Perspektivität von Freiheit und Determinismus: Zugleich eine philosophische Untersuchung zur Objektivierbarkeit des Strafrechts vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Forschung [1 ed.] 9783428552252, 9783428152254

Die Diskussion über die Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht dreht sich bislang um den stra

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Perspektivität von Freiheit und Determinismus: Zugleich eine philosophische Untersuchung zur Objektivierbarkeit des Strafrechts vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Forschung [1 ed.]
 9783428552252, 9783428152254

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Schriften zum Strafrecht Band 317

Perspektivität von Freiheit und Determinismus Zugleich eine philosophische Untersuchung zur Objektivierbarkeit des Strafrechts vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Forschung

Von

Ruben von der Heydt

Duncker & Humblot · Berlin

RUBEN VON DER HEYDT

Perspektivität von Freiheit und Determinismus

Schriften zum Strafrecht Band 317

Perspektivität von Freiheit und Determinismus Zugleich eine philosophische Untersuchung zur Objektivierbarkeit des Strafrechts vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Forschung

Von

Ruben von der Heydt

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Graduiertenkollegs „Bioethik“ (DFG-GRK 889) der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Philosophische Fakultät der Universität Rostock hat diese Arbeit im Jahre 2016 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-15225-4 (Print) ISBN 978-3-428-55225-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-85225-3 (Print & E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Martina von der Heydt

Vorwort Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich um die geringfügig über­ arbeitete Fassung meiner Doktorarbeit, die von der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock im Sommersemester 2016 als Dissertation ange­ nommen wurde. Ich möchte mich bei allen Personen bedanken, welche die Verwirklichung des Promotionsprojektes in unterschiedlicher Weise gefördert und begleitet haben. An erster Stelle danke ich besonders meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Heiner Hastedt für die vielfältige Unterstützung, die ich seit meiner Stu­ dienzeit von ihm erhalten habe. Bei Herrn Prof. Dr. Christian Thies bedanke ich mich sehr herzlich für die Förderung des Promotionsvorhabens und für die Anfertigung des Zweit­ gutachtens. Auch Herrn Prof. Dr. Ulrich Pothast und Herrn Prof. Dr. Michael Rosen­ berger gebührt Dank für ihre Bereitschaft zur Begutachtung der Dissertation. Diese Arbeit entstand zum Teil am DFG-Graduiertenkolleg 889 „Bio­ ethik“ des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Dabei wurde das Projekt von 2007 bis 2010 durch ein Promotionsstipendium der Deutschen Forschungs­ gemeinschaft gefördert. Dem Trägerkreis des Graduiertenkollegs „Bioethik“, insbesondere Frau Prof. Dr. Eve-Marie Engels, Frau Prof. Dr. Vera Hemleben und Herrn Prof. Dr. Thomas Potthast, danke ich für die Möglichkeit, die Untersuchungen zu meiner Doktorarbeit im Rahmen eines strukturierten Studien- und Ausbil­ dungsprogramms verfolgen zu können, sowie für den Druckkostenzuschuss zur Realisierung der Verlagspublikation. Während meiner „Tübinger Zeit“ wurde die Arbeit strafrechtlich von Herrn Prof. Dr. Dr. Dres. h. c. Kristian Kühl und neurowissenschaftlich von Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Niels Birbaumer betreut. Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Otfried Höffe danke ich für die Aufnahme in das Oberseminar und für seine Hinweise zu jenen Abschnitten der Arbeit, in denen die Philosophie Immanuel Kants im Vordergrund steht. Rostock, im Juli 2017

Ruben von der Heydt

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Die „neurobiologische Herausforderung“ für das Strafrecht . . . . . . . . . 13 II. Philosophie, Strafrecht, Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 III. Der Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht . . . . 26 I. Das Schuldprinzip des deutschen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 II. Die Theorie des Alternativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. „Du kannst, weil Du sollst!“ – Alternativismus als Anderswollen­ können auf kantischer Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Alternativismus als Andershandelnkönnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 III. Die Schuldunfähigkeit im deutschen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 IV. Die lebenswissenschaftliche Infragestellung von Freiheit und bewuss­ ter Selbststeuerbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Die Experimente zur Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Neurowissenschaftliche Kontexte der Experimente zur Willensfrei­ heit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Psychologische und kognitionswissenschaftliche Untersuchungen zur Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4. Begründungen für die Forderung nach einer Änderung des Straf­ rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 V. Eine Frage der Perspektive – Ansätze eines perspektivischen Zu­ gangs zur Freiheitsdebatte im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 B. Philosophie der Perspektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 I. Philosophiegeschichtliche Umrisse der Entwicklung perspektivischer Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 II. Systematische Überlegungen zur Perspektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 III. Ansätze für das Konzept der Perspektivendualität in der Erkenntnis­ theorie Immanuel Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Dualitäten in Kants Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Kants Theorie des inneren und des äußeren Sinnes . . . . . . . . . . . . . 67 a) Die Parallelitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 b) Das Primat des inneren Sinnes vom Standpunkt des Gesamt­ aufbaus der Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 c) Das Primat des äußeren Sinnes vom Standpunkt der Ästhetik  . 71 d) Innere Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 e) Empirisches und transzendentales Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

10 Inhaltsverzeichnis f) Zur Bedeutung der kantischen Theorie des inneren und äuße­ ren Sinnes für das Konzept der Perspektivendualität . . . . . . . . . 76 IV. Ansätze der Perspektivendualität in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 V. Die Dritte-Person-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 VI. Die Erste-Person-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Die Irreduzibilität der Ersten-Person-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Blickrichtungen der Ersten-Person-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht . . . . . . . . . 89 I. Strafrechtliche Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 II. Der Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Objektiver Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2. Subjektiver Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Strafrechtliche Handlungslehren und die Stellung des subjekti­ ven Tatbestands im Deliktssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 aa) Das klassische Verbrechenssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 bb) Das neoklassische Verbrechenssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 cc) Die Finale Handlungslehre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 dd) Die Bonner Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 b) Der Tatbestandsvorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 III. Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 IV. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Strafbegründungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2. Strafzumessungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 V. Die Doppelfunktion des Vorsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 VI. Gesinnungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Echte Gesinnungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Unechte Gesinnungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Halbe Gesinnungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 VII. Fazit der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 D. Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems . . 133 I. Mehrere-Welten-Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Die Zwei-Welten-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Die Drei-Welten-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 II. Monistische Positionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 III. Determinismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 IV. Die These der Determination menschlichen Denkens und Handelns . . 139 V. Freiheitstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2. Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Inhaltsverzeichnis11 E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem . . . . . . . . . . . . . . 150 I. Die Erkenntnistheorie Immanuel Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1. Das Programm der Erkenntniskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Verortung des Freiheitsthemas im Aufbau der Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 II. Kants Behandlung des Freiheitsthemas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Die „Freiheitsantinomie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 2. Empirischer und intelligibler Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3. Kants Auflösung der Freiheitsantinomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 III. Schwierigkeiten in Kants Umgang mit dem Freiheitsproblem . . . . . . . 167 IV. Methodischer Determinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Entwicklung des Methodischen Determinismus aus Kants Erkennt­ nistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Methodischer Determinismus in den Wissenschaften . . . . . . . . . . . . 176 3. Methodischer Determinismus in der Erklärung menschlichen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4. Dritte-Person-Perspektive und methodische Determination . . . . . . . 179 5. Der Zusammenhang von Zeit und methodischer Determination . . . 181 6. Postdiktive Verdichtungsdynamik in der Retrospektive . . . . . . . . . . 182 7. Konsequenzen des Methodischen Determinismus für das Strafrecht  183 8. Abgrenzung des Methodischen vom Metaphysischen Determinis­ mus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. Prädiktiver Determinismus als Vorausbestimmbarkeit . . . . . . . . . . . 187 2. Die Figur des „allwissenden Beobachters“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus auf personaler Ebene . . . . 191 a) Die intrapersonale Differenzierung in Beobachter und Be­ obachtetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 b) Epistemischer Prozess und phänomenales Erleben . . . . . . . . . . . 196 c) Subjektives Freiheitserlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 4. Vereinbarkeiten des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus . . . . . 199 5. Abwehr des Fatalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 6. Abgrenzung des Erkenntnistheoretischen vom Metaphysischen Indeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 VI. Die Gleichberechtigung der Perspektiven der ersten und der dritten Person in der Freiheitsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 VII. Zur Bedeutung des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus für das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 F. Das I. II. III.

Problem des Fremdverstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Die These der Perspektivenübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Das Privileg der ersten Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Theorien des Fremdverstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Der Beobachtungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

12 Inhaltsverzeichnis 2. Der Ansatz der „Theorie-Theorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Die Einfühlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Die Simulationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 IV. Möglichkeit und Grenzen des Fremdverstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 V. Die methodische Ausklammerung des Fremdpsychischen . . . . . . . . . . 242 VI. Theoriehaltigkeit aller Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 VII. Die Frage des Perspektivenwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht am Beispiel des Versuchs (§§ 22–24 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 I. Der Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 1. Subjektiver Versuchstatbestand (Tatentschluss) . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Objektiver Versuchstatbestand (unmittelbares Ansetzen) . . . . . . . . . 252 3. Rechtswidrigkeit und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4. Kritik an der subjektiven Versuchstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 5. Objektive Versuchslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 II. Der Rücktritt vom Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Beendeter und unbeendeter Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 a) Beendeter Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 b) Unbeendeter Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 2. Die „Freiwilligkeit“ des Rücktritts vom Versuch . . . . . . . . . . . . . . . 269 3. Ansätze für eine Objektivierung des Rücktritts vom Versuch . . . . . 272 Abschließende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

Einleitung I. Die „neurobiologische Herausforderung“ für das Strafrecht Die Hirnforschung belebt seit dem Aufkommen bildgebender Verfahren die altehrwürdige philosophische Debatte um die Willensfreiheit aufs Neue. Den Ausgangspunkt der gegenwärtigen Diskussion bilden hierbei die Ende der 1970er Jahre durchgeführten Experimente des amerikanischen Neuro­ physiologen Benjamin Libet.1 Die Ergebnisse dieser Untersuchungen schei­ nen eine Beschreibung des Menschen zu stützen, die Handlungen und mentale Zustände ausschließlich auf neuronale Ursachen zurückführt. Diese naturwissenschaftlich-deterministische Erklärung menschlichen Denkens und Verhaltens findet aber keinen unmittelbaren Anschluss an unser alltäg­ liches Selbstverständnis:2 „Natürlich wäre das nicht die erste naturwissen­ schaftliche Theorie, die auf diese Weise am Commonsense abprallt.“3 Im Strafrecht stellt sich das Problem der Willensfreiheit in besonderer Weise.4 Handelt es sich bei diesem Rechtsgebiet doch um denjenigen Teil der Rechtsordnung, in dem sanktionsbewehrte Reaktionen auf Regel­ verstöße reguliert werden – mit weitreichenden praktischen Konsequenzen. Hier werden die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die einzelnen Merk­ male des strafwürdigen Verhaltens festgelegt, Strafen angedroht und neben sonstigen Rechtsfolgen auch Maßregeln der Besserung und Sicherung ange­ ordnet.5 Trotz der exemplarischen Diskussion des Willensfreiheitsthemas für das Strafrecht sind die Untersuchungsergebnisse dieser Arbeit auch für andere gesellschaftliche Bereiche und benachbarte Disziplinen relevant, denn wo Strafe keinen Sinn ergibt, kann auch nicht sinnvoll gelobt, getadelt oder belohnt werden. Solche Verhaltensweisen wären dann grundsätzlich folgen­ los.6 Eine philosophische Reflexion über das Freiheitsthema berührt inso­ weit die Grundfrage nach dem Sinn aller zurechnenden Reaktionen über1  Vgl. Benjamin Libet: Mind Time – The Temporal Factor in Consciousness, Cambridge 2004. 2  Habermas, Freiheit 2004, S. 871. 3  Ebd., S. 872. 4  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 23. 5  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 3. 6  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 25.

14 Einleitung

haupt, von der Verübelung unkollegialen Verhaltens am Arbeitsplatz bis hin zu elterlichen Erziehungsmaßnahmen.7 Ein Freiheitsverständnis im Sinne einer grundsätzlichen „Möglichkeit zu“ ist als Prämisse nicht nur für die Zuschreibung von Verantwortlichkeit und die Legitimierung von Belohnungen oder Sanktionen grundlegend, sondern ebenso für die Formulierung einer jeden Ethik. Die Ethik als diejenige Dis­ ziplin, in der systematisch über die Regeln richtigen Handelns reflektiert wird, muss voraussetzen, dass Menschen ihr Verhalten so oder auch anders auszurichten imstande sind. Andernfalls verhielte sich eine Person zu ihrem eigenen und dem Handeln Anderer wie zu einem unbeeinflussbaren Natur­ vorgang. Dann aber wäre es auch inkonsistent, an eine solche Person An­ sprüche zu adressieren, denen sie aufgrund der unüberwindlichen Determi­ nation ihres Verhaltens nicht entsprechen kann. Das individuelle Anderskön­ nen ist eine notwendige Bedingung auch für die Möglichkeit von Ethik.8 Auf der extern-normativen Seite werden im Strafrecht Ver- und Gebote durch die Beschreibung der Zuwiderhandlung indirekt formuliert. Der Ge­ setzgeber beschreibt in einem Straftatbestand ein spezifisches Verhalten, das verboten oder gebotswidrig ist. Die in der Strafvorschrift des § 212 StGB (Totschlag) enthaltene Formulierung „wer einen Menschen tötet“ enthält unausgesprochen die Norm „Du sollst nicht töten!“.9 Die Verbotsnorm des § 242 StGB (Diebstahl) lautet „Du sollst nicht stehlen!“. Aus dem § 323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung) spricht die Gebotsnorm „Du sollst bei Unglücksfällen oder bei gemeiner Gefahr oder Not innerhalb zumutbarer Grenzen Hilfe leisten!“10 Für die Verwirklichung eines bestimmten Straftat­ bestandes wird eine spezifische Strafe angedroht.11 Hieraus ist erkennbar, dass der Gesetzgeber hinsichtlich wünschbarer Effekte von der normativen Determinierbarkeit menschlichen Verhaltens durch Sanktionsdrohungen aus­ geht. Im hier vertretenen Verständnis bedeutet Determinierbarkeit Offenheit für Faktoren unterschiedlicher Art, die ursächlich für bestimmte Wirkungen im menschlichen Verhalten sind. Es gibt eine Vielzahl denkbarer Determi­ nanten; solche, die innerhalb von Natur- und solche, die durch Sozialwis­ senschaften oder die Psychologie beschrieben werden, „harte“ wie „weiche“. Ginge man nicht von einer solchen grundsätzlichen Determinierbarkeit aus, dürfte man auch nicht hoffen, Verhalten durch die normative Androhung und den Vollzug von Strafen bestimmen zu können:

7  Pothast,

Unzulänglichkeit 1980, S. 27. S. 28. 9  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 75. 10  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 29. 11  Ebd. 8  Ebd.,



I. Die „neurobiologische Herausforderung“ für das Strafrecht15 „Vom hier vertretenen Standpunkt aus ist Schuld zu verstehen als unrechtes Han­ deln trotz normativer Ansprechbarkeit. Damit ist gemeint, dass die Schuld eines Täters zu bejahen ist, wenn er bei der Tat seiner geistigen und seelischen Verfas­ sung nach für den Anruf der Norm disponiert war, wenn ihm ‚Entscheidungsmög­ lichkeiten zu norm-orientiertem Verhalten‘ psychisch (noch) zugänglich waren, wenn die […] psychische Steuerungsmöglichkeit, die dem gesunden Erwachsenen in den meisten Situationen gegeben ist, im konkreten Fall vorhanden war. […] Wenn diese normative Ansprechbarkeit gegeben ist, gehen wir davon aus […], dass der Täter auch die Fähigkeit hat, sich normgemäß zu verhalten und sich schuldig macht, wenn er keine der ihm psychisch prinzipiell zugänglichen Verhaltensalternativen ergreift. (kursive Hervorhebungen vom Verf.)“12

An dieser Stelle könnten Freiheitstheoretiker sofort beklagen, dass mit einer solchen Auffassung Personen auf beeinflussbare Objekte reduziert würden, die nicht als „autonome Ersturheber“ ihrer eigenen Handlungen angesehen werden. Wenn eine Strafe oder Sanktion mit der Steuerung zu­ künftigen Verhaltens begründet wird, kann der Adressat dieser Reaktion nicht als verantwortlich im Sinne erstauslösender Urheberschaft seines Handelns gelten.13 Insofern muss das Strafrecht erstens von einer grundsätzlichen Ansprech­ barkeit des Menschen für den extern-normativen „Anruf der Norm“ ausge­ hen, die wohlgemerkt eine Offenheit für möglicherweise das Verhalten be­ stimmende Determinanten darstellt. Von Vertretern der normativen Lehre im Strafrecht wird oft behauptet, es handle sich bei der „normativen Ansprech­ barkeit“ nicht um eine unbeweisbare These, sondern um einen erfahrungs­ wissenschaftlichen Befund.14 Dies ist jedoch unzutreffend, da nicht feststeht, ob das normkonforme Verhalten der Menschen durch Normen motiviert wird. So besteht die neurowissenschaftliche „Provokation“ eben nicht in der Leugnung der Beobachtung, dass sich die meisten Bürger rechtskonform verhalten, sondern in der Frage, worauf normgetreues oder abweichendes Verhalten zurückzuführen ist.15 Zweitens ermöglicht die Fähigkeit zur Selbstdetermination im Sinne einer bewussten Selbststeuerung es dem Einzelnen, dem an ihn adressierten Norm­appell zu folgen und sein Verhalten mit der Rechtsordnung in Über­ einstimmung zu bringen.16 12  Roxin,

Strafrecht AT I 2006, S. 868. Einleitung 1988, S. 18. 14  Gegen eine solche Deutung wendet sich Achenbach, der verdeutlicht, dass es sich beim Andershandelnkönnen um die „externe“ Zuschreibung einer Fähigkeit handelt, die empirisch deshalb eben nicht nachgewiesen werden kann (Achenbach, Zurechnung 1984, S. 150). 15  Lindemann, Freiheit 2006, S. 350. 16  Mastronardi, Theorie 2006, S. 41. 13  Pothast,

16 Einleitung

Insofern ist Spilgies in seiner Diagnose zuzustimmen, dass die Hirnfor­ scher keine Scheindebatte inszenieren, indem sie einen „Pappkameraden“ aufstellen. Tatsächlich ist zutreffend, dass die Fähigkeit zu bewusster Selbst­ steuerung nach herrschender Meinung im Strafrecht für den Schuldvorwurf vorausgesetzt wird.17 Dass hierzu eine bewusst zu realisierende Möglichkeit, aber keine Not­ wendigkeit besteht, markiert den Kern des strafrechtlichen Freiheitsver­ ständnisses und liefert die Legitimation für eine Bestrafung ex post, wenn der Täter seine Handlungen nicht normgemäß verwirklichte. Über die Frage, inwiefern die der bewussten Handlungssteuerung vorgängige Willens- und Entscheidungsbildung das Ergebnis eines bewussten Deliberationsprozesses, eines stabilen Motivationsgeflechts oder eines mehr oder weniger konstan­ ten Charakters darstellt, vielleicht sogar völlig indeterminiert erfolgt, besteht hingegen in der strafrechtstheoretischen Diskussion kein Konsens. Einig ist man sich lediglich in der Feststellung, dass der Straftäter der Rechtsnorm entsprechend hätte handeln und die verbotene Tat hätte unterlassen können. Dass er gleichwohl die Straftat begangen hat, wird ihm vorgeworfen. Aus dem Spektrum möglicher Determinanten privilegiert das Strafrecht extern-normative und individuell-bewusste Ursachen menschlichen Verhal­ tens. Diese in der Neuzeit geprägte Idee mit dem „Herzstück“ der bewuss­ ten Selbststeuerung jedes Einzelnen bildet bis heute die theoretische Basis des kontinentaleuropäischen Rechts. Natürliche Erklärungen menschlichen Verhaltens werden hingegen im Strafrecht nur dann akzeptiert, wenn sie das Fehlen oder die Beeinträchti­ gung der normalerweise unterstellten Fähigkeit zu bewusster Selbststeue­ rung feststellen. Diese auch unsere Alltagsauffassung leitende Intuition wird in der gegenwärtigen Debatte seitens prominenter deutscher Neurobiologen wie Gerhard Roth und Wolf Singer in Frage gestellt und mit der Gegenthe­ se konfrontiert, dass alle bewusst empfundenen Entscheidungen und Hand­ lungen durch neuronale Prozesse bestimmt und auf physiologischer Ebene durchgängig kausal determiniert sind. In dieser Sichtweise bleibt dann kein Platz für eine bewusste Selbststeuerung.18 Im Hinblick auf den strafrecht­ lichen Verantwortungsbegriff stellt sich die wichtige Frage, ob ein normati­ ves Postulat auch dann weiterhin legitim ist, wenn es aus naturwissenschaft­ licher Perspektive evidenten empirischen Erkenntnissen widerspricht:19 „Damit wird dem Menschen aber eine Fähigkeit zugeschrieben, der nachzukom­ men er in Bezug auf die deliktische Tat tatsächlich nicht in der Lage war. Die 17  Spilgies,

Zwischenruf 2007, S. 161. Freiheit 2008, S. 76. 19  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 124. 18  Mohr,



I. Die „neurobiologische Herausforderung“ für das Strafrecht17 Zuschreibung konkreter Fähigkeiten oder Eigenschaften zu einem bestimmten Personenkreis als Kriterium der Verantwortlichkeit (oder auch des Ausschlusses der Verantwortlichkeit) gerade dieser Personen wirft ersichtlich sofort Legitimati­ onsprobleme auf, wenn die fragliche Fähigkeit oder Eigenschaft nicht nur bei dem spezifizierten Personenkreis, sondern auch bei allen anderen Personen fehlt.“20

Es stellt sich die Frage, warum nur Täter neuronal determiniert sein soll­ ten, die unter die Regelung des § 20 StGB fallen. Wenn sowohl schuldfähige als auch schuldunfähige Täter in ihrem Ver­ halten neuronal determiniert sind, ist es inkonsequent, gegen die einen den Schuldvorwurf zu erheben und gegen die anderen nicht.21 Da alle Straftäter gleichermaßen nichts für ihre Taten „können“, wäre das dem Strafrecht zugrunde liegende Schuldprinzip konsequenterweise aufzugeben.22 § 20 StGB zieht aber die Grenze genau dort, wo „harte“ Determination durch biologische Faktoren ins Spiel kommt. Nur dann nämlich geht der Gesetzgeber davon aus, dass der Täter nicht in der Lage war, sein Verhalten der Unrechtseinsicht gemäß auszurichten, was im Umkehrschluss bedeutet, dass diese Fähigkeit beim „normalen“ Täter unterstellt wird.23 Aus dieser Ungleichbehandlung in der Anwendung des § 20 StGB ergibt sich allerdings ein ungerechtes „Schuld-Paradoxon“: Je schwerer die Straftat, desto höher die Schuld. Je gravierender jedoch die begangene Tat ist, desto deutlicher tritt auch der Determinationsaspekt des Täters im Rahmen einer intensivier­ ten Begutachtung methodisch in den Blick.24 Auf der Grundlage dieses Befunds werden Forderungen erhoben, natur­ wissenschaftliche Erklärungen gerade nicht mehr nur in den Ausnahmefällen der §§ 20, 21 StGB zuzulassen, sondern als alleinige Erklärungsmuster grundsätzlich auf alle Straftäter auszuweiten. Die Konsequenz hieraus be­ stünde darin, im Strafverfahren nicht mehr von Fall zu Fall nach der „Reichweite“ der bewussten Selbststeuerbarkeit zu fragen, vielmehr ginge es um die grundsätzliche Infragestellung dieses „Vermögens“. Wenn nämlich der Täter nicht mehr nur ausnahmsweise, sondern in der Regel nicht rechtstreu handeln kann, verliert jeder hiergegen sich richtende Vorwurf seinen Sinn. Neurowissenschaftler „rütteln damit an dieser Grund­ feste strafrechtlicher Verantwortlichkeit.“25 „Die Neurowissenschaften blasen zum Angriff. Ihre Fanfare ist ein ‚neues Men­ schenbild‘. In ihm ist Willensfreiheit Illusion. Der Angriff richtet sich gegen das 20  Detlefsen,

Grenzen 2006, S. 339. S. 72. 22  Urbaniok / Hardegger / Rossegger / Endrass, Determinismus 2006, S. 118. 23  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 72. 24  Urbaniok / Hardegger / Rossegger / Endrass, Determinismus 2006, S. 118. 25  Schiemann, Willen 2004, S. 2056. 21  Ebd.,

18 Einleitung Strafrecht […]. Der Mensch ist in seinem Handeln nicht frei, Verantwortlichkeit für sein Tun auf der Grundlage von Freiheit neurophysiologisch gesehen Gespinst. Aus dieser Entdeckung entspringt ein ‚Plädoyer für die Abschaffung des Straf­ rechts‘. Man muss es wohl ernst nehmen.“26

Die aktuell diskutierten Forderungen laufen insoweit darauf hinaus, die Verantwortlichkeit für einen Fehlgebrauch der grundsätzlichen Fähigkeit zu bewusster Selbststeuerung als Basis des Strafrechts in Frage zu stellen und dieses durch ein Maßregelrecht zu ersetzen, das nicht an die Schuld, son­ dern an die Sozialgefährlichkeit des Täters anknüpft.27

II. Philosophie, Strafrecht, Neurowissenschaften Viele Strafrechtswissenschaftler reagieren auf die Herausforderungen von neurowissenschaftlicher Seite mit der Auffassung, das Freiheitsproblem sei unlösbar, für eine Legitimation des Strafrechts allerdings auch irrelevant. Den strafrechtlichen Commonsense in dieser Frage hat Werner Beulke in seinem weit verbreiteten Lehrbuch zum Ausdruck gebracht: „Da weder der Standpunkt des klassischen Indeterminismus mit dem Postulat ‚absoluter Willensfreiheit‘ noch die Gegenposition des Determinismus mit dem Erklärungsprinzip der ‚Kausalgesetzlichkeit‘ menschlichen Verhaltens (Verbrechen als zwangsläufiges Produkt von Anlage und Umwelt) wissenschaftlich exakt be­ weisbar sind, muss das Strafrecht sich mit der Erkenntnis zufrieden geben, dass das Prinzip der Verantwortlichkeit des sittlich reifen und seelisch gesunden Men­ schen eine unumstößliche Realität unserer sozialen Existenz ist. […] sicher ist [..], dass der Mensch diesen Antrieben nicht wehrlos ausgeliefert ist. Die Möglichkeit zur Verhaltenssteuerung beruht auf der Fähigkeit des Menschen, seine anlage- und umweltbedingten Antriebe zu kontrollieren und seine Entscheidung nach sozial­ ethisch verpflichtenden Normen und Wertvorstellungen auszurichten.“ […] Da die Naturwissenschaften weder den Beweis für noch gegen die Willensfreiheit erbracht haben, kann das Strafrecht nach wie vor das Anders-Handeln-Können dem eige­ nen System zugrundelegen.“28

26  Hillenkamp,

Strafrecht 2005, S. 313. Strafrecht AT 2008, S. 3. Nach dem System der „Zweispurig­ keit“ stehen neben den Strafen die Maßregeln der Besserung und Sicherung (Ebd., S. 3). Die Strafe blickt zurück auf die vergangene Tat und orientiert sich an der Schuld, während die Maßregel auf die Zukunft gerichtet ist und allein auf die künf­ tige Gefährlichkeit abstellt (Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 99). Da jedoch heute auch die Strafe präventive Zwecke verfolgt, spricht sich Roxin für ein zwischen der Ein- und Zweispurigkeit stehendes Sanktionensystem als treffendere Bezeichnung für das deutsche Strafrecht aus (ebd.). Nach den §§ 20, 63 ff. ist die Anordnung von Maßregeln auch bei fehlender Schuld zulässig (Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 3). 28  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 138 f. 27  Wessels / Beulke,



II. Philosophie, Strafrecht, Neurowissenschaften19

Die herrschende Meinung im Strafrecht erklärt damit das Freiheitspro­ blem für unlösbar und sieht eine weiterhin bejahende Antwort auf die Schuldfrage nicht gefährdet: „Die hier vertretene Auffassung, dass das Strafrecht sich im philosophischen und naturwissenschaftlichen Streit um die Willensfreiheit einer Stellungnahme enthalten kann, darf als die herr­ schende angesehen werden.“29 Die „Irrelevanzthese“ ist allerdings auch mit Blick auf die Legitimationsanforderungen eines modernen Rechtsstaats un­ befriedigend.30 Dem Strafrecht ist nicht gedient, wenn sich dessen Fachver­ treter mit Verweis auf die normative Eigenständigkeit ihrer Disziplin von der Diskussion für unabhängig erklären, denn auch die Begründungen für eine behauptete normative Unabhängigkeit des Strafrechts werden durch lebenswissenschaftliche Deutungsansprüche bei der Beurteilung mensch­ lichen Verhaltens gerade in Frage gestellt. Angesichts der „neurobiologi­ schen Herausforderung“ bedarf es vielmehr Anstrengungen zur Rechtferti­ gung normativer Fähigkeitszuschreibungen.31 Die Debatte um das Freiheits­ problem spielt für das Strafrecht in Wirklichkeit eine viel größere Rolle als gemeinhin angenommen wird. In jüngeren strafrechtlichen Arbeiten lassen sich inzwischen auch Töne vernehmen, die von der Neurobiologie erneut angestoßene Fragen nach der Plausibilität strafrechtlicher Grundannahmen ernst nehmen. Der Hamburger Strafrechtswissenschaftler Reinhard Merkel etwa beklagt die „schlafwandlerische Selbstsicherheit“ der Strafrechtsdog­ matik „im Umgang mit dem Grundbegriff der ‚willensgesteuerten Hand­ lung‘ “ und regt dazu an, wenigstens vorübergehend eine „aufgeweckte Skepsis“ walten zu lassen.32 Der Rechtswissenschaftler Eberhard Schmidt-Aßmann sieht zwar keine „automatische oder direkte ‚Folgepflicht‘, die eigenen Prämissen und Rechtsbegriffe zu korrigieren, wenn in anderen Wissenschaften neue – auch grundlegend neue – Erkenntnisse gewonnen werden“,33 andererseits dürfe sich „das Recht gegenüber Erkenntnisänderungen seiner naturalen oder so­ zialen Umwelt“ auch nicht völlig abschotten.34 Der Baseler Strafrechtler Kurt Seelmann kommt für das Strafrecht zu dem Ergebnis, dass über das Ausmaß der Berechtigung des Schuldvorwurfs „wie wir ihn mit Strafsank­ tionen erheben, unter dem Eindruck der Ergebnisse der modernen Hirnfor­ schung noch einmal gründlich nachgedacht werden“ müsse. „Nicht weil die Hirnforschung uns etwas gänzlich Neues zum Thema Verantwortung eröff­ 29  Roxin,

Strafrecht AT I 2006, S. 869. Determinismus / Indeterminismus 1999, S. 242. 31  Keil, Strafe 2009, S. 159. 32  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 87. 33  Schmidt-Aßmann, Willensfreiheit 2003, S. 78. 34  Ebd., S.  78 f. 30  Mohr,

20 Einleitung

net. […] Aber oft muss man eben etwas mehrmals hören, um darauf zu reagieren.“35 Selbst ein Strafrechtswissenschaftler wie Björn Burkhardt, der neurowis­ senschaftlichen Deutungsansprüchen im Feld des Strafrechts äußerst kritisch gegenübersteht, fordert dazu auf, sich angesichts der Grundsätzlichkeit der formulierten Thesen mit der Hirnforschung auseinanderzusetzen. Immerhin seien es namhafte Vertreter dieser Disziplin, die dem strafrechtlichen Schuldprinzip die Grundlage entziehen wollten.36 Die aus einem angenom­ menen Zutreffen der neurodeterministischen Grundthese abgeleiteten Kon­ sequenzen reichen bis hin zu der Auffassung, das Strafrecht als Ganzes sei hinfällig, sofern sich die Thesen der Neurowissenschaftler erhärten sollten: „Würde die moderne Hirnforschung den Beweis liefern, dass eine freie Entscheidung für das Recht und gegen das Unrecht nicht stattfinden kann, weil der Mensch determiniert ist, wäre dies das Ende des Strafrechts. Jede Bestrafung wäre rechtsstaatwidrig.“37 Auch der Heidelberger Strafrechtsleh­ rer Thomas Hillenkamp sieht das „Spiel der individuellen Verantwortungs­ zuschreibung“ im Strafrecht als vollständig beendet an, falls der Täter tat­ sächlich nicht anders handeln konnte als er es tat:38 „Ein Strafrecht, das – wie das unsere – hierauf beruht, wird damit so unterminiert, dass es zusammenfällt. […] Was lässt diese Botschaft der Hirnforscher vom Straf­ recht übrig? Von unserem geltenden, so wird man sagen müssen, beim Wort ge­ nommen, kaum etwas, vielleicht sogar nichts. Denn jedenfalls unsere sich eisern auf das Strafgesetzbuch und die Verfassung stützende Strafrechtspraxis […] knüpft die Sanktion der Strafe an persönliche Schuld. Wer sie leugnet, nimmt dieser Praxis die Basis.“39

Freilich sind Meinungen, die vor dem Hintergrund solcher weitreichender Konsequenzen für das Strafrecht eine aktive Auseinandersetzung mit neuro­ wissenschaftlichen Deutungsansprüchen einfordern, in der Minderheit.40 35  Seelmann,

Grundannahmen 2006, S. 102. Bemerkungen, S. 1. 37  Galen, Standpunkt 2006, S. 362. 38  Hillenkamp, Strafrecht 2005, S. 314 f. 39  Hillenkamp, Strafrecht 2005, S. 315. 40  Sofern sich die dogmatische Rechtswissenschaft überhaupt mit der Frage der Willensfreiheit beschäftigt, geschieht dies im Rahmen des Strafrechts (Schmidt-Aßmann, Willensfreiheit 2004, S. 72). Hillenkamp weist jedoch zutreffend darauf hin, dass die Willensfreiheit nicht nur dem Strafrecht, sondern auch dem Zivilrecht und dem Öffentlichen Recht zugrunde liegt, sofern man das Strafrecht nicht zum Öffentli­ chen Recht zählen möchte (Hillenkamp, Strafrecht 2005, S. 318, Fn. 33). Das Straf­ recht ist ein Teilgebiet des Öffentlichen Rechts, da es Beziehungen hoheitlicher Art zwischen Staat und Bürger regelt, (Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 4) sich je­ doch institutionell eigenständig entwickelt hat. Auch im Zivilrecht sind Begriffe wie „Handlungsfreiheit“ und „Verantwortung“ bedeutsam (Senn, Einführungsreferat 2006, 36  Burkhardt,



II. Philosophie, Strafrecht, Neurowissenschaften21

Eine Hauptursache für diesen Befund liegt in der mangelnden Kenntnis­ nahme aktueller Diskussionen der Gegenwartsphilosophie begründet. Dies führt unweigerlich dazu, dass zahlreiche Facetten der Problematik im Straf­ recht überhaupt nicht wahrgenommen werden.41 Merkel moniert die herme­ tische Abgeschlossenheit des Strafrechts gegenüber den Diskussionsständen und Forschungsergebnissen anderer Disziplinen, wie etwa zum Leib-SeeleProblem in der Philosophie und den Erkenntnissen der modernen neurobio­ logischen Forschung.42 Diese juristische „Abstinenz“ ist Symptom einer Diskrepanz zwischen der fachphilosophischen und der rechtstheoretischen Diskussion. Juristen rezipieren philosophische Debatten üblicherweise mit einer Zeitverzögerung von 15 bis 20 Jahren. Dieser Umstand mag auf einen „gewissen, von der Rechtsdogmatik auf die Rechtsphilosophie übertragenen Konservatismus“ und die Neigung vie­ ler Juristen zurückzuführen sein, „sich gegenüber anderen Disziplinen abzuschotten“.43 „Das alles darf als Mangel der bisherigen strafrechtlichen Diskussion vermerkt werden.“44 Im Feld der Philosophie erschweren zum einen je nach philosophischer Schule differierende Terminologien eine Rezeption in der Rechtswissen­ schaft. Zum anderen ist die in den theoretisch orientierten Disziplinen der Gegenwartsphilosophie oft zu beobachtende Tendenz, wenig Mühe in die Verdeutlichung praktischer Konsequenzen ihrer Theoriebildungen zu inves­ tieren, einem interdisziplinären Diskurs von Philosophie und Jurisprudenz abträglich.45 S. 22). Das Zivilrecht knüpft die Geschäftsfähigkeit und damit die Wirksamkeit von Willenserklärungen gem. §§ 104 Nr. 2, 105 BGB an den grundsätzlich vorausgesetz­ ten und nur in Ausnahmefällen ausgeschlossenen Zustand der freien Willensbestim­ mung (Czerner, Schuldbegriff I 2006, S. 70): Nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches ist geschäftsunfähig, „wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet“ (§ 104 Nr. 2 BGB). Das Gesetz geht also im Umkehrschluss ersichtlich davon aus, dass Men­ schen normalerweise zur freien Willensbestimmung fähig sind (Schmidt-Aßmann, Willensfreiheit 2003, S. 77). Die Willenserklärung, die auf diesem freien Willen ba­ siert, stellt einen Schlüsselbegriff dar, der sich durch das gesamte Privatrecht zieht, das als solches auf der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit basiert (Mastronardi, Theorie 2006, S. 40; Schmidt-Aßmann, Willensfreiheit 2003, S. 77). Die Lehre von den Willensmängeln, die eine Willenserklärung nichtig oder anfechtbar machen, (Schmidt-Aßmann, Willensfreiheit 2003, S. 77) muss sowohl Willensbildung als auch Willensäußerung notwendig voraussetzen (Mastronardi, Theorie 2006, S. 40). 41  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 9. 42  Ders., Handlungsfreiheit 2005, S. 414. 43  Hilgendorf, Naturalismus 2003, S. 88. 44  Merkel, Handlungsfreiheit 2005, S. 414. 45  Hilgendorf, Naturalismus 2003, S. 88.

22 Einleitung

Beiden Defiziten möchte die vorgelegte Arbeit durch die Klärung perspektivischer Begrifflichkeit und der Anwendung des perspektivischen Zugriffs auf das Strafrecht entgegenwirken.

III. Der Gang der Untersuchung Die Arbeit beginnt in Kapitel A. „Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht“ mit einer Erörterung grundlegender Begriffe, Annahmen und Probleme des deutschen Strafrechts wie dem strafrechtli­ chen Schuldprinzip und den unterschiedlichen Spielarten der Theorie des Alternativismus, um anschließend die bisher dominierende Verlaufslinie der Diskussion um die Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschungser­ gebnisse für das Strafrecht nachzuzeichnen, die vor allem entlang der straf­ rechtlichen Regelungen zur Schuldunfähigkeit und zur verminderten Schuldfähigkeit verläuft. Die „neurobiologische Herausforderung“ für das Straf­ recht wird unter Rückgriff auf die Experimente zur Willensfreiheit von Benjamin Libet über Haggard und Eimer bis hin zu John-Dylan Haynes dargestellt und durch weitere neurobiologische, psychologische sowie kog­ nitionswissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Determination des menschlichen Denkens, Fühlens und Verhaltens kontextualisiert. Kapitel A. schließt mit Ausführungen zu konkreten neurowissenschaftlich begründeten Änderungsvorschlägen hinsichtlich des Strafrechts und der Darlegung pers­ pektivischer Anklänge in der Debatte um die Willensfreiheit, die sich im Strafrecht bereits finden lassen. Sie markieren den Übergang zu Kapitel B. „Philosophie der Perspektivität“, das sich der perspektivischen Begriffs­ schärfung widmet. Hierfür bildet die Erkenntnistheorie Immanuel Kants als die große pers­ pektivische Theorie der Neuzeit die entscheidende philosophische Referenz­ größe dieser Arbeit. Damit ist der Fokus der philosophischen Überlegungen primär auf diejenigen Strukturen gerichtet, die wir in die Welt hineinlegen, auf „unseren Anteil“ am Erkenntnisprozess. In Kapitel B. wird Kants The­ orie des inneren und des äußeren Sinnes als eine perspektivenduale Konzep­ tion gedeutet. In der Herleitung des Konzepts der Perspektivendualität liegt ein Schwerpunkt auf der Diskussion der Vorrangig- bzw. Nachrangigkeit der Erkenntnisperspektiven der ersten und der dritten Person. In Kapitel C. „Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht“ werden strafrechtliche Regelungen auf ihre philosophischen (insbesondere erkenntnistheoretischen) Annahmen hin auch im Detail überprüft, denn: „Die Rezeption neuer Erkenntnisse folgt [..] keinem einfachen linearen Modell. Notwendig ist vielmehr, die unterschiedlichen Regelungskontexte Punkt für Punkt daraufhin zu prüfen, inwieweit sie notwendig auf die Vorstellung von einem frei­



III. Der Gang der Untersuchung23 en Willen gegründet sind und durch Erkenntnisfortschritte der Neurowissenschaf­ ten beeinflußt werden. Dieser Prozeß erfordert viele An- und Rückfragen.“46

Die Auffassung vom menschlichen Geist als Steuerungsinstanz durchzieht das gesamte Strafrecht mit seinem mindestens impliziten Handlungs- und Vermeidungsbegriff und der subjektiven Seite der Deliktsprüfung. Diese Meinung wird durch neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse in Frage gestellt, die die Abhängigkeit des subjektiven Denkens und Erlebens von vorgängigen neuronalen Prozessen zu belegen scheinen.47 Das Problem der von Neurowissenschaftlern bestrittenen Möglichkeit bewusster Selbststeuerung stellt sich im Strafrecht als Frage des Verhältnisses des Subjektiven zum Objektiven dar; die Subjekt-Objekt-Unterscheidung ist für das Strafrecht konstitutiv:48 „Tatsächlich ist dem heutigen Strafrecht eine Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Sachverhalten und Umständen immanent.“49 So sind die Bearbeiter strafrechtlicher Fälle auch immer aufgefordert, für die Prüfung der „subjektiven Seite“ die Täter­ perspektive „einzunehmen“, um das „Vorstellungsbild“ des Täters zu rekon­ struieren: „Der Sachverhalt ist so zu schildern, als hätte der Urteilsschreiber ihn als Augenzeuge miterlebt. Dazu muss er sich in die Stellung des Ange­ klagten versetzen und angeben, was der Angeklagte wollte und was er bei der Tat dachte.“50 Von dieser grundsätzlichen Subjekt-Objekt-Differenzie­ rung sind die strafrechtlichen Zurechnungslehren ebenso betroffen wie die Dogmatik der Straftatbestände des Besonderen Teils des StGB.51 „Das dogmatische Konstrukt des subjektiven Tatbestandes […] steht im Lichte der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse […] unter dem Generalverdacht, Teil einer überkommenen Auffassung vom Geistigen in einer natürlichen Welt zu sein. Es kann unsere Vorstellung von der Weise, wie das, was wir wissen und wollen, unser Handeln bestimmt, nicht unbeeindruckt lassen, […] dass, was der Handeln­ de weiß oder will, womöglich von Faktoren abhängt, die sich systematisch seiner Kenntnis entziehen. […] Können wir unseren herkömmlichen Begriff des Vorsat­ zes im Sinne der Formel vom Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung immer noch verwenden, ohne uns dem Verdacht der wissenschaftlichen Naivität oder gar dem Vorwurf des Irrtums auszusetzen?“52

Insoweit lässt sich philosophisch betrachtet die „neurobiologische He­ rausforderung“ für das Strafrecht in die Frage nach einer Objektivierbarkeit des Strafrechts im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung drittperspek46  Schmidt-Aßmann,

Willensfreiheit 2003, S. 79. Grenzen 2006, S. 336. 48  Bung, Wissen 2009, S. 109. 49  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 131. 50  Melzer, Aufbau 2008, S. 880. 51  Bung, Wissen 2009, S. 109. 52  Ebd., S.  60 f. 47  Detlefsen,

24 Einleitung

tivischer Maßstäbe überführen. Auf der Basis dieses Befunds und mithilfe des begrifflichen „Rüstzeugs“ aus Kapitel B. wird in Kapitel C. das Straf­ recht in den Blick genommen. Im Mittelpunkt der Untersuchung dieses Kapitels steht die Frage nach der Bedeutung subjektiver und objektiver Elemente für das derzeitige Strafrecht, die unter Bezugnahme auf Annah­ men kognitiver und volitiver Fähigkeiten, auf das systematische Verhältnis von Unrecht und Schuld sowie auf die grundsätzliche Rolle subjektiver Merkmale auch hinsichtlich der Dogmatik exemplarisch ausgewählter De­ likte beantwortet wird. Der philosophisch geschulte Blick richtet sich in diesem dritten Kapitel mittels einer sehr basalen Perspektive bewusst in erster Linie auf das Strafrecht der juristischen Ausbildung. Eine erschöpfen­ de Darstellung sämtlicher Streit- und Diskussionsstände der Strafrechtswis­ senschaft wäre hier weder wünschenswert noch funktional. Es geht gerade darum, vermeintliche Selbstverständlichkeiten der strafrechtlichen Ausbil­ dung weniger aus strafrechtswissenschaftlicher (und damit einzelwissen­ schaftlicher) Sicht zu betrachten, als vielmehr um eine erkenntnistheoretisch informierte, noch grundsätzlichere Untersuchungsperspektive auf die in strafrechtlichen Lehrbüchern vermittelten Inhalte. Mit Blick auf das Konst­ rukt des subjektiven Tatbestands wird auch eine stärker strafrechtshistori­ sche Sicht eingenommen und die Entwicklung strafrechtlicher Handlungs­ theorien nachgezeichnet. In Kapitel D. „Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems“ erfolgt auf der Basis der Darlegung ontologischer (dualistischer und monistischer) Auffassungen zunächst eine Auseinandersetzung mit gängigen Vorschlägen zum Umgang mit dem Frei­ heitsproblem. Angesprochen werden hier die ontologische DeterminismusThese und im Feld der Freiheitstheorien der kompatibilistische Standpunkt der Handlungsfreiheit sowie Positionen der Willensfreiheit. In Abgrenzung zu diesen Ansätzen wird in Kapitel E. „Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem“ auf der Grundlage des in Kapitel B. erarbeiteten perspek­ tivischen Rahmens ein Vorschlag zum Umgang mit dem Freiheitsthema entwickelt, der zwei Theorien, die bislang unverbunden nebeneinanderstan­ den, miteinander kombiniert und essentialistische Deutungen umgeht. Hier­ für wird Kants Freiheitstheorie zunächst in den Aufbau der Kritik der reinen Vernunft eingeordnet und anschließend kritisch diskutiert. Aus der Ausein­ andersetzung mit Kants Erkenntnistheorie wird für die Freiheitsdebatte der Methodische Determinismus gewonnen, zu dem der Erkenntnistheoretische Indeterminismus, wie er u. a. von Max Planck vertreten wurde, hinzutritt. Da die Einheitlichkeit einer für alle Erkenntnissubjekte gleichermaßen an­ zunehmenden epistemischen Freiheit auf die Ebene spezifischen, erstpers­ pektivischen Wissens nicht überführbar ist, stellt sich das insbesondere im strafrechtlichen Kontext brisante „Problem des Fremdverstehens“, das in Kapitel F. unter Rückgriff auf Überlegungen philosophischer Klassiker des



III. Der Gang der Untersuchung25

20. Jahrhunderts u.  a. von Edmund Husserl, Alfred Schütz und Rudolf Carnap sowie in Auseinandersetzung mit Positionen der zeitgenössischen Theorie des Geistes diskutiert wird. Aus den Ergebnissen dieser philosophi­ schen Untersuchungen werden Konsequenzen für die im Strafverfahrens­ recht wichtige Frage nach der praktischen Feststellbarkeit von Tätervorstel­ lungen im Strafprozess abgeleitet. In Kapitel G. steht auf der Basis der durchgeführten Analysen zum Fremdverstehen die Diskussion von Objekti­ vierungsmöglichkeiten auch für das materielle Strafrecht anhand der straf­ rechtlichen Regelungen zum Versuch (§§ 22–24 StGB) im Vordergrund. In den Abschließenden Betrachtungen wird der Blick nochmals erweitert, in­ dem die Ergebnisse des entwickelten perspektivischen Ansatzes zu kommu­ nikationstheoretischen Zugängen zum Freiheitsproblem u.  a. von Jürgen Habermas ins Verhältnis gesetzt werden. Am Ende der Arbeit steht die Beantwortung der Frage nach einer Objektivierbarkeit des Strafrechts.

