ad summum. (basierend auf Ps 18,7: „a summitate caeli egressus eius | et cursus eius usque ad sum­ mitatem illius [. . . ]. Vom höchten Punkt des Himmels ist sein Ausgang, und sein Lauf ist bis zu seinem hösten Punkt“, lat. Orig. und dt. Übers. hier und im Folgenden zitiert nach Hieronymus, Biblia Sacra Vulgata) handelte. Die übrigen Zitate sind das von der Figur Johannes des Täufers selbst gesprochene Penitentiam agite, appropinquabit enim regnum celorum. (vgl. vor V. 6425, ba­ sierend auf Mt 3,2: „paenitentiam agite adpropinquavit enim regnum caelorum. Tut Buße, denn das Königreich der Himmel hat sich genähert!“) sowie die wiederum durch den Prediger (Le Pre­ scheur) ausgedrückten Zitate Circumdederunt me gemitus mortis, dolores inferni circumdederunt me. (vgl. vor V. 13242, basierend auf Ps 17,5f.: „circumdederunt me funes mortis | et torrentes diabuli terruerunt me funes inferni circumdederunt me [. . . ]. Mich haben die Stricke des Todes umgeben, und die Sturzbäche des Teufels haben mich erschreckt, die Stricke der Unterwelt haben mich um­ geben [. . . ].“) und Surrexit Dominus vere. (vgl. vor V. 18568, basierend auf Lk 24,34: „dicentes quod surrexit Dominus vere et apparuit Simoni. [. . . ] und sie sagten: ‚Der Herr ist wahrhaft auferstanden und ist dem Simon erschienen.‘“).

4.1 Der Autoritäts-Topos | 295

das Wort Gottes selbst lautlich erscheinen. Es ist anzunehmen, dass sich im he­ terogenen Publikum der religiösen Spiele stets lateinunkundige Laien befanden, die den Inhalt der Zitate folglich nicht verstehen konnten. Dennoch dürften sie nicht zuletzt aus liturgischen Kontexten mit der Prosodie des Lateinischen ver­ traut und somit in der Lage gewesen sein, es wiederzuerkennen. Die Sprache der Heiligen Schrift kann so in den Spielen als Schlaglaut – genauer: Hochwertlaut – genutzt werden, der das authentische Bibelwort als die höchste christliche Auto­ rität evoziert.⁷⁶ Die Passionsspiele, die den Autoritäts-Topos nutzen, sind in ihrer Fokussierung auf die Bibel stärker dem Gedanken der Schriftautorität verpflichtet als dem personalen Sukzessionsprinzip. Letzteres äußert sich in den deutschspra­ chigen Weltgerichtsspielen, die über bildliche und sprachliche Zeichen Personen Präsenz verleihen, die durch persönliche oder institutionelle⁷⁷ Autorität eine Le­ gitimationsfunktion erfüllen. Mit Ausnahme von JuRou, das lediglich über einen kurzen Epilog verfügt, in dem keine Autoritäts-Verweise auftauchen, verwenden alle übrigen eschatologi­ schen Spiele (JuBe, JuMo und LuA) sprachliche Zeichen zur Evokationen des Au­ toritäts-Topos. Im direkten Vergleich mit den Passionsspielen zeigt sich folglich, dass die eschatologischen Spiele deutlich häufiger in der Rahmung der Handlung Verfahren gebrauchen, die die eigene Legitimation erweisen sollen. Dies mag, wie bereits erwähnt, dem Stoff geschuldet sein und könnte darauf hindeuten, dass Weltgericht und Antichrist Thematiken darstellten, die einer stärkeren autoritati­ ven Absicherung bedurften als die der Evangelienberichte. Darüber hinaus lässt sich in JuBe, JuMo und LuA eine andere Akzentsetzung beobachten als in den oben behandelten deutschsprachigen Weltgerichtsspie­ len. Einerseits ist diese in JuBe und JuMo unmittelbar darin ersichtlich, dass sie den Autoritäts-Topos nicht mithilfe von Verkörperungen evozieren, sondern rein sprachlich. Andererseits verschiebt sich der Akzent sowohl in den sprachlichen Evokationen als auch in den Verkörperungen, die LuA aufweist, wie in den Pas­ sionsspielen von der personalen auf eine metonymische Ebene. JuBe und JuMo verwenden auffällig häufig lateinische Bibelzitate, um – wie oben in MaPs – die absolute Autorität der Heiligen Schrift zur Stützung ihrer Aussagen in Anspruch zu nehmen. Der Präcursor (Le Prescheur) JuBes stellt im Prolog des ersten Spiel­ tags seiner Rede ebenso ein lateinisches Bibelzitat voran wie der Messagier, der

76 Eine sozial in- bzw. exkludierende Funktion, die das Lateinische zweifellos ebenfalls erfüllen kann (vgl. dazu auch das folgende Teilkapitel), scheint in MaPs kein primäres Ziel zu sein, da die Inhalte aller lateinischen Passagen im mittelfranzösischen Text der Prologe erklärt und damit auch für Lateinunkundige zugänglich gemacht werden. 77 Das Hochwertbild der Kanzel ist als Evokation der institutionellen Autorität der Kirche zu verstehen, deren Status ebenfalls auf dem Sukzessionsprinzip gründet.

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in JuMo am dritten Spieltag das Weltgericht einleitet.⁷⁸ Auch im weiteren Ver­ lauf der Präcursor-Reden evozieren lateinische Zitate und Phrasen wiederholt die authentische Schriftautorität und stellen zudem die Kompetenz der latein­ kundigen Präcursor-Figur (und in letzter Instanz des Autors) aus.⁷⁹ Namentliche Nennungen biblischen Personals sind in JuBe und JuMo ebenfalls häufig zu fin­ den, überwiegend in Verbindung mit einer konkreten Bibelstelle.⁸⁰ Die biblischen Autoritäten werden somit auch hier in erster Linie zur Evokation der Heiligen Schrift genutzt und sind als Metonymien zu verstehen. Diese Tendenz wird in einer Reihe von Evokationen des Autoritäts-Topos durch Nennung der Heiligen Schrift selbst unterstrichen.⁸¹ Auch JuBe und JuMo sind folglich dem Verständnis der Schriftautorität deutlich mehr verpflichtet als dem Traditionsgedanken, der stärker das Sukzessionsprinzip von Autoritätspersonen fokussiert, und weisen in diesem Aspekt eine größere Nähe zu den Passionsspielen auf als zu den oben behandelten Weltgerichtsspielen des Schaffhauser Typus. Dieselbe Akzentverschiebung ist in LuA zu beobachten. Dort äußert der Pro­ clamator explizit das Bemühen, im Rahmen der Aufführung die Bibel richtig auszulegen (domitt wir clare gschrifft legen dar, V. 135), weshalb vnser spil sin jn­ gang / allein mit langen sprüchen hadtt, / was jn iedem propheten gschriben stadtt (V. 132 ff.; „unser Spiel nur mit langen Sprüchen darüber beginnt, was in jedem Propheten geschrieben steht“). An dieser und weiteren Stellen der ProclamatorRede ist der metonymische Gebrauch der Propheten im Sinne biblischer Kapitel, die in Form konkreter, beschriebener Seiten evoziert werden, klar erkennbar. So etwa auch, wenn sich der Proclamator insbesondere an jene, die das Weltgericht

78 Vgl. JuBe: Evigilabunt omnes, alii ad vitam, alii ad obprobrium. (vor V. 1; basierend auf Dan 12,2: „et multi de his qui dormiunt in terrae pulvere evigilabunt | alii in vitam aeternam et alii in obprobrium [. . . ]. Und viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, werden erwachen, die einen zum ewigen Leben, und die anderen zur Schande, [. . . ].“) und JuMo: Omnes nos manifestari / oportet ante tribunal christi / ut referat unisquisque / prout gessit in corpore / sive bonum sive malum (fol. 2r; basierend auf 2Kor 5,10: „omnes enim nos manifestari oportet ante tribunal Christi | ut referat unusquisque propria corporis prout gessit | sive bonum sive malum. Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi präsentiert werden, damit jeder einzelne das ihm Zustehende [für sein Leben] erhält, so wie er es getan hat, sei er gut, sei er schlecht.“). 79 In JuBe vgl. z. B. V. 15, nach V. 16 und 76; in JuMo vgl. fol. 2r–2v und Ch 195. 80 In JuBe vgl. z. B. V. 75 f.: Si com David le nous tesmoigne, / Qui bien promist ceste besoingne („So wie David es uns bezeugt, der diese Notlage ankündigte.“ [Es folgt ein lateinisches Zitat, das auf Ps 13,3–5 basiert.]). In JuMo vgl. z. B. fol. 2v: tel sentence de jesuschrist / est preserve Saint jean le dit („Eine solche Aussage von Jesus Christus ist überliefert; [der Evangelist] Johannes sagt es.“ [Es folgt ein lateinisches Zitat, das auf Joh 5,29 basiert.]). 81 Vgl. z. B. JuBe, V. 148: Si com l’Escripture l’anseigne („so wie die Heilige Schrift es lehrt“) und JuMo, Ch 195: Comme disent les Sainctz Escritz („wie es die Heiligen Schriften sagen“).

4.1 Der Autoritäts-Topos | 297

bezweifeln, mit der Aufforderung wendet, den Propheten im Sinne biblischer Verkörperungen Aufmerksamkeit zu schenken: die selbig sunders sond nemen war, so offenlich reden, man mag kein gschrifft han, wies zun letzten zytten werde gan! ..

des allt vnd nüw testament jn vberfluss Voll anfangs, mittel bis in bschluss. hettens die glesen, so obgenempt, .. on zwyffel sölch zreden sich vbel gschempt. [. . . ] an deren geschwätz sich niemandt keer, sunder vff dis sprüch ietz hör, so jeder prophett, cristus vorab, petrus, paulus vnd judas⁸² gelertt hab, Do wir an iedes statt ein person Die gschrifft offenlich reden lon [. . . ] (V. 136–150)

Ihnen sollen besonders diejenigen gut zuhören, die öffentlich sagen, es stünde nichts darüber geschrieben, wie es am Weltende zugehen werde! Das Alte und Neue Testament [sind] im Überfluss davon voll, in Anfang, Mitte und Schluss. Hätten sie die gelesen, die so hochmütig sind, hätten sie sich zweifellos sehr geschämt, so zu reden. [. . . ] Auf ihr Geschwätz soll niemand etwas geben, sondern jetzt diesen Sprüchen zuhören, wie sie jeder Prophet vor Christus Petrus, Paulus und Judas gelehrt hat, indem wir für jeden [Propheten] die Heilige Schrift durch eine Person öffentlich sprechen lassen [. . . ]

Die anschließend auftretenden Figuren sind sämtlich, wie bereits explizit vom Proclamator eingefordert, als Personifikationen der Heiligen Schrift zu verstehen, die einzelnen biblischen Kapiteln eine körperliche Präsenz verleihen. Der met­ onymische Charakter der Figuren, der von den Verkörperungen in den übrigen deutschsprachigen Weltgerichtsspielen abweicht, äußert sich auch in hochfre­ quenten sprachlichen Referenzen auf konkrete Bibelstellen, die den Effekt ver­ stärken, dass hier die Heilige Schrift selbst zu Wort kommt. Der Beginn der Rede Etzechiels sei als Beispiel für viele weitere Stellen herausgegriffen: Durch mich den propheten etzechiel .. offnett vch der herr gott jsrael: wer den entcrist anhangt jn letsten tagen, syn⁸³ württ nitt ferer törffent zfragen.

Durch mich, den Propheten Ezechiel, öffnet euch der Herrgott Israel: Wer in den letzten Tagen dem Antichristen folgt, wird alsdann nicht nach ihm fragen dürfen.

82 Hier ist zweifellos der neutestamentliche Judasbrief (Jud) gemeint, der u. a. das Weltgericht thematisiert und in patristischer Auslegung Judas Thaddäus zugeschrieben wurde. 83 Gemeint ist Gott.

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am achtvndtrysgisten gschryben stadt ..

(durch mich gott vchs offnen ladt,) das er den entcrist würt allso lan vff erd mitt den mentschen vmb gan, [. . . ] (V. 335–342)

Im achtunddreißigsten Kapitel steht geschrieben, (durch mich offenbart Gott es euch,) dass er [Gott, CP] den Antichristen auf der Erde mit den Menschen Umgang haben lassen wird, [. . . ]

Obwohl LuA und die übrigen deutschsprachigen Weltgerichtsspiele sich in ih­ rem Präludium durch die Kombination bildlicher und sprachlicher Evokationen des Autoritäts-Topos grundsätzlich der gleichen Verfahren bedienen, zeigt die Analyse der punktuellen Formen von Bedeutungskonstitution (Schlagwörter, -bilder und -laute im Sinne von tokens) Unterschiede, die auf abweichende ideo­ logische Akzentsetzungen hindeuten (Schriftautorität/Tradition).⁸⁴ Der Blick auf alle behandelten Spiele macht zudem die diachrone Streuung der verschiedenen Akzentuierungen sichtbar und verdeutlicht so, dass die Betonung der Schrift­ autorität kein reines Phänomen des sechzehnten Jahrhunderts und der Refor­ mation ist, sondern sich bereits im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert abzeichnet. Bestätigen sich die beschriebenen Tendenzen innerhalb der Handlung (Kom­ munikationsniveau N1)? Hier fällt auf, dass die deutschsprachigen Weltgerichts­ spiele des Schaffhauser Typus, welche den Autoritäts-Topos simultan anhand bildlicher und sprachlicher Zeichen evozieren, innerhalb des eigentlichen Ge­ richtsspiels kaum mehr auf ihn rekurrieren. In einigen Spielen ist er gegen Ende in den Lobpreisungen der Heiligen, die sich namentlich vorstellen, präsent.⁸⁵

84 Engere Verbindungen bestehen dennoch zum früher in Luzern entstandenen LuWgI, das im Rahmen der Gerichtshandlung verschiedene christliche Autoritäten erneut die Wahrheit des Weltgerichts bezeugen lässt. Diese sind ebenfalls teilweise klar erkennbar metonymisch konzi­ piert, wie etwa in der Rede Ezechiells deutlich wird, der auf sich selbst im Sinne des biblischen Kapitels verweist (vgl. V. 837–843). Vor dem Hintergrund des gleichen Entstehungsortes und ei­ nes nicht allzugroßen zeitlichen Abstands zwischen LuWgI und LuA stellt sich die Frage, warum LuA in seinem Präludium stark von LuWgI, das zweifellos als Vorlage verwendet werden konn­ te, abweicht. Die Tilgung des nichtbiblischen Personals (Hieronymus, Gregorius) unterstreicht die Fokussierung der Schriftautorität und steht vielleicht mit einem apologetischen Gestus ge­ genüber den Angriffen der Reformatoren auf das römisch-katholische Traditionsverständnis in Zusammenhang. 85 Vgl. ChWg (V. 1196–1313) und MüWg (V. 1656a–1806). In LuWgI ist, wie bereits erwähnt, die eigentliche Gerichtsszene durch eine weitere Form von Prophetenreigen erweitert, der ebenfalls dem Schema von Prä- und Postludium folgt. Christus (Saluator) ruft erst die Propheten und Pa­ triarchen und dann die zwölf Apostel dazu auf, die christliche Wahrheit zu bezeugen, worauf­ hin diese als Verkörperungen erscheinen. Die alttestamentlichen Figuren nennen stets zu Beginn der Reden ihren Namen und weisen ihre Autorität somit auch zusätzlich sprachlich aus, wohin­

4.1 Der Autoritäts-Topos |

299

Überwiegend wiederholen sich die gleichen Verfahren wie zu Beginn jedoch erst in der abschließenden Rahmung, dem Nachspiel bzw. Postludium. Auch die Handlung JuBes, das einen besonders ausführlichen Prolog besitzt, weist fast keine Autoritäts-Verweise auf.⁸⁶ Die intensive Evokation des Autoritäts-Topos in den Rahmungen dieser Spiele kann in Verbindung mit den spärlichen Belegen in der Handlung so gedeutet werden, dass hier die Legitimierungsfunktion in der Rahmung ‚abgehandelt‘ wird und die zentrale szenische Darstellung stüt­ zen soll, die ihrerseits keiner weiteren argumentativen Passagen bedarf. Ein­ zelne Stellen oder Episoden, die den Autoritäts-Topos evozieren, können ge­ zielt zur besonderen Hervorhebung bestimmter Handlungselemente eingesetzt werden. In LuA sind Autoritäts-Verweise ebenfalls vor allem, aber nicht ausschließ­ lich, der Rahmung vorbehalten, doch treten auch innerhalb des Spieltags neuund alttestamentliche Figuren, die eine Präcursor-Funktion (S2) einnehmen, in recht kurzen Abständen in Erscheinung. Ihre Erläuterungen und Deutungen des Geschehens sind stets von Evokationen des Autoritäts-Topos begleitet, die im sprachlichen Ausweis ihrer eigenen Identität sowie konkreter Bibelstellen be­ stehen. Beispielsweise spricht Jhieronimus, dessen Rede in LuA nach der bereits erwähnten Episode aus dem Neuen Testament die eigentliche Antichrist-Hand­ lung einleitet: Jeronimus ein cristlich lerrer, verstand durch gschrifft, vs welchem gschlecht vssgan soll vnd würt geboren werden der entcrist vor dem end der erden Namlich in babilon der statt vom gschlecht dan, alls jacob wyssgseyt hatt, der helig erzuatter. alls er vorab

Hieronymus, ein christlicher Lehrer; vernehmt durch die Heilige Schrift, aus welchem Geschlecht der Antichrist hervorgehen und geboren werden soll, vor dem Ende der Erde, nämlich in der Stadt Babylon, aus dem Geschlecht Dan, wie Jakob es vorhergesagt hat, der heilige Erzvater: Als er im Voraus

gegen die Apostel-Reden den expliziten sprachlichen Verweis nicht enthalten. Dies könnte da­ mit zusammenhängen, dass ihnen keine spezifischen biblischen Schriften zugeordnet werden und deshalb nicht die Notwendigkeit besteht, die Identität der Figuren über den Apostel-Sta­ tus hinaus näher zu bestimmen. Tatsächlich fällt auf, dass die Propheten- und Patriarchen-Figu­ ren häufig die ihnen zugeschriebenen Bibelstellen explizit nennen (vgl. z. B. in Baruchs Rede: Das vindt man an minem dritten capitell geschriben, V. 954; „das findet man in meinem drit­ ten Kapitel geschrieben“), was für die Apostel-Figuren entfällt. Vorstellbar wäre auch, dass das jeweilige Erscheinungsbild der Apostel anhand bekannter Attribute die Identifikation im Aufführungszusammenhang ermöglichte. 86 Vgl. V. 1145 f.

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eim jeden siner sünen den segen gab o o sprach er zu dan sim sun on mittel, stadt gschriben am nünvndviertzigisten capitell o jn (!) buch der gschöpfft: dan württ durchs recht sin volck richten wie ein ander gschlecht, [. . . ] (V. 1165–1176)

jedem seiner Söhne den Segen gab, sprach er unvermittelt zu Dan, seinem Sohn, das steht im neunundvierzigsten Kapitel der Genesis geschrieben: Dan wird durch das Recht über sein Volk richten wie ein anderer Stamm. [. . . ]

Auf diese Weise wird in LuA eine über die dargebotene Handlung reflektieren­ de Metaebene stets aufrechterhalten (N2), innerhalb derer auch die Legitimation des Dargestellten wiederholt abgesichert wird, obwohl handlungstragende Figu­ ren (S1) den Autoritäts-Topos nur punktuell verwenden. Anders verhält es sich in JuMo und JuRou. JuRou gestaltet das Gerichtsgesche­ hen zu großen Teilen als Streitgespräch aus, in dessen Rahmen der AutoritätsTopos eine große Rolle spielt. Auf diese soll im nächsten Teilkapitel eingegangen werden. Auch JuMo enthält Streitgespräche, die später zur Sprache kommen wer­ den. Darüber hinaus ist in ihm der Autoritäts-Topos ein konstantes Element, das immer wieder an das biblische Fundament der Inszenierung erinnert und somit die Heilige Schrift als Absicherung des Dargestellten evoziert. In JuMo erfolgt dies nicht mithilfe eines konstant präsenten vermittelnden Kommunikationsniveaus (N2) wie in LuA, sondern auf der Handlungsebene (Kommunikationsniveau N1). Verschiedene christliche Figuren zitieren lateinische Bibelpassagen oder den ka­ nonischen Kirchenvätern zugeschriebene Werke, die in der Regel durch eine fran­ zösische Paraphrase ergänzt werden. Um nur ein Beispiel herauszugreifen:⁸⁷ Die Figur Le 1er subiect, die einen tugendhaften Menschen aus der Gemeinde des gu­

87 Für das Zitat eines Kirchenvaters, vgl. z. B. den Aufruf der vier Engel an die Menschen, sich für das Weltgericht in Josaphat einzufinden: Surgite mortui venite ad iudicium / levez vous tous et vifz et mortz / chascune ’ame prenne son corps / et venez tous en josaphat / rendre compte de vostre es­ tat, fol. 6r; „Steht auf, ihr Toten, und kommt zum Gericht. Steht alle auf, sowohl Lebendige als auch Tote – jede Seele nehme ihren Körper – und kommt alle nach Josaphat, um über euer Ergehen Rechenschaft abzulegen.“. Die lateinische Passage ist im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit in zahlreichen Schriften mit eschatologischer Thematik zu finden und wurde zeitgenössisch dem Kirchenlehrer Hieronymus zugeschrieben (vgl. Das Münchner Gedicht von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Nach der Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek Cgm 717. Editi­ on und Kommentar. Hrsg. von Christoph Gerhardt und Nigel F. Palmer, Berlin 2002, S. 35–38).

4.1 Der Autoritäts-Topos |

301

ten Pastors (Le bon pasteur) darstellt, führt ein lateinisches Bibelzitat⁸⁸ an, um die Richtigkeit der vertretenen Kindererziehung abzusichern: Ainsi seront tousiour joyeux ceulx qu’auront este diligentz de bien apprendre leurs enfans et qui les auront corriges quand ilz auront faict quelque’ exces au contraire de grandz tormantz aura qui perdra ses enfans l’escripture dit clairement de patre impio queruntur filii quoniam propter illum sunt in opprobrium or se plaindront fort les enfans de leurs parantz mal diligentz car pour eux ilz ont grand oultrage (fol. 35r–35v)

So werden diejenigen immer froh sein, die darauf geachtet haben ihre Kinder gut zu erziehen und die sie korrigiert haben, wenn sie einen Fehler gemacht haben. Im Gegenteil wird derjenige große Qualen erleiden, der seine Kinder verdirbt. Die Schrift sagt klar und deutlich: Über den gottlosen Vater klagen die Kinder, denn wegen ihm sind sie verachtet. Dann werden sich die Kinder sehr über ihre verantwortungslosen Eltern beklagen, denn sie sind schuld an ihrer Schande.

Wie in den bereits genannten Passagen aus anderen Spielen fungiert die lateini­ sche Sprache hier als Hochwertlaut, der das Gesagte als authentisches Bibelwort markiert. Die französische Paraphrase macht den Inhalt für das gesamte Publi­ kum verständlich, woraus zu schließen ist, dass es auch an dieser Stelle nicht um In- und Exklusionsprozesse aufgrund unterschiedlicher Bildung geht, son­ dern um den Ausweis von Kompetenz im Feld einer allgemein anerkannten Auto­ rität. Die deutlich belehrende Wirkungsabsicht der Passage erscheint auf dieser Basis gerechtfertigt. Die Passionsspiele, welche den Autoritäts-Topos in ihren Rahmungen we­ niger stark bemühen als die eschatologischen Spiele, machen in der Handlung sämtlich von ihm Gebrauch, um in spezifischen Episoden die Wahrheit des Dar­ gestellten zu unterstreichen. In einigen Passionsspielen treten die Autoritäten bildlich in Form von Verkörperungen auf. So inszeniert zum Beispiel MaPs am zweiten Spieltag (vgl. V. 8117–8216) die Verklärung Jesu⁸⁹ und lässt etwa Moses

88 Es handelt sich um eine Passage aus dem alttestamentlichen Apokryph Jesus Sirach (Sir 41,10), das auch als Ecclesiasticus bezeichnet wird. In JuMo ist kein Unterschied im Umgang zwi­ schen kanonischen und apokryphen Schriften der Bibel erkennbar. Beiden wurde offenbar ein autoritativer Status zugesprochen. 89 Auf einem Berg wird Jesus vor den Augen einiger seiner Jünger während des Betens von einem hellen Licht erfüllt und es erscheinen Mose und Elias und sprechen mit ihm. Aus einer Wolke ertönt die Stimme Gottes und bestätigt, dass es sich um seinen Sohn handle (Mk 9,2–13; Mt 17,1–13; Lk 9,28–36).

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mit den Gesetzestafeln in den Händen erscheinen (Moyse tenant ses tables., vor V. 8152), anhand derer er unmittelbar visuell für das Publikum erkennbar ist, da es sich um sein traditionelles Attribut handelt, das bereits in Kapitel 3 mehrfach Erwähnung fand.⁹⁰ Bevor Jhesus am vierten Spieltag die Gerechten aus dem Lim­ bus befreit, kündigt der Erzengel Gabriel seine Ankunft an, woraufhin einige dort befindliche Gestalten des Alten und Neuen Testaments ihrer Freude Ausdruck verleihen und die Befreiung mit Vorhersagen der Heiligen Schrift in Verbindung bringen. So spricht zum Beispiel Ysaye (Jesaja): Apparant or est advenue La prophetie que disoie Du temps passé quant je vivoie, Il me souvient bien que je dis En mes escriptures et mis : Populus qui ambulabat in tenebris vidit lucem magnam habitantibus in regione umbre mortis, lux orta est eis. (V. 20379–20383)

Es ist nun sichtbar die Prophezeiung eingetreten, die ich in der Vergangenheit vorhersagte, als ich lebte; ich erinnere mich gut, dass ich in meinen Schriften sagte: Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht; und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Ähnlich wie in den eingangs beschriebenen deutschsprachigen Weltgerichtsspie­ len ruft MaPs in der Figur des Ysaye bildliche und sprachliche Evokationen des Autoritäts-Topos hervor. Die Darstellung oszilliert erkennbar zwischen der verkör­ perten Person des Jesaja, auf dessen Lebenszeit referiert wird, und der Autorität seiner Schriften, die nicht nur wörtlich genannt werden, sondern aus denen die Figur auch in lateinischer Sprache zitiert. Über die Figur des alttestamentlichen Propheten sichert MaPs die Wahrhaftigkeit der szenischen Darstellung ab, indem sowohl personale als auch Schriftautorität simultan evoziert werden. In PfPs tre­ ten in der gleichen Episode die Autoritäten ebenfalls verkörpert auf und nennen stets zu Beginn ihrer jeweiligen Rede den eigenen Namen (z. B. Ich, weyssag Ys­ saias, V. 2873; „ich, der Prophet Jesaja“), bevor sie die Wahrhaftigkeit des darge­ stellten Geschehens bezeugen. Die Passionsspiele machen folglich innerhalb der Handlung von den Evokationsformen Gebrauch, die die eschatologischen Spiele hauptsächlich der Rahmung vorbehalten. Über Verkörperungen hinaus evozieren die Passionsspiele den AutoritätsTopos zudem rein sprachlich auf dem internen Kommunikationsniveau. Die Hei­ lige Schrift wird auch von in die Handlung eingebundenen Figuren als Autorität

90 Die Szene ist auch in GrPs zu finden (vgl. V. 13124–13308), in dem ebenfalls zunächst die Propheten verkörpert auftreten und anschließend Gott selbst aus einer Wolke heraus spricht, um zu bezeugen, dass Jesus wahrhaft Gottes Sohn ist.

4.1 Der Autoritäts-Topos | 303

angeführt⁹¹ und zitiert.⁹² Einige Spiele zitieren in volkssprachlicher Übersetzung, wie etwa in AlPs zu sehen, wo in der Episode der Heilung des Blindgeborenen (V. 1413–1647) Petrus Jesus verspricht, ihn auf seiner Reise in fremde Länder begleiten zu wollen, wie das Evangelium es beschreibe: dyn loib wolen mer bekant machen, als sprichet des ewangelies wort: ‚in allen sachen weszet starck vnd thut yn allen zyden recht vnd forchtet nyt der mentschen geslecht.‘ das wort vns die ewangelisten beschribbenn, das sal krefftigk an vns blybenn. (V. 1488–1494)

deinen guten Ruf wollen wir bekannt machen, wie es im Evangelium heißt: ‚Seid in allen Belangen stark und handelt immer gerecht und fürchtet nicht das Menschengeschlecht.‘ Dieses Wort haben uns die Evangelisten geschrieben, daran sollen wir uns immer halten.

Die Erwähnung des Evangeliums durch Petrus ist ein offenkundiger Anachronis­ mus, der auf dem inneren Kommunikationsniveau N1 stärker zur Geltung kommt als in den Rahmungen, da diese als vermittelndes Kommunikationsniveau (N2) von einer räumlich und zeitlich der Handlung enthobenen Position aus mit dem Publikum kommunizieren. AlPs nimmt den offensichtlichen Anachronismus in Kauf oder nutzt ihn gezielt, um die Aufmerksamkeit der Rezipierenden zu gewin­ nen und den Autoritäts-Topos nachdrücklich zu evozieren.

91 So lässt etwa PfPs Jesus gegen die Versuchung durch den Teufel die Heilige Schrift explizit anführen (Die heilge scrift vns daz vorgith, V. 128; „die Heilige Schrift lehrt uns das“) und PaPs in der Episode von der Befreiung der guten Seelen aus dem Limbus eine Seele (Une ame) spre­ chen: Nous vient delivrer de prison. / Grant tens a qu’il le nous promit / Par Davi et par Salemon. (V. 1422 ff.; „Er kommt, um uns aus dem Kerker zu befreien. Vor langer Zeit wurde es uns von Da­ vid und Salomon vorhergesagt.“). In SGPs verweist eines der Kinder, die Jesus während seines Einzugs in Jerusalem begrüßen, auf die Bibel, die ihre Erlösung durch Jesus vorhersage (Jhesu, tu nous racheteras ; / Ce nous recipte l’escripture, V. 466). WoPs legt ebenfalls der Figur des Andreas, einem der Fischer, die zu Jüngern Jesu werden, einen Verweis auf die Bibel in den Mund, wenn er ausspricht, er habe die Wahrheit über die Ankunft des Messias gehört, von dem die scrift vns saget. (V. 190; „von dem uns die Heilige Schrift berichtet“). Auch in allen übrigen Passionsspielen wird der Autoritäts-Topos über den Verweis auf die Bibel evoziert. 92 Es gelten nur solche Passagen als Bibelzitate, die als solche markiert sind. Da viele Episoden sprachlich sehr nah am Bibeltext bleiben, sind große Teile der Spiele als Zitate oder Paraphrasen aufzufassen. Von diesen klar zu unterscheiden sind jedoch Stellen, an denen durch den Wechsel ins Lateinische der Zitatcharakter deutlich gekennzeichnet wird, oder solche, an denen konkrete Hinweise darauf gegeben werden, dass eine spezifische Bibelstelle zitiert wird. Diese Markierun­ gen sind als Signale für den Autoritäts-Topos zu verstehen, weil hier die Autorität der Heiligen Schrift explizit evoziert wird, welche ansonsten implizit bleibt.

304 | 4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie

In anderen Fällen zitieren die Figuren auf Latein, wie zum Beispiel in MaPs: Das Spiel lässt in Anlehnung an Mt 2,1–6 Herodes, als er mit der Prophezeiung der Geburt eines neuen Königs von Israel konfrontiert wird, zwei jüdische Gelehrte ihre Heiligen Schriften daraufhin überprüfen, ob dies der Wahrheit entspreche. Maistre Galien, einer der beiden Gelehrten, wird fündig: Or trouvons nous cy par escript Ce don’t le roy nous fait demande Et que par Gallopin nous mande. Et tu Bethleem terra Juda nequaquam minima es in principius Juda ; ex te enim exiet dux qui regat populum meum Israel.⁹³ Cest escript dit notoirement Que de Bethléem preprement Isseroit cellui qui regnera Et Israel gouvernera. (V. 3510–3516)

Nun finden wir hier geschrieben, wonach der König uns fragt und weshalb er [den Boten] Gallopin zu uns schickt. Und du, Bethlehem, Land Juda, keineswegs bist du die geringste unter den führenden [Städten] Judäas; aus dir wird nämlich der König hervorgehen, der mein Volk Israel regieren wird. Diese Schrift sagt bekanntlich, dass aus Bethlehem wahrhaftig derjenige kommen wird, der herrschen und Israel regieren wird.

Die Bibel wird an dieser Stelle als Autorität in die Handlung eingebunden. Die in­ haltliche Dopplung, die durch das lateinische Zitat und die anschließende franzö­ sische Paraphrase entsteht, verdeutlicht, dass der lateinischen Wiedergabe hier kaum Erkenntniswert zukommt. Vielmehr fungiert sie wie in den Rahmungen als Authentizitätssignal, das die Heilige Schrift als Fundament der theatralen Bear­ beitung evoziert. Auch im Handlungsverlauf sind Passagen in lateinischer Spra­ che folglich als Hochwertlaute zu charakterisieren, die die Spiele nutzen, um das authentische Bibelwort widerzugeben und so die Legitimation ihrer Darstellung auszuweisen. Einige der Passionsspiele verwenden das Lateinische nicht nur in ausgewie­ senen Fremdzitaten, sondern auch als Teil der direkten Figurenrede im Sinne von Eigenzitaten. Zum Beispiel zeigt AlPs eine Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden, in der die Figuren Jesus und Sinagoga stets ihre Reden auf La­ tein beginnen, um den Inhalt anschließend auf Deutsch zu paraphrasieren (vgl. V. 1722–1769, die lateinischen Passagen sind in der Verszählung Janotas nicht be­ rücksichtigt). Die lateinischen Teile sind direkte Zitate aus Joh 8,46–59 in der Vul­ gata-Übersetzung. Indem die Figuren Saluator und Sinagoga sich des authenti­ schen Bibelworts bedienen, als welches die lateinische Fassung für einen Großteil

93 Mt 2,6.

4.1 Der Autoritäts-Topos | 305

der spätmittelalterlichen Bevölkerung zweifellos gelten darf, evozieren sie die Au­ torität der Heiligen Schrift. Nicht nur in AlPs⁹⁴, sondern auch in GrPs stellt Judas in der Abendmahlsszene die Frage, wer der Verräter sei, auf Latein, während der übrige Text volkssprachlich ist.⁹⁵ Auch der Moment des Verrats selbst ist durch lateinische Passagen gekennzeichnet: Judas Icy le baise Ave Raby. Maistre, d’un bon jour vous salu.

Judas Hier küsst er ihn. Seid gegrüßt, Rabbi. Herr, ich grüße Euch.

Jhesus Amice, ad quid venisti, qui me fais ce devost salu ? [. . . ] (V. 19036 ff.)

Jesus Freund, wozu bist du gekommen, der du mich so ehrfürchtig grüßt? [. . . ]

Die lateinische Sprache trägt nicht zu einem besseren Verständnis des Publikums bei und fügt der Handlung keine zusätzlichen Inhalte hinzu. Ganz im Gegenteil zieht sie die Darstellung ohne Informationszugewinn in die Länge. Dies dürfte nicht zu einer Dynamisierung der Szene beigetragen haben. Dass die Dopplung aus lateinischem Zitat und deutscher Paraphrase dennoch in wichtigen religiö­ sen Streitgesprächen und Schlüsselszenen auftritt, legt nahe, dass es sich um ein theatrales Verfahren der Selbstlegitimierung handelt. Der für die Handlungsdy­ namik eventuell retardierende Effekt der Wiederholung wird in Kauf genommen, um über die lateinische Sprache die Autorität der Bibel zu evozieren, welche die Authentizität des Geschehens bzw. der vertretenen Position untermauert.

4.1.2 Autoritätenkonflikte und subversive Tendenzen? Im vorausgehenden Teilkapitel wurde gezeigt, wie eschatologische Spiele und Passionsspiele christliche Autorität evozieren, um ihre Darstellung der Heilsge­ schichte sowie religiös-unterweisende Deutungselemente abzusichern. Sämtli­ che Autoritäten und auch der Autoritäts-Topos selbst werden hier rein affirmativ verwendet. In einigen Spielen finden sich jedoch auch Passagen, die die evozier­

94 Vgl. V. 3140 ff.: Numquid ego sum, rabi? / [. . . ] / Sage, meynster, meynstu mich? / sal ich vorraid­ den dich? („Bin ich es etwa, Rabbi? [. . . ] Sag, Herr, meinst du mich? Werde ich dich verraten ?“). 95 Vgl. V. 18156–18159: Puisqu’on fait enqueste si forte, / numquid tunc ego sum rabi ? / Suis je pas lëal en la sorte ? / Serez vous de par moy trahy ? („Weil wir eine so intensive Befragung durchführen: Bin dann etwa ich es, Rabbi? Bin ich der Illoyale in der Gruppe? Werdet Ihr durch mich verraten werden?“).

306 | 4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie

ten Autoritäten in eine andere Perspektive rücken und mithin die Frage aufwer­ fen, ob – und wenn ja, wie – die religiösen Spiele konfligierenden autoritativen Positionen eine Bühne geben und auch Ansatzpunkte zu kritischen Reflexio­ nen über den Autoritäts-Topos enthalten, die sich in subversiven Tendenzen äußern. Ein prominenter szenischer Typus, der die Konfrontation verschiedener Au­ toritäten erlaubt, ist das religiöse Streitgespräch. Die Häufigkeit, mit der dieses in den untersuchten Spielen auftaucht, gibt Lazars These recht, es handle sich um eine besonders beliebte didaktische Form der Amplifikation im spätmittelalterli­ chen Schauspiel.⁹⁶ Der Disput zwischen opponierenden Figuren(kollektiven) bie­ tet die Möglichkeit, die Wahrheit der im jeweiligen Schauspiel als richtig vertrete­ nen christlichen Position zu erweisen und ggf. zugleich den Gegner zu diskreditie­ ren.⁹⁷ Aus der Vielzahl religiöser Dispute, die sich in den meisten Spielen finden, sei für die Analyse eine Auswahl an Episoden herausgegriffen, die im Hinblick auf die Verwendung des Autoritäts-Topos von Interesse sind.⁹⁸ In den behandel­ ten Antichristspielen ist die verbale Konfrontation zwischen den Propheten Elias und Enoch und dem Antichristen als ein zentrales Streitgespräch zu identifizie­ ren, in dem ein Autoritätenkonflikt ausgetragen wird. Die französischen eschato­ logischen Spiele JuRou und JuMo inszenieren das Gericht im Sinne eines Disputs zwischen dem göttlichen Richter in Begleitung seiner Beisitzer (Engel, Apostel) und den verdammten Seelen und bisweilen auch Teufeln, die gegen ihre Verurtei­ lung argumentieren.⁹⁹ Für die Passionsspiele AlPs und SGPs ist das Streitgespräch zwischen den allegorischen Figuren Ecclesia und Synagoge als bedeutende Insze­

96 Vgl. Lazar, Disputatio, S. 129: „Dans le domaine de l’amplification didactique, qui attribuait un rôle de plus en plus important à la conception typologique, une scène surtout allait rapide­ ment s’imposer et occuper désormais un lieu prédominant dans la dialectique sous-jacente de l’action : la scène de la ‘disputatio’, – présentation dramatique d’une controverse théologique qui, depuis des siècles déjà, existait dans la réalité et avait trouvé son expression dans une pro­ fusion d’écrits et de pamphlets. La ‘disputatio’ [. . . ] est devenue très tôt ce qu’on pourrait appeler ‘la scène à faire’.“ 97 Vgl. hier S. 129 f. 98 In allen Streitgesprächen wird mithilfe von rationes argumentiert; Autoritäts-Verweise treten häufig, aber nicht immer auf. Insbesondere in ‚innerchristlichen‘ Disputen (z. B. der Streit zwi­ schen den allegorischen Figuren der vier Töchter Gottes im Rahmen des procès de paradis in MaPs und GrPs) ist der Autoritäts-Topos kaum präsent, wohingegen er in interreligiösen Streit­ gespräche fast immer zur Anwendung kommt. Es werden dann rationes und auctoritates nicht gegeneinander ausgespielt, sondern ergänzend verwendet. 99 Im Gegensatz zu JuMo und JuRou gestalten JuBe und die deutschsprachigen Weltgerichts­ spiele das Gericht nicht als Streitgespräch, sondern als einen Wechsel von Urteilssprüchen und Klagereden, die jedoch kein argumentatives Wechselspiel entfalten.

4.1 Der Autoritäts-Topos |

307

nierung einer verbalen Konfrontation zu nennen, deren Vergleich weiterführende Erkenntnisse zur Nutzung des Autoritäts-Topos verspricht. Das Streitgespräch ermöglicht es prinzipiell, den Autoritäts-Topos nicht nur unilateral zur Stützung der im jeweiligen Schauspiel als richtig markierten Positi­ on zu verwenden, sondern ihn auch der Gegenposition in den Mund zu legen. Von Interesse ist dann, welche Autoritäten von den Streitenden gebraucht werden, ob Autoritätenkonflikte entstehen und wie sie ggf. aufgelöst werden. Auch die Fest­ stellung, dass der Autoritäts-Topos weiterhin einseitig Verwendung findet, ist ein Befund, der im Hinblick auf persuasive Strategien analysiert werden kann. Die einschlägigen religiösen Streitgespräche unterscheiden sich in vielen Aspekten, lassen aber dennoch eine deutliche Tendenz erkennen. Im Disput zwischen den Propheten Elias und Enoch und dem Antichris­ ten manifestiert sich der verbale Kampf zwischen Gut und Böse. JuBe, JuMo und LuA inszenieren umfangreiche Wortgefechte¹⁰⁰, in denen die Propheten zu christlichen Helden stilisiert werden, die den rechten Glauben und das rechte Handeln vorführen. Ihr gottgegebener Auftrag, der sie aus der Entrückung im irdischen Paradies in das endzeitliche Geschehen zurückbringt, um gegen den Antichristen zu predigen, verleiht ihnen einen liminalen Status zwischen der menschlichen und der göttlichen Sphäre.¹⁰¹ Die in den Spielen hervorgehobe­ ne Exzeptionalität der Propheten, welche sich etwa in ihrem übermenschlich hohen Alter oder ihrem prophetischen Wissen über das zukünftige Geschehen äußert, macht sie zu heroischen Figuren, denen eine besondere Autorität zu­ kommt.¹⁰² In JuBe und insbesondere in LuA potenzieren sie diese durch Verweise auf die Heilige Schrift und weitere alttestamentliche Propheten, die sie als Ga­ ranten für die Wahrheit ihrer Aussagen anführen.¹⁰³ Demgegenüber erhält der Antichrist in allen Spielen die Rolle des Usurpators rechtmäßiger christlicher

100 Der Antichrist-Teil ChWgs enthält kein Streitgespräch. Aufgrund der fragmentarischen Über­ lieferung JuMos ist nicht eindeutig ersichtlich, welchen Umfang die vollständige Episode hatte. Die in Hs. B enthaltenen Textpassagen sind klar erkennbar Ergänzungen, die ein ausführliches Streitgespräch vermuten lassen. 101 Zur Heroisierung der Prophetenfiguren in JuMo und LuA vgl. Posth, Carlotta: Krisenbewäl­ tigung im spätmittelalterlichen Schauspiel. Elias und Enoch als eschatologische Heldenfiguren. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 5/1 (2017), S. 21–29. 102 Zu den theatralen Mechanismen der Heroisierung Elias’ und Enochs vgl. hier S. 23–26. 103 Vgl. in JuBe V. 1132–1151 und auffallend viele Passagen in LuA, z. B. V. 3162–3165, 3174–3181, 3194–3211 und 3300 ff. Das Streitgespräch-Fragment JuMos (vgl. fol. 73r–74r) enthält keine Auto­ ritäts-Verweise. Aufgrund der häufigen Evokationen des Autoritäts-Topos, die die Propheten in ihren Worten an Juden und Heiden gebrauchen (vgl. fol. 80r–82r), erscheint es wahrscheinlich, dass sie auch im Wortgefecht mit dem Antichristen auf den Autoritäts-Topos zurückgriffen, doch lässt sich dies auf der Basis der Überlieferung nicht verifizieren.

308 | 4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie

Autorität. Er besetzt räumlich-visuell und sprachlich den Platz höchster Au­ torität, indem er sich im wiedererbauten Tempel Jerusalems als Gott verehren lässt, von der Kanzel – einem Hochwertbild christlichen Lehramts – predigt und sich selbst zum Messias erklärt. Im Streitgespräch haben jedoch er und seine Schergen dem übermächtigen Gewicht christlicher Autorität, das die Prophe­ ten Enoch und Elias gegen ihn ins Feld führen, nichts entgegenzusetzen. In allen Spielen fehlt der Autoritäts-Topos auf der antichristlichen Seite gänzlich. In LuA begegnet der Gegenspieler der Propheten ihren autoritativ gestützten Ar­ gumenten mit Bestechungsversuchen und Drohungen¹⁰⁴ und zuletzt mit Gewalt, die im Martyrium Elias’ und Enochs endet. Der Antichrist JuBes und JuMos ist den göttlichen Gesandten von Anfang an feindlich gesinnt, doch reduziert sich auch seine Gegenwehr auf Beschimpfungen, Drohungen und Beteuerungen oh­ ne argumentative Stützung.¹⁰⁵ Das Streitgespräch wird somit in allen genannten Antichristspielen zu einer Vorführung der Alternativlosigkeit der christlichen Lehre. Das antichristliche Gegenangebot wird durch den Verzicht auf jegliche argumentative Stützung als Scheinalternative entlarvt, die keine Legitimation besitzt. Der autoritativ abgesicherten christlichen Wahrheit steht lediglich die antichristliche Willkür gegenüber, welche ein Eigenkommentar des Antichris­ ten in LuA auf den Punkt bringt: sy sints, nitt ich dess tüffels fründ. / wan sg­ satz das stadt jnn mim gewallt. / jch leg das vss, wie mir das gfallt. (V. 3367 ff.; „Sie [Elias und Enoch, CP] sind die Freunde des Teufels, nicht ich, denn das Gesetz liegt in meiner Macht. Ich lege es aus, wie es mir gefällt.“) Die Anti­ christspiele inszenieren das apokalyptische Geschehen folglich als einen Au­ toritätenkonflikt, der durch die Dekonstruktion der Autorität des Antichristen aufgelöst wird. Das bereits verschiedentlich erwähnte Streitgespräch zwischen den Personifi­ kationen von Judentum und Christentum zeigt ebenfalls die Konfrontation zwei­ er opponierender Glaubensentwürfe. Ähnlich wie die Antichristspiele inszenie­

..

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o

104 [. . . ] ir söllen mich ouch eeren / alls vweren einigen gott vnd herren / so gib ich vch gross gutt .. vnnd gelltt, / mach vch zwen fürsten jn der welltt / ob ir min gnad gern vff wend nen; / wo nitt, so o mund ir sleben drum gen. (V. 3699–3704; „Ihr sollt mich ebenfalls als euren einzigen Gott und Herren ehren, dann gebe ich euch großen Besitz und viel Geld, mache euch zu zwei Fürsten in der Welt; wenn nicht, müsst ihr das Leben dafür geben.“) 105 Vgl. in JuBe z. B. V. 1122–1125: Faux pappelars, villains pourri, / Vous y mentez ! Je suis li Filz / De Dieu, qui tout puet et tout fist / Avecques li toutes les choses. („Verlogene Heuchler, verdorbene Schurken! Ihr lügt! Ich bin der Sohn Gottes, der alles kann und aus eigener Kraft alles erschaffen hat.“) In JuMo vgl. fol. 73v : ha ces larrons filz de putain / qui me viennent cy oultrager / je vous jure pour abbreger / que brief me vengeray de vous („O diese Schufte, Hurensöhne, die mich hier beleidigen ! Ich schwöre euch kurz und gut, dass ich mich bald an euch rächen werde.“).

4.1 Der Autoritäts-Topos | 309

ren die Passionsspiele AlPs und SGPs sehr unausgeglichene Dispute, in denen sie beiden Parteien unterschiedlich viel Redezeit und autoritative Stützung zu­ billigen. In der umfangreichen Szene von AlPs, die insgesamt 783 Verse umfasst, besteht ein deutliches quantitatives Ungleichgewicht zwischen den Beiträgen Si­ nagogas (316 Verse) und denen Ecclesias (467 Verse). Einen noch deutlicheren Kontrast liefert die Verwendung von Autoritäts-Verweisen. Während Ecclesia in annähernd jeder ihrer Reden biblische Autoritäten anführt und in deutscher Über­ setzung aus der Heiligen Schrift zitiert, um die Legitimation ihrer Aussagen zu be­ legen¹⁰⁶, bestehen die Reaktionen Sinagogas vor allem aus Polemiken und Dro­ hungen gegen seine Kontrahentin. Er beruft sich an einigen Stellen sehr allge­ mein auf das Alte Testament (alte ee) und Stammvater-Figuren wie Abraham¹⁰⁷ und Mose¹⁰⁸, doch bleiben ausgewiesene Zitate die Ausnahme und seine Äuße­ rungen auf der Ebene von Behauptungen. Mehrfach wiederholt er mit apodikti­ scher Bestimmtheit, die Juden wüssten es besser als die Christen¹⁰⁹, doch hat er – ähnlich wie die Antichrist-Figur – dem Arsenal an Autoritäten, derer sich Eccle­ sia bedient, wenig entgegenzusetzen. Sowohl in den Antichristspielen als auch im Passionskontext ziehen die Gegenspieler-Figuren den Status der von christli­ cher Seite verwendeten Autoritäten nicht in Zweifel und bringen keine konkur­ rierenden Autoritäten gegen sie in Stellung. Die einzige Ausnahme ist in AlPs die Evokation des Talmuds, der im gesamten Spiel auf jüdischer Seite sprachlich und materiell präsent ist. Als rein jüdisches Schriftwerk, das anders als das Alte Testa­ ment nicht auch Teil der christlichen Glaubenslehre wurde, ist er eine konkurrie­ rende heilige Schrift mit einem konkurrierenden Autoritätsanspruch. Die Funk­ tion des in Form eines Buches auf der Bühne präsenten Talmuds als Stigmabild für die jüdische Gemeinschaft wurde bereits im Rahmen des Konkurrenz-Topos

106 Vgl. z. B. vnd hot geseyt Iheremias, / in synen bucher ich das laß: / ‚Ecce dies veniunt. / das sprichet got durch synen mont.‘ [. . . ] (V. 4643–4646; „Und Jeremia hat gesagt, in seinen Büchern las ich es: ‚Siehe, es kommen die Tage. Dies spricht Gott durch seinen Mund.‘“ Es folgt eine Para­ phrase von Jer 23,5–7, die in V. 4658 endet.). Vgl. z. B. auch V. 4560–4569, 4603–4616, 4701–4705, 4732 ff., 4819–4824 und 4885–4894. 107 Vgl. V. 4690. 108 Die Erwähnung Mose, auf die ein Zitat folgt, das Sinagoga gegen das Dogma der Trinität richtet, bleibt die Ausnahme (vgl. Moyses in vnszern buchern beschribben hot: / ‚hore, Israhel, mynen raid, / dyn gott ist eyn gott.‘, V. 5126 ff.; „Mose hat in unseren Büchern geshrieben: ‚Höre, Israel, meinen Rat: Dein Gott ist ein Gott.‘“). Zur bloßen namentlichen Nennung vgl. auch V. 4940 und 5054. 109 Vgl. V. 4635 f.: mer wysszen bessers dan sie iß weyß, / mer enkeren vns nicht an er predigeys. („Wir wissen es besser, als sie [Ecclesia, CP] es weiß; wir scheren uns nicht um ihre Predigten.“) Vgl. z. B. auch V. 4687.

310 | 4 Der Autoritäts-Topos als axiomative Persuasionsstrategie

besprochen.¹¹⁰ Wenn Sinagoga eine Aussage mit alszo saget vns vnszer talmuth (V. 4918; „so sagt es uns unser Talmud“) belegt, beansprucht er für ihn einen autoritativen Status, der von christlicher Seite nicht geteilt wird. An dieser Stelle könnte eine verbale Auseinandersetzung darüber entstehen, welche Autoritäten als anerkannt gelten dürfen, und letztlich auch eine Diskussion über den Auto­ ritäts-Topos selbst und seinen Geltungsbereich. Interessanterweise ist nichts da­ von der Fall. Ecclesia geht auf den Talmud-Verweis nicht ein und setzt ihre Be­ weisstrategie anhand christlicher Autoritäten mit einem Zitat des Propheten Jona fort (vgl. V. 4922–4928). Der Talmud wird in AlPs als konkurrierende Autorität, die potentiell einen Autoritätenkonflikt auslösen könnte, nicht ernstgenommen und scheint lediglich dazu zu dienen, die Devianz der Juden zusätzlich herauszu­ stellen. Das Streitgespräch zwischen Saincte Eglise und Synagogue in SGPs ist, wie bereits an anderer Stelle erwähnt¹¹¹, auf ein Minimum beschränkt und wirft die traditionellen Streitpunkte mehr schlagwortartig auf, als dass es sie argumenta­ tiv entwickelt. Synagogue bedient sich des Autoritäts-Topos, wenn sie auf die jüdischen Stammväter Abraham, Ysaÿs, Moÿse verweist (vgl. V. 3103 ff.) und Saincte Église vorwirft, die Schriften des Judentums nicht gelesen zu haben (vgl. V. 3134 f.). Die Reden Saincte Eglises enthalten demgegenüber weder Au­ toritätsverweise noch Zitate, weshalb es unter der bloßen Berücksichtigung des Gesprächsverlaufs überraschen muss, dass der Engel (L’Ange) sie nach einem kurzen Wortwechsel zur Siegerin des Streits erklärt (vgl. V. 3150). Die schnelle sprachliche Abhandlung ist mit dem hohen Bekanntheitsgrad des Motivs zu er­ klären, das den Ausgang bereits vorgibt. Auch in SGPs wird das Streitgespräch folglich nicht genutzt, um einen tatsächlichen Autoritätenkonflikt zu inszenieren, der konkurrierende Positionen wirklich zur Sprache kommen lässt. Die Gerichtsszenen in JuRou und JuMo liefern einen vom Bisherigen abwei­ chenden Befund. Beide Spiele gehen laut Lazar zumindest teilweise auf eine ge­ meinsame Vorlage zurück, eine französische Bearbeitung des Processus Belial.¹¹² Obwohl sie insgesamt unterschiedlich strukturiert sind, weist der Gerichts-Teil in JuRou und JuMo große inhaltliche und auch formale Gemeinsamkeiten auf, die mit der geteilten Vorlage zu erklären sind.¹¹³ Die Verurteilungen der Verdamm­

110 Vgl. Kapitel 3.1.1.1. 111 Vgl. hier die Ausführungen zu SGPs. 112 Die französische Bearbeitung des lateinischen Processus (1382) wird Pierre Ferget zugeschrie­ ben und erschien 1481 im Druck. Vgl. dazu Lazar, Lo Jutgamen General, S. 17 ff., für den Abdruck eines Auszugs des Textes nach der Edition von 1484 vgl. hier S. 235–252. 113 Lazar stellt den Handlungsablauf beider Spiele einander gegenüber (vgl. hier S. 21–32).

4.1 Der Autoritäts-Topos | 311

ten sind zu großen Teilen als Debatten ausgestaltet, innerhalb derer Jesus und seine Beisitzer für und die Sünder gegen den Schuldspruch argumentieren. Die Beweisführung ist weit mehr ausgeformt als in den übrigen behandelten Streitge­ sprächen und weicht bezüglich der Verwendung des Autoritäts-Topos von ihnen ab. Hatten in den anderen Spielen positiv konnotierte, christliche Figuren auch in verbalen Auseinandersetzungen fast ein Monopol auf den Autoritäts-Topos, fin­ det er in JuRou und JuMo dagegen auf beiden Seiten Verwendung. Zwei signifi­ kante Beispiele seien hier herausgegriffen. In JuRou präsentiert sich eine Grup­ pe von Juden vor dem Gericht, nachdem sie von den Engeln aufgerufen wurden. Dieu, der Richter, trägt die Anklage vor, woraufhin die jüdischen Figuren Gele­ genheit bekommen, sich zu verteidigen. Sie argumentieren häufig mit Passagen aus dem Alten Testament, die sie nicht selten als direkte Zitate in ihre Verteidi­ gungsreden einfließen lassen. Zum Beispiel entgegnet Aymo auf den Vorwurf des Gottesmordes: Tres que ex[c]ellen jutge, se vos platz, Vulhatz me mantenen escotar : Vos, per vostre propheta, vos avetz dich : ‚Que negun home no mude sa sentencia‘, Coma dis Esdras en son premier libre, En lo capitol sieyzeme ; ‚He que aquel que venra contra aquel ley Que sia punit grandamen He que en un fust sia fiquat He en lo miech loc de sa mayso estaquat He après que totses sos bes Sian vendutz he preses, Quar Dieu ha ordenat Que son temple sia guardat.‘ He per so que no es endeve[n]gut Que vos lo agatz destruch, Coma vos, senher, aviatz dich, Nos vos avem més en crotz Sertas entre dos layros. (V. 402–420)

Höchster Richter, bitte hört mir zu: Ihr habt durch Euren Propheten gesagt: ‚Kein Mensch soll sein Urteil ändern‘, wie Esra in seinem ersten Buch, im sechsten Kapitel, sagt; ‚Und der, der gegen dieses Gesetz verstößt, soll hart bestraft werden und er soll an einen Pfahl gefesselt werden, in der Mitte des Hauses, und dann soll ihm all sein Besitz verkauft und abgenommen werden, denn Gott hat befohlen, dass sein Tempel behütet wird.‘ Und weil es nicht eingetreten ist, dass Ihr ihn zerstört, wie Ihr, Herr, es gesagt hattet, haben wir Euch gekreuzigt, wahrlich, zwischen zwei Dieben.

Das Buch Esra, das für Christen und Juden einen autoritativen Text darstellt, dient Aymo als Stütze für seine Unschuldsbeteuerung. Auch die Rede Dieus, der ant­ wortet, nachdem alle jüdischen Figuren ihre Verteidigungen vorgetragen haben, enthält wiederholt Zitate aus der Heiligen Schrift, die als Argumentationsstützen dienen:

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Ho, Juzieus maluroses, Entendetz a mi trastotses : Vos autres avetz entendudas Totas las sanctas screpturas, He per so que vos autres disetz Que ieu vos avia tot jorn promés Hun sant home en vostra ley, Vos autres l’avetz agut, Quar ieu meteis hy soy vengut He vos iey parlat en parabolas, En proverbis he en figuras, Coma ha dich mon mesatgier Davit: ‚Quar ieu ubririey ma boqua En parabolas, en lo monde‘, Coma apar en lo psalme : At[t]endite popule meus legem meam, Que vol dire : ‚Atendetz ma ley, mon poble.‘ He se vos autres avetz reguardat Tot so que ieu vos iey predicat He en so que ieu vos disia, Que lo temple ieu destruria, Del temple de Salamo ieu no ente[n]dia pas Mas del temple de mon cors, [. . . ] (V. 458–480)

O unglückliche Juden, hört mir alle zu: Ihr anderen habt alle Heiligen Schriften kennengelernt und trotzdem habt ihr anderen gesagt, dass ich euch von jeher einen Heiligen für euer Gesetz versprochen hatte; ihr anderen habt ihn bekommen, denn ich bin selbst hierhergekommen und habe in Gleichnissen zu euch gesprochen, in Sentenzen und Symbolen, wie es mein Bote David gesagt hat: ‚Denn ich werde in der Welt in Gleichnissen sprechen‘, wie es im Psalm heißt: At[t]endite popule meus legem meam, was bedeutet: ‚Erfülle meine Lehre, mein Volk.‘ Und wenn ihr anderen alles das, was ich euch gepredigt habe, bedacht hättet, hättet ihr auch verstanden, dass ich, als ich von der Zerstörung des Tempels sprach, darunter nicht den Tempel Salomons verstand, sondern den Tempel meines Körpers, [. . . ]

In JuMo berufen sich etwa auch die Teufel wiederholt auf die Bibel, um ihre Ver­ urteilung abzuwenden. Sie gebrauchen lateinische Zitate, wie zum Beispiel Mam­ mona, der aus dem Buch der Weisheit (SapSal 11,25) zitiert, das an anderer Stelle etwa auch von der positiv konnotierten Figur des guten Königs (Le roy bon) ver­ wendet wird (vgl. fol. 41r): Nihil odisti eorum quæ fecisti encor certainement je dis puys qu’il nous a faict et formes nous ne debvons estre dampnes (fol. 22r)

Du verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast. Außerdem sage ich mit Sicherheit: Weil er uns geschaffen und geformt hat, können wir nicht verurteilt werden.

Mithilfe des Bibelzitats beansprucht Mammona für die Teufel, als Teil der göttli­ chen Schöpfung nicht vor Gott in Ungnade fallen zu können. Ihm antwortet einer der zwölf Apostel, die den Gerichtstag an der Seite Gottes vollziehen. Jakobus der

4.1 Der Autoritäts-Topos | 313

Ältere (Saint Jaques maieur) führt ebenfalls biblische Autoritäten an, um Mam­ mona zu widersprechen: Dieu n’hayt point vostre nature mais bien voz vices et pechez par lesquelz vous estes dampnez Dieu ne nous faict pour nous dampner ains bien plustost pour nous saulver ezechiel saint paul l’ont dit et les parolles jesuschrist le nous monstrent bien clairement car il nous dit apertement venez a moy tous vous pecheurs je vous leveray des labeurs et des pechez qui sont si grandz qu’ilz vous font aller tous pesantz et pource ne nous dampne pas (fol. 22r)

Gott verabscheut eure Natur überhaupt nicht, sehr wohl aber eure Laster und Sünden, derentwegen ihr verurteilt seid. Gott erschafft uns nicht, um uns zu verurteilen, sondern vielmehr, um uns zu retten. Ezechiel und Paulus haben es gesagt und die Reden von Jesus Christus zeigen es uns ganz deutlich, denn er sagt uns klar und deutlich: Kommt zu mir, all ihr Sünder, ich werde euch von den Mühen und den Sünden befreien, die so groß sind, dass sie euch niederdrücken. Und deswegen verurteilt er uns nicht.

Sowohl in JuRou als auch in JuMo wird folglich die gleiche Autorität – die Heili­ ge Schrift – für und gegen eine Position verwendet, worin sich das in utramque partem-Prinzip, das Topoi grundsätzlich auszeichnet, beinahe lehrbuchhaft rea­ lisiert. Es entsteht hier ein tatsächlicher Autoritätenkonflikt: Indem verschiedene biblische Autoritäten im Streit darum, ob die Sünder auf ewig verdammt werden sollen oder nicht, gegeneinander ausgespielt werden, stellt sich die Frage, in wel­ chem Verhältnis die Autoritäten zueinander stehen, ob Hierarchisierungen vorge­ nommen werden und welche Konsequenz die innere Heterogenität für die Bibel als allumfassende Autorität nach sich zieht. Unterschiedliche Gewichtungen der christlichen Autoritäten, etwa aufgrund von antiquitas, wie es vor dem Hintergrund humanistischer Einflüsse im fünf­ zehnten und sechzehnten Jahrhundert vorstellbar wäre, nehmen weder JuRou noch JuMo vor. Es lässt sich in keinem der Spiele eine bewusste Zuordnung un­ terschiedlicher Autoritäten zu den positiv-christlichen Positionen einerseits und den negativ-devianten andererseits feststellen und auch die Figurenreden ent­ halten keine Hinweise darauf, dass eine Autorität zugunsten einer anderen re­ lativiert würde. Vielmehr lösen JuRou und JuMo den Konflikt auf augustinische Weise: Ohne die von der Gegenposition herangezogenen Autoritäten in Zweifel zu ziehen, lösen die christlichen Figuren den Konflikt dadurch auf, dass sie ihren jeweiligen Antagonisten eine falsche Bibelexegese oder einen Fehler in der Ar­ gumentation nachweisen. Dieus Einwand, die Juden hätten die Aussage der Zer­ störung des Tempels wörtlich und damit falsch aufgefasst, folgt diesem Schema

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ebenso wie Saint Jaques maieurs Ausführungen zur unterschiedlichen Relevanz der Natur des Menschen und seiner Taten für das Weltgericht. Die Integrität der Heiligen Schrift bleibt auf diese Weise ebenso unangetastet wie der AutoritätsTopos selbst, dessen Gültigkeit auch im Wechselspiel mit rationes nicht hinter­ fragt wird. Zugleich ermöglicht das Streitgespräch eine szenisch wirksame De­ monstration der Überlegenheit christlicher Normen und Werte über abweichende Positionen. Es lässt sich folglich festhalten, dass auch JuRou und JuMo, obwohl sie den Gegenpositionen eine deutlich kompetentere Stimme verleihen, mit den oben behandelten Spielen gemein haben, dass der inszenierte Konflikt nicht da­ zu genutzt wird, christliche Autoritäten oder gar den Autoritäts-Topos selbst in Zweifel zu ziehen. Vor dem Hintergrund der durchweg intakten christlichen Autoritäten mag es überraschen, in einigen Spielen auf Formulierungen zu treffen, die einen ko­ mischen oder gar satirisch anmutenden Gebrauch von der Sprache der Heiligen Schrift machen. Insbesondere die Figurenreden der französischen Passionsspiele enthalten immer wieder lateinische Passagen, die aus dem Munde negativ konno­ tierter Figuren, wie den Teufeln, oder Figuren niederen Stands, wie zum Beispiel Dienern, die oben beschriebene Funktion des Lateinischen als ein die Autorität der Bibel evozierender Hochwertlaut in Zweifel ziehen. Es zeigt sich hier auch ein Unterschied zwischen dem deutschen und dem französischen Sprachraum, denn das besagte Phänomen tritt in den deutschsprachigen Spielen in geringerem Um­ fang auf.¹¹⁴ Dies mag mit der größeren sprachlichen Nähe zwischen dem Franzö­ sischen und dem Lateinischen zusammenhängen, die mehr Raum für Wortspiele bietet. In jedem Fall können die französischen Spiele an eine verbreitete theatrale Tradition lateinisch-französischer Kalauer (frz. calembour) anschließen, die so für den deutschen Sprachraum nicht belegt ist.¹¹⁵ Insbesondere die großen Passionsspiele MaPs und GrPs lassen an vielen Stel­ len einzelne lateinische Wörter oder Phrasen in ansonsten französische Figuren­ reden einfließen. Zum Beispiel spricht in MaPs am dritten Spieltag während der von Pilatus beauftragten Folterung Jesu einer der jüdischen Folterer (Le premier de Sidon):

114 Im Untersuchungskorpus enthält nur AlPs relevante Belegstellen (vgl. die lateinischen Re­ pliken der Teufel in der Szene von Christi Höllenfahrt, V. 7077–7298). 115 Die französischen farces und moralités sind vielfach reiche Quellen sprachlicher Komik, die sich aus Homonymien und Polysemien zwischen dem Französischen und dem Lateinischen er­ gibt. Ein eindrückliches Beispiel ist etwa Le maître d’école (vgl. Beck, Théâtre et propagande, S. 215–225).

4.1 Der Autoritäts-Topos |

Est elle faitte de façon ? La couronnette habemus, Il est heureux qu’il est venus En noz mains pour le couronner, Il doit bien par amours amer Qui scet faire ung tel chappelet, [. . . ] (V. 14441–14446)

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Ist sie [die Dornenkrone, CP] gut gemacht? Das Krönchen haben wir. Er hat Glück, dass er in unsere Hände geraten ist, um gekrönt zu werden. Er muss von ganzem Herzen den lieben, der ein solches Kränzchen zu fertigen vermag, [. . . ]

In der Spottrede, auf die die Dornenkrönung folgt, besitzt das lateinische Wort habemus keinerlei klerikal-autoritatives Gepräge. Es scheint beinahe unmotiviert im französischen Text aufzutauchen, würde es nicht – anders als seine französi­ sche Entsprechung avons – auf venus reimen. Vergleichbare Stellen finden sich ebenso in GrPs, wo zum Beispiel auch die Teufel-Figuren häufig einzelne lateini­ sche Wörter verwenden.¹¹⁶ Diese dienen ganz offensichtlich nicht der Evokation biblischer Autorität, sondern sind als Elemente einer klerikal gebildeten Gelehr­ tenkultur zu verstehen, welche die Figuren bruchstückhaft imitieren.¹¹⁷ Der meist banale und häufig auch syntaktisch unpassende Gehalt der lateinischen Versatz­ stücke kann als Mittel der Figurengestaltung verstanden werden. Indem negativ konnotierte dramatis personae wie Juden und Teufel in ihre ansonsten häufig gro­ be Sprache Ausdrücke eines ihnen fremden Bildungskontextes integrieren – und dies meist ungeschickt –, verleihen sie ihren Reden einen komischen Charakter und weisen sich selbst als prätentiös aus. Die lateinische Sprache dient hier folg­ lich auch als Schlaglaut, der auf eine Gelehrtenkultur verweist, die nicht der Zeit

116 Vgl. z. B. die Antwort Sathans auf Lucifers Auftrag an seine teuflischen Diener, auszuschwär­ men und die Menschen nach dem Sündenfall weiter zu verderben: Grand mercy a moy, Domine : / j’en ay esté l’ambaxadeur. (V. 1494 f.; „Dank mir, Herr: Ich habe es bewerkstelligt.“) Auch hier reimt Domine auf das vorausgehende Wort donné. Ebenso verhält es sich, wenn der Teufel Berith seinen Kameraden Cerberus, der unwillig ist, Lucifers Ruf zu folgen, ermahnt: vous y venrez, ou cru ou cuit, / payer vostre comparuit, /ouÿr que le roy parlera, / ou le deable vous chollera, (V. 3753– 3756; „Ihr werdet dorthin kommen, ob roh oder gekocht, um Eure Rechnung zu begleichen und zu hören, was der König zu sagen hat, oder der Teufel wird Euch verdreschen.“). 117 Auch Reinhold Hammerstein hat die lateinischen Passagen teuflischer Reden und ‚Gesän­ ge‘ im Schauspiel als parodistische Imitationen ausgelegt. Er bezieht diese auf die Engel bzw. das Heilige und Liturgische, dessen Nachahmung der Täuschung der Menschen diene (vgl. Hammer­ stein, Reinhold: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters. Mit 96 Tafeln, Bern, München 1962, S. 106). Zu Recht weist Hammerstein darauf hin, dass sich in der Nachahmung stets ein Bezug zum immer überlegen gedachten Prinzip des Guten manifes­ tiert. Zugleich scheinen jedoch Belegstellen wie die oben zitierte des jüdischen Folterers oder des Teufels Berith in keiner unmittelbar ersichtlichen Verbindung zur Liturgie zu stehen, auch nicht in einer parodistischen. Hier erscheint ein allgemeinerer Bezug zur mittelalterlichen, lateinisch­ sprachigen Gelehrtenkultur wahrscheinlicher zu sein.

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des inszenierten Geschehens entstammt, sondern jene des fünfzehnten Jahrhun­ derts ist.¹¹⁸ Im Munde der Teufel- und Dienerfiguren, die die Gelehrtensprache banalisieren oder in komischer Funktion verballhornen, wird sie auf der imma­ nenten Bedeutungsebene zu einem Stigmalaut, der die evozierte Gelehrtenkultur lächerlich macht. Zugleich fungiert er auf der rekonstruierten Bedeutungsebene als Stigmalaut, der sich gegen die Figuren selbst richtet, welche sich durch ihren stümperhaften Sprachgebrauch vor den Augen des Publikums selbst diskreditie­ ren. Die Autorität der Heiligen Schrift bleibt davon unberührt. Anders verhält es sich in Figurenreden, die lateinische Passagen verwenden, welche klar ersichtlich dem klerikalen Kontext zuzuordnen sind. Ein Beispiel da­ für ist die Rede Elÿasars, der in GrPs als Gastwirt auftritt, der die Heiligen Drei Könige und ihr Gefolge in Bethlehem empfängt, nachdem diese das Jesuskind besucht haben. Als er seinen wohlhabenden Gästen neben einer angemessenen Unterbringung auch ein üppiges Mahl anbietet, lehnt Lucanus, einer der Ritter der Könige, ab, denn die frommen Männer ne quierent boire ne mengier ; / ilz ne quierent que le repos., (V. 6734 f.; „wollen weder trinken noch essen; sie suchen nur Ruhe.“). Celsander, ein weiterer Ritter des Gefolges, ist über den enthaltsa­ men Lebenswandel der Könige nicht erfreut und zeigt sich an dem Angebot des Wirts sehr interessiert (vgl. V. 6736–6739), woraufhin dieser zu den Rittern spricht: C’est parlé droit en president: Il n’est reposer qui le vaille. Je vois querir de la mengaille tant que vous pourrez expenser. Laissez la voz seigneurs penser a debitoribus nostris et songnez de fructu ventris hardiment, je le vous conseille. (V. 6740–6747)

Das nenne ich ein Machtwort: Keine Ruhepause ist es wert [nichts zu essen, CP]. Ich werde etwas zu essen besorgen, so viel, wie ihr euch leisten könnt. Lasst eure Herren dort an unsere Schuldner denken und kümmert euch beherzt um die Frucht des Bauches, ich empfehle es euch.

Die lateinischen Wendungen entstammen dem Pater noster und dem Ave Maria und referieren somit klar ersichtlich auf die christliche Gebetspraxis. In der Rede Elÿasars sind sie ironisch auf die Frömmigkeit der Heiligen Drei Könige gemünzt: Während diese sich dem Gebet, nämlich dem Vater unser, widmen, sollen die Rit­ ter sich um die fructu ventris kümmern, welche freilich nicht den Gottessohn im Mutterleib meint, sondern die Befüllung ihrer leeren Bäuche. Durch die scherz­

118 Bezeichnenderweise sind es in den Passionsspielen nicht spezifisch römische Figuren, die lateinische Wörter in ihre Reden integrieren, was auf eine historisierende Absicht hindeuten könnte, sondern dramatis personae, die in keinem historisch begründeten Verhältnis zur lateini­ schen Sprache stehen.

4.1 Der Autoritäts-Topos | 317

hafte Uminterpretation markiert Elÿasar den Lebensstil der Könige als weltfremd und stellt ihm eine pragmatische, lebensbejahende Einstellung gegenüber. Die sich darin ausdrückende Satire betrifft eine etablierte religiöse Praxis und das mit ihr verbundene asketische Ideal, welches im Rahmen der seit dem späteren vierzehnten Jahrhundert verbreiteten Frömmigkeitsrichtung der Devotio moder­ na auch Laien „zu einer klaren Abkehr vom Treiben der Welt, zu einem stillen, demütigen Leben nach dem Vorbild Jesu“¹¹⁹ aufruft. Im Gegensatz zu den oben genannten Beispielen evozieren hier die lateinischen Ausdrücke durchaus christ­ liche Autorität. Das auf die Evangelienberichte zurückgehende Pater noster (Mt 6,9–13; Lk 11,2 ff.) und das Ave Maria, welches im Spätmittelalter ein fester Be­ standteil der liturgischen Marienverehrung war, rufen sowohl die Schriftautorität als auch das Sukzessionsprinzip auf, da sie auf das Bibelwort und eine etablierte Gebetspraxis referieren. Ihre ironische Wendung in GrPs überträgt sich auch auf die durch sie evozierte Autorität, die nicht als unangreifbare Stütze einer Argu­ mentation erscheint, sondern zum Gegenstand komischer Verkehrung wird. Dienen Passagen wie diese folglich in französischen Passionsspielen der De­ konstruktion christlicher Autoritäten? Der Charakter solcher und ähnlicher Sze­ nen deutet in eine andere Richtung. Die Figur des Gastwirts ist im ständisch niede­ ren Personal zu verorten, das sowohl in deutsch- als auch französischsprachigen Spielen häufig der Träger von Komik ist. Elÿasar und die hungrigen Ritter bieten dem Publikum eine Identifikationsfläche, indem sie auf sympathische Weise die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit verkörpern, die zum Mitlachen ein­ lädt, nicht jedoch zu einer ernsthaften Infragestellung christlicher Werte und Nor­ men. Die ironische Verwendung des Lateinischen stellt einen spielerischen Um­ gang mit dem Hochwertlaut dar, der ihm punktuell die Ernsthaftigkeit nimmt, die Autorität der Heiligen Schrift aber letztlich nicht in Zweifel zieht.