A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht I. Das Schuldprinzip des deutschen Strafrechts Am 18. März 1952 fasste der Große Senat für Strafsachen des Bundes­ gerichtshofes „zur Fortbildung des Rechts zu [..] Fragen von grundsätzlicher Bedeutung“1 einen Beschluss, der sich für die weitere Entwicklung des deutschen Strafrechts als folgenreich erweisen sollte. In der Entscheidung heißt es: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung an­ gelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden […]. Wer weiß, daß das, wozu er sich in Freiheit entschließt, Unrecht ist, handelt schuldhaft, wenn er es gleichwohl tut.“2

Zwar wird in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB die Schuld des Täters als Grundlage für die Zumessung der Strafe bestimmt. Dennoch bleibt das deutsche Straf­ gesetz eine genaue Bestimmung dessen schuldig, was unter dem Begriff der „Schuld“ strafrechtlich zu verstehen ist. Vor diesem Hintergrund kommt der positiven Bestimmung der Schuld in dem mittlerweile „klassisch“ zu nen­ nenden obigen Beschluss des Bundesgerichtshofes umso größere Bedeutung zu.3 Mit dem kategorischen Bekenntnis zum Schuldprinzip als dem „unan­ tastbaren Grundsatz allen Strafens“4 hat der Bundesgerichtshof ein „hartes“ Rechtsprinzip formuliert, das selbst über eine Abwägung nicht hinter ande­ re Rechtsprinzipien zurücktreten kann.5 Ende der 1950er Jahre erkannte dann auch das Bundesverfassungsgericht in einer seitdem ständigen Recht­ sprechung die Aufnahme des Schuldprinzips in die Garantien des Grundge­ 1  BGHSt

2, 194 (194). 2, 194 (200 f.). 3  Roth / Lück / Strüber, Gehirn 2006, S. 105. 4  BGHSt 2, 194 (202). 5  Neumann, Schuldlehre 2000, S. 83. 2  BGHSt



II. Die Theorie des Alternativismus27

setzes an, insbesondere im Zusammenhang mit der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip.6 Auf diese Weise wurde das Schuldprinzip vom Bundesverfassungsgericht auch positivrechtlich als Verfassungsprinzip etabliert und unterliegt seitdem der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG:7 „Ein solcher strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld voraus. Andernfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip un­ vereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat. Die strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist demnach rechtsstaatswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG […].“8

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes besitzt der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ (keine Strafe ohne Schuld) Verfassungsrang. Eine Strafe ohne Vorwerfbarkeit und ohne Schuld wäre eine mit dem Rechts­ staatsprinzip unvereinbare Vergeltung für etwas, das der Betroffene nicht zu verantworten hat.9 Am „Urbeschluss“ des BGH von 1952 hält die deutsche Rechtsprechung bis heute fest. Die Senatsentscheidung geht in ihrem Passus über Schuld und Verantwortlichkeit bis in die konkrete Wortwahl hinein auf den Rechts­ philosophen und Strafrechtler Hans Welzel zurück, der seinerseits dem Neukantianismus Nicolai Hartmanns nahe stand.10

II. Die Theorie des Alternativismus Die Entscheidung des BGH von 1952 vermengt zwei Ebenen, die in der philosophischen Tradition für die Behandlung des Freiheitsthemas differen­ ziert werden. In der Formulierung „[…] und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, […]“11 nimmt der Senat auf die Willensebene Bezug, während die Fortführung des Satzes „[…] sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden […]“12 etwas über die Handlungs- bzw. 6  Schünemann,

Funktion 1984, S. 154. Schuldlehre 2000, S. 83. 8  BVerfGE 20, 323 (331). 9  Galen, Standpunkt 2006, S. 362. 10  Vgl. Hans Welzel: Das neue Bild des Strafrechtssystems – eine Einführung in die finale Handlungslehre (4. Aufl.), Göttingen 1961. Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S.  327 ff.; Stuckenberg, Willensfreiheit 2009, S. 12. 11  BGHSt 2, 194 (200). 12  Ebd. 7  Neumann,

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

Verhaltensebene aussagt. Das Anderskönnen muss philosophisch separat für die Willens- und für die Handlungsebene diskutiert werden. 1. „Du kannst, weil Du sollst!“ – Alternativismus als Anderswollenkönnen auf kantischer Grundlage „Voraussetzung des Schuldprinzips ist die Willensfreiheit des Menschen. Denn nur, wenn er sich frei zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann, ist es sinn­ vollerweise möglich, ihm einen persönlichen Vorwurf zu machen und Strafe zu verhängen.“13 „Schuld ist Vorwerfbarkeit der Willensbildung. Der Täter hätte statt des rechtswidrigen Handlungswillens […] einen normgemäßen Handlungswillen bilden können. Alle Schuld ist demnach Willensschuld. Nur das, wofür der Mensch willentlich etwas kann, kann ihm zur Schuld vorgeworfen werden. […] Der Schuldvorwurf setzt also voraus, daß der Täter seinen rechtswidrigen Handlungsentschluß richti­ ger, normgemäß hätte bilden können […].“14

Diese beiden Aussagen von Strafrechtlern konstatieren für das Strafrecht einen engen Zusammenhang von Wille und Schuld. Haben sie recht, muss sich ein am Schuldprinzip orientiertes Strafrecht mit dem Problem der Wil­ lensfreiheit auseinandersetzen.15 Auf der Willensebene fragt die Theorie des Alternativismus nach der Möglichkeit der Steuerbarkeit der Willensbildung, also danach, ob wir auch anders wollen können.16 Unschwer ist zu erkennen, dass hinter den Formulierungen des BGH-Beschlusses, welche auf die Wil­ lensebene Bezug nehmen, die philosophische Tradition des Kantianismus steht. Das Argument von der „Überdetermination“ des Könnens durch das Sollen geht auf Kant zurück. Vernunft, intelligibler Charakter und Moral hän­ gen in Kants Denken eng miteinander zusammen. Der intelligible Charakter des Menschen ist sowohl Charakter der Vernunft als auch moralischer Cha­ rakter. Bereits in der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant die moralische Problematik an, die er in seiner praktischen Philosophie zu entfalten sucht.17 Schon hier finden sich entsprechende Termini wie „Sollen“ und „Imperativ“.18 Im Unterschied zum Wollen, das nach Kant mit sinnlichen Anreizen19 oder anderen sinnlichen Motiven „verunreinigt“ ist, drückt sich im Sollen 13  Haft,

Strafrecht AT 1998, S. 121. Bild 1961, S. 45. 15  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 408. 16  Lindemann, Freiheit 2006, S. 346; Spilgies, Bedeutung 2004, S. 33 f. 17  Kawamura, Spontaneität 1996, S. 174. 18  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 575. 19  Ebd., B 576. 14  Welzel,



II. Die Theorie des Alternativismus29

gänzlich unabhängig von sinnlichen Motiven „[…] eine Art von Notwendig­ keit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.“20 Kant verbindet das Verhältnis des Willens zum Sollen mit einer Graduierung von Freiheit.21 Er geht davon aus, dass auf der Willens­ ebene die menschliche Willkür jeden Beweggrund der Sinnlichkeit abweisen und sich von einem solchen distanzieren könne.22 Hierbei handelt es sich um das bereits angesprochene Anderswollenkönnen. Je nach Reichweite moralischer Vorstellungen sind demnach unterschiedliche Stufen der Frei­ heit zu differenzieren, die den Einfluss der affizierenden Sinnlichkeit zuneh­ mend beschneiden. Auf der tierischen Stufe ist die Freiheit „durch Beweg­ ursachen der Sinnlichkeit“ genötigt (arbitrium brutum).23 Bei der mensch­ lichen Freiheit, der „Freiheit im praktischen Verstande“, ist die Freiheit zwar nicht von Antrieben der Sinnlichkeit unabhängig, aber immerhin von deren „Nötigung“ (arbitrium sensitivum),24 was bedeutet, dass die nachfol­ gende Handlung nicht ausschließlich aus der Sinnlichkeit hervorgeht. Sie ist vielmehr, positiv bestimmt, eine „freie Willkür“ (arbitrium liberum),25 die sich durch Vorstellungen des Guten und Nützlichen, denen Kant gleichzeitig den Status „objektiver“ Gesetze der Freiheit beilegt, bestimmen lassen kann.26 Freiheit ist in Kants Verständnis etwas, das an das einzelne Subjekt und an die von diesem immer wieder neu zu erbringende eigene Leistung gebunden wird.27 Wir wissen, so Kant, dass Sollensansprüche an uns gerich­ tet werden, denen wir entsprechen müssen. Da wir dem Kategorischen Imperativ zu gehorchen haben, ist Freiheit denknotwendig vorauszusetzen.28 Jeder, der das Moralgesetz auf der Basis eines Könnens, nicht Müssens, als verbindlich anerkennt, beweist damit zugleich die Wirklichkeit der Willens­ freiheit. Denn sobald das Moralgesetz anerkannt wird, ist Freiheit nicht mehr nur negativ bestimmt als Unabhängigkeit von Zwängen, sondern po­ sitiv als Selbstbestimmung.29 Wenn jemand den Entschluss fasst, den Kate­ gorischen Imperativ anzuerkennen, stellt sich ihm die Frage überhaupt nicht mehr, ob er auch faktisch dazu in der Lage ist. Die Begründungsrichtung für die eigentlich unmittelbar einleuchtende Auffassung, was zu tun unmöglich sei, könne auch nicht gefordert werden, kehrt Kant um. Die übliche 20  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 575; Kawamura, Spontaneität 1996, S. 175. Legitimität 2007, S. 363. 22  Kawamura, Spontaneität 1996, S. 173. 23  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 562. 24  Ebd. 25  Ebd. 26  Ebd., B 830; Höffe, Kritik 2004, S. 251. 27  Kelker, Legitimität 2007, S. 363. 28  Rohs, Gedanken 1986, S. 220. 29  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 108. 21  Kelker,

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

Deutung des von Kant umgekehrten Ausgangssatzes lautet dagegen, dass die Befolgung einer Norm nur dann gefordert werden darf, wenn der Adressat überhaupt dazu in der Lage ist, sein Handeln an ihr auszurichten. Die Umkehrung dieses Satzes bildet Kants Diktum „Du kannst, weil Du sollst!“.30 „Die Form des kategorischen Imperativs ist ein unbedingtes: ‚Du sollst‘. Stellt man die Frage nach dem Warum des Sollens, so antwortet die praktische Vernunft: Das Sollen ist Selbstzweck. Du sollst, weil du eben sollst. Von dieser Art ist der ‚Imperativ der Sittlichkeit‘.“31

„Er urteilet also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“32 So geht auch der BGH davon aus, dass ein fehlendes Können teilweise durch ein gegenwärtiges oder vergangenes Sollen kompensiert werden kann. In der oben zitierten Leitentscheidung des BGH aus dem Jahre 1952 wird die Vorwerfbarkeit einer Tat, die in einem „verschuldeten Verbotsirrtum“ begangen wurde, nicht mit der tatsächlichen Möglichkeit einer Unrechtseinsicht begründet (die Unmöglichkeit hierzu wird durchaus zugestanden), sondern mit der Pflicht des Menschen, seine Handlungen stets daraufhin zu überprüfen, ob sie „mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang“ stehen:33 „Der Mensch ist, weil er auf freie, sittliche Selbstbestimmung angelegt ist, auch jederzeit in die verantwortliche Entscheidung gerufen, sich als Teilhaber der Rechtsgemeinschaft rechtmäßig zu verhalten und das Unrecht zu vermeiden. Die­ ser Pflicht genügt er nicht, wenn er nur das nicht tut, was ihm als Unrecht klar vor Augen steht. Vielmehr hat er bei allem, was er zu tun im Begriff steht, sich bewußt zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang steht. Zweifel hat er durch Nachdenken oder Erkundigung zu beseitigen. Hierzu bedarf es der Anspannung des Gewissens […].“34

Unzweideutig ist hier das kantische „Du kannst, weil Du sollst!“ erkenn­ bar.35 Der BGH liefert mit diesen „starken ontologischen Behauptungen“36 eine klassisch-kantische Begründung für den staatlichen Strafanspruch.37

30  Keil,

Strafe 2009, S. 163 f. Kant 1969, S. 222. 32  Kant, KpV 2003 (1788), A 54. 33  Neumann, Schuldlehre 2000, S. 84. 34  BGHSt 2, 194 (201). 35  Stuckenberg, Willensfreiheit 2009, S. 10. 36  Neumann, Schuldlehre 2000, S. 85 f. 37  Lindemann, Freiheit 2006, S. 345. 31  Kaulbach,



II. Die Theorie des Alternativismus31

• Probleme der Theorie des Anderswollenkönnens Kants These des Sollen-Können-Zusammenhangs steht der alte römische Rechtssatz ultra posse nemo obligatur – „Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet.“ gegenüber.38 Von einer Person kann nur das rechtlich eingefordert werden, wozu sie auch tatsächlich, nicht nur qua Sollens-Zu­ schreibung, befähigt ist.39 Demnach ist es nicht zulässig, von jemandem etwas zu verlangen, zu dem er faktisch nicht in der Lage war. Konnte je­ mand nicht anders, kann hieraus auch kein Vorwurf gegen die Person abge­ leitet werden.40 Außer in begründungstheoretischer Hinsicht wäre eine Vorhaltung an jemanden, der eine bestimmte Willensbildung nicht realisie­ ren kann, auch ganz pragmatisch sinnlos: Eine bestimmte Willensbildung wird nicht dadurch gefördert, dass man einer Person, die überhaupt nicht anders wollen konnte, Vorhaltungen macht.41 Angesichts des BGH-Beschlusses muss der Wortlaut des § 2 StVollzG verblüffen, in dem es heißt: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefan­ gene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straf­ taten zu führen (Vollzugsziel) (kursive Hervorhebung durch den Verf.).“42 In der Tat ist nicht zu sehen, warum der Täter nach dem Strafvollzugsgesetz zu etwas befähigt werden soll, das ihm zuvor im Schuldspruch attestiert wurde. In einem auf der Fähigkeit zu bewusster Selbststeuerbarkeit gegrün­ deten Strafrecht ist es widersprüchlich, mittels des Strafvollzugs erst eine Fähigkeit des Täters herbeiführen zu wollen, welche für den vorherigen, zum Strafvollzug führenden Schuldspruch bereits die Legitimationsbasis bildete. Die Befähigung von Straftätern zu rechtstreuer Willensbildung kann im Strafvollzug nur dann angestrebt werden, wenn die für den Schuldspruch unterstellte Fähigkeit zu bewusster rechtstreuer Willenssteuerung zuvor eben nicht grundsätzlich angenommen wurde. Es ist nicht nachvollziehbar, wieso ein Täter, der die Anlage zur freien und sittlichen Selbstbestimmung besitzt,43 einer sozialen Determination qua Erziehung und Resozialisierung bedürfen sollte. Als voll verantwortliches Wesen, das durch strafbares Ver­ halten Schuld auf sich geladen hat, wird der Täter alle denkbaren negativen (z. B. Sozialisationsdefizite in Kindheit und Jugend) wie positiven (etwa Resozialisierungsmaßnahmen im Strafvollzug) Sozialdeterminanten mittels seiner Fähigkeit der bewussten Selbststeuerung überdeterminieren können. 38  Pauen / Roth,

Freiheit 2008, S. 57. S. 57 f., 72. 40  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 44. 41  Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 58. 42  § 2 StVollzG. 43  BGHSt 2, 194 (200). 39  Ebd.,

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

Wozu dann noch Spezialprävention?44 Der Gedanke der Schuldfähigkeit ist mit dem Präventionszweck des Strafvollzugs unvereinbar. „Ein auf der Wil­ lensfreiheit gegründetes Schuldstrafrecht kann daher nur ein Vergeltungs­ strafrecht sein.“45 Das bedeutet, dass unter der Annahme eines auf Selbst­ bestimmung angelegten Täters Strafen allein den Sinn haben können, durch eine Übelszufügung die Schuld des Täters zu vergelten und auf diese Weise die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Ein anderer Zweck als dieser Schuld­ ausgleich kann durch die Grundannahmen des deutschen Schuldstrafrechts nicht legitimiert werden. Aus dem Widerspruch von Selbstbestimmung und Prävention sind gleichwohl bis heute für das Strafrecht keine Konsequenzen gezogen worden. Zurzeit dominieren vielmehr sog. „Vereinigungstheorien“, die auf der Basis eines auf der Annahme einer Fähigkeit zur bewussten Selbststeuerung fußenden Schuldstrafrechts dennoch präventive Zielsetzun­ gen legitimieren wollen.46 2. Alternativismus als Andershandelnkönnen Auf der Handlungsebene tritt die Theorie des Alternativismus philoso­ phisch als „Andershandelnkönnen“ in Erscheinung. Andershandelnkönnen ist als solches keine Voraussetzung für Willensfreiheit, sondern lediglich eine notwendige Bedingung für die Zuschreibbarkeit oder Vorwerfbarkeit von Normverletzungen.47 Ob darüber hinaus auch die fehlerhafte Willensbildung als Voraussetzung für den strafrechtlichen Vorwurf gelten kann, wie sie eben mit Blick auf die Ausführungen des BGH-Beschlusses zur Willens­ ebene diskutiert wurden, ist im Strafrecht hingegen strittig. Die Frage des Andershandelnkönnens begegnet im Strafrecht an unterschiedlichen Stellen. Zum einen bekräftigt die zitierte Entscheidung des BGH mit Blick auf eine grundsätzliche Legitimierung des strafrechtlichen Schuldvorwurfs in den Ausführungen zur Handlungsebene die traditionelle Vorstellung, die Schuld­ fähigkeit des Täters liege in dessen Fähigkeit begründet, sein eigenes Handeln zu steuern, indem er einen bewusst gefassten Entschluss in eine eben­ so bewusste Handlung überführt. Er ist auch deshalb schuldig, weil er sich nicht rechtmäßig verhalten hat.48 Dabei wird vorausgesetzt, dass in der rückblickenden Analyse der in Frage stehenden Entscheidungssituation die inneren und äußeren Bedingungen identisch sind und trotzdem eine andere 44  Spilgies, 45  Ebd., 46  Ebd.

47  Mohr,

Bedeutung 2004, S. 59. S. 64.

Freiheit 2008, S. 82. Bestrafung 2008, S.  22; Roth / Lück / Strüber, Gehirn 2006, S. 106; Spilgies, Bedeutung 2004, S. 33. 48  Merkel / Roth,



II. Die Theorie des Alternativismus33

Verhaltensweise frei hätte gewählt werden können als es tatsächlich der Fall war.49 Es kann kaum bezweifelt werden, dass einem so verstandenen Schuld- und Verantwortungsprinzip auch die Vorstellung von der Möglich­ keit des Andershandelnkönnens zugrunde liegt. Denn nur dann, wenn Frei­ heit auf der Handlungsebene gegeben ist, macht es Sinn, einen Schuldvor­ wurf gegen den Täter zu erheben.50 Hier stellt die positive Fähigkeit, den selbst gefassten Entschluss auf die Handlungsebene zu übertragen, gleichsam nur eine Seite der Medaille dar, denn die Möglichkeit des Andershandelnkönnens ist nicht nur von potenti­ ellen Fähigkeiten der Person, sondern auch von der Abwesenheit einschrän­ kender Faktoren abhängig. Dies verdeutlicht, neben anderen Freiheitstheori­ en des Handelns, vor allem die in der angelsächsischen Denktradition do­ minierende Konzeption der Handlungsfreiheit. Die Vertreter dieser Hand­ lungsfreiheit kritisieren ein Freiheitsverständnis, das die bestimmende Rolle leugnet, die Motive, Wünsche und Charakterzüge bei der Genese des Willens spielen. Was die Person will, darf dieser kritisierten Spielart der Freiheit (dem Indeterminismus) zufolge nicht aus vorausliegenden Bedingungen hervorgegangen sein, also z. B. auch nicht aus mentalen Ursachen. Im Un­ terschied zu Kants Verständnis der Willensfreiheit als eines „Sichbestim­ menlassens“ durch eigene vernünftige Gründe, unterliegt in der kritisierten Sichtweise ein Willensentschluss keinerlei Einflüssen. Eine auf diese Weise verstandene Freiheit halten Fürsprecher der Handlungsfreiheit allerdings für unbeweisbar und auch „nutzlos“, da keine Verbindung hergestellt werden kann zwischen den Charaktereigenschaften einer Person und den Handlun­ gen, die der Person zugeschrieben werden sollen.51 Die Handlungsfreiheit beinhaltet nicht die Vorstellung völliger Ungebundenheit. Insofern steht Handlungsfreiheit auch nicht im Gegensatz zur Determination, sondern zu Zwang und Fremdbestimmung.52 Anhänger dieser Handlungsfreiheit favori­ sieren deshalb eine Freiheit, den (auch determinierten) Entscheidungen und Präferenzen des eigenen Willens gemäß zu handeln.53 Eine Handlung ist demnach frei, wenn sie mit unserem Willen übereinstimmt.54 Sobald sich eine Person auf der Willensebene für eine bestimmte Handlung (ggf. auch „unfrei“) entschieden hat, kann es Umstände geben, die sie an der tatsäch­ 49  Roth,

Hirnforscher 2004, S. 228. Strafrecht 2005, S. 316. 51  Pothast, Einleitung 1988, S. 15. 52  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 206 f. 53  Pothast, Einleitung 1988, S. 15 f.; Seelmann, Grundannahmen 2006, S. 97. 54  Stuckenberg, Willensfreiheit 2009, S. 3. Diese schwächer definierte Freiheits­ auffassung ist für Kompatibilisten attraktiv, die Freiheit mit einer möglichen Deter­ mination in Einklang bringen möchten (Pothast, Einleitung 1988, S. 16). 50  Hillenkamp,

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

lichen Umsetzung dieses Willensentschlusses in eine Handlung hindern. Fehlen solche Umstände, liegt für die betreffende Person Handlungsfreiheit vor: Sie kann dann so handeln, wie sie möchte. Die Handlungsfreiheit wird also auch negativ bestimmt als die Abwesenheit von Umständen, welche die Person am Ausführen einer gewollten Handlung hindern oder ihr eine un­ gewollte Handlung aufzwingen. Als mögliche Behinderungen der Freiheit kommen nicht nur außerhalb der Person liegende Hürden in Betracht wie Fesseln oder verschlossene Räume, sondern auch innere Hindernisse wie Hypnose, Lähmung, ein neurotischer Zwang oder andere Erscheinungsfor­ men psychischer Störungen.55 • Das Problem der Feststellbarkeit individuellen Andershandelnkönnens Strafrechtstheoretiker haben frühzeitig erkannt, dass die nachträgliche Feststellbarkeit der für einen Schuldspruch notwendigen Fähigkeit des Tä­ ters zu einem Andershandeln die Judikatur vor immense Beweisschwierig­ keiten stellt. Da im Strafverfahren die Tatsituation retrospektiv nicht iden­ tisch rekonstruierbar ist, liegt hier ein echtes prozessuales Problem hinsicht­ lich der Feststellbarkeit des Andershandelnkönnens des Täters vor.56 Dieser Problematik versucht die herrschende Lehre im Strafrecht durch die Anwendung eines analogischen Verfahrens Herr zu werden. Der Blick von der als unbeantwortbar erkannten Frage nach dem individuellen Anders­ handelnkönnen des Täters in der konkreten Tatsituation wird umgelenkt auf den Vergleich mit einem „durchschnittlichen Dritten“, der an die Stelle des empirischen Täters tritt. Der umformulierte Schuldvorwurf lautet dann: „Du hast rechtswidrig gehandelt, obwohl Du Dich rechtmäßig hättest verhalten können. Das wissen wir deshalb, weil uns die Erfahrung lehrt, dass ein ‚normaler‘, durchschnittlicher Mensch unter identischen Umständen“ anders gehandelt hätte.57 Dieses Abstrahieren von der konkreten Tatsituation und die Bezugnahme auf generalisierende Kategorien hat zu der Bezeichnung des zugrundelie­ genden Schuldbegriffs als „sozial“ oder „sozial-vergleichend“ geführt.58 Für die Schuldzuschreibung bedient man sich dann einer Hilfskonstruktion, indem auf das Können einer gedachten „durchschnittlichen Person“59 abge­ 55  Pothast,

Einleitung 1988, S. 16. Schuldbegriff I 2006, S. 74; Roth, Willensfreiheit 2003, S. 48. 57  Lindemann, Freiheit 2006, S. 350. 58  Lindemann, Freiheit 2006, S. 350 f. 59  Nach Jescheck und Weigend kann der Maßstab für das Schuldurteil nur ein durchschnittliches Können sein. Der Richter müsse danach fragen, ob „man“ unter den gegebenen Umständen anders hätte handeln können. Hierbei werde allerdings 56  Czerner,



II. Die Theorie des Alternativismus35

stellt wird, die anstelle des konkreten Täters in derselben Situation anders hätte handeln können. Was für diesen imaginierten Täter gilt, wird auf den konkreten Täter übertragen.60 „Handlungsfreiheit ist nicht beweisbar, schon gar nicht in den Formen und mit den Mitteln des Strafverfahrens. Vielmehr enthält jedes Urteil über die Schuld eines anderen bereits insofern ein Moment der Generalisierung, als die Vorausset­ zung, dass er auch anders hätte handeln können, immer eine Unterstellung ist. Schon deshalb scheint keine andere Möglichkeit zu bestehen, als das Schuldurteil auf eine Durchschnittsperson in der Situation des Täters zu beziehen, und das heißt: generelle und gerade nicht individuelle Maßstäbe anzulegen.“61

Rechtliche Verantwortung ist diesem Verständnis zufolge dann etwas, das nicht herausgefunden, sondern zugeschrieben wird. Legt man diese Sichtwei­ se an, ist noch nicht einmal von Belang, ob der konkrete Täter die zuge­ schriebene Fähigkeit zum Andershandeln zum Tatzeitpunkt wirklich aktuali­ sieren konnte. Es genügt vielmehr die bloße Unterstellung, dass jeder Täter prinzipiell fähig ist, sie zu aktualisieren. Hier findet in der strafrechtlichen Argumentation jene Bedingungsumkehr statt, auf die bereits im Zusammen­ hang mit der kantischen Begründung des Schuldvorwurfs hingewiesen wur­ de: An die Stelle des Könnens tritt ein Sollen. Jeder Täter hätte seine grund­ sätzliche Anlage zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aktualisieren sollen. Eben dieses Sollen entzieht sich der Theorie des „sozial-vergleichenden“ Schuldurteils zufolge (erwünschtermaßen) der empirischen Feststellung vor Gericht und kann normativ zugeschrieben werden.62 Damit hätte man das Problem der retrospektiven Feststellbarkeit eines tatsächlichen Andershan­ delnkönnens gelöst. Folgerichtig geht das überwiegende Schrifttum davon aus, dass die strafrechtlichen Grundbegriffe der Verantwortlichkeit, Schuld und Zurechnungsfähigkeit nicht notwendig mit der Annahme individueller Freiheit verbunden sind. nicht das „generelle Können eines Durchschnittsmenschen“ zum Maßstab des indi­ viduellen Könnens des Täters erhoben, sondern es werde aus der Erfahrung mit gleichliegenden Fällen auf die Fähigkeit zur Selbststeuerung im konkreten Fall ge­ schlossen. Jescheck und Weigend möchten deshalb statt auf einen „durchschnittli­ chen“ lieber auf einen „maßgerechten“ Menschen abstellen, der dem Täter nach Lebensalter, Geschlecht, Beruf, körperlichen Eigenschaften, geistigen Fähigkeiten und Lebenserfahrung gleichzusetzen ist (Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 428). 60  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S.  204; Schünemann, Stand 2003, S. 545. Schünemann vertritt die Auffassung, dass der in Deutschland herrschende soziale Schuldbegriff ohne seine „Theorie der gesellschaftlichen Realität der Willensfrei­ heit“ nicht für die Legitimation des Schuldvorwurfs an den Täter ausreiche. Diese Theorie hat Schünemann aus der Sprachphilosophie abgeleitet (Schünemann, Stand 2003, S. 544). 61  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 190. 62  Keil, Strafe 2009, S. 163.

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

• Kritik an der sozialen Schuldlehre Die Verlagerung des Fokus für die Begründung des strafrechtlichen Schuldvorwurfs vom tatsächlichen auf einen gedachten idealtypischen Täter begegnet rechtsstaatlichen Bedenken. Die legitimatorische Schwierigkeit besteht darin, dass die Fähigkeit, sein Handeln an normativen Regeln aus­ zurichten, einer fingierten, maßgerechten „Durchschnittsperson“ zugeschrie­ ben wird, während aber der konkrete Angeklagte, der tatsächlich vielleicht nicht anders handeln konnte, in Gestalt der Strafe die ganz handfesten Konsequenzen dieser Schuldzuschreibung zu tragen hat.63 Tatsächlich ist nicht unmittelbar einleuchtend, welcher Umstand eigent­ lich dazu berechtigt, jemanden verantwortlich zu machen und zu bestrafen, weil ein hypothetisch gedachter „Durchschnittsmensch“ an seiner Stelle normgemäß gehandelt hätte.64 Vor dem Hintergrund dieses legitimatori­ schen Defizits kann es deshalb auch nicht verwundern, dass die das straf­ rechtliche Schrifttum beherrschende soziale Schuldlehre den Anschluss an die Judikatur bislang nicht hat finden können. Weder verlegt der BGH die Schuld in den Bereich der Interaktion zwischen Täter und Gesellschaft, noch in die „Köpfe anderer“.65 Das analogische Verfahren der sozialen Schuldlehre trifft jedoch nicht nur in der Rechtsprechung auf Ablehnung, sondern hat auch in der Literatur Kritik hervorgerufen. Viele Autoren haben in dem Vergleich mit einem „durchschnittlichen“ oder „maßgerechten“ Dritten lediglich eine Scheinlö­ sung des Zurechnungsproblems gesehen: „[..] der ‚Schluss‘ vom Können Anderer auf das des Täters verdient schon diese Bezeichnung nicht.“66 Und bereits Engisch stellte fest: „Ich wehre mich [..] dagegen, daß man jetzt gerade vom Täter selbst und seiner Individualität abstrahiert und zu einem anderen Menschen oder zur ‚Gattung Mensch‘ überspringt.“67 Ungelöst ist das Problem der „Erklärungslücke“, wie genau man sich den Schluss von der generellen Feststellung eines durchschnittlichen Andershan­ delnkönnens auf den konkreten Täter vorzustellen hat, an den im Strafver­ fahren mittels des Schuldvorwurfs ein individueller Vorwurf adressiert wird.68 63  Detlefsen,

Grenzen 2006, S. 338 f. auch schon frühzeitig Engisch, Lehre 1963, S. 22; ferner Lampe, Willens­ freiheit 2006, S. 22; Stuckenberg, Willensfreiheit 2009, S. 13. 65  Neumann, Schuldlehre 2000, S. 86. 66  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 114 f. 67  Engisch, Lehre 1963, S. 25. 68  Lindemann, Freiheit 2006, S. 355. 64  So



II. Die Theorie des Alternativismus37

Darüber hinaus bleibt fraglich, ob die soziale Schuldlehre tatsächlich in dem Maße von der Annahme individueller Freiheit absehen kann, wie sug­ geriert wird. In Wirklichkeit führt der Umweg über den „Durchschnitts­ menschen“ hier nicht weiter, da auch der soziale Schuldbegriff unterstellen muss, dass der konkrete Täter grundsätzlich dazu in der Lage war, sich durch den Normappell ansprechen zu lassen und sein Handeln an ihm aus­ zurichten.69 Auch die Vertreter der sozialen Schuldlehre beziehen sich in der Begründung der strafrechtlichen Vorhaltung auf den Einzeltäter und nehmen zu dessen Fähigkeiten Stellung, indem sie implizit das individuelle Anders­ handelnkönnen voraussetzen, gegen das sich auch die neurowissenschaftli­ chen Anwürfe richten.70 Man kommt für die Legitimierung des strafrechtlichen Schuldvorwurfs nicht um die Freiheitsannahme in Form einer „tatsächlichen“ individuellen Fähigkeit zum Andershandeln herum. Durch die soziale Schuldtheorie wird das Fortwirken von Vorstellungen des individuellen Anderskönnens ledig­ lich verschleiert.71 Angesichts der Tatsache, dass sich ein forensischer Nachweis des Anders­ handelnkönnens des Täters in der unwiederholbaren Situation seiner Tat nie­ mals wird führen können, stellt ein soziales Schuldurteil lediglich eine „Ver­ legenheitslösung“ dar.72 Dem Täter wird vorgeworfen, dass eine andere Per­ son mit durchschnittlichen Fähigkeiten in der Tatsituation anders gehandelt hätte. Diese Ansicht geht jedoch deshalb fehl, weil sie auf die Forderung hi­ nausläuft: „Du hättest eine andere Person mit anderen, nämlich durchschnitt­ lichen Fähigkeiten sein sollen!“ Die Feststellung, dass eine andere Person an der Stelle des Täters anders gehandelt hätte, ist aber nicht relevant für die Frage, ob der konkrete Täter, um den es im Strafverfahren geht, in der betref­ fenden Situation anders hätte handeln können, als er es tat.73 • Der individuelle Schuldvorwurf der Rechtsprechung Insofern gilt weiterhin, dass das deutsche Strafrecht eine natürliche, selbstbestimmte Person voraussetzt, die für ihre Taten Verantwortung zu übernehmen in der Lage ist. Der Täter muss für seine Taten einstehen, die er auch hätte unterlassen können. Der Begriff der strafrechtlichen Schuld setzt auch die individuelle Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen zwischen Recht und Unrecht voraus: 69  Lindemann,

Freiheit 2006, S. 350. S. 351. 71  Ebd., S. 355. 72  Stratenwerth, Willensfreiheit 1984, S. 234. 73  Keil, Strafe 2009, S. 158. 70  Ebd.,

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

„[…] und dies nicht in einem abstrakten Sinne, daß irgendein Mensch an Stelle des Täters, sondern ganz konkret, daß dieser Mensch in dieser Situation seinen Willensentschluß normgemäß hätte bilden können.“74

Diese Auffassung entspricht nach wie vor der herrschenden Meinung der Rechtsprechung, einschließlich des Bundesverfassungsgerichts.75 Ein per­ sönlicher Vorwurf ist vor allem auch deshalb notwendig, da von der Ver­ hängung einer Strafe nicht ein abstrakter Rollenträger betroffen ist, sondern der konkrete Täter.76

III. Die Schuldunfähigkeit im deutschen Strafrecht Die Kritik der Neurowissenschaftler bezieht sich vorrangig auf die straf­ rechtlichen Regelungen zur Schuldunfähigkeit und der verminderten Schuld­ fähigkeit im Strafgesetzbuch. Der Gesetzgeber bestimmt nämlich keines­ wegs positiv, was unter „Schuldfähigkeit“ zu verstehen ist, vielmehr unter­ stellt er ihre Existenz im Normalfall und regelt in den §§ 19–21 StGB le­ diglich die Ausnahmen.77 Innerhalb des strafrechtlichen Verbrechensaufbaus wird auf der systematischen Ebene der Schuld gefragt, ob der konkrete Täter das Unrecht seiner Handlung hätte erkennen und nach dieser Einsicht auch anders hätte handeln können. Im Unterschied zu Kindern wird die Schuldfähigkeit des erwachsenen Täters als Normalfall angenommen. Schuldunfähig sind hingegen alle Kinder bis zum vollendeten 14. Lebens­ jahr (§ 19 StGB) und alle Täter, die unter die Regelungen des § 20 StGB fallen. § 20 StGB greift dabei für die Beschreibung der Schuldunfähigkeit sowohl auf biologische Faktoren als auch auf normative Aspekte zurück. Die Überprüfung der Schuldfähigkeit erfolgt in zwei Stufen: In einem ersten Schritt wird analytisch überprüft, ob beim Täter zum Tatzeitpunkt ein biologisches Merkmal vorlag, welches die Schuldfähigkeit ausschließt. Sol­ che Merkmale sind – eine krankhafte seelische Störung (z. B. hirnorganisch bedingte Zustände, endogene Psychosen, Schizophrenie), – eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung (z.  B. Vollrausch, hochgradiger Affekt, Erschöpfung, Ermüdung), – Schwachsinn, – eine andere schwere seelische Abartigkeit (Triebstörungen, Neurosen, Psychopathien). 74  Welzel,

Bild 1961, S. 45. Schuldbegriff I, S. 72; Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 113. 76  Hörnle, Unwerturteil 2005, S. 121. 77  Keil, Strafe 2009, S. 157. 75  Czerner,



III. Die Schuldunfähigkeit im deutschen Strafrecht39

Philosophisch betrachtet kommen hier Erklärungen anderen Typs in das strafrechtliche Sprachspiel der Verantwortungszuschreibung. Es findet ein Perspektivenwechsel statt: Handlungen werden nun nicht unter Bezug auf eine bewusste Selbststeuerung erklärt, sondern nomologisch aus einer natur­ gesetzlichen Perspektive, in der chemische Vorgänge oder physikalische Ereignisse beobachtet werden können. Hierbei tritt dann Natur- oder Ereig­ niskausalität anstelle von Handlungsrationalität in den Blick. Solche Erklä­ rungen beziehen sich auf Naturprozesse, die durch unsere bewussten Deli­ berationsprozesse und vernünftige Gründe „hindurchgreifen“. Sobald das so interpretierte Verhalten einer Person kausal erklärt wird, ist auch die Unter­ stellung, die Person hätte anders handeln können, sinnlos. Ebenso wenig kann ihr in dieser Perspektive der Ereigniskausalität Schuld zugeschrieben werden.78 Erst in einem zweiten Schritt stellt der Richter normativ79 fest, ob der Täter aufgrund eines der vorgenannten biologischen Merkmale unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.80 Innerhalb dieses zweiten normativen Prüfungsschrittes werden also noch­ mals zwei Ebenen differenziert: Die Schuldfähigkeit setzt nämlich nach § 20 StGB im Umkehrschluss zwei separate Fähigkeiten voraus: – auf kognitiver Ebene die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen (Ein­ sichtsfähigkeit) und – auf der Handlungsebene die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln (Steuerungsfähigkeit).81 Fehlt bei Begehung der Tat eine der beiden Fähigkeiten, ist der Täter schuldunfähig.82 Die Tatsache, dass in der sog. „Schuldstation“ der straf­ rechtlichen Strafbarkeitsprüfung nicht nach der Schuld gefragt wird, sondern lediglich danach, ob ausnahmsweise Gründe vorliegen, sie auszuschließen, impliziert, dass auch diese ausschließenden Gründe selbst keine Elemente der Schuld sind. Die Schuldfähigkeit des Täters ist zwar eine Voraussetzung des Schuldvorwurfs, nicht aber sein Inhalt oder Gegenstand.83 Als wirkliche Schuldelemente, die nicht bereits im Unrecht enthalten sind, können die 78  Habermas,

Sprachspiel 2008, S. 18. findet man für diese zweite Stufe des § 20 StGB die verwirrende Bezeichnung „psychologisch“. 80  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 206; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 142. 81  Die bisweilen zu lesende Bezeichnung „voluntativ“ für die Steuerungsfähig­ keit ist insofern missverständlich, als damit die Willens- und Handlungsebene nicht differenziert wird. 82  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 205. 83  Puppe, Aufbau 2007, S. 392. 79  Mitunter

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

speziellen Schuldmerkmale in den einzelnen Tatbeständen, wie etwa die Gesinnungsmerkmale, angesehen werden.84 Nach § 21 StGB ist vermindert schuldfähig, wessen Einsichts- oder Steu­ erungsfähigkeit aus einem der in § 20 StGB beschriebenen Ursachen erheb­ lich vermindert ist.85 Die biologischen Bedingungen der verminderten Schuldfähigkeit sind damit dieselben wie in § 20 StGB. Der Unterschied liegt darin, dass der Täter grundsätzlich schuldfähig bleibt, aufgrund der Einschränkung seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit die Strafe aber gemildert werden kann.86 Bereits aus der gesetzlichen Regelung der Schuldunfähigkeit in § 20 StGB kann man das grundsätzlich an der Handlungsfreiheit orientierte Men­ schenbild unseres Strafrechts erkennen: Wenn gem. § 20 StGB der „norma­ le“, schuldfähige Täter zum Tatzeitpunkt die Fähigkeit besaß, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, dann enthält der zweite Halbsatz „nach dieser Einsicht zu handeln“ eine Stellungnahme zu­ gunsten der Handlungsfreiheit. Denn wenn der Täter die Tat beging, obwohl er die Fähigkeit hatte, rechtmäßig zu handeln, wird unterstellt, dass der Täter nicht handeln musste, wie er es de facto tat, sondern dass er eben auch anders hätte handeln können. Ein solches faktisches Andershandeln­ können ist mit einer deterministischen Sichtweise unvereinbar und bildet nach Spilgies mithin die implizite Freiheitsannahme des § 20 StGB.87

IV. Die lebenswissenschaftliche Infragestellung von Freiheit und bewusster Selbststeuerbarkeit 1. Die Experimente zur Willensfreiheit Die in den Neurowissenschaften verfügbaren Techniken ermöglichen mittlerweile die Identifizierung von Entscheidungsintentionen von Versuchs­ personen, bevor diese verbal oder behavioral, also durch sprachliche Äuße­ rungen oder Verhalten, realisiert werden.88 Damit eine kortikale Aktivität überhaupt bewusst werden kann, muss auf neurobiologischer Ebene eine 84  Puppe,

Aufbau 2007, S. 402. Unterschied zu den Schuldausschließungsgründen in § 20 StGB gehört die verminderte Schuldfähigkeit in § 21 StGB allerdings nicht zur Strafbegründungs-, sondern zur Strafzumessungsschuld. Es handelt sich um einen fakultativen Strafmil­ derungsgrund, der bei Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB zu einer Strafrahmenver­ schiebung führt (Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 206). 86  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 443. 87  Spilgies, Bedeutung 2004, S. 54. 88  Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 67. 85  Im



IV. Infragestellung von Freiheit und bewusster Selbststeuerbarkeit41

bestimmte Anzahl kortikaler Pyramidenzellen durch Synchronisation eine bestimmte Aktivitätsschwelle überschreiten.89 Im Gehirn baut sich dann ein spezifisches Bereitschaftspotential auf, bevor sich die Person bewusst zu der Handlung entschließt. Diese Beobachtung der zeitlichen Reihenfolge von neuronalen Vorgängen und subjektiv-individuellem Erleben scheint zu bele­ gen, dass unbewusste Gehirnprozesse bewusste Handlungen determinieren, ohne dass der bewusste Willensakt, den sich der Handelnde selbst zuschreibt, hierbei eine kausale Rolle spielt:90 „Es kann also aus experimentalpsychologischer Sicht kein Zweifel bestehen, dass unter den gegebenen experimentellen Bedingungen der subjektiv empfundene Willensakt oder –ruck dem Beginn des Bereitschaftspotentials nachfolgt, und zwar in einem relativ festen zeitlichen Abstand, und ihm niemals voraus geht. Dies bestärkt die Vermutung, dass der Willensakt nicht die Ursache, sondern vielmehr eine direkte oder indirekte Folge des Bereitschaftspotentials ist.“91

• Die Libet-Experimente Das von dem amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet Anfang der achtziger Jahre durchgeführte Experiment wird nach wie vor in Philo­ sophie und Psychologie intensiv diskutiert.92 Libet wollte untersuchen, in welchem Zusammenhang die bewusste Entscheidung einer Person zur „zu­ gehörigen“ Körperbewegung und die Einleitung dieser Bewegung auf neu­ ronaler Ebene zueinander stehen: „How are nerve cell activities in the brain related to conscious subjective experience and to unconscious mental functions?“93 Hierzu untersuchte er das von den deutschen Neurologen Helmut Kornhuber und Lüder Deecke 1965 entdeckte symmetrische Bereitschaftspotential, das aufgrund neuronaler Aktivität im prämotorischen und supplementärmotorischen Areal beider Hirnhälften auftritt, also in Hirnregi­ onen, die mit der Handlungsvorbereitung und der Handlungskontrolle in Zusammenhang gebracht werden.94 Bei diesem Hirnprozess handelt es sich um ein langsames negatives Hirnpotential, das mit Hilfe des EEG gemessen werden kann. Heute geht man davon aus, dass das Bereitschaftspotential durch die Synchronisierung der Aktivität von kortikalen Neuronen in den genannten Arealen entsteht. Das Bereitschaftspotential baut sich ein bis zwei Sekunden vor dem Beginn einer motorischen Bewegung auf.95 89  Pauen / Roth,

Freiheit 2008, S. 79. Freiheit 2004, S. 873. 91  Roth, Willensfreiheit 2003, S. 50. 92  Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 73 f. 93  Libet, Mind Time 2004, S. 31 f. 94  Urbaniok / Hardegger / Rossegger / Endrass, Determinismus 2006, S. 122. 95  Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 74. 90  Habermas,

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

Mit dem Experiment ging es Libet damals darum, die Existenz des freien Willens wissenschaftlich nachzuweisen.96 Er glaubte, mit seiner Versuchs­ anordnung ein Verfahren gefunden zu haben, um den Zeitpunkt des bewuss­ ten „Willensaktes“ bestimmen zu können.97 Libet instruierte seine Ver­ suchspersonen, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne spontan den Ent­ schluss zu fassen, entweder einen Finger der rechten Hand oder die ganze Hand zu beugen. Hierbei mussten sich die Versuchspersonen den Zeitpunkt ihres bewussten Handlungsentschlusses merken, indem sie den betreffenden Standort eines parallel beobachteten, roten, rotierenden Punktes auf einer Art Oszilloskop-Uhr benannten. Genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Pro­ banden den Entschluss zur Bewegung fassten, merkten sie sich die Position des rotierenden Punktes auf der Uhr.98 Libet ging davon aus, dass der Aufbau des Bereitschaftspotentials dem bewussten Willensentschluss zeit­ lich nachfolgen müsse. Tatsächlich zeigte sich aber zu Libets eigener Über­ raschung, dass der Aufbau des Bereitschaftspotentials dem bewussten Wil­ lensentschluss mit durchschnittlich 550 bis 350 Millisekunden stets voran­ ging und abgeschlossen war, bevor der Willensentschluss von den Probanden überhaupt gefasst wurde:99 „What we found […] was that the brain exhibited an initiating process, beginning 550 msec before the freely voluntary act; but awareness of the conscious will to perform the act appeared only 150–200 msec before the act. The voluntary pro­ cess is therefore initiated unconsciously, some 400 msec before the subject beco­ mes aware of her will or intention to perform the act.“100

Das Bereitschaftspotential fiel zeitlich niemals mit dem bewussten Willen zusammen oder folgte ihm etwa nach, was man bei einer handlungsauslö­ senden Funktion des bewussten Willensentschlusses annehmen müsste: „Was auch immer der Willensentschluss tut, er löst jedenfalls nicht das Bereitschaftspotential aus, von dem man annehmen darf, dass es Bedingun­ gen reflektiert, die eine Bewegung kausal bedingen.“101 Hieraus schlussfolgert Roth, dass der Eindruck des bewussten Entschei­ dens erst dann auftritt, wenn das Gehirn seinerseits bereits „entschieden“ hat.102 Die neuronalen Prozesse, die dem bewussten Erleben zugrunde lie­ gen, ordnen sich lückenlos ein in alle anderen unbewusst ablaufenden neu­ 96  Schiemann,

Willen 2004, S. 2056. Freiheit 2008, S. 75. 98  Hillenkamp, Strafrecht 2005, S. 318 f.; Libet, Mind Time 2005, S. 160 ff.; Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 75; Roth, Willensfreiheit 2003, S. 48. 99  Rösler, Libet-Experimente 2008, S.  144; Urbaniok / Hardegger / Rossegger / Endrass, Determinismus 2006, S. 123. 100  Libet, Mind Time 2004, S. 123 f. 101  Roth, Willensfreiheit 2003, S. 49. 102  Hillenkamp, Strafrecht 2005, S. 319; Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 75. 97  Pauen / Roth,



IV. Infragestellung von Freiheit und bewusster Selbststeuerbarkeit43

robiologischen Vorgänge, ohne dass hier nach Roth Raum wäre für eine rein mentale Aktivität, wie z. B. das Veto, welches nach Libet als Funktion des Bewusstseins dazu in der Lage sein soll, eine vom neuronalen Bereit­ schaftspotential bereits vorbereitete Handlung noch stoppen zu können.103 Es hat sich Roth zufolge gezeigt, dass auch diesem von Libet angenomme­ nen mentalen Veto eine messbare Veränderung des Bereitschaftspotentials vorausgeht.104 Von den Resultaten der Libet-Experimente waren bereits Anfang der 1980er Jahre die meisten Zeitgenossen tief beunruhigt. Libets Experimente lösten eine intensive und bis heute anhaltende interdisziplinäre Diskussion aus,105 welche später noch weitere Nachfolgeexperimente nach sich zog, die Schwachstellen an der Versuchsanordnung behoben, für welche Libet als­ bald kritisiert worden war.106 • Die Nachfolgeexperimente von Haggard und Eimer 1998 wurden die Versuche unter modifizierten Bedingungen von den beiden Psychologen Patrick Haggard und Martin Eimer wiederholt.107 Die wichtigsten Neuerungen betrafen zum einen die Einführung einer Hand­ lungsalternative und zum anderen die zusätzliche Erhebung des spezifische­ ren lateralisierten Bereitschaftspotentials neben dem symmetrischen, das bereits Libet untersucht hatte. Die Probanden waren bei Libet lediglich darauf festgelegt worden, zu einem frei gewählten Zeitpunkt eine zuvor festgelegte Handlung auszuführen. Bei Haggard und Eimer hingegen muss­ ten die Versuchspersonen, nachdem sie sich bereits einem Versuch nach li­ betscher Anordnung unterzogen hatten („fixed choice“), in einem zusätzli­ chen Durchgang zu einem frei gewählten Zeitpunkt für das Drücken einer linken oder einer rechten Taste entscheiden („free choice“).108 Dem symme­ trischen Bereitschaftspotential, das „unspezifisch“ über beiden Hirnhälften gleichermaßen gemessen wird, folgt zeitlich das lateralisierte Bereit­ schaftspotential, welches „spezifisch“ ausschließlich über jener Hirnhälfte auftritt, deren lokale Hirnaktivität mit der jeweiligen Bewegung korreliert. Wenn über der linken Hirnhälfte ein lateralisiertes Bereitschaftspotential gemessen wird, so zeigt dies an, dass z. B. eine Bewegung der rechten Hand vorbereitet wird. Aufgrund der größeren zeitlichen Nähe des lateralisierten 103  Libet,

Willen 2004, S. 277. Freiheitsgefühl 2008, S. 62. 105  Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 8. 106  Ebd., S. 74. 107  Haggard / Eimer, Relation 1999, S. 128 ff. 108  Roth, Willensfreiheit 2003, S. 49. 104  Merkel / Roth,

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Bereitschaftspotentials zur motorischen Aktivität lassen sich genauere Rück­ schlüsse auf die Vorbereitung dieser Bewegung ableiten.109 Die beiden Psychologen beobachteten, dass im Mittel auch die Entste­ hung des lateralisierten Bereitschaftspotentials vor dem bewussten Willens­ akt lag; die Differenz lag bei 351 Millisekunden. Außerdem wurde festge­ stellt, dass der Zeitpunkt der bewussten Entscheidung mit dem lateralisierten, nicht jedoch mit dem symmetrischen Bereitschaftspotential kovariierte. Als neues Ergebnis konnte daher festgehalten werden, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht zwischen dem lateralisierten Bereitschaftspotential und der bewussten Entscheidung: Wenn das lateralisierte Potential früher auftritt, wird auch die bewusste Entscheidung früher getroffen. Wird hinge­ gen das lateralisierte Potential später gemessen, findet auch die bewusste Entscheidung später statt: „The corresponding mean W judgement (bewusste Entscheidung, d. Verf.) we­ re –530 ms for early trials and –179 ms for late trials, a difference of 351 ms. […] Thus, LRP (lateralisiertes Bereitschaftspotential, d. Verf.) and W judgement do covary, […]. Clearly, then, RP (symmetrisches Bereitschaftspotential, d. Verf.) and W judgement do not covary.“110

Keinen signifikanten Unterschied konnten Haggard und Eimer hingegen feststellen zwischen der Versuchsreihe, in der die Probanden nur eine, wie bei Libet, „fixierte“ Wahl hatten, also etwa zu einem bestimmten Zeitpunkt die zuvor „festgelegte“ linke Hand zu bewegen, und jener Versuchsreihe, in der eine freie Wahl zwischen Handlungsalternativen bestand, also entweder die linke oder rechte Taste mit der entsprechenden Hand zu betätigen. Der Beginn des lateralisierten Bereitschaftspotentials lag beim „Fixed move­ ment“ bei 355 Millisekunden und beim „Free movement“ bei 353 Millise­ kunden vor der freien Willensentscheidung:111 „[..], we observed no diffe­ rence in either M or W judgements, or in movement-related brain potentials, between fixed and free movement conditions.“112 Im Einzelnen stellten Haggard und Eimer fest, dass sich die subjektiv berichteten Zeitpunkte einer fixierten und einer freien Wahl mit durch­ schnittlich 355 bis 353 Millisekunden vor dem Beginn der Körperbewegung nicht signifikant voneinander unterschieden, ebenso wenig wie die Zeit­ punkte des Beginns des lateralisierten Bereitschaftspotentials unter beiden Reaktionsbedingungen.113 Immer lag der Beginn des lateralisierten Bereit­ schaftspotentials sowohl in der fixierten wie in der freien Versuchsanord­ 109  Rösler,

Libet-Experimente 2008, S. 148. Relation 1999, S. 131. 111  Ebd., Table 1, S. 129. 112  Ebd., S. 131. 113  Schiemann, Willen 2004, S. 2057. 110  Haggard / Eimer,



IV. Infragestellung von Freiheit und bewusster Selbststeuerbarkeit45

nung zeitlich vor dem Zeitpunkt des bewussten Willensentschlusses.114 Im Ergebnis fanden Haggard und Eimer also heraus, dass der Beginn auch des lateralisierten Bereitschaftspotentials im Mittel signifikant dem subjektiven Moment des bewussten Willensentschlusses vorausgeht,115 womit die For­ scher im Grundsatz die Befunde Libets bestätigten.116 Jedoch erweiterten sie die Erkenntnisse um die Feststellung, dass das lateralisierte Bereitschaftspo­ tential mit der bewussten Willensentscheidung zusätzlich zeitlich kovariiert. Aufgrund der Tatsache, dass das lateralisierte Bereitschaftspotential zudem spezifisch für jeweils eine Körperhälfte ist, ergeben sich hieraus Evidenzen für eine engere Korrelation zwischen dem in einer Hirnhälfte lokalisierten Potential, dem bewussten Entschluss bei vorliegender Handlungsalternative und der motorischen Aktivität auf der entsprechenden Körperseite. • Haynes Eine Forschergruppe um den Neurowissenschaftler John-Dylan Haynes untersuchte 2008 mittels der Magnetresonanztomographie neuronale Vor­ gänge, die bewussten Entscheidungen vorausgehen, und schloss damit an die Experimente zur Willensfreiheit in der Nachfolge Benjamin Libets an.117 Ein Hauptkritikpunkt, der im Zusammenhang mit den Libet-Experimenten oft geäußert wurde, betraf die kurze Zeitspanne nur weniger hundert Milli­ sekunden zwischen dem erhobenen Bereitschaftspotential und der bewussten Entscheidung. Es wurde darauf hingewiesen, dass ein solch kurzer Zeitraum besonders anfällig für Messfehler sei, die wiederum eine falsche Interpreta­ tion des Zusammenhangs von Hirnaktivität und bewusster Intention zur Folge hätten. Diese Beobachtung war darauf zurückzuführen, dass das Be­ reitschaftspotential über derjenigen Hirnregion erhoben wurde, die in ihrer Funktion bereits in einem engen zeitlichen Zusammenhang steht mit der motorischen Handlungsausführung: dem supplementärmotorischen Kortex. Diese Kritik glaubt Haynes durch die verhältnismäßig langen Beobach­ tungszeiträume und die Verlagerung des Fokus auf andere Hirnregionen ausgeräumt zu haben:118 „First, the readiness potential is generated by the SMA, and hence only provides information about late stages of motor planning. Thus, it is unclear whether the SMA is indeed the cortical site where the decision for a movement originates or 114  Haggard / Eimer,

Relation 1999, S. 131. Freiheit 2008, S. 76 f. 116  Hillenkamp, Strafrecht 2005, S. 318; Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 77; Spilgies, Kritik 2005, S. 43; Urbaniok / Hardegger / Rossegger / Endrass, Determinismus 2006, S. 123. 117  Wirsing, Presseinformation 2008, S. 1. 118  Ebd., S. 2. 115  Pauen / Roth,

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whether high-level planning stages might be involved in unconsciously preparing the decision […].“119

Mittels einer neu entwickelten Mustererkennungssoftware ist es möglich, auch denkbare Langzeit-Determinanten menschlicher Entscheidungen zu untersuchen, die den bewussten Entscheidungen weitaus länger vorausgehen als die Aktivitäten des supplementärmotorischen Kortex im MillisekundenBereich. Zudem war es möglich, spezifische Hirnaktivitäten, die mit der bewussten Auswahl der Probanden korrelierten, abzugrenzen von nur unspe­ zifisch vorbereitenden Hirnprozessen: „Indeed, we found that two brain regions encoded with high accuracy whether the subject was about to choose the left or right response prior to the conscious deci­ sion […]. The first region was in frontopolar cortex, BA 10. The predictive infor­ mation in the fMRI signals from this brain region was already present 7 s before the subject’s motor decision. Taking into account the sluggishness of BOLD re­ sponses, the predictive neural information will have preceded the conscious motor decision by up to 10 s. There was a second predictive region located in parietal cortex stretching from the precuneus into posterior cingulate cortex.“120

Hier zeigte sich, dass der frontopolare Kortex die erste kortikale Stufe darstellt, auf der Entscheidungen getroffen werden, während das zweite Hirnareal erst involviert wird, wenn die Entscheidung ins Bewusstsein ge­ langt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zwei Regionen im frontalen und parietalen Kortex wichtige Informationen aufweisen, die das Ergebnis einer motorischen Entscheidung vorherbestimmen, obwohl die handelnde Person die Entscheidung noch nicht bewusst getroffen hat. Hierbei wird die Entscheidung bereits durch unbewusste Hirnaktivitäten beeinflusst, bevor der Person diese Entscheidung bis zu 10 Sekunden später erst bewusst wird. Die Ergebnisse von Haynes und Kollegen gehen insoweit über vorherige Experimente zur Willensfreiheit hinaus, als gezeigt werden kann, dass die nach derzeitigem Forschungsstand frühesten Determinanten, die eine be­ wusste Entscheidung beeinflussen, nicht im supplementärmotorischen Kor­ tex zu suchen sind, sondern in bestimmten Regionen des frontopolaren und parietalen Kortex, und zwar bis zu 10 Sekunden vor der bewussten Ent­ scheidung.121 Nach der Vorbereitung des Entscheidungsprozesses im fronto­ polaren Kortex werden die Informationen zur Ausführung der Tätigkeit und zur Bestimmung des Handlungszeitpunktes in andere Hirnareale übermittelt.