4.1.3 Zusammenfassung Das religiöse Schauspiel als außerliturgische Form verfügte nicht über die gleiche institutionell-autoritative Absicherung wie Elemente der Messe und war zeit sei­ nes Bestehens immer wieder harscher Kritik ausgesetzt, die bis hin zu generellen Verboten führen konnte. Sein Gegenstand und seine affirmierte didaktische und erbauliche Wirkungsabsicht verlangten ein hohes Maß an theologischer Kompe­ tenz. Die Notwendigkeit, diese unter Beweis zu stellen und so die eigene Legiti­

119 Bergman, Jan u. a.: Askese. In: Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Horst R. Balz u. a. Bd. 4. Berlin, New York 1979, S. 195–259, S. 235.

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mation auszuweisen, äußert sich in der Nutzung des Autoritäts-Topos im Sinne einer axiomativen Persuasionsstrategie. Vom römischen Zivilrecht ausgehend entwickelten sich in der Antike rheto­ rische und politische Autoritäts-Konzepte, welche von der lateinischen Patristik aufgegriffen wurden und bis ins Mittelalter nachwirkten. Im Anschluss an die­ ses Erbe verfügen Spätmittelalter und Frühe Neuzeit über ein heterogenes, im Wandel begriffenes Autoritäts-Verständnis, das zugleich von kontrastierenden und integrierenden Auffassungen des auctoritas-potestas-Verhältnisses und des Bezugs zwischen auctoritas und ratio geprägt ist. Die Konzepte des Sukzessions­ prinzips und der Schriftautorität, die im Mittelalter bereits koexistierten, werden im ausgehenden Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit zunehmend in ein kontrastives Verhältnis gesetzt. Im Zuge dieser Entwicklungen sind auch verstärkt Hierarchisierungen zwischen christlichen Autoritäten, etwa patristi­ schen und mittelalterlichen Kirchenlehrern, zu beobachten. Die Entwicklungen lassen sich als Differenzierungsprozess beschreiben, der jedoch von der ideolo­ giekritischen, ablehnenden Haltung gegenüber dem Autoritäts-Topos, wie wir sie aus den Kontexten der Aufklärung und des zwanzigsten Jahrhunderts kennen, weit entfernt ist. Sowohl eschatologische Spiele als auch Passionsspiele machen vom Autori­ täts-Topos mithilfe sprachlicher, bildlicher und lautlicher Zeichen Gebrauch. Der Autoritäts-Topos ist dann identifizierbar, wenn die Zeichen erkennbar der argu­ mentativen Stützung des Legitimationsanspruchs der Spiele bzw. darin behan­ delter Inhalte dienen. Als Autoritäten evoziert werden in beiden Spieltypen be­ sonders häufig Figuren des Alten Testaments sowie die vier kanonischen Kirchen­ lehrer Ambrosius, Hieronymus, Augustinus und Gregor I. der Große. Auch die Bibel selbst wird oft als zentrale christliche Autorität zu Legitimationszwecken gebraucht. Zunächst wurde die Verwendung des Autoritäts-Topos in den Rahmungen der Spiele (Kommunikationsniveau N2) untersucht. Insgesamt zeigte sich dabei, dass die eschatologischen Spiele dort einen deutlich intensiveren Gebrauch von dem Topos machen als die Passionsspiele. Diese Tendenz ist für beide Sprachräume feststellbar. Sie ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass Antichrist und Welt­ gericht als noch ausstehende Geschehnisse einer verstärkten autoritativen Ab­ sicherung bedurften, während eine solche für die als historisch geltenden Ge­ schehnisse um die Passion als gegeben galt. In der Form des Prophetenvorspiels, das die deutschsprachigen Weltgerichtsspiele des Schaffhauser Typus aufweisen, liegt ein Verfahren der simultanen Evokation des Autoritäts-Topos über sprachli­ che und bildliche Zeichen vor. Die Autoritäten treten einerseits verkörpert in Er­ scheinung, wodurch ein besonderer Präsenzeffekt erzielt wird und sich zugleich die Möglichkeit bietet, sie anhand traditioneller ikonographischer Attribute für

4.1 Der Autoritäts-Topos |

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das Publikum auf visueller Ebene erkennbar zu machen. Andererseits wird die Autorität auch sprachlich konstruiert, indem die Figuren zu Beginn ihrer Reden explizit auf ihren Namen und Rang hinweisen und so die nachfolgenden Aussa­ gen durch ihren Autoritätsanspruch absichern. Die übrigen eschatologischen Spiele und Passionsspiele, die in ihren Rah­ mungen vom Autoritäts-Topos Gebrauch machen, verwenden meist nur sprach­ liche oder nur bildliche Formen der Evokation. Letztere beschränken sich nicht auf persönliche Attribute bestimmter Autoritäten, sondern machen auch von all­ gemeineren visuellen Formen der Markierung Gebrauch. Eine solche ist die Kan­ zel, welche in einer Reihe von Spielen im Sinne eines Hochwertbildes christliche Autorität ausdrückt. Die Analyse der sprachlichen Evokationsformen ließ Unter­ schiede zwischen den Autoritäts-Auffassungen, die den Spielen zugrunde liegen, hervortreten. Während die Gruppe der eschatologischen Spiele, die dem Schaff­ hauser Typus zuzuordnen sind (mit Ausnahme von LuA), stark auf die personale Autorität der Propheten- und Kirchenväter-Figuren abhebt, in dem sich die Vor­ stellung des Sukzessionsprinzips realisiert, sind die Passionsspiele, aber auch die französischen eschatologischen Spiele, stärker dem Prinzip der Schriftautorität verpflichtet. Dies äußert sich darin, dass sie über Verweise auf die Bibel und au­ toritative Kommentarliteratur sowie Zitate die Autorität der Heiligen Schrift evo­ zieren und auch biblisches Personal und Kirchenlehrer metonymisch (Erzeuger für Erzeugnis) gebrauchen, um auf ihnen zugeschriebene Texte zu verweisen. Die lateinische Sprache, die im Mittelalter als Sprache der Heiligen Schrift gilt, dient hier als Hochwertlaut, der den Autoritätsbezug über die dem Publikum zweifellos vertraute Prosodie des Lateinischen herstellt. In LuA, das eine abweichende Form des Prophetenvorspiels von den übrigen Spielen des Schaffhauser Typus aufweist, ist ein Oszillieren zwischen einem personalen und einem metonymischen Ver­ ständnis der Autoritäten und somit auch zwischen beiden Autoritätskonzepten festzustellen. In einem zweiten Schritt wurde der Blick auf Autoritäts-Evokationen inner­ halb der Handlung gerichtet. Grundsätzlich verwenden eschatologische Spiele und Passionsspiele die gleichen Verfahren wie in den Rahmungen. Es fällt jedoch auf, dass gerade die Weltgerichtsspiele des Schaffhauser Typus, die vom Autori­ täts-Topos in ihrer Rahmung besonders intensiven Gebrauch machen, innerhalb der Handlung fast keine Evokationen mehr enthalten, was darauf hindeutet, dass in diesen die Legitimationsfunktion auf die Rahmung ‚ausgelagert‘ wird. Ähnlich verhält es sich in LuA, das die Verwendung des Autoritäts-Topos weitestgehend auf die Rahmung (N2) beschränkt, die aber, anders als in den vorher erwähnten Weltgerichtsspielen, die Handlung sehr viel engmaschiger begleitet und folglich eine reflektierende Metaebene dauerhaft präsent hält. In den französischsprachi­ gen eschatologischen Spielen und den Passionsspielen wird der Autoritäts-Topos

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vermehrt auf der Handlungsebene (N1) eingesetzt, um in spezifischen Episoden die Legitimation des Dargestellten zu unterstreichen. Zu diesem Zweck kommen neben dem verkörperten Auftritt von Autoritäten nicht nur ausgewiesene Bibelzi­ tate zum Einsatz, sondern auch lateinische Passagen als Eigenzitate in der direk­ ten Figurenrede, die als Authentizitätssignale zu verstehen sind. Die Verwendung des lateinischen Wortlauts der Bibel, der häufig von einer volkssprachlichen Pa­ raphrase gefolgt wird, lässt die Darstellung als authentische Wiedergabe des au­ toritativen Textes erscheinen, der im Umkehrschluss die Legitimation der Insze­ nierung absichert. In einigen der eschatologischen Spiele und Passionsspiele wird der Autori­ täts-Topos nicht nur in affirmativen Kontexten gebraucht, sondern rückt auch in andere Perspektiven, die die Frage danach aufwerfen, ob und wie die Spiele Auto­ ritätenkonflikte und subversive Tendenzen behandeln. Die Analyse konzentrierte sich auf Streitgespräche, die in beiden Spieltypen häufig inszeniert werden, sowie auf von den bereits beschriebenen Verwendungen lateinischer Zitate divergieren­ de Formen. In Streitgesprächen treffen zwei antagonistische Positionen aufeinander, so­ dass der Autoritäts-Topos prinzipiell bilateral eingesetzt werden und Autoritäten­ konflikte hervorrufen kann. In den verbalen Konfrontationen zwischen Elias und Enoch und dem Antichristen sowie den allegorischen Figuren, die das Christen­ tum und das Judentum verkörpern, findet er hingegen zumeist einseitig Verwen­ dung. Christliche Autoritäten werden von christlichen Figuren zur Stützung ihrer Aussagen eingesetzt; auf der Gegenseite ist der Autoritäts-Topos kaum anzutreffen und auch eine Infragestellung erfolgt nicht. Die Position der Gegner des Christen­ tums ist in den Spielen generell kaum entwickelt, sodass das Streitgespräch zum performativen Sieg des Christentums über seine Gegner wird. Anders verhält es sich in den französischen eschatologischen Spielen, die große Teile des Weltge­ richts als Streitgespräch zwischen Gott und den Sündern inszenieren. Beide Kon­ fliktparteien erhalten eine kompetentere Stimme, die sich auch in der bilateralen Nutzung des Autoritäts-Topos äußert. Die verwendeten Autoritäten entstammen jedoch auch hier ausschließlich dem christlichen Kontext und werden trotz ihrer Nutzung für und gegen eine Position (in utramque partem-Prinzip) nicht relativiert oder hierarchisiert. Die Spiele entscheiden den Streit stets auf augustinische Wei­ se, indem die christlichen Figuren ihren Kontrahenten exegetische Fehler nach­ weisen und die Kompetenz der richtigen Auslegung für sich beanspruchen. In al­ len Streitgesprächen bleiben somit sämtliche christliche Autoritäten und auch der Autoritäts-Topos selbst unangetastet. Einige französischsprachige Spiele werfen die Frage auf, wie lateinische Pas­ sagen, die bisher als Hochwertlaute zur Evokation der Heiligen Schrift beschrie­ ben wurden, im Munde negativ konnotierter Figuren zu verstehen sind. Anders als

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das deutschsprachigen Schauspiel verfügt das französische über eine Tradition lateinisch-volkssprachlicher Wortspiele. Insbesondere in den großen Passions­ spielen verwenden Figuren wie zum Beispiel Teufel und Diener lateinische Wörter in ansonsten französischen Reden. Das Lateinische evoziert hier offenbar nicht die Autorität der Bibel, sondern die Gelehrtenkultur des fünfzehnten Jahrhun­ derts. Der ungeschickte und häufig fehlerhafte Gebrauch der lateinischen Sprache dient der Figurengestaltung, indem er gerade ihren Kontrast zu dem evozierten Bildungskontext herausstellt und sie zum Gegenstand von Komik macht. Andere Figurenreden enthalten lateinische Phrasen, die dem klerikalen Kon­ text entstammen und in einem deutlichen Bezug zur Autorität christlicher Institu­ tionen stehen. Die ironische Uminterpretation solcher Wendungen erfolgt in der Regel aus dem Munde ständisch niedrig zu verortenden Personals und erzeugt auch hier einen komischen Effekt, der durchaus auf Kosten christlicher Wert- und Normvorstellungen geht. Eine ernsthafte Infragestellung christlicher Autoritäten stellen solche Passagen gleichwohl nicht dar. Sie zeugen von der Bereitschaft der Spielverfasser, punktuell spielerisch mit sprachlichen Formen umzugehen, die Autorität evozieren, ohne den Autoritäts-Topos tatsächlich anzugreifen.

5 Stereotypisierung als evaluativ-emotive Persuasionsstrategie Wenn Gaston Paris in einer Publikation des Jahres 1899 über den ästhetischen Wert des religiösen Schauspiels das folgende, negative Urteil fällt, ist er nur einer von vielen renommierten Mediävisten und Kennern des Schauspiels, die ihm einen ausschließlich sozialhistorischen Wert zusprechen: „Si dans les épo­ pées anciennes le style manquait, il est mauvais dans les mystères, alternative­ ment emphatique et trivial.“¹ Wiewohl Forscherinnen und Forscher im späteren zwanzigsten und im einundzwanzigsten Jahrhundert das Dogma der schlecht geschriebenen, literarisch uninteressanten Spiele reflektiert haben², ist dem Gros der Gattung eine Tendenz zu leicht verständlichen, plakativen Formen nicht ab­ zusprechen. Auch stilistisch herausragende Produktionen, auf die die ältere wie jüngere Forschung zu Recht hingewiesen hat, wie zum Beispiel das Jeu d’Adam und fraglos auch GrPs, ändern den Gesamteindruck nicht. Dies impliziert je­ doch keinesfalls, dass die überwiegend schlichte sprachliche Form³ der Spiele notwendig das Resultat fehlenden Talents oder mangelnder Sorgfalt der Au­ toren-Kompilatoren wäre, der keine Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.⁴ 1 Paris, Gaston : La Poésie du Moyen Âge. In : La poésie du Moyen Âge. Leçons et lectures. Pre­ mière série. Hrsg. von Gaston Paris, 4. Aufl., Paris 1899, S. 1–39, hier S. 30. An derselben Stelle spricht er von „compositions interminables, souvent plates, vulgaires, et tellement au-dessous de notre conception actuelle des événements qui en sont l’objet que les quelques beautés réelles qui s’y trouvent nous laissent elles-mêmes froids.“ 2 Der Forschungsgeschichte des französischen Schauspiels haben z. B. Véronique Dominguez, Marie Bouhaïk-Gironès und Jelle Koopmans einen Sammelband gewidmet, in dem mehrere Bei­ träge die prägenden Positionen der ‚Väter‘ der Disziplin reflektieren (vgl. Les pères du théâtre médiéval. Examen critique de la constitution d’un savoir académique. Hrsg. von Véronique Do­ minguez/Marie Bouhaïk-Gironès/Jelle Koopmans, Rennes 2010). 3 Im Verhältnis zu anderen literarischen Gattungen des Mittealters fällt etwa die über weite Stre­ cken einförmige, im deutschen Sprachraum mitunter ungeordnet anmutende Versgestaltung auf. Die Figurenreden der deutschsprachigen Spiele bestehen meist aus vierhebigen Reimpaarver­ sen, die bisweilen so frei ausgefüllt sind, dass ein geregeltes Schema kaum mehr erkennbar ist. So entsteht der Eindruck, dass der künstlerischen Überformung der Sprache nur ein sekundärer Status zukommt. In den französischen Spielen dominiert ebenfalls der Paarreim die mehrheitlich achtsilbigen Verse, die das Standard-Versmaß des Schauspiels und darüber hinaus auch vieler weiterer Gattungen der französischsprachigen Literatur des Mittelalters darstellen. Georges Lote bezeichnet den octosyllabe in seiner Histoire du vers français als „vers universel, qui peut conve­ nir à peu près dans toutes les circonstances et pour presque tous les genres.“ (Lote, Georges : Histoire du vers français. Bd. 2 : Le Moyen Âge, Paris 1951, S. 59). 4 Ebenjenes fordert Paris, wenn er dazu aufruft, sich von der schwachen sprachlichen Leistung des Schauspiels abzuwenden und sich allein auf seinen performativen Charakter als Spektakel https://doi.org/10.1515/9783110740486-005

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Betrachtet man die semiotische Gestaltung der Spiele unter Einschluss nicht nur sprachlicher, sondern auch aller anderen einschlägigen Zeichenmodalitäten aus rhetorischer Perspektive, wird gerade ihre Schlichtheit und damit verbun­ dene Eindeutigkeit zum aufschlussreichen Untersuchungsgegenstand. Vor dem Hintergrund, dass die religiösen Spiele Medien der christlichen Erbauung und Unterweisung sowie der kollektiven Identitätsbildung waren, die sich an ein he­ terogenes Publikum aus unterschiedlichen sozialen Kontexten richteten, lässt sich die Reduktion von Komplexität auf formaler und inhaltlicher Ebene als Per­ suasionsstrategie verstehen. Einfache Formen konnten dazu dienen, eindeutige Botschaften zu versenden. Das religiöse Schauspiel bot seinem Publikum klare Kategorien, um sich in einer komplexen Welt zu orientieren. Besonders eingängig sind simpel konstruierte und deshalb leicht verständliche, anschauliche Formen, die nicht nur den Intellekt ansprechen, sondern auch emotional stimulieren.⁵ Ebenjene Dimensionen evaluativer und emotiver Strategien zur Evokation be­ stimmter Wertungen verbinden sich in Stereotypen. Wie in Kapitel 2 erläutert⁶, ist die zentrale Wirkungsweise von Stereotypen die Herstellung von Eindeutigkeit. Sie wird durch die Reduktion von Komplexität erzeugt und aktiviert in der Regel Emotionen, die eine negative oder positive Be­ wertung auf der Adressatenseite verstärken. Ihre gruppenbildende Funktion, die sich in der Aktivierung und Verstärkung von Inklusions- und Exklusionsprozes­ sen äußert, lässt sich mit der persuasiven Absicht der religiösen Schauspiele in Verbindung bringen. Die Nutzung stereotypisierender Verfahren, also einer Zei­ chenverwendung, die eindeutige, anschauliche und emotional aufgeladene For­ men einsetzt, erlaubt es den Spielen, mithilfe überspitzter Kategorisierungen eine kollektive Identität zu formen. Vereinfachende Dualismen und die Exklusion des Nicht-Eigenen spielen hier eine wichtige Rolle. Das vorliegende Kapitel richtet den Blick auf die semiotischen Verfahren zur Beförderung stereotyper Vorstellungen. Von der Frage des Wie? ausgehend, ist es in zwei Abschnitte gegliedert. Zunächst wird untersucht, wie sprachliche Strukturen in den Spielen signifikant zur Evo­

für die Massen zu konzentrieren: „[N]’accordons pas à ces vers, qui nous semblent si faibles, plus de place que leurs pareils n’en tiennent dans nos opéras, et nous comprendrons que la foule passionnée restât toute la journée, et plusieurs journées de suite, suspendue à ces étonnants spectacles.“ (Paris, La Poésie, S. 31). Die foldenden Analysen werden zeigen, dass die Oppositi­ on sprachlicher Armut zu performativem Reichtum überdies nicht gerechtfertigt ist, denn trotz zweifellos beeindruckender Effekte zielen auch die bildlichen, gestischen, lautlichen und musi­ kalischen Modalitäten auf Eindeutigkeit durch Komplexitätsreduktion. 5 Vgl. hierzu Kapitel 2.1.3, in dem die Zeichenmodalitäten und ihre spezifischen Wirkungspoten­ tiale auch im Hinblick auf Eingängigkeit, Memorierbarkeit und emotionale Aktivierung bespro­ chen werden. 6 Vgl. den Abschnitt 2.2.3.2 zu Stereotypen.

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kation eines stark vereinfachten Gruppenverständnisses beitragen, das auf dem Dualismus von Gut und Böse basiert. Der zweite Abschnitt ist mit stereotypisie­ renden Verfahren befasst, die verschiedene Zeichenmodalitäten involvieren, um moralische Kategorien sinnlich greifbar zu machen. Wie die Spiele abstrakte Ka­ tegorien mit konkreten Wahrnehmungsphänomenen koppeln, wird mithilfe des Ansatzes konzeptueller Metaphern analysiert. Die vorliegende Einteilung ist aus zentralen Lektüreergebnissen hervorge­ gangen, beansprucht jedoch nicht, eine erschöpfende Liste der stereotypisieren­ den Verfahren in den religiösen Spielen vorzulegen. Die folgenden Abschnitte sollen der Exemplifizierung der evaluativ-emotiven Persuasionsstrategie dienen; vertiefende Analysen auf mono- und multimodaler Ebene sind möglich und wün­ schenswert.

5.1 Sprachliche Verfahren der Stereotypisierung Im Epilog JuRous apostrophiert die Präcursor-Figur (Lo Mesatgié) Gott mit der Bit­ te um das ewige Leben und die Mittel, um dorthin zu gelangen: Dona nos, senhor, a trobar la fontaina De ta felecitat sobirana, He nostre ente[n]demen illumina De la tua clardat divina, En tala guiza he en tala manieyra Que te puscam veser claramen He te amar perdurablamen, Quar tu ies lo darier repaus. (V. 2704–2711)

Hilf uns, Herr, die Quelle deiner höchsten Glückseligkeit zu finden, und erhelle unseren Verstand mit deiner göttlichen Klarheit, auf eine solche Art und Weise, dass wir dich klar sehen und dich fortwährend lieben können, denn du bist die letzte Zufluchtsstätte.

Für wen der Mesatgié bittet, äußert sich in den Pronomina der ersten Person Plu­ ral (nos, nostre) und in der konjugierten Verbform puscam (‚wir können‘).⁷ Sie fungieren als sprachliche Markierungen eines sozialen Kollektivs, das als gege­ ben unterstellt wird. Die Worte der Präcursor-Figur setzen voraus und fordern zu­ gleich ein, dass die Darstellenden und Zuschauenden Teil einer präsupponier­ ten christlichen Gemeinschaft sind, die die Wir-Perspektive⁸ des gesamten Spiels

7 Das Personalpronomen in Subjektfunktion wird in der hier vorliegenden provenzalischen Va­ rietät des Okzitanischen ebenso wie im Alt- und frühen Mittelfranzösischen (und im Gegensatz zum Neufranzösischen) gewöhnlich elidiert, drückt sich aber in der konjugierten Verbform aus. 8 In sozialpsychologischer Tradition könnte man auch vom Autostereotyp der christlichen Ge­ meinschaft sprechen.

5.1 Sprachliche Verfahren der Stereotypisierung

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konstituiert. Die bedeutende Rolle, die Pronomina in Prozessen sozialer Katego­ risierung spielen, hat auch Pümpel-Mader beschrieben. In ihrer Typologie ste­ reotyper Ausdrucksformen klassifiziert sie Pronomina als Stereotyp-Indikatoren. Sie seien „in Bezug auf Stereotype vor allem unter dem Gesichtspunkt der Hervor­ bringung und Konsolidierung von sozialen Kategorien bedeutsam“, da sie einer­ seits den Zugriff auf „das ‚Basisinventar‘ an sozialen Kategorien (Ethnie, Berufs­ gruppe, geschlechtsbezogene Gruppe)“ ermöglichten, durch sie aber andererseits auch „x-beliebig neue soziale Kategorien eingeführt [würden], die als gegeben un­ terstellt werden.“⁹ Dass Pronomina wie ‚wir‘ und ‚ihr‘ bzw. ‚sie‘ in- und exkludie­ rende Kategorisierungen (in- und out-group) befördern, die automatisch positive (in-group) oder negative (out-group) Konnotationen auslösen, haben verschiede­ ne empirische Studien aus dem Bereich der Sozialpsychologie gezeigt.¹⁰ Die ein­ gangs zitierte Passage aus JuRou dient der Wir-Kategorisierung, indem die Prono­ mina und die das Pronomen implizierende konjugierte Verbform „in der Personal­ referenz über den Bezug auf den Sprechenden hinaus ‚den Kreis der Anwesenden systematisch überschreiten [, und zwar in Richtung auf] die anwesenheitsunab­ hängige Mitgliedschaft in sozialen Gruppen‘.“¹¹ Nos, nostre und puscam beziehen sich nicht nur auf diejenigen, die an dem Weltgerichtsspiel mitwirken, wie dies an anderen Stellen durchaus der Fall ist¹², sondern schließen das gesamte Pu­ blikum und darüber hinaus alle Christen mit ein. Obwohl die Pronomina selbst nicht per se stereotype Ausdrucksformen sind, indizieren sie eine Referenzgröße (hier: die christliche Gemeinschaft), die mit stereotypen Merkmalen verknüpft ist,

9 Pümpel-Mader, Personenstereotype, S. 94. 10 Vgl. Maass, Anne/Luciano Arcuri: Language and Stereotyping. In: Stereotypes and Stereo­ typing. Hrsg. von Neil C. Macrae/Charles Stangor/Miles Hewstone, New York, London 1996, S. 193–226, hier S. 198 und Crisp, Richard J. u. a.: Inclusiveness and Crossed Categorization. Ef­ fects on Co-Joined Category Evaluations of In-Group and Out-Group Primes. In: British Journal of Social Psychology 42 (2003), S. 25–38, hier S. 27 f. 11 Pümpel-Mader, Personenstereotype, S. 94 nach Czyżewski, Marek u. a.: Selbst- und Fremd­ bilder im Gespräch. Theoretische und methodologische Aspekte. In: Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. Kommunikative Prozesse nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Systemwandel in Ostmitteleuropa. Hrsg. von Marek Czyżewski u. a. Opladen 1995, S. 11–81, hier S. 42. 12 Die Präcursor-Reden weisen gewöhnlich auch eine pronominal vermittelte Wir-Ihr-Kategori­ sierung auf, welche die am Spiel Mitwirkenden von den Zuschauenden unterscheidet; vgl. bei­ e spielhaft in ChWg: Got gruß üch all, nün ſchwiget gſchwind, / Furſten herren, wer jr ſind, / Ersamen o o wiſen, wib vnnd man, / Wir bittendt üch, ver gut zu han. (V. 1–4; „Gott grüße euch, nun schweigt sogleich, wer ihr auch seid, ob vornehme Herren, ehrbahre Gelehrte, Frauen oder Männer, wir bitten euch, uns gewogen zu sein.“). In diesem Fall überschreitet die Personalreferenz den Be­ reich der Anwesenden nicht, sondern führt eine ad hoc-Kategorisierung ein, die nur für die Aufführungssituation gilt.

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welche beim Gebrauch der Pronomina automatisch aufgerufen werden. PümpelMader, die sich des Konzepts der frame-Semantik bedient, bezeichnet die ste­ reotypen Eigenschaften (oder Aktivitäten) als Standardwerte eines Schemas, die unwillkürlich inferiert werden, da sie feste Bestandteile des frame- bzw. schema­ bezogen konstituierten Wissens sind.¹³ In den untersuchten religiösen Spielen, die ihren Stoffen stets ein Bedrohungsszenario einschreiben, das die christliche Gemeinschaft als von widerstreitenden Kräften infrage gestellt und gefährdet in­ szeniert, ist das allgemeinste stereotype Merkmal der christlichen in-group, dass sie die Seite des Guten und Richtigen in einem Dualismus zwischen Gut und Böse repräsentiert. Mithilfe der pronominal vermittelten Wir-Kategorisierung verpflich­ tet sich die jeweils sprechende Figur nicht nur selbst, sondern auch das Publikum der ‚richtigen‘ Seite und folglich auch der christlichen Werte und Normen, die die Spiele aktualisieren. Dass ein solches christliches Wir-Konzept in vielen der eschatologischen und Passionsspiele bereits zu Spielbeginn eingeführt wird, ist in der unten stehenden Tabelle an einer Auswahl einschlägiger Passagen aus vier Prologen exemplifiziert. Die Beispiele zeigen, dass mithilfe der Pronomina ein direkter Bezug zwi­ schen den heilsgeschichtlichen Geschehnissen und dem Publikum als Teil der christlichen Gemeinschaft hergestellt wird. Jesus ist nicht für ‚die Menschen‘ bzw. ‚die Christen‘ gestorben, sondern für ‚uns‘. Die Referenz auf die Gemeinschaft der Christen, welche die Gruppe der Anwesenden überschreitet, äußert sich nicht zuletzt in der wiederholt verwendeten Pronominalphrase ‚wir alle‘ (frz. nous tous), die durch das Indefinitpronomen eine Erweiterung des Referenzrahmens anzeigt. In diesem Zusammenhang fällt zudem die idiomatisierte Wendung ‚un­ ser Herr‘ (frz. Nostre Seigneur) auf, die in den Schauspielen beider Sprachräume auch über die präsentierten Textpassagen hinaus häufig als Periphrase für Jesus Christus gebraucht wird. Die pronominale Referenz auf das ‚Wir‘ der christlichen Gemeinschaft ruft diese bei der Nutzung der Phrase automatisch in positiver Kon­ notation auf und präsupponiert die Zugehörigkeit sowohl des Senders als auch des Empfängers. Es handelt sich folglich um ein Fahnenwort der christlichen Gemeinschaft par excellence, das auf prägnante Weise eine in-group-Perspektive kreiert, die sehr eingängig ist, gerade weil sie stark schematisch bleibt. Auch in der sprachlichen Konstruktion der Gegenseite lässt sich der Einsatz von Pronomina beobachten, die vor allem in den deutschsprachigen Spielen häu­ fig in Verbindung mit stereotypen Substantiven gebraucht werden. Wie aus Ka­ pitel 3 hervorgeht, ist das Kollektiv der Juden neben den Teufeln die prominen­ teste antagonistische Position in den untersuchten religiösen Spielen. Das Sub­

13 Vgl. Pümpel-Mader, Personenstereotype, S. 94 f.

5.1 Sprachliche Verfahren der Stereotypisierung

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Tab. 3: Pronominale Wir-Kategorisierung in vier Prologen religiöser Schauspiele ohne Berück­ sichtigung von Pronomina, die anwesenheitsgebundenen ad hoc-Kategorisierungen dienen (Hervorhebungen CP)

AlPs

GrPs

LuA

JuBe

die vnser her gelidden hott vor vnyzer alle missetadt. (V. 11 f.)

en la povre vie mondaine vint pour devenir nostre frere (V. 1520 f.)

Tuit en souffrons la penitence. (V. 29)

szo soln mer eß em danckenn sere, wan hie es ted durch vnszer willenn, (V. 16 f.)

c’est Jhesus, nostre doulx saulveur. (V. 1611)

allst vns von anfang bist gsin geneigt Vnnd noch, so wir von sünden o thund stan, o bycht, rüw vnd buſs derhalb enpfan, o alls wir ze thun all willens sind, Von sünden stan, sin dine kind, die selben bichten, rüwen, e bussen, e alls wir anemen sond vnd muſſen, o wend wir zu dir ins ewig rich. durch jesum cristum vns verzych all vnser schuld, sünd, missethatt, (V. 60–69)

mer weren anders alle vorlornn. (V. 20) vnszer her Ihesu Crist, (V. 33)

la passion et la douleur que pour nous tous a entreprins. (V. 1619 f.) que feist Nostre Seigneur pour nous : les peines, travaulx et oultraiges, temptacions et griefz dommaiges qu’il voult endure pour nous tous. (V. 1624 ff.)

das helffe vns der meyde son, (V. 31)

bitt für vns, das wir teyllhafft werden sampt aller himlischen ritterschafft des richs der himlen ! erwirb vns krafftt, der sünd vnd boſſheytt zwiderstan! o thu vns jn din helligiste schoss empfan! (V. 74–78)

vnszer herre Ihesu Crist, der vor vns gestorben ist. (V. 83 f.)

erwirb gnad, gmachel der dryualtigkeytt, vns samptt der gantzen cristenheytt! (V. 81 f.)

konden mer das bewarn mit ichte, das mer dan mochten fynden gnade. (V. 40 f.)

das gott mitt gnaden well vff nen alls, das vns nott, gnadrychlich gen, an seel vnd lyb syn gnaden, des glych nach dissem zergenclichen seewig rych. (V. 89–92)

De ce que ou fruit deffendu Mordi, furent tuit descendu En enfer nostre ansien pere. (V. 31 ff.) Ou temps que Jhesus la bataille, Vestuz de nostre humanité, (V. 58 f.) Si com David le nous tesmoingne, (V. 75) Nous fest mention toute aperte (V. 85) Prions Dieu, qui touz biens conforte, Qu’i nous vielle touz conforter Et en cest siegle comporter Si qu’Entrecrist ne autre diable Ne nous deçoivent par leur fable, Mais puissiens tuit seürement Venir au Jour dou Jugement (V. 184–190)

328 | 5 Stereotypisierung als evaluativ-emotive Persuasionsstrategie

stantiv ‚Juden‘ fungiert als stereotype Ausdrucksform, die in Verbindung mit dem Personalpronomen ‚wir‘ in den Reden jüdischer Figuren sprachlich die Vorstel­ lung einer homogenen Gruppe mit bestimmten stereotypen Merkmalen und Ver­ haltensweisen hervorruft. In der sprachwissenschaftlichen Forschung wurde die Stellung des Substantivs als stereotype Ausdrucksform wiederholt bezweifelt¹⁴, doch hat sich seit der ‚kognitiven Wende‘ und den daraus erwachsenen framesemantischen Ansätzen ein anderes Verständnis durchgesetzt. Demnach weisen auch lexikalische Einheiten wie Substantive eine Träger-Merkmal-Struktur auf, da das Wort als semantischer Marker (Träger) die Wortbedeutung zusammen mit stereotypen Merkmalen aufruft, die aufgrund eines durch Gebrauchspraxis ge­ prägten Weltwissens (frame) überindividuell vorhanden sind.¹⁵ In Bezug auf das Substantiv ‚Juden‘ bedeutet dies, dass im Untersuchungszeitraum der lexikali­ schen Einheit im Sinne des Trägers neben der Wortbedeutung ‚Menschen jüdi­ schen Glaubens und jüdischer Abstammung‘¹⁶ auch ein stereotypes Merkmalbün­ del habitualisiert zugeordnet wurde. Die konkrete Äußerung aktualisiert folglich die stereotypen Merkmale automatisch gemeinsam mit der Wortbedeutung. Zen­ trale stereotype Merkmale, zu denen ‚Christenhass‘, ‚Verrohung‘ und ‚Habgier‘ zählen, wurden in Kapitel 3 analysiert. Wenn etwa in AlPs, LuA, LuPs oder WoPs

14 Vgl. z. B. Quasthoff, Soziales Vorurteil, S. 234 f. Obwohl insbesondere Gruppenbezeichnun­ gen durchaus kontextungebunden negative Wertungen transportieren können, besitzen sie laut Quasthoff keinen stereotypen Inhalt, da sie keine Prädikation über die negativ bewertete Grup­ pe enthalten und somit keine Träger-Merkmal-Struktur vorliegt, sondern nur der Träger benannt ist. 15 Vgl. Pümpel-Mader, Personenstereotype, S. 140 f. Zum Verständnis von ‚Gebrauchspraxis‘ im Sinne habitueller Kontextualisierungen eines Ausdrucks innerhalb einer Sprachgemeinschaft vgl. hier S. 158–161. In die gleiche Richtung zielen Josef Kleins Überlegungen, wenn er ein ste­ reotypes Lexem als „das Ergebnis der diskursiven Entfaltung stereotypisierender Zuschreibungen [bezeichnet], die dann in dem Lexem kondensiert repräsentiert werden. Damit diese Wortbedeu­ tung in der Kommunikationsgemeinschaft erhalten bleibt, müssen die stereotypen Eigenschaften immer wieder expliziert werden.“ (Klein, Josef: Linguistische Stereotypbegriffe. Sozialpsycholo­ gischer vs. semantiktheoretischer Traditionsstrang und einige frametheoretische Überlegungen. In: Sprachliche und soziale Stereotype. Hrsg. von Margot Heinemann, Frankfurt a. M. u. a. 1998 (Forum angewandte Linguistik 33), S. 25–46, hier S. 37). Beispielhaft nennt Klein das Wort ‚Wes­ si‘, dessen lexikalische Form – insbesondere die diminutive i-Endung – keine negativen Konnota­ tionen (arrogant, besserwisserisch, unsozial) nahelegt und also eine „vorgängige kommunikativ erfolgreiche Redepraxis mit expliziter Zuschreibung der betreffenden stereotypen Eigenschaften zu den mit ‚Wessi‘ bezeichneten Personen voraus[setzt]“ (ebd.). 16 Der Wortgebrauch der Spiele zeigt, dass die soziale Gruppe der Juden sowohl über ihre religiö­ se als auch genealogische Zugehörigkeit konstruiert wird. Die antijüdischen Topoi, die in Kapi­ tel 3 behandelt wurden, verdeutlichen, dass ihrer Konzeptualisierung als Religionsgemeinschaft dabei primärer Status zukommt.

5.1 Sprachliche Verfahren der Stereotypisierung

| 329

jüdische Figuren das Personalpronomen ‚wir‘ (bzw. ‚uns‘) mit dem stereotypen Substantiv ‚Juden‘ verwenden oder Substantive und Substantivkomposita gebrau­ chen, die generisch auf ‚das Judentum‘ verweisen,¹⁷ kreieren sie auf der imma­ nenten Bedeutungsebene ein stereotypes Wir-Konzept, das in Opposition zu dem der Christen steht und sie auf der rekonstruierten Bedeutungsebene für das Pu­ blikum als negativ konnotierte soziale Gruppe erkennbar macht. So kann auch die pronominal vermittelte Evokation einer Wir-Perspektive zur Hervorbringung einer out-group beitragen. Nicht nur die Wir-Perspektive äußert sich in generalisierenden sprachlichen Verfahren, sondern diese sind auch an der Konstruktion von Fremd-Kategorien (Heterostereotypen) bzw. out-groups beteiligt. Sämtliche der untersuchten Spiele nutzen stereotypisierende Substantive bzw. Nominalphrasen mit dem bestimm­ ten Artikel (dt. die, frz. les bzw. li) oder dem Personalpronomen der zweiten Person Plural (dt. ihr, frz. vous), um eine gegnerische und folglich negativ konnotierte so­ ziale Gruppe zu konstruieren. In den Passionsspielen ist dies wiederum in erster Linie das Kollektiv der Juden, welches von Präcursor-Figuren und in die Handlung integrierten christlichen dramatis personae regelmäßig über das Substantiv juden bzw. juifs oder Nominalphrasen (die/ir juden bzw. les juifs¹⁸) evoziert wird. Häufig ist die Abwertung zusätzlich durch die Attribution eines negativen Adjektivs aus­ gedrückt, das ein zentrales stereotypes Merkmal explizit hervorhebt. Sowohl in den deutschsprachigen als auch französischen Spielen haben sich ‚falsch‘ (valsch bzw. frz. faux) und ‚böse‘ (bœse bzw. frz. mauvais) als die meistverwendeten At­ tribute erwiesen.¹⁹ In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass nicht nur christliche Figu­ ren sich der verallgemeinernden Ausdrücke bedienen, sondern auch jüdische dra­ matis personae. So wendet sich zum Beispiel in AlPs auch Sinagoga mit den Wor­ ten ir Iudden alle (V. 5202) an die übrigen anwesenden Juden. Anders als im Fall

17 Vgl. in AlPs mer iudden (z. B. V. 2391, 4692), vff myn Iuddischeyde (z. B. V. 1571, 1582, 1719, 5036, bei meiner jüdischen Art) oder myn Iuddenzan (V. 5205, mein Judenzahn); in LuA wir juden (z. B. V. 1444, 3836) und vnns juden (z. B. V. 1955, 3129); in LuPs z. B. vns Juden (all) (z. B. V. 4823, 7722); in WoPs vf mine Iudesheit (V. 910, bei meiner jüdischen Art). 18 Die Verbindung eines Substantivs mit einem Linkspronomen in der zweiten Person Plural ist im Alt- und Mittelfranzösischen anders als im Mittelhochdeutschen nicht geläufig. Demge­ genüber findet sich häufiger die Kollokation mit Anredeformen wie seigneurs juifs (vgl. z. B. die Belegstellen in PaPs in Tab. 4). 19 Viele weitere abwertende Attribute wie beispielsweise felon (grausam), maudict (verdammt), schebic (schäbig) oder snode (erbärmlich) finden in den Spielen zur Charakterisierung der Ju­ den Verwendung, doch würde eine vollständige Liste den Rahmen des tabellarischen Überblicks sprengen.

6290, 14845, 15417, 18097, 18995, 20009, 21424, 21438, 22172, 23602, 24310, 27368, 27386 214, 221, 401, 550, 764, 780, 1075

715

1107, 1182, 1359, 1450,

1625, 2343, 3824, 3828, 3938, 5754, 7395, 4466, 4483, 4512, 4559, 4639, 4815, 4885, 4919, 4961, 5007, 5079, 5202, 5365, 5642, 5669, 6839, 6881, 7395

3756, 4559, 4763, 5131, 5155, 6477, 7385, 7415, 7700, 8055, 8085, 8299, 8685

GrPs (34429)

WoPs (1347)

PfPs (4128)

AlPs (8095)

LuPs (10916) a

a

2526, 4583, 8013, 8406, 8703, 9903, 10281, 10609, 11712, 11791, 12871, 13023, 13279, 13575, 13829, 13905, 14739, 14863, 15647, 15889, 15970, 16159, 16681, 16735, 16936, 17295, 17938, 20776, 21311, 22116

MaPs (24944)

5178, 5224, 5463

3958

14885, 15382, 15417, 15445, 21608, 24615, 24746, 24781, 24789, 26984

13819, 13846, 13855, 15765, 15784, 16173, 16836, 16934, 17174, 17359, 17511, 18376, 19315, 19332, 21304, 21307, 21501

10, 105, 1064

1079, 1083

Attribution von ‚falsch‘ bzw. ‚faux‘ zu ‚Juden‘ oder Synonym

1615, 3007, 4546, 4765, 4849, 5178, 5224, 5237, 6388, 7533

2354

14885, 15351, 15417, 16417, 21989

14771, 16790, 18380, 21502

Attribution von ‚böse‘ bzw. ‚mauvais‘ zu ‚Juden‘ oder Synonym

Die Zählung bezieht sich auf die ersten zwei Bände der Edition von Wyss. Die in Band 3 versammelten Zusätze und Varianten wurden bei der Auswertung nicht berücksichtigt.

57, 84, 636, 1060, 1344, 1348, 1355, 2164, 4010, 4717, 4883, 5060, 5163, 5813, 6302, 6651, 6965, 7095, 7670, 8679, 8928, 9317, 9581, 10794

185, 195, 210, 235, 285, 300, 332, 359, 1297, 1365, 1595, 1979, 2230, 2311, 2402, 2505, 2923, 3135, 3985, 4423, 5275, 5523, 5641, 5916, 6017, 6310, 6722, 7529, 8077

12, 16, 920, 1087, 1102, 1171, 1211, 1237, 1240, 1246, 1262, 1553, 2061, 2459, 2473, 3106, 3386, 3983

11, 57, 79, 1057, 1167, 2191, 2210, 2510, 2785, 2888, 3245, 4119, 4133

SGPs (4477)

(Best. Artikel/ Anredeform +) Substantiv ‚Juden‘

196, 237, 255, 348, 461, 681, 712, 1759, 1790, 1828, 1847

Personalpronomen 2. Pers. Pl. + Substantiv ‚Juden‘

PaPs (1996)

Spiel (Verszahl gesamt)

Tab. 4: Repräsentative Auswahl einschlägiger Belegstellen (Versangaben) zur Verwendung stereotyper Substantive und ihrer Verbindung mit fremdka­ tegorisierenden Personalpronomina, Artikeln und Anredeformen sowie abwertenden Attributen in Passionspielen

330 | 5 Stereotypisierung als evaluativ-emotive Persuasionsstrategie

5.1 Sprachliche Verfahren der Stereotypisierung

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der Ansprache durch christliche Figuren äußert sich in dieser Formulierung keine Fremdkategorisierung, da auch Sinagoga zur Gruppe der Juden zählt. Die inner­ halb des Kollektivs überflüssige Form der Anrede ist unter rhetorischen Gesichts­ punkten damit zu erklären, dass sie die stereotype Kategorie ‚die Juden‘ bewusst auch von jüdischer Seite in Erinnerung ruft und so den Eindruck verstärkt, man habe es mit einer homogenen Gruppe zu tun. Obwohl die Charakterisierung als Juden auf der immanenten Bedeutungsebene von den jüdischen dramatis perso­ nae nicht negativ verwendet wird, bleiben alle abwertenden Konnotationen auf der rekonstruierten Bedeutungsebene bestehen, weshalb der Wortgebrauch für das Publikum stets eine stigmatisierende Funktion erfüllt. Ob von jüdischen oder christlichen Figuren geäußert: Das sprachliche Label ‚Juden‘ trägt massiv zur Kon­ struktion einer stark vereinfachten, mit negativen Emotionen aufgeladenen und somit stereotypen Fremdkategorie bei, die in Opposition zum christlichen WirKonzept steht. In den Weltgerichtsspielen ist der Schematismus zwischen Gut und Böse be­ o reits im Thema angelegt. Sprachlich realisiert er sich in der Opposition von gutten, e e milten vnd ſuſſen auf der einen und ſündern, vnmilten vnd boſen auf der anderen Seite.²⁰ Auch die Reden der ‚guten‘ und ‚bösen‘ Figuren selbst enthalten stark stereotype Bestandteile, die in den meisten eschatologischen Spielen zu finden sind. Dazu zählen die Klagen der Sünder, die ihre eigene Geburt und ihre Eltern in formelhafter Weise verfluchen²¹ und der auf Mt 25,31–46 basierende Dialog zwi­ schen Jesus und den Menschen im Weltgericht, dessen zentrale Opposition sich im quamdiu fecistis uni de his frattibus meis minimis mihi fecistis (Mt 25,40) gegen­ über dem quamdiu non fecistis uni de minoribus his nec mihi fecistis (Mt 25,45) aus­

20 Für einschlägige Passagen in den Weltgerichtsspielen des Schaffhauser Typus, in denen die Kategorien der Guten und der Bösen einander sprachlich gegenübergestellt werden, vgl. LiII1 139–147, 171–174 und 202 f. 21 Vgl. z. B. in KoWg: Owe, das ich ie wart geborn! (V. 666; „O weh, dass ich je geboren wurde!“), e e Verfluchet ſÿ hut die boſe uart, / an der ich ie geboren wart! (V. 680 f.; „Verflucht sei heute die böse o e o Fahrt, die mich damals auf die Welt gebracht hat.“), Des fluch ich hut dem uater min. / Min muter o ˇ mus och liden pin (V. 831 f.; „deswegen verfluche ich heute meinen Vater; meine Mutter muss auch bestraft werden“). Für einen Überblick der parallelen Stellen in den übrigen Weltgerichtsspielen des Schaffhauser Typus vgl. LiII1 482 und 489 sowie LiII2 571. In JuBe vgl. etwa Hee ! Las ! Con je suis or mar né ! (V. 1938 ; „O weh! Was für ein Unglück, dass ich je geboren wurde!“); in JuMo vgl. que mauldict soit l’engendrement / et le pere qui m’engendra / [. . . ] / mauldict soit semblablement / ma mere villaine’ incestueuse (fol. 20r; „verdammt sei meine Zeugung und der Vater, der mich zeugte; verdammt sei ebenso meine böse, inzestuöse Mutter“) und mauldict soyt mon gouverne­ ment / mauldict le jour que je suys ne (ebd.; „verdammt sei mein Lebenswandel, verdammt der Tag, an dem ich geboren wurde“).

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drückt.²² Der Großteil der Weltgerichtsspiele gestaltet den Dialog szenisch aus.²³ Er lässt sich als Kernelement des Gerichtsteils selbst identifizieren, das formel­ haft Selige und Sünder definiert und sehr schematisch ihre Trennung voneinan­ der ausdrückt. Abschließend sei ein Blick auf die Funktion von Demonstrativpronomina im Zusammenhang mit sprachlichen Verfahren der Stereotypisierung geworfen. In Verbindung mit einer Person oder Personengruppe fungieren sie als Distanzmar­ ker und suggerieren zugleich, dass die bezeichnete Person(engruppe) hinlänglich bekannt ist bzw. sind. Darüber hinaus versehen sie sie oft mit einer negativen Wer­ tung, die sich auch in der häufigen Kombination von Demonstrativpronomina mit bereits pejorativen Substantiven niederschlägt.²⁴ Es handelt sich folglich auch hier um sprachliche Formen, die Kategorisierungen befördern und Aufschlüsse über Inklusions- und Exklusionsprozesse ermöglichen. Als besonders auffällig hat sich der Gebrauch von Demonstrativpronomina in GrPs erwiesen.²⁵ Sie sind in großem Umfang in den Dialogen nichtchristlicher Figuren anzutreffen. Dort tritt das Demonstrativpronomen ‚dieser‘ (frz. ce/celuy/cest) regelmäßig in Verbindung mit dem Lexem Jhesus oder – meist pejorativen – Periphrasen wie ‚Verführer‘²⁶ auf. Wenn die dramatis personae der Juden und der Teufel auf Jesus referieren, tun sie es fast ausschließlich über die genannte Nominalphrase. So ärgert sich etwa der Pharisäer Jheroboam über le despit et mauvais prologue / que ce Jhesus fait sans sejour (V. 13373 f.; „die Geringschätzung und schlechte Rede, die dieser Jesus fortwährend treibt“) ebenso wie der Schriftgelehrte Jacob sich darüber erei­ fert, dass [t]out le monde suit ce Jhesus (V. 16218; „alle Welt diesem Jesus folgt“).²⁷ Lucifer will von Sathan wissen, se ce Jhesus est point finé (V. 10462; „ob dieser

22 „Solange ihr (das) einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, habt ihr (es) für mich getan.“, „Solange ihr (das) nicht einem von diesen Geringeren getan habt, habt ihr (es) auch mir nicht getan.“ 23 Für die Weltgerichtsspiele des Schaffhauser Typus vgl. LiII1 238–272 und LiII2 402–453. JuRou (V. 1805–1824) und JuMo (fol. 55v–56v) geben nur das Lob der Seligen wieder (Mt 25,40), JuBe (V. 2324–2379) enthält die Opposition von Seligen und Sündern. 24 Vgl. Pümpel-Mader, Personenstereotype, S. 96 und 100. Ein Beispiel, das Pümpel-Mader anführt, ist ‚diese Zigeuner‘. 25 Auch in den übrigen Spielen finden sich Belegstellen, doch weist keines von ihnen eine so sys­ tematische Verwendung von Demonstrativpronomina auf wie GrPS. Gerade vor der Kontrastfolie, die die anderen Spiele bilden, zeichnet sich der bewusste Einsatz von Demonstrativpronomina im Sinne einer persuasiven Strategie in GrPs besonders deutlich ab. 26 Vgl. z. B. V. 15516, in dem der Jude Jheroboam Jesus als ce meschant seducteur („diesen bösen Verführer“) bezeichnet. 27 Für eine Auswahl weiterer einschlägiger Belegstellen vgl. 13526, 14429, 15237, 15246, 15262, 15634, 15673, 16620 und 17427.

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Jesus abserviert ist“) und Sathan teilt ihm zu einem späteren Zeitpunkt im Lau­ fe des dritten Spieltags mit, dass [c]e Jhesus est a mort livré (V. 24444; „dieser Jesus umgebracht wurde“).²⁸ Im Gegensatz dazu gebrauchen christliche Figuren das Demonstrativpronomen nicht, wenn sie auf Jesus referieren.²⁹ Sein Einsatz vonseiten der Gegner Christi³⁰ macht deutlich, dass das Demonstrativpronomen in GrPs eine Signalfunktion erfüllt, welche die Zugehörigkeit zu sozialen Grup­ pen markiert. Sein Einsatz zeigt dem Publikum an, dass die Sprecherinstanz eine distanzierte Haltung zu der bezeichneten Person, Jesus, einnimmt und sie dar­ über hinaus negativ bewertet. Da Jesus Christus die zentrale Figur der christli­ chen Gemeinschaft ist, bedeutet die Ablehnung seiner Person auch die Zurück­ weisung der gesamten Gemeinschaft. Im Wortgebrauch der ‚Gegner-Figuren‘ äu­ ßert sich somit ihre Exklusion aus der christlichen in-group. Umgekehrt ist in den Reden positiv konnotierter, christlicher dramatis personae die wiederholte Refe­ renzierung der Juden durch ces juifs (‚diese Juden‘) nachweisbar.³¹ Auch hier er­ füllt das Demonstrativpronomen unverkennbar eine abgrenzende Funktion. GrPs nutzt die kleine sprachliche Einheit sehr effektiv, um Gruppenzugehörigkeiten auf stark schematisierte Weise zu verdeutlichen und die Kategorien, die in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer bereits bestanden haben dürften, zu verfestigen.

5.2 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung Bekanntlich war es im Mittelalter eine gängige, aus der Theologie stammende Praxis, sprachlichen, aber auch bildlichen und lautlichen Zeichen verschiedene Sinnebenen zuzuschreiben. Die im Spätmittelalter etablierte Lehre vom vierfa­ chen Schriftsinn unterscheidet den buchstäblichen, allegorischen, moralischen

28 Vgl. überdies z. B. auch V. 10421, 15160, 17295, 17375 und 17402. 29 Bei einigen Figuren ändert sich der Wortgebrauch nach einer Konversionserfahrung. Zum Bei­ spiel spricht die Figur des Nichodemus, die sich im Verlauf des Spiels zu Jesus bekennen wird, vor diesem Ereignis von ce Jhesus (vgl. V. 14280), doch ändert sich nach seiner Bekehrung sein Sprachgebrauch. Es finden sich keine Belegstellen mehr für die Verbindung mit dem Demonstra­ tivpronomen. Vielmehr referiert er auf den Erlöser mit Formeln wie le tres doulx et piteux Jhesu (V. 26791; „der höchst sanfte und barmherzige Jesus“). 30 Neben den Reden von Juden und Teufeln enthalten auch die der römischen Figuren Beleg­ stellen, vgl. z. B. die Worte Andalus’, eines Dieners von Herodes: Sire roys, merveilles advendra / se ce Jhesus longuement regne. (V. 13092; „Herr König, Schreckliches wird geschehen, wenn dieser Jesus lange regiert.“). 31 Vgl. z. B. V. 14644, 15351, 15382, 16410 oder 26956. Auch hier wird die Nominalphrase bisweilen mit Periphrasen gebildet und durch negative Adjektive ergänzt.

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und anagogischen Sinn voneinander.³² Da die christliche Ikonographie stark text­ referentiell ist, finden sich auch in ihr die verschiedenen Sinnebenen wieder, die sich in zahlreichen Symboliken niederschlagen. Dass darüber hinaus musika­ lisch-lautliche Formen im Mittelalter ebenfalls als Zeichen aufgefasst wurden, die über sich selbst hinaus auf kosmische und metaphysische Dimensionen ver­ weisen, ist hinlänglich bekannt.³³ Die religiösen Spiele reproduzieren auf dieser Tradition beruhende Deutungsschemata. Dass ebenjene dem Publikum vertraut waren und ihre Symbolbedeutung unmittelbar verstanden wurde, zeigen Rezep­ tionszeugnisse, wie zum Beispiel die Briefe Giovanni Angelo Rizios, des mailän­ dischen Gesandten Karls V., der 1549 in Luzern der zweitägigen Aufführung des Antichrist- und Weltgerichtsspiels (LuWgII, dessen erster Teil LuA ist) beiwohnte. In seinem Brief vom 30. April 1549 heißt es: [. . . ] prima fosse stata abbrusciata una città per significatione del mondo, et nanzi quello atto piovesse sangue, et furono diversi segni in cielo et in terra, cascò la luna et il sole. Li morti haveano in testa et in mano regni, corone, cappelli, mitre, croci, sceptri, bastoni, pas­ torali et altri segni, di modo che tutti si comprendevano et cognoscevano per quelli che si rappresentavano. Resuscitorno da le quattro parti del mondo al sono delle trombe de li quat­ tro angeli, [. . . ].³⁴

Die Zeilen zeugen von einem Bewusstsein für die symbolische Bedeutung der vi­ suellen und akustischen Zeichen, die in der Aufführung zum Einsatz kamen. Die Inszenierung der bevorstehenden Apokalypse durch den Weltenbrand, herabfal­ lende Gestirne und weitere Naturkatastrophen folgt biblischen Vorgaben und war höchstwahrscheinlich nicht nur Rizio, sondern auch dem übrigen Publikum aus Predigten und ikonographischen Darstellungen bekannt. Das Bild der apokalypti­ 32 Zu den mittelalterlichen Traditionen der Schriftauslegung vgl. Stemberger, Günter u. a.: Schriftauslegung. In: Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Horst R. Balz u. a., Bd. 30, Ber­ lin, New York 1999, S. 442–499, hier S. 478–488. 33 Zum mittelalterlichen Musikverständnis, das sowohl eine wissenschaftliche, aus der griechi­ schen Antike stammende Auffassung (Sphärenmusik) als auch eine metaphysisch-liturgische Perspektive einschließt, derzufolge die innerweltliche Musik ein Analogieverhältnis zum über­ weltlichen, göttlichen Prinzip ausdrückt, vgl. Hammerstein, Reinhold: Diabolus in Musica. Stu­ dien zur Ikonographie der Musik im Mittelalter, Bern, München 1974 (Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft 6), S. 14 ff. 34 Haas, Über geistliche Spiele, S. 119. Da die bei Neumann (Neumann, Geistliches Schauspiel I, S. 488 [Nr. 2099]) abgedruckte deutsche Übersetzung zum Teil unvollständig ist, sei dem Zitat meine Übersetzung anbeigestellt: „Zuerst wurde eine Stadt zum Zeichen des Weltuntergangs ab­ gebrannt und vor diesem Ereignis regnete es Blut, verschiedene Zeichen waren in der Luft und auf der Erde zu sehen und Mond und Sonne stürzten herab. Die Toten trugen auf dem Kopf und in der Hand Herrschaftsinsignien, Kronen, Hüte, Mitren, Kreuze, Zepter, Stöcke, Krummstäbe und andere Kennzeichen, sodass alle sich verstanden und in ihren Rollen erkannten. Auf das Erklin­ gen der Trompeten der vier Engel erstanden sie von den vier Teilen der Welt auf.“

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schen Engel verbunden mit dem Klang von Trompete bzw. Tuba oder Horn³⁵ darf ebenfalls als kanonisiertes Symbol der Auferstehung und des Weltgerichts gel­ ten. Nicht zuletzt verdeutlicht Rizios Aufzählung der visuellen Attribute der Auf­ erweckten, deren Funktion er klar als symbolische Referenz auf bestimmte ge­ sellschaftliche Gruppen identifiziert, dass auch Elemente der Kostümierung einen Verweischarakter besaßen, der sich dem Publikum unmittelbar erschloss. Das Beispiel Rizios illustriert die Funktionsweise der theatralen Zeichen im Rahmen einer mittelalterlich-christlichen Vorstellungswelt, die irdischen Mani­ festationen eine metaphysische Entsprechung und moralische Dimension zu­ spricht. Diese Vorstellungswelt und mithin auch der theatrale Zeichengebrauch können als metaphorisch angelegtes System gefasst werden, innerhalb dessen symbolische und allegorische Bezüge keine isolierten Einzelerscheinungen sind. Vielmehr funktionieren sie im Rahmen konzeptueller Metaphern.³⁶ Ganz im Sinne

35 Vgl. Fritz, Jean-Marie : Paysages sonores du Moyen Âge. Le versant épistémologique, Paris 2000 (Sciences, techniques et civilisations du Moyen Âge à l’aube des lumières 5), S. 304–308. In der Johannes-Apokalypse ist von sieben Engeln die Rede, welche nacheinander in sieben Tuben (tubae) blasen, um das Weltgericht anzukündigen (Apk 8,2). Hammerstein hat darauf hingewie­ sen, dass die Bezeichnung tuba sich in der Vulgata auf verschiedene Instrumente bezieht und sowohl Trompete als auch Horn miteinschließt (vgl. Hammerstein, Musik der Engel, S. 205). Alle drei Instrumentennamen werden in unterschiedlicher Gewichtung im deutsch- und französisch­ sprachigen religiösen Schauspiel verwendet. Die deutschen religiösen Spiele vermerken häufig den Einsatz von Hörnern, deren deutscher Name zum Teil eindeutig als volkssprachliche Überset­ zung des lateinischen Wortes tuba gebraucht wird. So heißt es etwa in ChWg in der lateinischen Regwieanweisung zum Auftritt des ersten apokalyptischen Engels Angelus primus canens thuba (vor V. 206; „der erste Engel, der die Tuba bläst“), wohingegen die Regieanweisung zum Auftritt des vierten Engels auf Deutsch vermerkt: Der vierd engel blaſt ein horn vnnd ſpricht (vor V. 256; „der vierte Engel bläst in ein Horn und spricht“). Offensichtlich werden hier die Bezeichnun­ gen tuba und Horn synonym verwendet. Im Französischen dominiert demgegenüber der Begriff trompette. Zum Beispiel werden in JuRou die apokalyptischen Engel als la[s] trompeta[s] (Regie­ anweisung vor V. 13) bezeichnet. In JuMo, dessen Regieanweisungen zu großen Teilen lateinisch sind, blasen die Engel wiederum in Tuben (vgl. Angeli simul canant tubis antequam digrediantur, fol. 6r). Es erscheint wahrscheinlich, dass in der deutsch- und französischsprachigen Tradition jeweils das gleiche Instrument, mindestens aber die gleiche Instrumentenfamilie, zum Einsatz kam, was auch bildliche Darstellungen nahelegen. Vgl. z. B. die Instrumente der apokalyptischen Engel in einer Miniatur JuBes auf fol. 2v im Vergleich mit denen in sieben Holzschnitten Guyot Marchants (1492), die in der Edition JuRous abgedruckt sind (S. 99–102) und jenen in einer Ab­ bildung aus Ulrich Tenglers Der neu Layenspiegel (1518), die Schulze in ihre Edition ChWgs in­ tegriert hat (Churer Weltgerichtsspiel. Nach der Handschrift des Staatsarchivs Graubünden Chur Ms. B 1521. Hrsg. von Ursula Schulze, Berlin 1993 (Texte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit 35), S. 7). 36 Allegorien und Symbole werden folglich als Subkategorien konzeptueller Metaphern aufge­ fasst, mit denen sie das gleiche Funktionsprinzip – die Kopplung von zwei ontisch unterschied­ lichen Bereichen – teilen.

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Lakoffs und Johnsons wird eine Sache durch eine andere erfahrbar gemacht, nämlich metaphysische und moralische Abstrakta durch sinnlich-konkrete Er­ scheinungen. Im vorliegenden Fall ist der abstrakte und komplexe Sachverhalt des Weltendes als sinnlich wahrnehmbarer Phänomenkomplex (Blutregen, Trom­ petenklang etc.) konzeptualisiert. Jene Manifestationen des dies irae können als Teile eines Metaphernsystems verstanden werden, das sich sprachlich mit der Formulierung Göttliche Gemütsregungen sind Naturereignisse greifen lässt. Der Zielbereich göttliche Gemütsregungen wird durch den Quellbereich Naturereignis­ se konkretisiert. Die einzelnen Phänomene sind im Rahmen des übergreifenden Metaphernsystems als Ausdruck des Zorns Gottes, der sich am Jüngsten Tag über die Menschen ergießt, verständlich. Die bildlich, gestisch und lautlich realisier­ ten konzeptuellen Metaphern können sprachlich als Der Zorn Gottes ist Blutregen, Der Zorn Gottes ist das Herabfallen von Himmelskörpern etc. ausgedrückt werden. Indem die theatralen Zeichen ebenjene Naturphänomene vor Augen (und Ohren) stellen, machen sie das Numinose für das Publikum erfahrbar. Die bildlichen und lautlich-musikalischen Zeichen des religiösen Schauspiels verfügen, wie in Kapitel 2.1.3 besprochen, über eine besondere Einprägsamkeit und ein erhöhtes emotionales Wirkungspotential. Sie eignen sich folglich dazu, stereotype Kategorien sehr eingängig aufzurufen und innerhalb des Publikums eine positive oder negative Einstellung ihnen gegenüber zu erzeugen. Die Kon­ struktion eines schematischen Dualismus zwischen Gut und Böse, der bereits im Hinblick auf sprachliche Verfahren der Stereotypisierung behandelt wurde, lässt sich auch im Gebrauch bildlicher und lautlich-musikalischer Zeichen und ihrem Zusammenspiel beobachten. Sie verleihen den abstrakten Prinzipien von Gut und Böse auf der Bühne eine sinnlich wahrnehmbare Konkretion, die über (bewegte) Bilder und Klänge vermittelt wird. Um den Systembezug der Einzelerscheinungen sichtbar zu machen, eignet sich die Analyse konzeptueller Metaphern.

5.2.1 Metaphernsysteme Alle untersuchten Spiele nutzen ein relativ homogenes Zeichenrepertoire, das den moralischen Polen von Gut und Böse eine sinnliche Präsenz verleiht. Es lassen sich zwei übergreifende Metaphernsysteme identifizieren, deren hochmittelalter­ liches Erbe unverkennbar ist. Ganz im Sinne der adaequatio zwischen Innen und Außen, die ein grundlegendes Element des arthurischen Romans darstellt³⁷, eta­ bliert das religiöse Schauspiel ein Entsprechungsverhältnis zwischen dem Morali­ 37 Zum arthurischen Ideal der Entsprechung innerer und äußerer Vorzüge, welches das antike Kalokagathia-Konzept aufgreift, vgl. Gerok-Reiter, Annette: Körper – Zeichen. Narrative Steuer­

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schen und dem Ästhetischen. Das den Sinnen Angenehme repräsentiert das Prin­ zip des Guten, wohingegen sich im Unangenehmen das Prinzip des Bösen aus­ drückt. Damit liegen zwei Metaphernsysteme vor, die sich sprachlich als Das Gute ist das Schöne und Das Böse ist das Hässliche beschreiben lassen. Der abstrakte Zielbereich des Guten bzw. Bösen wird mit dem sinnlich-konkreten Quellbereich des Schönen bzw. Hässlichen gekoppelt und auf diese Weise für das Publikum er­ fahrbar gemacht. Die konzeptuellen Metaphern, die sich den beiden Metaphern­ systemen zuordnen lassen, stehen in einem dualistischen Verhältnis, weshalb im Folgenden jeweils ein Gegensatzpaar gemeinsam behandelt wird. a) Das Gute ist Musik vs. Das Böse ist Lärm Nachdem in LuPs Jesus unter bedeutungsschwerem Donnern auferstanden ist und von einem Engel in Empfang genommen wurde, macht er sich in Begleitung weiterer Himmelsboten daran, die guten Seelen aus der Hölle zu befreien: Nun gadt der saluator mit den englen für dhell, stand daruor. So singen die engell : ir o o fürsten der hellen Sind vber wunden, thund vff die tor zu stunden. / engel singend.³⁸ Die Teufel antworten darauf mit ein wild gschrey (Regieanweisung nach V. 9839; „einem wilden Geschrei“), ohne die Tore zu öffnen. Es entsteht ein Hin und Her zwischen dem klopfenden, Eintritt fordernden Jesus und dem widerspenstigen Lucifer, der vermeintlich nicht weiß, mit wem er es zu tun hat.³⁹ Rede und Gegen­ rede wiederholen sich drei Mal – und damit einmal mehr als in der biblischen Vorlage –, bevor das Höllentor sich vor dem Salvator öffnet und er Lucifer in Ketten legt. Das Wechselspiel zwischen Jesus und dem Teufel wird von oppo­

modi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2007, S. 405–430, insbesondere S. 409–419. Annette Gerok-Reiter hat zudem anhand der Cundrie-Figur im Parzival gezeigt, dass Einzelfälle bewusst unaufgelöster inadaequatio durchaus vorkommen, jedoch stets das Untypische vor der gültigen Folie des Ideals bleiben (vgl. Gerok-Reiter, Annette: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik, Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germani­ ca 51), S. 104–121). 38 Regieanweisung nach V. 9837; „Nun geht der Salvator mit den Engeln vor die Hölle und stellt sich vor sie hin. Darauf singen die Engel: Ihr Fürsten der Hölle seid überwunden, öffnet sogleich die Tore. Die Engel singen.“ 39 Der Dialog folgt Ps 23,7f., der auch als Antiphon anlässlich bestimmter liturgischer Feiern (Be­ schneidung des Herrn, Karsamstag und Weihnachten) gesungen wurde: adtollite portas principes vestras | et elevamini portae aeternales | et introibit rex gloriae / quis est iste rex gloriae | Dominus fortis et potens Dominus potens in proelio. Der Dialog wird im Bibeltext einmal wiederholt und am Ende leicht variiert (Ps 23,9f.). Zur Überlieferung des Antiphons Elevamini portae aeternales vgl. die Cantus Manuscript Database der Universität Waterloo, http://cantus.uwaterloo.ca/id/002631 (06. März 2019) (Kap. 3, Anm. 338).

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nierenden Klang- bzw. Geräuschkulissen begleitet. Auf die Reden Christi folgt stets der Gesang der Engel, der von den Teufeln wiederum mit wildem Gemur­ mel und Geschrei beantwortet wird.⁴⁰ Die Szene ist ein griffiges Beispiel für den metaphorischen Einsatz lautlicher Zeichen, die durch harmonische bzw. dishar­ monische Klänge das Prinzip des Guten bzw. Bösen evozieren. Der Quellbereich Musik⁴¹ als Teilmenge des Schönen konzeptualisiert das Gute (Zielbereich); der Quellbereich Lärm als Teilmenge des Hässlichen konzeptualisiert das Böse (Ziel­ bereich). Das von Gott kommende Gute ist dabei im religiösen Schauspiel immer mit dem Heiligen verknüpft; das Böse ist sein Gegensatz.⁴² Mit beiden metaphy­ sischen Prinzipien verbinden die Spiele stets eine deontische Dimension, die das Gute als das Wünschenswerte und das Böse als das Verwerfliche ausweist und einfordert. Die lautlich-musikalische Darstellung beider Prinzipien ist keine Erfindung des religiösen Schauspiels, sondern folgt etablierten liturgischen Traditionen. Ausgehend von der Vorstellung des ewigen Lobpreises Gottes durch den Gesang der Engel, die im Alten und Neuen Testament belegt ist, wird der Engelsgesang in der christlichen Musik zur „gehörsmäßige[n] Entsprechung der Wesenheit des Heiligen, Numinosen.“⁴³ Menschlicher Gesang im Rahmen der Liturgie ist im Verhältnis zum himmlischen Gesang der Engel ein – freilich unvollkommenes – Abbild und zugleich Gelegenheit zur temporären Teilhabe am Numinosen durch die Musik, da im mittelalterlichen Verständnis in Gesängen wie Sanctus und Glo­ ria Menschen und Engel zusammenstimmen.⁴⁴ Der Sphäre des Göttlichen und damit des Guten ist ausgehend von Bibel und Liturgie auch der Klang bestimmter Instrumente zugeordnet. Dazu zählen Glocken, Schellen und Orgeln, die auch

40 Vgl. die Regieanweisungen nach den Versen 9843, 9845, 9849 und 9853. 41 Es handelt sich nicht um jegliche Arten von Musik, sondern um spezifische, aus dem litur­ gischen Kontext stammende Formen, die im Folgenden präzisiert werden. Um die sprachliche Darstellung der in Opposition stehenden konzeptuellen Metaphern nicht aufzublähen und ihre Strukturgleichheit hervorzuheben, wurde auf eine zusätzliche Präzisierung in ihrer Formulie­ rung verzichtet. 42 Die untersuchten religiösen Spiele setzen Gut und Böse als metaphysische Mächte, die sich in der Welt äußern, unter der Annahme voraus, dass in letzter Konsequenz das Böse dem göttli­ chen Prinzip des Guten unterliegt. Obwohl die Kategorie des Guten theologisch nicht notwendig mit der des Heiligen zusammenfällt, ist ebenjene Verknüpfung in den Spielen deutlich zu erken­ nen, was für ein ethisiertes Gottesbild spricht, demzufolge der Kampf zwischen Gut und Böse der Kampf zwischen Gott und dem Bösen ist. Vgl. dazu Hygen, Johan B.: Böse, Das. In: Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Horst R. Balz u. a., Bd. 7, Berlin, New York 1981, S. 8–17, S. 11 f. 43 Hammerstein, Musik der Engel, S. 23. Zum Lobpreis der Engel im Alten und Neuen Testament vgl. hier S. 17–23. 44 Vgl. hier S. 30–36.

5.2 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung

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als Begleitinstrumente etwa zum Gesang des Sanctus zum Einsatz kamen,⁴⁵ und die bereits erwähnten Blasinstrumente (Tuba, Trompete, Horn), die nicht im Rah­ men des Gotteslobs eingesetzt wurden, sondern Auferstehung und Weltgericht klanglich ausdrückten. Demgegenüber ist der das Böse repräsentierende Teu­ fel traditionell mit dissonantem Lärm assoziiert, verschiedentlich als zischende Schlange dargestellt und gilt als zu harmonischem Gesang gänzlich unfähig.⁴⁶ Die Klangwelt des Bösen wird in der Konsequenz vor allem durch „Geräuschwerk­ zeuge“, wie Hammerstein sie nennt, produziert, die im Sinne eines Tonsystems nur ungeordneten Lärm erzeugen und die einer Urschicht von Instrumentalmusik zugehören, wie Kettenrasseln, Schlagen auf Töpfen und Becken, Schmiedegedröhn, Peitschenknallen, Lärm von Küchenhaken, Kuhschellen, Ochsenhör­ ner und Mauleselglocken, ferner das Blasen auf Holz, Tierknochen, Katzenschwänzen, Weinflaschen oder das Trommeln auf einem Käserad.⁴⁷

Wenn traditionell mit dem Guten assoziierte Instrumente oder Gesang Verwen­ dung finden, sind die Instrumente in der Regel verstimmt und der Gesang schief.⁴⁸ Damit ist die Klangwelt des Bösen immer die Kehrseite von der des Guten. Ham­ merstein hat pointiert die Beschaffenheit dieses dualistischen Verhältnisses zwi­ schen der Musik der Engel und dem Lärm der Teufel beschrieben: In der Ausgestaltung der Klangwelt von Himmel und Hölle begegnen immer wieder zwei Aspekte: der Gegensatz von himmlischer und höllischer ‚Musik‘, sowie der Vorrang der ers­ teren. Letztere bleibt noch in ihrer weitesten Entfernung auf die himmlische bezogen. Noch in ihrer verzerrten Häßlichkeit ist sie eine Bestätigung der Weltordnung und damit ebenfalls Lobgesang. Himmel und Hölle bilden ein extremes Gegeneinander und zugleich ein Mitein­ ander.⁴⁹

45 Zum Einsatz von Instrumenten in Verbindung mit Gesängen und deren Spezifika vgl. hier S. 36–47. 46 Bezeichnenderweise ist in Hildegards von Bingen liturgischem Spiel Ordo virtutum, in dem sich alle tugendhaften Figuren singend ausdrücken, der Teufel die einzige dramatis persona, die nur schreit. Zur klanglichen Opposition von Gott und dem diabolus sibilator und ihrer Ausfor­ mung u. a. bei Hildegard vgl. Fritz, Paysages sonores, S. 274 ff. und Cazaux-Kowalski, Christel­ le: Éclats de voix, éclats de joie. Le chant liturgique et le cri de la foi. In : Les paysages sonores du Moyen Âge à la Renaissance. Hrsg. von Laurent Hablot/Laurent Vissière, Rennes 2016 (His­ toire), S. 261–275. 47 Hammerstein, Musik der Engel, S. 105. Für ausführliche Erläuterungen zu den ‚Teufelsin­ strumenten‘ Fistula, Tympanum und Horn sowie pervertierten Instrumenten vgl. zudem Ham­ merstein, Diabolus in Musica, S. 26–37. 48 Vgl. Hammerstein, Musik der Engel, S. 105. Der Teufelsgesang wird uns im Folgenden noch begegnen. 49 Hier S. 100.