119  Soon / Brass / Heinze / Haynes, 120  Ebd.,

S. 544. 121  Ebd., S. 545.

Determinants 2008, S. 543.



IV. Infragestellung von Freiheit und bewusster Selbststeuerbarkeit47

„Dass selbstgewählte Entscheidungen vom Gehirn schon so früh angebahnt werden, hat man bisher nicht für möglich gehalten.“122 2. Neurowissenschaftliche Kontexte der Experimente zur Willensfreiheit Die Resultate der Experimente zur Willensfreiheit fügen sich nach Roth harmonisch ein in andere neurobiologische Forschungsergebnisse zur Steu­ erung von Willkürhandlungen.123 Demnach entscheidet letztlich immer das limbische System, welche Handlung ins Werk gesetzt wird. Diese Letztent­ scheidung des limbischen Systems fällt nach heutigen Erkenntnissen meh­ rere Sekunden, bevor diese Entscheidung bewusst wahrgenommen werden kann und man den Willen verspürt, die entsprechende Handlung auszufüh­ ren.124 Mithilfe unterschiedlicher neurowissenschaftlicher Untersuchungs­ methoden wie EEG und funktioneller Kernspintomographie kann heute ge­ zeigt werden, wie zentrale Anteile unserer bewussten Entscheidungen zuvor in subkortikalen Arealen des limbischen Systems angebahnt werden. Die Aktivitäten in diesen Hirnarealen laufen grundsätzlich unbewusst ab. Dies gilt im Besonderen, aber nicht ausschließlich, für die subkortikale Vorberei­ tung des viel diskutierten Bereitschaftspotentials im Zusammenhang mit Willkürhandlungen und Entscheidungssituationen.125 Neurowissenschaftler sind heute in der Lage, die Aktivität einer Nervenzelle oder einer Neuro­ nengruppe direkt aufzuzeichnen und diese Aktivität ins Verhältnis zu setzen zu bestimmten Bewusstseinszuständen, etwa der Wahrnehmung einer Farbe oder einer geometrischen Figur. Bildgebende Verfahren wie die PET (Posi­ tronenemissionstomographie) und die funktionelle Magnetresonanztomogra­ phie (fMRT) zeigen die Aktivität verschiedener Hirnbereiche bei bestimmten geistigen Tätigkeiten einer gesunden, wachen Person, etwa während der Proband ein Wort auf einen Gegenstand bezieht oder ein Gesicht kennen­ lernt. Man kann dann feststellen, inwiefern bestimmte Moleküle innerhalb mikroskopisch kleiner neuronaler „Schaltkreise“ an diesen verschiedenen Aufgaben beteiligt sind. Ferner können die Gene identifiziert werden, die an der Herstellung und dem Einsatz solcher Moleküle beteiligt sind.126 Un­ abhängig davon, welche Bewusstseinstätigkeit auch betrachtet wird, lassen sich immer bestimmte Bereiche des Gehirns identifizieren, deren neuronale Aktivität mit den Bewusstseinsabläufen korreliert ist. Somit besteht zwi­ 122  Wirsing,

Presseinformation 2008, S. 2. Freiheit 2008, S. 80. 124  Spilgies, Kritik 2005, S. 43. 125  Merkel / Roth, Freiheitsgefühl 2008, S. 61 f. 126  Damasio, Gehirn 2002, S. 39 f. 123  Pauen / Roth,

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schen dem Auftreten eines bestimmten Bewusstseinszustands bzw. -prozes­ ses und der Aktivität in einer bestimmten Hirnregion stets ein enger Zusam­ menhang. Dieser Zusammenhang lässt sich neuronal auf eine makroskopisch bestimmbare Region des Gehirns (z. B. der primären Sehrinde) beziehen sowie auf die mikroskopisch sichtbaren neuronalen „Schaltkreise“, aus de­ nen diese Region aufgebaut ist. Damasio betont, dass die eindrucksvollen Fortschritte der Hirnforschung erst den Anfang bilden, da neue Analysetech­ niken fortlaufend die Möglichkeiten verbessern, neuronale Prozesse auf molekularer Ebene zu untersuchen und auch hochkomplexe Vorgänge zu studieren, an denen das gesamte Gehirn beteiligt ist.127 Das bedeutet, dass neurowissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt sich überwiegend in Abhängigkeit von technischen Innovationen vollzieht. For­ schungsergebnisse auf molekularer wie hirnarealübergreifender Ebene wer­ den nach Damasios Auffassung die Möglichkeit eröffnen, Gehirn- und Be­ wusstseinszustände immer genauer ins Verhältnis setzen zu können. Mit den heutigen Methoden kann bereits ein enger Zusammenhang beobachtet wer­ den zwischen neuronalen und mentalen Zuständen. Hinzufügen muss man allerdings, dass die bislang von der Neurobiologie gemessene Hirnaktivität nur einen Teil der gesamten Hirnzustände bildet. Die meisten Effekte, die bei der Interaktion der Milliarden von Nervenzellen auf­ treten, sind bisher kaum erforscht. Gegenwärtig kann man zwar annähernd begreifen, wie sich an einer einzelnen Nervenzelle die Erregungsverarbeitung vollzieht, aber auf welche Weise schon drei oder zehn Nervenzellen inter­ agieren, wenn sie miteinander erregend oder hemmend verbunden sind, ver­ steht man bislang nur wenig. Erst recht gilt dies für größere Zellverbände.128 Dennoch glaubt Roth, dass die moderne Hirnforschung nachweisen kann, dass die subjektiven Erlebnisse des Denkens, Vorstellens, Erinnerns, Planens und der Wahrnehmung eindeutig mit bestimmten neuronalen Prozessen ver­ bunden sind. Diesen bewusst begleiteten Zuständen gehen wiederum ein­ deutig unbewusste Zustände im Gehirn voraus, „so dass man das Auftreten bewusster Zustände im Gehirn aus der Tätigkeit unbewusst arbeitender Hirnzentren mit einer hohen Wahrscheinlichkeit voraussagen kann.“129 Schiemann weist darauf hin, dass sowohl bewusste als auch unbewusste Entscheidungen auf neuronalen Prozessen beruhen. In bewussten Entschei­ dungssituationen stehen dem Menschen lediglich zusätzlich zu den unbe­ wussten Variablen wie etwa frühkindlichen Prägungen oder genetischem Erbe noch bewusste Wissensinhalte, also spät Erlerntes wie Moralvorstel­ 127  Damasio,

Gehirn 2002, S. 39 f. Freiheit 2008, S. 70. 129  Roth, Willensfreiheit 2003, S. 47. 128  Pauen / Roth,



IV. Infragestellung von Freiheit und bewusster Selbststeuerbarkeit49

lungen, Gesetze oder allgemeines Kulturwissen im Abwägungs- und Aus­ wahlprozess zur Verfügung. Diese bewussten Faktoren müssen jedoch mit Singer keineswegs die für den Entscheidungsprozess maßgeblichen sein. Da aber ausschließlich das bewusst Gedachte auch tatsächlich bewusst ist, ha­ ben wir den Eindruck, als bildeten diese rationalen Argumente die einzigen ausschlaggebenden Gründe für unser Handeln. Aus neurowissenschaftlicher Perspektive vollzieht sich allerdings auch unser rationaler Deliberationspro­ zess neuronal determiniert. So gesehen gibt es nach Auffassung einiger Hirnforscher keine Fähigkeit zu bewusster Selbststeuerung. Im Bezugssystem neurobiologischer Be­ schreibungen existiert kein Raum für ein bewusstes Anderskönnen, da die jeweils nächste Entscheidung oder Handlung durch den unmittelbar vorher­ gehenden Gesamtzustand des Gehirns determiniert wird. Insofern kann es nicht verwundern, wenn Neurowissenschaftler anregen, die Beurteilung „abweichenden Verhaltens“, die Zuschreibung von Verantwortung und Schuld oder die Begründung von Strafe neu zu denken.130 3. Psychologische und kognitionswissenschaftliche Untersuchungen zur Willensfreiheit Zu neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen treten ferner psycho­ logische und kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse über fehlerhafte Selbstzuschreibungen von Handlungen hinzu. Psychologen und Kognitions­ wissenschaftler können zeigen, dass nicht alles, was Personen als gewollt empfinden, auch „wirklich“ gewollt „ist“. Ihre Handlungen können von Wünschen und Zwängen gesteuert werden, die ihnen selbst nicht bewusst sind. Ein großer Bereich subjektiver Erfahrung hat sich dabei als täu­ schungsanfällig erwiesen. Eindrucksvolle Fallbeispiele der Psychologie las­ sen hierbei immer wieder die Vermutung aufkommen, dass womöglich nicht nur manches, sondern jegliches Verhalten aller Menschen durch Faktoren bestimmt wird, die außerhalb einer bewussten Steuerung liegen.131 Besonders Studien zur Bedeutung des Gefühls der Urheberschaft für die Entstehung von Handlungen führen deshalb zu neuen Herausforderungen für die These der bewussten Steuerbarkeit, da die Untersuchungen zu zeigen scheinen, dass der subjektive Eindruck der Urheberschaft eine Kausalattribu­ tion ist, die nicht mit den tatsächlichen Wegen der Handlungsinitiierung über­ einstimmen.132 Die psychologische Wahrnehmungsforschung geht dabei von 130  Schiemann,

Willen 2004, S. 2057. Notiz 1988, S. 91. 132  Walde, Willensfreiheit II 2006, S. 101. 131  Pothast,

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einem (paradox formuliert) realistischen Konstruktivismus aus: Realistisch ist ihr Modell deshalb, weil es die Inhalte der äußeren Wahrnehmung auf real existierende Sachverhalte in der Welt zurückführt. Zugleich aber ist das Ar­ beitsmodell der Wahrnehmungsforschung konstruktivistisch, insofern es an­ nimmt, dass die Inhalte der Wahrnehmung Eingangsinformationen sind, wel­ che durch die Wahrnehmungssysteme nach eigenen Kategorien verarbeitet werden. Wesentliche Merkmale dieser Konstruktionsprozesse sind zum einen die selektive Repräsentation: Lediglich ein geringer Teil der Eingangsinfor­ mationen wird überhaupt verarbeitet und nur ein noch geringerer Teil der verarbeiteten Informationen gelangt zur bewussten Repräsentation, zum an­ deren das Fehlen der Repräsentation der Konstruktionsprozesse: In die Re­ präsentation der Wahrnehmung gehen ausschließlich die äußeren Inhalte ein, während die zugrunde liegenden Konstruktionsprozesse dieser Inhalte in der bewussten Verarbeitung außen vor bleiben.133 • Psychologie der äußeren und der inneren Wahrnehmung Nach dem Modell der psychologischen Wahrnehmungsforschung werden also Informationen aus der äußeren Umwelt entsprechend den Möglichkeiten des Wahrnehmungsapparates aufgenommen und anschließend gemäß den Bedingungen und Möglichkeiten des verarbeitenden Systems verwen­ det. Die am Ende dieses Prozesses stehende bewusst verfügbare Information ist schließlich das Produkt aus selektiver Umweltinformation, Kategorisie­ rung und Repräsentation nach den Möglichkeiten des wahrnehmenden Systems. Diese Erkenntnisse über die Funktionsweise der äußeren Wahrneh­ mung lassen sich auch auf die Mechanismen der inneren Wahrnehmung bzw. der Introspektion und im Besonderen auf die eigene Wahrnehmung von Kausalzusammenhängen übertragen. Denn was für die äußere Wahrnehmung von Umweltinformationen gilt, trifft vermutlich auch für die Wahrnehmung der eigenen mentalen Zustände zu. Diese These stellt ein Problem für die klassisch-cartesianische Position in der Philosophie dar, für welche die In­ trospektion, das Wissen über die eigenen mentalen Zustände, die einzig unbezweifelbare Grundlage unseres Wissens überhaupt darstellt.134 Über die eigenen mentalen Zustände kann man sich nach cartesianischer Auffassung nicht täuschen. Bei der Selbstwahrnehmung psychischer Prozesse geht es um ein unmittelbares Erfassen des „untersuchten“ Sachverhalts. „Wahrneh­ mung“ und „Wirklichkeit“ fallen damit gewissermaßen zusammen, wobei auch bei der Introspektion beachtet werden muss, dass eigenpsychische Vorgänge hochgradig selektive und inhaltlich fokussierte Repräsentationen 133  Prinz,

134  Walde,

Kritik 2006, S. 28; Prinz, Kritik II 2006, S. 29 f. Willensfreiheit 2006, S. 114.



IV. Infragestellung von Freiheit und bewusster Selbststeuerbarkeit51

sowie Ergebnisse von Prozessen und Mechanismen sind, die selbst der Wahrnehmung völlig unzugänglich sind:135 Denkende Personen können über die zugrundeliegenden psychischen und neuronalen Prozesse nichts wissen. Denken ist in dieser Hinsicht das selektive Produkt einer dem Denken und Erleben selbst unzugänglichen submentalen Ebene: „Was immer wir aus der Introspektion über psychische Prozesse zu wissen glauben – dieses Wissen ist stets das Produkt selektiver Repräsentation, inhaltlicher Fokussierung und kategorialer Überformung.“136 Psychologische Experimente zeigen fer­ ner, dass der subjektive Eindruck der Urheberschaft dermaßen täuschungs­ anfällig ist, dass er selbst dann auftritt, wenn eine Person die Handlung gar nicht selbst verursacht hatte, sondern eine andere. Zudem leugnen Personen auch Taten, deren Urheber sie nachweislich sind137 oder führen Handlungen aus, denen sie erst nachträglich „eigene“ Absichten unterlegen.138 So führten z. B. einige Versuchspersonen unter frei gestalteten Bedingungen Willenshandlungen aus, die sie anfangs als nicht bewusst gewollt empfanden, behaupteten aber anschließend, sich gemäß ihrer ursprünglichen Intention verhalten zu haben.139 Diese Resultate stellen eine Herausforderung für Freiheitstheoretiker dar, welche über die bekannten Schwierigkeiten infolge der „Experimente zur Willensfreiheit“ hinausgeht.140 Im Lichte dieser Untersuchungen und Er­ kenntnisse handelt es sich beim Erleben von Willentlichkeit und Urheber­ schaft um eine Postrationalisierung von Handlungen.141 Psychologen werten diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremderfahrung als Beleg dafür, dass zwischen der bewussten Willensebene und der tatsächlich ausgeführten Handlung keine kausal verursachende Beziehung besteht.142 • Freiheitsempfinden als psychisches Phänomen Diese Erkenntnisse haben auch Auswirkungen auf den Status unseres Freiheitsempfindens. So argumentiert z. B. Wolfgang Prinz, dass sowohl die subjektive Zuschreibung von Autonomie als auch das Gefühl der Entscheidungsfreiheit letztlich auf das Fehlen von Wahrnehmungsinformationen zu­ 135  Prinz,

Kritik 2006, S. 29. S. 30. 137  Spilgies, Kritik 2005, S. 43. 138  Habermas, Freiheit 2004, S. 873; Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 129. 139  Roth, Hirnforscher 2004, S. 228 f. 140  Walde, Willensfreiheit 2006, S. 124. 141  Ebd., S. 114. 142  Merkel / Roth, Freiheitsgefühl 2008, S. 61; Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 127 f.; Roth, Hirnforscher 2004, S. 228. 136  Ebd.,

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

rückzuführen sind. Die eigentlichen „Entscheidungen“, wenn man in diesem Zusammenhang von Entscheidungen sprechen möchte (man könnte auch die Auffassung vertreten, dass Entscheidungen immer daran gebunden sind, bewusst getroffen zu werden), für oder gegen eine bestimmte Handlung würden auf psychischer Ebene (in Abgrenzung zur neuronalen Ebene) eben­ falls unbewusst getroffen und erst nach dieser unbewussten „Entscheidung“ in unser Bewusstsein gelangen; viel zu spät also, um den bewussten men­ talen Zuständen noch eine initiierende Rolle bei der Auslösung von Hand­ lungen zuschreiben zu können. Die unbewusst getroffenen „Entscheidungen“ werden dann erst nachträglich als persönlich getroffene Entscheidungen rationalisiert und interpretiert: „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“143 Diese These von Prinz, die mittlerweile von zahl­ reichen Wissenschaftlern geteilt wird, scheint sich durch eine Vielzahl von Studien zu bestätigen. Gestützt wird diese Sichtweise darüber hinaus auch durch Erkenntnisse der Schizophrenieforschung. Diese Untersuchungen zei­ gen, dass die Initiierung und die Attribution von Handlungen in unterschied­ lichen Systemen vorgenommen werden. In pathologischen Fällen, wie bei Schizophrenen, arbeitet der Attributionsmechanismus nicht mehr fehlerfrei, sodass es in der Folge zwar zu der Durchführung von Handlungen kommt (die Initiierung von Handlungen erfolgt korrekt), aber die schizophrene Person schreibt sich die durchgeführten Handlungen nicht mehr selbst zu.144 Prinz zufolge „sagt, dass wir uns frei fühlen, nichts darüber aus, wie frei oder unfrei die zu Grunde liegenden Prozesse sind.“145 Die Annahme einer ontologischen Willensfreiheit sei mit dem Anspruch der Wissenschaft unvereinbar, wenigstens prinzipiell die Welt determinis­ tisch erklären zu können.146 Für die ontologische Willensfreiheit sei somit auch innerhalb einer wissenschaftlichen Psychologie kein Platz. Wolle man Wissenschaft betreiben, müsse Willensfreiheit geleugnet werden. Legitim sei es hingegen, das subjektive Phänomen der Freiheitsintuition in Entschei­ dungssituationen wissenschaftlich zu beschreiben. Nach Prinz ist ein theo­ retischer Rahmen notwendig, der konsequent differenziert zwischen der objektiven Ebene der subpersonalen „Volitionsmechanik“ und der subjekti­ ven Wahrnehmung personaler Freiheit.147 Problematisch wird es nach Prinz, wenn wir von der Selbstbeobachtung, dass wir uns frei fühlen, darauf schließen, dass wir auch frei „sind“.148 143  Prinz,

Action 1997, S. 168. Willensfreiheit 2006, S. 115. 145  Prinz, Kritik 2006, S. 31. 146  Ebd. 147  Ebd., S. 32. 148  Prinz, Kritik II 2006, S. 29. 144  Walde,



IV. Infragestellung von Freiheit und bewusster Selbststeuerbarkeit53

4. Begründungen für die Forderung nach einer Änderung des Strafrechts Der zentrale Faktor für die Selbstzuschreibung von Entscheidungsfreiheit ist dieser subjektive Eindruck, dass unser bewusster Wille auch unser Han­ deln direkt bedingt und steuert: „Wir erleben seit unserer Kindheit, daß wir etwas tun wollen und es dann auch in aller Regel tun.“149 Aus diesem zeitlichen Nacheinander leiten wir nach Pauen und Roth fälschlicherweise auch den kausalen Zusammenhang ab, dass unser Wille die direkte Ursache für unser Handeln ist.150 Die Handlungsentscheidungen werden in subpersonalen, dem menschli­ chen Bewusstsein entzogenen Prozessen festgelegt und erst anschließend als das Ergebnis bewusster Entscheidungsvorgänge uminterpretiert. Dass der Gedanke zur Tat werden könne und wir glauben, in allen Lebenslagen im­ mer auch anders entscheiden und handeln zu können, sind demnach im Freiheitsjargon der Alltagssprache verwurzelte Fehlvorstellungen.151 Viel­ mehr müsse „davon ausgegangen werden, dass jemand tat, was er tat, weil just in dem Augenblick sein Gehirn zu keiner anderen Entscheidung kom­ men konnte […].“152 Es ist davon auszugehen, dass alle kognitiven, perzep­ tiven, emotionalen und motorischen Leistungen des Menschen neuronal realisiert sind153 und alle Vorgänge des Gehirns den bekannten Naturgeset­ zen entsprechen.154 Alles, was nicht in der assoziativen Großhirnrinde ab­ läuft, ist uns nach gegenwärtigem Kenntnisstand grundsätzlich auch nicht bewusst. Insofern ist aus neurobiologisch-psychologischer Sicht das Be­ wusstsein lediglich ein spezieller Zustand der Informationsverarbeitung.155 149  Pauen / Roth, 150  Ebd.

151  Hillenkamp,

Freiheit 2008, S. 128.

Strafrecht 2005, S. 314. Entscheidungen 2005, S. 712. 153  Pauen / Roth, Freiheit 2008, S. 68. 154  Ebd., S. 69. 155  Roth, Homo neurobiologicus 2008, S. 7. An dieser Stelle muss zur Vermei­ dung eines leider populären Irrtums explizit darauf hingewiesen werden, dass ein „neurobiologischer Determinismus“ klar von einem „genetischen Determinismus“ zu unterscheiden ist. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist menschliches Verhalten zwar immer neuronal realisiert, aber Neuronales ist nicht ausschließlich genetisch deter­ miniert. Insofern erscheint die Angst vor „Unveränderbarkeitsargumenten“ als unbe­ gründet. Ganz im Gegenteil ist in der Hirnforschung unbestritten, dass das Gehirn seinerseits determiniert wird durch Gene, epigenetische Einflüsse, Lernprozesse so­ wie alle sonstigen sozialen Erfahrungen und Umweltfaktoren, die unter den Über­ schriften „soziales Gehirn“ oder „neuronale Plastizität“ diskutiert werden und Mo­ difikationen in der funktionellen Architektur von Nervennetzen bewirken (Singer, Selbsterfahrung 2004, S. 238). Bis etwa zu Beginn der 2000er Jahre war in Teilen 152  Singer,

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

Das deutsche Strafrecht geht demgegenüber davon aus, dass der Mensch dazu in der Lage ist, sich bewusst für oder gegen eine Straftat zu entschei­ den und dieser Entscheidung entsprechend zu handeln. Schuldig kann nur derjenige werden, der auch anders hätte handeln können, als er es in der fraglichen Situation tatsächlich tat. Dies entspricht der oben charakterisier­ ten alternativistischen Freiheitsauffassung, die auch dem § 20 StGB zugrun­ de liegt.156 Merkel und Roth gehen aber davon aus, dass alle Straftäter zum Zeitpunkt der Tat nicht anders hätten handeln können. Seitens der herr­ schenden Lehre in der Strafrechtswissenschaft wird, wie gezeigt wurde, diesem Befund entgegengehalten, dass es sich bei der Fähigkeit des Anders­ handelns nicht um eine empirische Tatsache, sondern um eine normative Zuschreibung handle. Greift aber im konkreten Einzelfall der § 20 StGB, wird diese normative Zuschreibung „plötzlich“ aufgrund empirischer Erkenntnisse ausgeschlos­ sen.157 Als unglückliche Umstände, für welche die Täter nicht verantwort­ lich gemacht werden können, gelten nur Defekte, die eine bereits „ausgebil­ dete“ Persönlichkeit unerwartet verändern, also z. B. Störungen, die durch einen Unfall, einen Hirntumor hervorgerufen oder Hirnschäden, die durch eine Operation verursacht wurden. Demgegenüber können sich „normale“ Straftäter auf solche schuldausschließenden Ursachen nicht berufen. Ihre „Störungen“ werden von der herrschenden Lehre zur Persönlichkeit gezählt, weshalb ein solcher Täter auch für die hieraus folgenden Taten einstehen muss. Insofern macht man einen solchen „normalen“ Straftäter nach Auffas­ sung von Merkel und Roth in einer höchst problematischen Weise für sein „So-Gewordensein“ verantwortlich.158 Wolf Singer führt das Beispiel eines Täters an, dessen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht eingeschränkt war und daher zunächst für voll verantwortlich erklärt wurde, bei dem man aber alsbald einen Tumor in solchen Strukturen des Frontalhirns entdeckte, die für Entscheidungsprozesse von zentraler Bedeutung sind. Einer solchen Person würde man ohne Schwierigkeiten eine Einschränkung ihrer Verant­ wortung attestieren. Doch Singer verweist darauf, dass derselbe Defekt ebenfalls durch weniger augenscheinliche neuronale Ursachen erzeugt wer­ den kann. Dieselben Effekte wie makroskopisch feststellbare Hirnläsionen der Psychologie und der Sozialwissenschaften eine Abkehr vom Konzept einer über­ wiegend umweltbedingten Steuerung menschlichen Verhaltens festzustellen, hin zu einem mehr auf das Individuum bezogenen Ansatz (Roth, Willensfreiheit 2003, S. 43). Insofern wird mit den angesprochenen Forschungsansätzen innerhalb der Neurowissenschaften diese vorübergehende Fokussierung auf das Individuum zuletzt wieder soziologisch-kommunikationstheoretisch eingeholt. 156  Roth / Lück / Strüber, Schuld 2006, S. 335. 157  Merkel / Roth, Bestrafung 2008, S. 32. 158  Ebd., S. 33.



IV. Infragestellung von Freiheit und bewusster Selbststeuerbarkeit55

können nämlich auch durch mikroskopische „Fehlverschaltungen“ ausgelöst werden, die ihrerseits auf vielfältige Ursachen zurückgeführt werden. Hier sind genetische Dispositionen ebenso zu nennen wie ungünstig ver­ laufende Entwicklungs- und Prägungsprozesse oder die mangelhafte „Ein­ schreibung“ von Lerninhalten in neuronale Strukturen. Außerdem sind ebenfalls makroskopisch nicht beobachtbare Veränderungen im neurochemi­ schen Milieu des Gehirns zu berücksichtigen.159 Vom Standpunkt der modernen Neurowissenschaften aus betrachtet er­ scheint damit jegliches abweichendes Verhalten nur als ein spezieller Typ des ansonsten ohnehin vollständig determinierten menschlichen Verhaltens: Generell jedes Verhalten wird durch die funktionelle Architektur des Ge­ hirns bestimmt. Jedes Verhalten ist damit dem Einfluss der Gene, früher Prägungen und verschiedener Störungen ausgesetzt. „Das wird uns in vielen Fällen zu Toleranz und Hilfe verpflichten, wo früher Ausgrenzung und Stra­ fe angewandt wurden.“160 So kommt Singer schließlich zu dem Ergebnis: „Keiner kann anders, als er ist. Diese Einsicht könnte zu einer humaneren, weni­ ger diskriminierenden Beurteilung von Mitmenschen führen, die das Pech hatten, mit einem Organ volljährig geworden zu sein, dessen funktionelle Architektur ihnen kein angepasstes Verhalten erlaubt. Menschen mit problematischen Verhal­ tensdispositionen als schlecht oder böse abzuurteilen, bedeutet nichts anderes, als das Ergebnis einer schicksalhaften Entwicklung des Organs, das unser Wesen ausmacht, zu bewerten. […] Diese Sichtweise trüge der trivialen Erkenntnis Rech­ nung, dass eine Person tat, was sie tat, weil sie im fraglichen Augenblick nicht anders konnte – denn sonst hätte sie anders gehandelt.“161

Merkel und Roth fordern deshalb, dass die Annahme, die dem § 20 StGB zugrunde liegt, nach welcher der Täter sein Handeln zur Tatzeit nicht an den Rechtsnormen hat ausrichten können, nicht nur ausnahmsweise, sondern für alle Gewalttäter zu gelten habe. Besteht ein berechtigter Zweifel daran, dass auch all jene Straftäter nicht anders handeln konnten, die für schuldfä­ hig erklärt werden und bisher nicht unter die Regelung des § 20 StGB fal­ len, wird mit deren Bestrafung ein fundamentaler Grundsatz des Strafrechts in dubio pro reo – „Im Zweifel für den Angeklagten.“ verletzt, der ein Derivat der menschenrechtlichen Garantie der Unschuldsvermutung dar­ stellt: „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“162 Der Staat muss den Nachweis der Schuld führen, um bestrafen zu können. Die bisherigen Erkenntnisse der Hirnforschung reichen nach Einschätzung von Merkel und Roth bei Weitem 159  Singer,

Entscheidungen 2005, S. 712. Jahrzehnt 2002, S. 42. 161  Ders., Selbsterfahrung 2004, S. 254 f. 162  Art. 6 Abs. 2 EMRK. 160  Ders.,

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

aus, um einen solchen Zweifel an der strafrechtlichen Schuld aller Straftäter zu begründen. Die Differenzierung in ungleich zu behandelnde Tätergrup­ pen, die aufgrund des § 20 StGB bisher vorgenommen wird, hält Merkel und Roth zufolge einer empirischen Überprüfung nicht stand.163 Vielmehr stelle sich die Situation so dar, dass durch den § 20 StGB eine rechtliche Ungleichbehandlung empirisch gleicher Sachverhalte vorliege, was wieder­ um ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Willkürverbot gem. Art. 3 Abs. 1 GG) sei.164 Kann gezeigt werden, dass der Täter in seiner Willensbildung nicht frei gehandelt hat, wenn er also nicht dem alternativis­ tischen Erfordernis des Strafrechts entsprechend zwischen mindestens zwei Alternativen wählen konnte, so ist er als nicht schuldig anzusehen.165 „Damit entfällt die traditionelle, auf mentaler Verursachung und Andershandeln­ können beruhende Legitimation der Strafe. Denn nur dort, wo ein Täter tatsächlich anders hätte handeln können, lässt sich eine staatliche Vergeltung legitimieren.“166

In der deterministischen Deutung neurowissenschaftlicher Forschungser­ gebnisse ist es tatsächlich nicht der subjektiv erlebte Wille, der Handlungen initiiert, kontrolliert und steuert. Im Hinblick auf das Fehlen einer spezifi­ schen Funktion des subjektiven Bewusstseins als Steuer- und Kontrollins­ tanz bestehen zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen keinerlei Unterschiede. Das Steuerungsgefühl ist zwar vorhanden, stellt aber aus neurowissenschaftlicher Sicht lediglich einen sekundären psychischen Effekt dar, der den äußerlich beobachtbaren, neuronalen Prozessen nach­ folgt: „Während das Individuum aus seiner Innenperspektive heraus seine Handlungen also als selbstbestimmt im Sinne von willentlich verursacht erlebt, liegen jeder Bewegung, objektiv beurteilt, neuronale Prozesse zugrunde, die vor dem Wil­ lensentschluss des Individuums die Bewegung einleiten und damit zum wirklichen Ursprung ihres Stattfindens werden.“167

V. Eine Frage der Perspektive – Ansätze eines perspektivischen Zugangs zur Freiheitsdebatte im Strafrecht Nach Auffassung Björn Burkhardts hat das Strafrecht keinen Anlass, auf den Begriff der persönlichen Schuld zu verzichten. Grundlage für den indi­ viduellen Tadel sei nämlich die psychische Tatsache des menschlichen 163  Merkel / Roth,

Bestrafung 2008, S. 34. S. 35. 165  Roth / Lück / Strüber, Schuld 2006, S. 335. 166  Merkel / Roth, Bestrafung 2008, S. 45. 167  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 308. 164  Ebd.,



V. Eine Frage der Perspektive57

Freiheitserlebnisses. Demnach setzt strafrechtliche Schuld voraus, dass der Täter seine Tat im Bewusstsein des Andershandelnkönnens vollzogen hat.168 Dementsprechend formuliert Burkhardt das betagte BGH-Urteil aus dem Jahre 1952 um: „Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl es ihm aus seiner Sicht möglich war, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu ent­ scheiden. Der innere Grund des Schuldvorwurfs ist darin zu sehen, daß der Mensch darauf angelegt ist, im Bewußtsein der Freiheit zu handeln und sich als Urheber seiner Entscheidungen zu begreifen.“169

Burkhardt verwahrt sich gegen die Behauptung, das Freiheitserleben sei von zweitrangiger Bedeutung. Dies sei in doppelter Beziehung unzutreffend: Zum einen ignoriere diese Sichtweise, dass in der Schuldfrage die Innenperspektive des handelnden Subjekts der maßgebliche Beurteilungsgegen­ stand sei. Grundsätzlich sei, so Burkhardt, nicht entscheidend, wie die Welt „tatsächlich sei“, sondern wie der zu beurteilende Täter sie gesehen habe. Darüber hinaus werde aber auch verkannt, dass es eine vom individuellen Bewusstsein des Anderskönnens losgelöste (objektive) Entscheidungsfreiheit gar nicht geben könne. Entscheidungsfreiheit sei immer an das Bewusstsein gebunden: „[…] ihre Existenz ist wesentlich eine Erste-Person-Existenz.“170 Das Bewusstsein des Anderskönnens sei eine notwendige Bedingung für den strafrechtlichen Schuldvorwurf.171 Auch nach Auffassung von Kristian Kühl knüpft das StGB an die subjektive Erste-Person-Perspektive an, in welcher der Bürger sich selbst Freiheit und die Möglichkeit zum Anders­ handelnkönnen zuschreibt.172 In der Ersten-Person-Perspektive haben wir den Eindruck, als könnten wir mittels unserer bewussten Entschlüsse belie­

168  Burkhardt,

Bemerkungen 2010, S. 10. S. 11. Zu Recht verweist Anja Schiemann auf die Nichtvereinbarkeit einer Reformulierung mit dem Schuldverständnis des BGH: „[…] so führt diese geringfügige Umformulierung doch zu einer ganz anderen Art von Schuldvorwurf. Hier geht es nicht mehr um einen Schuldvorwurf, der auf tatsächliche Annahmen gestützt ist, nämlich, wie der BGH betont, auf freie Selbstbestimmung, auf das rea­ le Anders-Handeln-Können. Burkhardt begründet hier den Schuldvorwurf auf der – von ihm nicht bestrittenen – falschen Annahme des Täters, er handele in Freiheit und könne sich auch anders entscheiden. Genau das kann er nicht, doch ist es gera­ de dies, was der BGH nicht nur vorstellungshalber, sondern rein tatsächlich fordert. Die Änderungen, die Burkhardt hier vornimmt, sind mit dem Schuldvorwurf, wie er sich in der heutigen Rechtsprechung des BGH darstellt, nicht vereinbar.“ (Schiemann, Willen 2004, S. 2058 f.). 170  Burkhardt, Bemerkungen 2010, S. 12. 171  Ebd. 172  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 325. 169  Ebd.,

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A. Die lebenswissenschaftliche Kritik am deutschen Schuldstrafrecht

big über unser Handeln verfügen.173 In dieser Sichtweise spielt es keine Rolle, ob die vorgestellten Handlungsoptionen „tatsächlich“ bestehen. Für die Entstehung des subjektiven Freiheitsgefühls reicht die allgemeine Vor­ stellung des Andershandelnkönnens aus: „Dieses Bewußtsein mehrerer echter Verhaltensalternativen wird von mir deutlich erlebt […].“174 Auf der anderen Seite stehen Bedenken von Strafrechtswissenschaftlern hinsichtlich der Tragweite einer „nur“ an die Erste-Person-Perspektive ge­ bundenen Freiheit, die lediglich in der „Einbildung“ der Menschen existie­ re.175 Andererseits „[..] wäre (es) aber doch ein Fehler, [..] einen vom Staat erhobenen, mit einem sozialethischen Tadel und mit Strafe verknüpften Schuldvorwurf abzuleiten, wenn unser Gefühl uns trügt. An eine Illusion kann ein Strafrecht nicht knüpfen. Ist die Erste-Person-Perspektive durch die Dritte tatsächlich als Trugschluss entlarvt, wird sich zudem […] auch die Illusion nicht mehr halten. […] Das Strafrecht baute auf Lüge, sein Menschenbild wäre gefälscht. Damit könnte ich mich nicht abfinden.“176

Für die Behandlung der Freiheitsfrage im Strafrecht muss also philosophisch geklärt werden, auf welche der beiden Erkenntnisperspektiven sich das Strafrecht beziehen kann – auf die Erste- oder die Dritte-Person-Pers­ pektive.

173  Pauen / Roth,

Freiheit 2008, S. 130. S. 131. 175  Hillenkamp, Strafrecht 2005, S. 313. 176  Ebd., S. 320. 174  Ebd.,

B. Philosophie der Perspektivität Sowohl in der Alltags- als auch in der Wissenschaftssprache lässt sich ein beinahe inflationärer Gebrauch des Begriffs der „Perspektive“ beobachten. Ebenso findet sich perspektivische Terminologie in den Grundlagendiskus­ sionen fast aller Wissenschaften. Selten genug liegt einem solchen Sprach­ gebrauch jedoch ein fundiertes Verständnis der Begriffe „Perspektive“ und „Perspektivität“ zugrunde. Eine ausgearbeitete Theorie der Perspektivität ist bislang nicht vorgelegt worden.1 Das nachfolgende Kapitel verfolgt das Ziel, in der Philosophie verstreute Ansätze perspektivischen Denkens aufzu­ greifen, zu ordnen und eine begriffliche Konturierung vorzunehmen.

I. Philosophiegeschichtliche Umrisse der Entwicklung perspektivischer Philosophie Der kulturelle Zusammenhang und die historische Ermöglichungsbedin­ gung der Perspektivität finden sich in der Renaissance. Diese Zeit war ge­ prägt von einer Kultur der Individualisierung und Pluralisierung.2 Insofern steht die perspektivische Philosophie der Renaissanceepoche in einer Ent­ wicklungslinie der Abkehr von mittelalterlichen Weltdeutungen und für eine Denkbewegung hin zu einem Pluralismus der Wahrheit oder wenigstens in Richtung auf eine Gleichberechtigung alternativer Zugänge zu der „einen“ Wahrheit.3 Die cusanische Philosophie in ihrer Stellung zwischen Mittelalter und Neuzeit rückt die Begrenztheit des menschlichen Blicks4 und die grundsätzliche Standortgebundenheit des menschlichen Daseins in das Zen­ trum der Aufmerksamkeit und ermöglichte Einsichten in die Horizonthaftig­ keit menschlichen Erkennens. Das Wissen um die prinzipielle Begrenztheit menschlicher Erkenntnis5 wird hier mit einer charakteristischen perspektivi­ schen Konstellation kombiniert: Der endlich-begrenzte Blick vermag die unendliche Wahrheit jeweils nur ausschnitthaft zu fassen. Die Neigung des Menschen, seine je eigene Sicht zu verabsolutieren, wird durch die Religion 1  Gerhardt / Herold,

Vorwort 1992, S. III f. Perspektive 2004, S. 5. 3  Rudolph, Perspektivismus 2004, S. 234. 4  Herold, Perspektive 1992, S. 11, Fn. 30. 5  Ebd., S. 11. 2  Dalferth / Stoellger,

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B. Philosophie der Perspektivität

in Abgrenzung zum „absoluten Blick“ Gottes relativiert, dem gegenüber der menschliche Blick immer nur partiell sein kann. Die für die weitere Entwicklung des neuzeitlichen Denkens zentrale Ein­ sicht besteht in der für den Menschen prinzipiellen Nicht-Erreichbarkeit der „reinen“ Wahrheit, die überhaupt erst den Blick öffnet für eine Pluralität jeweils partiell berechtigter Standpunkte.6 Auch wenn bei Immanuel Kant der Begriff der Perspektive selbst keine Rolle spielt, so charakterisiert Perspektivität seinen Denkansatz doch im Kern. In der Renaissance existierten die Dinge als objektive Gegenstände der Außenwelt. Trotz der allgemeinen Einsicht in die Standortgebundenheit der eigenen Perspektive blieb der suchende Blick als solcher unhinterfragt auf die Gegenstände selbst gerichtet. Kant hingegen verlagert die Aufmerk­ samkeit auf die Bedingungen der Möglichkeit von Gegenstandserkenntnis überhaupt. Nach Kant wird der objektive Charakter der Gegenstände durch apriorische Strukturen unserer Erkenntnis vorgezeichnet. Vom transzenden­ talphilosophischen Standpunkt aus betrachtet kann Objektivität subjektiv verbürgt werden durch die Einheitlichkeit eben jener apriorischer Erkenntnisstrukturen erkennender Subjekte, die überhaupt erst die objektiven Ge­ genstände konstituieren.7 Dabei geht es Kant nicht, wie oft missverstanden wird, um das im einzelnen empirischen Subjekt stattfindende psychische oder mentale Verbinden von Vorstellungen, obwohl Kant sich leider, aller­ dings mangels terminologischer Alternativen, oft psychologistisch und damit missverständlich ausdrückt, sondern um grundsätzliche strukturelle „Ver­ bindbarkeiten“ in einem einheitlichen transzendentalen Subjekt.8 Die im kantischen Denken stehende Tradition generalisiert die Erkenntnis in einem transzendentalen Subjekt.9 Die objektive Welt erscheint damit in der Pers­ pektive der vom Subjekt entworfenen Gesetzlichkeit.10 Erst diese funda­ mentale Verlagerung des Fokus auf die grundlegenden Voraussetzungen der Erkenntnis ermöglichte die Formulierung einer transzendentalen Fragestel­ lung, die sich nicht wie bislang unmittelbar auf die Objekte der Erkenntnis richtete.11 Diese Umstellung von einer „objektivistischen“ Blickrichtung auf eine „perspektivisch gebrochene“ Sichtweise ist Kants berühmte kopernikanische Wende in der Metaphysik:12 6  Herold,

Perspektive 1992, S. 12. Leiblichkeit 2004, S. 62. 8  Lenk, Bemerkungen 1992, S. 257. 9  Dalferth / Stoellger, Perspektive 2004, S. 13 f. 10  Kaulbach, Idee 1980, S. 67; ders., Philosophie 1990, S. 14. 11  Herold, Perspektive 1992, S. 28 f. 12  Auch Kopernikus richtete nicht „naiv“ in direkter Intention seinen Blick auf die Gegenstände, sondern thematisierte den eigenen Standpunkt und die perspektivi­ sche Situation, in der er sich bewegte (Kaulbach, Philosophie 1990, S. 20). 7  Reichold,



I. Philosophiegeschichtliche Umrisse61 „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten […]. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müs­ sen sich nach unserem Erkenntnis richten […].“13

Die „kopernikanische Wende“ bedeutete eine fundamentale erkenntnisthe­ oretische Neuorientierung der Philosophie durch Kant. Die zentrale Aussage von Kants Kritik der reinen Vernunft besteht darin, dass unsere Erkenntnis zwar bei der sinnlichen Erfahrung beginnt, dabei allerdings geformt und begrenzt wird durch die a priori zugrundeliegenden Bedingungen aller Er­ fahrung.14 Insofern kann es für den Menschen keine erkenntnisunabhängige Welt geben.15 Da unsere Erkenntnisstrukturen den Gegenständen ihre Ge­ setze „vorschreiben“ und die erkannten Sachen auf diese Weise zu Inhalten für uns werden (also zu Gegenständen unserer Erlebnis- und Erkenntnis­ welt), ist unsere Erkenntnis immer phänomenal, d. h. eine Erkenntnis von den Erscheinungen der Dinge, nie aber die Dinge an sich erreichend.16 So gesehen ist Transzendentalphilosophie immer perspektivisch, indem sie grundsätzlich auf die Fragen der eingenommenen Position und Perspektive reflektiert.17 Bei Kant markiert das Vernunftvermögen den Fluchtpunkt al­ ler Erkenntnis. Der perspektivische Charakter dieser Auffassung verdeutlicht sich in der ungegenständlichen, nur regulativen Funktion der Vernunftideen, die als Ziele dienen, auf die alle Vernunft ausgerichtet ist. Diese Zielpunkte liegen selbst aber außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung.18 Im 19. Jahrhundert aktualisiert Friedrich Nietzsche das Thema „Perspek­ tivität“, indem er den Begriff der Perspektive unter Beibehaltung seiner im Hinblick auf die Wahrheitserkenntnis relativierenden Funktion in Abgren­ zung zu Kant wieder detranszendentalisiert: Gegen den Anspruch einer einzig gültigen Wahrheit bezieht die perspektivische Philosophie Nietzsches den Standpunkt der Anerkennung einer je individuellen Wahrheit.19 Nach Nietzsche ist „das Perspektivische […] die Grundbedingung alles Lebens“.20 Es ginge darum, „sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven […] für die Erkenntnis nutzbar zu machen.“21 Nietzsche wendet sich damit ge­ gen ein dogmatisches Philosophieren, das von der Möglichkeit ausgeht, die 13  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B XVI. Schuldfähigkeit 1992, S. 106. 15  Tiemeyer, Indeterminismus 1993, S. 504. 16  Haddenbrock, Schuldfähigkeit 1992, S. 106. 17  Kaulbach, Philosophie 1990, S. 19. 18  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 672; Herold, Perspektive 1992, S. 28 f. 19  Grosshans, Wahrheit 2004, S. 259. 20  Nietzsche, Gut 1960 (1886), S. 566. 21  Ders., Genealogie 1960 (1887), S. 860; Grosshans, Wahrheit 2004, S. 256. 14  Haddenbrock,

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B. Philosophie der Perspektivität

Perspektivität des Erkennens ausblenden zu können, und verbindet diesen Impetus mit einer individualistischen Auffassung von Perspektivität: Wenn man etwas erkennt, dann kann es mit Nietzsche „nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches Erkennen“ geben.22 Die Frage nach der Objektivität des Erkennens lässt sich nicht durch die Einnahme eines über-perspektivischen Standpunktes beantworten, sondern Objektivität kann lediglich ein näherungsweises Ergebnis vieler einzelner, perspektivischer Erkenntnisakte sein: „[…] je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein.“23 In der Philosophie des 20. Jahrhunderts fanden perspektivische Impulse Eingang in Überlegungen zur „gleichzeitigen Existenz mehrerer Welten“. Die eigenständige Perspektivität „weltstiftender“ Symbolsysteme und der in ihnen formulierten Erfahrung werden vor allem betont durch die „Philoso­ phie der symbolischen Formen“ des Neukantianers Ernst Cassirer24 sowie durch die an diese anschließende und weiterführende Philosophie von Nel­ son Goodman25 und seiner Schule. Hier bedingt die Verschiedenartigkeit der Symbolsysteme eine Pluralität unterschiedlicher Welten, da diese jeweils eine spezifische Art der Erfahrung und eigene Maßstäbe der Wahrheit bzw. Richtigkeit konstituieren und nur begrenzt ineinander übersetzbar sind.26 Der Begriff der Perspektive hat in diesem Sinne sowohl eine abgrenzende (indem mehrere Welten voneinander unterschieden werden) als auch eine öffnende Funktion (durch die Konstitution einer Pluralität mehrerer Weltzu­ gänge).