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Dieses Gegen- und Miteinander wird im religiösen Schauspiel effektvoll genutzt, um deutlich hervortreten zu lassen, was gut und was böse ist. Figuren und Figu­ rengruppen, aber auch spezifische Handlungssequenzen erhalten eine lautlichmusikalische Signatur, die sie einem der beiden moralischen Pole zuweist. Geräu­ sche und Musik fungieren folglich als Schlaglaute. In GrPs wird der Auftritt Gottes (Dieu) wiederholt von einem Silete, also einer instrumentalen Begleitung⁵⁰, ein­ geleitet.⁵¹ Obwohl die jeweils nur aus einem Wort bestehenden Vermerke nichts darüber aussagen, welche Instrumente gebraucht werden sollen und was genau gespielt wird, ist aufgrund der oben beschriebenen musikalischen Tradition sehr naheliegend, dass in den historischen Aufführungen mit dem Göttlichen assozi­ ierte Instrumente zum Einsatz kamen und aus dem Repertoire liturgischer Mu­ sik geschöpft wurde. Die musikalische Signatur Gottes kann so als Hochwertlaut dienen, der dem Publikum auf klanglicher Ebene suggeriert, dass der betreffen­ den Figur allgemeingültig eine positive moralische Bewertung zukommt. Diesel­ be Funktion erfüllt der Klang der Harsthörner in LuPs. Die verzierten Ochsen­ hörner wurden in der Eidgenossenschaft traditionell verwendet, um zum Kampf zu blasen, und zudem auch als Auszeichnung für kriegerische Tapferkeit verlie­ hen.⁵² In LuPs wird die Präsenz Gottes stets durch das Blasen von Harsthörnern angezeigt.⁵³ Zum Teil ist dies als Harsthörner Gschrey (Regieanweisung nach V. 1594, „Ruf der Harsthörner“, Hervorhebung im Original) ausgedrückt, was auf den ersten Blick die Zuordnung zum moralisch negativen Pol des Lärms nahe­ legt. Diese Einschätzung relativiert sich jedoch, wenn man berücksichtigt, dass geschrei im Frühneuhochdeutschen noch die neutrale Bedeutung eines Rufs oder durchdringenden Lauts besitzen kann.⁵⁴ Jene ist im vorliegenden Kontext sehr na­ heliegend, da in der mittelalterlich-christlichen Vorstellung das Hornblasen, wie oben beschrieben, in vielen Fällen mit dem Göttlichen verbunden wurde und in LuPs nichts darauf hindeutet, dass das Instrument unsachgemäß gespielt und auf

50 Die Silete-Gesängen der Engel, die in den deutsch- und französischsprachigen Spielen dazu genutzt wurden, die Aufmerksamkeit des Publikums einzufordern und Sinnabschnitte innerhalb der Handlung zu markieren, erhielten in der französischen Tradition eine Erweiterung. Dort dient die Bezeichnung Silete auch der Markierung eines instrumentalen Zwischenspiels. Vgl. dazu hier S. 79 f. 51 Vgl. z. B. die Regieanweisungen vor V. 23167 und 25997. 52 Vgl. SI, Bd. 2, Sp. 1621. 53 Vgl. z. B. die Regieanweisungen nach V. 1430, 1594, 1826, 1966, 2002 und 2098. Dieselbe Funk­ tion scheint das Harsthorn in LuA bzw. dem gesamten LuWgII erfüllt zu haben, da es im überlie­ ferten Personenverzeichnis, das Reuschel in seiner Edition abdruckt (vgl. Reuschel, Die deut­ schen Weltgerichtsspiele, S. 321), gemeinsam mit dem Patter Eeternus, den Erzengeln und sechs singenden Engeln dem Bühnenort ‚Himmel‘ zugeordnet wird. 54 Vgl. FnhdWb, Bd. 6, Sp. 1352–1362.

5.2 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung

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diese Weise ein unangenehmer Ton erzeugt werden soll. In seiner wiederholten Referenz auf Gott ist der durchdringende Laut mit dessen ehrfurchtgebietender Allmacht in Verbindung zu bringen, der keine moralisch negative Wertung an­ haftet.⁵⁵ Auf besonders deutliche Weise artikuliert sich das Prinzip des Guten darüber hinaus im bereits erwähnten Gesang der Engel. In allen untersuchten Spielty­ pen drücken sich die dramatis personae der Engel auffällig häufig singend aus. Dies betrifft nicht nur die Silete-Passagen, welche in vielen Spielen als Intermezzi zwischen einzelnen Episoden auftreten und keine erkennbar wertende Funktion übernehmen.⁵⁶ Sind die Engel Teil der Handlung, tragen sie ihren Text häufig sin­ gend vor, wie dies etwa in JuBe der Fall ist. Hier ruft der erste Engel (Premiers An­ ges) Enoc und Elie en chant (Regieanweisung vor V. 456 und 1410; „singend“) dazu auf, gegen den Antichristen zu predigen und führt sie nach ihrer Auferstehung ins himmlische Paradies. Ein in SGPs auftretender Engel leitet sein Erscheinen durch Gesang ein, bevor er zu dem im Garten Gethsemane betenden Jesus spricht.⁵⁷ Lob­ singende Engel, die etwa den Eingang der Seligen ins Paradies oder die Befreiung der guten Seelen aus der Hölle musikalisch begleiten, sind in fast allen Spielen präsent und verleihen dem Prinzip des Guten, das sich in der jeweiligen Hand­ lungssequenz äußert, eine klangliche Präsenz.⁵⁸ Diese ist jedoch nicht den Engeln allein vorbehalten. Wie in der Liturgie der Engelsgesang sein Analogon im Gesang 55 In anderen Kontexten kann der Klang des Horns auch mit dem Lärm der Teufel und folglich dem Pol des Bösen assoziiert werden. So zum Beispiel in LuWgI, wo der Teufel Krüttlin durch das Blasen eines Horns signalisiert, dass die Verdammten in die Hölle geführt werden sollen (vgl. V. 2582c in LiII2 618). Auch Hammerstein weist darauf hin, dass das Horn klanglich das Böse ebenso wie die vox die repräsentieren kann (vgl. Hammerstein, Musik der Engel, S. 32 f.). Die me­ taphorische Funktion der lautlich-musikalischen Zeichen ist damnach nicht allein an bestehende Konventionen gebunden, die wie im vorliegenden Fall mehrdeutig sein können, sondern ergibt sich auch aus ihrer spezifischen Nutzung im Schauspiel. 56 Die Engel-Figuren sind an diesen Stellen im Hinblick auf die theatrale Kommunikationssitua­ tion als S2 aufzufassen, die eine vermittelnde Funktion übernehmen (Verdeutlichung der Spiel­ struktur) und nicht Teil der Handlung sind. In einigen Spielen, zum Beispiel AlPs und PfPs, scheint der Gesang der Synagoge eine vergleichbare Funktion zu erfüllen. 57 Vgl. die Regieanweisung vor V. 1162: Un ange chante sus : Eterne. („Ein Engel singt über ihm Eterne.“). Ob der Engel den darauffolgenden Text singt oder spricht, geht aus der Regieanweisung nicht eindeutig hervor. 58 Beispielhaft sei eine in JuMo befindliche Stelle zitiert, die paradigmatischen Charakter be­ sitzt. Während dort die Auserwählten zu Christus heraufsteigen dürfen, singen die Engel (vgl. die Regieanweisung auf fol. 56v: canant angeli / ascendentibus electis). Der Inhalt greift das Motiv des ewigen Lobpreises auf: louange plaine bonte saulveraine / nous te donnons divine clemence / et loyerons ta divine essance / sans jamais cesser (fol. 56v bzw. Ch 215; „Vollkommenen Lob­ preis spenden wir dir, höchste Güte und göttliche Milde, und wir werden dein göttliches Wesen preisen, ohne jemals zu enden.“).

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des Chors oder der Gemeinde findet, wird er im religiösen Schauspiel von der Fi­ gurengruppe der Engel auf die christlicher Figuren ausgeweitet und kann dann als Fahnenlaut fungieren, der eine bestimmte Figur oder Gruppe als gut charakteri­ siert. Indem dramatis personae wie beispielsweise Gottmutter, Maria Magdalena oder die aus der Hölle befreiten Propheten nach Art der Engel singen, nämlich auf harmonische, aus dem liturgischen Kontext inspirierte Weise, sind sie für das Publikum schon auf rein lautlich-musikalischer Ebene als Vertreter des moralisch Guten zu erkennen. In AlPs, das besonders viele gesungene Passagen enthält, die größtenteils auch mit musikalischen Notationen überliefert sind, ist zum Beispiel die Episode der Salbung Jesu durch Maria Magdalena ein interessanter Fall. Die Unglückliche klagt singend über ihre verwerflichen Taten, die zahlreicher seien als der Sand am Meer (vgl. V. 2743–2746). Während die Figur sich durch den In­ halt ihrer Worte als Sünderin ausgibt, signalisiert die klangliche Dimension ihrer Äußerung dem Publikum bereits, dass hier eine moralisch gute dramatis persona zu sehen ist, was sich im weiteren Handlungsverlauf bestätigen wird. Die lautliche Evokation des Bösen durch Lärm in der Funktion eines Unwert­ lauts ist in den untersuchten Spielen ebenso deutlich zu erkennen. Dass keine Kosten und Mühen gescheut wurden, um eine beeindruckende Geräuschkulisse um die Teufel herum zu installieren, zeigen etwa die Verträge, die zwischen Ver­ tretern der Gemeinde von Modane und lokalen peintres et experts à jouer du feu avec pouldre (Gr 27, „Malern und Experten für Feuerwerke“) für die Aufführungen JuMos von 1580 und 1606 geschlossen wurden. Darin wird festgelegt, dass die Teufel jedes Mal, wenn sie der Hölle entsteigen oder eine Seele in die Hölle hin­ einzerren, von Feuerwerk und weiterem Lärm begleitet werden sollen (Gr 29, 32, 36). Die Regieanweisungen im Spieltext bestätigen dies.⁵⁹ In JuRou, das die Folter der Verdammten durch die Teufel ausführlich in Szene setzt, ist das lautstarke Ge­ schrei der Teufel ebenfalls ein charakteristisches Merkmal⁶⁰ und auch AlPs betont in Regieanweisungen den Lärm, den die Teufel verursachen. So kommen sie et­

59 Vgl. z. B. die Regieanweisung auf fol. 62v: hic demones impellunt dampnati in infernum et fit tumultus magnus et ululatus („Hier stoßen die Dämonen die Verdammten in die Hölle und es ist ein großer Lärm und Geschrei zu hören.“). 60 So heißt es z. B. in einer Regieanweisung (vgl. nach V. 2356) zur Peinigung der Personifikation des Zorns, die in die Hände des Teufel gefallen ist: Aras lo meto en lo potz he, quant sera lains, gieto fuoc an pegua roina en cridan los diables : ‚Festa! festa! que may n’aurem !‘ („Nun steckt man sie [Ira, CP] in den Schacht und wenn sie darin ist, zünden die Teufel ihn mit einem Harzgemisch an, während sie schreien: ‚Ein Fest! Ein Fest! Wir wollen mehr davon!‘“). Der potz bezieht sich auf den Höllenschacht (puits d’enfer), welcher im französischen Sprachraum ein gängiges Element der Hölle ist und im Schauspiel häufig durch eine Falltür dargestellt wird. So rekonstruiert ihn auch Lazar in der Edition JuRous (vgl. Lazar, Lo Jutgamen General, Nr. 22 in der Bühnenskizze auf S. 37).

5.2 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung

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wa cum horribile clamore (Regieanweisung vor V. 620; „mit schrecklichem Lärm“) aus der Hölle und die Ergreifung der Frau des Herodes und ihrer Tochter durch Sathans und die übrigen Teufel wird von einem tumultartigen Gelächter Lucipers begleitet.⁶¹ In AlPs wird darüber hinaus auch das Motiv der Gesangsunfähigkeit des Teufels parodistisch aufgegriffen. Während Luciper in seinem Fass sitzt, lau­ fen die anderen Teufel im Kreis um ihn herum und ‚singen‘ ein Spottlied: Lucifer in dem throne, ryngelyn ryß, der was eyn engel schone, ryngelyn ryß. (V. 139–144)

Lucifer auf dem Thron, Ringlein reis, der war ein schöner Engel, Ringlein reis.

Der volkssprachliche Text des Liedes, der eine Anspielung auf den Höllensturz Lucipers und die refrainartig wiederholte onomatopoetische Phrase ryngelyn ryß enthält, ist allein formal weit von den liturgischen Gesängen entfernt, die das Numinose symbolisieren. Es erscheint naheliegend, dass auch die Vertonung der Verse durch die Teufel stark mit dem Ideal des Engelsgesangs kontrastieren soll. Gerade der Verweis auf Lucipers vorgängige Existenz als Engel lässt die Diskre­ panz umso deutlicher hervortreten. An die Stelle des Lobgesangs der Engel zur Ehre Gottes tritt der Spottgesang der Teufel zur Verhöhnung Lucipers.⁶² Die Disso­ nanz des teuflischen Gesangs ist in GrPs auf die Spitze getrieben, wo selbst Lucifer das Ständchen, das seine dämonischen Untertanen ihm darbringen (vgl. V. 3834– 3841), nicht ertragen kann: Lucifer Harau, ribaulx, vous m’estonnez, tant menez cry espouentable ! Cessez, cessez, de par le deable : vostre chant s’accorde trop mal !

Lucifer Auweh, ihr Peiniger, ihr macht mich taub, so unerträglich wie ihr schreit! Hört auf, hört auf, beim Teufel: Euer Gesang ist viel zu schief!

Sathan C’est le scilete ferïal ; tous les jours est dit a l’ostel. Si vous voulez le solempnel, vous l’ourrez, qui est bien doulcet.

Sathan Es ist das feierliche Silete; jeden Tag wird es am Altar aufgesagt. Wenn ihr es feierlich wollt, sollt ihr jenes bekommen, das ganz lieblich ist.

61 Vgl. die Regieanweisung vor V. 1105 und V. 1105: Et sic currit ad matrem, sequentes omnes. Sed L u c i p e r manet in doleo clamando cum impetus: Ha ha ha ha ha ha! („Und so läuft er [Sathanas, CP] von allen anderen gefolgt zur Mutter. Aber Luciper bleibt im Fass und schreit lautstark: Ha ha ha ha ha ha!“). 62 Zur parodistischen Funktion des Teufelsgesangs, der auf verzerrende Weise den Gesang der Engel imitiert, vgl. auch Hammerstein, Musik der Engel, S. 106–110.

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Lucifer Nennil, non, je sçay bien que c’est: c’est assez pour fendre cervelles. [. . . ] (V. 3842–3851)

Lucifer Nein, nein, ich weiß genau, was es ist: Es reicht aus, um Hirne aufzuweichen. [. . . ]

Die verunglückte Imitation des Engelsgesangs wird hier durch den expliziten Ver­ weis auf das Silete nachdrücklich unterstrichen. Dem Dialog ist zu entnehmen, dass die Darsteller der Teufel in der Aufführung schief singen, ja geradezu schrei­ en sollen. Die Opposition von harmonischer Musik und ohrenbetäubendem Lärm als klangliche Symbole für das Gute und das Böse treten in dieser Szene klar her­ vor.⁶³ Das Schema wird darüber hinaus auch auf andere Figurengruppen übertra­ gen. Beispielsweise treffen in AlPs in der Szene der Gefangennahme Jesu eben­ falls zwei entgegengesetzte Tonalitäten aufeinander. Das dreimalig wiederholte Wechselspiel von Frage und Antwort (Quem queritis? – Ihesum Nazarenum! – Ego sum.⁶⁴) ist auch ein Wechselspiel von gesungenen und gerufenen Passagen. Die Regieanweisungen vermerken, dass die Juden schreien und der Salvator singen soll.⁶⁵ Der Gesang weist Jesus unabhängig vom Inhalt seiner Worte als moralisch gut aus, wohingegen sich im Geschrei der Juden ihre Zugehörigkeit zum Bösen manifestiert und an dieser Stelle als Stigmalaut wirken kann. Durch die metaphorische Verknüpfung lautlich-musikalischer Äußerun­ gen mit den moralischen Dimensionen von Gut und Böse verfügt das religiöse Schauspiel über ein stereotypes, eingängiges und damit sehr wirkungsvolles Steuerungsinstrument gegenüber seinem Publikum. Smith spricht von einem „fil sonore“, einem klanglichen roten Faden, der die Aufmerksamkeit der Zu­ schauenden und Zuhörenden lenke.⁶⁶ Damit ist ausgedrückt, dass der besagte Klangfaden eine grundlegende strukturierende Funktion im Schauspiel erfüllt. Die metaphorische Bedeutung, die Geräusche und Musik systematisch in den Spielen entfalten, macht auf eine zusätzliche Funktionsebene aufmerksam. Der fil sonore zeigt dem Publikum nicht nur an, wo auf der Simultanbühne die re­ levante Handlung stattfindet. Er gibt ihm auch moralische Wertungen vor und lenkt folglich auf unterschwellige, affektive Weise sowohl die Aufmerksamkeit der Rezipierenden als auch ihre intuitive Bewertung dessen, was sie sehen und hören. 63 An anderer Stelle wird auch die Unfähigkeit von Lucifer selbst, angenehme Klänge hervor­ zubringen, thematisiert. So spricht Sathan: vous hullez comme ung lou famis / quant vous cuidez chanter ou rire (V. 3706 f.; „Ihr heult wie ein ausgehungerter Wolf, wenn Ihr meint zu singen oder zu lachen“). 64 Vgl. V. 3372 ff. 65 Vgl. ebd.: Iudei clamant und Saluator canit. 66 Vgl. Smith, Écriture dramatique, S. 166.

5.2 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung

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b) Das Gute sind Engel vs. Das Böse sind Teufel Die bisherige Darstellung hat sich auf monomodale, nämlich lautlich-musikalisch realisierte konzeptuelle Metaphern konzentriert. Dass dem religiösen Schauspiel nicht die Klangebene allein als Quellbereich dient, um den abstrakten morali­ schen Zielbereich des Guten bzw. Bösen zu konzeptualisieren, zeigt sich daran, dass Musik und Geräusche stets mit spezifischen Figurengruppen assoziiert wer­ den, wie die vorgängige Analyse gezeigt hat. Engel und Teufel sind konventionali­ sierte Personifikationen des Guten und des Bösen, die das religiöse Schauspiel in ihrer metaphorischen Funktion nutzt, um moralische Zuordnungen im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen zu stellen. Das Aussehen beider Figurentypen folgt dabei fest etablierten Mustern. Engel zeichnen sich in der Regel durch weiße oder helle, manchmal blaue, häufig glänzende Gewänder aus und sind meist mit Flü­ geln dargestellt.⁶⁷ Die Teufel kleiden sich dagegen im dunklen Farbspektrum und besitzen neben menschlichen auch animalische bis monströse Züge. Dazu zählen eine dunkle Behaarung, Hörner, Klauen, Schwänze, fledermausähnliche Flügel sowie Augen und ganze Gesichter an unerwarteten Körperteilen. Häufig sind sie zudem Zwitterwesen, die etwa über Brüste und Phalli verfügen.⁶⁸ So wie der Lärm der Teufel in einem engen Verhältnis zur Musik der Engel steht, die in ihrer Ge­

67 Dies bestätigt sich in den meisten Spielhandschriften, die mit Miniaturen ausgestattet sind. Für einige Beispiele vgl. die Handschrift von MaPs (Arras, Bibliothèque municipale, Ms. 625, fol. 54v und 62r) oder JuBe (Besançon, Bibliothèque municipale, Ms. 579, fol. 2v). Auch der Ver­ merk im Personenregister LuAs, dass die Erzengel in eim aller schönsten schilertaffet on flügell und [d]ie singend engell [. . . ] 6 wie gwon ist mitt flüglen (Reuschel, Die deutschen Weltgerichts­ spiele, S. 321, „im allerschönsten glänzenden Seidengewebe, ohne Flügel“ und „die singenden Engel wie gewohnt sechs und mit Flügeln“) gekleidet sein sollen, bestätigt die kanonische Form der Darstellung. Im Übrigen zeugt von dieser auch der Bericht des Augenzeugen Rizios (vgl. Haas, Über geistliche Spiele, S. 118: sette angeli vestiti tutti di bianco et cinque di diversi colori con l’ale et incensori in mano [„sieben Engel, ganz in weiß gekleidet, und fünf in verschiedenen Farben, mit Flügeln und Weihrauchfässern in der Hand“]). Hammerstein beschreibt, wie sich die Hierarchie unter den Engeln auch visuell niederschlägt (vgl. Hammerstein, Musik der Engel, S. 25 ff.). LuA nimmt offensichtlich eine hierarchische Unterscheidung vor, doch stimmt diese im Detail nicht mit den von Hammerstein erläuterten Merkmalen überein, was auf eine weniger fixierte visuelle Konvention hindeutet. 68 Trotz individueller Unterschiede weisen alle bildlichen Teufel-Darstellungen der behandel­ ten Spiele viele der genannten Aspekte auf und lassen deutlich erkennen, dass sie ikonogra­ phisch etablierten Mustern folgen. Für eine Auswahl einschlägiger Miniaturen vgl. die Hand­ schrift KoWgs (Kopenhagen, Königliche Bibliothek, Cod. Thott. 112,4°, fol. 17r, abgedruckt in Blo­ sen, llustrationerne, S. 125) oder GrPs (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 6431, fol. 71v ; Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Français 815, fol. 2r). Eine Vielzahl ikonographischer Dar­ stellungen, zu denen die Miniaturen der Spiele unübersehbar in einem engen Verhältnis stehen, versammelt außerdem Hüe, Denis: Les cornes des diables. In : Cornes et plumes dans la littérature médiévale. Attributs, signes et emblèmes. Hrsg. von Fabienne Pomel, Rennes 2010, S. 43–68.

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gensätzlichkeit der ewige Bezugspunkt bleibt, ist die äußere Form der Teufel ein pervertiertes Bild der Engel.⁶⁹ Der Dualismus von Gut und Böse äußert sich visuell in der Opposition von hell und dunkel, schön und hässlich, die sich in Engeln und Teufeln manifestiert. So werden etwa den edel bekleideten und zum Teil beflügel­ ten Engeln in LuA Teufel in schwartz¯e [a]ller vnfletigste [best]oupften cleyd (vgl. das Personenverzeichnis auf S. 324; „in schwarzen, auf das Unsittlichste gefer­ tigten Kleidern“) entgegengestellt. Ihre Auftritte in den Spielen markieren somit nicht nur auf lautlicher, sondern auch auf visueller Ebene, wo das Gute und wo das Böse am Werk ist. Die physische Präsenz von Engeln und Teufeln, die andere Figuren auf der Bühne begleiten, ohne notwendig verbal mit ihnen zu interagieren, wird in den Spielen häufig dazu genutzt, die betreffenden Figuren und/oder ihre Handlun­ gen dem Pol des Guten oder des Bösen zuzuordnen. In vielen Fällen wirken hier bildliche und lautlich-musikalische Zeichen zusammen. So etwa, wenn, wie oben beschrieben, singende Engel Jesus zum Tor der Hölle begleiten. Auch das Geleit Enochs und Elias ins himmlische Paradies durch singende Engel bringt beide Mo­ dalitäten zusammen.⁷⁰ Die musizierenden Engel sind gleichzeitig Hochwertlaut und -bild, übernehmen jedoch durch ihre räumliche Assoziation mit einer wei­ teren Figurengruppe oder Identifikationsfigur, hier Jesus, auch die Funktion von Fahnenlaut und -bild, indem sie die besagte Figur(engruppe) positiv-deontisch charakterisieren. In den Bebilderungen der illuminierten Spielhandschriften lässt sich die Funktion des Fahnenbilds ebenfalls greifen. Zum Beispiel zeigt eine Mi­ niatur in MaPs und die einer der Handschriften von GrPs die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer. Beide Miniaturen stellen den Akt der Taufe dar, in dem Jo­ hannes Jesus, der im Fluss (traditionell der Jordan) steht, mit Wasser aus einem Gefäß übergießt. Auf der anderen Seite Jesu befindet sich ein Engel, der Gewänder für den entkleideten Jesus bereithält. Die Miniaturen sind als memory images⁷¹ zu klassifizieren, da sie die Taufe in einer prägnanten Szene resümieren. Dabei sind sie eng an ikonographische Darstellungen des Hoch- und Spätmittelalters ange­ lehnt, die dem Taufgeschehen sehr häufig einen oder mehrere Engel anbei stellen,

69 Dieses ist letztlich über das Höllensturz-Motiv auch genealogisch begründet, demzufolge die Teufel gefallene Engel sind. 70 Vgl. JuBe, V. 1410–1423. Ähnlich ist die Szene in LuA ausgestaltet, wo der Erzengel Gabriel als Bote Gottes die beiden Propheten auferstehen und zum Himmel auffahren lässt (vgl. V. 4231– 4296). 71 Zur Klassifikation bildlicher Darstellungen in Schauspiel-Handschriften nach Clark und Sheingorn vgl. Kapitel 2.1.3. zur Semiotik des Theaters.

5.2 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung

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Abb. 14: Taufe Jesu in MaPs

Abb. 15: Taufe Jesu in GrPs

die Kleider oder Tücher für Jesus bereithalten.⁷² Ihnen lässt sich in dieser bildli­ chen Tradition die Funktion eines Fahnenbildes zusprechen, das ausgehend von der metaphorischen Verbindung zwischen dem Bild des Engels und dem Konzept des Guten die Figuren Jesus und Johannes als Vertreter des moralisch Guten und den Akt der Taufe als positive Handlung markiert.

72 Vgl. beispielsweise die Darstellung in Herrads von Landsberg Hortus deliciarum, in der sich drei Engel zur Linken Jesu befinden. Das Bild ist abgedruckt in Herrad von Landsberg: Hortus deliciarum. Hrsg. von Otto Gillen, Neustadt, Weinstraße 1979, S. 85.

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Sowohl in MaPs als auch in GrPs erwähnt der Spieltext die Präsenz des En­ gels nicht. Es lässt sich anhand der Miniaturen nicht darauf schließen, dass in den historischen Aufführungen eine ihrer Darstellung ähnliche Konstellation auf der Bühne inszeniert wurde. Aufgrund der nachweislich sehr engen Bezüge der Spiele zu bildlichen Quellen⁷³ erscheint es dennoch nicht unwahrscheinlich, dass in der Szene ein Engel-Darsteller zugegen war, der die Funktion des Fahnenbildes erfüllen konnte. In der imaginierten Aufführung wird es durch die Spieltexte und Miniaturen unabhängig davon evoziert. Ein anderes Beispiel für die Nutzung der Engel ist die Szene, in welcher der Antichrist von seinem guten Engel verlassen wird, was seine endgültige Hinwendung zum Bösen visualisiert.⁷⁴ Diese nutzt das Hochwertbild in negativer Hinsicht: Wenn der Engel den Antichristen verlässt, verlässt ihn auch das Gute. So wie die Engel als Fahnenbilder und -laute zur visuell-akustischen Charak­ terisierung weiterer Figuren(gruppen) genutzt werden, fungieren auch die Teufel

73 Ein eindrückliches Beispiel für die Detailtreue, mit der man sich an bekannte christliche Bil­ der hielt, ist die Darstellung des richtenden Gottes in den Weltgerichtsspielen. Traditionelle Ele­ mente des Weltgerichts sind in der spätmittelalterlichen ikonographischen Tradition die mittige Anordnung des im Himmel befindlichen Richtergottes, der häufig auf einem Thron, Regenbogen und/oder dem Erdkreis sitzt. Zu seiner Linken befindet sich in vielen Darstellungen ein Schwert, welches das Gericht symbolisiert, und zu seiner Rechten ist eine weiße Lilie zu sehen, die für die Gnade steht. Zur Ikonographie des Weltgerichts vgl. auch Brenk, Beat: Weltgericht. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Hrsg. von Engelbert Kirschbaum u. a., Rom u. a. 1972, Sp. 513–523. In einigen der untersuchten Spiele wird deutlich, dass sie sich sehr exakt an ikonographische Darstellungskonventionen halten. So erwähnt etwa der Präcursor in MüWg, Christus werde auf einem Regenbogen erscheinen, um Gericht zu halten (vgl. das wirt Christus im regenpogen kemen, / Der wirt da zu gericht sitzen; V. 12f). Für die Aufführung von LuWgII im Jahr 1549 hält der mai­ ländische Gesandte Rizio fest, der Salvator sei plötzlich in der Höhe, auf einem großen, grün, rot und gelb gefärbten Kreis erschienen, der von durchsichtigen Haltevorrichtungen in der Luft ge­ halten wurde. Er habe nackt gewirkt und nur einen feinen, karminroten Mantel getragen sowie die Wundmale an Seite, Händen und Füßen gezeigt, die er auf einen Ball abstütze, der wie eine Weltkugel wirkte. Die Hände habe er ausgebreitet und von der rechten Seite des Mundes sei eine weiße Lilie mit grünen Blättern und Zweigen ausgegangen, während sich auf der anderen Seite ein gänzlich rotes Schwert befand; beide von zwei Eisen gehalten, die so gemacht waren, dass es schien als schwebten sie ohne Stütze in der Luft. Vgl. Haas, Über geistliche Spiele, S. 120: [. . . ] quando all’improvviso comparse il Salvatore in alto sopra un gran circulo, verde, rosso et giallo di color smarrito, sostenuto da certi artificij in color d’aere, parea nudo, con uno manto sopra di colore cremisille sottilissimo; et monstrava le piaghe nel costato, mani et piedi, quali tenea appoggiati so­ pra una palla fatta come uno mondo, stava con le mani spanse, et dalla banda dritta per scontro de la bocca gli era un lilio bianco con le foglie et rami verdi, et dall’alltro canto una spada tutta rossa, sostenuta da due ferri fatti di modo che pareano stare in aere senza alcuno sostesto. 74 Die Szene wurde bereits unter 3.1.3 analysiert.

5.2 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung

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mitunter als Stigmabilder und -laute. Bereits erwähnt wurde im Zusammenhang mit dem Werkzeug-Topos die physische Präsenz der Teufel-Figuren in GrPs, die dort böse handelnde Figuren auf der Bühne begleiten.⁷⁵ Die Präsenz des Bösen wird folglich auf analoge Weise zu der des Guten in Szene gesetzt. Sie äußert sich jedoch nicht nur in stummen Begleiter-Rollen, sondern die Präsenz des Bösen im menschlichen Handeln wird auch in visuellen Hybridisierungen sichtbar. So zeigen eine Reihe von Spielen teuflisch-menschliche Metamorphosen, wenn die Teufel ihre äußere Erscheinung ändern, um als scheinbare Menschen Unfrieden zu stiften. In JuBe nimmt der Teufel Angingnars die Gestalt eines schönen jungen Mannes an, um in dieser Form mit einer jüdischen Prostituierten den Antichris­ ten zu zeugen.⁷⁶ AlPs lässt Sathanas als Prior verkleidet an die Frau des Herodes herantreten und ihr den Plan zur Tötung Johannes des Täufers einflüstern (vgl. V. 968–979 und die davor befindliche Regieanweisung). Er bleibt während der ge­ samten Szene in seiner Verkleidung präsent und enthüllt sein wahres Wesen erst, nachdem der Prophet geköpft wurde: Tunc Sathanas, qui omnibus hys interfuit sub habitu vt prefertur, nunc se denudans clamat horribiliter in castro Herodis : (Daraufhin schreit Sathanas, der während alldem in seiner Verkleidung wie beschrieben anwesend war, auf entsetzliche Weise, während er sich im Schloss des Herodes auszieht:) Oho, oho, ich han gesehenn, das alle myn wylle ist gescheen. der man yn vnschult ist ermort. [. . . ] (Regieanweisung und V. 1040 ff.)

Oho, oho, ich habe gesehen, dass alles nach meinem Willen geschehen ist. Der unschuldige Mann ist ermordet worden. [. . . ]

Indem die Teufel-Figuren menschliche Gestalt annehmen, führen sie Fälle von inadaequatio vor, da das schöne – oder zumindest nicht hässliche – Aussehen der teuflischen Menschen nicht mit ihrer bösen moralischen Gesinnung korre­ spondiert. Auf der immanenten Bedeutungsebene ist ihr Status für andere drama­ tis personae nicht zu erkennen und macht folglich darauf aufmerksam, dass das Böse durchaus hinter einem schönen Schein versteckt sein kann. Für das Publi­ kum und mithin auf der rekonstruierten Bedeutungsebene bleiben die Fälle von inadaequatio jedoch nicht unaufgelöst, sondern werden stets disambiguiert. Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden Zeugen des Gestaltwechsels der Teufel, sodass das wahre Gesicht des Bösen ihnen stets vor Augen steht. Auch legt etwa

75 Vgl. Kapitel 3.1.1. Diese fungieren dort als Stigmabilder. 76 Vgl. V. 285 : Je affubleré forme d’onme. („Ich werde menschliche Form annehmen.“) In der Handschrift JuBes zeigen mehrere Miniaturen Angingnars in seiner teuflischen und menschli­ chen Form (vgl. Besançon, Bibliothèque municipale, Ms. 579, fol. 4v–6r).

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Abb. 16: Versuchung Jesu durch den Teufel in MaPs

die Regieanweisung in AlPs nahe, dass die Teufel auf der Bühne ihre menschliche Verkleidung über ihrem Teufel-Kostüm trugen und folglich einzelne Aspekte – zum Beispiel klauenartige Füße – weiterhin für das Publikum sichtbar blieben. Auf diese Weise ist das Böse visuell fortwährend präsent und der schöne Schein unvollkommen. Eine solche Darstellung findet sich zum Beispiel in den Miniatu­ ren von MaPs, die in der Episode der Versuchung Jesu in der Wüste den Teufel Sathan als eine hybride Figur zeigen, die zwar auf den ersten Blick als Mensch er­ scheint, sich aber durch Elemente wie Hörner und Klauen als verkleideter Teufel zu erkennen gibt. Die religiösen Spiele vermitteln so die Vorstellung, dass das Bö­ se sehr konkret in der Welt aktiv und Vorsicht geboten ist, um ihm nicht anheim zu fallen. Zugleich erlauben seine bildlichen Manifestationen in Form teuflischer Attribute (Hörner etc.), eine stereotype Schematisierung aufrecht zu erhalten, die dem Publikum durch die genannten visuellen Aspekte unmissverständlich zu ver­ stehen gibt, an welchem Pol zwischen Gut und Böse eine Figur (und ihre Hand­ lung) sich bewegt. Graubereiche, die eine klare Zuordnung erschweren, werden so vermieden. Dies gilt auch in Übertragung auf weitere Figuren, in deren irdischer Gestalt zwar bisweilen äußere Schönheit und innere Bosheit auseinandertreten können, wofür der Antichrist ein prototypisches Beispiel ist.⁷⁷ Ihr wahres Wesen

77 Die Gefahr des Antichristen besteht gerade darin, dass er schön, intelligent und gelehrt ist. Dies wird verschiedentlich auch in den Spielen hervorgehoben, z. B. in JuBe, wenn nach der Ge­ burt des Antichristen die Zofe seiner Mutter (La Damoiselle) ausruft: Dame, regardez quel visaige / Et quieux mambres vostres filz a! / Certes, des ans plus de mil a / Tieux enfes ne fu nez de mere.

5.2 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung

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aber – im christlichen Verständnis mithin die Seele, die gewöhnlich in mensch­ licher Form auf der Bühne dargestellt wird – drückt sich durch den Dualismus des Schönen und des Hässlichen aus. So sind etwa in JuMo die guten Seelen, die sich auf den Ruf der apokalyptischen Engel hin für das Weltgericht aus ihren Grä­ bern erheben, schön, die bösen Seelen dagegen hässlich: facta proclamatione re­ surgant mortui boni forma bona mali vero defformes (Regieanweisung auf fol. 6v; „Nach der Ankündigung erheben sich die Toten; die Guten in einer schönen Form und die Bösen wahrhaft hässlich.“).

5.2.2 Orientierungsmetaphern In den vorgängigen Abschnitten wurde untersucht, wie die moralisch-abstrakten Konzepte des Guten und des Bösen über sinnlich-konkrete Konzepte des Ästheti­ schen im religiösen Schauspiel strukturiert und eingängig vermittelt werden. In ih­ rer zentralen Arbeit zu konzeptuellen Metaphern haben Lakoff und Johnson die­ se Phänomene als strukturelle Metaphern bezeichnet.⁷⁸ Von ihnen unterscheiden sie sogenannte Orientierungsmetaphern (orientational metaphors), die nicht ein Konzept mithilfe eines anderen strukturieren, sondern Konzepte anhand räumli­ cher Ausrichtungen (oben – unten, innen – außen, vorne – hinten, etc.) zueinan­ der in Bezug setzen. Orientierungsmetaphern sind laut Lakoff und Johnson nicht arbiträr, sondern „[t]hey have a basis in our physical and cultural experience.“⁷⁹ Am Beispiel der räumlichen Kategorie von oben und unten zeigen sie, wie diese ausgehend von einer physischen Basis andere Konzepte ausrichten, etwa: happy is up; sad is down I’m feeling up. That boosted my spirits. My spirits rose. You’re in high spirits. Thinking about her always gives me a lift. I’m feeling down. I’m depressed. He’s really low these days. I fell into a depression. My spirits sank. Physical basis: Drooping posture typically goes along with sadness and depression, erect posture with a positive emotional state.⁸⁰

(V. 446: „Herrin, seht, was für ein Gesicht Euer Sohn hat und wie sein Körper gestaltet ist! Wahr­ lich, seit mehr als tausend Jahren ist kein solches Kind von einer Mutter geboren worden.“) Ars­ art, einer der Teufel, tritt hinzu und sagt voraus, der Junge werde saiges et senez (V. 452; „gelehrt und intelligent“) sein. Auch die Miniaturen JuBes zeigen den jungen Antichristen als hellhäuti­ gen, blondgelockten Knaben, der dem mittelalterlichen Schönheitsideal entspricht (vgl. Besan­ çon, Bibliothèque municipale, Ms. 579, fol. 10r und 10v). 78 Vgl. Lakoff/Johnson, Metaphors, S. 14. 79 Ebd. 80 Hier S. 15, Hervorhebungen im Original.

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Laut Lakoff und Johnson schreiben die Orientierungsmetaphern folglich Kon­ zepten eine räumliche Orientierung ein, die unsere Vorstellung dieser Konzepte prägt und sich in unserem Sprachgebrauch niederschlägt. In multimodaler Per­ spektive ist davon auszugehen, dass dies auch für unsere Sehgewohnheiten und somit ebenfalls für die Verwendung bildlicher Zeichen gilt. Obwohl Lakoff und Johnson von einer physischen und kulturellen Basis der Orientierungsmetaphern sprechen, führen sie deren Funktionsweise in erster Linie auf physische Grundla­ gen zurück und erklären nur in Einzelfällen von ihnen ausgehend auch soziale Be­ dingungen.⁸¹ Gerade die oben-unten-Orientierung zeigt aber im Hinblick auf das religiöse Schauspiel, dass ihr metaphorischer Gebrauch tief in kulturellen Mus­ tern verankert ist. In den religiösen Spielen erfolgt die metaphorische Verknüpfung des Guten und des Bösen mit bildlichen Zeichen nicht nur über Figuren, sondern ist auch in der Dekoration der Bühne präsent. Die zentralen Orte bzw. mansiones, die das Gute und das Böse auf konkrete und anschauliche Weise konzeptualisieren, sind das himmlische Paradies und die Hölle.⁸² Verschiedentlich ist konstatiert worden, dass sie zwei konstante Elemente der Bühnendekoration darstellen, die in allen Passionsspielen – aber auch in sämtlichen eschatologischen Spielen – zu finden sind.⁸³ Dies trifft auf den französischen wie deutschen Sprachraum zu und lässt sich für alle behandelten Spiele anhand von Spieltexten, Regieanweisungen und zum Teil auch bildlichen Zeichen (Miniaturen, Bühnenpläne) nachweisen. Sie ge­ ben ebenfalls Aufschluss darüber, dass die Situierung der Bühnenorte der oben-

81 Vgl. hier S. 15 ff. Die Autoren widmen der experiential basis darüber hinaus einen zusätzlichen Abschnitt, in dem die kulturelle Basis keinerlei Rolle spielt (vgl. hier S. 19 ff.). 82 Die Spiele verwenden die Bezeichnungen Himmel und Paradies uneinheitlich, um den Büh­ nenort zu bezeichnen, an dem sich Gott und die Engel befinden. Ihre Gestaltung scheint sich stärker an der Vorstellung des himmlischen Jerusalems orientiert zu haben als an der Tradition, das Paradies als Gartenlandschaft darzustellen. Dies legen einige Miniaturen und Bühnenpläne nahe, die das obligatorische Requisit des göttlichen Throns in oder vor einer mansion verorten, die mit Türmen versehen sind, welche an ikonographische Darstellungen des himmlischen Je­ rusalems erinnern. Vgl. z. B. für JuBe Besançon, Bibliothèque municipale, Ms. 579, fol. 2v oder 22v. Für den Bühnenort des Himmels in LuWgII (LuA) und LuPs hält Greco-Kaufmann fest: „Die mit zwei polygonalen, in schmale spitze Türme auslaufenden Erkern ausgestattete Schau­ fassade und die ebenfalls sichtbaren weiteren zwei Türme dieses Hauses erinnern zudem stark an Darstellungen der vieltürmigen Gottesburg Jerusalem. [. . . ] Gottvater thronte, umgeben von Engeln, im Zentrum dieses äusserst sinnfällig als ‚himmlisches Jerusalem‘ inszenierten Hofs“ (Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes I, S. 457 f.). Vom himmlischen Paradies wird in vielen religiösen Spielen das irdische Paradies klar unterschieden, welches einen separaten Bühnenort darstellt, an welchem sich in den Antichristspielen Enoch und Elias aufhalten. Dieses ist wieder­ um in der Regel als Garten gestaltet (vgl. z. B. in der oben erwähnten Handschrift JuBes fol. 9r). 83 Vgl. dazu auch Kap. 3, Anm. 176.

5.2 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung

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353

unten-Orientierung folgt: Das himmlische Paradies befindet sich oben, die Hölle unten und dazwischen spannt sich das Feld des moralisch ambivalenten Hand­ lungsspielraums der Menschen auf. Um nur einige Beispiele herauszugreifen: In JuMo lassen verschiedene Regieanweisungen und Figurenreden erkennen, dass die Bühne vier Ebenen aufgewiesen haben muss. Ganz oben befanden sich das Paradies und der thronende Gottvater. Ebenfalls in erhöhter Lage hatten Je­ sus in der Funktion des Richtergottes sowie Maria, die Allegorie der Justitia und die Engel während des Gerichts ihren Platz. Darunter war eine weitere Ebene an­ geordnet, auf der sich das menschliche Handeln ereignete. Zuunterst befand sich die Hölle. Zu Beginn des Weltgerichts sieht eine Regieanweisung vor, dass Chris­ tus und die übrigen genannten Figuren von der höchsten Ebene herabsteigen sol­ len: Hic descendant Christus Virgo Maria et angeli et Justicia . in theatrum quod erit medium inter infimum theatrum et thronum dei patris⁸⁴. Dass es sich nicht um das Bühnenniveau handeln kann, auf dem die Menschen agieren, machen ande­ re Regieanweisungen und Figurenreden deutlich. Auf Folio 56v heißt es etwa: hic ascendant omnes electi ad Christum in aera . Id . est in theatrum medium . maneant in theatro infimo dæmones cum dampnatis . canant angeli ascendentibus electis.⁸⁵ Der Vorgang wiederholt sich auch an anderer Stelle, wenn die Apostel zu Chris­ tus heraufsteigen dürfen.⁸⁶ Damit ist das höchste Niveau jedoch nicht erreicht. Ganz am Ende des Weltgerichts, nachdem die Seligen und Sünder endgültig un­ terteilt wurden und erstere bereits zu Christus heraufgekommen sind, fordert er sie dazu auf, nun mit ihm zum Paradies emporzusteigen (montons lassus en pa­ radis, fol. 62v; „lasst uns dort oben ins Paradies hinaufsteigen“) und eine weitere Regieanweisung hält fest, dass die Auserwählten heraufgehen sollen (Ascendenti­ bus electis, fol. 63r). Erst jetzt treffen sie dort auf Gottvater und treten ins Paradies ein. Daraus ist zu schließen, dass die Bühnenkonstruktion JuMos eine Dreiteilung zwischen Oben, Mitte und Unten aufwies, die im oberen Bereich noch einmal un­ terteilt war. Die Bühne JuRous, die Lazar ausgiebig erläutert und zudem auf der Basis der umfangreichen Regieanweisungen und Figurenreden JuRous visuell rekonstru­ iert hat⁸⁷, verfügte ebenfalls über mehrere Ebenen. Die oberste war dem thronen­ 84 „Hier sollen Christus, die Jungfrau Maria, die Engel und Justitia auf die Bühne herabsteigen, die sich in der Mitte zwischen der unteren Bühne und dem Thron von Gottvater befinden wird.“, fol. 5v. 85 „Hier sollen alle Erwählten zu Christus in die Luft heraufsteigen. Dieser befindet sich in der Mitte des Schauplatzes. Im unteren Teil der Bühne sollen die Teufel mit den Verdammten verhar­ ren. Die Engel sollen singen, während die Erwählten hinaufsteigen.“ 86 Vgl. fol. 16v. 87 Für die unten zitierte Visualisierung des Bühnenplans JuRous vgl. Lazar, Lo Jutgamen Gene­ ral, S. 37.

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den Richtergott und den Engeln vorbehalten, die darunterliegende den Heiligen und Maria sowie einigen allegorischen Figuren. Auf der untersten Ebene befand sich ein leicht erhöhtes Podest und auf der rechten Seite das Paradies mit heraufführenden Stufen; auf der linken die Hölle mit dem puits d’enfer, einem Schacht, in den die Verdammten hinabgestoßen werden konnten. Obwohl Paradies und Hölle sich hier auf der untersten Ebene befanden, signalisieren die Stufen und der Schacht klar erkennbar ihre jeweilige oben- und unten-Orientierung.

Abb. 17: Rekonstruktion des Bühnenaufbaus JuRous nach Lazar, Lo Jutgamen General

Auch in den Aufführungen von LuA (LuWgII) und LuPs stellten Himmel und Hölle, die auf dem Luzerner Weinmarkt jeweils in östlicher und westlicher Ausrichtung angeordnet waren⁸⁸, die dauerhaften Pole des Guten und des Bösen dar. Davon zeugt auch eine Bemerkung Rizios, der im Hinblick auf die Aufführung von LuW­ gII schreibt: Da una banda gli era il Paradiso, et dall’altra l’Inferno con Lucifero et Belzebù, et uno gran numero di diavoli.⁸⁹ Die Situierung der übrigen mansiones 88 Im Bühnenplan des 1549 aufgeführten eschatologischen Spiels ist die Hölle allerdings auf der Südseite des Platzes, im Durchgang des Gesellschaftshauses der Metzger eingezeichnet und weicht damit von der üblichen Situierung ab. Der Bühnenplan LuWgIIs ist ebenso in der Mono­ graphie Greco-Kaufmanns abgedruckt wie zwei Bühnenpläne für den ersten und zweiten Spiel­ tag der Aufführung von LuPs im Jahre 1583 (vgl. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes I, S. 445 und 454 f.). Letztere finden sich darüber hinaus auch in Konigson, L’espace théâtral, S. 120 f. 89 Haas 1953, S. 118. Auf der einen Seite befand sich das Paradies und auf der anderen die Hölle mit Luzifer, Beelzebub und einer großen Zahl von Teufeln.

5.2 Multimodale Verfahren der Stereotypisierung

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orientierte sich an diesen Polen und „erfolgte je nachdem, ob es sich um gottnahe oder heilige Figuren handelte oder um profane und gottferne.“⁹⁰ Der Himmel, in dem Gottvater und die Engel ihren Platz hatten, befand sich sowohl in LuPs als auch in LuWgII auf einem anlässlich der Aufführung errichteten Balkon an der dem Weinmarkt zugewandten Seite des ‚Hauses zur Sonne‘, wie das zentrale Ge­ bäude auf der Ostseite des Platzes genannt wurde. Eine Leiter führte aus der Höhe hinab zur Erde.⁹¹ Die Hölle wurde wiederum als mansion erbaut, deren Eingang ein großes Maul bildete, das „je nach Bedarf hochgezogen werden [konnte], um die von den Teufeln angeschleppten Opfer zu verschlingen.“⁹² Sie war ebenerdig errichtet und somit auf der untersten Ebene, die der Weinmarkt zuließ. Ausgehend von der metaphorischen Verknüpfung des Himmels mit dem Gu­ ten und der Hölle mit dem Bösen, lässt sich die Konzeptualisierung anhand der Orientierungsmetaphern als Das Gute ist oben und Das Böse ist unten beschrei­ ben. Ebenjene führen auch Lakoff und Johnson auf, wobei sie die Aufwärtsori­ entierung des Konzepts des Guten damit erklären, dass positiv konnotierte Zu­ stände wie Zufriedenheit oder Gesundheit metaphorisch oben verortet seien.⁹³ Dass das Gute dieselbe Orientierung erhält, erscheint so als induktive Folgerung. Anhand der Bühnendekoration der religiösen Spiele lässt sich jedoch nachvoll­ ziehen, dass die räumliche Orientierung der moralischen Konzepte in mythisch überformten kosmologischen Vorstellungen des christlichen Mittelalters wurzelt. Diese verbinden basierend auf dem Alten und Neuen Testament sowie antiken Kosmologien den meteorologischen Himmel mit dem mythischen Raum Gottes und den unterirdischen und tiefsten Bereich des Kosmos mit der Hölle im Sin­ ne einer trostlosen, finsteren Totenwelt, dem Ort ewiger Qualen.⁹⁴ Der Antago­ nismus zwischen Himmel und Hölle ist dabei nicht paritätisch, sondern hierar­ chisch gestaltet: Das herrschende Prinzip der himmlischen Gottheit lenkt in letz­

90 Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes I, S. 457. Greco-Kaufmann weist allerdings darauf hin, dass aufgrund der räumlich begrenzten Situation auf dem Weinmarkt das symbolische Prin­ zip der Anordnung bisweilen praktischen Zwängen weichen musste. Dennoch sei das theolo­ gische Konzept deutlich erkennbar, das zu einer Sakralisierung des Weinmarktes geführt habe (ebd.). 91 Vgl. hier S. 457 f. 92 Ebd. 93 Vgl. Lakoff/Johnson, Metaphors, S. 16. 94 Vgl. Auffarth, Christoph u. a.: Himmel. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Hand­ wörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a. Bd. 3. Tübingen 2000, Sp. 1739–1745, insbesondere Sp. 1741 f. und Auffarth, Christoph u. a.: Hölle. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Reli­ gionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Hans D. Betz u. a. Bd. 3. Tübingen 2000, Sp. 1844–1855, insbesondere Sp. 1856–1850.

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ter Instanz auch die Unterwelt. Dieses Verhältnis wurde im Rahmen von seit der Antike verbreiteten Vorstellungen eines Analogieverhältnisses zwischen Makround Mikrokosmos auch auf die Organisation der menschlichen Zivilisation und die Beschaffenheit des Menschen selbst übertragen.⁹⁵ Die Bühnengestaltung der religiösen Spiele beruht klar ersichtlich auf ebenjenem Vorstellungskomplex, der die kosmologische mit der moralischen Dimension zusammenbringt. Auf diese Weise entsteht ein Raum, der moralischen Koordinaten folgt. Konigson, der den espace théâtral des religiösen Schauspiels intensiv untersucht hat, hält treffend fest: Personnages et lieux prennent place sur le vaste échiquier terrestre où les forces du Bien et du Mal se disputent les âmes. Mais les périples des personnages – en dehors même de toute réalisation scénique – illustrent ce mouvement des âmes en route vers la damnation ou le salut. En ce sens les lieux de l’action sont aussi des stations – comparables aux stations du chemin de croix – où se décident les destins individuels.⁹⁶

Die Bühnenorte des himmlischen Paradieses und der Hölle fungieren folglich als bildliche Pole, zwischen denen sich das moralisch ambivalente Handeln der Menschen abspielt. Wie bereits in Kapitel 3.1.2.3 angesprochen, sind Bewegungen im Bühnenraum damit niemals moralisch neutral, sondern stets im moralischen Koordinatensystem der Spiele verortet. Innerhalb dessen befindet sich das Gute nicht deshalb oben, weil andere positiv konnotierte Zustände oder Handlungen eine oben-Ausrichtung besitzen, sondern aufgrund einer komplexen religiösen Vorstellungswelt, die das göttliche Prinzip, von dem alles Gute kommt, dem oben befindlichen Himmel zuspricht. Dasselbe gilt für die unten-Orientierung des Bösen vermittels der Hölle. Auch die in den religiösen Spielen sehr präsente

95 Vgl. Finckh, Ruth: Minor Mundus Homo. Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterli­ chen Literatur, Göttingen 1999 (Palaestra 306). Ruth Finckh zeichnet im ersten Teil ihrer Mono­ graphie die Entwicklung der Vorstellung eines Analogieverhältnisses von Mikro- und Makrokos­ mos von der Antike bis zur Scholastik nach und zeigt in Einzelanalysen bedeutender lateinischer und volkssprachlicher Werke des Mittelalters, wie antikes Gedankengut adaptiert und transfor­ miert wurde. Eine große Bedeutung kam dem Timaios Platons in der lateinischen Übersetzung und Kommentierung Calcidius’ zu, die etwa auf die in den 1240er Jahren entstandene Cosmogra­ phia des Bernardus Silvestris großen Einfluss hatte. Darin heißt es: „In jenem komplexen Aufbau des Weltkörpers erhebt sich der Himmel in größter Höhe. Luft und Erde – die Erde unten, die Luft in der Mitte – liegen darunter. Vom Himmel her regiert und ordnet die Gottheit. Die Mächte, die sich in der Luft oder im Äther aufhalten, führen Befehle aus. Das, was unten auf der Erde ist, wird gelenkt. Nicht anders wurde auch beim Menschen Vorsorge getroffen, daß die Seele im Kopf herr­ sche, daß die in der Brust sitzende Lebenskraft die Befehle ausführe und daß die unteren Teile regiert würden, die um die Lenden und darunter angebracht sind.“ (hier S. 138). 96 Konigson, L’espace théâtral, S. 224.

5.3 Zusammenfassung |

357

rechts-links-Orientierung, welche metaphorisch das Höherstehende rechts posi­ tioniert und das Geringere links, folgt kulturell verankerten Schemata, die ihre Grundlage in biblischen Texten haben.⁹⁷ Obwohl der irdische, zwischen Himmel und Hölle befindliche Raum einen ambivalenten Status besitzt, ist die Welt des religiösen Schauspiels moralisch schwarz-weiß. Menschen können auf ihrem Lebensweg die Richtung des Gu­ ten oder des Bösen einschlagen. Sie können Umwege gehen, wie dies die Figur der Maria Magdalena exemplarisch vorführt, doch nehmen die Spiele stets eine endgültige Zuordnung vor, die keine moralischen Graubereiche zulässt. Die hier verwendete Weg-Metapher ist zur Beschreibung der zeichenhaften Vermittlung des stereotypen Weltbilds der Spiele auch in ihrer buchstäblichen Bedeutung geeignet, denn tatsächlich geben die Wege, die die Figuren im Bühnenraum zu­ rücklegen, stets Auskunft über ihren moralischen Status. In besonders plakativer Weise kommt dies im Weltgericht zum Ausdruck, wenn die Guten ins Paradies heraufsteigen und die Bösen in die Hölle hinabgeworfen werden. Die mansiones von Himmel und Hölle dienen den religiösen Spielen folglich als visuelle Anker­ punkte, um dem Publikum den moralischen Status weiterer Bühnenorte, Figuren und Handlungen anschaulich zu vermitteln. In Verbindung mit sprachlichen und lautlich-musikalischen Zeichen partizipiert die bildliche Raumgestaltung an der Konstruktion eines stereotypen Weltbilds, das auf dem Dualismus zwischen Gut und Böse aufbaut, dem die Gruppen der Christen und der Nichtchristen korre­ spondieren. Durch den Einsatz multimodaler Verfahren verknüpfen die Spiele die zwei nicht notwendig miteinander verbundenen Kategorien von Christlich­ keit und Gutheit, sodass das eine ohne das andere nicht mehr vorstellbar ist. Das Publikum wird so auf ein Gemeinschaftsideal eingeschworen, das über seine Christlichkeit definiert ist und alles Unchristliche ausgrenzt.

5.3 Zusammenfassung Die religiösen Spiele zeichnen sich durch plakative Formen des Zeichengebrauchs aus, die ihrem Publikum eine eindeutige, leicht verständliche Orientierung bie­ ten, indem sie die Komplexität der Welt auf ein überschaubares Maß reduzieren. Sie reproduzieren und kreieren Stereotype, die die Zuschauenden mental und emotional ansprechen und positive oder negative Bewertungen im Hinblick auf das Dargebotene suggerieren. Die Nutzung stereotyper Formen im religiösen Schauspiel wurde deshalb als evaluative und emotive Persuasionsstrategie ana­

97 Vgl. u. a. Mt 25,33, Mt 22,44, Gen 48,13.

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lysiert. Der Fokus lag darauf, wie die Spiele einerseits sprachlich und andererseits durch multimodale Zeichenverwendungen vereinfachende Dualismen etablieren und damit verbunden Inklusions- und Exklusionsprozesse in Gang setzen. Die Analyse sprachlicher Verfahren der Stereotypisierung nahm den Einsatz kleiner sprachlicher Einheiten in den Blick, die soziale Kategorisierungen hervor­ bringen und konsolidieren. Pronomina werden in den religiösen Spielen einge­ setzt, um eine das Publikum umfassende christliche in-group zu etablieren und zu konsolidieren, der eine feindliche out-group von Nichtchristen entgegensteht. In den Prologen lässt sich ein Gebrauch von Pronomina nachweisen, der die darge­ botene heilsgeschichtliche Handlung in einen direkten Bezug zu allen Anwesen­ den als Teil der übergreifenden christlichen Gemeinschaft bringt. Zu Beginn der Spiele wird so die Wir-Perspektive als eine christliche festgelegt und Darstellende wie Zuschauende zu einer positiv konnotierten Gruppe erklärt. Auch Fahnenwör­ ter wie ‚unser Herr‘ bzw. Nostre Seigneur, die als Periphrasen für Jesus Christus die Wir-Kategorisierung verfestigen, haben einen inkludierenden Effekt. Zugleich können Pronomina, die auf der Gegenseite eine Wir-Perspektive hervorrufen, zur Demarkation der out-group genutzt werden. In Verbindung mit dem stereotypen Substantiv ‚Juden‘ vermittelt das Pronomen ‚wir‘, wenn jüdische Figuren es ge­ brauchen, dem Publikum auf der rekonstruierten Bedeutungsebene die Vorstel­ lung einer homogenen Gruppe, die mit stereotypen Merkmalen angereichert ist und in einem scharfen Kontrast zur christlichen in-group steht. Generalisierende sprachliche Verfahren befördern nicht nur die Wir-Perspek­ tive, sondern sind zudem auch an der Konstruktion von Fremd-Kategorien betei­ ligt. Einerseits erfolgt dies über stereotype Substantive bzw. Nominalphrasen in Verbindung mit dem bestimmten Artikel, dem Personalpronomen ‚ihr‘ oder Anre­ deformen. Diese werden häufig um negative Adjektive ergänzt. In den Passions­ spielen nimmt der stereotype Ausdruck ‚die Juden‘ bzw. ‚ihr Juden‘ eine zentrale Stellung ein; am häufigsten werden die Adjektive ‚falsch‘ und ‚böse‘ attribuiert. Die eschatologischen Spiele heben die dem Stoff eingeschriebene Opposition von ‚den Guten‘ und ‚den Bösen‘ sprachlich durch stark schematisierte, formelhafte Bezeichnungen hervor und legen den dramatis personae stereotype Phrasen in den Mund, die in der großen Mehrheit der deutsch- und französischsprachigen Spiele zu finden sind. Dazu zählen die Selbstverfluchungen der Sünder und die auf Mt 25,40.45 basierende Gegenüberstellung von gutem und schlechtem Han­ deln. Eine auffällige Verwendung von Demonstrativpronomina weist GrPs auf. Dort dienen sie als Distanzmarker, die auf subtile Weise in- und out-groups konstruie­ ren. Nichtchristliche Figuren referieren regelmäßig auf Christus anhand der No­ minalphrase ce Jhesus, in der sich eine distanzierte Haltung und eine negative Bewertung ausdrücken. Folgerichtig ist der Gebrauch der Phrase aus dem Mun­

5.3 Zusammenfassung | 359

de christlicher dramatis personae nicht nachzuweisen. Sie verwenden wiederum häufig die Formulierung ces juifs, welche ebenfalls eine abgrenzende Funktion erfüllt. Neben sprachlichen Zeichen sind auch die übrigen Modalitäten des religiö­ sen Schauspiels entscheidend an der Konstruktion stereotyper Kategorien betei­ ligt. Geräusche, Musik und bildliche Zeichen wie Kostüme, Requisiten und die Bühnendekoration weisen über sich hinaus auf abstrakte moralische Systeme. Ih­ re gute Einprägsamkeit und ihr erhöhtes emotionales Wirkungspotential machen sie zu geeigneten Mitteln persuasiver Strategien. Die symbolischen oder allegori­ schen Bedeutungen einzelner Erscheinungen wurden mithilfe der Analyse kon­ zeptueller Metaphern in ihrem Systembezug beschrieben. Bildliche und lautlich-musikalische Zeichen verleihen den abstrakten Prinzi­ pien von Gut und Böse eine sinnlich wahrnehmbare Konkretion und veranschau­ lichen so ein stereotypes Weltbild, das auf dem Dualismus zwischen Gut und Böse gründet. Die Spiele vermitteln auf diese Weise dem Publikum besonders eingän­ gig und leicht verständlich, welche Figuren und Handlungen gut und ‚zu lieben‘, und welche böse und ‚zu hassen‘ sind. Zwei korrelierende Metaphernsysteme stel­ len einen Bezug zwischen dem Moralischen und dem Ästhetischen her. Im Sinne der adaequatio-Vorstellung etablieren sie ein metaphorisch vermitteltes Analo­ gieverhältnis zwischen dem Guten und dem Schönen einerseits sowie dem Bösen und dem Hässlichen andererseits, welches die abstrakten Kategorien für das Pu­ blikum erfahrbar macht. Den Metaphernsystemen lassen sich konzeptuelle Meta­ phern zuordnen, die stets in einem dualistischen Verhältnis zueinander stehen. Ein solches Paar konzeptueller Metaphern, das sich primär auf lautlich-musika­ lische Zeichen bezieht, wurde sprachlich als Das Gute ist Musik vs. Das Böse ist Lärm beschrieben. Harmonische und disharmonische Klänge evozieren hier die Prinzipien des Guten, das mit dem Göttlichen verknüpft ist, bzw. des Bösen, wel­ ches die Teufel verkörpern. Die lautlich-musikalische Darstellung von Gut und Bö­ se im religiösen Schauspiel folgt etablierten liturgischen Traditionen, innerhalb derer der Engelsgesang als lautliche Entsprechung des Numinosen gilt, die mit bestimmten Gesängen und Instrumenten verbunden ist, wohingegen gerade die Unfähigkeit zum musikalischen Ausdruck das Böse charakterisiert. Musik und Lärm können so als Schlaglaute dienen, die den moralischen Status von Figu­ ren oder Handlungen anzeigen. Engelsgesang ist als Hochwertlaut zu qualifizie­ ren, der Lärm der Teufel als Unwertlaut. In vielen Szenen werden diese in direkte Opposition zueinander gestellt. Darüber hinaus können sie in der Übertragung auf andere Figuren oder Figurengruppen als Fahnen- oder Stigmalaute fungie­ ren, mithilfe derer die Betreffenden dem positiv konnotierten Pol des Christlichen und somit Guten oder dem negativ konnotierten Pol des Nichtchristlichen und somit Bösen zugeordnet werden. Diese Form der Steuerung spricht das Publikum

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auf unterschwellige und affektive Weise an und vermittelt so wirkungsvoll und zugleich subtil moralische Wertungen. Lautlich-musikalische Zeichen verbinden sich im religiösen Schauspiel stets mit bildlichen Zeichen. Auch wenn ihre Wirkungsweise zunächst isoliert beschrie­ ben wurde, ist für die Aufführungssituation immer ein Zusammenspiel beider Mo­ dalitäten anzunehmen. Dies äußert sich auch darin, dass die Analyse der lautlichmusikalisch vermittelten konzeptuellen Metaphern nicht ohne die Erwähnung von Engeln und Teufeln auskam. Jene personifizieren das Gute und das Böse und transferieren folglich wie Geräusche und Musik den abstrakten Dualismus in den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren. Die analoge Formulierung der konzeptuel­ len Metaphern lautet Das Gute sind Engel vs. Das Böse sind Teufel. Musizierende Engel und lärmende Teufel sind zugleich Hochwert- bzw. Unwertlaut und -bild. Die physische Präsenz von Engeln und Teufeln wird darüber hinaus in den Spie­ len als Fahnen- bzw. Stigmabilder genutzt, um andere dramatis personae auf rein visuellem Wege als gut oder böse zu markieren. Die Spiele drücken das Wirken des Bösen in der Welt auch mithilfe von visuellen Hybridisierungen aus. Teufel neh­ men menschliche Gestalt an, um auf der Erde ihre Opfer zu verderben. Für das Publikum bleiben sie jedoch häufig durch teuflische Attribute wie Hörner oder Klauen erkennbar und die temporäre inadaequatio, die die Teufel in einer schö­ nen menschlichen Gestalt darstellen, wird spätestens bei ihrer Rückverwandlung in ihre teuflische Form disambiguiert. Das wahre Gesicht des Bösen bleibt somit für die Zuschauerinnen und Zuschauer erkennbar hässlich, was sich etwa auch im Erscheinungsbild ‚guter‘ und ‚böser‘ Seelen äußert. In den religiösen Spielen sind nicht nur Klänge und Figuren Teil der antago­ nistischen Metaphernsysteme, sondern das dualistische Weltbild, das sie vermit­ teln, ist auch in der Bühnendekoration präsent. Der Himmel bzw. das himmlische Paradies und die Hölle sind konstante Elemente des Bühnenraums, die das Gute und das Böse visuell konzeptualisieren und die übrigen Orte, Figuren und Hand­ lungen moralisch ausrichten. Himmel und Hölle besitzen dabei eine feste räum­ liche Situierung: Stets befindet sich der Himmel oben und die Hölle unten. Zwi­ schen ihnen spannt sich der ambivalente Raum menschlichen Handelns auf. Die Kategorien von Gut und Böse erhalten damit eine räumliche Orientierung. Mit La­ koff und Johnson wurde die Kopplung räumlicher Ausrichtungen mit abstrakten Konzepten als Orientierungsmetapher analysiert. Ausgehend von der metaphori­ schen Verknüpfung des Himmels mit dem Guten und der Hölle mit dem Bösen, wurden die metaphorischen Orientierungen als Das Gute ist oben und Das Böse ist unten beschrieben. Lakoff und Johnson betonen die Verwurzelung solcher Ori­ entierungsmetaphern in physischen Gegebenheiten, doch zeigt die Analyse der religiösen Spiele, dass sie hier primär auf mythisch überformten kosmologischen Vorstellungen des christlichen Mittelalters aufbauen. Dies ließe sich auch für wei­

5.3 Zusammenfassung | 361

tere räumliche Ausrichtungen zeigen, wie etwa die rechts-links-Symbolik in den Spielen. Mithilfe der visuellen Anker Himmel und Hölle konzeptualisiert das re­ ligiöse Schauspiel die Welt als moralisch schwarz-weiß. Die handelnden Figuren bewegen sich niemals in einem moralisch neutralen Raum, sondern sind stets auf dem Weg zum Guten oder Bösen. Das Weltgericht und die Scheidung der Seligen und der Verdammten unterbindet ein Verharren in moralischen Grauzonen. In Verbindung mit den übrigen Zeichenmodalitäten trägt die Gestaltung des Büh­ nenraums im religiösen Schauspiel dazu bei, die Kategorien von Christlichkeit und Gutheit miteinander zu verknüpfen und das Publikum auf eine Gemeinschaft festzulegen, die über ihre Christlichkeit definiert ist.

6 Rück- und Ausblick Die hier vorgelegte semiotische Untersuchung religiöser Spiele verfolgte ein dop­ peltes Ziel. Ihr methodisches Anliegen bestand ausgehend von einem Mangel komparatistischer Studien zum Schauspiel darin, ein geeignetes analytisches Instrumentarium zu identifizieren und zu adaptieren, das eine vergleichende Perspektive ermöglicht. Der methodische Zugriff ist von der inhaltlichen Zielset­ zung nicht zu trennen, die er überhaupt erst ermöglicht. Nur durch die Loslösung von Fragen nach textgenetischen Zusammenhängen geraten die persuasiven Strategien des vormodernen Massenmediums Schauspiel in den Blick. Obwohl das methodische und das inhaltliche Erkenntnisinteresse notwendig miteinander verbunden sind, lassen sich auf beiden Ebenen spezifische Ergebnisse festhalten. Aus diesem Grund werden sie in diesem Rück- und Ausblick gesondert behandelt. Die semiotische Analyse der religiösen Spiele machte eine eingehende Be­ schäftigung mit ihren Zeichenformen notwendig. In diesem Zusammenhang wur­ de schnell deutlich, dass in der Theaterwissenschaft eine intensive Auseinan­ dersetzung mit Semiotik und Kommunikationsbedingungen theatraler Formen stattgefunden hat. Bedingt durch die traditionelle Trennung von Literatur- und Theaterwissenschaft sowie Mediävistik und moderner Literaturwissenschaft¹, wurden die Ergebnisse jedoch in der Forschung zum Schauspiel kaum rezipiert. So konnten wichtige konzeptuelle Überlegungen zum Verhältnis von Text und Aufführung und zum wissenschaftlichen Zugriff auf verschiedene Zeichenmo­ dalitäten nicht genutzt werden. Es erscheint aber sinnvoll, jene Ansätze auch in der mediävistischen Forschung zu diskutieren, um einerseits den eigenen Ge­ genstand im Hinblick auf seine Theatralität besser verstehen und terminologisch präzise beschreiben zu können. Andererseits ist auch von Bedeutung, Allgemein­ heit beanspruchende Konzepte, die aus einer modernen Perspektive entwickelt wurden, aus mediävistischer Sicht kritisch zu prüfen. Nicht zuletzt würde dies den bisher nur in Ansätzen vorhandenen Dialog zwischen ‚vormoderner‘ und ‚moderner‘ Theaterforschung (wieder)beleben. Indem die vorliegende Arbeit Er­ gebnisse aus theatersemiotischen Studien aufgreift und kritisch auf das religiöse Schauspiel anwendet, versucht sie, einen solchen Weg zu gehen. Ein zentrales Anliegen der Untersuchung war es, die Spiele als Theater ernst zu nehmen. Aus diesem Grund erschien eine ‚klassische‘ literarische Dramen­ analyse, die sich auf sprachliche Zeichen konzentriert, methodisch ungeeignet. Die semiotische Mehrdimensionalität, welche für das Theater gattungsspezifisch

1 Auch die Theaterwissenschaft ist stark auf die Zeit seit dem neunzehnten Jahrhundert ausge­ richtet. https://doi.org/10.1515/9783110740486-006

6 Rück- und Ausblick | 363

ist, wurde mithilfe des Multimodalitäts-Begriffs terminologisch gefasst. Auf der Basis des genannten Konzepts erfolgte eine intensive Beschäftigung mit dem Ausdruckspotential (modal affordance) unterschiedlicher Zeichenmodalitäten, die im Theater zum Einsatz kommen. Die Untersuchung der einzelnen Modalitä­ ten ermöglichte es, den ‚theatralen Code‘ zu präzisieren und so eine Grundlage für die spezifischen Analysemethoden zu schaffen. Es zeigte sich, dass insbeson­ dere der methodische Zugriff auf punktuelle Formen von Bedeutungskonstitution auch über sprachliche Zeichen hinaus sehr gut zur Untersuchung bildlicher und lautlicher Modalitäten geeignet ist (Schlagbild, -geste und -laut). Auf der abstrak­ teren Ebene flächiger Formen von Bedeutungskonstitution ließen sich ebenfalls multimodale Artefakte im Rahmen übergreifender Konzepte beschreiben. Ins­ besondere bei der Formulierung konzeptueller Metaphern, die nicht sprachlich kommuniziert werden, traten während der Arbeit jedoch auch Schwierigkeiten auf. Um ihre Wirkungsweise zu erläutern, war es erforderlich, sie in Formulie­ rungen wie Das Gute sind Engel vs. Das Böse sind Teufel sprachlich zu fixieren. Solche Formulierungen weisen notwendig eine gewisse Beliebigkeit auf und sind im vorliegenden Fall auch etwas sperrig. Dies hängt damit zusammen, dass ei­ ner nicht-sprachlichen Form eine solche gegeben werden muss. Da die Sprache das hauptsächliche Kommunikationsinstrument der Geisteswissenschaft ist und bleibt, kann diese Problematik kaum umgangen werden. Insgesamt erlaubte der methodische Zugriff auf das Spektrum punktueller bis flächiger Formen von Bedeutungskonstitution ein induktives Vorgehen, das Ein­ zelphänomene in ihrer persuasiven Wirksamkeit beschreibt und auf abstrakterer Ebene systematisch mit kommunikativen Strategien in Verbindung bringt. Durch die Berücksichtigung verschiedener Zeichenmodalitäten konnte zwar die histo­ rische Aufführungsdimension nicht oder nur in Einzelfällen annäherungsweise rekonstruiert werden. Doch es ließen sich durchaus Rückschlüsse auf Wirkungs­ weisen ziehen, die im Zeichengebrauch der Spiele angelegt sind und die Ebene der ‚imaginierten Aufführung‘ konstituieren. Der hier verwendete methodische An­ satz ist auch für die Untersuchung weiterer Kommunikationsmedien des Spätmit­ telalters und der Frühen Neuzeit geeignet. Deren symbolischer Ausdrucksreich­ tum, gerade auch in außersprachlichen Formen, zum Beispiel kodierten Gesten, wurde häufig unterstrichen.² Nicht zuletzt ist der Ansatz im Hinblick auf weite­ re komparatistische Studien vielversprechend, die Schauspiele in anderen euro­

2 Für eine erste Orientierung vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven. In: Zeitschrift für historische Forschung 31/4 (2004), S. 489–527, die wichtige Positionen im großen Forschungsfeld der sym­ bolischen Kommunikation versammelt.

364 | 6 Rück- und Ausblick

päischen Sprachräumen in den Blick nehmen. Die vergleichende Forschung auf diesem Gebiet neu zu beleben, ist das besondere Anliegen dieser Arbeit. Auf inhaltlicher Ebene lässt sich zunächst festhalten, dass die komparatis­ tische Analyse den Blick für allgemeinere Tendenzen der theatralen Kommuni­ kation in Mitteleuropa öffnet. Rückblickend sind wiederkehrende Muster eben­ so erkennbar wie individuelle Unterschiede. Dies gilt in synchroner wie diachro­ ner Perspektive. Persuasionsstrategien, die im einen oder anderen Sprachraum überwiegen oder exklusiv Verwendung finden, konnten nicht festgestellt werden. Pauschalisierende Aussagen über spezifische Wirkungsmechanismen ‚des deut­ schen‘ oder ‚des französischen Schauspiels‘ erscheinen vor diesem Hintergrund verfehlt. Eine Persuasionsstrategie, die sich als spielübergreifend präsent erwiesen hat, stellt die Nutzung des Bedrohungs-Topos dar. Deutsch- wie französischspra­ chige Spiele verleihen dem dargestellten religiösen Stoff eine besondere Brisanz, indem sie ihn als Bedrohungsszenario inszenieren. Die zentrale Stellung des beschriebenen Topos, der sich in der Untersuchung als ein grundlegendes Ar­ gumentationsmuster herausgestellt hat, kann mit mentalitätsgeschichtlichen Studien in Verbindung gebracht werden. Jean Delumeau hat in seiner Mono­ graphie zur Angst im Abendland (La peur en Occident) die Gesellschaften im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit als zutiefst angstgeleitet be­ schrieben, was auch Konigson unter Verweis auf französische Spielnachrichten unterstreicht.³ Laut Delumeau, der zwischen peur (Angst) und angoisse (Beklem­ mung) unterscheidet, ist letztere ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit, das der Transformation in konkrete Ängste bedarf, um bewältigt werden zu können.⁴ Die untersuchten religiösen Spiele nehmen eine solche Transformation vor, indem sie die Heilsgeschichte als Szenario der Bedrohung durch das Kollektiv der Ju­ den bzw. Protestanten interpretieren. Die Nutzung der stereotypisierten Juden als Sündenböcke⁵ ist, anders als in der Forschung bisher beschrieben, omnipräsent. Seitdem Pflaum in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch über das Donaueschinger Passionsspiel schrieb, dass es „und alle übrigen deutschen Passionsspiele, weit stärker als die französischen, den Hass gegen die Juden zu schüren bemüht sind“,⁶ wurden judenfeindliche Tendenzen des französischspra­ chigen Schauspiels kaum untersucht. Auch die Vorstellung, Judenfeindlichkeit

3 Vgl. Delumeau, Jean : La Peur en Occident (XIV.–XVIII. siècles). Une Cité assiégée, Paris 1978 und Konigson, L’espace théâtral, S. 66 ff. 4 Vgl. Delumeau, La Peur, S. 16 f. 5 Zur Sündenbock-Theorie vgl. Girard, René : La violence et le sacré. Paris 1972 und Girard, René : Le bouc émissaire. Paris 1982. 6 Pflaum, Der allegorische Streit, S. 308.