II. Systematische Überlegungen zur Perspektivität Durch die Einnahme einer bestimmten Perspektive begibt sich der Mensch in ein spezifisches Verhältnis zur Welt.27 Forciert wurden perspektivische Ansätze in der Philosophie besonders durch Kants kopernikanische Wende, der zufolge sich die Objekte nach unserer Erkenntnis richten und somit „subjektabhängig“ sind:28 22  Nietzsche,

Genealogie 1960 (1887), S. 861. Grosshans, Wahrheit 2004, S. 260 f. 24  Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde. (1923– 1929), Hamburg 2010. 25  Vgl. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, 4. Aufl., Frankfurt a.  M. 1998. 26  Plümacher, Perspektivismus 1999, S. 1004. 27  Kaulbach, Philosophie 1990, S. IX. 28  Plümacher, Perspektivismus 1999, S. 1002 f.; Theunissen, Andere 1977, S. 30. 23  Ebd.;



II. Systematische Überlegungen zur Perspektivität63 „Es ist eine Philosophie, die gegenüber dem vorwissenschaftlichen und auch wis­ senschaftlichen Objektivismus auf die erkennende Subjektivität als Urstätte aller objektiven Sinnbildungen und Seinsgeltungen zurückgeht und es unternimmt, die seiende Welt als Sinn- und Geltungsgebilde zu verstehen und auf diese Weise eine wesentlich neue Art der Wissenschaftlichkeit und der Philosophie auf die Bahn zu bringen.“29

In diesem Sinne ist die Welt eine von uns abhängige. Dieser Rückbezug auf das erkennende Subjekt und seine epistemischen Möglichkeiten kenn­ zeichnet den Kern perspektivischer Ansätze im Grundsatz. Im Anschluss an Kant sucht perspektivisch orientierte Philosophie Erkenntnis daher auch nicht primär in dogmatischen Aussagen über Objekte oder Objektverhältnis­ se in der Welt, sondern legt das Augenmerk umgekehrt auf jene Perspekti­ ven, in denen uns die Welt in Form von Begriffen und Sprache allererst begegnet:30 „Im Mittelpunkt perspektivistischer Philosophie steht der Gedanke, daß die Wahr­ heit über unsere Welt von der Stellung abhängt, die wir dem Sein gegenüber einnehmen, und von der dieser gemäßen Art und Weise, wie wir diese Welt deu­ ten, sie ‚sehen‘ und unter welchen Gesichtspunkten wir in ihr handeln.“31

Erkenntnis wird überhaupt erst innerhalb perspektivischer Relationen konstituiert und erschlossen. In Abwandlung der kantischen Rede könnte man sagen: Perspektivität ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkennt­ nis.32 Die Perspektivität jedes Erkenntnisvorgangs, analog zur Perspektivi­ tät der Optik gedacht, ist die Generalthese perspektivischer Philosophie. So wie zu jedem Sehen ganz selbstverständlich eine optische Perspektive ge­ hört, wird auch jeder Erkenntnisprozess durch die zugrunde liegende epis­ temische Perspektive bestimmt. Jegliches Wissen, das wir haben können, ist perspektivisches Wissen.33 So wie man mit Kant nicht „hinter“ die Phänomene sehen kann, so ist es auch nicht möglich, hinter oder neben die Perspektive zu blicken, die sich auf etwas richtet.34 Auf der Ebene des einzelnen empirischen Subjekts ist mit Nietzsche nichts erkennbar, das sich nicht in der je eigenen Perspektive darbietet.35 In 29  Husserl,

Krisis 1977 (1936), S. 110. Philosophie 1990, S. 9. 31  Ebd., S. 1. 32  Dalferth / Stoellger, Perspektive 2004, S. 13 f., 23; Sturma, Perspektiven 1992, S. 121. 33  Gerhardt, Perspektivik 1999, S. 93; Pauen, Rätsel 1999, S. 194; Ritschl, Lo­ gik 1988, S. 55. 34  Dalferth / Stoellger, Perspektive 2004, S. 7. 35  Kaulbach, Kant 1969, S. 120. 30  Kaulbach,

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B. Philosophie der Perspektivität

Abgrenzung zu den Standpunkten Anderer ist der persönliche Standpunkt für das empirische Individuum der „höchste Punkt“, von dem aus ihm die Welt perspektivisch begegnet.36 Standpunkt und Perspektive sind nicht dasselbe. Aber obwohl beide As­ pekte begrifflich voneinander zu unterscheiden sind, gehört zu jeder Pers­ pektive auch ein Standpunkt, von dem aus eine Perspektive entworfen wird.37 Das empirische Subjekt entwirft von einem Stand- oder Gesichts­ punkt aus, der sowohl Fixpunkt individueller Vorstellungen als auch Aus­ gangspunkt subjektiver Bestimmungen und Geltungsansprüche ist, eine Perspektive auf „etwas“.38 In intentionaler Richtung wird ein spezifischer Geltungsanspruch jeder­ zeit von einem bestimmten Standpunkt aus erhoben, wird immer von je­ mandem formuliert und nicht von jedem.39 Umgekehrt werden in phänome­ naler Hinsicht alle in einem Gesichtsfeld liegenden Erscheinungen überhaupt erst sichtbar, wenn sie perspektivisch auf einen Standpunkt bezogen werden können, von dem aus die Beobachtung erfolgt.40 Die perspektivische Sichtweise wird maßgeblich durch die Relation zum Blickpunkt bestimmt.41 Von zwei Standpunkten aus kann sich zur selben Zeit etwas in verschiedenen Perspektiven als völlig unterschiedlich darstel­ len.42 Dieses „Woher“ und „Wohin“ kann zwar verlassen werden, aber nur auf dem Wege eines Wechsels auf einen anderen Standpunkt, der zugleich eine veränderte Perspektive bedingt.43 Wird ein anderer Standpunkt gewählt, verschieben sich die Relationen sofort auf gravierende Weise.44 In perspektivischen Ansätzen stehen Fragen im Vordergrund, die sich darauf richten, wie etwas in den Blick genommen wird: „In welchen Pers­ pektiven wird was erschlossen?“, „Wie lässt sich der methodische Gebrauch der Perspektiven beschreiben?“45

36  Dalferth / Stoellger,

Perspektive 2004, S. 6; Simon, Horizonte 2004, S. 121. Perspektivismus 2004, S. 96; Gerhardt, Kaulbach 1993, S. 460; Sturma, Perspektiven 1992, S. 119. 38  Simon, Horizonte 2004, S. 121; Stoellger, Wahrheit 2004, S. 350; Sturma, Selbstbewußtsein 2002, S. 219. 39  Dalferth / Stoellger, Perspektive 2004, S. 10. 40  Gerhardt, Kaulbach 1993, S. 459. 41  Ders., Perspektive 1992, S. IX. 42  Dalferth / Stoellger, Perspektive 2004, S. 10. 43  Ebd. 44  Gerhardt, Perspektive 1992, S. IX. 45  Kaulbach, Philosophie 1990, S. VIII. 37  Mittelstraß,



II. Systematische Überlegungen zur Perspektivität65

Der Begriff der Perspektive verweist dabei auf interne Funktionsbedin­ gungen der Erkenntnis, die erfüllt sein müssen, damit überhaupt etwas er­ kannt werden kann.46 Fest steht dabei, dass die Art und Weise, wie wir uns etwas erschließen, maßgeblich von der Perspektiveneinnahme gegenüber dem zu Untersuchenden abhängt. Die eingenommene Perspektive bestimmt dann, wie wir etwas deuten und welche Maßstäbe wir zugrunde legen. Jede Perspektive schafft auf diese Weise eine eigene Ordnung, die sich unvermeidlich und notwendig einstellt.47 Im hier vertretenen gemäßigt-konstruk­ tivistischen Ansatz muss mit Blick auf die Perspektiveneinnahme jedoch auch das „Was“ für das methodische „Wie“ der Thematisierung mit bedeut­ sam sein.48 Die Möglichkeit einer subjektiven Perspektivenwahl hängt da­ von ab, welchen Status und Einfluss man den Phänomenen im Erkenntnis­ prozess geneigt ist beizumessen. Die Gewichtung der Beteiligung der Phä­ nomenbereiche gilt unbeschadet der grundsätzlichen Perspektivenabhängigkeit unserer Erkenntnis keineswegs als ausgemacht.49 Die Einnahme einer bestimmten Perspektive kann aber nicht willkürlich sein. Vielmehr gilt es, auch die äußeren Bedingungen und den situativen Gesamtkontext der Pers­ pektiveneinnahme mit zu berücksichtigen.50 Erst das Zusammendenken des erkenntniskonstitutiven Charakters der Perspektive mit der „affizierenden“ Funktion des in den Blick Genommenen umgeht die Gefahr des Relativis­ mus.51 Unter Berücksichtigung dessen, woraufhin Sichtweisen entworfen werden können, ist die Figur der Perspektive weder relativistisch noch es­ sentialistisch.52 Von der je eigenen Perspektive kann nicht abgesehen wer­ den. Auch wenn alles, was ist, Konstruktion in und aus einer Perspektive ist, bedeutet sie doch zugleich ein „Fenster zur Welt“, das die Begegnung mit Anderem und Intersubjektivität ermöglicht.53

46  Gerhardt, 47  Ebd.

Perspektive 1992, S. IX.

48  Gebauer stellt fest, dass es geradezu eine der innovativsten philosophischen Fragestellungen sei, zu klären, welche Aspekte der Ersten- und Dritten-Person-Pers­ pektive notwendig und welche kontingent seien (Gebauer, Vorwort 1991, S. 7). 49  Lindemann, Beobachtung 2005, S. 766 f. 50  Gerhardt, Perspektive 1992, S. IX; Grosshans, Wahrheit 2004, S. 261 f. 51  Kaulbach, Philosophie 1990, S. 7. 52  Dalferth / Stoellger, Vorwort 2004, S. V. 53  Dies., Perspektive 2004, S. 6.

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B. Philosophie der Perspektivität

III. Ansätze für das Konzept der Perspektivendualität in der Erkenntnistheorie Immanuel Kants 1. Dualitäten in Kants Kritik der reinen Vernunft • Dualität von Noumena und Phänomena Wenn Kant von „Blick“, „Standpunkt“ und von zwei verschiedenen Arten der Anschauung spricht, bezeichnet er damit die Perspektiven- und Stand­ ortgebundenheit des erkennenden Subjekts, die zu unterschiedlichen Be­ trachtungsweisen führt. Was als „Welt“ bezeichnet wird, lässt sich grund­ sätzlich immer nur in Relation zu der Position bestimmen, die das Erkennt­ nissubjekt einnimmt.54 Nach Lenk gehe Kant dabei allerdings von einer Zwei-Welten-Lehre aus und falle Tendenzen des Substantialisierens an­ heim.55 Kaulbach setzt bei Kants Zwei-Welten-Lehre an und überführt sie in eine rein epistemologische Perspektivität, die weniger postuliert und sich methodisch auf den Vorgang der Perspektiveneinnahme konzentriert.56 Nichtsdestoweniger ordnet auch Kaulbach die beiden fundamentalen Per­ spektiven den zwei Welten mundus sensibilis und mundus intelligibilis zu, die er dann allerdings nur noch insoweit als „Welten“ behandeln möchte, als vorgängig zwei unterschiedliche Standpunkte eingenommen werden müssen, von denen aus sich diese „konstituieren“.57 Entscheidend ist, dass Kaulbach den gesamten phänomenalen Bereich unterschiedslos der Dritten-Person-Perspektive zuordnet. Das in der empiri­ schen Anschauung Gegebene, die Erscheinung, wird demnach in der Drit­ ten-Person-Perspektive gedeutet bzw. bestimmt und so erst zu einem Gegen­ stand „für uns“ geformt. Das Erscheinende fügt sich unter die Regeln un­ seres „Erkenntnisapparats“. Der vom Baum gefallene Apfel wird deshalb zum physischen Gegenstand, weil er durch die Sprache der Dritten-PersonPerspektive des erkennenden Subjekts bestimmt und als Besonderes unter allgemeine Gesetze, wie etwa das der Kausalität, subsumiert wird. Erst durch die diktierende Funktion apriorischer Erkenntnisstrukturen werden die Erscheinungen in der Dritten-Person-Perspektive durch begriffliche Bestim­ mungen zu Gegenständen transformiert.58 54  Gerhardt / Kaulbach,

Kant 1979, S. 78. Begriffe 1986, S. 185. 56  Gerhardt / Kaulbach, Kant 1979, S. 33; Lenk, Begriffe 1986, S. 194. 57  Mit dem Theorem der Differenzierung von zwei Standpunkten werden durch Kaulbach Überlegungen des Neukantianismus wieder aufgegriffen. Gerhardt weist allerdings auf Schwierigkeiten des Versuchs vor allem der Marburger Schule hin, die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft ausschließlich me­ thodologisch begründen zu wollen (Gerhardt / Kaulbach, Kant 1979, S. 79). 55  Lenk,



III. Konzept der Perspektivendualität in der Philosophie Kants67

• Dualität innerhalb des Phänomenbereichs In Kants Philosophie lassen sich unterschiedliche Dualitäten fundamenta­ len Perspektiven zuordnen. So geht die neuere Kantforschung davon aus, dass die Dualität der personalen Perspektiven sich nicht in Kaulbachs Sinne auf Kants Gegenüberstellung von Noumena und Phänomena abbilden lässt, sondern, bezogen auf empirische Anschauung, vielmehr auf den „inneren“ und „äußeren“ Sinn innerhalb des phänomenalen Bereichs, da der Bedeu­ tungsgehalt des reinen Denkens, im Unterschied zu Vorstellungen, die im inneren Sinn („Bewusstseinsstrom“) gegeben sind, selbst nicht empirisch und daher auch einer empirischen Thematisierung prinzipiell unzugänglich ist.59 2. Kants Theorie des inneren und des äußeren Sinnes Kant schenkt dem Leib-Seele-Problem eher wenig Beachtung, da Körper und Geist für ihn lediglich zwei unterschiedliche Arten von Vorstellungen sind, deren Zusammenhang nicht sonderlich fragwürdig ist.60 Insofern wur­ de der Frage, wie das, was in der Gegenwartsphilosophie als „mentaler Zustand“ bezeichnet wird, in die fundamentale Differenz des noumenalen und phänomenalen Bereichs eingeordnet werden kann, auch von der KantForschung bislang nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet.61 Nach Rosas gibt es hinsichtlich des Mentalen zwei Interpretationen. In der ersten Deu­ tung stellen das Mentale und das Physische lediglich zwei Variationen von Erscheinungen dar, die beide in den Bereich des Phänomenalen fallen.62 In der zweiten Deutung wird das Mentale dem Bereich des Intelligiblen und das Physische dem Bereich des Phänomenalen zugeordnet. Diese letztere Auffassung lässt sich aber nur schwer mit der von Kant betonten Zeitlich­ keit psychischer Vorgänge in Einklang bringen.63 In dieser Arbeit wird Kants Theorie des Verhältnisses von innerem und äußerem Sinn als eine perspektivische Lehre aufgefasst, die unseren episte­ mischen Bezug auf die Außenwelt unter Vernachlässigung des Bereichs des Intelligiblen in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt.64 Insofern wird die zweite Interpretation des Mentalen als etwas dem Intelligiblen Zugehö­ rigen abgelehnt. 58  Kaulbach,

Philosophie 1990, S. 21 f. Dualismus 2007, S. 278. 60  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 427 / 428; Willaschek, Kant 1997, S. 473. 61  Willaschek, Kant 1997, S. 478. 62  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 427 / 428. 63  Willaschek, Kant 1997, S. 478. 64  Mohr, Ich 1991, S. 14 f. 59  Schlicht,

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B. Philosophie der Perspektivität

Entsprechend Kants „isolierender“ Analyse werden in der Kritik der reinen Vernunft die beiden „Stämme“ der Erkenntnis, Sinnlichkeit und Ver­ stand, getrennt voneinander erörtert. Im Aufbau der Kritik geht die Erörterung der Sinnlichkeit in der Transzendentalen Ästhetik der Diskussion des Verstandes in der Transzendentalen Logik voraus. Daher diskutiert Kant den inneren Sinn auch „sinnlichkeitsintern“ in der Transzendentalen Ästhetik, ohne bereits auf die Transzendentale Logik vorzugreifen, wo anschließend die intrakognitiven Wechselverhältnisse von Sinnlichkeit und Verstand be­ handelt werden.65 Die Lehre vom inneren und äußeren Sinn ist grundlegend für den gesamten Aufbau von Kants Erkenntniskritik und insbesondere für die Theorie der Entstehung empirischen Selbstbewusstseins seit der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von entscheidender Bedeutung.66 Reininger unterscheidet hinsichtlich des Verhältnisses von innerem und äu­ ßerem Sinn zwei Standpunkte.67 a) Die Parallelitätsthese Die erste Auffassung geht von einem koordinierten bzw. parallelen Ver­ hältnis aus, demzufolge innerer und äußerer Sinn als grundsätzlich gleichberechtigte Erkenntnisquellen angesehen werden. Gemeinsam ist beiden Sinnen ihr lediglich passiv-rezeptiver Charakter. Unterschieden sind sie al­ lerdings durch ihre Anschauungsformen: Dem inneren Sinn68 wird die Form der Zeit zugeordnet, dem äußeren Sinn die Form des Raumes sowie hin­ sichtlich der Inhalte, die vermittelt werden: innere Zustände dem inneren Sinn, körperliche Vorstellungen dem äußeren Sinn. Im Zusammenhang mit 65  Mohr, Ich 1991, S. 58. Innerhalb der kantischen Systematik handelt es sich bei der inneren Selbstanschauung streng genommen jedoch nicht um Wissen, da sie, isoliert in der Ästhetik behandelt, noch unabhängig vom Begriffsgebrauch des Ver­ standes erörtert wird, durch den überhaupt erst Wissen entstünde. Damit wird aller­ dings nicht behauptet, die innere Selbstanschauung habe überhaupt keinen Bezug zum Begrifflichen oder träte gar als begrifflich „unbearbeiteter“ Bewusstseinsinhalt auch faktisch auf (das Gegenteil ist der Fall), sondern nur, dass die Selbstanschau­ ung mittels des inneren Sinnes selbst noch nicht die Struktur eines Begriffes auf­ weist. Ein nicht-begriffliches Wissen kann es aber nach Kant eben nicht geben, daher ist die Selbstanschauung, allein für sich betrachtet, selbst noch kein Wissen (Ebd., S. 63). 66  Heidemann, Sinn 2006, S. 306. 67  Reininger, Lehre 1900, S. 13. Für ein Verständnis der hier vorgestellten Kon­ zeption ist es zunächst wichtig festzuhalten, dass innerer wie äußerer Sinn selbst keine empirisch-psychologischen Vermögen der Erkenntnis sind. Insbesondere ist der Auffassung entgegenzutreten, bei dem inneren Sinn handele es sich um ein „Organ“ der inneren Selbstwahrnehmung (Heidemann, Sinn 2006, S. 306 f.). 68  Auch: Bewusstseinsstrom oder „empirische Apperzeption“ (Schlicht, Dualis­ mus 2007, S. 249).



III. Konzept der Perspektivendualität in der Philosophie Kants69

der Differenzierung der Sinnlichkeit in zwei Sinne kommt es in der Ästhe­ tik zu einer näheren Bestimmung des inneren Sinnes, indem dieser dem äußeren Sinn gegenübergestellt wird: „Vermittelst des äußeren Sinnes, (einer Eigenschaft unseres Gemüts,) stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume vor. Darinnen ist ihre Gestalt, Größe und Verhältnis gegen einander bestimmt, oder bestimmbar. Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüt sich selbst, oder seinen inneren Zustand anschauet, gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Objekt; allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres innern Zustandes allein möglich ist, so, daß alles, was zu den innern Bestimmun­ gen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird. Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, so wenig wie der Raum, als etwas in uns.“69

Raum und Zeit sind reine Anschauungsformen, durch die uns Erscheinun­ gen gegeben werden, über die Sätze mit objektiv-realer Gültigkeit gebildet werden können. Beide Anschauungsformen sind im Standpunkt des empiri­ schen Subjekts begründet. Raum und Zeit werden im Bereich der Subjekti­ vität verortet, sind für uns aber zugleich der Rahmen für apriorische Bedin­ gungen der Objektivität. Sie sind ideale, nur dem Subjekt zugehörige Weisen des Vorstellens. Deshalb kommt ihnen objektive Gültigkeit für unsere Ge­ genstandserfahrung zu.70 Der Raum ist die Anschauungsform, durch die man sich die Dinge außer­ halb seiner selbst vorstellt und sie in Größe, Gestalt und Lage anschaut. Die Anschauungsform der Zeit dagegen ist auf diejenigen Erscheinungen gerich­ tet, die sich in uns abspielen:71 die Folge von Gefühlen, Gedanken und anderen mentalen Zuständen.72 Da Raum und Zeit die grundlegenden Formen jeglicher Anschauung sind, ist es nicht möglich, sie selbst anzu­ schauen.73 Der prominent von Vaihinger vertretenen Parallelitätsthese zu­ folge74 entsprechen die beiden Sinne nun zwei Gegenstandsbereichen: ei­ nerseits objektive Sachverhalte sowie äußere Dinge der realen und öffentli­ chen Welt als Bezugsgröße des äußeren Sinnes und andererseits Vorstellun­ gen und Gedanken einer Person als Gegenstandsbereich des inneren Sinnes.75 In beiden Fällen entstehen Vorstellungen dadurch, dass das Subjekt von den ihnen jeweils entsprechenden äußeren Gegenständen oder mentalen 69  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 37. Kant 1969, S. 132. 71  Rohs, Sinn 1989, S. 73 f. 72  Kaulbach weist darauf hin, dass die Zeitanschauung auch die räumliche An­ schauung mit umfasst. 73  Kaulbach, Kant 1969, S. 129. 74  Vgl. Hans Vaihinger: Commentar zu Kants Critik der reinen Vernunft, Bd. 2, Aalen 1970 (1892). 75  Mohr, Ich 1991, S. 74. 70  Kaulbach,

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B. Philosophie der Perspektivität

Ereignissen affiziert wird. Durch den inneren Sinn werden hierbei keine äußeren Gegenstände, mittels des äußeren Sinnes keine inneren Vorgänge wahrgenommen. Dieser Parallelitätsthese liegt also die Annahme eines Dualismus der Gegenstandsbereiche zugrunde:76 Die Außenwelt ist Gegenstand des äuße­ ren Sinnes, das psychische Innenleben der Gegenstandsbereich des inneren Sinnes.77 b) Das Primat des inneren Sinnes vom Standpunkt des Gesamtaufbaus der Kritik der reinen Vernunft Nach Reininger geht die zweite Auffassung von einem Primat des inneren Sinnes gegenüber dem äußeren Sinn aus, da sonst nicht verständlich wird, wie äußere Gegenstände auch in der Zeit sein können. Daher muss der in­ nere Sinn den äußeren Sinn als „Teilsphäre“ mit umfassen. Begründet wird diese Auffassung von Mohr mit der Vorgängigkeit der kantischen Unter­ scheidung von innerem Sinn auf der einen und der Apperzeption auf der anderen Seite, von der sich alle weiteren Differenzierungen erst ableiten. Insofern erweist sich die Parallelitätstheorie als irreführend.78 Denn nur vordergründig betrifft die Verhältnisbestimmung von innerem und äußerem Sinn lediglich die Theorie der Sinnlichkeit.79 Sieht man dagegen das Ver­ hältnis von innerem Sinn und Apperzeption als das grundlegendere an, wird auch einsichtig, weshalb der innere Sinn kein Vermögen der Introspektion sein kann, das separat dem äußeren Sinn sekundiert. Der innere Sinn ist nach Mohr vielmehr nicht nur Grundlage der inneren Erfahrung, sondern darüber hinaus auch für die äußere Erfahrung und Gegenstandserkenntnis. Diese Bestimmung des inneren Sinnes darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass die Erkenntnis der äußeren Welt letztlich nur Selbsterkenntnis ist. Vielmehr bedeutet sie, dass sich der innere Sinn nicht auf einen separaten inneren Gegenstandsbereich der mentalen Ereignisse bezieht, sondern dass auch der innere Sinn ebenfalls immer nur mit durch den äußeren Sinn „gelieferten“ Anschauungen zu tun hat.80 Die epistemi­ sche Abhängigkeit des äußeren vom inneren Sinn liegt darin begründet, dass kein äußerer Wahrnehmungsinhalt überhaupt zur Erkenntnis gelangen kann, sofern er nicht durch den inneren Sinn der Apperzeption vermittelt wird. Hier wird Mohr zufolge deutlich, weshalb es für ein treffendes Verständnis 76  Mohr,

Ich 1991, S. 84. S. 88. 78  Ebd., S. 101. 79  Ebd., S. 105. 80  Ebd., S. 102. 77  Ebd.,



III. Konzept der Perspektivendualität in der Philosophie Kants71

des Verhältnisses von innerem und äußerem Sinn des Verweises auf die grundsätzlichere Gegenüberstellung von innerem Sinn und Apperzeption bedarf.81 Damit sich nämlich die Apperzeption auf sinnliche Vorstellungen überhaupt beziehen kann, benötigt sie den inneren Sinn. Als Ergebnis der Affektion des äußeren Sinnes durch Gegenstände im Raum bringt das Sub­ jekt sinnliche Vorstellungen hervor. Vom äußeren Sinn bekommt das Subjekt zunächst aber nur Inhalte, pure Daten geliefert, keine Vorstellungen von Inhalten.82 Erst durch den inneren Sinn wird sich das Subjekt der vom äu­ ßeren Sinn übermittelten Inhalte als vorgestellter, empirisch gegebener Da­ ten bewusst. Somit kommt dem inneren Sinn eine Vermittlerrolle zu zwi­ schen den Inhalten des äußeren Sinns und der zusammenfügenden Funktion der Apperzeption. Die Apperzeption bezieht sich immer nur auf den inneren Sinn. Damit hat der innere Sinn eine „vorapperzeptive“ Funktion, indem er sinnliche Vorstellungen als jenes Material zur Verfügung stellt, auf das der Verstand sich dann beziehen kann. So wird deutlich: Der innere Sinn gibt dem Verstand sinnliche Vorstellungen überhaupt, nicht lediglich innere Vor­ stellungen in Abgrenzung zu äußeren. Vom Standpunkt der transzendentalen Apperzeption aus betrachtet lässt sich die Tätigkeit des Denkens daher charakterisieren als ein Bestimmen des inneren Sinns durch den Verstand. Die Sinnlichkeit, auf die der Verstand sich bezieht, ist nicht die des äuße­ ren, sondern die des inneren Sinnes:83 „Das, was den inneren Sinn bestimmt, ist der Verstand und dessen ursprüngliches Vermögen das Mannigfaltige der Anschauung zu verbinden, d. i. unter eine Apperzeption […] zu bringen.“84 Der innere Sinn ist demnach die Bedingung dafür, dass eine Vorstellung als Vorstellung der Apperzeption gegeben werden kann. Damit aber die Vorstel­ lung zu empirischem Bewusstsein (als Bewusstsein von etwas) werden kann, muss noch die transzendentale Apperzeption hinzutreten.85 c) Das Primat des äußeren Sinnes vom Standpunkt der Ästhetik In der Welt bewegen wir uns als Sinnenwesen, die sich empirisch ihrer selbst durch den inneren Sinn bewusst werden. Dagegen nimmt man ver­ mittels des äußeren Sinnes ausgedehnte Gegenstände außerhalb der eigenen Person wahr. 81  Mohr,

Ich 1991, S. 104. S. 156. 83  Ebd., S. 157. 84  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 153. 85  Mohr, Ich 1991, S. 197. 82  Ebd.,

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B. Philosophie der Perspektivität

Innerer und äußerer Sinn sind als nicht aufeinander reduzierbare Perspek­ tiven des empirischen Subjekts systematisch zu unterscheiden.86 Im vierten Paralogismus der Dialektik zum Verhältnis von inneren und äußeren Anschauungen heißt es: „[…] daß die Vorstellung meiner Selbst, als des denkenden Subjekts, bloß auf den innern, die Vorstellungen aber, wel­ che ausgedehnte Wesen bezeichnen, auch auf den äußern Sinn bezogen werden.“87 Kant versteht hier den inneren und äußeren Sinn als unterschied­ liche Vorstellungsweisen der inneren und äußeren Anschauung. Während wir durch den inneren Sinn Vorstellungen unseres inneren Zustandes haben,88 also von „Gedanken, Gefühl, Neigung oder Entschließung“,89 sind uns mittels des äußeren Sinnes Vorstellungen von körperlich verfassten Dingen im Raum wie „Materie, Gestalt etc.“90 gegeben. Unter dem syste­ matischen Titel der Sinnlichkeit sind beide Sinne eigenständige Quellen unserer Erkenntnis, bzgl. der materiellen Basis unserer Erfahrung bildet aber der äußere Sinn die grundsätzlichere Quelle. Der äußere Sinn ist weder vom inneren Sinn abgeleitet noch ein reines Produkt der Einbildungskraft. Vielmehr sind beide erkenntnistheoretisch gleichursprünglich.91 In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft wird nun das Ver­ hältnis zwischen innerem und äußerem Sinn weiter präzisiert, ohne dass sich an ihren Grundbestimmungen irgendetwas ändern würde. Hier zeigt sich dann, dass der innere Sinn mit Blick auf die Bereitstellung von Anschauungen vom äußeren Sinn abhängig ist, sodass man hinsichtlich des Aufbaus des Erkenntnisprozesses von einem Primat des äußeren Sinnes gegenüber dem inneren Sinn sprechen kann.92 An diese Überlegung an­ knüpfend wird in der Kant-Forschung eine dritte Sichtweise formuliert, welche in „materieller“ Hinsicht die Abhängigkeit des inneren Sinnes vom äußeren Sinn betont, da dem inneren nur durch den äußeren Sinn Vorstel­ lungen gegeben sind. Hierdurch wird empirisches Selbstbewusstsein über­ haupt erst ermöglicht.93 86  Heidemann,

Kant 1998, S. 216. KrV 1998 (1781 / 1787), A 371. 88  Ebd., B 37. 89  Ebd., A 358. 90  Ebd. 91  Heidemann, Kant 1998, S. 230. Wichtig ist der Hinweis, dass auch Heidemann als Vertreter des Vorrangs des äußeren Sinns nicht von der Existenz zweier separater Gegenstandsbereiche ausgeht, wie dies für die Vertreter der Parallelitäts­ these typisch ist. Der innere Zustand könne mittels des inneren Sinnes unabhängig vom äußeren Sinn nicht wahrgenommen werden oder entsprechend Gegenstände des äußeren Sinnes unabhängig vom inneren Sinn. Vielmehr sei nach Kant Erfahrung überhaupt nur möglich aufgrund des Zusammenspiels von innerem und äußerem Sinn (ders., Sinn 2006, S. 312). 92  Heidemann, Sinn 2006, S. 307. 87  Kant,



III. Konzept der Perspektivendualität in der Philosophie Kants73

Denn der innere Sinn kann als inhaltsleeres Vermögen selbst Vorstellun­ gen nicht eigenständig und produktiv hervorbringen. Sein „Material“ sind die Vorstellungen des äußeren Sinnes. Allerdings darf man sich diesen Prozess der „Weitergabe“ nicht wie ein mechanisches Nacheinander vorstel­ len. Sofern wir empirisches Bewusstsein haben, spielen innerer und äußerer Sinn immer schon „simultan“ zusammen. Es besteht ein notwendiger, kon­ stitutiver Zusammenhang zwischen dem empirischen Bewusstsein im inne­ ren Sinn und dem sinnlich Gegebenen des äußeren Sinnes. Das Wissen um uns selbst ist kein nur a priori gegebenes Bewusstsein, sondern ein durch Affektion des äußeren Sinnes vermitteltes: Indem wir das durch den äußeren Sinn Gegebene innerlich in der Zeit bestimmen, bestimmen wir zugleich den inneren Sinn unserer selbst durch Selbstaffektion. Dieser von Kant entwickelte Zusammenhang von innerer und äußerer Erfahrung bzw. von innerem und äußerem Sinn ist daher Grundlage der mit der Erfahrung be­ ginnenden Konstitution unseres Bewusstseins. Obgleich also der innere Sinn materiell vom äußeren Sinn abhängig ist, sofern seine Vorstellungsinhalte letztlich auf das zurückgehen, was über den äußeren Sinn gegeben wird, ist der äußere Sinn natürlich auch auf den inneren Sinn angewiesen. Denn Vorstellungen von Dingen außerhalb der eigenen Person hätte man nicht, wenn sie der innere Sinn nicht zum Bewusstsein brächte. Zusammenfassend kann man also festhalten, dass wir es in der dritten Lesart prinzipiell immer nur mit Vorstellungen zu tun haben, die uns durch den äußeren Sinn „gelie­ fert“ werden, während die Funktion des inneren Sinnes darin besteht, uns diese äußeren Vorstellungen explizit bewusst zu machen und damit zugleich unser eigenes Dasein empirisch zu erkennen.94 Damit gibt Kant auch heu­ te noch denjenigen Philosophen wichtige Argumente an die Hand, die sich gegen ein Privileg innerer Erfahrung aussprechen.95 Dem inneren Sinn kommt in der dritten Lesart kein epistemisches Evidenz-Privileg vor dem äußeren Sinn zu.96 d) Innere Erfahrung Innere Erfahrung haben wir immer dann, wenn wir unsere wechselnden Vorstellungen des inneren Sinnes mit Bezug auf das „Beharrliche“ der (äu­ ßeren) Anschauung zeitlich bestimmen und wir uns auf diese Weise unserer selbst empirisch als einer Größe in der Zeit bewusst werden.

93  Heidemann,

Sinn 2006, S. 308. S. 311. 95  Mohr, Ich 1991, S. 10. 96  Ebd., S. 16. 94  Ebd.,

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B. Philosophie der Perspektivität

Das „Material“ der inneren Erfahrung wird dabei durch den inneren Sinn nicht selbsttätig hervorgebracht, sondern durch den äußeren Sinn „apprehen­ diert“, indem dieser das „Mannigfaltige“ in der empirischen Anschauung zusammenfügt. Der innere Sinn wird erst vermittels des durch den äußeren Sinn gelieferten Mannigfaltigen affiziert und auf diese Weise kann innere Erfahrung entstehen.97 Innere Erfahrung bewirkt dann ihrerseits wiederum empirisches Bewusstsein. Das Ergebnis ist phänomenale Selbsterkenntnis. Innere Erfahrung ermöglicht das empirische Bewusstsein, das wir von un­ seren eigenen mentalen Vorgängen haben und wird über den inneren Sinn vermittelt. Im Unterschied zur Erfahrung von Äußerem und dessen sinnli­ chen Qualitäten, besteht das Spezifische im inneren Sinn darin, der Erfah­ rung zu gestatten, dass wir Erfahrungen machen. Innere Erfahrung wird insoweit vom inneren Sinn vermittelt, als uns unsere eigenen mentalen Er­ eignisse sinnlich gegeben sind.98 Wenn Kant den inneren Sinn als ein Vermögen der Selbstanschauung beschreibt, so will er damit lediglich zum Ausdruck bringen, dass uns durch den inneren Sinn Anschauungen auf eine spezifische Weise gegeben sind, durch die uns zugleich die Möglichkeit eröffnet wird, uns dieser Anschauung als solcher bewusst zu werden. Kommt es also zu einer inneren Selbstanschauung, wird gleichsam ein höherer Standpunkt eingenommen, von dem aus wir beobachten können, wie wir äußere Anschauungen aufnehmen und diese innerlich „integrieren“. Der innere Sinn ist eine notwendige Bedingung dafür, dass diese Möglichkeit der Einnahme eines höheren, selbstreflexiven Standpunkts besteht. Er ist aber kein Vermögen, das als solches selbst bereits diese Bedingung erfüllt. Damit ein empirisches Bewusstsein davon entstehen kann, dass eine auftre­ tende Anschauung eine innere Selbstanschauung ist, muss immer noch eine Interpretationsleistung des Verstandes hinzutreten.99 Aufgrund der systema­ tischen Unterscheidung von Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand sind Anschauungen für sich genommen kein Wissen, weil solches ausschließlich unter der zusätzlichen Voraussetzung des Begriffsgebrauchs in Urteilen möglich ist.100 e) Empirisches und transzendentales Ich Kants Auffassung vom Ich unterscheidet sich deutlich vom metaphysi­ schen Verständnis der res cogitans bei Descartes. In der cartesianischen Subjektphilosophie war jedem Subjekt im „Ich denke“ ein unmittelbarer 97  Heidemann,

Kant 1998, S. 218, 222 f., 229. Ich 1991, S. 9. 99  Ebd., S.  63 f. 100  Ebd., S. 65. 98  Mohr,



III. Konzept der Perspektivendualität in der Philosophie Kants75

Zugang zu seinem eigenen Wesen möglich. Eine Erkenntnis der substanti­ ellen Verfasstheit des Ichs war bei Descartes möglich. In Abhebung zur täuschungsanfälligen äußeren Erfahrung galt ihm die Selbstreflexion als verlässliche Grundlage unserer Erkenntnis. Kant dagegen zieht in seiner theoretischen Philosophie, auch im Hinblick auf die Erkenntnis des eigenen Ichs, die für das endliche Subjekt fundamen­ tale Grenze zwischen Erscheinung und Ding an sich. In der Erkenntnis des eigenen Ichs befindet sich das Subjekt grundsätzlich in derselben Erkennt­ nissituation wie im Hinblick auf die Erkenntnis äußerer Gegenstände. Alles, was wir über das eigene Ich wissen können, bezieht sich immer nur auf uns als Erscheinung, auf unser empirisches Ich.101 Da aber weder innerer noch äußerer Sinn aufgrund ihres passiven und rein rezeptiven Cha­ rakters allein Selbstbewusstsein hervorbringen können,102 muss immer noch das Denken durch den Verstand zum sinnlich Gegebenen hinzutreten.103 Innerhalb der kantischen Systematik ist die Annahme eines allein unter Bedingungen der Sinnlichkeit stehenden und von einem intellektuellen Ich völlig unabhängigen empirischen Ichs nicht möglich. Selbstbewusstsein ist bei Kant immer intelligibel initiiert. Das bedeutet, auch empirisches Be­ wusstsein ist nur vor dem Hintergrund möglich, dass eine ursprüngliche Apperzeption immer schon in Kraft ist.104 Damit sich das empirische, phä­ nomenale Bewusstsein selbst thematisieren kann, muss das transzendentale Ich systematisch vorausgesetzt werden.105 Andererseits kann das die Er­ kenntnis des empirischen Ichs und der Gegenstände ermöglichende reine Ich der transzendentalen Apperzeption selbst nicht in theoretischer Hinsicht erkannt werden. Vielmehr liegt es jedem theoretischen Erkennen als Bedin­ gung seiner Möglichkeit zugrunde.106 Die „Parameter“ unserer Erkenntnis, die Kategorien, sind in ihrer Gültig­ keit auf die Welt der Erscheinungen beschränkt und machen damit eine substantielle Erkenntnis reiner Ideen oder transzendentaler Begriffe unmög­ lich.107 101  Reichold,

Leiblichkeit 2004, S. 60. Ich 1991, S. 13. 103  Heidemann, Kant 1998, S. 230. 104  Mohr, Ich 1991, S. 12. 105  Schlicht, Dualismus 2007, S. 269. 106  Reichold, Leiblichkeit 2004, S. 60. 107  Ebd., S. 61. Hierin ist auch der Grund zu sehen, weshalb nach Kant aus­ schließlich empirische Psychologie möglich ist, die in Abgrenzung zur rationalen Psychologie die empirischen Bedingungen der Selbsterkenntnis berücksichtigt (Schlicht, Dualismus 2007, S. 267 f.). Im Paralogismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft kritisiert Kant die rationale Psychologie seiner Zeit, die der Seele einen 102  Mohr,

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B. Philosophie der Perspektivität

Das transzendentale Subjekt ist keine tatsächlich „agierende“ Substanz. Das reine Subjekt bzw. Selbst ist kein reales Agens, sondern eine analytisch notwendig vorausgesetzte „Verbundeinheit“. Daher agiert das reine Subjekt auch nicht in der Zeit, kann nicht „handeln“. Nur das jeweils zugeordnete empirische Subjekt ist nach Kant zu Handlungen befähigt.108 f) Zur Bedeutung der kantischen Theorie des inneren und äußeren Sinnes für das Konzept der Perspektivendualität Kant lehrt, dass alles „objektiv“ Erkennbare nichts Noumenales, kein Ding an sich sein kann, sondern immer nur Phänomenales, also Erscheinun­ gen, für uns Gegebenes. Der innere Sinn ist eine notwendige, aber allein nicht schon hinreichende Bedingung für empirisches Selbstbewusstsein ei­ ner Person von sich selbst. Dieses ist innerhalb des Aufbaus der Kritik der reinen Vernunft an zwei zusätzliche Bedingungen geknüpft: auf sinnlicher Ebene an die Bedingung des äußeren Sinns bzw. der äußeren Erfahrung sowie auf transzendentaler Ebene an die Intervention der transzendentalen Apperzeption, aufgrund derer die sinnlichen Vorstellungen in Urteilsformen gebracht werden. Erst hier kann von Wissen gesprochen werden, ist empi­ risches Bewusstsein entstanden. Daher ist etwa auch die Rede vom „Gegen­ stand des inneren Sinnes“ eigentlich unzutreffend, da im inneren Sinn allein überhaupt kein Gegenstand gegeben werden kann.109 Das Ich kann im inne­ ren Sinn aber seinen eigenen inneren Zustand anschauen. Unentbehrlich ist der Hinweis, dass es hierdurch jedoch „keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Objekt“110 hat. Die je gegenwärtige Selbstthematisierung ist nur empirisch möglich und eröffnet dem Ich eine Selbsterkenntnis nur als Erscheinung. Das Ich ist sich selbst immer nur als Erscheinung thema­ tisch.111 Das Ich der transzendentalen Apperzeption ist dagegen kein mögli­ ches Objekt der Anschauung, auch nicht der inneren.112 Diese systematischen Zusammenhänge von Erkenntnis in Rechnung ge­ stellt, legen die besprochenen Lesarten mit Blick auf den inneren und äu­ ßeren Sinn ihren Fokus entweder auf deren unterschiedliche Funktionen im Substanzcharakter zuspricht (Reichold, Leiblichkeit 2004, S. 61). Der Irrtum der rationalen Psychologie liegt darin begründet, dass die transzendentale Einheit der Apperzeption zu einem Objekt der Erkenntnis vergegenständlicht wird. Damit kommt es aber zu einer Grenzüberschreitung der theoretischen Vernunft (Ebd., S. 63). 108  Lenk, Begriffe 1986, S. 200. 109  Mohr, Ich 1991, S. 73 f. 110  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), A 22 / B 37. 111  Schlicht, Dualismus 2007, S. 268. 112  Reichold, Leiblichkeit 2004, S. 62.



IV. Perspektivendualität in der Philosophie des 19. und 20. Jh. 77

Erkenntnisaufbau oder auf verschiedene Gegenstände bzw. Bezugsgrößen beider Sinne. In beiden Interpretationen aber kann Kants Theorie des inne­ ren und äußeren Sinnes gelesen werden als ein Konzept der Dualität von Erkenntnisperspektiven, die sich analog zu den Perspektiven der ersten und der dritten Person verhalten. Der innere Sinn entspricht der Perspektive der ersten Person, der äußere Sinn kann mit der Perspektive der dritten Person parallelisiert werden.113 Beide Sinne bzw. Perspektiven sind jeweils funktio­ nal oder inhaltlich different. Kant vertritt somit auf der Ebene des empiri­ schen Ichs eine Dualität zweier Betrachtungsweisen des inneren und äußeren Sinns, die einerseits unhintergehbar ist und andererseits nicht ontologisiert werden darf.114

IV. Ansätze der Perspektivendualität in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts Im 19. Jahrhundert wird die Unterscheidung von Innen- und Außenpers­ pektive wissenschaftstheoretisch bedeutsam im Zusammenhang mit der Profilierung des originär geisteswissenschaftlichen Denkens in Abgrenzung zu den aufsteigenden Naturwissenschaften.115 Explizit tritt die Differenzie­ rung personaler Perspektiven in der Philosophie erst im 20. Jahrhundert durch die philosophische Sprachanalyse im Anschluss an Wittgenstein in Erscheinung, in der zwei Perspektiven als nicht aufeinander reduzierbare Sprachspiele unterschieden werden. Perspektivenduale Ansätze der sprach­ analytischen Tradition setzten sich bis zu Habermas fort, während Donald M. MacKay epistemologische und wissenschaftstheoretische Überlegungen Max Plancks wieder aufgriff.116 Max Planck thematisiert im 20. Jahrhundert etwa zeitgleich mit Wittgenstein zwei basale Zugangsweisen zur Wirklich­ 113  Höffe,

Kritik 2003, S. 238; Schlicht, Dualismus 2007, S. 267. Dualismus 2007, S. 287. Nicht zuzustimmen ist dem Schluss von der epistemologischen Perspektivendualität auf einen ontologischen Dualismus. Auch eine nicht vermittelbare Differenz beider Beschreibungsebenen legt keinen Schluss auf fundamental unterschiedliche Entitäten nahe. Vielmehr bezeichnet die Konstatie­ rung zweier verschiedener Erkenntnisperspektiven, in denen unterschiedliches Wissen generiert wird, lediglich einen epistemischen Fakt: die Unhintergehbarkeit der basalen Formen, in denen sich menschliche Erkenntnis vollzieht. Von der Unhintergehbarkeit bestimmter perspektivischer Grundlagen unserer Erkenntnis lässt sich nicht umstands­ los auf eine „dahinter“ stehende Ontologie schließen. Habermas verweist zu Recht darauf, dass dem epistemologischen Dualismus ausschließlich ein methodischer, aber kein ontologischer Sinn zukommt und keinesfalls „zu einem Dualismus von Geist und Natur ontologisiert werden“ darf (Habermas, Freiheit 2004, S. 878); so auch Höffe, Lebenskunst 2007, S. 259; dagegen Walde, Willensfreiheit 2006, S. 133. 115  Jung, Wahrheit 2004, S. 178 f. 116  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 225. 114  Schlicht,

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B. Philosophie der Perspektivität

keit erkenntnistheoretisch: Das Erkenntnissubjekt kann die Welt nicht anders als aus zwei fundamentalen, epistemologisch prinzipiell gleichberechtigten Perspektiven betrachten:117 aus der Innen- und der Außenperspektive.118 Im sprachanalytischen Zugriff sind die Erste- und Dritte-Person-Perspektive grammatische Kategorien, die eine grundsätzlich sprachliche Verfasstheit alles Denkens implizieren119 und in denen unterschiedliche Sprachspiele stattfinden, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen.120 Die Angabe von Handlungsursachen, etwa hinsichtlich neuronaler Erregungsmuster, enthält nicht die semantische Dimension bewusster Gründe.121 Insofern ist es nicht möglich, die Perspektiven der ersten und der dritten Person vollständig zur Deckung zu bringen.122 Diese These der Nicht-Reduzierbarkeit der einen auf die andere Perspektive richtet sich zum einen gegen den Substanzdua­ lismus cartesianischer Prägung, der von einer substantiellen Verschiedenheit von Geist und Körper ausgeht, zum anderen aber auch gegen einen Materi­ alismus bzw. Physikalismus, der an die Wirklichkeit nur der Körperwelt glaubt. Beiden Positionen gegenüber betont die sprachanalytisch orientierte Perspektivendualität die Unhintergehbarkeit der unterschiedlichen Sprech­ weisen über Geist und Körper. Damit beschreitet die sprachanalytische Perspektivendualität einen Mittelweg zwischen den Extremen des Substanz­ dualismus und Materialismus, die beide für eine strikt realistische Erkennt­ nistheorie stehen.123 Der Ansatz macht im Unterschied zum ontologischen Dualismus eine „lediglich“ epistemologische Dualität stark. Somit erweist sich die Perspektivendualität als Variante des Aspektdualismus, die sich ei­ ner Stellungnahme zur „zugrundeliegenden“ Realität enthält.124 Das Verhältnis von Erster- und Dritter-Person-Perspektive muss nicht zwingend als eine statische Gegenüberstellung unvermittelbarer Sichtweisen verstanden werden. Der amerikanische Gegenwartsphilosoph Thomas Nagel stellt eine Variation der Perspektivendualität vor, für die der „graduelle Dualismus“ eines Kontinuums von Innen- und Außenperspektiven und die Zuordnung dieser Polarität von Innen und Außen zu einer graduellen Pola­ 117  Rosenberger,

Determinismus 2006, S. 160. Philosophen rücken die Zweite-Person- oder „Du“-Perspektive (Lindemann, Beobachtung 2005, S. 761) in das Zentrum ihrer Betrachtungen, die zwar wie die Beschreibungsperspektive der dritten Person nach „außen“ gerichtet ist, sich aber von dieser durch ein besonders ausgeprägtes, mitunter persönliches, Näheverhältnis zu einer oder mehreren Personen unterscheidet. 119  Wetzel, Dialog 2007, S. 31. 120  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 160. 121  Fink, Einleitung 2006, S. 13. 122  Jung, Wahrheit 2004, S. 181 f. 123  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 95. 124  Ebd. 118  Einige



IV. Perspektivendualität in der Philosophie des 19. und 20. Jh. 79

rität von Subjektivität und Objektivität typisch ist.125 Nagel spricht zwar ebenfalls von einer subjektiven und einer objektiven Perspektive, aber ei­ gentlich gibt es nicht nur zwei Perspektiven, sondern eine Variationsbreite zwischen perspektivischen „Extrempunkten“. An dem einen Ende des Kon­ tinuums verortet Nagel die Erste-Person-Perspektive des einzelnen Individu­ ums, das sich in einer ganz spezifischen Konstitution, Situation und Bezie­ hung zum Rest der Welt befindet. Von dieser Position aus vollzieht sich eine auf größere Objektivität gerichtete Bewegung in Form einer Abfolge von Abstraktionsschritten. Zunächst abstrahiere das Individuum von seinen räumlichen, zeitlichen und persönlichen Positionen, dann von seinen spezifischen Charakteristika, die es von anderen Personen unterscheidet, anschließend von Wahrneh­ mungs- und Handlungsformen, die für den Menschen überhaupt charakte­ ristisch sind. Dann wird, so Nagel, der Bereich der subjektiven Erkenntnis­ formen, wie Raum, Zeit und Quantität „durchbrochen“, um schließlich einer Beschreibung der Welt entgegenzustreben, die möglichst nicht mehr an einen bestimmten Standpunkt der Betrachtung gebunden ist. Für diesen Abstrak­ tionsvorgang, so Nagel, ließe sich sicherlich kein Endpunkt markieren.126 Nagel teilt erkennbar die Auffassung vom genetischen (bezüglich der Ent­ stehung einer Perspektive) Primat der Ersten-Person-Perspektive, aus der heraus erst die Dritte-Person-Perspektive in mehreren Abstraktionsschritten entwickelt wird. Dennoch muss Nagels Behauptung, die Bedingungen menschlicher Erkenntnis in drittperspektivischer Tendenz „transzendieren“ zu können, mit Skepsis begegnet werden. Auch wenn die explikative Leistungsfähigkeit und Tragweite perspekti­ vendualer Ansätze von der gegenwärtigen Debatte noch nicht hinreichend erkannt wurde,127 haben Neurowissenschaftler inzwischen philosophische Perspektivitätskonzeptionen rezipiert. In der Frage der Vor- bzw. Nachran­ gigkeit personaler Perspektiven scheint Wolf Singer zunächst einmal von einer grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Gleichberechtigung von Phä­ nomenen der Ersten- und Dritten-Person-Perspektive auszugehen: „Dasselbe gilt für die jeweils beschriebenen Phänomene. Solche, die aus der Ersten-Person-Perspektive wahrgenommen werden, sind nicht weniger wirklich als jene, die aus der Dritten-Person-Perspektive erfahren werden. Es gibt also keinen Grund zu der Befürchtung, die gegenwärtigen Bemühungen zur Erklärung des Phasenübergangs vom Lebendigen zum Geistigen könnten zur feindlichen Über­ nahme des einen Beschreibungssystems durch das andere führen.“128 125  Gebauer,

Vorwort 1991, S. 9 f. Grenzen 1991, S. 116. 127  Schlicht, Dualismus 2007, S. 28 f. 128  Singer, Grunde 2002, S. 179 f. 126  Nagel,

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B. Philosophie der Perspektivität

Diese klare Positionierung zugunsten einer Gleichberechtigung der Er­ kenntnisperspektiven behält Singer allerdings nicht bei. So könne nicht ausgeschlossen werden, dass bestimmte Inhalte der Selbsterfahrung, wie etwa der Eindruck selbstbestimmten Handelns, „illusionäre Komponenten“ aufwiesen.129 Die zunehmende Verfeinerung und Weiterentwicklung neuro­ biologischer Messverfahren eröffne nämlich nunmehr die Möglichkeit, auch jene neuronalen Mechanismen zu analysieren, die den höheren kognitiven Leistungen zugrunde liegen. Damit würden schließlich auch diese psychi­ schen Phänomene zu objektiv beobachtbaren Verhaltenselementen, die aus der Dritten-Person-Perspektive untersucht und beschrieben werden könnten. Die Phänomene, die jetzt auch mit naturwissenschaftlichen Methoden erho­ ben würden, seien uns bereits aus der Ersten-Person-Perspektive vertraut: „[…] Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden“130 sowie Emotionen. Nach Singer lassen sich all diese Phänomene operationalisieren, in der Dritten-Person-Perspektive objektivie­ ren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückfüh­ ren.131 Gerhard Roth geht aus neurobiologischer Sicht davon aus, dass auch das Selbsterleben letztlich eine Eigenschaft kortikaler neuronaler Netzwerke ist, spricht ihm aber eine gewisse Eigenständigkeit zu und stellt sogar eine Nichtreduzierbarkeit auf die Außenperspektive fest.132

V. Die Dritte-Person-Perspektive Gegenstände der Erkenntnis sind uns immer in einer bestimmten Perspek­ tive gegeben, in der wir sie deuten. Wenn ein Physiker bestimmte Erschei­ nungen in der Perspektive berechenbarer Gegenstände in den Blick nimmt, wird hier die Perspektive der dritten Person eingenommen, durch die fest­ gelegt wird, wie uns natürliche Erscheinungen gegeben werden und wie wir sie nach beschreibbaren Regeln bestimmen.133 Die Beobachterperspektive als spezifische Sicht- und Zugriffsweise inner­ halb des Erkenntnisprozesses rückte erst im Laufe des 17. Jahrhunderts ins Bewusstsein, als in der Physik bemerkt wurde, dass sich die klassische Mechanik auf eine Weise dem Objektbereich zuwandte, die vom erkennen­ den Subjekt und dessen Anteil am Erkenntnisvorgang absah. Naturgesetze in Form von Wenn-dann-Aussagen beschrieben Sachverhal­ te, die erschöpfend in einer mechanischen Fachsprache über Objekte wie 129  Singer, 130  Ders., 131  Ebd.

132  Roth,

Gehirn 2002, S. 75. Selbsterfahrung 2004, S. 238.

Homo neurobiologicus 2008, S. 7. Philosophie 1990, S. 17.

133  Kaulbach,



V. Die Dritte-Person-Perspektive81

Körper und Massen beschrieben werden konnten, ohne auf den Akteur zu rekurrieren, der diese Objekte beobachtete. Der Physiker beschrieb, was er im Experiment, mittels der Anwendung seiner Messgeräte auf Naturphäno­ mene, beobachtete.134 Die objektive Dritte-Person-Perspektive ist durch die Merkmale der Externalität und Distanz gekennzeichnet.135 In der Beobachterperspektive ist es möglich, Distanz zum externen beobachteten Gegenstand zu schaffen und den „subjektiven Anteil“ im Erkenntnisprozess zurückzudrängen.136 Der Arzt, der den Leib als naturwissenschaftliches Objekt, als Ort physiologi­ scher und biochemischer Prozesse ansieht und behandelt, untersucht den Körper in der Perspektive der dritten Person.137 Es wird der Versuch unternommen, die Welt nicht von einem „innerwelt­ lichen“ Standpunkt zu erschließen, sondern sich aus einer spezifischen Ortsgebundenheit zu lösen.138 Das Erkenntnisideal besteht darin, die Dinge so, wie sie „eigentlich“ sind, zu erfassen, indem all das methodisch ausge­ klammert wird, was unserer Zugriffsweise auf die Dinge entspringt. Im Hintergrund des Versuchs der methodischen Ausklammerung des Subjekti­ ven in der Dritten-Person-Perspektive kann die Überzeugung stehen, dass alles an sich, also auch unabhängig von einer bestimmten Perspektive, ir­ gendwie sein muss;139 diese Überzeugung ist allerdings nicht zwingend mit der Zugrundelegung der Dritten-Person-Perspektive verknüpft. An die Stelle der begrifflichen Differenzierung von Erster- und DritterPerson-Perspektive tritt gelegentlich die Gegenüberstellung von Innen- und Außenperspektive. Die Verwendung der Termini innen und außen ist meta­ phorisch und vor allem asymmetrisch. Denn während innen in diesem Zu­ sammenhang etwas Nicht-Räumliches, nur zeitlich Privates im Bewusstsein eines Subjekts bezeichnet, bedeutet außen nicht nur die Realität materieller Gegenstände außerhalb des eigenen Selbst, sondern auch die nicht-räumliche „Öffentlichkeit“. Es stehen sich also ein immer nicht-räumliches Innen und ein sowohl räumliches wie nicht-räumliches Außen gegenüber.140 Wir sind nicht imstande, eine „reine“ Außenperspektive einzunehmen, da wir uns immer schon in einer Binnenperspektive befinden – ein reflexives Moment ist in der Außenperspektive stets mitenthalten. Die Berechtigung des Er­ kenntnisideals drittperspektivischer „Objektivität“ wird durch die Berück­ 134  Janich,

Beobachterperspektive 2005, S. 31. Grenzen 1991, S. 118. 136  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 230. 137  Kaulbach, Philosophie 1990, S. 58. 138  Nagel, Grenzen 1991, S. 118. 139  Ebd., S.  118 f. 140  Willaschek, Handeln 1992, S. 131. 135  Nagel,

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B. Philosophie der Perspektivität

sichtigung dieser Einsicht jedoch nicht aufgehoben. Im Gegenteil fordert diese Erkenntnis zu der Frage auf, wie Objektivität unter der Bedingung grundsätzlich perspektivischen Erkennens möglich ist. Insofern ist Nagel zuzustimmen, wenn er fordert, die Mechanismen zu analysieren, die unseren perspektivischen Sichtweisen zugrunde liegen, um sie „in Rechnung stellen zu können“.141 In der neutralen Dritten-Person-Perspektive wird in objekti­ vierenden Verfahren, etwa der Naturwissenschaften, von subjektiven Ele­ menten abstrahiert:142 „Für physikalische oder neurophysiologische Beschreibungen ist dagegen der Zugang aus der Perspektive der dritten Person charakteristisch: Im Prinzip können die Temperatur eines Gases, das Gewicht eines Stahlzylinders oder eben die Ak­ tivität eines neuronalen Netzes von einer unbegrenzten Zahl von Beobachtern in der gleichen Weise erkannt werden. […] Diese Bestimmungen sind neutral gegen­ über ontologischen Fragen; sie schließen den Dualismus oder die Identitätsbe­ hauptung nicht aus, sie implizieren aber auch keine solche Aussage.“143

Physisches kann extern aus mehreren Außenperspektiven erfasst wer­ den.144 Die Tatsache, dass erheb- und messbare Daten, die in der DrittenPerson-Perspektive gewonnen werden, auch intersubjektiv überprüft werden können, ermöglicht in den Augen einiger Philosophen epistemisch verläss­ licheres Wissen als solches, das in der Ersten-Person-Perspektive generiert wird.145 Andere Autoren sehen unter Aufnahme klassisch-cartesianischer Überlegungen die Bindung des drittperspektivischen Wissens an die Wahr­ nehmung eher als einen Unsicherheitsfaktor an. Das Wissen über die exter­ ne Welt in der objektiven Perspektive ist auf funktionierende Sinnesorgane angewiesen und wird über diese vermittelt. Damit sind unsere Überzeugun­ gen von der Welt auf der Grundlage drittperspektivisch gewonnenen Wis­ sens von unseren Sinnen abhängig. Diesem Moment der Vermittlung könn­ te zugleich ein Nimbus der Ungewissheit anhaften, ob das Was und Wie der sinnlichen Vermittlung auch „wirklich“ verlässlich ist.146 Der Wissenschaftler untersucht in der Dritten-Person-Perspektive mittels objektivierender Verfahren selbstverständlich auch menschliches Verhalten auf Ursachen hin.147 In der wissenschaftlichen Perspektive der dritten Per­ son werden hier Methoden zur Anwendung gebracht, wie die bildgebenden 141  Nagel,

Grenzen 1991, S. 119. Einleitung 2006, S. 12; Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 95; Sturma, Perspektiven 1992, S. 123; Thies, Einführung 2004, S. 42. 143  Pauen, Rätsel 1999, S. 28. 144  Nagel, Grenzen 1991, S. 108. 145  Quante, Blick 2006, S. 140. 146  Davidson, Spielarten 2004, S. 339. 147  Fink, Einleitung 2006, S. 13; Thies, Einführung 2004, S. 29; Walkowiak, Wil­ le 2006, S. 48. 142  Fink,



VI. Die Erste-Person-Perspektive83

Verfahren der Neurobiologie oder molekularbiologische Ansätze, die auch auf subpersonaler Ebene Vorgänge bis zum molekularen Bereich in den Blick nehmen können.148 Erklärungen auf personaler Ebene des empirischen Ichs können sowohl in der Perspektive der ersten wie in der dritten Person gegeben werden. So erlebt man sein eigenes Handeln in der Ersten-PersonPerspektive, kann in einem psychologischen Experiment aber auch das Verhalten einer anderen Person aus der Dritten-Person-Perspektive heraus beobachten und analysieren. Beide Vorgänge vollziehen sich auf einer per­ sonalen Ebene.149 Erklärungen auf der subpersonalen Ebene hingegen müssen in der dritten Person formuliert werden, da nicht-personale Prozesse erstperspektivisch nicht sinnvoll beschreibbar sind.150 Auf subpersonaler Ebene werden natur­ deterministische Zusammenhänge bei der Erklärung von Handlungen akzep­ tiert, etwa durch unbewusst ablaufende, neuronale Prozesse.151 Das metho­ dische Prinzip dieser Betrachtungsweise liegt darin, hinsichtlich mensch­ lichen Verhaltens beobachtbare Kausalzusammenhänge herzustellen.152

VI. Die Erste-Person-Perspektive Mentale Zustände, wie etwa Absichten, spielen in der Dritten-PersonPerspektive keine Rolle. Sie werden erst auf der personalen Ebene rele­ vant.153 Während die Humanwissenschaften, die Psychologie ausgenommen, den Menschen oft ausschließlich in der Außenperspektive betrachten, ver­ mag die Philosophie, die Erste-Person-Perspektive auch in der Thematisie­ rung des Menschen systematisch zu berücksichtigen.154 Personen verfügen über eine Innenperspektive,155 in der sich die Subjektivität des Menschen sprachlich in Sätzen ausdrückt, die mit den Pronomina der ersten Person formuliert werden.156 Die Auseinandersetzung mit Kant hat gezeigt, dass die Erste-PersonPerspektive kein noumenales Selbst bezeichnet, das außerhalb des Persona­ len angesiedelt ist, sondern eine Perspektive des empirischen Ichs, der eine spezifische Funktion im Erkenntnisprozess zukommt oder eine eigene Klas­ 148  Pauen, 149  Walde, 150  Ebd. 151  Ebd.

Perspektive 2008, S. 111. Willensfreiheit 2006, S. 90.

152  Rosenberger,

Determinismus 2006, S. 283. Willensfreiheit 2006, S. 90. 154  Thies, Einführung 2004, S. 14. 155  Sturma, Selbstbewußtsein 2002, S. 219. 156  Newen / Vogeley, Selbstbewusstsein 2007, S. 111; Thies, Einführung 2004, S. 29. 153  Walde,

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B. Philosophie der Perspektivität

se von „Gegenständen“ beinhaltet und von der Dritten-Person-Perspektive zu unterscheiden ist.157 Die Erste-Person-Perspektive ermöglicht Selbstbe­ wusstsein als empirisches Bewusstsein „seiner selbst als ein und derselben Entität über die Zeit hinweg“158 und ist der Ort der empirischen Subjektivi­ tät, die vom Standpunkt des Ichs aus entfaltet wird:159 „Die Klasse der ei­ genpsychischen Zustände ist das ‚Ich‘ [..].“160 Innerhalb des subjektphiloso­ phischen Paradigmas wird das Bewusstsein noch individuell gedacht, als „innerer Repräsentationsraum“, in dem Prozesse der äußeren Welt gespiegelt werden161 und als unabhängig von der sprachlichen Gestalt der Begriffe über mentale Zustände.162 Das bewusstseinsphilosophische Paradigma der klassischen Philosophie ist im Anschluss an den späten Wittgenstein aller­ dings durch das der Sprachphilosophie ersetzt worden.163 Bewusstsein wird innerhalb des sprachanalytischen Paradigmas uminterpretiert in propositio­ nale Einstellungen und anders als etwa in den Simulationstheorien nicht als eine Vorstellung betrachtet, die sich nach Analogie von eigenen inneren Zuständen bildet. Bewusstsein als propositionale Einstellung ergibt sich aus der Analyse eines Satzes. Die Frage nach dem Bewusstsein geht so in der Frage nach dem Verstehen eines Satzes auf.164 Die Perspektiven der ersten und der dritten Person sind, wenn sie „nicht vom transzendentalen Himmel gefallen sein“ sollen,165 in ihrer Genese mit­ einander verschränkt. So muss die Erste-Person-Perspektive in phylogeneti­ scher Hinsicht durch evolutionäre Prozesse entstanden sein, die sich heute naturwissenschaftlich aus der Dritten-Person-Perspektive beschreiben las­ sen.166 Andererseits ist die Dritte-Person-Perspektive selbst auf personaler Ebene erst durch einen langen Prozess der Abstraktion vom Standpunkt der ersten Person entstanden, durch eine Dezentrierung des Ichs.167 Insofern kann man in Ergänzung zum systematischen auch von einem genetischen Primat der 157  Sturma,

Perspektiven 1992, S. 124. Rätsel 1999, S. 29. 159  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 95. 160  Carnap, Aufbau 1961 (1928), S. 269. 161  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 21. 162  Sturma, Kant 1985, S. 133. 163  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 21. 164  Sturma, Kant 1985, S. 134. 165  Habermas, Freiheit 2004, S. 881. 166  Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass mit diesen Überlegungen zur naturgeschichtlichen Genese der Erkenntnisperspektiven der perspektivische Standpunkt zugunsten einer naturalistischen Position verlassen wird. 167  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 230; Thies, Einführung 2004, S. 40. 158  Pauen,



VI. Die Erste-Person-Perspektive85

Ersten-Person-Perspektive sprechen.168 Der Mensch kann nichts vergegen­ ständlichen, ohne dass der Vorgang einer Objektivierung nicht auch ein Bestandteil des erstperspektivischen Selbstvollzugs wäre. Somit bleibt auch bei jeder wissenschaftlichen Beobachtung das erkennende Subjekt selbst der Horizont der Objekthaftigkeit. Vergegenständlichung ist reflexiv und als solche bereits immer schon erstperspektivisch „eingefärbt“.169 Der ErstenPerson-Perspektive kommt damit insofern ein genetisches Primat zu, als sie der Ausgangspunkt auch jener Erkenntnisse ist, die in der Dritten-PersonPerspektive generiert werden.170 1. Die Irreduzibilität der Ersten-Person-Perspektive Thomas Nagel ist auch durch seine Analysen zur Frage der Irreduzibilität der Ersten-Person-Perspektive bekannt geworden. Eine rein physikalistische Sicht der Welt kann nicht erfassen, wie es für ein Wesen ist, sich in psychi­ schen Zuständen zu befinden. Das betreffende Wesen und seine Zustände scheinen zwar Teil der Welt zu sein, die auch unabhängig von persönlichen Präferenzen betrachtet werden kann. Doch die subjektiven Aspekte des Psychischen können nur aus der Perspektive des Wesens selbst thematisiert werden.171 Nach Nagels Auffassung verfügen wir über eine spezifische In­ nenperspektive, die eben deshalb nicht von außen verstanden werden kann, weil auch die sensibelste Außenperspektive die Qualia in der Ersten-PersonPerspektive nicht zu erreichen vermag:172 Die Erste-Person-Perspektive ist nicht nur epistemisch, sondern auch sprachlich insofern irreduzibel,173 als Aussagen der ersten Person nicht auf Aussagen in der dritten Person redu­ zierbar sind: „Erkenntnis in Aussagen der 1. Person ist keine wissenschaft­ liche Erkenntnis und kann auf keine wissenschaftliche Erkenntnis in Aussa­ gen der 3. Person reduziert werden.“174 Das Merkmal der Irreduzibilität wird oft mit dem Charakteristikum des „privilegierten Zugangs“ zum eigenen Bewusstsein bzw. der Exklusivität der Ersten-Person-Perspektive verknüpft. Die eigenen Gedanken, Gefühle und Vorstellungen sind uns demnach in einer Weise zugänglich, die sich

168  Thies,

Einführung 2004, S. 40. Determinismus 2006, S. 232. 170  Tiemeyer, Indeterminismus 1993, S. 503. 171  Nagel, Grenzen 1991, S. 108. 172  Ebd., S.  103 f.; Jung, Wahrheit 2004, S. 180 ff. 173  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 229; Sturma, Kant 1985, S. 77; ders., Selbstbewußtsein 2002, S. 219. 174  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 223. 169  Rosenberger,

86

B. Philosophie der Perspektivität

von der Zugangsmöglichkeit aller Außenstehenden unterscheidet:175 „Zu meiner mentalen Welt habe ich in einer besonderen Weise Zugang, in der ihn prinzipiell niemand sonst haben kann (Exklusivität).“176 In der Philoso­ phie des Geistes wird darüber debattiert, ob diese Intuitionen hinsichtlich des privilegierten Zugangs zu uns selbst zutreffend ist.177 2. Blickrichtungen der Ersten-Person-Perspektive Innerhalb der Ersten-Person-Perspektive können mehrere „Blickrichtun­ gen“ differenziert werden. Es gibt hier unterschiedliche Möglichkeiten der Einteilung und die Zuordnung konkreter mentaler Zustände zu den jeweili­ gen Blickrichtungen ist ein kontroverser Diskussionsgegenstand der Philo­ sophie des Geistes. Bislang gibt es hierzu keine allgemein akzeptierte Theorie.178 Zum einen kann der Blick selbstreflexiv auf die eigenen mentalen Zustän­ de gelenkt werden.179 Nur die Erste-Person-Perspektive garantiert den Zu­ gang zu unhintergehbaren Aussagen mit Geltungsanspruch,180 woraus ein systematisches Primat der Ersten-Person-Perspektive abgeleitet werden kann: Nur in der reflexiven Ersten-Person-Perspektive können unhintergeh­ bare Annahmen thematisiert werden, die immer schon akzeptiert sein müs­ sen, bevor überhaupt eine bestimmte Äußerung getätigt werden kann. In der Dritten-Person-Perspektive sind solche Zugänge hingegen nicht möglich.181 Hieraus ergibt sich, dass die Dritte-Person-Perspektive auch systematisch der Ersten-Person-Perspektive als nachgeordnet betrachtet werden kann.182 Die Selbstreflexion kann sich aber nicht nur auf eigene Gedanken richten, woraus sich ein systematisches Primat rational legitimiert, sondern auf das gesamte Spektrum mentaler Zustände wie Empfindungen, Stimmungen, Emotionen etc.183 Darüber hinaus können aus der Ersten-Person-Perspektive heraus auch eine stärker rezeptive phänomenale sowie eine intentionale Haltung diffe­ renziert werden. Beide Formen müssen allerdings nicht zwangsläufig nach 175  Willaschek,

Handeln 1992, S. 132. Facetten 2005, S. 10.

176  Newen / Vosgerau, 177  Ebd.

178  Metzinger, 179  Thies, 180  Ebd.

181  Ebd.,

Bewusstsein 2009, S. 1. Einführung 2004, S. 42.

S.  40 f.

182  Rosenberger, 183  Pauen,

Determinismus 2006, S. 147 f. Rätsel 1999, S. 29.



VI. Die Erste-Person-Perspektive87

außen „in die Welt“ gerichtet sein, sondern können sich auch subjektintern auf andere mentale Zustände beziehen. Intentional sind innere Zustände, die auf etwas gerichtet sind oder Aus­ sagen „über etwas“ zulassen: glauben, daß …; wünschen, daß …; denken, daß … usw.184 Auch der Wille oder der Entschluss zu einem bestimmten Handeln sind intentionale Zustände.185 Das gesamte jeweils individuelle Erleben findet notwendig in der Pers­ pektive der ersten Person Singular statt.186 Zur Kennzeichnung der Subjek­ tivität dieses bewussten Erlebens hat sich der Begriff des phänomenalen Bewusstseins durchgesetzt.187 Eine Person verfügt über eine spezifische und nur ihr selbst zugängliche Erfahrung darüber, wie es ist, sich in einem kon­ kreten phänomenalen Zustand zu befinden.188 Auch für die phänomenale Erfahrung gilt, dass sie nicht nur extern „verursacht“ sei muss. Wird sie durch subjektinterne Vorgänge in Gang gesetzt, handelt es sich um eine höherstufige introspektive Selbstwahrnehmung.189 Im Zusammenhang mit der je subjektiv wahrgenommenen Qualität des Erlebens, wie etwa bei Farbwahrnehmungen, Schmerzempfindungen usw., spielt der philosophische Fachbegriff der Qualia eine entscheidende Rol­ le.190 Qualia bezeichnen die konkrete qualitative Erfahrung, wie etwas aussieht, schmeckt, sich anhört, anfühlt etc.191 Phänomenale Zustände um­ fassen alle möglichen rezeptiven Sinneseindrücke wie Empfindungen von Hitze, Kälte, Schmerz, Eindrücke beim Sehen, Hören, Riechen, Schmecken usw.192 Für die Erklärung des Mentalen kann nicht von Qualia abgesehen werden: „Ohne die prinzipielle Kenntnis des Qualitativen in der Perspektive der 1. Person gibt es [..] keine vollständige Erkenntnis des Mentalen, […].“193 Die Frage der Reduzierbarkeit der Qualia auf Physisches ist ein offener Diskussionspunkt in der Philosophie des Geistes.194 Im Hintergrund des sprachanalytischen Reduktionsprogramms steht die Vorstellung, Ausdrü­ cke über mentale Zustände grundsätzlich mittels drittperspektivischen Voka­ 184  Pauen,

Rätsel 1999, S. 29; Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 88 f. Willensfreiheit 2008, S. 88 f. 186  Fink, Einleitung 2006, S. 12. 187  Schlicht, Dualismus 2007, S. 34. 188  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 88 f.; Schlicht, Dualismus 2007, S. 34. 189  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 223; Schlicht, Dualismus 2007, S. 39. 190  Schlicht, Dualismus 2007, S. 34. 191  Pauen, Rätsel 1999, S. 29. 192  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 88 f. 193  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 228. 194  Metzinger, Bewusstsein 2009, S. 7. 185  Merkel,

88

B. Philosophie der Perspektivität

bulars beschreiben zu können. Durch die sprachliche Umgehung der ersten Person soll die Vorstellung eines exklusiven Bereichs des Mentalen seman­ tisch aufgelöst werden.195

195  Sturma,

Kant 1985, S. 132.

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht Wenn die Vermutung stimmt, dass sich die Freiheitsdebatte im Strafrecht in der Frage der Beziehung des Subjektiven zum Objektiven abbildet, muss überprüft werden, in welcher Weise sich die Subjekt-Objekt-Differenzierung im Strafrecht realisiert und in welchem Verhältnis Subjektives und Objekti­ ves im Strafrecht zueinander stehen. Es wird zu untersuchen sein, wie hoch in der Prüfung der Strafbarkeit die Bedeutung subjektiver und objektiver Elemente zu veranschlagen ist. Die Untersuchung dieses Kapitels orientiert sich in der Thematisierung strafrechtlicher Begriffe, die für eine perspekti­ venduale Analyse des Strafrechts bedeutsam sind, hauptsächlich am Aufbau des vollendeten, vorsätzlichen Begehungsdelikts. Die Schwerpunkte der Betrachtung des Schemas, anhand dessen die Voraussetzungen der Strafbar­ keit geprüft werden, ergeben sich weniger aus einem strafrechtswissen­ schaftlichen Zugriff als vielmehr aus einer grundsätzlichen, erkenntnistheo­ retisch geprägten, philosophischen Perspektive auf die in Lehrbüchern ver­ mittelten Inhalte der juristischen Ausbildung, sodass in diesem Kapitel be­ wusst vermeintlich Selbstverständliches der strafrechtlichen Lehre in den Blick genommen wird.

I. Strafrechtliche Grundbegriffe • Rechtsgüter Das Strafrecht als Teilbereich der Rechtsordnung dient dem Schutz von Rechtsgütern.1 Rechtsgüter sind durch rechtliche Normen geschützte Güter und Werte2 wie Lebensgüter, Sozialwerte und rechtlich anerkannte Interes­ sen des Einzelnen oder der Allgemeinheit. Rechtsgüter des Einzelnen sind z. B. das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Ehre, die persönliche Freiheit, das Eigentum und das Vermögen. Hierbei handelt es sich um Indi­ vidualrechtsgüter.3 Rechtsgüter der Allgemeinheit sind dagegen etwa die

1  Wessels / Beulke,

Strafrecht AT 2008, S. 2. Grundbegriffe 2008, S. 21. 3  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 2. 2  Bringewat,

90

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

freiheitlich-demokratische Grundordnung, die Rechtspflege und die Sicher­ heit im Straßenverkehr. Hier spricht man von Universalrechtsgütern.4 • Handlungs- oder Angriffsobjekt Vom Rechtsgut als etwas Ideellem ist das konkrete Handlungs- bzw. An­ griffsobjekt zu unterscheiden.5 Das Handlungsobjekt ist derjenige Gegen­ stand, an dem oder in Bezug auf den sich die Tathandlung verwirklicht. Handlungsobjekte können sein: Personen, Sachen und auch unkörperliche Gegenstände.6 So wird in § 212 StGB (Totschlag) das (allgemeine) Rechts­ gut des menschlichen Lebens geschützt. Konkretes Tatobjekt und damit Handlungs- bzw. Angriffsobjekt ist dagegen der von der Tathandlung betrof­ fene (geborene) Mensch. In § 246 StGB (Unterschlagung) ist das geschütz­ te Rechtsgut das Eigentum, Handlungs- bzw. Tatobjekt ist hingegen die fremde Sache und Geschädigter bzw. Verletzter derjenige, dem die Sache gehört. Durch § 223 StGB (Körperverletzung) wird das körperliche Wohl des Menschen geschützt durch die Verteidigung seiner körperlichen Integri­ tät und seiner Gesundheit. Handlungs- bzw. Angriffsobjekt ist wie bei § 212 StGB der geborene Mensch. Als konkret angegriffener Mensch ist er – ebenso wie bei den Tötungsdelikten – zugleich der Geschädigte bzw. Ver­ letzte. Aus dem Umstand, dass das Rechtsgut ein gedankliches Phänomen darstellt, folgt seine sachliche Trennung vom konkreten Handlungs-, An­ griffs- oder Tatobjekt.7 Es gibt aber auch Tatbestände, in denen überhaupt kein Handlungsobjekt auftaucht. Dies ist bei den reinen Tätigkeitsdelikten der Fall, wie etwa bei der Personenstandsfälschung (§ 169 StGB) oder der Doppelehe (§ 172 StGB).8 • Deliktsaufbau Eine Straftat ist ein Verhalten, das den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht und rechtswidrig sowie darüber hinaus schuldhaft ist (§§ 44, 66 StGB). Demgegenüber bezeichnet das StGB ein Verhalten dann als rechtswidrige Tat, wenn es den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht und rechtswidrig ist, auch wenn kein schuldhaftes Handeln vorliegt (§ 11 Abs. 1 4  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 2 f. Nicht alle ethisch schützenswerten Normen sind strafbewehrt. Vielmehr ist der Schutz durch das Strafrecht fragmenta­ risch (ebd., S. 3). 5  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 21; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 3. 6  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 274. 7  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 21. 8  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 274.



I. Strafrechtliche Grundbegriffe91

Nr. 5 StGB). Diese Differenzierungen hängen eng mit der Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld zusammen: Während der Begriff der Straftat nur schuldhaft verwirklichtes Unrecht bezeichnet, umfasst die rechtswidrige Tat auch das schuldlos begangene Unrecht.9 Eine Straftat ist also eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung. Aus diesem unter funktionalen Gesichtspunkten gestifteten Zusammenhang zwischen den Wertungsstufen der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld ergibt sich das Grundmodell für den Deliktsaufbau und somit auch für die strafrechtliche Fallprüfung.10 Dabei wird die vorsätzliche Tat als die Grundform strafbaren Handelns aufgefasst, wie § 15 StGB zeigt, nach dem nur vorsätzliches Handeln strafbar ist, sofern fahrlässiges Handeln nicht ausdrücklich mit Strafe bedroht wird. Bei der vorsätzlichen Tat als Grund­ typ wird dem Täter vorgeworfen, den Tatbestand wissentlich und willentlich verwirklicht zu haben. Hier wird deutlich, dass bereits bei der Konstruktion der Grundform strafrechtlichen Handelns dem Täter eine kognitive („wis­ sentliche“) wie volitive („willentliche“) Fähigkeit zugeschrieben wird. • Unrecht und Schuld Das Strafrecht unterscheidet in den §§ 17, 20, 26 und 27 StGB deutlich zwischen Unrecht und Schuld. Beide Elemente gehören zu den fundamen­ talen Strukturprinzipien der strafrechtlichen Verbrechenslehre: Während die strafbare Handlung im Unrechtsbereich auf ihre Übereinstimmung mit den „Sollensanforderungen der Rechtsordnung“ überprüft wird, geht es im Schuldbereich um die Frage, inwiefern dem Täter die rechtswidrige Tat auch persönlich vorzuwerfen ist.11 Allerdings stehen Unrecht und Schuld nicht beziehungslos nebeneinander. Das Verhältnis zwischen Unrecht und Schuld wird zunächst einmal vor allem dadurch charakterisiert, dass es zwar Unrecht ohne Schuld gibt (etwa die Tat eines „Geisteskranken“), nicht aber umgekehrt strafrechtliche Schuld ohne Unrecht. Vielmehr setzt Schuld immer Unrecht voraus.12 9  Wessels / Beulke,

Strafrecht AT 2008, S. 5, 314. S. 29. 11  Ebd., S. 137, 314. 12  In der Strafrechtsdogmatik ist man sich uneinig darüber, welche Rolle dem Begriff der Handlung in diesem Zusammenhang zukommt und ob er in der Verbre­ chenssystematik eine eigenständige Funktion erfüllt. Überwiegend wird die Auffas­ sung vertreten, dass der Sinn des Begriffs der Handlung im Unrecht sowie in der Schuld enthalten ist und damit die Notwendigkeit eines allgemeinen strafrechtlichen Handlungsbegriffs entfällt. Dieser Auffassung folge ich an dieser Stelle. Denn tat­ sächlich sind die Begriffe des Unrechts und der Schuld für die Strafrechtsdogmatik die weitaus bedeutenderen Kategorien (Detlefsen, Grenzen 2006, S. 143). Nach Roxin lassen sich aus einem allgemeinen Handlungsbegriff in strafrechtlicher Hin­ 10  Ebd.,

92

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

• Handlung-, Erfolgs- und Gesinnungsunwert Der Unrechtsgehalt einer Straftat wird zum einen durch ihren Erfolgsun­ wert (Verletzung oder Gefährdung des jeweiligen Schutzobjekts) und zum anderen durch ihren Handlungsunwert (Art und Weise der Handlung) be­ stimmt.13 Der Handlungsunwert ist weiter zu differenzieren in die äußeren Modalitäten des Täterverhaltens auf der einen und in die Umstände, die in der Person des Täters liegen, auf der anderen Seite. Zahlreiche Straftatbe­ stände zeigen, dass sich der Unrechtsgehalt vieler Deliktstypen nicht allein aus der Verletzung oder Gefährdung des geschützten Handlungsobjekts er­ gibt, sondern auch durch die Art und Weise der Tatbegehung bestimmt wird und dass nachgerade hierin die eigentliche Strafwürdigkeit liegt. So wird das Vermögen durch das Strafrecht nicht gegen jede denkbare Beeinträchti­ gung geschützt, sondern nur gegen ganz bestimmte Angriffsarten, die als besonders strafwürdig erscheinen. Die Beeinträchtigung des Vermögens durch Täuschung ist Betrug, durch Zwang Erpressung, durch Treuverletzung Untreue und durch Ausbeutung Wucher. Es gibt aber kein allgemeines „Ver­ mögensschädigungsdelikt“. Diese die Art und Weise der Begehung charak­ terisierenden Merkmale wären nicht nachvollziehbar, wenn die Strafvor­ schrift ausschließlich den Erfolgsunwert im Blick hätte.14 Darüber hinaus ergibt sich der Schuldgehalt einer Tat aus ihrem Gesinnungsunwert, der die fehlerhafte Einstellung des Täters zu den Verhal­ tensanforderungen der Rechtsordnung und dessen mangelhafte Rechtsgesin­ nung widerspiegelt.15 • Sachverhalt, Tatbestand, Rechtsfolge Ferner muss zwischen Sachverhalt, Tatbestand und Rechtsfolge differen­ ziert werden: Aus dem Tatsachenstoff des zu beurteilenden Geschehens wird der Sachverhalt entnommen und anschließend durch Subsumtion geprüft, ob dieser Sachverhalt die gesetzlichen Voraussetzungen, den Tatbestand eines Deliktes, erfüllt. Der Subsumtion schließt sich die Betrachtung der Rechts­ folge an.16 sicht keine praktischen Ergebnisse ableiten. Deshalb würden dogmatische Bemühun­ gen um ihn auch vielfach als kaum ergiebig angesehen, der Systemaufbau beginne mit dem Tatbestand (Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 255). 13  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 5 f. 14  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 240. 15  Ebd., S. 51; Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 205; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 6. 16  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 5.



II. Der Tatbestand93

II. Der Tatbestand Der Begriff des Tatbestands lässt sich rechtsgeschichtlich auf den des „corpus delicti“ zurückführen. Als „corpus delicti“ wurde zunächst die Ge­ samtheit der äußeren Merkmale einer begangenen Tat bezeichnet. Später, im 18. und frühen 19. Jahrhundert, beschrieb man damit alle Merkmale eines Verbrechens. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts kam dem Tatbestand eine eigenständige Rolle im Deliktsaufbau zu, die es möglich machte, ihn von der Rechtswidrigkeit und der Schuld abzugrenzen.17 Grundlage eines jeden Tatbestands ist die Tatbestandsbeschreibung im Besonderen Teil des StGB.18 In diesen Tatbestandsbeschreibungen vertypt der Gesetzgeber Verhaltens­ weisen, die er als strafwürdig ansieht.19 Typisierung ist die Fixierung einer Beschreibung, in der die charakteristischen Eigenschaften dynamischer, prozesshafter Sachverhalte erfasst werden. In den Deliktstatbestand nimmt der Gesetzgeber zum Zweck des Fixierens strafwürdigen Verhaltens dieje­ nigen Merkmale auf, die den Unrechtsgehalt des Verhaltens begründen.20 Der Tatbestand im engeren Sinne besteht in der Beschreibung dieses straf­ würdigen Verhaltens.21 Allen Strafvorschriften liegen bestimmte Verhaltensnormen zugrunde, Verbote und Gebote, die den Spielraum des Einzelnen einschränken.22 Al­ lerdings kann selbst die vorsätzliche Tötung eines Menschen rechtmäßig sein. Mit der Tatbestandsmäßigkeit wird zwar vorläufig festgestellt, dass ein bestimmtes Verhalten sämtliche Merkmale aufweist, die ein Unrecht be­ gründen, aber diese Unrechtsindikation kann immer noch durch einen Rechtfertigungsgrund entkräftet werden. So entscheidet die Tatbestandsmä­ ßigkeit erst recht noch nicht über die Schuld des Täters. Die Tatbestands­ mäßigkeit ist die erste Wertungsstufe innerhalb des dreistufigen Deliktsauf­ baus mit den Stufen der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld.23 Das Kernstück des Tatbestandes bildet bei Handlungsdelikten die Be­ schreibung der verbotenen Handlung. Da eine Tat sowohl aus der DrittenPerson-Perspektive als auch aus der Ersten-Person-Perspektive beschrieben werden kann, wird auch im Strafrecht der Tatbestand in diesen unterschied­ 17  Stratenwerth / Kuhlen,

Strafrecht AT I 2004, S. 74. Objektivierung 2005, S. 32. 19  Ebd., S.  32 f. 20  Ebd., S. 33. 21  Gropp, Tatbestand 2003, S. 17; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S.  75 f. 22  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 75 f. 23  Ebd. 18  Maier,

94

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

lichen Hinsichten weiter differenziert in einen objektiven und einen subjek­ tiven Tatbestand.24 1. Objektiver Tatbestand Der objektive Tatbestand enthält alle Unrechtsmerkmale, die das äußere Bild der Tat bestimmen.25 Der objektive Tatbestand ist damit der Gesamt­ komplex aller objektiven Tatbestandsmerkmale,26 die, philosophisch gespro­ chen, in der Dritten-Person-Perspektive zugänglich sind. Zur Beschreibung des objektiven Tatbestandes gehört mindestens die Nennung des Deliktssub­ jektes, die Tatbestandshandlung und bei Erfolgsdelikten27 auch der Erfolg, z. B. in dem besonders einfach strukturierten Tatbestand des § 303 StGB (Sachbeschädigung): „Wer rechtwidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört […]“ bezeichnet das Interrogativpronomen „wer“ das Deliktssub­ jekt, während Handlung und Erfolg als die Beschädigung oder Zerstörung des Handlungsobjekts (eine fremde Sache) bestimmt werden.28 Ebenso mannigfaltig wie die gesetzlichen Deliktsbeschreibungen sind die den einzelnen Deliktstypen jeweils zugehörigen objektiven Tatbestandsmerkmale. Sie können sich auf das deliktstypische Tatsubjekt, auf das Tatobjekt (Handlungs- bzw. Angriffsobjekt), auf die Tathandlung einschließlich mög­ licherweise gegebener besonderer Begehungsweisen, auf die Tatmittel, auf sonstige Tatmodalitäten oder auf die Intensität des Taterfolgs beziehen.29 Je nach Deliktstyp prägen die objektiven Tatbestandsmerkmale somit auf unter­ schiedliche tat- oder täterbezogene Art das äußere Erscheinungsbild der Tat.30 Meistens wird im objektiven Tatbestand der Eintritt eines bestimmten Erfolges als Außenwirkung einer Tat vorausgesetzt. Bei den Erfolgsdelik­ ten bildet dann der kausale Zusammenhang zwischen Tathandlung und Er­ folg ebenfalls ein Merkmal des objektiven Tatbestandes.31 Die Rechtspre­ 24  Stratenwerth / Kuhlen,

Strafrecht AT I 2004, S. 85. Grundbegriffe 2008, S. 152; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 272; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 45. 26  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 152. 27  In Tatbeständen, in denen neben der Tatbestandshandlung zusätzlich ein „Er­ folg“ verlangt wird, spricht man von einem Erfolgsdelikt. Fehlt dagegen ein solcher Erfolg, wie etwa beim Hausfriedensbruch (§ 123 StGB), liegt ein reines Handlungs­ delikt vor (Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 306). 28  Ebd. 29  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 152; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 45. 30  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 153. 31  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 45. 25  Bringewat,



II. Der Tatbestand95

chung bedient sich hier der Methode des „Hinwegdenkens“:32 Danach ist im strafrechtlichen Sinne jede Bedingung eines Erfolges ursächlich, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner spezifi­ schen Erscheinung entfiele.33 Kann man sich die zu betrachtende Handlung hinwegdenken und entfällt dann der Erfolg, liegt eine Kausalitätsbeziehung vor.34 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich der objektive Un­ rechtstatbestand des Erfolgsdelikts aus folgenden Elementen zusammensetzt: – Taterfolg: Der Erfolg als die Wirkung der Handlung ist analytisch von der Handlung selbst zu unterscheiden. Der Erfolg als solcher wird meist nicht als Bestandteil der Handlung betrachtet, ist aber oftmals objektives Tat­ bestandsmerkmal.35 Andererseits kann der Erfolg aber auch nicht unab­ hängig von der Handlung betrachtet werden,36 – Tathandlung: Der Kern jedes Tatbestands ist die Handlung, die durch Umstände aller Art näher charakterisiert sein kann, wie etwa durch ihre Beziehung zu Personen oder Sachen, durch ihren Zusammenhang mit Raum und Zeit, durch die Art und Weise ihrer Ausführung und durch ihre Verbindung mit anderen Handlungen,37 – der Kausalität zwischen Tathandlung und Taterfolg, – weiteren objektiven Zurechnungskriterien: Zum objektiven Tatbestand ist auch die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs zu zählen, die diesen als das Werk des Täters ausweist38 und – dem Tatsubjekt. Zwischen diesen einzelnen Elementen des objektiv-tatbestandlichen Un­ rechts besteht keine logisch-systematische Vor- oder Nachrangigkeit. Die Ermittlung und Überprüfung der Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung ver­ läuft aber meistens so, dass zunächst der Taterfolg, dann die Tathandlung und anschließend die Kausalität zwischen Tathandlung und Taterfolg sowie die Zurechenbarkeit des Taterfolgs festgestellt werden.39 Außerdem sind die 32  Conditio-sine-qua-non-Formel. 33  Wessels / Beulke,

Strafrecht AT 2008, S. 53. Naturalismus 2003, S. 96. Im Strafrecht spielen Kausalitätsproble­ me eine große Rolle. Im Recht werden sogar „ohne größere Bedenken Kausalbezie­ hungen zwischen psychischen und physischen Faktoren (und umgekehrt) für möglich gehalten.“ (Ebd.). 35  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 274. 36  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 124. 37  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 274. 38  Ebd., S. 275. 39  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 153. 34  Hilgendorf,

96

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

äußeren Umstände der Tathandlung zu berücksichtigen. Die äußeren Um­ stände der Tat charakterisieren die Situation, in der die Handlung stattfinden muss, um bestraft werden zu können. So wird nach § 154 StGB (Meineid) nur bestraft, wer vor Gericht oder einer anderen zur Abnahme von Eiden zuständigen Stelle falsch schwört. Und nach § 113 StGB darf der Täter wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nur bestraft werden, wenn er Widerstand leistet, während der Beamte eine Diensthandlung vornimmt. Entspricht ein Verhalten allen im Deliktstatbestand erfassten objektiven Merkmalen, ist der objektive Deliktstatbestand erfüllt und die Tat vollendet, wenn der Taterfolg dem tatbestandlichen Verhalten auch objektiv zurechen­ bar ist.40 2. Subjektiver Tatbestand Während in der Strafrechtswissenschaft ursprünglich die Auffassung vor­ herrschend war, dass zum Tatbestand nur objektive Merkmale gehören, hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass es auch einen subjektiven Tatbestand gibt.41 Das zentrale Merkmal des subjektiven Tatbestands ist der Vorsatz. Darüber hinaus gibt es zur näheren Charakterisierung des tatbestandsmäßi­ gen Handlungswillens noch weitere subjektive Tatbestandsmerkmale.42 Die Elemente des subjektiven Tatbestands beziehen sich auf innere Ei­ genschaften, Fähigkeiten und Zustände des Täters. Diese Eigenschaften, Fähigkeiten und Zustände sind als Erste-Person-Phänomene der unmittelba­ ren Feststellung bzw. dem direkten Nachweis entzogen.43 Auf sie wird al­ lerdings aus äußeren Umständen geschlossen. So wird z. B. beim Diebstahl (§ 242 StGB) eines Autos auf die subjektive Zueignungsabsicht des Täters geschlossen, wenn der Täter das Fahrzeug zunächst wie ein Eigentümer verwendete und es anschließend im Fluss versenkte.44 In systematischer Hinsicht ist der Vorsatz als das allgemeine Merkmal des subjektiven Tatbe­ stands den besonderen deliktsspezifischen Tatbestandsmerkmalen, die je nach Tatbestand in unterschiedlicher Form auftreten, voranzustellen.45 Der subjektive Tatbestand ist erfüllt, wenn der Täter vorsätzlich handelt und sein Verhalten auch den sonstigen subjektiven Tatbestandsmerkmalen entspricht.46

40  Maier,

Objektivierung 2005, S. 35. Strafrecht AT I 2006, S. 309. 42  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 272. 43  Gropp, Tatbestand 2003, S. 16. 44  Ebd. 45  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 310. 46  Maier, Objektivierung 2005, S. 40. 41  Roxin,



II. Der Tatbestand97

a) Strafrechtliche Handlungslehren und die Stellung des subjektiven Tatbestands im Deliktssystem An dieser Stelle folgt eine Darstellung der Entwicklung strafrechtlicher Handlungslehren und ihrer systematischen Auswirkungen, die vor allem für die Entfaltung des subjektiven Tatbestands und für seine Stellung im Ge­ samtaufbau der Straftat entscheidend waren. aa) Das klassische Verbrechenssystem Die Grundlage des klassischen Verbrechenssystems nach Liszt47 und Be­ ling48 bildet der im 19. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert im Strafrecht vorherrschende naturalistische bzw. kausale Handlungsbegriff, der Handlung als „gewillkürte Körperbewegung“ versteht, die eine Veränderung in der Außenwelt verursacht.49 Dabei sieht die naturalistische Handlungslehre die Bedeutung des Willens für die Handlung vor allem in dessen kausalverursachender Funktion, die eine strikte Trennung zwischen objektiven und subjektiven Verbrechens­ merkmalen begünstigt.50 Das klassische dreistufige Verbrechenssystem,51 das zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Dogmatik zu dominieren begann, geht dementsprechend davon aus, dass sich Unrecht und Schuld wie die Außen- und Innenseite des Verbrechens zueinander verhalten.52 Demnach werden alle objektiven Aspekte der Straftat zum Tatbestand und zur Rechts­ widrigkeit gerechnet.53 Der Tatbestand wird rein deskriptiv-objektiv als äußerliche Beschreibung des Handlungsgeschehens aus der Dritten-PersonPerspektive verstanden.54 Die Schuld hingegen gilt als Ort aller inneren, subjektiven Verbrechens­ elemente.55 Der Erfolgsunwert findet somit seinen Niederschlag allein im

47  Vgl. Franz v. Liszt: Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 21. und 22. Aufl., Berlin 1919. 48  Vgl. Ernst Beling: Die Lehre vom Verbrechen, Tübingen 1906. 49  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 136. 50  Kelker, Legitimität 2007, S. 44. 51  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I, S. 102. 52  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 136; Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 201; Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 104. 53  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S.  136; Kelker, Legitimität 2007, S.  44; Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 201. 54  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 136. 55  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 201.