6 Rück- und Ausblick | 365

sei vor allem ein Phänomen der späten deutschen Spiele, hält sich beharrlich. Die Topos-Analyse zeigt dagegen, dass die Spiele raum- und zeitübergreifend die Juden als Gegner der Christen stilisieren, ja dass gerade die frühen französischen Passionsspiele hier auf struktureller Ebene besonders weit gehen. Dort, wo sich Unterschiede abzeichnen, lassen diese sich nicht pauschal erklären. Eine weitere Erkenntnis, die sich aus der Topos-Analyse ableiten lässt, ist, dass die theatral erzeugten Bedrohungsszenarien nicht notwendig einer Veran­ kerung in der Realität bedurften, um im Schauspiel eingesetzt zu werden. Viele der Spiele, die sich durch judenfeindliche Element auszeichnen, entstanden an Orten, die keine jüdischen Gemeinden besaßen. Dies gilt auch für die Lokalitäten, an denen nachweislich Aufführungen stattfanden. Es lässt sich keine Korrelation zwischen der realen Präsenz von jüdischen Minderheiten und dem Auftreten jüdi­ scher Figuren in den Spielen feststellen. Dies spricht umso mehr dafür, dass ‚die Juden‘ als stereotype Gruppe bewusst im Rahmen persuasiver Strategien einge­ setzt wurden. Gerade ein unsichtbarer Feind kann zum angsteinflößenden Mons­ trum stilisiert werden, ohne dass das erzeugte Bild sich an anders gearteten Rea­ litäten stößt. Delumeau beschreibt die diffuse angoisse als den problematischen Zustand, der weniger erträglich ist als konkrete Angst. Dazu passt auch Gilbert Dahans Feststellung, dass in Frankreich „l’antijudaïsme atteindra le paroxysme de sa violence au moment où l’on ne saura plus en France ce qu’est un juif“⁷. An europäischen Reaktionen auf die große Emigrationswelle aus arabischen Staaten seit dem Jahr 2015 lässt sich ablesen, dass das Thema nicht an Aktualität verloren hat. Mit Blick auf die diachrone Entwicklung des religiösen Schauspiels ist zu fra­ gen, ob und inwieweit sich Signale eines Epochenumbruchs in ihm niederschla­ gen. Unterscheiden sich die Spiele des sechzehnten Jahrhunderts grundlegend von denen des vierzehnten? Grosso modo ist dies mit ‚nein‘ zu beantworten. Die Analysen ergeben, dass die Spiele durchgängig anhand der gleichen Topoi struk­ turiert sind und dieselben Stereotype reproduzieren. Die Entstehungs- und Aufführungsbedingungen der Spiele zeigen, dass Tradition eine wichtige Rolle spiel­ te. Der Austausch von Spieltexten auf lokaler wie regionaler Ebene und die Praxis, auf der Basis vorhandener Texte neue Spiele zu fertigen und zur Aufführung zu bringen, erklärt die beachtlichen Kontinuitäten. Es ist auch anzunehmen, dass man bei dem blieb, was vom Publikum goutiert wurde bzw. Änderungen wieder verwarf, wenn diese keinen Anklang fanden. Vor dem Hintergrund großer Kontinuitäten fallen Details ins Auge, die auf sich ändernde Bedingungen hinweisen, mit denen der Spielbetrieb konfrontiert

7 Dahan, Les juifs en France médiévale, S. 173.

366 | 6 Rück- und Ausblick

war. So zeigte die Analyse des Autoritäts-Topos, dass dieser zwar durchgängig Verwendung findet, die Spiele des späten fünfzehnten und sechzehnten Jahrhun­ derts jedoch verstärkt direkte Bibelzitate gebrauchen, die sie in lateinischer Form mit einer volkssprachlichen Paraphrase vortragen oder nur volkssprachlich. Per­ sonale Referenzen werden seltener und vermehrt metonymisch (Erzeuger für Er­ zeugnis) verwendet. Zudem nimmt auch die Quantität der Zitationen zu. Dies lässt sich als eine Reaktion auf die bessere Zugänglichkeit der biblischen Texte und das zunehmende Bestreben der laikalen Bevölkerung, sich selbst mit dem Wort Got­ tes zu beschäftigen, verstehen. Es deutet sich darin auch eine Priorisierung der Schriftautorität gegenüber Autorität durch Tradition an, die im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Renaissance-Humanismus und der Reformation steht. Ebenfalls in Relation zur Epochenschwelle zwischen dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert können inhaltliche Verschiebungen innerhalb etablier­ ter persuasiver Verfahren betrachtet werden. JuMo nutzt gängige Topoi, die tra­ ditionell zur Stereotypisierung der Juden gebraucht wurden, um den konfes­ sionellen Gegner zu diskreditieren. Die sich stark verändernden zeitpolitischen Ereignisse sprengten die Kommunikationsform des religiösen Schauspiels nicht. Vielmehr zeigt das Beispiel JuMos, dass man von katholischer Seite ein etabliertes Medium nutzte, um die aktuellen Ereignisse heilsgeschichtlich – zu Ungunsten der Reformatoren – zu deuten. Die Anbindung an bekannte argumentative Mus­ ter und Stereotype diente dazu, die Glaubwürdigkeit der eigenen Position zu erhöhen. Dass die Initiatoren JuMos in den Jahren 1580 und 1606, zu deren Zeit Druckerzeugnisse einen steigenden Absatz fanden, das Medium des religiösen Schauspiels wählten, um zur Besinnung auf die Werte einer christlich-katholi­ schen Gemeinschaft aufzurufen, zeigt, dass traditionelle und neue Medien der Massenkommunikation koexistierten. Die Entscheidung, ein Spiel aufzuführen, verdeutlicht darüber hinaus, dass der theatralen, an Anwesenheit gebundenen Form offensichtlich eine große Wirkungskraft zugesprochen wurde. Das religiöse Schauspiel ist somit auch ein Beispiel für die Bedeutung, die okkasionelle und lokal begrenzte Formen städtischer Öffentlichkeit zu Beginn der Frühen Neuzeit weiterhin einnahmen. Die Analysen mussten sich notwendig auf Ausschnitte persuasiven Zeichen­ gebrauchs fokussieren. Es eröffnet sich hier ein weites Feld möglicher Unter­ suchungen sowohl innerhalb der Gattung des Schauspiels als auch für andere Bereiche massenmedialer Kommunikation, etwa die Predigt. Vielversprechend erscheint zum Beispiel die vertiefende Beschäftigung mit sprachlichen Verfah­ ren der Stereotypisierung unter Berücksichtigung zusätzlicher morphologischer Elemente oder syntaktischer Strukturen. Nicht zuletzt können weitere Persua­ sionsstrategien in den Blick genommen werden. Die von Knape als ‚volunta­

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tiv‘ bezeichneten Formen der Adressateneinbindung⁸ sind insbesondere für das religiöse Schauspiel interessant, da dieses ein besonders ausgeprägtes vermit­ telndes Kommunikationsniveau (N2) besitzt und das Publikum regelmäßig über ritualisierte Gebete und Gesänge einbezieht. Mithilfe eines semiotischen Analy­ seinstrumentariums können kommunikative Mechanismen der Vergangenheit in den Blick rücken, die dazu beitragen, auch die Kommunikation in der heutigen Medienlandschaft kritisch zu perspektivieren.

8 Vgl. Knape, Rhetorik der Künste, S. 924 (Kap. 1, Anm. 121).

7 Verzeichnisse 7.1 Bildnachweise Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12:

Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17:

Zitiert nach Pfister, Das Drama, S. 20. Zitiert nach Pfister, Das Drama, S. 21. Zitiert nach Nünning/Sommer, Drama und Narratologie, S. 110. Angelehnt an Klug, Das konfessionelle Flugblatt, S. 368. Auszug aus Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Ms. germ. fol. 722, f. 3v, http://resolver. staatsbibliothek-berlin.de/SBB00005B2700000000 (13. Juni 2019). Auszug aus Kopenhagen, Königliche Bibliothek, Cod. Thott. 112,4°, fol. 2r. Auszug aus Besançon, Bibliothèque municipale, Ms. 579, fol. 3r, http://memoirevive. besancon.fr/ark:/48565/a0113231849621dc9q6 (7. September 2019). Auszug aus Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 6431, fol. 66v, Source gallica.bnf.fr/ Bibliothèque nationale de France, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b55008566h (7. September 2019). Auszug aus Arras, Bibliothèque municipale, Ms. 625 (697), fol. 167r und 233r, https: //bvmm.irht.cnrs.fr/consult/consult.php?reproductionId=19145 (13. Juni 2019). Auszug aus Arras, Bibliothèque municipale, Ms. 625 (697), fol. 86r, https://bvmm. irht.cnrs.fr/consult/consult.php?reproductionId=19145 (9. September 2019). Auszug aus Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 6431, fol. 70r, https://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/btv1b55008566h (9. September 2019). Auszug aus Arras, Bibliothèque municipale, Ms. 625 (697), fol. 88v, https://bvmm. irht.cnrs.fr/consult/consult.php?reproductionId=19145 (9. September 2019). Zitiert nach Lazar, Lo Jutgamen General, S. 37.

7.2 Abgekürzt zitierte Literatur Ch DMF EvWy I

EvWy II

EvWy III

Le théâtre religieux en Savoie au XVIe siècle. Avec des fragments inédits. Hrsg. von Jacques Chocheyras, Genève 1971 (Publications romanes et françaises 115). Dictionnaire du Moyen Français (1330–1500). Version 2012. ATILF CNRS – Université de Lorraine. Permalink: http://www.atilf.fr/dmf (3. September 2019). Das Luzerner Osterspiel. Gestützt auf die Textabschrift von M. Blakemore Evans und unter Verwendung seiner Vorarbeiten zu einer kritischen Edition im Auftrag der schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur nach den Handschriften. Bd. I: Text des ersten Tages. Hrsg. von Heinz Wyss, Bern 1967 (Schriften 7). Das Luzerner Osterspiel. Gestützt auf die Textabschrift von M. Blakemore Evans und unter Verwendung seiner Vorarbeiten zu einer kritischen Edition im Auftrag der schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur nach den Handschriften. Bd. II: Text des zweiten Tages. Hrsg. von Heinz Wyss, Bern 1967 (Schriften 7). Das Luzerner Osterspiel. Gestützt auf die Textabschrift von M. Blakemore Evans und unter Verwendung seiner Vorarbeiten zu einer kritischen Edition im Auftrag der schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur nach den Handschriften. Bd. III: Text­

https://doi.org/10.1515/9783110740486-007

7.3 Quellen |

FnhdWb

GF GFC

Gr

JoII

LPR

LiII1 LiII2 MLS SI

TL

369

teile 1597–1616, Anmerkungen, Quellen, Glossar. Hrsg. von Heinz Wyss, Bern 1967 (Schriften 7). Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. von Ulrich Goebel, Anja LobensteinReichmann und Oskar Reichmann. Begr. von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann, 12 Bde., Berlin, New York 2003, 2005, 2007, 2009 und 2010. Dictionnaire de l’ancienne langue française et de tous ses dialectes du IXe au XVe siècle. Bd. 1–8. Hrsg. von Frédéric Godefroy. Vaduz (1895–1902) 1965. Dictionnaire de l’ancienne langue française et de tous ses dialectes du IXe au XVe siècle. Complément. Bd. 8–10. Hrsg. von Frédéric Godefroy, Vaduz (1895–1902) 1965. Étude sur le Mystère de l’Antéchrist et du Jugement de Dieu. Joué à Modane en 1580 et en 1606. Et fragment de la première journée. Hrsg. von Chanoine Louis Gros. Cham­ béry 1962. Le Mystère de la Passion d’Arnoul Gréban. Édition critique. Tome II. Observations, variantes, index et glossaire. Hrsg. von Omer Jodogne, Bruxelles 1983 (Académie royale de Belgique. Mémoires de la classe des lettres. Col. In-4°. Sér. 2. T. XIII). Le petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. Nou­ velle édition du Petit Robert de Paul Robert. Hrsg. von Josette Rey-Debove und Alain Rey, Paris 2017. Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtaus­ gabe. Hrsg. von Hansjürgen Linke. II. Texte. Erster Halbband, Tübingen, Basel 2002. Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtaus­ gabe. Hrsg. von Hansjürgen Linke. II. Texte. Zweiter Halbband, Tübingen, Basel 2002. Metzler Lexikon Sprache. Hrsg. von Helmut Glück und Michael Rödel, 5., akt. und überarb. Aufl., Stuttgart 2016. Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Gesam­ melt auf Veranstaltung der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich unter Beihülfe aus allen Kreisen des Schweizervolkes. Hrsg. von Friedrich Staub und Albert Bachmann, 18 Bde., Frauenfeld 1885. Altfranzösisches Wörterbuch. Adolf Toblers nachgelassene Materialien. Bearb. und hrsg. von Erhard Lommatzsch, weitergeführt von Hans H. Christmann, 12 Bde., Stuttgart 1925–1995.

7.3 Quellen Da Überlieferung und Editionen der Spiele des Korpus im Anhang aufgeführt sind, werden sie an dieser Stelle nur wiedergegeben, wenn aus den Begleittexten der Herausgeberinnen und Herausgeber (Einleitung etc.) zitiert wurde.

7.3.1 Handschriften Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1107, 514ra–523rb.

370 | 7 Verzeichnisse

7.3.2 Drucke Desiré, Artus : Passevent parisien respondant à Pasquin romain. De la vie de ceux qui sont al­ lez demourer à Genève, et se disent vivre selon la réformation de l’Évangile : faict en forme de Dialogue, 3. Aufl., Paris (1556) 1875.

7.3.3 Textausgaben und Editionen Andernacht, Dietrich: Regesten zur Geschichte der Juden in der Reichsstadt Frankfurt am Main von 1401–1519. Teil 1. Die Regesten der Jahre 1401–1455 (Nummern 1–1455), Hannover 1996 (Forschungen zur Geschichte der Juden 1/1). Aristoteles: Poetik. Übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Vollständige Ausgabe in einem Band. Buch 1 bis 10. Buch 11 bis 22. Aus dem Lateinischen übertr. V. Wilhelm Thimme. Eingel. u. komm. V. Carl Andresen, München 1995. Aurelius Augustinus: Contra Academicos. Hrsg. von Therese Fuhrer und Simone Adam, Berlin, Boston 2017 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana BT 2022). Aurelius Augustinus: Die Ordnung. Hrsg. von Carl Johann Perl, Paderborn 1940 (Aurelius Au­ gustinus’ Werke in deutscher Sprache. Erste Abteilung. Die frühen Werke des heiligen Augustinus). Bergmann, Rolf: Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters. Unter Mitarbeit von Eva P. Diedrichs und Christoph Treutwein, München 1986. Der Antichrist und Die Fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Faksimile der ersten typo­ graphischen Ausgabe eines unbekannten Straßburger Druckers um 1480. Hrsg. von Karin Boveland, Hamburg 1979. Marcus T. Cicero: Topik. Hrsg. von Hans G. Zekl, Hamburg 1983. Adso Dervensis: De ortu et tempore Antichristi. Hrsg. von Daniël Verhelst, Turnhout 1976. La Confession de foi des Églises réformées en France dite Confession de La Rochelle, en fran­ çais moderne. Hrsg. von Eglise réformée de France, Cahors 1963. Das Münchner Gedicht von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Nach der Hand­ schrift der Bayerischen Staatsbibliothek Cgm 717. Edition und Kommentar. Hrsg. von Christoph Gerhardt und Nigel F. Palmer, Berlin 2002. Greco-Kaufmann, Heidy: Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lu­ cern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Quellenedition, Zürich 2009 (Theatrum Helveticum 11). Herrad von Landsberg: Hortus deliciarum. Hrsg. von Otto Gillen, Neustadt, Weinstraße 1979. Hieronymus: Biblia Sacra Vulgata. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von Michael Fieger, Widu-Wolf­ gang Ehlers und Andreas Beriger, 5 Bd., Berlin, Boston 2018 (Tusculum). Joachim von Fiore: Concordia Novi ac Veteris Testamenti. Bd. 1. Hrsg. Von Alexander Pat­ schovsky, Wiesbaden 2017. La Passion des jongleurs. Texte établi d’après la Bible des sept estaz du monde de Geuffroi de Paris. Édition critique, introduction, note et glossaire. Hrsg. von Anne Joubert Amari Perry, Paris 1981.

7.3 Quellen

| 371

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7.3.4 Digitale Quellen Antiphonale Synopticum. Unter der Leitung von Harald Buchinger. Ein Projekt der Universität Regensburg, gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung. http://gregorianik.uni-regensburg. de/ (5. November 2018). Cantus. A Database for Latin Ecclesiastical Chant – Inverntories of Chant Sources. Unter der Leitung von Debra Lacoste (2011-), Terence Bailey (1997–2010) und Ruth Steiner (1987– 1996). Web developer: Kann Koláček (2011–). http://cantus.uwaterloo.ca/ (6. März 2019).

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7.4 Forschungsliteratur Accarie, Maurice: Théâtre, littérature et société au Moyen Âge. Nice 2004. Aichele, Klaus: Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und Gegenreformation. Den Haag 1974. Aldrich, Virgil C.: Visuelle Metapher. In: Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Darmstadt 1983 (Wege der Forschung 389), S. 142–162. Alter, Jean: From Text to Performance. Semiotics of Theatrality. In: Poetics Today 2/3 (1981), S. 113–139. Amossy, Ruth/Anne Pierrot Herschberg: Stéréotypes et clichés. Langue, discours, société. Paris 1997. Amossy, Ruth: Les idées reçues. Sémiologie du stéréotype. Paris 1991 (Le texte à l’œuvre). Anderson, Andrew R.: Alexander’s Gate, Gog and Magog, and the Inclosed Nations. Cambridge (Massachusetts) 1932. Anscombre, Jean-Claude: La théorie des topoï. Sémantique ou rhétorique? In: Hermès 15 (1995), S. 185–198. Anscombre, Jean-Claude: De l’argumentation dans la langue à la théorie des topoï. In: Théorie des topoï. Hrsg. von Jean-Claude Anscombre. Paris 1995, S. 11–47. Arndt, Wilhelm: Die Personennamen der deutschen Schauspiele des Mittelalters. Breslau 1904 (Germanische Abhandlungen).

7.4 Forschungsliteratur

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7.4 Forschungsliteratur

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7.4 Forschungsliteratur

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396 | 7 Verzeichnisse

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7.4 Forschungsliteratur

|

397

Wyrill, Hubert: Réforme et Contre-Réforme en Savoie. 1536–1679. De Guillaume Farel à Fran­ çois de Sales. Lyon 2001. Yates, Frances A.: The Art of Memory. London 1966. Zapp, Hartmut: Kanonisches Eherecht. Begründet von Ulrich Mosiek. 6., völlig neubearb. Aufl. Freiburg i. Br 1983 (rombach hochschul paperback 110).

8 Anhang 8.1 Überblick über die behandelten Spiele Der Überblick umfasst jeweils die Punkte ‚Überlieferung‘, ‚Edition(en)‘ und ‚Ent­ stehung und Aufführung‘. In der Auflistung der Überlieferungsträger wird, soweit möglich, jeweils in eckigen Klammern angezeigt, um welchen Typus von Spiel­ text es sich handelt. Da die französische Terminologie präziser ist als die deut­ sche¹, werden die französischen Bezeichnungen verwendet. Lediglich der Begriff ‚Sammelhandschrift‘, der mit dem französischen recueil völlig synonym ist, bleibt erhalten. Unter ‚Editionen‘ sind diejenigen mit einem Asterisk gekennzeichnet, nach denen das jeweilige Spiel zitiert wird. Im Fall der Weltgerichtsspiele des Schaffhauser Typus, die größtenteils sowohl in Einzeleditionen als auch in der synoptischen Ausgabe Joachim Linkes vorliegen, wurden beide Formen verwen­ det. Die Edition Linkes konnte immer dann sinnvoll herangezogen werden, wenn kurze Passagen aus allen Spielen vergleichend analysiert wurden. Für vertiefende Untersuchungen der einzelnen Spiele war die Verwendung der jeweils gesonder­ ten Ausgaben ergiebiger, weshalb das doppelte Verfahren gewählt wurde.

8.1.1 La Passion du Palatinus (PaPs) a) Überlieferung Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, MS Palatinus latinus 1969, fol. 221r-234r, 1/2 XIV, An­ fang 14. Jh., Pergament, Hs. enthält zusätzlich die Miracles de Notre-Dame von Gautier de Coincy [Sammelhandschrift]

b) Edition(en) Christ, Karl: Das altfranzösische Passionsspiel der Palatina. In: Zeitschrift für romanische Phi­ lologie 40 (1920), S. 405–488. *La Passion du Palatinus. Mystère du XIVe siècle. Hrsg. von Grace Frank, Paris 1922 (Les classi­ ques français du Moyen Âge 30). La Passion du Palatinus. Mystère du XIVe siècle. Présenté et traduit par Jacques Ribard. Hrsg. von Grace Frank, Paris 1992 (Textes et traductions des classiques français du Moyen âge 2). Jeux et sapience du Moyen Âge. Hrsg. von Albert Pauphilet, Paris 1941 (Pléiade 61) (weitere Aufl. 1951, 1960, 1987).

1 Vgl. dazu den Überblick in Kapitel 2.1.2. https://doi.org/10.1515/9783110740486-008

8.1 Überblick über die behandelten Spiele | 399

c) Entstehung und Aufführung Das Spiel ist in einer Sammelhandschrift überliefert, die keine Hinweise auf seine Aufführung enthält. Auch der Autor ist unbekannt. Aufgrund sprachlicher Merk­ male wird seine Entstehung im frühen vierzehnten Jahrhundert vermutet. Da es sich um das literarische Mittelfranzösisch der Zeit handelt, das nur wenige dia­ lektalische Einschläge enthält, ist eine räumliche Verortung anhand der Sprache schwierig. Wahrscheinlich stammt das Spiel aus dem Osten oder Süd-Osten der Île-de-France.²

8.1.2 Le Mystère de la Passion Nostre Seigneur de la Bibliothèque Sainte-Geneviève (SGPs) a) Überlieferung Vollständiger Spieltext: Paris, Bibliothèque Sainte-Geneviève, Ms. 1131, 2. Viertel 15. Jh., Hs. ent­ hält diverse Spieltexte und nicht-dramatische, religiöse Literatur [Sammelhandschrift] Fragment, genannt fragment de Troyes: Ms. nouvelle acquisition 2139, Archives de l’Aube, Troyes, 15. Jh. [Aufführungszusammenhang, genauer Status unklar]

b) Edition(en) *Le Mystère de la Passion Nostre Seigneur du manuscrit 1131 de la Bibliothèque Sainte-Geneviè­ ve. Avec une introduction et des notes. Hrsg. von Graham A. Runnalls, Genève 1974 (Textes littéraires français 206). A Critical Edition of La Passion Nostre Seigneur from MS 1131 from the Bibliothèque SainteGeneviève, Paris. Hrsg. von Edward J. Callagher, Chapel Hill 1976 (North Carolina Studies in Romance Languages and Literatures 179).

c) Entstehung und Aufführung Die Handschrift, welche den vollständigen Spieltext enthält, war wahrscheinlich ursprünglich im Besitz des Klosters Sainte-Geneviève, das sich in Paris an dem Ort befand, wo heute das Pantheon steht. Das anonym überlieferte Spiel wurde ver­ mutlich nicht von der berühmten Confrérie de la Passsion aufgeführt. Graham A. Runnalls hat die Handschrift mit einer anderen Spielbruderschaft, der Confrérie Sainte-Geneviève, später umbenannt in Confrérie des Porteurs de la Châsse Sain­ te-Geneviève, in Verbindung gebracht. Es existieren jedoch keine Dokumente, die eine Aufführung durch die erst zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts gebilde­

2 Vgl. La Passion du Palatinus. Mystère du XIVe siècle. Hrsg. von Grace Frank, Paris 1922 (Les classiques français du Moyen Âge 30), S. X-XIV.

400 | 8 Anhang

te Spielbruderschaft bezeugen.³ Anhand des in Troyes entstandenen und bis heu­ te befindlichen Fragments, welches eindeutig das gleiche Spiel enthält und Aufführungsspuren trägt, kann laut Jean-Pierre Bordier darauf geschlossen werden, dass SGPs mehrfach inszeniert wurde.⁴

8.1.3 Le Mystère de la Passion des Eustache Marcadé (MaPs) a) Überlieferung Arras, Bibliothèque municipale, Ms. 625 (697), enthält neben MaPs ein weiteres Spiel, das mit dem Titel La vengeance de Nostre Seigneur Jhesu Crist versehen ist [Sammelhandschrift]

b) Edition(en) *Le Mystère de la Passion. Texte du manuscrit 697 de la bibliothèque d’Arras. Hrsg. von JulesMarie Richard, Genève 1976.

c) Entstehung und Aufführung Da das gemeinsam mit MaPs überlieferte Spiel, die Vengeance Nostre Seigneur, den Kleriker Eustache Marcadé oder Mercadé († 1440) als seinen Autor nennt und die Spiele neben dem Überlieferungsverbund auch sprachliche Übereinstimmun­ gen aufweisen, wird MaPs üblicherweise dem gut dokumentierten Kirchenmann zugeordnet. Marcadé erwarb in Paris die Grade des bachelier en théologie und des docteur en décret und war zunächst Vogt in Dampierre, später Gerichtsvikar in der Gemeinde Corbie sowie Prior der Diözese von Thérouanne in Ham. Während seines Studiums in Paris kam er aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Confrérie de la Passion in Berührung.⁵ Eine große Zahl von Spielnachrichten attestiert die Aufführung von den als Vengeance und Passion titulierten Spielen in der Picar­ die und im Artois.⁶ Häufig wurden beide Spiele gemeinsam inszeniert. Obwohl nur wenige Belege eine eindeutige Identifizierung mit den Produktionen Marca­ dés erlauben, erscheint eine weitreichende Zirkulation und Adaption des Spiels sehr wahrscheinlich. Fragmente des Spiels wurden darüber hinaus in den großen

3 Vgl. Le Mystère de la Passion Nostre Seigneur du manuscrit 1131 de la Bibliothèque SainteGeneviève. Avec une introduction et des notes. Hrsg. von Graham A. Runnalls, Genève 1974 (Textes littéraires français 206), S. 14–19. 4 Vgl. Bordier, Le Jeu de la Passion, S. 39 f. 5 Vgl. Richard, Le Mystère de la Passion, S. 7 f. 6 Jules-Marie Richard nennt für den Zeitraum zwischen 1396 und 1540 Aufführungen in Metz, Nevers, Amiens, Bourg, Abbeville, Aire-sur-la-Lys, Lille, Malines, Reims und Troyes (vgl. hier S. XXI f.).

8.1 Überblick über die behandelten Spiele |

401

Passionsspielen des sechzehnten Jahrhunderts verwendet und konnten auch in Rollentexten anderer Spieltypen nachgewiesen werden.⁷

8.1.4 Le Mystère de la Passion des Arnoul Gréban (GrPs) a) Überlieferung Handschriften⁸ A

Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Français 816, 1473, Papier [copie de luxe]

B

Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Français 815, 1508, Pergament [copie de luxe]

C

Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 6431, 15. Jh., Pergament [copie de luxe]

D

Rom, Accademia dei Lincei, Ms. Corsini col. 44 A 7, Ende 16. Jh., Papier [original]

E

Chantilly, Musée Condé, Ms. 614, 15. Jh., Papier [copie courante]

Fragmente F

Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Français 15064 und 15065, 15. Jh., Papier [copie ourante]

G

Le Mans, Bibliothèque municipal, Ms. 6, 15. Jh., Papier [original]

H

Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Français 1550, 16. Jh., Papier [original]

I

Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Nouvelle Acquisition Français 14043, 15. Jh., Papier [original]

J

Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Nouvelle Acquisition Français 12908, 16. Jh., Papier [original]

K

Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Nouvelle Acquisition Français 18637, Ende 15. oder Anfang 16. Jh., Papier [copie courante]

7 Vgl. Bordier, Le Jeu de la Passion, S. 41 und 44. 8 Zur Angabe der Handschriften und Fragmente werden die üblichen Siglen verwendet, wie auch Jodogne sie gebraucht (vgl. JoII, S. 11–14). Das erst nach Erscheinen der Edition Jodognes gefun­ dene Fragment K wird nach Smith, Écriture dramatique, S. 173 angegeben. Weitere Informationen liefert etwa der Vortrag Marie Jennequins, den sie anlässlich der SITM-Konferenz 2007 in Lilles hielt (vgl. Jennequin, Marie: Premier livre ou premiere journee de l’histoire et passion de Nostre Seigneur Jhesus Christ qui commance a la creation du monde jusques a la Vierge. Le manuscript Paris BNF, nouv. acq. fr. 18637 du Mystère de la Passion d’Arnoul Gréban : observations et compa­ raisons avec d’autres témoins de la tradition. In: XIIe Congrès de la SITM (Lilles, 2–7 juillet 2007), http://sitm2007.vjf.cnrs.fr/pdf/s8-jennequin.pdf [24. September 2019]).

402 | 8 Anhang

b) Edition(en) *Le Mystère de la Passion d’Arnoul Gréban. Édition critique. Hrsg. von Omer Jodogne. 2 Bde., Bruxelles 1965 und 1983. Le Mystère de la Passion d’Arnoul Gréban. Publié d’après les manuscrits de Paris avec une intro­ duction et un glossaire. Hrsg. von Gaston Paris/Gaston Raynaud, Paris 1878.

c) Entstehung und Aufführung Der Pariser Theologe Arnoul Gréban († nach 1485) vollendete GrPs im Jahr 1452.⁹ Über den Chormeister und Organisten der Kathedrale Notre-Dame ist verhältnis­ mäßig viel bekannt. Seine Tätigkeiten in der Pariser Kathedrale, in deren Rahmen er auch das monumentale GrPs, verfasste sind gut dokumentiert. Ab 1455 befand er sich im Dienst Karls von Anjou, des Grafen von Maine. Darwin Smith hat sich zudem dafür ausgesprochen, ihn mit einem in Italien tätigen Geistlichen zu identi­ fizieren, der in den Quellen als Arnolfo da Francia bezeichnet wird. Sowohl dessen Wirken als Chormeister und Sänger als auch die Chronologie der Quellenbelege stützen diese These.¹⁰ GrPs gilt als eines der weitverbreitetsten Passionsspiele Frankreichs, für das nicht nur zahlreiche Aufführungen dokumentiert sind, sondern das auch eine ganze Generation späterer mystères prägte. Besonders erfolgreich waren Produk­ tionen, die GrPs mit der etwas später entstandenen und eng an es angelehnten Passion Jean Michels kombinierten.¹¹

8.1.5 Das Wormser Passionsspiel (WoPs) a) Überlieferung St. Gallen, Stiftsbibliothek, Codex 919, S. 197–218, 15. Jh., Papier, Hs. versammelt überwiegend historische Texte, Rätsel und eine Regula Benedicti [Sammelhandschrift]

b) Edition(en) *Das Mittelrheinische Passionsspiel der St. Galler Handschrift 919. Hrsg. von Rudolf Schützei­ chel. Mit Beiträgen von Rolf Bergmann, Irmgard Frank, Hugo Stopp und einem vollständi­ gen Faksimile, Tübingen 1978.

9 Vgl. Smith, Écriture dramatique, S. 157. 10 Vgl. Smith, Darwin: Greban, Arnoul. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2., neubearb. Aufl. Hrsg. von Friedrich Blume/Ludwig Finscher, Per­ sonenteil, Bd. 7, Stuttgart 2002, Sp. 1541–1545. 11 Vgl. Bordier, Le Jeu de la Passion, S. 44–47.

8.1 Überblick über die behandelten Spiele | 403

c) Entstehung und Aufführung Die Verortung WoPs hat Anlass für einige Kontroversen gegeben. Erst in jüngerer Vergangenheit hat Klaus Weber auf der Basis eingehender Untersuchungen die Stadt Worms als Entstehungsort bestimmt.¹² Über den Autor und mögliche Aufführungen ist nichts bekannt.

8.1.6 Lienhard Pfarrkirchers Passion (PfPs) a) Überlieferung Sterzing, Stadtarchiv, Ms. XIV, 1486, Papier [vermutl. copie courante]

b) Edition(en) *Die geistlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs. Nach den Handschriften hrsg. von Walther Lipphardt †/Hans-Gert Roloff, Bd. 2, Bern u. a. 1988 (Mittlere Deutsche Literatur 15).

c) Entstehung und Aufführung Das Spiel ist Teil der vielen theatralen Aktivitäten, die für das spätere fünfzehnte bis hin zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts in der Tiroler Stadt Sterzing, die aufgrund des Bergbaus zu einigem Wohlstand gelangt war, belegt sind. Es wur­ de 1486 von dem Sterzinger Kirchpropst Lienhard Pfarrkircher geschrieben und vermutlich im selben Jahr aufgeführt.¹³

8.1.7 Das Alsfelder Passionsspiel (AlPs) a) Überlieferung Kassel, Universitätsbibliothek, LMB, 2° Ms. poet. et roman. 18, Anfang 16. Jh., enthält Aufführungsvermerke, eine Abschrift des Spieltextes, eine Prozessionsordnung und einen Bühnenplan, integriert und adaptiert die sog. Trierer Marienklage (Trier, Stadtbibliothek, Hs. 1973/63 4°) [original und Dokumente des Inszenierungstextes]

12 Vgl. Wolf, Klaus: Gab es im Mittelalter ein „Wormser Passionsspiel“? Oder: Ist das „Sankt Galler Passionsspiel“ in Worms zu lokalisieren? In: Der Wormsgau: wissenschaftliche Zeitschrift der Stadt Worms und des Altertumsvereins Worms e. V. 29 (2012), S. 65–79 und Wolf, Klaus: Zur literaturgeschichtlichen Verortung des Wormser Passionsspiels aus der ersten Hälfte des 14. Jahr­ hunderts nebst Überlegungen zu seiner Wiederaufführung im 21. Jahrhundert. In: Das Wormser Passionsspiel. Versuch, die großen Bilder zu lesen. Hrsg. von Volker Gallé/Klaus Wolf/Ralf Ro­ thenbusch, Worms 2013, S. 11–29. 13 Vgl. Neumann, Geistliches Schauspiel I, S. 647 (Nr. 2523).

404 | 8 Anhang

b) Edition(en) *Alsfelder Passionsspiel. Frankfurter Dirigierrolle mit den Paralleltexten. Weitere Spielzeugnis­ se. Alsfelder Passionsspiel mit den Paralleltexten. Hrsg. von Johannes Janota. Edition der Melodien von Horst Brunner, Tübingen 2002.

c) Entstehung und Aufführung Die Kleinstadt Alsfeld gehörte in der Zeit um 1500 zur Landgrafschaft Hessen, so­ dass Rat und Klerus dem gleichen Landesherrn unterstanden, was dem Rat eine starke gesellschaftspolitische Stellung verschaffte. Die städtische Obrigkeit setzte sich zu einem großen Teil aus vornehmen Alsfelder Bürgerfamilien und zu einem geringeren Teil aus Burgleuten zusammen, die dem niederen Adel entstammten. Im fünfzehnten und ausgehenden sechzehnten Jahrhundert hat es aller Wahr­ scheinlichkeit nach keine jüdische Gemeinde in Alsfeld gegeben.¹⁴ AlPs, an des­ sen Niederschrift mehrere Bearbeiter und Kompilatoren beteiligt waren, entstand als Gemeinschaftsprojekt von Vertretern der Stadtverwaltung und der Kirche.¹⁵ Aufführungen sind für die Jahre 1501, 1511 und 1517 belegt.¹⁶ Sie fanden jeweils in der Osterwoche statt und dauerten von Ostermontag bis Mittwoch. Als Darsteller waren männliche Bürger aller Altersgruppen beteiligt, die der Ober-, Mittel- und Unterschicht entstammten. Somit integrierte „die Gruppe der Darsteller das ganze Spektrum der städtischen Gesellschaft.“¹⁷

8.1.8 Das Luzerner Passionsspiel (LuPs) a) Überlieferung In der Bürgerbibliothek Luzern (Zentralbibliothek) befinden sich die folgenden acht Handschriften, die alle in einem Aufführungszusammenhang zu verorten sind:¹⁸

14 Zur politischen, wirtschaftlichen und demographischen Situation der Stadt Alsfeld in Spät­ mittelalter und Früher Neuzeit vgl. Freise, Geistliche Spiele, S. 101–112. 15 Vgl. hier S. 273 und Schulze, Geistliche Spiele, S. 93. 16 Vgl. Neumann, Geistliches Schauspiel I, Nr. 3–6 (S. 104 f.). Eine detaillierte Diskussion der unterschiedlichen Fassungen und ihrer Bearbeiter hat Freise vorgelegt (vgl. Freise, Geistliche Spiele, S. 272–284). 17 Freise, Geistliche Spiele, S. 302. Eine historische Aufarbeitutung des Alsfelder Darstellerver­ zeichnisses nimmt Freise auf den Seiten 287–303 vor. Sie weist in diesem Rahmen zudem darauf hin, dass auch die Beteiligung von Frauen als Helferinnen, die in Spielbruderschaften eintreten konnten, durchaus gängig war (vgl. hier S. 287). 18 Für eine ausführliche Beschreibung der Handschriften vgl. EvWy I, S. 11–50 und Greco-Kauf­ mann, Zuo der Eere Gottes I, S. 613–623. Da mit der Edition Evans/Wyss gearbeitet wurde, sind die

8.1 Überblick über die behandelten Spiele | 405

o

Ms. 167.II:

Osterspils der ander tag zu lucern gehallten a° 1545

Ms. 171 fol.:

osterspils erster tag zu lucern gehallten vnd gespillt a° 1571

Ms. 172.IX fol.:

osterspils erster theil dess ersten tags, gehallten a° 1583. I

Ms. 172.VIII fol.:

osterspils erster theil dess ersten tags, zu lucern gehallten a° 1583. ist nit gantz

Ms. 179.V:

dess passion oder osterspils der ander tag 1597

Ms. 185.I fol.:

anfang dess nüwen testaments bis conuiuium lazari [1616]

Ms. 185.II fol.:

von dem yntritt christi zu jerusalem bis von der vrstende christi [1616]

Ms, 185.III fol.:

von der vrstende christi (3. Vnderscheyd) bis pfingsten [1616]

o

o

o

b) Edition(en) *Das Luzerner Osterspiel. Gestützt auf die Textabschrift von M. Blakemore Evans und unter Ver­ wendung seiner Vorarbeiten zu einer kritischen Edition im Auftrag der schweizerischen Ge­ sellschaft für Theaterkultur nach den Handschriften. Hrsg. von Heinz Wyss, 3 Bde., Bern 1967 (Schriften 7).

c) Entstehung und Aufführung LuPs ist eine Zusammenstellung, die Wyss anhand einzelner Spielfragmente vor­ genommen hat, welche alle in die Luzerner Passions- bzw. Osterspieltradition ge­ hören. Jene reicht bis in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts zurück und wurde bis ins frühe siebzehnte Jahrhundert fortgeführt. Die Spieltexte wurden von dem jeweils amtierenden Stadtschreiber, vermutlich unter Beihilfe von Vertretern des Stadtrats und des Klerus, auf der Basis von vorhandenen Handschriften aus den vorhergehenden Jahren aus- und umgearbeitet. Im Zeitraum zwischen 1545 und 1616, in den die überlieferten Spielfragmente fallen, folgten Hans Salat, Zacha­ rias Bletz, Hans Kraft und Renward Cysat als Stadtschreiber aufeinander. Ihnen fiel jeweils auch das Amt des Spielleiters zu. Die Passionsspiele wurden seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts auf dem Luzerner Weinmarkt aufgeführt.¹⁹

Handschriften nach dieser wiedergegeben. Den aktuellsten Stand stellen aber zweifellos GrecoKaufmanns Ausführungen dar. 19 Vgl. hier S. 433 und 610; Thali, Schauspiel, S. 445 f.

406 | 8 Anhang

8.1.9 Le Jour du Jugement (JuBe) a) Überlieferung Besançon, Bibliothèque municipale, Ms. 579 [Sammelhandschrift, copie de luxe]

b) Edition(en) *Le Mystère du Jour du Jugement. Texte original du XIVe siècle. Introduction, traduction et notes. Hrsg. von Jean-Pierre Perrot/Jean-Jacques Nonot, Besançon 2000.

c) Entstehung und Aufführung Über eine mögliche Aufführung des anonym überlieferten Spiels, dessen Entste­ hung aufgrund sprachlicher Merkmale auf die erste Hälfte des vierzehnten Jahr­ hunderts datiert und im Nordosten Frankreichs verortet wird²⁰, ist nichts bekannt.

8.1.10 Lo Jutgamen general (JuRou) a) Überlieferung Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Français Nouvelle Acquisition 6252, fol. 79r, Ende 15. Jh., Papier, Hs. enthält zwölf weitere Spiele religiösen Inhalts [Sammelhandschrift, Aufführungsbezug wahrscheinlich]

b) Edition(en) *Le Jugement dernier (Lo Jutgamen General). Drame provençal du XVe siècle. Édition critique avec traduction, introduction, notes et glossaire. Hrsg. von Moshé Lazar, Paris 1971. Mystères provencaux du quinzième siècle. Publiés pour la première fois avec une introduction et un glossaire. Hrsg. vonAlfred Jeanroy/Henri Teulié, Toulouse 1893 (Bibliothèque méridio­ nale 1,3).

c) Entstehung und Aufführung Eine Spielnachricht berichtet von der Aufführung eines Jutgamen de Jesus de Na­ zaret am 3. April 1440. JuRou, welches nachweislich in Rouergue entstand, ist gemeinsam mit einem so betitelten Spiel – und elf weiteren Spieltexten, die ver­ mutlich einen Zyklus bilden sollten – überliefert. Dies hat zu der Vermutung ge­ führt, die Spielnachricht beziehe sich auf JuRou. Andere Faktoren legen jedoch eine Entstehung nach 1481 nahe. Der Autor JuRous wird aufgrund eingehender juristischer Kenntnisse, die der Inhalt des Spiels voraussetzt, als studierter Kleri­

20 Vgl. Perrot/Nonot, Le Mystère du Jour du Jugement, S. 11 f.

8.1 Überblick über die behandelten Spiele |

407

ker eingeschätzt. Das Spiel enthält jedoch keine namentliche Nennung und keine Aufführungsnotiz.²¹

8.1.11 Le Jugement de Dieu (JuMo) a) Überlieferung Hs. A:

vollständige Hs. in drei Bänden, 310 fol., verschollen, Abschriften der Prologe und Epi­ loge aller Spieltage transkribiert von Florimond Truchet (abgedruckt bei Gros 1962, S. 15 f. und 17–19 und Chocheyras 1972, S. 185–188 und 189–197)

Hs. B:

Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Français 15063, 16. Jh.²², 91 fol., vollstän­ diger zweiter Teil des dritten Spieltags (Weltgericht) und Fragmente des ersten Teils des dritten und des zweiten Spieltags (Antichristspiel) [original]

Hs. C:

Fragment des ersten Spieltags und Aufführungszeugnisse, 48 fol., enthalten in Cham­ béry, Archives départementales de la Savoie, J. 134 [original und Spielnachrichten]

Hs. D:

Fragment des zweiten und dritten Spieltags, 12 fol., enthalten in J. 134, Archives dépar­ tementales de la Savoie, Chambéry [vermutlich Ergänzungen zu einem original]

b) Edition(en) *Edition Hs. C: Gros, Chanoine Louis: Étude sur le Mystère de l’Antéchrist et du Jugement de Dieu. Joué à Modane en 1580 et en 1606. Et fragment de la première journée, Chambéry 1962. *Edition Hs. D: Chocheyras, Jacques: Le théâtre religieux en Savoie au XVIe siècle. Avec des fragments inédits, Genève 1971.

c) Entstehung und Aufführung In der Stadt Modane wurde zu Pfingsten 1580 und zu Pfingsten 1606 ein Antichristund Weltgerichtsspiel aufgeführt, das mit dem Jugement de Dieu identifiziert wer­ den kann (vgl. Ch 21 ff.). Es handelt sich um die Bearbeitung eines älteren escha­ tologischen Spiels, die Chocheyras in den frühen 1560er Jahren vermutet (Ch 25) und die somit in die Zeit der Hugenottenkriege bzw. Religionskriege (frz. guerres de religion, 1562–1598) fällt. Im Süden Savoyens gelegen, waren weder die Region Maurienne, noch der darin gelegene Ort Modane Schauplatz kriegerischer Aus­

21 Vgl. Lazar, Lo Jutgamen General, S. 13–16. 22 Laut Louis Petit de Julleville handelt es sich um eine Handschrift aus dem fünfzehnten Jahrhundert (vgl. Petit de Julleville, Histoire du théâtre II, S. 460 f.). Die Graphie des Textes (beispielsweise der Einsatz von Elisionen anzeigenden Apostrophen) weist sie jedoch deutlich der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts zu. Auch Aichele verortet die Handschrift im sechzehnten Jahrhundert (vg. Aichele, Das Antichristdrama, S. 93).

408 | 8 Anhang

einandersetzungen zwischen den Konfessionen. Die Maurienne blieb katholisch und somit auch Modane. Doch befand sich das seit 1536 unter protestantischer Herrschaft stehende Chablais ebenso in der Nähe wie Calvins Genf. Das Auftre­ ten protestantischer Prediger in der Maurienne sowie einzelne Konversionen sind ebenso belegt wie die energischen Versuche der Obrigkeit, die Einflussnahme der Reformatoren zu verhindern.²³ Unter diesen Bedingungen ist anzunehmen, dass JuMo in einem katholischen Kontext aufgeführt wurde und im Zusammenhang mit den Bemühungen steht, den Protestantismus abzuwehren. Über den bzw. die Autoren und Bearbeiter des Spiels ist nichts bekannt und auch der konkrete Her­ gang der beiden Inszenierungen ist nicht überliefert. Aus dem notariell beglau­ bigten Beschluss des Stadtrats vom 21. April 1577 ist zu entnehmen, dass einige Privatpersonen, die nicht namentlich genannt werden, den Spieltext käuflich er­ warben und dem Stadtrat anboten, ihn der Gemeinde kostenlos zu überlassen, wenn diese sich dazu verpflichtete, das eschatologische Spiel aufzuführen (vgl. Gr 6 f.). Die Zusage basiert auf einer Abstimmung, an der sich ca. 140 Personen be­ teiligten.²⁴ Die Aufführungen JuMos wurden demzufolge vom Stadtrat organisiert und überwacht und oblagen nicht in erster Linie dem Klerus. Die Dimensionen des auf drei Tage ausgelegten, mit hohem Aufwand und Kosten verbundenen²⁵ und über 200 Darsteller umfassenden Spiels deuten darauf hin, dass beide Aufführungen städtische Großereignisse waren, die mit großer Wahrscheinlichkeit ein überregionales Publikum anzogen.²⁶ Die Leihgabe von zwölf großen Wand­ teppichen, die der Bischof der Maurienne der Gemeinde von Modane für die Aufführung 1580 zukommen ließ (vgl. Gr 40), zeugt davon, dass auch die klerikale Obrigkeit der Inszenierung des Spiels positiv gegenüberstand und ihr eine nicht geringe Bedeutung beimaß.

23 Vgl. Wyrill, Réforme, S. 19 und Gros, Maurienne, S. 146–153. 24 In seinem Abdruck des Beschlusses kürzt Gros die Liste der aufgeführten Namen unter der Angabe, es handle sich insgesamt um ca. 140 (vgl. Gr 7 f.). 25 Die Verträge zwischen dem Stadtrat und lokalen Handwerkern (peintres et experts à jouer du feu avec pouldre, Gr 27), die für Bühnenausstattung und Spezialeffekte zuständig waren, geben Aufschluss über die enorme Anzahl an Requisiten, die für die Aufführungen produziert wurden (vgl. Gr 27–40). Für die Aufführung von 1606 ließ der Stadtrat gar ein Kamel aus Turin herbeibrin­ gen (vgl. Gr 40). 26 Aufgrund der katholischen Ausrichtung des Spiels ist zu vermuten, dass auch das Publikum dem katholischen Lager zugehörte. Ob eventuell auch Zuschauerinnen und Zuschauer, die zum Protestantismus übergetreten waren oder mit reformatorischen Haltungen sympathisierten, an­ wesend waren, ist auf Basis der Quellenlage nicht zu entscheiden, erscheint aber eher unwahr­ scheinlich.

8.1 Überblick über die behandelten Spiele | 409

8.1.12 Das Berner Weltgerichtsspiel (BnWg) a) Überlieferung Bern, Burgerbibliothek, Mss. Hist. HelV. X. 50, S. 305a-330a, um 1462, Papier, gemeinsam mit Texten geistlichen Inhalts überliefert [Sammelhandschrift]

b) Edition(en) *Berner Weltgerichtsspiel. Aus der Handschrift des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Wolfgang Stamm­ ler, Berlin 1962 (Texte des späten Mittelalters 15). *Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Tübingen, Basel 2002.

c) Entstehung und Aufführung BnWg wurde 1462 von dem zu dieser Zeit als Lehrer (scholasticus) in Luzern tä­ tigen Jacob am Grund aufgeschrieben. Es lässt sich vermuten, dass das Spiel für eine Aufführung in Luzern bestimmt war. Die auffallend aktive Theatertradition der Stadt legt dies besonders nahe. Belege einer Aufführung sind jedoch nicht erhalten.²⁷

8.1.13 Das Schaffhauser Weltgerichtsspiel (SchaWg) a) Überlieferung Zürich, Zentralbibliothek, Ms. C 216, fol. 1r-28v, 1467, Papier, urspr. Hs. enthielt neben SchaWg einen Lucidarius und die Gründungsgeschichte des Allerheiligenklosters zu Schaffhausen [Sammelhandschrift]

b) Edition(en) *Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Tübingen, Basel 2002. Schauspiele des Mittelalters. Hrsg. von Franz J. Mone, Karlsruhe 1846, S. 273–304.

c) Entstehung und Aufführung SchaWg ist Teil eines Codex, der 1467 von dem Bürger Hans Trechsel in Schaffhau­ sen geschrieben wurde. Die Handschrift steht in einem klaren Bezug zu dem dort

27 Vgl. Linke, Die deutschen Weltgerichtspiele, S. 11 f. und Neumann, Geistliches Schauspiel I, S. 439 (Nr. 2034).

410 | 8 Anhang

befindlichen Allerheiligenkloster. Spielnachrichten, die sich in einen Zusammen­ hang mit SchaWg bringen lassen, liegen nicht vor.²⁸

8.1.14 Das Kopenhagener Weltgerichtsspiel (KoWg) a) Überlieferung Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek, Ms. Thott 112 4°, fol. 1r-24r, zweites Viertel 15. Jh., Papier [Sammelhandschrift]

b) Edition(en) *Das Kopenhagener Weltgerichtsspiel. Hrsg. von Hans Blosen/Ole Lauridsen, Heidelberg 1988. *Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Tübingen, Basel 2002.

c) Entstehung und Aufführung Ausgehend von Wasserzeichenanalysen wurde die Entstehung der Handschrift auf das zweite Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts datiert. Anhand der Sprache ist das Spiel dem oberrheinischen Raum zuzuordnen. Hans Blosen und Ole Lau­ ridsen vermuten, dass es im Ort Grüningen des Kantons Zürich entstand. KoWg ist anonym überliefert. Aufführungsbelege gibt es nicht.²⁹

8.1.15 Das Berliner Weltgerichtsspiel (BeWg) a) Überlieferung Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 722, fol. 1r-41v, 1482, Papier [Sammelhandschrift]

b) Edition(en) *Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Tübingen, Basel 2002. Berliner Weltgerichtsspiel. Augsburger Buch vom Jüngsten Gericht. Ms. germ. fol. 722 der Staats­ bibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Abbildung der Handschrift. Hrsg. von Ursula Schulze, Göppingen 1991.³⁰

28 Vgl. Linke, Die deutschen Weltgerichtspiele, S. 28. 29 Vgl. Das Kopenhagener Weltgerichtsspiel. Hrsg. von Hans Blosen/Ole Lauridsen, Heidelberg 1988, S. 43 f. 30 Es handelt sich um ein schwarz-weiß-Faksimile mit Transkription.

8.1 Überblick über die behandelten Spiele | 411

c) Entstehung und Aufführung Das Spiel wurde, wie der Rest der Sammelhandschrift, von dem Augsburger Schreiber Konrad Bollstadt/Müller/Mulitor aufgeschrieben, der das Manuskript auch auf 1482 datierte. Es handelte sich um einen aus Öttingen stammenden, mit volkssprachlicher Literatur vertrauten Mann, dessen Hand 15 weitere Texte zugeordnet werden können. Der Spieltext enthält keine Autornennung und es existieren keine Aufführungsbelege.³¹

8.1.16 Das Güssinger Weltgerichtsspiel (GüWg) a) Überlieferung Budapest, Bibliotheca et Archivum P.P. Franciscanorum, Depositum Esztergom, Cod. Esztergom 11, fol. 102r -123r , Z. 11, um 1500, Papier, gemeinsam mit religiösen, eschatologisch akzen­ tuierten Texten überliefert [Sammelhandschrift]

b) Edition(en) *Das Güssinger Weltgerichtsspiel. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Heidelberg 1995. *Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Tübingen, Basel 2002.

c) Entstehung und Aufführung Nach aktuellem Forschungsstand ist nicht geklärt, wo GüWg entstand und auch der Autor ist unbekannt. Aufführungsbelege gibt es nicht.³²

8.1.17 Das Münchner Weltgerichtsspiel (MüWg) a) Überlieferung München, Bayerische Staatsbibliothek, Ms. cgm 4433, fol. 1r-40v, ca. 1510, Papier [copie couran­ te]

b) Edition(en) *Das Münchner Weltgerichtsspiel und Ulrich Tenglers Büchlein vom Jüngsten Gericht. Hrsg. von Ursula Schulze, Stuttgart 2014 (Relectiones 2). *Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Tübingen, Basel 2002.

31 Vgl. Linke, Die deutschen Weltgerichtspiele, S. 13 f. und Schulze 1991, S. 1 ff. 32 Vgl. Linke, Die deutschen Weltgerichtspiele, S. 16 ff.

412 | 8 Anhang

c) Entstehung und Aufführung Eine Notiz in der Handschrift vermerkt, dass das Spiel im Jahr 1510 in München aufgeführt wurde. Anhand von Spielnachrichten und Kammerrechnungen lässt sich nachvollziehen, dass MüWg in unmittelbarer Abfolge oder innerhalb eines kurzen Zeitraums mehrerer Tage mit einem Eigengerichtsspiel auf dem Münchner Marktplatz zur Inszenierung kam. Der Autor des Spiels ist unbekannt.³³

8.1.18 Das Churer Weltgerichtsspiel (ChWg) a) Überlieferung Chur, Staatsarchiv Graubünden, Ms. B 1521, fol. 1r-17r, ca. 1517, Papier [vermutlich copie courante]

b) Edition(en) *Churer Weltgerichtsspiel. Nach der Handschrift des Staatsarchivs Graubünden Chur Ms. B 1521. Hrsg. von Ursula Schulze, Berlin 1993 (Texte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit 35). *Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Tübingen, Basel 2002.

c) Entstehung und Aufführung Die Aufführung ChWgs ist durch einen Eintrag in der Handschrift für das Jahr 1517 belegt. Wo diese stattfand, geht aus der Notiz allerdings nicht hervor. Auch der Autor des Spiels ist unbekannt. Aufgrund inhaltlicher Elemente hat Schulze im Anschluss an Christian I. Kind dafür plädiert, die Aufführung in Chur zu verorten. Vorstellbar ist demnach, dass sie unter klerikaler Verantwortung innerhalb des Kirchenraums der Churer Kathedrale erfolgte.³⁴

8.1.19 Das Luzerner Weltgerichtsspiel I (LuWgI) a) Überlieferung Luzern, Zentralbibliothek, BB Ms. 169 I fol., fol. 1r-45v, zweites Jahrzehnt 16. Jh., Papier [original]

33 Vgl. Schulze 2014: Das Münchner Weltgerichtsspiel, S. XVII f. und Linke, Die deutschen Welt­ gerichtspiele, S. 26 f. 34 Vgl. Schulze, Churer Weltgerichtsspiel, S. 11 ff. und Linke, Die deutschen Weltgerichtspiele, S. 14 f.

8.1 Überblick über die behandelten Spiele | 413

b) Edition(en) *Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Tübingen, Basel 2002.

c) Entstehung und Aufführung LuWgI ist Teil der Luzerner Spieltradition. Da es dem früheren sechzehnten Jahr­ hundert zugeordnet wird, kommt der damalige Stadtschreiber als Bearbeiter in Frage. Greco-Kaufmann hat überzeugend dafür argumentiert, diesen mit Die­ bold Schilling zu identifizieren. Der Verfasser einer im Jahr 1513 vollendeten Lu­ zerner Bilderchronik stammte aus einer Schreiber- und Chronistendynastie und war zunächst öffentlicher Notar, später Priester. Als Geistlicher und Schreiber be­ saß er die nötigen Kompetenzen, um religiöse Spiele zu verfassen und zu leiten. Ein Aufführungsbeleg für LuWgI liegt nicht vor.³⁵

8.1.20 Das Weltgerichtsspiel der (ehemaligen) Sammlung Jantz (JaWg) a) Überlieferung Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Hs. Karlsruhe 3166, fol. 1r-41r, um 1523, Papier [Status unklar]

b) Edition(en) *McConnell, Winder/Ingeborg Henderson: Das Weltgerichtsspiel der Sammlung Jantz mit der Donaueschinger Variante Handschrift Nr. 136. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 92/93 (1988/1989), S. 223–321. *Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Hansjürgen Linke, Tübingen, Basel 2002.

c) Entstehung und Aufführung Anhand von Wasserzeichen-Analysen nimmt Linke an, dass die Handschrift im Schweizer Raum des frühen sechzehnten Jahrhunderts entstand. Über den Autor des Spiels ist nichts bekannt, es liegen keine Aufführungsbelege vor.³⁶

35 Vgl. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes I, S. 435 f. und 629 f. 36 Vgl. Linke, Die deutschen Weltgerichtspiele, S. 18–22.

414 | 8 Anhang

8.1.21 Das Luzerner Antichristspiel (LuA) a) Überlieferung Luzern, Zentral- und Hochschulbibliothek, Ms. 169 II fol. [original] Luzern, Zentral- und Hochschulbibliothek, Ms. 169 III A fol. [original]

b) Edition(en) *Reuschel, Karl: Die deutschen Weltgerichtsspiele des Mittelalters und der Reformationszeit. Ei­ ne literarhistorische Untersuchung. Nebst dem Abdruck des Luzerner „Antichrist“ von 1549, Leipzig 1906 (Teutonia 4).

c) Entstehung und Aufführung Das Antichristspiel wurde im Rahmen eines zweitägigen eschatologischen Spiels an den Osterfeiertagen 1549 aufgeführt. Es stellte den ersten Tag des gesamten Spiels dar, welches vom Luzerner Stadtschreiber Zachrias Bletz – vermutlich ge­ meinsam mit Vertretern von Stadtrat und Klerus – verfasst wurde. Er übernahm auch die Spielleitung an beiden Tagen. Die Aufführung fällt in die Zeit der Kon­ fessionalisierung, welche in der Eidgenossenschaft von Konflikten zwischen den reformierten und katholischen Lagern geprägt war. Das katholische Luzern besaß im Gegensatz zu den reformatorischen Zentren Zürich und Genf keine kompetiti­ ve Druckpresse und sah sich mit der schriftlichen Zirkulation reformatorischen Gedankenguts konfrontiert. Die Aufführungen der überregional beliebten religiö­ sen Spiele konnte in diesem Kontext als Medium der konfessionellen Apologetik genutzt werden.³⁷

37 Vgl. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes I, S. 628 und Posth, L’apologie de la vraie foi.

Stichwortverzeichnis Abrégé 55, 58 Adaequatio 336, 359 Adversus Judaeos 123, 156, 165, 168, 177, 216, 218 Allegorie 129, 130, 132, 140, 151, 353 Antichrist-Tradition 176, 187, 193, 195, 220, 228, 230, 249, 265, 268 Antichristus mixtus 250 Antichristus purus 250 Antijudaismus 219, 220, 231, 379 Antiquitas 286, 313 Antisemitismus 219, 231 Apokalypse 175, 187, 222, 334, 335 Ars arengandi 17 Ars dictandi 17 Ars poetriae 17 Ars praedicandi 17, 18 Artes liberales 16, 17 Artikulation, doppelte 65, 66 Auctoritas 277–282, 306, 318 Aufführungsmanuskript siehe Original (originaux) Aufführungstext 45, 46, 48, 50–53, 58, 61, 73, 77, 78, 92 – imaginierter 51, 52, 58, 74, 77, 348, 363 Authentizität 2, 202, 282, 286, 305 Autor, impliziter 80, 82 Autoritätenkonflikt 281, 282, 305–308, 310, 313, 320 Autoritäts-Topos 274, 276, 282–286, 288–290, 292, 294, 295, 298–303, 305–308, 310, 311, 314, 318–321, 366 Autostereotyp 111, 119, 120, 324 Avaritia 136, 223, 226, 227 Ave Maria 316 Bedeutung – deontisch 88, 89 – emotional 66 – energetisch 66 – logisch 66 Bedeutungsbildung – Flächig 22, 84, 85, 100, 116, 363 – Punktuell 22, 84–86, 106, 298, 363 https://doi.org/10.1515/9783110740486-009

Bedeutungsebene – Immanent 84, 128, 144, 159, 180, 199, 251, 316, 329, 331, 349 – Rekonstruiert 84, 132, 139, 143, 144, 159, 174, 181, 199, 225, 251, 254, 316, 329, 331, 349, 358 Bedrohungskommunikation 79, 121, 176 Bedrohungsszenario 37, 121–124, 127, 173, 175, 237, 326, 364, 365 Bedrohungs-Topos 122, 124, 125, 145, 151, 175, 176, 229, 231, 233, 234, 272, 364 Bibeldrama 242, 246 Bildersturm siehe Ikonoklasmus Bildfeldforschung 96, 97 Bischofsstab 287 Blending theory 95 Buchdruck 5, 16, 236, 238, 239, 247 Bühnenplan 21, 44, 50, 56, 58, 195, 352, 354, 403 Calembour siehe Kalauer Compassio 154 Concordia 134, 135, 166 Confessio Augustana 260, 261 Confessio Gallicana 256–258 Confrérie siehe Spielbruderschaft Copie courante 57, 401, 403, 411, 412 Copie de luxe 57, 401, 406 Copie privée 56, 58 Crochet alinéaire 48 Cycle plays 10 Deiktika (deictic movements) 63, 68, 71 Dekoration 8, 20, 21, 91, 352, 355, 359, 360 Devotio moderna 317 Diablerie 147, 148, 151 Diaspora 177, 180 Didascalie 54 Dirigierrolle 30, 55, 58, 130, 404 Disputation 129, 130, 140, 142 Doctrina authentica 286 Dramentext 42, 45–52, 58, 59, 73, 77, 78, 287 Ecclesia-Synagoge-Motiv 131, 139, 166, 174 Ehe 251, 253, 254, 257

416 | Stichwortverzeichnis

Eigenkommentar 138, 160, 167, 173, 175, 180, 184, 208, 227, 251, 266, 270, 273, 308 Einzelrollentexte siehe Rollenauszüge Emblem 63, 64, 66, 68, 71, 72, 92 Enthymem 102, 103 Epilog 56, 83, 283, 292, 295, 324, 407 Epitext 52, 54, 58 Erbauungsliteratur 239 Fabliau 23 Fahnenbild 132, 174, 346–348 Fahnenlaut 342, 346, 348, 359 Fahnenwort 89, 90, 119, 120, 128, 144, 181, 199, 229, 251, 271, 326, 358 Farce 5, 23, 244, 245, 314 Fastnacht 241, 243 Fastnachtspiel 5, 23, 35, 124, 130, 139, 243, 244, 246, 258 Fegefeuer 249, 258, 259 Ferula 287 First speech miniatures 76, 287 Flugblatt 75, 90, 91, 108, 236, 237, 239, 245, 247, 254, 387 Flugschrift 236, 237, 239, 247, 258 Frame 22, 66, 122, 326, 328 Framing 1, 2, 18 Fremdkommentar 21, 147, 150, 166, 167, 169, 170, 173–175, 227, 230, 251, 252, 266, 269, 273 Gebärdensprache 62, 63, 65 Gegenreformation 238, 248 Geld 162, 173, 203, 218, 220–228, 231, 267, 308 Gemeindeprinzip 254, 255 Gesetzes-Begriff 127, 128, 133, 135, 137, 138, 143, 174, 184, 229, 249, 250 Geste – autonom 64 – redebegleitend 63, 64, 66, 73 Gleichheits-Topos 184, 226, 247, 250, 255, 268, 272 Habitualität 104, 105 Habitus 104, 253, 262–264, 268, 273 Haupttext 54 Heiligenverehrung 237, 260

Heilsgeschichte 121, 175, 211, 275, 284, 305, 364 Herrenfastnacht 243 Heterostereotyp 111, 119, 329 Histori 232, 289 Hochwertbild 287, 291, 295, 308, 319, 346, 348 Hochwertlaut 295, 301, 304, 314, 317, 319, 320, 340, 346, 359 Hochwertwort 90, 119 Hugenottenkriege siehe Religionskriege Hugenottenpsalter 241 Humanismus 17, 281, 282, 366 Humanistendrama 245 Ideograph 63, 71 Ikonographie 31, 77, 154, 286, 287, 334, 348 Ikonoklasmus 260 Illustrator 63, 64, 66, 71 Imagologie 112 Inadaequatio 337, 349, 360 In-group 325, 326, 333, 358 Inszenierungstext 45, 46, 48, 50, 52, 58, 59, 73, 78, 403 Intentionalität 81, 105, 106, 147 Interaktions-Theorie 94, 95 Interpretant 49–51, 78 Intertextualität 46 Introitus 265 Invidia 136 Isotopie 95, 167 Juden, rote 213 Judenfeindschaft siehe Antijudaismus, Antisemitismus Judenhut 140, 207 Kalauer 314 Kanzel 155, 235, 290–292, 295, 308, 319 Key sound 68 Kinetograph 63 Kirchenlehrer siehe Kirchenvater Kirchenlied 239 Kirchenvater 157, 168, 189, 197, 279, 280, 282–284, 286, 287, 289–291, 293, 300, 319 Kollektivsymbolik 95

Stichwortverzeichnis

Kommunikationsmodell 79, 81–83 Kommunikationsniveau – Extern (N4) 80–84 – Gesamtstruktur des Textes (N3) 80–84 – Intern (N1) 81, 83, 84, 298, 300, 302, 303, 320 – Vermittelnd (N2) 81–83, 283, 300, 303, 318, 319, 367 Komödie 43, 242, 245 Konfessionalisierung 5, 232, 234, 275, 414 Konkurrenz-Topos 125–127, 130, 132–138, 143, 145, 153, 174, 177, 229, 309 Kontrafaktur 240 Kontroverstheologie 234 Körpermanipulator (adaptor) 64, 71 Korpus 12, 23, 26, 27, 29, 32, 34, 36, 48, 58, 74, 76, 87, 92, 99, 122, 125–127, 153, 164, 173, 175, 181, 232, 249, 291, 369 Kostüm 20, 56, 91, 350 Kreuzstab siehe Ferula Legitimation 1, 17, 37, 274, 275, 283, 284, 295, 300, 304, 308, 309, 318, 320 Leitmotiv 69 Lesedrama 42, 206 Lesehandschrift 56, 58 Limbus 133, 302, 303 Liturgie 315, 338, 341 Livres des prologues 56, 58 Makrokosmos 356 Makrostruktur, textuelle 85, 86 Mansion 9, 195, 196, 352, 354, 355, 357 Märe 23, 56 Marienverehrung 317 Massenmedien 2–4, 16, 114 Memory image 75, 346 Memory scene siehe Memory image Meneur de jeu siehe Spielleiter Metapher, konzeptuelle 22, 93, 94, 96, 97, 159, 166, 168, 169, 171, 214, 324, 335–337, 345, 351, 359, 360, 363 Metapher, monomodal 98, 99, 345 Metapher, multimodal 98, 99, 159 Metaphernsystem 97, 166, 167, 169, 170, 175, 214, 336, 337, 359, 360 Metonymie 294, 296

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Mikrokosmos 356 Mikrostruktur, textuelle 85, 86 Miracle 43, 398 Mirakelspiel 23 Modal affordance 61, 363 Mode/Modalität 48, 59–62, 65, 66, 68, 70–74, 78, 91–93, 98, 99, 323 Mönchtum 237, 255 Moralität siehe Moralité Moralité 5, 25, 244, 245, 314 Multimodalität 44, 59, 60, 78 Mündlichkeit 47, 48 Nachspiel siehe Postludium Nebentext 21, 54, 129, 290, 291 Öffentlichkeit 1–5, 9, 366 Oral représenté 47 Oralität siehe Mündlichkeit Orientierungsmetapher 351, 352, 355, 360 Original (originaux) 53, 54, 56, 58, 401, 403, 407, 412, 414 Out-group 325, 329, 358 Papiste 252, 253 Papst 35, 237, 239, 243, 246, 248, 258, 280, 287 Papsttum siehe Papst Paratext 54 Parchons siehe Rôles Parodie 237, 240 Pasquill siehe Flugschrift Passions, grandes 28, 29, 53, 128, 132, 165 Pater noster 139, 316 Patristik 278, 318 Performative reading 77, 78 Peritext 54 Personifikation 129, 130, 132, 147, 190, 198, 215, 244, 297, 308, 342, 345 Persuasion 16, 36, 37 Persuasionsstrategie – axiomativ 37, 274, 275, 282, 318 – evaluativ-emotiv 37, 110, 118, 322–324, 357 – instruktiv 36, 37, 121, 175 Piktograph 63, 68, 71 Plakataffaire 239, 245

418 | Stichwortverzeichnis

Polemik 141, 235, 238, 239, 243–247, 254, 258, 264, 265, 309 Polysemie, ideologische 89, 180 Postludium 285, 298, 299 Potentialität 44, 52, 105, 106 Potestas 263, 277–280, 318 Prachthandschrift siehe Copie de luxe Präcursor 13, 83, 137, 150, 161, 289–292, 294, 295, 299, 324, 325, 329, 348 Prager Schule 46 Prälocutor siehe Präcursor Präludium 283, 289, 298 Predigt 16, 136, 165, 166, 205, 209, 210, 212, 214, 216, 235, 236, 239, 290, 292, 334, 366 Présentatif 186 Procès de paradis 132, 293, 306 Proclamator siehe Präcursor Prolog 56, 83, 167, 215, 216, 255, 275, 283, 290–292, 294, 295, 299, 326, 327, 358, 407 Propaganda 1–3, 235, 237, 245, 249 Propagandaspiel/Kampfspiel 243 Prophetenvorspiel 283, 288, 318, 319 Protestantismus 233, 247–249, 252, 253, 255, 262, 266, 269, 272, 408 Protestation von Speyer 233 Protocole/protocollum siehe Abrégé Prototyp 113 Prozessionsspiel 42 Publizistik 239 Puits d’enfer 342, 354 Purgatorium siehe Fegefeuer Rahmen, kommunikativ-pragmatischer 85, 86, 232 Ratio 279–281, 306, 314, 318 Rechtfertigungslehre 256, 257 Recueil siehe Sammelhandschrift Recueil factice 56 Reform, katholische 248 Reformation 5, 8, 17, 154, 231–235, 237, 240, 241, 243, 244, 254, 255, 261, 262, 269, 273, 275, 281, 282, 298, 366 Regiebuch siehe Dirigierrolle Regula fidei 278 Regulator 64, 66, 71 Religionskriege 245, 407

Repräsentamen 48–50, 78 Requisiten 20, 21, 91, 290, 359, 408 Rhetorik 16, 17, 100, 101, 107, 118, 152, 237, 280, 367, 385 Rôles 54, 58 Rollenauszüge 54, 58 Roman, arthurischer 336 Rondeau triolet 163 Sacre rappresentazioni 10 Sammelhandschrift 6, 56, 398–400, 402, 406, 409–411 Schaffhauser (Donaueschingen-Rheinauer) Typus 33, 284, 285, 296, 298, 318, 319, 331, 332, 398 Schlagbild 86, 91, 92, 119, 132, 143, 298, 363 Schlaggeste 86, 91, 92, 119, 169, 175 Schlaglaut 86, 91, 92, 119, 295, 298, 315, 340, 359, 363 Schlagwort 83, 86–92, 106, 128, 136, 143, 199, 223, 224, 250, 298 Scholastik 17, 281, 356 Schriftautorität 282, 294, 296, 298, 302, 317–319, 366 Schriftlichkeit 47 Schriftsinn, vierfacher 333 Semiotik 19, 22, 41, 46, 59, 61, 362 Silete 340, 341, 343, 344 Simultanbühne 8, 9, 42, 45, 74, 76, 91, 344 Sola fide 246, 256 Sola gratia 246, 256 Sola scriptura 264, 265 Solus Christus 260, 261 Sottie 5, 244, 245 Spielbruderschaft 6, 7, 399 Spielgruppe – Alemannische 30 – Hessische 30, 31 – Tiroler 30 Spielleiter 7, 55, 405 Sprachspiel 159 Stellvertreter-Topos 186, 187, 190, 193, 194, 204, 230 Stereotyp-Begriff 110, 111, 114, 115, 118, 119 Stereotypenforschung, historische 111 Stereotypisierung 116, 117, 322, 324, 332, 333, 336, 358, 366

Stichwortverzeichnis

Stigmabild 132, 139, 140, 149, 151, 174, 227, 309, 349, 360 Stigmageste 132, 169, 173 Stigmalaut 139, 174, 316, 344, 349, 359 Stigmawort 89, 90, 119, 128, 142, 144, 174, 181, 199, 225, 229, 251, 252, 269 Streitgespräch siehe Disputation Sukzessionsprinzip 45, 278, 281, 282, 295, 296, 317–319 Superbia 136 Symbolizität 105, 106 Synekdoche 127, 144, 183 System, kulturelles 18 Taktstockgeste 63, 66 Talmud 138, 139, 174, 309, 310 Teichoskopie 186 Textanalyse, kulturbezogene 21, 84 Textbegriff 44–46, 59 Textbücher, vollständige siehe Original (originaux) Texte de mise en scène siehe Inszenierungstext Textsemantisches Analyseraster 84, 85 Theater, reformatorisches 241–243 Theatertext siehe Dramentext Theaterwissenschaft 40, 46, 287, 362 Théâtre de plateau 7 Théâtre de tréteau 7 Tiara 287 Topik 100, 101, 104, 105 Topoi – Antijüdisch 123, 125, 173, 175, 229, 234, 249, 273, 328 – Antiprotestantisch 231, 233, 234, 237, 242, 273 – Kontextabstrakt 107, 108, 110, 276 – Kontextbasiert 108, 110, 123, 127, 174, 176, 178, 229, 250 – Material 101, 107 – Mesokontextbasiert 108, 110, 122–124, 145, 153, 174, 176, 178, 193, 201 Topos-Begriff – Literarisch-poetisch 101, 104 – Rhetorisch-argumentativ 101, 102, 104 Totenfresser 243, 258 Totenmesse 243, 258 Tragikomödie 245

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Tragödie 43, 81, 245, 246 Tridentinum 254, 282 Trivium 16, 17 Unterstreichungsgeste 63, 66, 71 Unwertlaut 342, 359, 360 Unwertwort 90, 119 Verkörperung 286, 295, 297, 301, 302 Verlierer-Topos 177, 178, 180–182, 184, 186, 208, 228, 229, 249 Visiotyp 114, 119 Visual gloss 76 Vorspiel siehe Präludium Werkidentität 41 Werkzeug-Topos 144–147, 150, 153, 174, 193, 197, 198, 230, 349 Wesensart-Topos 118, 151, 153, 162, 165, 166, 171–174, 201, 202, 228, 230, 269, 273 Wissen, diskursives 268 Wittenberger Kreis 154, 246 Zehnjungfrauenspiel 24 Zeichen – Akustisch 19, 21, 50, 51, 334 – Bildlich 49, 67, 74, 78, 91, 119, 169, 318, 336, 346, 352, 359, 360 – Gestisch 20, 21, 23, 70, 78, 99, 160, 167, 169, 184, 190, 192, 197, 227 – Kinesisch 20, 21, 188, 193, 196, 208, 224, 227, 230, 262, 272 – Künstlich 20, 62 – Mimisch 20, 21, 52 – Musikalisch 20, 21, 68, 93, 99, 336, 346, 357, 359, 360 – Natürlich 20, 62, 64 – Paralinguistisch 20, 21, 188 – Proxemisch 20, 21, 23, 74, 184, 186, 195 – Sprachlich (linguistisch) 19, 21, 50, 59, 66, 73, 74, 78, 83, 91, 98, 99, 167, 179, 196, 208, 226, 262, 272, 295, 318, 357, 362 Zeichenmodell 48, 49 Zeigegeste siehe Deiktika (deictic movements) Zeitungslied 240 Zölibat 254