98

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Unrecht, während der Handlungsunwert ebenso abschließend in der Schuld untersucht wird.56 Für die Vertreter der kausalen Handlungslehre muss sich der Tatbestand der Begehungsdelikte in der Regel auf die Beschreibung objektiver Tatum­ stände beschränken,57 d. h., dass keine subjektiven, mentalen Erste-PersonMerkmale im Tatbestand vorkommen.58 Allerdings gehen selbst die Vertre­ ter der naturalistischen Handlungslehre im Strafrecht davon aus, dass der Täter immerhin willentlich gehandelt haben muss.59 Etwa bei der Beurtei­ lung der Handlung eines tödlichen Schusses wird unter dem Gesichtspunkt des Unrechts festgestellt, dass ein „willensgetragenes“ Verhalten vorliegt.60 Insofern muss festgestellt werden, dass selbst die Vertreter der klassischkausalen Handlungslehre nicht vollständig ohne Rekurs auf ein „subjektives Steuerungsmoment“ auskommen61 und sie für den Begriff der menschli­ chen Handlung die Prämisse eines kausal „verursachenden Willens“ voraus­ setzen. Im Unterschied zu anderen Handlungslehren wird die Frage, ob sich der Inhalt des Täterwillens auch auf den Taterfolg (z. B. die Tötung eines Menschen) bezieht, dennoch nicht auf den Wertungsstufen der Tatbestands­ mäßigkeit und Rechtswidrigkeit untersucht, sondern erst auf der Schuldebe­ ne erörtert.62 Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit sind im klassischen Verbrechens­ aufbau demnach allein als Gegenstände der Wertungsstufe der Schuld anzu­ sehen.63 bb) Das neoklassische Verbrechenssystem Die klassische Verbrechenslehre liszt-belingscher Provenienz sah sich in ihrer strikten Trennung zwischen den objektiven Merkmalen von Tatbestand und Rechtswidrigkeit auf der einen und den subjektiven Elementen der Schuld auf der anderen Seite alsbald vor große Probleme gestellt. In der weiteren strafrechtlichen Entwicklung erfuhr die Verbrechenslehre gewichti­ ge Veränderungen.64 Die Zeit bis zum Beginn der 30er-Jahre des 20. Jahr­ hunderts war geprägt von tiefgreifenden Umgestaltungen im Unrechts- und Schuldbereich. Zwar blieb das äußere System vorerst noch unverändert, 56  Stollwerck,

Tatbestandsmerkmale 2003, S. 104. Strafrecht AT I, S. 102. 58  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 282. 59  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I, S. 102. 60  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 104. 61  Puppe, Aufbau 2007, S. 394; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I, S. 102. 62  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 104. 63  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I, S. 102. 64  Kelker, Legitimität 2007, S. 57. 57  Stratenwerth / Kuhlen,



II. Der Tatbestand99

doch wandelte es sich nach und nach von der klassischen zur neoklassi­ schen Verbrechenslehre.65 Das nach strengen formalen Prinzipien geordnete naturalistische System war nicht mehr vereinbar mit dem Neukantianismus von Wilhelm Windel­ band, Heinrich Rickert und Emil Lask, der die Strafrechtswissenschaft zu­ nehmend beeinflusste. Die Orientierung an der kantischen Ethik stand im Widerspruch zu der bisherigen an der naturwissenschaftlichen Methodik ausgerichteten Verbrechenslehre. Eine zunehmend normative Rechtsauffas­ sung verdrängte nach und nach die kausal-naturwissenschaftliche Betrach­ tungsweise im Strafrecht. Zentral für die Abgrenzung des neoklassischen vom klassischen System war die „Entdeckung“, dass gesetzliche Regelungen intentionales Vokabular, subjektive Unrechtselemente, enthielten.66 Die klassische Aufteilung der Straftat in eine objektive Ebene des Unrechts und eine subjektive Ebene der Schuld ließ sich daher nicht mehr aufrecht erhal­ ten.67 Konkret zeigen lässt sich diese Erkenntnis an der Entdeckung des subjek­ tiven Unrechtselements der Zueignungsabsicht, das bereits den Unrechtsty­ pus des Diebstahls mitbestimmt:68 Der Täter muss während der Tathandlung die Absicht haben, die weggenommene Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen.69 Zu der äußerlich beobachtbaren Wegnahme ei­ ner fremden, beweglichen Sache muss also als subjektives Merkmal die rechtswidrige Zueignungsabsicht des Täters noch hinzutreten.70 Das de­ liktsspezifische, subjektive Tatbestandsmerkmal der Zueignungsabsicht ist strafrechtlich entscheidend für den Tatbestand, da es die Abgrenzung des Diebstahls von der Sachentziehung und von der Gebrauchsanmaßung leistet. Der substantielle Unterschied wird darin deutlich, dass das Recht des Eigen­ tümers an seiner Sache in den Fällen der Gebrauchsanmaßung nur vorübergehend gestört, aber nicht dauerhaft verletzt wird.71 Der Unrechtsgehalt im 65  Bringewat,

Grundbegriffe 2008, S. 67. S. 58. 67  Maier, Objektivierung 2005, S. 132. 68  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 137; Joecks / Miebach-Schmitz, § 242 Rn. 102. 69  Kelker, Legitimität 2007, S. 424. 70  Fischer, § 242 Rn. 32; Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 201. Zueignungsabsicht ist die „Anmaßung einer eigentümerähnlichen Herrschaftsmacht über die Sache […]“ (Joecks / Miebach-Schmitz, § 242 Rn. 107). 71  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 206. Die unbefugte Gebrauchsanma­ ßung (furtum usus) ist mangels Zueignungsabsicht grundsätzlich straflos. Von Ge­ brauchsanmaßung ist auszugehen, wenn lediglich der vorübergehende Gebrauch der Sache ohne erhebliche Substanzverletzung oder Wertminderung vorliegt (Fischer, § 242 Rn. 38). 66  Ebd.,

100

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Falle einer bloßen Gebrauchsanmaßung ist vergleichbar mit Vertragsverlet­ zungen, bei denen der Vertragspartner etwa in Zahlungsverzug gerät oder eine geschuldete Sache erst verspätet wieder herausgibt. Der Verletzungsge­ halt einer Wegnahme mit der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzueignen, stellt demgegenüber einen ganz anderen Eingriff dar, da der Wille des Täters auf eine Einverleibung der Sache unter dauerhaftem Ausschluss des Berech­ tigten ausgerichtet ist.72 Wer eine fremde, bewegliche Sache ohne die Ab­ sicht rechtswidriger Zueignung wegnimmt, verwirklicht eben gerade nicht das Diebstahlsunrecht.73 Nimmt etwa ein Student zur Prüfungsvorbereitung abends ein Buch aus der Präsenzbibliothek mit nach Hause, um es am nächsten Morgen wieder zurückzustellen, so fehlt es an einer Zueignungs­ absicht und damit bereits am subjektiven Tatbestand des Diebstahls.74 Hier wird deutlich: Welche Absicht der Täter mit der Aneignung der Sache ver­ folgte, ist eine Frage, die nicht allein aus der äußeren Handlung gefolgert werden kann.75 Ein weiteres Beispiel illustriert die Unmöglichkeit, das Delikt des Dieb­ stahls allein unter Rückgriff auf objektive Tatbestandsmerkmale zu beschrei­ ben: Hat A ein Auto entwendet und unbefugt in Gebrauch genommen, so gibt diese objektiv feststellbare Tatsache nicht den geringsten Aufschluss darüber, ob die Tat dem Deliktstyp des Diebstahls (§ 242 StGB) oder dem des unbe­ fugten Gebrauchs eines Fahrzeugs (§ 248 b StGB) entspricht. Dies lässt sich allein bestimmen im Hinblick auf das Vorliegen oder Fehlen der subjektiven Zueignungsabsicht des A zum Zeitpunkt der Wegnahme des Autos.76 Die Bei­ spiele zeigen, dass die Annahme eines Diebstahlbegriffs, der den Tatbestand rein objektiv beschreibt und von der Zueignungsabsicht abstrahiert, nicht vorstellbar ist.77 Ebenso verhält es sich beim Betrug: Wer ohne die Intention rechtswidriger Bereicherung das Vermögen eines Anderen durch Täuschung schädigt, z. B., um ihm einen Streich zu spielen, verwirklicht gerade nicht das Unrecht des Betruges als eines Bereicherungsdelikts.78 Die deliktsspezifi­ schen subjektiven Tatbestandsmerkmale der Zueignungsabsicht beim Dieb­ stahl und der Bereicherungsabsicht beim Betrug werden auch als Tatbe­ standsmerkmale mit „überschießender Innentendenz“ bezeichnet, da diesen subjektiven Merkmalen objektiv nichts entsprechen muss.79 72  Kelker,

Legitimität 2007, S. 424. Strafrecht AT I 2006, S. 313. 74  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 206. 75  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 46. 76  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 313. 77  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 206. 78  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 313. 79  Maier, Objektivierung 2005, S. 132. Auch die Existenz sog. normativer Tatbe­ standsmerkmale, wie z. B. „fremd“ in § 242 StGB (Diebstahl), die eine Wertung 73  Roxin,



II. Der Tatbestand101

Die Frage, welchem gesetzlichen Tatbestand ein bestimmtes Verhalten zu­ zuordnen ist, kann nicht immer allein aus der Dritten-Person-Perspektive he­ raus mit Sicherheit entschieden werden.80 Eine Typisierung des Unrechts aus­ schließlich unter Verwendung objektiver Merkmale aus der Dritten-PersonPerspektive konnte und kann bis zur Stunde dem Gesetzgeber aber auch nicht gelingen.81 Das Unrecht lässt sich mit unseren sprachlichen Möglichkeiten nicht hinreichend kennzeichnen, wenn von subjektiven Merkmalen in der Ersten-Person-Perspektive des Täters abgesehen werden soll.82 Der Wilderer kann auch objektiv dem Wilde nicht nachstellen (§ 292 StGB) ohne das subjektive Merkmal des Willens, es zu erlegen. Es gibt keine tatbestandliche Be­ schreibung sexueller Handlungen (§§ 174 ff. StGB) ohne die Beschreibung einer subjektiven Tendenz des Täters.83 An der Vorstellung, den Tatbestand als rein objektive, allein auf „Außenweltfaktoren“ abstellende, strafrechtliche Kategorie auffassen zu können, konnte deshalb nach der „Entdeckung“ sub­ jektiver Tatbestandsmerkmale nicht mehr festgehalten werden;84 die bis da­ hin im Strafrecht geltende Maxime „Alles Subjektive gehört zur Schuld.“ musste relativiert werden.85 In vielen Fällen wird bereits das Unrecht der Tat von subjektiven, innerpsychischen Momenten mitbestimmt und nicht erst die Schuld.86 Gehörte die Zueignungsabsicht beim Diebstahl im klassischen Ver­ brechensaufbau noch zur Schuld, wurde sie nun in den Tatbestand verscho­ ben.87 Die Integration weiterer subjektiver Merkmale in den Tatbestand führ­ te in der Folge zum grundsätzlichen Umbau des Deliktssystems:88 Zwar wur­ de anfangs die scharfe Trennung zwischen dem rein objektiv verstandenen Unrecht und der Schuld als subjektiver Tatseite noch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber doch allmählich „aufgeweicht“.89 Um 1930 hatte sich die Lehre von den subjektiven Tatbestandsmerkmalen schließlich durchgesetzt und ist im deutschen Strafrecht bis heute herrschend.90 enthalten (hier: die Fremdheit einer Sache, die eine zivilrechtliche Bewertung der Eigentumsverhältnisse gem. §§ 929 ff. BGB voraussetzt), lassen eine rein deskriptive bzw. wertfreie Fassung des Tatbestands nicht zu (Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 137). 80  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 47. 81  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 67. 82  Ebd., S.  66 f. 83  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 283. 84  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S.  206; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 314. 85  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 104. 86  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 283. 87  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 137. 88  Ebd., S. 59; Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 201. 89  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 59. 90  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 283.

102

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Aus den geschilderten deliktsspezifischen Einzelbeobachtungen wurden schließlich auch Parallelen zur Versuchstat gezogen, da während des Ver­ suchs ein vorsätzlich handelnder Täter zwar den Deliktserfolg anstrebt, ihn aber nicht verwirklicht91 und damit die subjektive Tatseite über die objektive hinausgeht.92 Der Versuch konnte nur dann als Unrecht verstanden werden, wenn das vorsätzliche Wollen des Täters bereits auf der Unrechts- und nicht erst auf der Schuldebene auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtet war.93 Beim Versuch ist aber rein objektiv, also unter Absehung vom subjektiven Täterentschluss, nicht festzustellen, welcher Tatbestand vorliegen soll: Wenn jemand an einem Anderen vorbeischießt, so kann dieser Vorgang z. B. ein Mordversuch sein oder auch ein Versuch der Körperverletzung, abhängig da­ von, welchen Vorsatz der Täter hatte. Aus diesen Überlegungen zur Versuchs­ tat wurde abgeleitet, dass auch der Vorsatz ein Merkmal des Tatbestands sein müsse, um überhaupt ermitteln zu können, ob das drittperspektivisch beob­ achtete Geschehen einen vom Gesetzgeber formulierten Tatbestand erfüllt.94 So ging die Entwicklung dahin, auch den Vorsatz, vorerst beschränkt auf das Deliktsstadium des Versuchs, als ein Element des subjektiven Unrechtstatbe­ stands aufzufassen.95 An dieser Stelle blieben die Vertreter des neoklassi­ schen Systems bei der Umbildung des klassischen Aufbaus hinsichtlich der Anerkennung subjektiver Unrechtselemente stehen.96 Als offene Inkonsistenz blieb die Frage unbeantwortet, warum sich an der Stellung des Vorsatzes et­ was ändern sollte, wenn das Delikt aus dem Versuchsstadium in das Vollen­ dungsstadium übergeht. Die klassische Auffassung vom Vorsatz als Schuld­ form vorausgesetzt, müsste dann der Vorsatz bei Vollendung vom Unrechts­ bereich in den Schuldbereich „wandern“.97 Die Konsequenz, den Vorsatz nicht nur beim Versuch, sondern auch beim vollendeten Delikt als subjektives Unrechtselement aufzufassen, zo­ gen die „Neoklassiker“ nicht.98 Die Explikation subjektiver Unrechtsele­ mente hatte aber den Abschied von der neoklassischen Erscheinungsform der objektiven Unrechtslehre bereits eingeläutet, der später mit der Zuord­ nung des Vorsatzes zum Unrechtstatbestand auch des vollendeten Delikts vollzogen wurde.99 91  Stollwerck,

Tatbestandsmerkmale 2003, S. 115. Objektivierung 2005, S. 132. 93  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 116. 94  Welzel, Bild 1961, S. 28. 95  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 116. 96  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 316. 97  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 116. 98  Ebd., S. 104; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 316. 99  Maier, Objektivierung 2005, S. 132. 92  Maier,



II. Der Tatbestand103

cc) Die Finale Handlungslehre Bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein bildete die Hegelschule die Hauptströmung im Strafrecht.100 Durch sie wurde die Handlung als willensgetragene und zweckbezogene Tätigkeit vorübergehend zum zentra­ len Element des Verbrechensbegriffs.101 Die Handlung wurde nicht in erster Linie unter dem Aspekt der kausalen Verursachung betrachtet, sondern die zweckvolle Beherrschung des Kausalverlaufs avancierte zum wesentlichen Merkmal der strafrechtlichen Hegelschule. Danach konnte nur die Tat, die in der Voraussicht des Täters lag, zugerechnet werden, womit der Vorsatz schon als ein tatbestandliches Merkmal angesehen werden musste. So wur­ de durch die Hegelschule bereits ein zentraler Aspekt der erst viel später durch Hans Welzel begründeten Finalen Handlungslehre vorweggenom­ men.102 Zu Beginn der 1930er Jahre stellte Hans Welzel seine „Finale Handlungs­ lehre“ vor, die rasch an Einfluss gewann und zu einem radikalen Umbau des naturalistischen Verbrechenssystems führte. Mit seiner Theorie wandte sich Welzel ganz bewusst gegen die damals herrschende kausale Handlungs­ lehre.103 Welzel verstand die Handlung im Anschluss an die Hegelschule und be­ einflusst von Nicolai Hartmanns Wertlehre als menschliche Zwecktätig­ keit.104 Welzel griff die Annahme der objektiven Unrechtslehre an, das Geschehen lasse sich allein als natürlicher Kausalzusammenhang beschrei­ ben. Maßgeblich ist nach Welzel vielmehr die menschliche „Finalität“ einer Handlung. Nicht ein naturgesetzlicher Kausalzusammenhang, sondern die zweckhafte Handlung ist demnach die Grundlage strafrechtlicher Betrach­ tung. Die Finalität beruht auf der menschlichen Fähigkeit, Kausalverläufe prospektiv überdeterminieren zu können. Die Intentionalität war für Welzel das entscheidende Merkmal des Handelns. Demnach muss eine Handlung 100  Kelker,

Legitimität 2007, S. 24. S.  24 f. 102  Ebd., S. 25. 103  Ebd., S. 68. 104  Kelker, Legitimität 2007, S. 68 f. Welzel selbst betont im Vorwort zur 4. Auf­ lage seiner Einführung in die Finale Handlungslehre, dass er Anregungen zur Aus­ bildung derselben nicht Nicolai Hartmann, sondern der Denkpsychologie zu verdan­ ken hat, insbesondere den „Grundlagen der Denkpsychologie“ von Richard Hönigswald. Als weitere Autoren nennt Welzel die Psychologen Karl Bühler, Theodor Erismann, Erich Jaensch, Wilhelm Peters sowie die Phänomenologen P. F. Linke und Alexander Pfänder, die ihm weitere Anregungen vermittelten. Alle Autoren beziehen sich Welzel zufolge hinsichtlich psychischer Vorgänge nicht auf kausale, sondern auf „sinnintentionale“ Zusammenhänge (Welzel, Bild 1961, S. IX). 101  Ebd.,

104

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

im welzelschen Sinne ein finales und nicht bloß kausales Geschehen sein, in dem der zielgerichtete, steuernde Wille das äußere Kausalgeschehen überformt.105 „Finalität“ als Inhalt dieses Willens wird von Welzel im Straf­ recht synonym mit „Vorsatz“ verwendet. Eine Handlung im strafrechtlichen Sinne liegt nach der Finalen Handlungslehre nur dann vor, wenn der Täter ein Ziel mit Wissen und Wollen, also vorsätzlich verfolgt.106 Systematisch folgt aus dieser Gleichsetzung von Finalität und Vorsatz, dass der Vorsatz bereits zum Tatbestand gehört:107 „Der Vorsatz, den die finale Handlungs­ lehre als den objektiv gestaltenden Faktor der Handlung ermittelt hatte, ist ein Wesenselement des Unrechtsbegriffs.“108 Welzel beschreibt, wie die scheinbar so klare Trennung der Klassiker zwischen Außen und Innen, ob­ jektiv und subjektiv sowie die Zuweisung des Äußeren zum Unrecht und des Inneren zur Schuld durch die Entdeckung der subjektiven Unrechtsele­ mente schwer erschüttert wurde. Die Neoklassiker hatten nach Welzel zwar erkannt, dass in vielen Tatbeständen das Unrecht nicht ausschließlich objek­ tiv erfasst werden kann, sondern von subjektiv-seelischen Momenten mitbe­ stimmt wird.109 Indem aber die Neoklassiker den Vorsatz aus dem Tatbestand herauslösten und in den Schuldbereich verschoben, zerrissen sie nach Wel­ zels Auffassung nicht nur die innere Einheit des objektiven und subjektiven Tatbestandes, sondern sogar den subjektiven Tatbestand selbst. Denn nach der Anerkennung der Existenz subjektiver Unrechtselemente durch die Neo­ klassiker, beließen diese zwar einige subjektive Merkmale wie Absichten und Tendenzen im Tatbestand, doch hingen, so Welzel, diese Merkmale ohne den Vorsatz „in der Luft“: „Wie sollte die Zueignungsabsicht in § 242 ohne den Vorsatz bestehen im Hinblick auf die Fremdheit der Sache?“110 Da die Handlung als auf ein Ziel hin ausgerichtet angesehen wird, muss auch der Tatbestand, der das finale, auf die Rechtsgutsverletzung gerichtete, Han­ deln verbietet, alle finalen Elemente mit umfassen. Aus der Finalstruktur der tatbestandsmäßigen Handlung ergibt sich für Welzel, dass auch der Vorsatz neben den anderen subjektiven Unrechtselementen zum Tatbestand gehört: Nicht nur die subjektiven Unrechtselemente sind demnach Bestand­ teile des Handlungsunrechts, sondern auch der Wille zur Tatbestandsver­ wirklichung.111 105  Kelker, Legitimität 2007, S. 69; Maier, Objektivierung 2005, S. 133; Welzel, Bild 1961, S. 1. 106  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 137. 107  Ebd., S.  137 f.; Kelker, Legitimität 2007, S. 69; Stratenwerth / Kuhlen, Straf­ recht AT I 2004, S. 102. 108  Welzel, Bild 1961, S. 29. 109  Ebd., S. 27. 110  Ebd., S. 8. 111  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 114.



II. Der Tatbestand105

Für die Auffassung des Vorsatzes als eines Tatbestandsmerkmals sprechen auch nach Beulke und Roxin die Formulierungen des Gesetzgebers mittels finaler Verben bei der Beschreibung der meisten Tathandlungen der zahlrei­ chen Vorsatztatbestände im Gesetz, die eine zweckgerichtete Handlungsbe­ schreibung enthalten. Beispiele sind – „Widerstand leisten“ und „tätlich angreifen“ (§ 113 StGB, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte), – „nötigen“ (§ 240 StGB, Nötigung), – „zueignen“ (§ 246 StGB, Unterschlagung), – „vorspiegeln“ (§ 263 StGB, Betrug), – „verfälschen“ (§ 267 StGB, Urkundenfälschung), – „dem Wilde nachstellen“ (§ 292 StGB, Jagdwilderei) usw. In diesen Delikten lässt sich der Unrechtsgehalt der Handlung ohne Rück­ griff auf das allgemeine Merkmal des Tatbestandsvorsatzes nicht bestimmen, da andernfalls der eigentliche Handlungssinn verloren geht.112 Denn diese Handlungen kann man nicht vornehmen, ohne das in den Tätigkeitsworten enthaltene Ziel mit Wissen und Wollen (Vorsatz) anzustreben.113 Deshalb muss bereits für die Tatbestandsmäßigkeit des vorsätzlichen Handlungsde­ likts der finalen Lehre zufolge die Beschreibung der „Außenseite“ des verbo­ tenen Handelns aus der Dritten-Person-Perspektive stets ergänzt werden durch die Beschreibung der „Innenseite“, nämlich auch des als Verwirk­ lichungswillen aufgefassten Vorsatzes, der die jeweilige Handlung prägt.114 Wir hatten bereits gesehen, dass der Vorsatz beim Versuch ebenfalls von den Vertretern des neoklassischen Systems als ein subjektives Unrechtsele­ ment anerkannt wurde. Auch bei diesem „Zugeständnis“ der Neoklassiker setzt Welzel an, um seine Lehre dogmatisch zu plausibilisieren: Der Versuch ist eine auf den Erfolg abzielende Handlung, demnach eine Handlung, in welcher der Willensinhalt einen konstitutiven Bestandteil bil­ det. Schon sprachlich ist es unmöglich, einen Tötungsversuch anders zu definieren als eine Handlung, mit welcher der Täter auf die Tötung eines Menschen abzielt. Führt diese „Willensteuerung“ dann zum Erfolg, kann sich hierdurch jedoch nichts an der Funktion des Willens in der Handlung ändern. Ist der Willensinhalt beim Versuch ein notwendiger Bestandteil der Handlung, so bleibt er es auch, wenn der Erfolg eintritt.115 112  Wessels / Beulke,

Strafrecht AT 2008, S. 47. Strafrecht AT I 2006, S. 311. 114  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 102. 115  Welzel, Bild 1961, S. 7. 113  Roxin,

106

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Wenn der Vorsatz beim Versuch bereits zum Tatbestand gehört und nicht erst zur Schuld, dann muss er dieselbe Funktion auch dann beibehalten, wenn das versuchte Delikt in das Stadium der Vollendung übergeht.116 Dieser Auf­ fassung schließt sich auch Roxin an: Da der Vorsatz im Versuchsstadium der Tat zum Tatbestand gehört, jedes vollendete Delikt aber das Stadium des Ver­ suchs durchläuft, kann der Vorsatz im Augenblick der Tatvollendung nicht einfach aus dem Tatbestand verschwinden und in den Schuldbereich umzie­ hen.117 Die Richtigkeit dieses Schlusses zeigt sich Welzel und Roxin zufolge unmittelbar an den Tatbeständen der vollendeten Delikte selbst: Wenn jemand einen anderen tödlich verletzt, so hängt die Frage, ob er damit den Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB), den der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) oder den der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) verwirklicht hat, einzig und allein von dessen Vorsatz ab.118 Ist etwa lediglich bekannt, dass A den B getötet hat, so kann diese objektive Feststellung aus der Drit­ ten-Person-Perspektive für sich genommen keine ausreichende Entschei­ dungsgrundlage sein für die Einordnung dieses Verhaltens in die genannten Tatbestände.119 Mit der Akzeptanz des Tatvorsatzes als eines subjektiven Un­ rechtselements wurde in dogmatisch stringenter Weise dem Täterwillen eine unrechtskonstitutive Funktion zugesprochen.120 Damit rückte der Handlungs­ unwert näher an den Erfolgsunwert heran, sodass schließlich beide zusam­ men als Unrecht angesehen wurden und in der Schuld lediglich die sonstigen Schuldmerkmale ohne den Vorsatz verblieben. Der Willensinhalt wurde in den Handlungsbegriff einbezogen und der Vorsatz aus der Schuld in den Handlungs- und Unrechtsbereich vorverlagert. Die Finale Handlungslehre bewirkte gewissermaßen die „Migration“ des Handlungsunwertes aus der Schuld in den Unrechtstatbestand.121 Während heute sowohl in der Recht­ sprechung als auch in der Wissenschaft Konsens darüber besteht, dass es sub­ jektive Unrechtselemente gibt, wie z. B. die Zueignungsabsicht in § 242 StGB (Diebstahl), und dass diese subjektiven Unrechtselemente den im Tat­ bestand verkörperten Delikts­typ mitprägen, wird nach wie vor darüber disku­ tiert, ob sich der subjektive Tatbestand in den verschiedenen gesetzlich ge­ nannten Unrechtselementen erschöpft oder ob er als sogar wichtigstes sub­ jektives Unrechtselement auch den Vorsatz mit umfasst.122 Für die Finalisten 116  Stollwerck,

Tatbestandsmerkmale 2003, S. 115. Strafrecht AT I 2006, S. 311. 118  Welzel, Bild 1961, S. 28; vgl. auch Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 310, der das Beispiel der Abgrenzung der vorsätzlichen Sachbeschädigung von der straflosen fahrlässigen Sachbeschädigung bemüht. 119  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 67. 120  Maier, Objektivierung 2005, S. 134. 121  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 105. 122  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 162. 117  Roxin,



II. Der Tatbestand107

ist die Diskussion klar entschieden: Der Vorsatz ist Bestandteil des Unrechts­ tatbestands.123 Nur ein geringer Teil der Strafrechtslehre, dafür aber die Rechtsprechung des BGH und der Obergerichte, sieht den Vorsatz nicht als Bestandteil des subjektiven Unrechtstatbestandes an, sondern weiterhin als Schuldmerkmal.124 Die Zugehörigkeit des Vorsatzes zum subjektiven Tatbe­ stand unter dem Wertungsaspekt des Tatbestandes ist eine besondere Zuord­ nung in der deutschen Strafrechtswissenschaft, die sich weder in der deut­ schen Rechtsprechung noch international durchsetzen konnte.125 Teilt man den Standpunkt der herrschenden Lehre, stellt sich allerdings immer noch die Frage, ob der Vorsatz aus der Schuld gänzlich gestrichen wurde oder ob ihm auch auf der Schuldebene weiterhin eine Funktion zukommt. Die Anhänger des Finalismus verneinen diese Frage erwartungsgemäß eindeutig mit der Begründung, dass der Vorsatz bereits vollständig im subjektiven Tatbestand aufgehe.126 Diesem Schritt ist die heute vorherrschende Lehre nicht bzw. nicht vollständig gefolgt. Sie hält demgegenüber an der Auffassung fest, dass das Gesetz mit den Begriffen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit neben Verhaltensformen bzw. der Begehungsweise auch die jeweilige Schuldform beschreibt, sodass beide Elemente im Deliktsaufbau eine Doppelfunktion erfüllen, die sowohl für die Unrechts- wie die Schuldseite bedeutsam ist.127 Dieser Auffassung liegt die Überlegung zugrunde, dass ein Deliktsmerkmal nicht schon durch seine Verwendung an einer einzigen Stelle des Deliktssystems „verbraucht“ sein muss.128 123  Gropp,

Tatbestand 2003, S. 18; Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 114. Grundbegriffe 2008, S. 162 f.; Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 114. Beulke, nach dessen Meinung auch der Vorsatz als subjektives Tatbe­ standsmerkmal bereits zum Unrecht und nicht allein zur Schuld gehört, (Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 47) weist auf die systematischen Schwierigkeiten dieser Auffassung hin: Wer mit der früher vorherrschenden Lehre den Tatbestands­ vorsatz erst im Schuldbereich prüfe und die Frage danach, ob ein Tatbestandsirrtum vorliegt, dorthin verlagere, gerate insbesondere bei den Absichtsdelikten in Auf­ bauschwierigkeiten und interne Widersprüche. Dies illustriere folgendes Beispiel: Nimmt jemand beim Verlassen des Restaurants den Schirm eines anderen Gastes mit nach Hause, befindet er sich im Tatbestandsirrtum und handelt gem. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB nicht vorsätzlich, da er nicht weiß, dass die von ihm weggenommene Sache „fremd“ i. S. d. § 242 StGB (Diebstahl) ist. Daher fehlt es am subjektiven Tatbestand des Diebstahls, sodass sich die Frage nach der Zueignungsabsicht des Wegnehmen­ den gar nicht stellt (Ebd., S. 48). 125  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 310. 126  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 118. 127  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 315. 128  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 118. So ist etwa nach Gropp der Vorsatz sowohl ein subjektives Element der Tatbestandsmäßigkeit als auch ein Ele­ ment der Schuld (Gropp, Tatbestand 2003, S. 18). 124  Bringewat,

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C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die für die Strafrechtsdogmatik so entscheidende These Welzels bestand darin, dass die Handlung Bestand­ teil des Tatbestands und damit des Unrechts ist. Wenn der finale Verwirkli­ chungswille grundlegender Bestandteil der Handlung ist, dann gehört auch der Verwirklichungswille sowie insbesondere seine „Ableitung“, der Vorsatz, als Wille zur Verwirklichung aller objektiven Tatbestandsmerkmale zum Tatbestand und damit zum Unrecht. Neben den seit den Neoklassikern anerkannten subjektiven Unrechts­ merkmalen ist nach Welzel auch der Tatvorsatz Bestandteil des subjektiven Tatbestands und damit unrechtskonstitutiv. Die Finale Handlungslehre Wel­ zels schuf die Grundlage für diese Anerkennung des Vorsatzes als Unrechts­ bestandteil.129 Insgesamt erfuhr die Deliktskategorie des Unrechts durch die Finale Handlungslehre im Vergleich zum neoklassischen System einen weiteren „Subjektivierungsschub“.130 Als offenes dogmatisches Problem dieses Ansatzes bleibt bestehen, dass die Finale Handlungslehre die Unterlassungstat nicht erklären kann. Denn Unterlassen zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass es an einer Finalität fehlt, da der Unterlassende kein Kausalgeschehen auslöst, das er intentional lenkt oder steuert.131 dd) Die Bonner Schule Die Bonner Schule, die vor allem mit dem Namen Armin Kaufmanns verbunden ist, hat den Versuch unternommen, den Finalismus Welzels kon­ sequent zu Ende zu führen.132 Das entscheidende Merkmal dieser monis­ tisch-subjektivistischen Unrechtslehre besteht in der konsequenten Kritik an der unrechtskonstitutiven Funktion des objektiven Handlungserfolgs,133 wonach die unrechtsbegründende und unrechtserhöhende Funktion der ob­ jektiven Unrechtskomponente des Erfolgsunwerts zu relativieren sei. In der Bonner Schule kann nicht der Erfolg Gegenstand eines Verbotes sein, sondern ausschließlich eine Handlung, da sich Ge- und Verbote nur an diejenige „Stelle“ richten können, die eine Handlung plant und steuert, näm­ lich an den „Willen“ des handelnden Menschen.134 Strafrechtliches Unrecht kann dann auch nur aus Handlungsunrecht bestehen, wobei allein der Vorsatz unrechtskonstitutiv ist. 129  Maier,

Objektivierung 2005, S. 133. Grundbegriffe 2008, S. 138; Kelker, Legitimität 2007, S. 70. 131  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 131. 132  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 122. 133  Maier, Objektivierung 2005, S. 135. 134  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 122. 130  Bringewat,



II. Der Tatbestand109

Unrecht als Handlungsunrecht erschöpft sich demzufolge im beendeten Versuch.135 Mit dem beendeten Versuch gilt die Tat deshalb bereits vollen­ det, da der Täter schon alles tat, was nach seiner Vorstellung in der ErstenPerson-Perspektive zur Zielerreichung notwendig war und damit auch all das verwirklichte, was die Norm ihm verbietet. Welche äußere Wirkung ein Handeln bei bestehendem Widerspruch zum Normbefehl hat, ist deshalb völlig irrelevant,136 weil der Erfolg außerhalb der „finalen Macht“ des Men­ schen stehe. Der Erfolg kann deshalb nicht unrechtsbegründend sein, weil sein Eintreten oder Ausbleiben größtenteils vom Zufall abhängt.137 Den ra­ dikalen Subjektivisten zufolge sind deshalb auch nicht nur grob unverstän­ dig versuchte Taten, sondern auch abergläubisches Verhalten Unrecht. Zu­ gestanden wird lediglich, dass es in solchen Fällen an einem Strafbedürfnis fehlen kann.138 Die Funktion des Erfolgs besteht dann nur noch darin, eine objektive Voraussetzung der Strafbarkeit zu sein, d. h., es muss immer noch ein Erfolg eingetreten sein, damit überhaupt gestraft wird. Der Erfolg spielt in dieser Lehre aber keine unrechtsbegründende Rolle mehr. Ein Beispiel liefert Stollwerck: „Zwei Menschen schießen auf eine dritte Person. Die Kugel des ersten trifft den Dritten tödlich, während die Kugel des zweiten ihr Ziel verfehlt. Die Lösung […] ist, dass beide Personen das gleiche Unrecht verwirklicht und auch die gleiche Schuld auf sich geladen haben. Der Handlungsunwert ist bei beiden Personen gleich, denn sie haben beide geschossen. Dass bei dem einen die Kugel ihr Ziel verfehlt und bei dem anderen trifft, soll ja gerade nicht unrechtsbegründend hinzutreten.“139

Einer solchen Auffassung wäre mit Stollwerck entgegenzuhalten, dass der Erfolg nicht losgelöst von der Handlung betrachtet werden kann. Vielmehr werden Taten nicht nur an ihren Handlungen gemessen, sondern sogar vor­ rangig im Hinblick auf ihre Wirkungen bewertet, die sie verursachen.140 Stollwerck weist darauf hin, dass auf den Erfolgsunwert nicht verzichtet werden kann. Vielmehr zeigen sich an dieser Stelle die Grenzen einer sub­ jektivistischen Überdehnung der Personalen Handlungslehre.141 135  Stollwerck,

Tatbestandsmerkmale 2003, S. 123. Objektivierung 2005, S. 136. 137  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 122. 138  Maier, Objektivierung 2005, S. 136. 139  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 123. 140  Ebd., S. 124. 141  Ebd., S. 125. Auf der Basis der Finalen Handlungslehre Welzels wurde die Personale Handlungslehre entwickelt, die in der gegenwärtigen Strafrechtsdogmatik in zahlreichen Varianten vertreten wird. Diese Lehre enthält die Grundüberlegung, dass über das Unrecht nicht in erster Linie der vom Täter zu trennende Taterfolg und die objektiven Handlungsmodalitäten entscheiden, sondern dass das Unrecht 136  Maier,

110

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

b) Der Tatbestandsvorsatz Wie oben im Abschnitt zur Finalen Handlungslehre dargelegt wurde, ordnet heute die überwiegende Lehre den Vorsatz als psychischen Sachver­ halt in Gestalt des auf den objektiven Tatbestand gerichteten Verwirkli­ chungswillens dem subjektiven Tatbestand zu. Bei vorsätzlichen Handlungs­ delikten macht er den Grund- und Regelbestandteil des subjektiven Tatbe­ stands aus.142 Systematisch ist der Vorsatz als allgemeines Merkmal des subjektiven Tatbestands dementsprechend den nicht in allen gesetzlichen Tatbeständen und in mannigfacher Form auftretenden besonderen subjekti­ ven Unrechtselementen voranzustellen.143 In § 15 StGB wird ein tatbe­ standsmäßiges Verhalten grundsätzlich nur dann für strafbar erklärt, wenn es auch von einem Vorsatz getragen wird.144 Demgegenüber ergibt sich ebenfalls aus § 15 StGB, dass fahrlässiges Handeln straffrei bleibt, wenn es nicht ausdrücklich mit Strafe bedroht wird.145 Etwa eine mit Vorsatz began­ gene Tötungshandlung ist deshalb erhöhtes Unrecht, weil die Norm krasser verletzt wird, wenn der Täter das geschützte Rechtsgut bewusst und gewollt angreift.146 Damit bildet die Bestrafung fahrlässigen Handelns eher die Aus­ nahme. Ist auch fahrlässiges Verhalten strafbar, wird dies im jeweiligen Tatbe­ stand bestimmt.147 Der Tatbestandsvorsatz ist nach herrschender Auffassung der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände oder kurz: Wissen und Wollen der Tatbestandsver­ wirklichung.148 Zwischen Vorsatz und Beweggrund (Motiv) des Handelns täterbezogen definiert werden muss. Mit dieser Auffassung wurde der Grundstein gelegt für ein „personales“ Unrecht und für die personale Unrechtslehre, welche heute die am häufigsten anzutreffende Gegenposition zu objektiven Strafrechtslehren darstellt. Da die subjektiven Tatbestandsmerkmale in der personalen Unrechtslehre bereits zum Unrechtstatbestand gezählt werden, bedeutet dies für das Unrecht ins­ gesamt, dass hier subjektive Elemente stärker berücksichtigt werden, während die Schuld zunehmend entsubjektiviert wird (ebd., S. 106). Die Personale Handlungs­ lehre hat als „Folgelehre“ des welzelschen Finalismus heute weitgehend Einzug in Rechtsprechung und Dogmatik gefunden (ebd., S. 108 f.). 142  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 104; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 47. 143  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 163. 144  Maier, Objektivierung 2005, S. 36. 145  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 291. 146  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 67. 147  Maier, Objektivierung 2005, S. 36. 148  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 163; Gropp, Tatbestand 2003, S. 18; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 75. Roxin weist darauf hin, dass die Kurzformel „Wissen und Wollen des objektiven Tatbestands“ wegen ihrer Ungenauigkeit zwar



II. Der Tatbestand111

muss klar unterschieden werden. So kann der Vorsatz z. B. gerichtet sein auf das Inbrandsetzen einer Scheune und die hiermit verbundene Erlangung der Versicherungssumme. Dies ist der Vorsatz, nicht aber der Beweggrund bzw. das Motiv des Handelnden. Das Motiv zur Tat könnte bspw. in dem Wunsch bestehen, als finanziell ruiniert zu gelten.149 Der Vorsatz als Hauptbestandteil des subjektiven Unrechtstatbestandes entspricht in vollem Umfang dem objektiven Unrechtstatbestand, sodass auch von der Deckungsgleichheit oder der Kongruenz zwischen dem objek­ tiven und dem subjektiven Unrechtstatbestand gesprochen wird.150 Der Vorsatz wird intern weiter differenziert in ein kognitives Wissensele­ ment und ein voluntatives Willenselement, wobei das Wissen dem Wollen vorausgeht.151 Das kognitive Element des Tatvorsatzes fordert vom Täter die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die der Gesetzgeber als objektive Tatbestands­ merkmale des jeweiligen Deliktes bestimmt hat.152 § 16 Abs. 1 S. 1 StGB („Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetz­ lichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich.“) verdeutlicht im Um­ kehrschluss, dass der Täter die Umstände in seine Vorstellung aufgenommen haben muss, die den objektiven Tatbestand bilden.153 Der Vorsatz bezieht sich also primär auf das kognitive Wissenselement: Vorsätzliches Handeln setzt die Kenntnis (das Wissen) aller Merkmale voraus, die den Tatbestand konstituieren.154 Das voluntative Element des Tatvorsatzes ist der auf die Beeinträchtigung (die Verletzung oder Gefährdung) des Tatobjektes gerichtete Wille des Tä­ ters.155 Durch diesen Verwirklichungswillen unterscheidet sich der Tatvorsatz von den „schwächeren“ Intentionen des bloßen Wünschens oder Hoffens und von der Tatgeneigtheit.156 oft kritisiert werde, aber dennoch weit verbreitet sei (Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 310). 149  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 163. 150  Ebd., S. 166. 151  Ebd., S. 163. 152  Maier, Objektivierung 2005, S. 36. 153  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 166; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 295. 154  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 166; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 293. 155  Maier, Objektivierung 2005, S. 37. 156  Ebd.

112

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Vorsätzliches Handeln setzt also immer beides voraus: Das Wissen um die Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandes und ihr Wollen.157 Wer etwa eine fremde Sache wegnimmt, die er mit seiner eigenen verwechselt, handelt im Hinblick auf das im objektiven Tatbestand des § 242 StGB (Diebstahl) geforderte Merkmal „fremd“ ohne Wissen. Damit fehlt der Vorsatz, sodass nicht wegen Diebstahls bestraft werden kann. Ein Beispiel für das Fehlen des voluntativen Vorsatzelements liefert Roxin: „Wer trotz der Warnungen seines Beifahrers in leichtsinniger Weise überholt, weil er im Vertrauen auf seine Fahrgeschicklichkeit einen Unfall vermeiden zu können glaubt, weiß zwar, dass etwas passieren könnte, (kognitive Voraussetzung erfüllt, d. Verf.) er ‚will‘ es aber nicht im Rechtssinne (voluntative Voraussetzung nicht erfüllt, d. Verf.) und kann daher nicht wegen vorsätzlicher, sondern nur wegen fahrlässiger Körperverletzung bestraft werden, wenn er gleichwohl einen Men­ schen verletzt.“158

Der Vorwurf der Ungenauigkeit der Kurzformel vom „Wissen und Wol­ len“ der Tatbestandsverwirklichung rührt zum einen daher, dass man in Abhängigkeit von der „Intensität“ beider Elemente drei Varianten des Tat­ bestandsvorsatzes unterscheidet [die Absicht (dolus directus ersten Grades), die „Wissentlichkeit“ (dolus directus zweiten Grades) sowie den Eventual­ vorsatz (dolus eventualis)].159 Zum anderen ist der den Erfolg anstrebende Wille nur in der häufigsten Vorsatzart der Absicht ein unmittelbarer Be­ standteil des Vorsatzes.160 Die Absicht als gesteigerte Form des „einfachen“ direkten Vorsatzes zweiten Grades liegt dann vor, wenn es dem Täter gera­ de darauf ankommt, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs herbeizufüh­ ren.161 Für die Absicht sind sowohl ein dominierendes Willenselement als auch ein Wissenselement im Sinne eines „Fürmöglichhaltens“ der Tatbe­ standsverwirklichung notwendig. Die Absicht als Vorsatzform ist außerdem von den in einigen Strafvor­ schriften explizit genannten besonderen Absichten als deliktsspezifischen Tatbestandsmerkmalen zu unterscheiden, wie z. B. von der Zueignungsab­ sicht in § 242 StGB (Diebstahl) oder von der Bereicherungsabsicht in den §§ 253 StGB (Erpressung), 259 StGB (Hehlerei) und 263 StGB (Betrug). 157  Bringewat,

S. 75.

158  Roxin,

Grundbegriffe 2008, S. 163; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008,

Strafrecht AT I 2006, S. 310. Objektivierung 2005, S. 36; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 77. 160  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 293. 161  Unter Absicht versteht man den zielgerichteten Erfolgswillen, der zwar auch gleichzeitig der Beweggrund bzw. das Motiv des Handelns sein kann, aber nicht sein muss (Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 163). Die Wendung „um zu“ impliziert dolus directus ersten Grades. Allerdings ist die Verwendung im Gesetzestext nicht einheitlich (ebd., S. 78). 159  Maier,



II. Der Tatbestand113

Diese besonderen Absichten sind, wie gezeigt wurde, subjektive Tatbe­ standsmerkmale eigenständiger Art.162 Der dolus directus zweiten Grades bzw. der direkte Vorsatz ist dann ge­ geben, wenn der Täter weiß oder sicher voraussieht („Wissentlichkeit“), dass sein Handeln zur Verwirklichung eines Tatbestands führt. Wer trotz dieses Wissens willentlich tätig wird, handelt mit direktem Vorsatz.163 Dolus eventualis bzw. Eventualvorsatz liegt vor, wenn der Täter es für möglich hält oder sich damit abfindet, dass sein Verhalten zur Tatbestands­ verwirklichung führt. Der Eventualvorsatz wird auch als „bedingter Vorsatz“ bezeichnet.164 Beim direkten und beim bedingten Vorsatz (Eventualvorsatz) strebt der Täter nicht den Erfolg an, sondern weiß lediglich, dass der Erfolg notwen­ diger- oder möglicherweise mit der willentlich vollzogenen Handlung ver­ knüpft ist.165 Während der Wille also nur bei der Absicht auf den Erfolg gerichtet ist, beschränkt sich der Wille beim direkten und beim bedingten Vorsatz auf den Vollzug der tatbestandsmäßigen Handlung (im Unterschied zur Erfolgsorientierung des dolus directus ersten Grades): Wenn der Täter in dem Wissen, dass die Drosselung den Tod des Opfers verursachen kann, diese Gefahr aber nur hinnimmt, ohne den Eintritt des Todes unmit­ telbar erreichen zu wollen, fehlt es an dem auf den Erfolg (Tod) gerich­ teten Willen. Demgegenüber erfolgt die Handlung des Drosselns durchaus willentlich. Deswegen ist zwar von vorsätzlichem Handeln, aber eben nur von einem bedingten Vorsatz auszugehen, wenn der Täter sich mit dem Tod, falls dieser eintreten sollte, abfindet, ohne ihn direkt zu beabsichti­ gen.166 • Diskussionen um den Eventualvorsatz Ein Beispiel für die Verneinung des Eventualvorsatzes stellt der sog. „Gullydeckelfall“ dar. Der Täter warf hier einen mindestens 20 kg schweren Gullydeckel wuchtig aus Brusthöhe in Richtung des Kopfes eines am Boden liegenden Mannes.

162  Bringewat, 163  Ebd.

Grundbegriffe 2008, S. 78.

164  Ebd.

165  Jescheck / Weigend, 166  Ebd.,

S. 294.

Lehrbuch 1996, S. 293.

114

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Das Landgericht stellte fest, dass aus der Lebensgefährlichkeit dieses Verhaltens noch nicht auf einen bedingten Tötungsvorsatz167 geschlossen werden kann. Diese vorsätzliche Herbeiführung einer Lebensgefahr könnte auch nur eine besonders qualifizierte Form der Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB darstellen, die noch nichts darüber besagt, dass sich der Täter auch mit der Herbeiführung des Todes abgefunden hat.168 Der BGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die sog. „HemmschwellenTheorie“, nach welcher bei der Tötung eines Menschen regelmäßig eine erhöhte Hemmschwelle besteht. Auch bei massiver Gewaltausübung erfor­ dert die Billigung eines tödlichen Ausgangs dieser Auffassung zufolge die bewusste Überschreitung einer besonderen psychischen Grenze. Die Kritik an der Hemmschwellen-Theorie richtet sich insbesondere da­ rauf, dass die „erhöhte Hemmschwelle“ wie eine naturwissenschaftliche Gegebenheit behandelt und somit eine bloße Behauptung wie eine Tatsache betrachtet wird.169 In diesem Zusammenhang gibt es allerdings keine all­ gemeinen Regeln. Die Argumentation mit „durchschnittlichen“ Motiva­ tionslagen bei der Tötung von Menschen ist bereits im Ansatz verfehlt. So wird man etwa bei Tätern mit langjähriger Erfahrung in einer Gewaltkultur und nach abstumpfender Einübung in die emotionslose Anwendung selbst massiver Gewalt wohl kaum von einer „erhöhten Hemmschwelle“ ausge­ hen können. Wenn der Vorsatz konkreter Lebensgefährdung festgestellt ist, dürften abstrakte „Hemmschwellen-Erwägungen“ daher eher zurücktre­ ten.170 Nach der Rechtsprechung des BGH ist eine erhöhte Hemmschwelle da­ gegen zunächst grundsätzlich in Betracht zu ziehen. Von dieser Annahme kann nur dann abgesehen werden, wenn der vom Vorsatz des Täters umfass­ te Geschehensablauf einem tödlichen Ausgang so nahe kommt, dass nur noch ein glücklicher Zufall diesen verhindern kann (z. B. Stich ins Herz).171 Nur im Ausnahmefall orientiert sich also die Rechtsprechung am äußeren Tatgeschehen, das der Dritten-Person-Perspektive zugänglich ist; dann aller­ 167  Den Tatbestand des Totschlags erfüllt, wer vorsätzlich einen Menschen tötet. Eine Tötung ist das ursächliche Herbeiführen des Todes (Joecks / Miebach-Schneider, § 212 Rn. 1). Der Tatbestand des Totschlags verlangt den Vorsatz, wobei bedingter Tötungsvorsatz genügt. Tötungsvorsatz liegt vor, wenn der Täter mit dem Willen zur Verwirklichung des Tatbestandes in Kenntnis aller objektiven Tatumstände handelt (ebd., Rn. 4). 168  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 81. 169  Fischer, § 212 Rn. 15. 170  Ebd., Rn.  15 f. 171  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 81.



II. Der Tatbestand115

dings auch nur insoweit, als drittperspektivisch gewonnene Erkenntnisse für einen Schluss auf die Erste-Person-Perspektive des Täters genutzt werden: „Für die Prüfung bedingten Tötungsvorsatzes in Fällen lebensgefährlicher Gewalthandlungen gilt Folgendes: Nimmt der Täter gegenüber dem Opfer Gewalthand­ lungen vor und richtet sich der Angriff gegen sensible Körperpartien, liegt es nahe, aus der zutreffend erkannten konkreten Lebensgefährlichkeit der Tathand­ lung zu schließen, der Täter habe die Verursachung des Todes in Rechnung gestellt und sich hiermit billigend abgefunden. Die hohe und offensichtliche Lebensge­ fährlichkeit von Gewalthandlungen stellt auf beiden Vorsatzebenen das zentrale, auf Tötungsvorsatz hinweisende Beweisanzeichen dar. Der Bundesgerichtshof hält es nicht grundsätzlich für ausgeschlossen, allein aus dem Wissen um die hochgradige Lebensgefahr auf das Wollen zu schließen. In solchen Fällen können lediglich gegenläufige Umstände von Gewicht die Verneinung des voluntativen Vorsatzele­ ments rechtfertigen. Praxisrelevant sind vor allem affektive Erregungszustände sowie Beeinflussung durch Drogen und Alkohol.“172

Wenn der Täter Gewalthandlungen vornimmt, die er selbst als besonders gefährlich erkannt hat, hat dies eine Indizwirkung für die Inkaufnahme des Tötungserfolges. Der Schluss auf billigendes Inkaufnehmen wird sich bei Gewalthandlungen, bei denen das Ausbleiben des Todes nur als glücklicher Zufall erscheint, oft aufdrängen (Hammerschläge auf den Hinterkopf mit Zertrümmerung der Schädeldecke, Schuss in den Kopf, tiefgehender geziel­ ter Stich in Brust und Rücken, Sturz aus hoher Höhe usw.).173 Ein großer Teil der Entscheidungen zum bedingten Tötungsvorsatz betrifft Angriffe mit dem Messer. In der Regel liegen die Sachverhalte so, dass der Täter dem Opfer Stiche in den Brust- und Bauchbereich, in den Rücken oder im Halsbereich versetzt. Solche Tathandlungen sind extrem lebensge­ fährlich. „Der Schluss von der hohen Lebensgefahr auf bedingten Tötungs­ vorsatz liegt in solchen Fällen überaus nahe, zumal der Täter zu einer ‚schonenden Dosierung‘ des Angriffs eingedenk der Dynamik des Gesche­ hensablaufs nicht in der Lage ist.“ Bei gezielten Stichen in die Herzgegend oder in den Hals ist die rechtfehlerfreie Verneinung des Tötungsvorsatzes normalerweise kaum vorstellbar.174 172  Joecks / Miebach-Schneider,

§ 212 Rn. 9. § 212 Rn. 8. 174  Joecks / Miebach-Schneider, § 212 Rn. 21. Fischer weist hingegen darauf hin, dass man aber nicht immer davon ausgehen könne, dass bei demjenigen, der lebens­ bedrohliche Gewalthandlungen vornehme, auch das voluntative Element des (be­ dingten) Tötungsvorsatzes gegeben sei (Fischer, § 212 Rn. 10). Das ist der Risikotheorie zufolge hinsichtlich des Eventualvorsatzes aber auch gar nicht notwendig. Mit der Risikotheorie als einer sog. „Wissenstheorie“ ist Eventualvorsatz nämlich bereits dann anzunehmen, wenn der Täter eine Situation schafft, die geeignet ist, einen Verletzungserfolg herbeizuführen. Im Unterschied zur Vermeidungstheorie, die den Schluss auf den Eventualvorsatz von der Durchführung oder der Unterlassung 173  Fischer,

116

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Die Rechtsprechung deckt sich hierin weitgehend mit der herrschenden Lehre, dass Eventualvorsatz angenommen werden muss, wenn der Täter die naheliegende Möglichkeit des Erfolgseintritts erkannt und sich mit dem Risiko der Tatbestandsverwirklichung abgefunden hat, er also zur Hinnahme des Erfolgs bereit war („Na wenn schon.“).175 c) Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale Zum Tatvorsatz als dem allgemeinen subjektiven Tatbestandsmerkmal hat der Gesetzgeber zusätzlich in einzelnen Strafvorschriften weitere subjektive Tatbestandsmerkmale bestimmt, welche ebenso wie der Vorsatz die Struktur der Finalität aufweisen und wie dieser auf das geschützte Rechtsgut, das Handlungsobjekt oder die Begehungsweise der Verletzung bezogen sind.176 Im Hinblick auf die Existenz der zahlreichen besonderen subjektiven Tatbe­ standsmerkmale in Form bestimmter Tendenzen, Absichten oder Beweg­ gründe besteht eine viel größere Übereinstimmung als über die Zuordnung des Vorsatzes bereits zum Unrecht177 und wurde schon durch die „Neoklas­ siker“ anerkannt. Es ist unmittelbar evident, dass sie als subjektive Elemen­ te der Handlungsbeschreibung das Unrecht der Tat mitbestimmen.178 Solche subjektiven Unrechtselemente stehen nach allgemeiner Auffassung selbstän­ dig neben dem Tatbestandsvorsatz179 und gehören mit zum Handlungsun­ wert.180 Der subjektive und der objektive Tatbestand sind nicht bei allen Delikten deckungsgleich in dem Sinne, dass der subjektive Tatbestand stets das genaue Spiegelbild des objektiven Tatbestands in der Vorstellung des Täters wäre.181 Vielmehr reicht der subjektive Tatbestand über den objekti­ ven Tatbestand hinaus.182 Ein verbreiteter Systematisierungsansatz differen­ von Maßnahmen zur Vermeidung des Erfolgseintritts nach Schaffung des Risikos abhängig macht, schließt die Risikotheorie auf den Eventualvorsatz bereits mit der Schaffung der gefährlichen Situation selbst (Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 82). 175  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 81. 176  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 317; Maier, Objektivierung 2005, S. 38. Da die subjektiven Tatbestandsmerkmale ebenso wie der Vorsatz Bestandteile des Unrechtstatbestandes des jeweiligen Delikts sind, müssen sie auch dann vorliegen, wenn gegenüber einem Schuldunfähigen eine Maßregel der Besserung und Siche­ rung verhängt wird, da es andernfalls überhaupt an einer mit Strafe bedrohten Hand­ lung fehlt (Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 320). 177  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I, S. 104 f. 178  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 68. 179  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S.  296; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 76. 180  Maier, Objektivierung 2005, S. 38. 181  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 76. 182  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 169.



II. Der Tatbestand117

ziert die Tatbestände in Absichtsdelikte, Tendenzdelikte und Ausdrucksde­ likte. Subjektive Tatbestandsmerkmale als Unrechtselemente finden sich vor allem bei der Deliktgruppe der Absichtsdelikte, bei denen die Absicht des Täters über die Verwirklichung des objektiven Tatbestands hinaus auf einen weitergehenden Erfolg gerichtet sein muss.183 Zur konkreten Ausführungs­ handlung, die im gesetzlichen Tatbestand beschrieben wird, tritt also eine besondere Erfolgsvorstellung als „überschießende Innentendenz“ hinzu,184 wie etwa die Zueignungsabsicht des Diebes oder Räubers (§§ 242, 249 StGB), die Bereicherungsabsicht des Erpressers, Hehlers oder Betrügers (§§ 253, 259, 263 StGB) usw. Eine überschießende Innentendenz haben indes nicht nur solche Tatbestände, in denen ausdrücklich von einer tatbe­ standlich geforderten Absicht die Rede ist, wie beim Diebstahl oder beim Betrug, sondern auch Straftatbestände, in denen das Erfordernis einer gege­ benen Absicht mit einer „zu“- bzw. „um zu“-Wendung umschrieben wird, wie in § 253 Abs. 1 StGB (Erpressung) die Bereicherungsabsicht oder in § 267 Abs. 1 StGB (Urkundenfälschung) die Täuschungsabsicht.185 Fast alle übrigen Tatbestände mit subjektiven Merkmalen werden in der etwas allgemein gehaltenen Kategorie der Tendenzdelikte zusammengefasst. Damit werden Delikte bezeichnet, die zwar ein bestimmtes äußerlich wahr­ nehmbares Geschehen bezeichnen, bei denen aber die vom Täter vorgege­ bene Richtung auf den Erfolg entscheidend ist186 und somit einem Tatbe­ standsmerkmal eine subjektive Tendenz anhaftet.187 Beispiele liefern Delik­ te, in denen finale Tätigkeitsworte wie „nachstellen“ oder „vorspiegeln“ eine bestimmte Willensrichtung zum Bestandteil des Tatbestandes machen.188 Unter Ausdrucksdelikten werden Tatbestände verstanden, deren Handlun­ gen einen „inneren Vorgang“ des Täters spiegeln.189 Bei den Ausdrucksde­ likten verlangt der Tatbestand, dass der Täter ein Wissen hat, das im Wider­ spruch zum äußeren Verhalten steht.190 Das Hauptbeispiel bildet die falsche Aussage in den §§ 153 ff. StGB, insofern man nicht die objektive Richtigkeit oder Unrichtigkeit, sondern im Sinne der subjektiven Theorie die Abwei­ chung einer Bekundung von der inneren Überzeugung des Aussagenden als 183  Maier, Objektivierung 2005, S. 39. Obgleich der Täter zwar einen Erfolg anstrebt, muss er ihn nicht erreichen (Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 319). 184  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 169; Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 318. 185  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 169. 186  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 320. 187  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 319. 188  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S.  319; Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 319. 189  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 319. 190  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 320.

118

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Kriterium der Falschheit ansieht. Dasselbe gilt für die unterlassene Verbre­ chensanzeige in § 138 StGB, die eine Kenntnis des geplanten Delikts vo­ raussetzt.191

III. Rechtswidrigkeit Innerhalb des Gesamtaufbaus der Straftat wird auf der Stufe der Rechts­ widrigkeit geprüft, inwieweit die begangene Tat über die bereits festgestell­ te Tatbestandsmäßigkeit hinaus im Widerspruch zur gesamten Rechtsord­ nung steht. Die durch die Tatbestandsmäßigkeit bereits indizierte Rechts­ widrigkeit kann durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt sein. Den Un­ rechtstatbeständen stehen somit Erlaubnistatbestände gegenüber, die ein rechtsgutsverletzendes Verhalten ausnahmsweise gestatten. Ein gerechtfer­ tigtes Verhalten bleibt zwar tatbestandsmäßig, enthält aber keine Rechts­ pflichtverletzung.192 Mögliche Rechtfertigungsgründe sind z. B. die Notwehr gem. § 32 StGB, § 227 BGB und das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG.193 Die obligatorische Prüfungsebene der Rechtswidrigkeit ist aus pers­ pektivendualer Sicht für die Freiheitsdebatte im Strafrecht relativ unproble­ matisch.

IV. Schuld Strafrechtliche Schuld basiert heute überwiegend auf dem Gedanken der persönlichen Vorwerfbarkeit. Der Schuldvorwurf wird angesichts der in der Tat sich ausdrückenden Gesinnung erhoben, die sich gegen die Rechtsord­ nung richtet.194 Dieser Auffassung gemäß bedeutet Schuld Vorwerfbarkeit der Tat hinsichtlich der ihr zugrundeliegenden rechtlich tadelnswerten Gesinnung. So, wie der Unrechtsgehalt der Tat von ihrem Handlungs- und Erfolgsunwert abhängt, wird ihr Schuldgehalt durch den Gesinnungsunwert bestimmt. Hiervon geht auch das Gesetz aus, wenn es in § 46 Abs. 2 StGB „die Gesinnung, die aus der Tat spricht“ als wichtigen Faktor der Strafzumessungsschuld betont. Vorwerfbar ist nur das, wofür der Täter willentlich verantwortlich ist, nicht dagegen das, was er möglicherweise von Natur aus ist.195

191  Roxin,

Strafrecht AT I 2006, S. 319. Strafrecht AT 2008, S. 96. 193  Ebd., S. 99. 194  Kelker, Legitimität 2007, S. 165. 195  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 139. 192  Wessels / Beulke,



IV. Schuld119

Mit dem Betreten der Schuldebene hat die Prüfung einer möglichen Vorsatz-Strafbarkeit bereits die Rechtswidrigkeit der Tat ergeben. Fest steht zu diesem Zeitpunkt: Der Täter hat mit seiner Tat gegen eine Verbotsnorm verstoßen, sich (bereits vor der Schuldebene, d. Verf.) für die Rechtsgutsverletzung entschieden, und sein Verhalten war durch keine Erlaubnisnorm (Rechtfertigungsgrund) gedeckt. Die Endgültigkeit dieser grundsätzlichen Feststellung zeigt sich darin, dass der Täter bereits unter diesen Umständen und unter bestimmten Vor­ aussetzungen, wie z. B. dessen Gefährlichkeit, mit Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB) belegt werden kann.196 Bei der Schuld muss zwischen der Strafbegründungsschuld und der Strafzumessungsschuld unter­ schieden werden. 1. Strafbegründungsschuld In der Rechtsanwendung erfolgt die Prüfung der Strafbegründungsschuld des Täters in einem fünfgliedrigen Schema. Der erste Schritt richtet sich auf die Schuldfähigkeit. Die Schuldfähigkeit wird gem. § 20 StGB ausgeschlossen bei einer krankhaften seelischen Stö­ rung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit. Im zweiten Schritt wird überprüft, ob spezielle Schuldmerkmale (de­ liktspezifisch) vorliegen, welche die Einstellung des Täters zu seiner Tat näher charakterisieren, wie z. B. die „Rücksichtslosigkeit“ im Straßenver­ kehr in § 315c StGB. Die Schuld kann durch diese besonderen Schuldmerk­ male sowohl erhöht als auch vermindert werden. Der dritte Schritt umfasst die Frage nach der Schuldform, also ob der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat.197 Abgesehen von den eigenständigen Merkmalen des Schuldbegriffs wird der Schuldgehalt einer Tat vor allem durch ihren Unrechtsgehalt mitbe­ stimmt: „Da das Unrecht Schuldvoraussetzung ist und die Schuld immer auf das Unrecht bezogen werden muß, wirkt sich jede Differenzierung im Un­ rechtsbereich mittelbar auch auf die Schwere des Schuldvorwurfs aus.“198 Der Schuldgehalt einer Straftat ist damit immer auch von ihrem Unrechtsgehalt abhängig. In einem solchen Abhängigkeitsverhältnis steht auch 196  Kühl,

Strafrecht AT 2008, S. 324. Grundbegriffe 2008, S. 205; Hilgendorf, Naturalismus 2003, S. 97; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 141. 198  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 429. 197  Bringewat,

120

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

die Schuldform zur Verhaltensform im Unrechtsbereich. Der vorsätzlichen oder fahrlässigen Verwirklichung des Tatbestands als Verhaltensform ent­ spricht die Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitsschuld als Schuldform. • Vorsatzschuld Für den Vorsatz im Schuldbereich ist die rechtsfeindliche oder gleichgül­ tige Einstellung des Täters zu den Verhaltensanforderungen des Rechts kennzeichnend. Vorsatz ist hier „Träger“ des „Gesinnungsunwertes“. Gemäß der Doppelfunktion des Vorsatzes im Unrechts- wie Schuldbereich indiziert der Tatvorsatz als Verhaltensform und subjektives Element des Unrechtstat­ bestandes die Vorsatzschuld.199 • Fahrlässigkeitsschuld Kennzeichnend für die Fahrlässigkeitsschuld ist hingegen die nachlässige oder sorglose Haltung des Täters zu den Sorgfaltsanforderungen der Rechts­ ordnung.200 Auch Fahrlässigkeitsschuld bedeutet der normativen Schuldlehre zufolge Vorwerfbarkeit der Tat im Hinblick auf die sich hierin ausdrückende recht­ lich tadelnswerte Einstellung zu den Verhaltensanforderungen der Rechts­ ordnung. In den Fragen der Schuldfähigkeit und des Unrechtsbewusstseins gilt dasselbe wie bei vorsätzlicher Tatbegehung. Der Fahrlässigkeitsschuld­ vorwurf gründet im Unterschied zur Vorsatzschuld allerdings auf der An­ nahme, dass der Täter nach seinen persönlichen Fähigkeiten und dem Maß seines individuellen Könnens befähigt war, seine Sorgfaltspflicht zu erken­ nen und die entsprechenden Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen. Dabei wird zugestanden, dass diese Fähigkeit bei psychischen oder physischen Mängeln des Täters fehlen oder auch infolge von Verwirrung, eines Schrecks etc. zeitweilig oder vollständig entfallen kann. Bei den fahrlässigen Erfolgsde­ likten müssen der tatbestandliche Erfolg und der Kausalverlauf für den Täter im Wesentlichen subjektiv voraussehbar gewesen sein.201 Auf der vierten Stufe wird danach gefragt, ob der Täter bei Begehung der Tat ein Unrechtsbewusstsein besaß, ihm also bewusst war, dass er Unrecht tat.202 Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit wird von der tradierten Lehre als das eigentliche Kennzeichen der mangelnden Rechtsgesinnung angese­ 199  Bringewat,

Grundbegriffe 2008, S. 208. Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 6, 149. 201  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 260. 202  Hilgendorf, Naturalismus 2003, S. 97. 200  Ebd.;



IV. Schuld121

hen. Denn wer in voller Kenntnis des Verbots seiner Handlung sich gleich­ wohl zur Tat entschließt, zeigt eine besonders missbilligenswerte Einstellung zum Recht.203 Wer wissentlich und willentlich einen Unrechtstatbestand verwirklicht, weiß demzufolge als Schuldfähiger normalerweise, dass er Unrecht begeht.204 Inhalt des Unrechtsbewusstseins ist hierbei nicht die Kenntnis der Strafvorschrift, sondern das allgemeine Wissen des Täters, dass sein Verhalten verboten ist:205 „Der Täter muss die rechtliche Wertwidrigkeit seines Verhaltens kennen (oder zumindest doch kennen können); er muss wissen (oder doch wissen können), dass sein Verhalten gegen die verbindliche materiale Wertordnung des Rechts verstößt und deshalb rechtlich verboten ist. Ihm muss dementsprechend bewusst sein, dass sein Verhalten den elementaren Erfordernissen der Gemeinschaftsordnung und damit den Grundregeln gesellschaftlichen Zusammenlebens widerspricht, und er muss sich (zugleich) über deren Allgemeinverbindlichkeit und Unverbrüchlichkeit im Klaren sein, […]“206

Dieses Unrechtsbewusstsein ist neben der Schuldform ein selbständiges Schuldelement. Liegen aber keine besonderen Anhaltspunkte für ein Fehlen des Unrechtsbewusstseins vor, wird es regelmäßig „einfach“ angenom­ men.207 Im fünften Schritt wird schließlich geprüft, ob Entschuldigungsgründe vorliegen.208 Die Entschuldigungsgründe bewirken eine so starke Herabsetzung des Unrechts- und Schuldgehalts der Tat, dass die untere Grenze der Strafwürdigkeit nicht erreicht wird und der Gesetzgeber angesichts der au­ ßergewöhnlichen Motivationslage auf die Erhebung eines Schuldvorwurfs verzichtet. Wichtige Entschuldigungsgründe sind der entschuldigende Not­ stand (§ 35 StGB) und die Notwehrüberschreitung (§ 33 StGB).209 2. Strafzumessungsschuld Von den qualitativen Voraussetzungen der Strafbegründungsschuld, die in der Person des Täters erfüllt sein müssen, damit er überhaupt bestraft wer­ den kann, ist die Strafzumessungsschuld deutlich abzugrenzen.210 Die Schuld 203  Jescheck / Weigend, 204  Wessels / Beulke, 205  Ebd.,

Lehrbuch 1996, S. 429. Strafrecht AT 2008, S. 149.

S. 150. Grundbegriffe 2008, S. 209. 207  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 149. 208  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 205; Hilgendorf, Naturalismus 2003, S. 97; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 141. 209  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 150. 210  Gropp, Tatbestand 2003, S. 19. 206  Bringewat,

122

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

des Täters ist nach § 46 StGB die Grundlage für die Zumessung der Strafe. Als Strafzumessungsstrafe ist sie somit eine quantitative Größe: Je größer die Schuld, umso höher die Strafe. Die Höhe der Strafzumessungsschuld hängt ihrerseits von der Schwere des verwirklichten Unrechts ab.211 Die verminderte Schuldfähigkeit in § 21 StGB als Strafmilderungsgrund gehört ebenfalls zur Strafzumessungsschuld, da der Täter schuldhaft han­ delt. Allerdings ist der ihn treffende Schuldvorwurf wegen der erheblich eingeschränkten Einsichts- und Steuerungsfähigkeit minimiert.212

V. Die Doppelfunktion des Vorsatzes Es wurde bereits betont, dass der Schuldgehalt einer Straftat, abgesehen von den speziellen Schuldmerkmalen, vor allem durch ihren Unrechtsgehalt bestimmt wird: Jede Steigerung oder Minderung des Unrechts beeinflusst mittelbar auch die Schwere des Schuldvorwurfs. Unrecht bedingt Schuld, aber nicht umgekehrt. Derart gestaltet sich nach herrschender Lehre auch der Zusammenhang von Verhaltensform und Schuldform der Straftat:213 Die Tatsache, dass der Vorsatz auch dem subjektiven Unrechtstatbestand zugeordnet wird, hat nicht zur Folge, dass der Vorsatz im Schuldbereich seine Bedeutung komplett einbüßt. Vielmehr verhält es sich so, dass dem Vorsatz sowohl als Verhal­ tensform im Unrechtsbereich als auch als Schuldform im Schuldbereich eine Doppelfunktion im Deliktaufbau zufällt.214 So impliziert die entweder vorsätzliche oder die fahrlässige Verwirklichung des Unrechtstatbestandes als Verhaltensform auch die Schuldform der Vorsatz- oder Fahrlässigkeits­ schuld.215 Da also die Schuld Art und Schwere des begangenen Unrechts widerspiegelt, ist es auch für die Art und Schwere des Schuldvorwurfs entscheidend, ob der Täter vorsätzlich oder fahrlässig handelt.216 Höheres Unrecht bedingt bei gleichzeitigem Vorliegen der Schuldvoraussetzungen immer auch eine höhere Schuld. Insoweit haben alle Unrechtsmerkmale mittelbar auch eine Bedeutung für die Höhe der Schuld, ohne deshalb Schuldmerkmale zu sein.217 211  Gropp,

Tatbestand 2003, S. 19. S. 20. 213  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 149. 214  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 205; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 243; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 48. 215  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 149. 216  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 243, S. 429 f. 217  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 313. 212  Ebd.,



VI. Gesinnungsmerkmale123

Im Unrechtstatbestand wird der Vorsatz als Verhaltensform als Träger des rechtlich-sozialen Handlungssinns, des Handlungsunwerts, verstanden,218 der die psychischen Beziehungen des Täters zum äußeren (objektiven) Tat­ geschehen umfasst. Im Schuldbereich dagegen ist der Vorsatz als Schuld­ form Träger des Gesinnungsunwertes, der die mangelnde Rechtsgesinnung zum Ausdruck bringt,219 also die rechtsfeindliche bzw. gleichgültige Einstel­ lung des Täters gegenüber den Verhaltensanforderungen der Rechtsord­ nung.220 Das bedeutet: Auf der Tatbestandsebene kommt es zunächst nur darauf an, die vorsätzliche Begehungsweise von einem fahrlässigen Verhal­ ten abzugrenzen und festzustellen, ob der Handlungswille auf die Verwirk­ lichung aller objektiven Tatbestandsmerkmale gerichtet war. Auf der Schuld­ ebene geht es demgegenüber um die Frage, warum es seitens des Täters zu diesem Willen der Tatbestandsverwirklichung gekommen ist und ob die Willensbildung auf einer rechtlich tadelnswerten Gesinnung beruhte.221 Der Tatbestandsvorsatz als Verhaltensform und subjektives Unrechtsele­ ment liefert für den ihm entsprechenden Schuldtypus der vorsätzlich-fehler­ haften Einstellung zur Rechtsordnung (Vorsatzschuld) ein widerlegbares Indiz. Das Indiz kann beim Vorliegen eines Erlaubnistatbestandsirrtums hinfällig sein.222

VI. Gesinnungsmerkmale Gesinnungsmerkmale bezeichnen Zustände mit subjektiven Bezügen, wie z. B. Habgier, Rohheit und Rücksichtslosigkeit, die vom Richter nicht direkt festgestellt werden können, sondern ggf. durch einen Rückschluss aus den äußeren Umständen der Tat auf die Erste-Person-Perspektive des Täters ermittelt werden müssen. Gesinnungsmerkmale können auf der Grundlage einer äußeren, in der Dritten-Person-Perspektive zugänglichen Sachlage also immer nur indirekt erschlossen werden. Die Besonderheit der Gesinnungs­ merkmale besteht darin, dass die psychischen Zustände des Täters in den Tatbeständen direkt beschrieben werden. Dem Richter bleibt es dann seiner­ seits überlassen, aus dem Tatgeschehen diejenigen Umstände herauszugrei­ fen, die einen Rückschluss auf das in der jeweiligen Strafvorschrift gefor­ derte Gesinnungsmerkmal zulassen.223 218  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 118  f.; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 49. 219  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 49. 220  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 118  f.; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 149. 221  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 49. 222  Ebd., S. 149. 223  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 472.

124

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Die Gesinnungsmerkmale sind teils als Schuldmerkmale, teils als Unrechtsmerkmale aufzufassen. Kelker grenzt Unrechtselemente von Schuld­ merkmalen ab, indem sie sich der dualen Gegenüberstellung von Innerem und Äußerem bedient: Bestimmt oder verändert das innere Moment den Verletzungscharakter der äußeren Tat, so handele es sich um ein subjekti­ ves Unrechtsmerkmal.224 Dies gelte vor allem für den Vorsatz, der das Geschehen als ein vom Täter zu verantwortendes Verletzungsgeschehen kennzeichnet und z. B. beim Mord im Wissen und Wollen der Tötung eines Menschen besteht.225 Eine inhaltliche Gestaltung des äußeren Verletzungs­ geschehens erfolge darüber hinaus ggf. durch weitere subjektive Unrechtsmerkmale, wie z. B. bei Delikten, die eine Zueignungs- oder Bereiche­ rungsabsicht enthielten.226 Bilde das Merkmal jedoch ausschließlich den subjektiven Grund für die äußere Tat, so sei das Merkmal Bestandteil der Schuld und echtes Gesinnungsmerkmal.227 Auf der Basis dieser Unter­ scheidung zwischen Unrechts- und Schuldmerkmalen ließen sich, so Kel­ ker, subjektive Merkmale, die sich ausschließlich auf die Motive oder die Haltung des Täters beziehen, mangels Unrechtsbezug ausschließlich der Schuld zuordnen.228 Nach Auffassung von Stollwerck greift das Kriterium des Außenwelter­ folgs für die Abgrenzung echter und unechter Gesinnungsmerkmale aller­ dings zu kurz, nach welchem es sich immer dann um subjektive Tatbe­ standsmerkmale (unechte Gesinnungsmerkmale) handelt, wenn sie auf einen Erfolg in der „Außenwelt“ abzielen, um subjektive Schuldmerkmale (echte Gesinnungsmerkmale) hingegen, wenn sie rein innerlich sind. Es kommt nicht auf einen Erfolg in der Außenwelt an, sondern auf den Kontext, in dem das Merkmal auftaucht, auf seine Beziehung zum Deliktstyp. Ebenso ist für die Schuldelemente nicht entscheidend, dass sie „innerlich“ sind, sondern dass sie vom Deliktstyp unabhängige Motive, Gesinnungen und Gefühle beschreiben.229 Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass das entschei­ dende Kriterium für die Abgrenzung der subjektiven Tatbestandsmerkmale von den Schuldmerkmalen ihre Beziehung zum Deliktstyp darstellt.230 Um subjektive Tatbestandsmerkmale handelt es sich also dann, wenn sie die Begehungsweise der Tat, das durch den Tatbestand geschützte Handlungs­ 224  Kelker,

Legitimität 2007, S. 517. § 211 Rn. 78; Kelker, Legitimität 2007, S. 525. 226  Kelker, Legitimität 2007, S. 525. 227  Ebd., S. 525. 228  Ebd., S. 518. 229  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 113. 230  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 315; Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 114. 225  Fischer,



VI. Gesinnungsmerkmale125

objekt oder das Rechtsgut beschreiben und sich damit auf den Deliktstyp beziehen.231 Im Hinblick auf die Zueignungsabsicht in § 242 StGB (Diebstahl) etwa geht es dem Dieb darum, jemand Anderem rechtswidrig dessen Eigentum zu entziehen und sich dieses selbst zuzueignen. Während die Enteignungskom­ ponente sich auf das Eigentum des Anderen und damit auf das geschützte Rechtsgut bezieht, ist die Zueignungskomponente auf die Intention des Die­ bes gerichtet, sich das Vermögen selbst zuzueignen. Weil sich beide Kompo­ nenten auf den Deliktstyp des Diebstahls beziehen, ist die Zueignungsabsicht als subjektives Tatbestandsmerkmal des Diebstahls zu klassifizieren.232 Um das Delikt des Mordes von dem des Totschlags abzuheben, bedient sich der Gesetzgeber unterschiedlicher Merkmale, die in § 211 Abs. 2 StGB in drei Gruppen aufgeführt werden233 und die Teilen des Schrifttums zufol­ ge für die besondere Verwerflichkeit bestimmter vorsätzlicher Tötungsfor­ men stehen.234 Die erste Merkmalsgruppe bezieht sich auf die niedrigen Beweggründe, die zweite Merkmalsgruppe auf die besonders gefährlichen und verwerflichen Ausführungsarten der Tötung und die dritte Gruppe auf eine andere Straftat, welche durch die Tat ermöglicht oder verdeckt werden soll.235 Beim Mord sind neben den sonstigen niedrigen Beweggründen die Motivationen der Mordlust, der Befriedigung des Geschlechtstriebs und der Habgier echte Gesinnungsmerkmale, während die Merkmale, die sich auf die Gefährlichkeit oder Verwerflichkeit der Begehungsweise beziehen, also z. B. die Anwendung gemeingefährlicher Mittel als Kennzeichen des Hand­ lungsunrechts, zum Unrechtstatbestand gehören.236 Das Merkmal „mit ge­ meingefährlichen Mitteln“ bezieht sich ausschließlich auf die eingesetzten Tatmittel und stellt keine spezifischen Anforderungen an die Beweggründe oder die Einstellung des Täters und ist daher allein mit Rekurs auf die Dritte-Person-Perspektive feststellbar.237 1. Echte Gesinnungsmerkmale Deliktsbeschreibungen im Gesetz weisen besondere bzw. spezielle („ech­ te“) Schuldmerkmale auf, wenn diese den Schuldgehalt der Tat nicht ledig­ 231  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 318; Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 112. 232  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 112. 233  Fischer, § 211 Rn. 6; Kelker, Legitimität 2007, S. 586. 234  Joecks / Miebach-Schneider, § 211 Rn. 8. 235  Fischer, § 211 Rn. 33; Kelker, Legitimität 2007, S. 586. 236  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 473. 237  Kelker, Legitimität 2007, S. 589.

126

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

lich als Widerspiegelung des Unrechts bestimmen.238 Die tadelnswerte inne­ re Einstellung des Täters muss vielmehr als eigenständiges Element zum Tatbestand hinzutreten.239 Nur solche Gesinnungsmerkmale sind dem Schuldbereich zuzuordnen, die keinen Bezugspunkt zum Unrechtsbereich aufweisen.240 Um echte Schuldmerkmale handelt es sich, wenn diese die Einstellung des Täters zum Recht als besonders tadelnswert erscheinen lassen (mangelnde Rechtsgesinnung des Täters) und damit unmittelbar und ausschließlich den mit der Tat verbundenen Gesinnungsunwert kenn­ zeichnen;241 der Handlungs- und Erfolgsunwert spielt hier keine Rolle.242 Echte Gesinnungsmerkmale als deliktsspezifische Elemente finden sich au­ ßer in § 211 StGB (Mord) in folgenden Rechtsvorschriften: – § 90a Abs. 1 Nr. 1 (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole) (Böswilligkeit), – § 130 Abs. 1 Nr. 2 (Volksverhetzung) (Böswilligkeit), – § 225 Abs. 1 (Misshandlung von Schutzbefohlenen) (Böswilligkeit), – §  315c Abs.  1 Nr.  2 (Gefährdung des Straßenverkehrs) (Rücksichts­ losigkeit).243 Folgende echte Gesinnungsmerkmale finden sich in § 211 StGB (Mord): • Mordlust In der ersten Gruppe der Mordmerkmale liegt das Merkmal der Mordlust dann vor, wenn es dem Täter gerade darauf ankommt, einen Menschen sterben zu sehen, wenn er aus Mutwillen, aus Angeberei, aus Freude an der Vernichtung eines Menschenlebens oder aus Zeitvertreib tötet, die Tötung 238  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 213; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 148. 239  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 170. 240  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 472. 241  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 214; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S.  318 f.; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 46, 148. 242  Kelker, Legitimität 2007, S. 163. 243  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 214; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 46, 148. Rücksichtslos handelt, wer sich aus eigensüchtigen Gründen über seine Pflichten gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern hinwegsetzt oder aus Gleichgül­ tigkeit unbekümmert drauflos fährt (Fischer, § 315c Rn. 14). Allein auf das äußere Tatgeschehen darf hier nicht abgehoben werden, vielmehr kommt es neben der kon­ kreten Verkehrssituation auf die Vorstellungslage in der Ersten-Person-Perspektive des Täters an. Es dürfen aber keine „Fernziele“ berücksichtigt werden: „Wer mit Vollgas dicht vor einem Fußgänger einen Fußgängerüberweg passiert, handelt auch dann rücksichtslos, wenn ihn ehrenwerte Motive zur Eile treiben.“ (Ebd., Rn. 14a).



VI. Gesinnungsmerkmale127

als nervliches Stimulans oder sportliches Vergnügen betrachtet. „Kann ein Motiv des Täters nicht festgestellt werden, so ist das Mordmerkmal nicht gegeben […].“244 Bedingter Vorsatz reicht nicht aus.245 • Habgier Die Habgier als Schuldmerkmal in § 211 StGB ist nach herrschender Meinung ein noch über die Gewinnsucht hinaus gesteigertes abstoßendes Gewinnstreben um jeden Preis. „Das Ziel der Bereicherung muss nicht erreicht werden; vielmehr genügt die hie­ rauf gerichtete Absicht des Täters […]. Das Gewinnstreben braucht nicht das einzige Motiv zu sein […]; es muss aber tatbeherrschend […] und ‚bewusstseins­ dominant‘ sein […]; in Fällen eines ‚Motivbündels‘ muss das Motiv der Gewinn­ erzielung ‚im Vordergrund stehen‘ […].“246

Die Habgier ist in § 211 StGB deshalb als Schuldmerkmal anzusehen, da das Gewinnstreben des Täters unabhängig vom geschützten Rechtsgut „menschliches Leben“ des § 211 StGB ist.247 Es beschreibt keine objektiv feststellbare, spezifische Angriffsart, wie etwa „mit gemeingefährlichen Mitteln“ und trägt auch sonst nichts zur Charakterisierung des Deliktstyps bei. Die übrigen Merkmale des Mordes zeigen, dass es sich um kein Berei­ cherungsdelikt handelt.248 Vielmehr beschreibt die Habgier einzig das Motiv des Täters und erhöht damit seine Schuld. Die Abgrenzung erkennt man durch einen Vergleich der Habgier in § 211 StGB (Mord) mit der Bereiche­ rungsabsicht im Tatbestand des § 263 StGB (Betrug).249 Beim Betrug stellt die Bereicherung des Täters das Pendant zur „Entreicherung“ des Opfers dar. Hierdurch gibt es einen Zusammenhang zwischen der Bereicherungsab­ sicht des Täters und dem Vermögen des Geschädigten als des geschützten Rechtsguts.250 Die Bereicherungsabsicht als typisches Merkmal des Delikts­ typs des Betruges ist demnach ein subjektives Tatbestandsmerkmal.251 Die Habgier als Mordmerkmal gehört hingegen als echtes Gesinnungsmerkmal zu den Schuldmerkmalen, weil es über das durch den § 211 StGB geschütz­ te Rechtsgut des menschlichen Lebens hinausgeht.252 Subjektive Merkmale 244  Fischer, 245  Ebd.

246  Ebd.,

§ 211 Rn. 8.

Rn. 10. Strafrecht AT I 2006, S. 314 f. 248  Ebd., S. 315. 249  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 113. 250  Ebd., S. 112. 251  Ebd., S.  112 f. 252  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 315. 247  Roxin,

128

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

lassen sich also nicht deliktsübergreifend entweder als Unrechts- oder als Schuldmerkmale einordnen, vielmehr handelt es sich hierbei um eine Ent­ scheidung, die immer im Zusammenhang mit der jeweiligen Deliktsbeschreibung zu sehen ist, in der das Merkmal verwendet wird.253 • Niedrige Beweggründe Echte Gesinnungsmerkmale des § 211 StGB sind auch die sonstigen „niedrigen Beweggründe“, da sie nicht lediglich das verwirklichte Unrecht widerspiegeln und als spezielle Schuldmerkmale zum Unrecht hinzutreten.254 Sonstige niedrige Beweggründe liegen nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn die Motive der Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verach­ tenswert sind und auf tiefster Stufe stehen.255 Das Gericht ist angehalten, die Motivation des Täters im konkreten Fall aufzuklären und die Umstände, die als niedrig angesehen werden, festzustellen. Der Täter muss diese Umstände selbst erkannt und ihre Beurteilung als sittlich besonders anstößig eingesehen haben. Dabei stellt sich das strafprozessuale Problem der Feststellbarkeit von Phänomenen der Ersten-Person-Perspektive des Täters: „Ein als niedrig anzusehender Beweggrund muss zweifelsfrei positiv festgestellt sein. Kommen mehrere verschiedene Tatmotive in Betracht, so ist eine Verurtei­ lung nur möglich, wenn jeder der möglichen Beweggründe als niedrig anzusehen ist […].“ „Eine den Anforderungen der Tatbestandsbestimmtheit genügende Ob­ jektivierung der Bewertungsmaßstäbe ist nur schwer möglich […].“256 „Bei mehreren Tatmotiven („Motivbündel“) müssen im Falle der Annahme von § 211 die ‚niedrigen‘ die Hauptmotive sein […]. Lässt sich nicht feststellen, wel­ ches von mehreren Motiven bestimmend war, so darf ein Handeln aus niedrigen Motiven insgesamt nur angenommen werden, wenn andere, möglicherweise nicht auf tiefster Stufe stehende Motive sicher ausgeschlossen sind […].“257 253  Stollwerck,

Tatbestandsmerkmale 2003, S. 113. Strafrecht AT 2008, S. 148. 255  Fischer, § 211 Rn. 14. 256  Ebd., Rn. 17. 257  Ebd., Rn. 19. Bei der Feststellung der subjektiven Seite des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe in § 211 Abs. 2 StGB verlangt der BGH ebenfalls die Prü­ fung, ob der Täter die ihm vorgeworfene Handlung auch hätte unterlassen können. Denn nach ständiger Rechtsprechung muss der Täter hier seine Gefühle und Triebe willentlich steuern und beherrschen können. Dies erfordert die Prüfung, ob der Täter seine gefühlsmäßigen oder triebhaften Regungen gedanklich beherrschen und willent­ lich steuern, ob er also auch anders hätte handeln können, als er es tatsächlich tat. Im Grunde genommen ist also die Prüfung gefordert, ob der Täter zum Tatzeitpunkt „wil­ lensfrei“ handelte. Hier zeichnet der BGH deutlich das Bild einer willentlichen Ver­ haltenssteuerung (Spilgies, Zwischenruf 2007, S. 157). 254  Wessels / Beulke,



VI. Gesinnungsmerkmale129

• Ermöglichung oder Verdeckung einer anderen Straftat Das Mordmerkmal „um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu ver­ decken“ in der dritten Gruppe des § 211 Abs. 2 StGB kennzeichnet eine Absicht des Täters.258 Auch diese Absicht erhöht nicht das Unrecht der Tat, sondern die Schuld des Täters, da die hier genannte „andere Straftat“ außer­ halb des Deliktstyps der Vernichtung anderen Lebens liegt.259 2. Unechte Gesinnungsmerkmale Merkmale, die lediglich die subjektive Kehrseite von Unrechtsmerkmalen darstellen, sind unechte Gesinnungsmerkmale.260 Die unechten, unrechtsbe­ zogenen Gesinnungsmerkmale weisen immer einen Bezug zum Handlungs­ unwert261 auf,262 charakterisieren oftmals die besondere Art und Weise der Verletzungs- und Gefährdungshandlung näher263 und enthalten keinen eige­ nen sozialethischen Tadel.264 3. Halbe Gesinnungsmerkmale Nach Roxins Auffassung sind neben echten Gesinnungsmerkmalen, die allein zur Schuld gehören, wie z. B. „böswillig“, „rücksichtslos“, „niedriger Beweggrund“ und unechten Gesinnungsmerkmalen wie etwa der Anwen­ dung gemeingefährlicher Mittel in § 211 StGB als dritte Kategorie die „halben“ Gesinnungsmerkmale zu unterscheiden, die teilweise dem Unrecht und teilweise der Schuld zuzurechnen sind, wie z. B. „grausam“, „heimtü­ ckisch“ und „roh“.265 258  Kelker,

Legitimität 2007, S. 589. Strafrecht AT I 2006, S. 315. 260  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 318 f., 473. 261  Für den Handlungsunwert ist in erster Linie die vorsätzliche oder fahrlässige Begehungsweise maßgeblich, (Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 6) was (wie beim Gesinnungsunwert) ebenfalls nur unter Rückgriff auf die subjektive ErstePerson-Perspektive des Täters entschieden werden kann, hier allerdings bereits auf der Unrechtsebene. Demgegenüber kann etwa beim Mord im Vorsatzbereich eine Steigerung des Handlungsunwertes dann eintreten, wenn gemeingefährliche Mittel verwendet werden (Verwerflichkeit der Begehungsweise), was wiederum in der Dritten-Person-Perspektive feststellbar ist. Der Handlungsunwert kann also nicht einheitlich einer bestimmten Erkenntnisperspektive zugeschlagen werden (ebd.). 262  Kelker, Legitimität 2007, S. 163. 263  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 46. 264  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 169 f.; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S.  318 f. 265  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 318. 259  Roxin,

130

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

Freilich ist es auch möglich, alle Gesinnungsmerkmale als „unecht“ zu klassifizieren, sofern sie überhaupt nur einen Bezug zum Unrecht aufweisen. In einer solchen Klassifizierung wären die „halben“ Gesinnungsmerkmale Roxins wiederum als „unechte“ Gesinnungsmerkmale aufzufassen.266 Die Zuordnung der Gesinnungsmerkmale zu Unrecht oder Schuld bereitet nach wie vor besondere Schwierigkeiten.267 Auch ist es bisher nicht gelungen „sich auch nur annähernd auf eine einheitliche systematische Einordnung dieser Merkmale zu verständigen“.268 In § 211 StGB (Mord) finden sich folgende Merkmale, die man mit Roxin als halbe Gesinnungsmerkmale klassifizieren könnte: • Grausamkeit Das Mordmerkmal „grausam“ in § 211 Abs. 2 StGB kann in seiner Bezie­ hung zum Deliktstyp nicht in Gänze als Unrechts- oder Schuldelement aufge­ fasst werden. Dieses Merkmal nimmt eine Zwischenstellung ein, da es sei­ nerseits sowohl Unrechts- als auch Schuldelemente enthält.269 „Grausam tö­ tet, wer seinem Opfer in gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt, die nach Stärke oder Dauer über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen […].“270 Hier wird sowohl eine objektiv besonders gravierende Begehungsweise (DrittePerson-Perspektive) als auch eine spezifische innere Haltung des Täters (Ers­ te-Person-Perspektive) vorausgesetzt.271 Subjektiv wird verlangt, dass die Tat von einer gefühllosen und mitleidlosen Gesinnung getragen wurde.272 Es zeigt sich, dass die gemeinhin als unechtes Gesinnungsmerkmal klassifizierte Grausamkeit nicht vollständig, sondern nur teilweise dem Unrecht und teil­ weise auch der Schuld zuzuordnen ist. Denn das Mordmerkmal „grausam“ betrifft einerseits die Art und Weise der Todesherbeiführung und ist somit als Tatbestandsvoraussetzung Unrechtsmerkmal. Nach der Rechtsprechung tötet grausam, wer dem Opfer zudem aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung besondere Schmerzen oder Qualen zufügt. Die „gefühllose, unbarmherzige 266  Vgl. Kelker, Legitimität 2007, S. 163; so etwa Beulke, der die Mordmerkma­ le der Heimtücke und der Grausamkeit (§ 211 Abs. 2 2. Gruppe) zum Unrecht zählt, da sie in erster Linie die Verwerflichkeit der Begehungsweise der Tat beträfen und nur mittelbar Rückschlüsse auf die Gesinnung des Täters gestatteten (Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 148). 267  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 316. 268  Kelker, Legitimität 2007, S. 171. 269  Ebd., S. 526. 270  Fischer, § 211 Rn. 56. 271  Ebd. 272  Ebd., Rn. 58.



VI. Gesinnungsmerkmale131

Gesinnung“ ist mit der grausamen Tatbegehung aber nicht notwendig verbun­ den, sondern tritt nach Roxin als selbständiges Merkmal hinzu und ist damit als echtes Gesinnungsmerkmal Bestandteil der Schuld.273 • Heimtücke Ähnlich gelagert ist nach Roxin der Fall beim Mordmerkmal der „Heimtü­ cke“, wenn man der Rechtsprechung darin folgt, hierin die bewusste „Aus­ nutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers“ (Ausnutzungsbewusstsein des Täters) aufgrund einer „feindlichen Willensrichtung“ zu erblicken.274 Sowohl die Arglosigkeit als auch die Wehrlosigkeit des Opfers müssen vorliegen, wobei das Opfer gerade aufgrund der Arglosigkeit wehrlos sein muss.275 Der Täter muss sich seinerseits wiederum bewusst sein, einen ah­ nungslosen und deshalb schutzlosen Menschen zu überraschen276 und diese Unwissenheit des Opfers gezielt auszunutzen. Der Täter muss die tatsächli­ chen Umstände, welche die Bewertung „heimtückisch“ begründen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung in sein Bewusstsein aufgenommen und erkannt haben.277 Hier haben wir es mit einer erkenntnistheoretisch interes­ santen dreifachen Veränderung der Perspektive zu tun. Denn es wird die retrospektive Beurteilung eines Erste-Person-Merkmals der Täterperspektive zum Tatzeitpunkt („Ausnutzungsbewusstsein“ des Täters) abhängig gemacht von der Kenntnis des Täters um ein Merkmal der Ersten-Person-Perspektive des Opfers (Arglosigkeit). Vom Gericht wird nicht nur gefordert, dass es das Vorliegen eines Merkmals in der Ersten-Person-Perspektive des Täters er­ mittelt, sondern darüber hinaus auch, ob die Genese dieses Merkmals („Ausnutzungsbewusstsein“) auf eine spezifische Weise erfolgte (das Be­ wusstsein des Täters, die aufgrund von Arglosigkeit des Opfers gegebene Wehrlosigkeit desselben auszunutzen), was sich wiederum nur mit Rekurs auf die Erste-Person-Perspektive des Opfers entscheiden lässt. Dabei muss immer im Blick behalten werden, dass, sofern das Gericht Feststellungen 273  Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 317. Anders wiederum Kelker, nach deren Auffassung durch das Mordmerkmal „grausam“ das äußere Verletzungsgeschehen inhaltlich verändert werde, da grausam töte, wer dem Opfer besonders starke Schmerzen oder Qualen körperlicher und seelischer Art aus gefühlloser, unbarmher­ ziger Gesinnung zufüge. Mit dem Merkmal „grausam“ werde daher nicht nur eine bestimmte Gesinnung des Täters bezeichnet, sondern es gehe auch um eine für das Opfer äußerlich spürbare Veränderung des Verletzungsgeschehens (Kelker, Legitimi­ tät 2007, S. 471). 274  Fischer, § 211 Rn. 80; Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 317. 275  Fischer, § 211 Rn. 34. 276  Ebd., Rn. 80. 277  Ebd., Rn. 82.

132

C. Subjektive und objektive Elemente im deutschen Strafrecht

aus der Ersten-Person-Perspektive des Täters trifft, es sich erkenntnistheo­ retisch genau genommen um nachvollziehende Feststellungen aus den ErstePerson-Perspektiven des Gerichts handelt, welche in die Täterperspektive hineinprojiziert werden.278 Die Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit durch den Täter gehört also Roxin zufolge zum Unrecht, seine Willenstendenz hingegen zur Schuld.279 In die gleiche Richtung weist Roxin zufolge die Rechtsprechung, wenn sie für eine rohe Misshandlung in § 225 Abs. 1 StGB (Misshandlung von Schutzbefohlenen) „erhebliche Handlungsfolgen“ als Unrechtsmerkmal und eine „gefühllose Gesinnung“ als Schuldmerkmal fordert.280

VII. Fazit der Analyse Die Untersuchung des Aufbaus der Straftat zeigt, dass in erkenntnistheo­ retischer Hinsicht sowohl die Perspektive der ersten als auch die der dritten Person im deutschen Strafrecht zur Geltung kommen,281 wobei für die Be­ gründung und Bemessung der Strafe ein deutliches Übergewicht auf der Berücksichtigung der Ersten-Person-Perspektive des Täters liegt.282 Die Betrachtung der Entwicklung strafrechtlicher Handlungslehren zeigte, dass dies das Ergebnis einer immer weiter fortschreitenden Subjektivierung des Strafrechts ist, an dessen Ende die Anerkennung des Vorsatzes als Bestand­ teil des Unrechts stand.283 Es kann nicht übersehen werden, dass die Perso­ nale Handlungslehre als „Folgetheorie“ der von Welzel begründeten Finalen Handlungslehre auch heute noch Rechtsprechung und Dogmatik domi­ niert.284 Ein Element wie der Vorsatz (das Wissen und Wollen der Tatbe­ standsverwirklichung) bestimmt das Strafrecht nach wie vor maßgeblich.285 Hieraus erklärt sich auch die geringere Gewichtung des in der Dritten-Per­ son-Perspektive erhebbaren Taterfolgs und der objektiv feststellbaren Ver­ haltensmodalitäten im deutschen Strafrecht.286

278  Detlefsen, 279  Roxin, 280  Ebd.

281  Kelker,

Grenzen 2006, S. 132. Strafrecht AT I 2006, S. 317.

Legitimität 2007, S. 405. Konsequenzen 2006, S. 149. 283  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 138; Kelker, Legitimität 2007, S. 70; Maier, Objektivierung 2005, S. 133. 284  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 108 f. 285  Gschwend, Konsequenzen 2006, S. 149. 286  Stollwerck, Tatbestandsmerkmale 2003, S. 106. 282  Gschwend,

D. Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems Da die Freiheitsdebatte häufig vor dem Hintergrund des umfassenderen philosophischen Leib-Seele-Problems diskutiert wird, in dem es um das Verhältnis der Materie zum Bewusstsein bzw. des Gehirns zum Geist geht,1 ist es sinnvoll, für die Entfaltung der eigenen Position hier anzuknüpfen.

I. Mehrere-Welten-Theorien 1. Die Zwei-Welten-Lehre Ontologische Dualisten schließen aufgrund des ungeklärten Zusammen­ hangs von Geistigem und Körperlichem auf die seinsmäßige Beschaffenheit dieser beiden Entitäten. Das grundlegende Argument für diesen Schluss lässt sich zurückführen auf die neuzeitliche Annahme eines ontologischen Dualismus bei Descartes2 und dessen zentraler Unterscheidung einer res cogitans und einer res extensa:3 Da die Verschiedenheit von Geist und Körper widerspruchsfrei gedacht werden kann, folgt auch eine im ontologi­ schen Sinne „reale“ Verschiedenheit.4 Descartes ging damit von zwei streng getrennten Bereichen des Seienden aus: Im Bereich des Körperlichen herrscht die Naturkausalität, im Bereich des Seelischen gibt es Freiheit,5 wobei dem menschlichen Geist der Status einer eigenständigen Substanz zukommt.6 1  Merkel,

Handlungsfreiheit 2005, S. 412 f. René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1993 (1641). 3  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 203; Schlicht, Dualismus 2007, S. 28 f. 4  Schlicht, Dualismus 2007, S. 28 f. 5  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 203. 6  Ein Vertreter des cartesianischen Substanzdualismus im 20.  Jahrhundert ist John C. Eccles: Wie das Selbst sein Gehirn steuert, München 1996. Die zentrale Frage lautet, ob die ontologische Schlussfolgerung aus der Beobachtung des Unter­ schieds von Geist und Körper gerechtfertigt ist (Schlicht, Dualismus 2007, S. 28 f.). Bereits Kant konnte, die zeitgenössische empirische Psychologie vor Augen, auf diese Weise Freiheit nicht mehr verteidigen und sah sich genötigt, das Psychische ebenfalls dem Kausalprinzip gemäß zu denken (Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 203). 2  Vgl.

134 D. Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems

Im 19. Jahrhundert wurden aus dem Substanzdualismus auch methodolo­ gische Schlussfolgerungen abgeleitet, sodass sich die bis heute übliche Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften etablieren konnte. Den Naturwissenschaften ist methodologisch das Erklären von Ereignissen nach „Gesetzen“ immanent, für die Geisteswissenschaften ist das Verstehen kennzeichnend. Die gegenwärtigen Ansätze, Freiheit aus Gründen zu bestimmen, kombi­ nieren Descartes’ ontologischen Dualismus mit der modernen methodologi­ schen Einteilung der Wissenschaften. Demnach gilt die körperliche Bewe­ gung, in der sich eine Handlung ausdrückt, als physikalisch beschreibbarer Vorgang, der durch Ursachen (etwa vorausliegende Zustände des Körpers) ausgelöst wird.7 Ursachen bringen gleichsam mechanisch ein Ereignis ohne Beteiligung von Rationalität hervor.8 Diese Ursachen können von den empirischen Einzelwissenschaften erforscht werden, indem nach kausa­ len oder statistischen Erklärungen gesucht wird,9 d.  h., die Ereignisse können aus vorausliegenden Gesetzen oder Umständen erklärt werden.10 Dieselbe Handlung kann aber auch so verstanden werden, dass für sie Grün­ de und keine Ursachen maßgeblich waren.11 Gründe bewegen ein rationales Wesen zum Handeln, indem sie eine Handlung als notwendig, plausibel usw. erscheinen lassen.12 Die Methode des Nachvollziehens handlungsauslösender Gründe geht auf die Hermeneutik des 19. Jahrhundert zurück, nach der es für die Aufklärung einer Handlung der umfassenden Thematisierung der Absichten, Wünsche, Überzeugungen und Gefühle, also des gesamten „Innenlebens“ einer Person, bedarf. Nur eine solche Herangehensweise ermöglicht es demzufolge nach­ zuvollziehen, weshalb jemand eine Handlung zum Handlungszeitpunkt für richtig hielt.13 „Verstehen“ heißt dann so viel wie: Gründe kennen, die zu einer Handlung führten oder die sie als richtig erscheinen lassen.14 Die Unterscheidung zwischen Gründen und Ursachen lässt zwei ontologisch verschiedene Bereiche der Welt bzw. zwei eigenständige Welten entste­ hen.15 Es gibt einen Bereich der Welt, in welchem Ereignisse notwendig 7  Pothast,

Unzulänglichkeit 1980, S. 204. Einleitung 1988, S. 25. 9  Ders., Unzulänglichkeit 1980, S. 204. 10  Ders., Einleitung 1988, S. 25. 11  Ders., Unzulänglichkeit 1980, S. 204. 12  Ders., Einleitung 1988, S. 25; Stegmüller, Probleme 1983, S. 434. 13  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 204. 14  Ders., Einleitung 1988, S. 25. 15  Höffe hingegen will die Unterscheidung unter Verzicht auf eine ontologische Stellungnahme treffen können: „Man kann den Gründen, wie gesagt, den Charakter 8  Ders.,



I. Mehrere-Welten-Theorien135

aus Ursachen hervorgehen. In dem anderen Bereich der Welt kommen Er­ eignisse dadurch zustande, dass Gründe gegeben sind, die eine handelnde Person dazu veranlassen, eine bestimmte Handlung ins Werk zu setzen. In dem Bereich, in welchem alles nach Notwendigkeit geschieht, gibt es keine Freiheit. Im Raum der Gründe dagegen ließe sich Freiheit verorten, da die Gründe, die eine handelnde Person für ihre Handlung anführen kann, diese nicht zu ihrer Handlung zwingen. Vielmehr verweisen Gründe lediglich auf Ge­ sichtspunkte, die eine bestimmte Handlung als sinnvoll, richtig, geboten usw. erscheinen lassen. Der Handelnde selbst bildet dann die letzte Instanz, die darüber entscheidet, ob und ggf. welche Gründe auch tatsächlich hand­ lungswirksam werden.16 In der Frage nach den Konsequenzen für den Bereich persönlicher Ver­ antwortlichkeit wird das „Gründe-vs.-Ursachen-Argument“ oft als attraktive Lösung angesehen, die folgende Vorteile zu bieten scheint: Wenn jemand behauptet, Freiheit sei die Fähigkeit zum Handeln nach Gründen, liefert er damit zugleich ein gutes Kriterium für die Abgrenzung verantwortlicher von nicht-verantwortlichen Handlungen. Jemand, der sein eigenes Handeln nicht an Gründen ausrichten kann, ist nach dieser Definition unfrei und kann nicht zur Verantwortung gezogen werden. Hat man es dagegen mit einer Person zu tun, die normalerweise nach Gründen handelt, die sich aber in einer bestimmten Situation bewusst dagegen entscheidet, weiterhin nach Gründen zu handeln, kann diese für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden.17 Allerdings stellt sich hier die Frage, warum die eine Person nach von Ursachen zusprechen, da sie mentale Ereignisse sind, die die in der gemeinsa­ men Welt sichtbaren Ereignisse, die Handlungen, hervorrufen (Davidson 1980 / 1985, z. B. Kap. 3). Die ‚ontologische‘ Frage nach der Seinsart von Gründen stellt sich aber zunächst nicht.“ (Höffe, Lebenskunst 2007, S. 212). Die Auffassung der kausa­ len Relevanz mentaler Ereignisse setzt mit Blick auf deren „tatsächliche“ Wirksam­ keit allerdings schon ein ontologisch-kausalistisches Verständnis von Gründen und Ursachen voraus. 16  Pothast, Einleitung 1988, S. 26. 17  Höffe unterscheidet zusätzlich zwei Arten von Gründen. Zum einen Gründe, die ein Handeln in normativer Hinsicht rechtfertigen und zum anderen Motive als „innere Ursachen“, die ein Handeln nur deskriptiv bzw. explikativ erklären können. Beide Arten führen mit Blick auf die Frage „Warum hat das jemand getan?“ zu unterschiedlichen Antworten. Im deskriptiven Fall (der von Höffe gleichzeitig als „kausaler“ angesehen wird) will man wissen, aus welcher subjektiven Motivations­ lage heraus jemand gehandelt hat. Im normativen Fall dagegen steht die extern ad­ ressierte Rechtfertigung für ein bestimmtes Handeln im Vordergrund. Das Kriterium verantwortlichen Handelns kann demnach nur durch die Angabe normativer Recht­ fertigungsgründe erfüllt werden, während die tatsächlichen Motive einer Handlung jeder Rechtfertigung spotten können (Höffe, Lebenskunst 2007, S. 64 f.).

136 D. Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems

Gründen handelt und die andere Person nicht. Wie kann ausgeschlossen werden, dass hier im Hintergrund nicht doch andere determinierende Fakto­ ren den Ausschlag geben, selbst wenn kein offensichtlicher psychischer Defekt vorliegt? Kurz: Ist auch die Fähigkeit bei psychisch „gesunden“ Menschen, ihr Handeln an Gründen auszurichten, determiniert und kann die Handlungsfähigkeit aus Gründen lediglich psychisch besonders Disponier­ ten abgesprochen werden? Nur darauf zu verweisen, dass Gründe keine Ursachen sind, reicht für die Beantwortung dieser Fragen nicht aus, was insbesondere dann ein Defizit darstellt, wenn es um die Legitimation von Strafe geht.18 Vom Standpunkt des neurowissenschaftlichen Determinismus wird nämlich der Einwand erhoben, dass überhaupt nichts Mentales, Grün­ de eingeschlossen, irgendeinen Einfluss auf das Handeln einer Person aus­ übt. Handeln hat dieser Position zufolge immer neuronale Ursachen, das Ent­ scheidungserlebnis von Personen ist dann entweder eine Täuschung oder irrelevant für eine Handlungsauslösung.19 2. Die Drei-Welten-Lehre „Individuelle“ Gründe befinden sich nicht räumlich „im Kopf“ dessen, der sie hat. Sie sind immer auch mit externen, immateriellen „Sphären“ verbunden: mit moralischen Normen, Werten, Überzeugungen, Wünschen usw.20 Handelt ein Subjekt aus einem bestimmten oder mehreren Gründen, so verbindet sich der individuelle, mentale Zustand, in und aus dem heraus es dies tut, mit einer externen, außerhalb seiner selbst liegenden Welt der Symbole: mit herrschenden Meinungen, Gesetzen oder kulturellen Bedeu­ tungen von Gegenständen, Artefakten und Sachverhalten. Diese Sphäre der symbolischen Welt ist nicht-physischer Natur. Sie wird gedacht als Orien­ tierung für das Handeln des Subjekts.21 Gründe gelten nicht bloß deshalb als keine Ursachen, weil sie nicht mit der gleichen zwingenden Gesetzmä­ ßigkeit zu bestimmten Folgen führen. Gründe werden im Unterschied zu Ursachen als etwas kategorial Anderes angesehen.22 18  Pothast, 19  Ebd.

20  Merkel,

Einleitung 1988, S. 28.

Willensfreiheit 2008, S. 42. S. 41. 22  Ebd., S. 42. Allerdings vertritt Merkel die Auffassung, dass die Inhalte des objektiven Geistes oder Poppers dritter Welt, [vgl. Karl R. Popper: Objektive Er­ kenntnis – Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1993 (1972)] also Normen, Religi­ onen, Kulturwerte, Ideen, Theorien usw. ohne Weiteres reduktiv-physikalistisch er­ klärbar seien (Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 88, Fn. 137). 21  Ebd.,



II. Monistische Positionen137

II. Monistische Positionen Eine monistische Spielart stellt der Neutrale Monismus dar, in dem Geis­ tiges und Körperliches als zwei Erscheinungsformen einer dritten, beiden zugrundeliegenden Substanz interpretiert werden. In diesem ontologischen Modell wird der Dualismus der unterschiedlichen Erscheinungsweisen ge­ genüber einem fundamentaleren Monismus als nachrangig angesehen. Geis­ tiges und Körperliches sind dann nur zwei Erscheinungsweisen eines neu­ tralen Dritten, das weder geistig noch körperlich verfasst ist. Es ist uns dabei prinzipiell verwehrt, die Beschaffenheit dieses neutralen Dritten zu erkennen.23 Letztlich muss aber, mit Kant gesprochen, die Frage nach der Natur des Dings an sich offen bleiben. Der Neutrale Monismus geht zwar von der Existenz eines neutralen Dritten aus, kann aber über die Beschaffenheit dieser neutralen Substanz nichts aussagen. Insofern kann der Neutrale Mo­ nismus als eine Variante ontologischer Leib-Seele-Theorien betrachtet wer­ den, die zwangsläufig spekulativ bleiben muss.24 Habermas formuliert in seinen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der aktuellen Freiheitsdebatte die Frage, welchen Platz der Geist in der Natur einnehme. Interessanterweise gibt Kant an entlegener Stelle einen kryptischen Hinweis auf ein Aposteriori der „ursprünglichen Erwerbung“ apriorischer Anschauungsformen und Verstandesbegriffe, nach welchem auch das „Angeborene“ seinen Ursprung in der Empirie („der Zeit“) habe: „Die Kritik erlaubt schlechterdings keine anerschaffene oder angeborne Vorstellungen; alle insgesammt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an. Es giebt aber auch eine ursprüngliche Erwer­ bung (wie die Lehrer des Naturrechts sich ausdrücken), folglich auch dessen, was vorher gar noch nicht existirt, mithin keiner Sache vor dieser Handlung angehört hat. Dergleichen ist, wie die Kritik behauptet, erstlich die Form der Dinge im Raum und in der Zeit, zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen; denn keine von beiden nimmt unser Erkenntnißvermögen von den Objecten, als ihnen an sich selbst gegeben, her, sondern bringt sie aus sich selbst a priori zu Stande. Es muß aber doch ein Grund dazu im Subjecte sein, der es möglich macht, daß die gedachten Vorstellungen so und nicht anders entstehen 23  Schlicht, Dualismus 2007, S. 28  f. In der Schwierigkeit, das neutrale Dritte näher zu bestimmen, sieht Schlicht das Hauptproblem dieser Theorie. Im Prinzip sei dieses Modell mit all jenen Schwierigkeiten behaftet, denen sich jede ontologische Erklärung des Zusammenhangs von Geist und Körper ausgesetzt sähe: Wenn die dritte Substanz tatsächlich neutral, also vorbewusst sein sollte, müsste erklärt wer­ den, wie aus dieser unbewussten Entität Bewusstsein hervorgehen kann. Damit aber werde, so Schlicht, das Problem des fraglichen Zusammenhangs von Geist und Körper nur verschoben (ebd., S. 235). 24  Schlicht, Dualismus 2007, S. 238.

138 D. Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems und noch dazu auf Objecte, die noch nicht gegeben sind, bezogen werden können, und dieser Grund wenigstens ist angeboren.“25

Mit Verweis auf diese Ausführungen leitet Habermas die Forderung ab, zukünftig Kant mit Darwin „zu versöhnen“. Dieser Versuch einer naturge­ schichtlichen Detranszendentalisierung müsse von der Annahme ausgehen, dass die kognitiven Strukturen ihrerseits aus einem evolutionären Anpas­ sungsprozess hervorgegangen und nicht vom „transzendentalen Himmel“ gefallen seien. Denn die Möglichkeit „objektiver“ Naturerkenntnis sei nur dann gegeben, wenn die organisch-biologischen Ermöglichungsbedingungen von Erkennt­ nis selber als Ergebnis kognitiv relevanter Auslese- und Anpassungsprozes­ se begriffen würden.26 Damit vertritt Habermas in seinen jüngeren Texten einen ontologischen Naturalismus. Die Kontinuität einer übergreifenden Naturgeschichte begründe die Einheit eines Universums, dem der Mensch als Naturwesen angehöre.27

III. Determinismus In der Natur, in der Gesellschaft oder etwa bei psychischen Vorgängen von Personen beobachten wir, dass auf Ereignisse und Umstände eines be­ stimmten Typs andere Ereignisse und Umstände bestimmten Typs folgen. Diese Aufeinanderfolge kann man mit der Regel ausdrücken: Wenn ein Ereignis des ersten Typs vorliegt, tritt ein Ereignis des zweiten Typs ein. Die klassische Definition des Determinismus besagt, dass durch den ge­ genwärtigen Zustand der Welt ihr Zustand für alle vergangenen und alle zukünftigen Zeitpunkte eindeutig festgelegt ist. Alles, was geschieht, geht aus vorausliegenden Bedingungen mit Notwendigkeit hervor.28 Der univer­ sale Determinismus setzt voraus, dass alle Veränderungen der physischen Welt vollständig durch Naturgesetze bestimmt werden, sodass der Weltver­ lauf nur genau in dieser Weise sich bilden kann29 und sich exakt berechnen ließe, wenn alle Gesetze bekannt wären.30 Die Naturwissenschaften sind für ihre Forschungen gezwungen, von diesem deterministischen Axiom auszu­ gehen.31 „In unserer Welt mit ihrer bestimmten Vergangenheit gibt es nur 25  Kant,

Entdeckung 1968 (1912 / 23) (1790), S. 221 f. Sprachspiel 2008, S. 28. 27  Ebd., S. 29. 28  Merkel, Handlungsfreiheit 2006, S. 146. 29  Stuckenberg, Willensfreiheit 2009, S. 4. 30  Pothast, Einleitung 1988, S. 8. 31  Stuckenberg, Willensfreiheit 2009, S. 4. Diese Feststellung muss allerdings nicht zwingend mit der Annahme eines metaphysischen Universaldeterminismus 26  Habermas,



IV. These der Determination menschlichen Denkens und Handelns139

eine einzige mögliche Zukunft. In einer deterministischen Welt gibt es deshalb keine offene Zukunft.“32 Es stellt sich die Frage, ob sich die von den Wissenschaften entdeckten „Gesetze“ aus der Natur der Dinge selbst ergeben oder nicht. Beschreiben die wissenschaftlichen Gesetze Naturgeset­ ze, welche die physische Wirklichkeit „enthüllen“ oder handelt es sich um Konstruktionen des menschlichen Geistes?33 Eine Auffassung unterstützt die erste These, dass „Kausalität“ und „Naturgesetz“ natürliche Phänomene sind, die von den Naturwissenschaften „realitätsgetreu“ beschrieben werden können. Die Gegenüberlegung betont stattdessen, dass es sich um philoso­ phische Grundbegriffe handelt, für welche über den Weg der Induktion al­ lenfalls Evidenzen gesammelt, die jedoch empirisch nicht definitiv „geklärt“ werden können. Darüber, was „Kausalität“ oder ein „Naturgesetz“ ist, kann keine Naturwissenschaft Auskunft geben.34 Zudem ist die Theoriebildung in diesen Bereichen keineswegs abgeschlossen: „Die kausale Modellierung von Naturvorgängen nach physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten ist uneinheitlich und lückenhaft; und dies überträgt sich auf die Neurobiologie und -physiologie. Wer in der philosophischen Debatte um das Mind-body-Problem etwas von der These abhängig macht, der Bereich des Physischen oder Physikalischen sei geschlossen, sollte das bedenken. Von einer kausalen Geschlossenheit naturwissenschaftlicher Erklärungen jedenfalls kann derzeit keine Rede sein. Schlimmer noch: Was in dieser Aussage eigentlich der Terminus kausal bedeuten soll, ist schon angesichts der heutigen physikali­ schen Theorien uneinheitlich und unklar.“35

IV. Die These der Determination menschlichen Denkens und Handelns „Der ganze Strudel strebt nach oben; Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben.“ Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, V. 4116 f.

Wenn alles, was geschieht, aus vorausliegenden Bedingungen notwendig hervorgeht, muss dies auch für Personen gelten. Der Standpunkt des Deter­ minismus mit Blick auf menschliches Handelns besagt, dass dieses zum Zeitpunkt der Handlung kausal vollständig determiniert und als solches verbunden sein, sondern kann auch mit dem Methodischen Determinismus einherge­ hen – dann in Gestalt einer „bloß“ regulativen Idee (Seidengart, Determinismus / In­ determinismus 1999, S. 235). 32  Grundmann, Determinismus 2001, S. 2. 33  Seidengart, Determinismus / Indeterminismus 1999, S. 235. 34  Merkel, Handlungsfreiheit 2006, S. 145. 35  Falkenburg, Grenzen 2006, S. 53.

140 D. Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems

prinzipiell auch (wissenschaftlich) erklärbar ist.36 Nach dieser Auffassung gibt es zu jeder Handlung eine bestimmte Menge vorausliegender Umstän­ de, aus denen die Handlung mit Notwendigkeit folgt. Sind diese Umstände einmal eingetreten, dann läuft die Handlung genauso automatisch ab wie jedes andere Ereignis in der Welt auch. Während das handelnde Subjekt selbst davon ausgeht, auch anders handeln zu können, weist der Determinist darauf hin, dass unter gegebenen Bedingungen nichts anders ablaufen kann, als es tatsächlich der Fall ist, demnach auch nicht die in Frage stehende Handlung der Person. Als Bedingungen könnte der Determinist den psychi­ schen Zustand der Person, deren körperlichen Zustand und den situativen Kontext ihres Handelns nennen. Alle Zustände dieser Bereiche können wieder auf frühere Zustände zurückgeführt werden. Damit wäre das Han­ deln einer Person durch eine Reihe von Umständen determiniert, die bis weit vor die Geburt der betreffenden Person hinausreicht.37 Allerdings gilt gerade für menschliche Handlungen, dass diese oft nicht nomologisch (gesetzmäßig), sondern lediglich statistisch erklärt werden können. Ein „gemäßigter“ Determinist könnte den Determinismus lediglich als Forschungsprogramm verstehen, dass man menschliche Handlungen deterministisch (nomologisch) oder statistisch (durch Wahrscheinlichkeitsre­ lationen) bestimmen können sollte. Dann könnte auch ein vollständiger und ein partieller Determinismus unterschieden werden, sofern man Determina­ tion lediglich als wissenschaftliche Erklärungsstrategie auffasst. Eine voll­ ständige Erklärung von menschlichen Handlungen wäre deterministisch im nomologischen Sinne, die partielle Erklärung hingegen eine, die lediglich statistisch verfährt.38 Der geläufigen Auffassung gemäß ist eine Person dann für ihre Handlung verantwortlich, wenn die Person auch anders hätte han­ deln können. Dagegen erscheint es uns unplausibel, jemanden für seine Handlungen verantwortlich zu machen, der nicht anders handeln konnte, als er es tat. Hat aber der Determinist mit seiner allgemeinen Behauptung recht, dass überhaupt nichts anders sein kann, als es tatsächlich ist, so ist auch niemand für seine Handlungen verantwortlich.39 Menschliches Handeln kann durch alle möglichen Determinanten be­ stimmt sein; durch soziale, physische, psychische und andere Faktoren.40 Es 36  Wetzel,

Philosophie 1993, S. 138. Einleitung 1988, S. 10. 38  Ders., Unzulänglichkeit 1980, S. 43. 39  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 96; Pothast, Einleitung 1988, S. 10. 40  Das Gegensatzpaar Determinismus–Indeterminismus ist insofern nicht unpro­ blematisch, als es impliziert, Indeterminismus sei mit Willensfreiheit gleichzusetzen. Denn mit Willensfreiheit ist nicht die vollständige Abwesenheit von Determination gemeint, sondern vielmehr eine bestimmte Erscheinungsform der Determination, mit der wir dazu in der Lage sind, unser Handeln bewusst zu steuern und vielleicht 37  Pothast,



IV. These der Determination menschlichen Denkens und Handelns141

ist wichtig klarzustellen, dass die allgemeine philosophische These des Determinismus noch keine Aussage darüber enthält, durch welche konkreten Determinanten das Verhalten einer Person bestimmt wird:41 „[…], daß es die Gesamtheit der Lebensgeschichte eines Subjekts ist, die zu die­ ser seiner Persönlichkeitsstruktur mit den und den Handlungsdeterminanten ge­ führt hat; und dabei ist es von sekundärer Bedeutung, ob man nun mehr aufs Konto der ‚Anlage‘ oder aber der ‚Umwelt‘ setzt, ob man die Persönlichkeits­ struktur mehr nach Art der Konditionierungstheoretiker oder der Biologischen Verhaltensforscher erklären will, oder ob man stattdessen ganz einer strukturellfunktionalen Gesellschaftstheorie oder gar der Psychoanalyse vertraut […].“42

Abhängig vom wissenschaftlichen Zugriff werden unterschiedliche diszi­ plinäre „Spielarten“ des Determinismus differenziert, die oftmals den Schwerpunkt ihrer Betrachtungen auf einen der genannten Faktoren zur Erklärung menschlichen Verhaltens legen. In der Philosophie häufig disku­ tierte Varianten sind der psychologische und der physiologische Determinis­ mus. Der psychologische Determinismus geht davon aus, dass menschliche Handlungen durch vorausgehende psychische Zustände nach psychologi­ schen Gesetzen determiniert sind, wobei es von nachrangiger Bedeutung ist, ob diese psychischen Prozesse bewusst oder unbewusst ablaufen. Der psy­ chologische Determinismus muss zeigen, wie Wünsche, Motive und Gründe als determinierende Faktoren handlungswirksam werden bzw. Handlungen verursachen können. Dem physiologischen Determinismus gemäß sind alle menschlichen Handlungen durch vorausgehende physische Umstände nach physikalischen Gesetzen determiniert. Mentale Bewusstseinszustände sind dem physiologi­ schen Determinismus zufolge irrelevant für die Entstehung von Handlungen. Sie stellen bestenfalls folgenlose Korrelate der eigentlich bestimmenden physiologischen Vorgänge dar (Epiphänomenalismus).43 Der derzeit besonders intensiv diskutierte neurowissenschaftliche Deter­ minismus ist eigentlich nur eine spezielle Erscheinungsform des physiologi­ schen Determinismus. Wenn Hirnforscher die Willensfreiheit ablehnen, sogar in unsere Willensbildung einzugreifen und so eine bewusste „Selbstdetermina­ tion“ vorzunehmen (Mohr, Freiheit 2008, S. 78). 41  Dieser Hinweis ist nötig, da der in unseren Tagen vornehmlich diskutierte neurowissenschaftliche Determinismus oft fälschlicherweise mit dem Determinismus überhaupt gleichgesetzt wird. Darüber hinaus gibt es aber eine Vielzahl weiterer wissenschaftlicher Determinismen wie den Sozialdeterminismus, den psychologi­ schen Determinismus, den Physikalismus usw. 42  Wetzel, Philosophie 1993, S. 143. 43  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 41.

142 D. Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems

meinen sie, dass unser Verhalten auf der Willensebene nicht durch das Er­ gebnis eines bewussten Abwägungsprozesses verursacht wird, sondern sich vollständig auf Ursachen zurückführen lässt, die auf der subpersonalen Ebene durch Naturgesetze beschrieben werden können.44 Auch der gesamte bewusste Deliberationsprozess, den ein Handelnder vollzog, in dessen Verlauf er seine Entscheidung überdacht, Alternativen geprüft, Konsequenzen abgewogen und schließlich aus womöglich guten Gründen einen Entschluss gefasst hat, wird vom Standpunkt des neurowis­ senschaftlichen Determinismus aus als durchgehend neuronal beherrscht angesehen:45 „Ein genauerer Blick zeigt den prinzipiellen Grund: eine Art Hase-und-Igel-Ver­ hältnis zwischen dem Willen und seiner neuronalen Basis. Welche gedankliche Position mittels welcher begrifflichen Finessen man für den mentalen Hasen des Wollens oder Entscheidens auch reklamieren möchte, um dessen Freiheit zu be­ haupten – der Igel des Neurophysiologischen ist immer schon da. Denn ohne ihn, ohne es, ist überhaupt nichts Mentales vorstellbar, ein Wille sowenig wie irgend ein sonstiger Vorgang des Bewusstseins. Daher scheint es unumgänglich, sich bei der Begründung von Freiheit genau damit zu arrangieren.“46

Im berühmten „Manifest“ führender Neurowissenschaftler aus dem Jahre 200447 wird die Auffassung vertreten, dass auch alle subjektiv als vorgän­ gig empfundenen mentalen Operationen und Zustände nicht nur über Ge­ hirnvorgänge „realisiert“ sind (was von niemandem bestritten wird), sondern von neuronalen Zuständen kausal vollständig bestimmt werden. Unter dieser Prämisse wird im Strafprozess der schuldausschließende Sonderfall, der bislang nur ausnahmsweise Berücksichtigung findet, zum Normalfall:48 „In jedem Fall ist es bei diesem Handlungskonzept nicht mehr notwendig – wie dies in der Jurisprudenz vielfach noch geschieht – anzunehmen, […] dass Men­ schen bei gleichen neurobiologischen Gesetzen und identischen neuronalen An­ fangsbedingungen auch anders hätten handeln können. Weder gibt es eine ontolo­ gisch autonome mentale Verursachung von Handlungen, noch gilt das Prinzip des Alternativismus (nach dem eine Person in derselben Situation auch anders hätte handeln können), weil beide mit der gesetzesartigen (deterministischen) Verfas­ sung der Natur im Widerspruch stehen.“49

44  Mohr,

Freiheit 2008, S. 77. Willensfreiheit 2008, S. 96. 46  Ebd., S. 79. 47  Vgl. Wolf Singer u. a.: Das Manifest – Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, in: Geist und Gehirn, hrsg. von Rein­ hard Breuer, Jg. 2004, Heft 6, Heidelberg 2004, S. 30–37. 48  Habermas, Sprachspiel 2008, S. 18 f. 49  Kanitscheider, Willens- und Handlungsfreiheit 2006, S. 126. 45  Merkel,



V. Freiheitstheorien143

Wenn auch Handlungsmotive und Deliberationsprozesse aus dem naturge­ setzlich determinierten Zusammenwirken neuronaler Vorgänge vollständig erklärt werden können, muss über Willensfreiheit neu nachgedacht werden. Denn dann wird die für Freiheit notwendige Unterstellung, dass wir auch anders entscheiden und handeln können, fraglich. Selbst die Bezugnahme auf „uns“ als „autonome Autoren“ verliert in der Perspektive neurologischer Beschreibungen ihren Sinn, da hier nur subpersonale Strukturen in den Blick genommen werden.50 Die Differenzierung zwischen Urheber- und Ereignis-Kausalität offenbart einen Ursprung unseres Unbehagens, wenn wir darüber nachdenken, ob der Determinismus zutreffen könnte. Während wir mit einer (personalen) Urheber-Kausalität überhaupt kein Problem haben, beunruhigt uns doch die Vorstellung der Ereignis-Kausalität. Denn die Sichtweise auf eine Handlung als eines Ereignisses lässt keinen Raum für jemanden (einen Urheber), der die Handlung selbst verursacht.51 Damit aber entfällt auch die Rechtfertigung für alle anderen sozialen Reaktionen, die sich auf die Verantwortlichkeit des Handelnden beziehen: Lob, Tadel, Belohnung und Appell ergeben dann keinen Sinn mehr.52 Ulrich Pothast bedient sich des Bildes eines beschädigten Bootes. Das Boot verdiene des­ halb keine Fußtritte und keinen Tadel, da es kein Adressat eines persönli­ chen Vorwurfs sei. Eher sei man geneigt, es in die Reparatur zu geben.53 Die den Metaphysischen Determinismus begründenden Prinzipien Notwendigkeit, durchgängige Kausalität und Alternativlosigkeit vertragen sich nur schwer mit dem Selbstverständnis des Menschen als eines freien We­ sens, das über Entscheidungs- und Handlungsalternativen verfügt und dem aufgrund seiner Freiheit Verantwortung zugerechnet wird.54 Die Herausforderung für den Deterministen besteht darin, nicht nur nega­ tiv zu kritisieren, sondern auch positiv aufzuzeigen, wie Verantwortlichkeit ersetzt werden kann und welches System an die Stelle der bestehenden Formen sozialer Reaktionen treten soll.55

V. Freiheitstheorien Personen schreiben sich selbst als Autoren ihrer Entscheidungen und Handlungen Freiheit zu. Kann eine Person ihre eigene Willensbildung durch 50  Habermas,

Sprachspiel 2008, S. 18 f. Grenzen 1991, S. 102 f. 52  Pothast, Einleitung 1988, S. 10. 53  Ebd., S. 12. 54  Wildfeuer, Determinismus 1998, S. 472. 55  Pothast, Einleitung 1988, S. 12. 51  Nagel,

144 D. Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems

Reflexion selbst steuern und unterliegt in ihrem Handeln weder inneren Zwängen noch äußeren Beschränkungen, sieht sie sich selbst als autonom und frei an: Sie selbst ist es, die ihre Entscheidungen bewusst trifft und in Taten umsetzt.56 Der Freiheitstheoretiker hat kein Problem mit dem System sozialer Forderungen und Reaktionen, wie es bisher besteht. Allerdings steht er vor der Herausforderung, das kontinuierlich zunehmende empirische Wissen über menschliche Handlungen, aus dem sich heute unter Umständen bereits ein bestimmtes Verhalten prognostizieren lässt, auf eine Weise zu deuten, dass es nicht mit seinem Freiheitspostulat kollidiert.57 Der Frei­ heitstheoretiker muss das traditionelle System von Zurechnung und Verant­ wortlichkeit immer dann aufs Neue legitimieren, wenn es gelingt, mensch­ liches Verhalten schlüssig aus vorausliegenden Ursachen abzuleiten.58 Die Annahme eines indeterminierten, „spontanen“ Auftretens von Ent­ scheidungen oder Handlungen, völlig unabhängig von determinierenden Zusammenhängen, sieht sich aber immer auch dem Vorwurf der Unwissen­ schaftlichkeit ausgesetzt. Denn wenn sich keine vorausliegenden Umstände oder Ereignisse angeben lassen, aus denen sich die Handlung ableiten könn­ te, so folgt daraus noch nicht, dass es hierzu keine Ursachen gibt, sondern könnte auch darauf verweisen, dass es die gegenwärtigen Untersuchungsme­ thoden noch nicht zulassen, eine adäquate wissenschaftliche Erklärung hierfür anzubieten. Eine plausible Freiheitstheorie müsste zweierlei zeigen können: Erstens wäre es notwendig, denjenigen Punkt zu markieren, an dem Ge­ danken, Entscheidungen oder Handlungen entstehen können, ohne durch vorausliegende Ursachen determiniert zu sein: „Ferner stellt sich das besonders unangenehme Problem der Verursachung, für das wir ebenfalls keine denkbaren Lösungen wissen. Wenn es diese immaterielle geis­ tige Entität gibt, die von uns Besitz ergreift und uns Freiheit und Würde verleiht, wie sollte diese dann mit den materiellen Prozessen in unserem Gehirn in Wech­ selwirkung treten. Denn beeinflussen muss sie die neuronalen Prozesse, damit das, was der Geist denkt, plant und entscheidet, auch ausgeführt wird. Wechselwirkun­ gen mit Materiellem erfordern den Austausch von Energie. Wenn also das Imma­ terielle Energie aufbringen muss, um neuronale Vorgänge zu beeinflussen, dann muss es über Energie verfügen. Besitzt es aber Energie, dann kann es nicht im­ materiell sein und muss den Naturgesetzen unterworfen sein.“59

Zweitens müsste jene „Instanz“ konkret benannt werden können, die dazu in der Lage ist, bestimmte determinierende Umstände zugunsten einer „ei­ 56  Pothast,

Einleitung 1988, S. 9. S. 11. 58  Ebd., S. 14. 59  Singer, Selbsterfahrung 2004, S. 239 f. 57  Ebd.,



V. Freiheitstheorien145

genen“ mentalen Verursachung zu suspendieren. Diese Instanz stellt in den Freiheitstheorien normalerweise die Person selbst dar, oder wenigstens ein Teil von ihr, z. B. ihr Bewusstsein. Denn sonst wäre nicht zu sehen, wie der Person Verantwortung zugeschrieben werden könnte. Diese Schwierigkeit wird in Freiheitstheorien meistens durch die Annahme eines „Selbst“ gelöst, das Entscheidungen und Handlungen unabhängig von anderen determinie­ renden Kontexten oder auch trotz ihrer Existenz hervorbringt.60 1. Handlungsfreiheit Angesichts der Spannung zwischen Determination und Freiheit werden in der Philosophie vor allem zwei Lösungsansätze diskutiert: Entweder wird aufgrund des als unlösbar angesehenen Konfliktes die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit behauptet (Unvereinbarkeitsthese), oder die Spannung wird als bloß scheinbar eingeschätzt, sodass Freiheit und Not­ wendigkeit grundsätzlich als miteinander vereinbar gedacht werden (Vereinbarkeitsthese).61 Die Vereinbarkeitsthese lässt sich dahingehend charakterisieren, dass es einen schwächeren Sinn von Freiheit gibt, der mit deterministischen Erklä­ rungen kompatibel ist. Diese Freiheit reiche aber aus, um jemanden persön­ lich verantwortlich zu machen. Ein kompatibilistischer Vorschlag, der heute wieder oft aufgegriffen wird, beruht auf der Unterscheidung von Willens­ freiheit und Handlungsfreiheit. Gegen die Position der Handlungsfreiheit wird eingewandt, dass ihre Reichweite sehr begrenzt sei. Denn insofern es ihr für Freiheit lediglich auf die Übereinstimmung von Wille und Handlung ankommt, spielt es für sie keine Rolle, ob auch der Wille selbst frei ist und wäre deshalb auch mit einer Unfreiheit des Willens gut vereinbar: Man ist frei, zu tun, was man will, aber nicht frei, zu wollen, was man will.62 Den Vertretern der Handlungsfreiheit stellt sich die Frage nach der Gene­ se des einen oder anderen Willensinhalts nicht.63 Kant sprach das Konzept der Handlungsfreiheit deshalb auch abfällig als einen „elenden Behelf“ an und sah in ihr lediglich die „Freiheit eines Bratenwenders“, der, einmal aufgezogen, frei sei, sich ungehindert zu drehen.64 Im Kontext dieser Arbeit 60  Pothast,

Einleitung 1988, S. 14. Determinismus 1998, S. 472 f. 62  Stuckenberg, Willensfreiheit 2009, S. 3. 63  Seelmann, Grundannahmen 2006, S. 97. 64  Kant, KpV 2003 (1788), A 172, 174; Stuckenberg, Willensfreiheit 2009, S. 3. Dieser Kritik an der Theorie der Handlungsfreiheit wird mit dem Vorwurf der Sinn­ losigkeit ihrer Formulierung entgegnet, wonach die Frage nach der Freiheit der Willensbildung nicht sinnvoll gestellt werden könne. Hospers geht davon aus, dass 61  Wildfeuer,

146 D. Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems

muss die Position der kompatibilistischen Handlungsfreiheit nicht weiter verfolgt werden: „Am wenigsten hilfreich für die Klärung unserer Thematik ist die klassische Form des Kompatibilismus bei Hobbes oder Hume, die Freiheit deshalb mit Naturge­ setzlichkeit für vereinbar halten, weil sie unter Freiheit nur das Fehlen von Zwang verstehen. […] Da Verantwortlichkeit im rechtlichen Sinn aber gerade auch die Willensfreiheit angeht, führt die Kompatibilität der Freiheit von Zwang mit der Determiniertheit unseres Willens und unserer Handlungen für unser Problem nicht weiter.“65

2. Willensfreiheit • Frankfurts Stufentheorie Ein mittlerweile bereits wieder klassischer Ansatz der Gegenwartsphilo­ sophie von Harry Frankfurt betont die „innere Aneignung von Gründen“ als Bedingung für Willensfreiheit.66 Frankfurt schlägt Kriterien vor, aufgrund welcher Voraussetzungen ein Willensakt auch als eigener gelten kann. Dies ist nach Frankfurt dann gegeben, wenn ein primärer Willensimpuls in einem zweiten Akt der bewussten, inneren Aneignung als eigenes Wollen akzep­ tiert und damit ratifiziert wird. Frankfurt spricht von einer „Volition“ erster Stufe für den noch ungefilterten Impuls, der erst anschließend von einer „Volition“ zweiter Stufe in einem reflektierten inneren Akt der Aneignung beglaubigt wird. Stimmt der Wille mit den Volitionen zweiter Stufe überein, liegt für eine Person Willensfreiheit vor.67

die Aussage „Ich hätte X wollen können.“ so viel bedeutet wie: „Ich würde X ge­ wollt haben, wenn ich es gewollt hätte.“ Hospers fragt, warum man das Bedürfnis nach einer Freiheit haben sollte, zu wollen, was man nicht will. Dies ergibt für Hospers keinen Sinn. Der einzige bedeutungshaltige Kontext, der hier Sinn mache, sei derjenige der Handlung: „Hätte anders handeln können.“ ergäbe einen Sinn, „Hätte anders wollen können.“ dagegen nicht (Hospers, Reichweite 1988, S. 112). Dem wird mit Blick auf das anspruchsvollere Verständnis von Freiheit, welches die Freiheit auch der Willensbildung im Sinne eines „Hätte anders wollen können.“ meint, entgegengehalten, dass eine Handlungsentscheidung, die aus Charakterdispo­ sitionen und der Persönlichkeit des Handelnden hervorgeht, keineswegs frei ist. Die Person wird dann vielmehr das tun, wozu sie durch ihre Persönlichkeitsstrukturen getrieben wird (Pothast, Einleitung 1988, S. 16). 65  Seelmann, Grundannahmen 2006, S. 97. 66  Christen, Naturalisierung 2006, S. 142; Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 102 f. 67  Frankfurt, Willensfreiheit 2001, S. 77.



V. Freiheitstheorien147

Ein solcher Wille, der einen hierarchisch gestuften, ratifizierenden Pro­ zess der Aneignung durchlaufen hat, reicht nach Frankfurt zur Begründung von Verantwortlichkeit aus.68 In Frankfurts Position genügt gewissermaßen das subjekt-interne Zusam­ menspiel von Volitionen erster und zweiter Stufe, um die durch eine solche sekundäre Aneignung beglaubigten Willensentschlüsse als frei anzusehen und an sie die Zuschreibung von Verantwortlichkeit zu binden. Ob sowohl Volitionen erster wie zweiter Stufe ihrerseits, etwa durch neuronale Prozes­ se, determiniert sind, spielt für Frankfurts Theorie keine Rolle. Nach Frank­ furt ist willensfrei, wer auch auf einer zweiten Stufe wollen kann, was er auf der ersten Stufe will und wenn die höhere Volition zweiter Stufe ihrer­ seits den Willen bestimmt. Die Frage nach der Genese des Zustandekom­ mens auch der Volitionen zweiter Stufe wird dabei nicht gestellt. Diese Frage wäre aber entscheidend. Denn wenn auch die Beglaubigungsinstanz der Volitionen erster Stufe ebenfalls nicht anders denkbar sein sollte denn als Produkt neuronaler Vorgänge, würde hierdurch die legitimatorische Plau­ sibilität dieser Konstruktion für die Verantwortungszuschreibung erheblich beeinträchtigt.69 Warum sollte jemand verantwortlich sein, wenn neuronal determinierte Volitionen erster Stufe von neuronal determinierten Volitionen zweiter Stufe beglaubigt werden?70 Frankfurts Ansatz blendet also die entscheidende Frage aus, ob die Volitionen beider Stufen determiniert zustande kommen oder nicht.71 • Praktische Reflexivität Andere Konzepte, die in der Tradition der praktischen Philosophie Imma­ nuel Kants stehen, knüpfen die Möglichkeit von Freiheit an die Existenz eines abstrakten „Raums der Gründe“.72 Höffe stellt fest, allein schon von ihrem Thema her, der Raum-Zeit-Architektur des Gehirns, befasse sich die Hirnforschung nicht mit dem für die Willensfreiheit entscheidenden Gegen­ stand: den praktischen Gründen. Wer aus natürlichen Gegebenheiten auf die Nichtexistenz der Freiheit schließe, erliege einem naturalistischen Fehl­ schluss. „Der Wille“ sei nicht deshalb frei, weil er die Naturkausalität außer Kraft setze. Höffe zufolge ist der Wille vielmehr frei, sofern er trotz Natur­ kausalität erstens über die „Fähigkeit“ verfüge, nach angeeigneten und an­ erkannten Gründen, also in praktischer Reflexivität statt bloß nach äußeren 68  Merkel,

Willensfreiheit 2008, S. 102 f. Handlungsfreiheit 2006, S. 186. 70  Ebd., S. 187. 71  Ders., Willensfreiheit 2008, S. 102 f. 72  Christen, Naturalisierung 2006, S. 142. 69  Ders.,

148 D. Die Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Problems

oder inneren Zwängen zu handeln (bescheidene Willensfreiheit), und sofern er zweitens diese Fähigkeit auf moralische Gründe auszuweiten vermöge (volle Willensfreiheit).73 Die Moral stelle eine Aufforderung dar, sich seine Bedürfnisse und gesellschaftlichen Abhängigkeiten einzugestehen, sie aber nicht als letzten Bestimmungsgrund zuzulassen. Autonomie in diesem Sinne bedeute mehr als ein bloßes Bedürfnis- und Gesellschaftswesen zu sein. Die Willensfreiheit bestehe in einer qualifizierten Bindung, einem „Selbergeben“ der Gesetze, aus denen das Wollen letztlich folge [ein im moralisch relevan­ ten Sinne autonomer Wille (Kant)].74 Die von Höffe favorisierte Annahme einer kantischen „Kausalität aus Freiheit“ gehe nicht davon aus, eine Person könne unter identischen inneren und äußeren Bedingungen auch anders handeln. Verantwortliche Urheberschaft entstünde vielmehr aus der Bindung des Willens an Gründe und die moralische Urheberschaft aus der Bindung an eine besonders ausgezeichnete Art von Gründen. Schlügen sich diese Gründe in Charaktergrundsätzen des Betreffenden nieder, könnte er keines­ wegs anders handeln, sondern sei im Gegenteil vorhersehbar. Da für Höffe die (auch für das Recht entscheidende) Fähigkeit des Andershandelnkönnens jedoch kein Kriterium für Freiheit bildet, folgt für ihn aus der Vorherseh­ barkeit von Handlungen auch keine Unfreiheit.75 Hier gilt ebenso wie bei Frankfurts Ansatz Merkels Einwand, dass nichts gewonnen ist, wenn auch das „Selbergeben“ von Orientierungsregeln deter­ miniert ist. Auch vermag heute eine Willensfreiheitskonzeption, die inner­ halb eines hierarchischen Modells die höchste Freiheitsstufe von der Bin­ dung handlungsleitender Gründe an die Moral abhängig macht, nicht mehr recht zu überzeugen. Der Prozess der „Aneignung“ determinativer, dem Subjekt äußerer, fremder Bedingungen in angeeignete, praktisch-reflexive Gründe kann auch diese Konzeption nicht erhellen. In philosophischen Ansätzen zur Begründung von Willensfreiheit wird der Versuch unternommen, die personale Urheber-Kausalität in die durch­ gängige Ereignis-Kausalität „dazwischenzuschalten“ und damit die Hand­ lungen einer Person aus der Kausalkette der Ereignisse herauszulösen. Auf diese Weise kann bestritten werden, die eigenen Handlungen seien durch vorangehende Determinanten verursacht worden. An die Stelle der vorher­ gehenden, verursachenden Ereignisse wird die handelnde Person selbst als Ursache eingesetzt, womit zugleich sichergestellt wird, dass die Handlungen nicht willkürlich geschehen.76

73  Höffe,

Lebenskunst 2007, S. 253 f. S. 226. 75  Ebd., S.  253 f. 76  Nagel, Grenzen 1991, S. 103. 74  Ebd.,



V. Freiheitstheorien149

Diese These kollidiert immer wieder mit der Gegenüberlegung, alle Er­ eignisse, Entscheidungen und Handlungen inbegriffen, seien durch voraus­ liegende Umstände festgelegt. Alle Versuche (unter Bezugnahme auf be­ wusst gewählte und vielleicht sogar besonders qualifizierte Gründe, Delibe­ rationen, Volitionen zweiter Ordnung), Willensfreiheit mit dem Determinis­ mus zu vereinbaren, scheitern an dem Problem, dass alle Entitäten, Merkmale oder Prozesse, die Willensfreiheit ermöglichen sollen, immer auch ihrerseits als determiniert gedacht werden können.77 Eine handelnde Person kann immer wieder im Hinblick auf Ereigniskausalität thematisiert werden, z. B. indem neuronale Prozesse im Gehirn des Betreffenden benannt werden, die ein bestimmtes Verhalten verursacht haben. Angesichts dieser Problematik sind erkenntnistheoretische Vorschläge auf der Basis der Diffe­ renzierung unterschiedlicher Erkenntnisperspektiven erfolgversprechend.78

77  Nagel, 78  Ebd.,

Grenzen 1991, S. 101. S. 103.

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem Der Mensch „ist sich jede Minute, durch seine Freiheit, der Kraft augenblicklichen Rück- und Aufflugs bewußt; hingegen das fremde Ich rollt mechanisch, wie ein Wecker […] vor ihm ab.“ Jean Paul, Bücherschau 1827, S. 106.

Erkenntnistheorie als kritische Philosophie sucht sich zunächst reflektie­ rend von dem zu distanzieren, was sinnlich unmittelbar präsentiert wird. Der Versuch, in reflektierter und damit erst ausgewiesener Weise Erkenntnis zu thematisieren, kennzeichnet im besonderen Maße die Philosophie Kants.1 Eine überzeugende „gemäßigt konstruktivistische“ Position müsste von einem metaphysischen Realismus durch folgende zwei Annahmen ab­ gegrenzt werden: Zum einen ist die Realität etwas, das von unserem Wissen abhängig ist (Welt für uns). Zum anderen gibt es nicht nur eine, sondern mehrere jeweils berechtigte Beschreibungen der Welt.2 Eine plausible Theorie zum Freiheitsproblem lässt sich nur unter Berücksichtigung er­ kenntnistheoretischer Reflexionen entwickeln: „Wer meint, das anstehende Problem ohne epistemische Überlegungen lösen zu können, der ignoriert den Stand des Wissens und geht in die Irre. Auf der Basis eines naiven Erkenntnisrealismus jedenfalls lässt sich das Determinismusproblem nicht behandeln.“3

I. Die Erkenntnistheorie Immanuel Kants 1. Das Programm der Erkenntniskritik Bereits Kant kann als früher „Konstruktivist“ angesehen werden, der die Begriffe „Freiheit“ und „Determination“ „erkenntnistheoretisch gebrochen“ als menschliche Konstrukte betrachtete und nicht objektivistisch deutete.4 1  Sturma,

Kant 1985, S. 18. Leib-Seele-Problem 1997, S. 114. 3  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 10. 4  Ebd., S. 225. Man muss allerdings darauf hinweisen, dass Transzendentalphiloso­ phie insofern „Metaphysik der Metaphysik“ ist, als sie selbst auf apriorische Weise die Bedingungen der Möglichkeit apriorischer Aussagen allein mit den Mitteln der Ver­ 2  Knoepffler,



I. Die Erkenntnistheorie Immanuel Kants151

Transzendentalphilosophie reflektiert über die Position des Subjekts ge­ genüber Objekten5 und nimmt den Betrachter, das Erkenntnissubjekt, als Voraussetzung für jegliche Konstitution des Objektiven in den Blick. Für unsere spezifische Erkenntnissituation ist es kennzeichnend, dass die Dinge unserer Subjektivität gemäß sein müssen, damit wir sie durch die syntheti­ sierende, einigende Leistung unseres Verstandes erkennen können.6 Wenn wir eine Verbindung zur Welt über das haben, was wir zufällig über die Sinne wahrnehmen, dann müssen alle allgemeinen Ansprüche aus uns selbst stammen. Und diese Ordnung, die wir unserer Weltdeutung zugrunde legen, muss unserer eigenen Leistung entspringen.7 Aufgrund dieser einheitsstif­ tenden Leistungen des Subjekts ist es nicht möglich, Menschen lediglich als bloße Naturwesen aufzufassen. Das Subjekt als Ursache wirklichkeitsschaf­ fender Leistungen kann nicht denselben Status haben wie das, was durch diese Leistungen erst entsteht. Wenn das menschliche Subjekt die Bedin­ gung dafür ist, überhaupt von Objekten und einer Welt zu sprechen, dann kann es selbst nicht nur einfaches Objekt unter allen anderen Objekten der Welt sein. In diesem Sinne ist das Subjekt tatsächlich, mit Wittgenstein gesprochen, die „Grenze der Welt“.8 Insoweit besteht die Aufgabe der Transzendentalphilosophie darin, die grundlegenden Strukturen subjektiver Erkenntnis aufzudecken und durch eine Theorie der Subjektivität zu erklären.9 Im Allgemeinen ist die Kritik der reinen Vernunft in Kants Verständnis eine Selbstkritik der Vernunft, eine Überprüfung des menschlichen Erkennt­ nisvermögens.10 Im Zentrum steht die Frage, was wir wissen können und wie weit unser Wissen reicht. Die Fragerichtung der Kritik der reinen Vernunft zielt dabei auf die Möglichkeit und die Voraussetzungen von Wissen überhaupt. Denn kennen wir die Bedingungen, unter denen unsere Auffas­ sungen als Wissen gelten können, können wir damit zugleich die Grenzen unseres Wissens angeben. Nur innerhalb dieser abgesteckten Grenzen ist dann Wissen im Sinne begründeter Auffassungen möglich.11 nunft untersucht, etwa der Metaphysik oder der Mathematik. Während konventionelle Metaphysik jedoch eine „direkte“ und nicht noch einmal explizit hinterfragte Erschei­ nungsform apriorischer Erkenntnis darstellt, beschäftigt sich Transzendentalphiloso­ phie mit den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis. 5  Kaulbach, Kant 1969, S. 117. 6  Ebd., S. 119. 7  Gerhardt, Wende 1987, S. 149. Diese Feststellung ist insofern relativ aufzufas­ sen, als sie nur für die vom Menschen erfahrbare Welt gilt (ebd., S. 149, Fn. 42). 8  Ebd., S. 150. 9  Kaulbach, Kant 1969, S. 118; Mohr / Willaschek, Einleitung 1998, S. 17. 10  Mohr / Willaschek, Einleitung 1998, S. 14 f. 11  Ebd., S. 6.

152

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

Nach Kant „verfügt“ die Vernunft selbst auch über alle „Mittel“, Quellen und Umfang der menschlichen Erkenntnis auszuloten.12 Vernunft bedeutet bei Kant Denken. „Reine Vernunft“ heißt, dass es sich bei ihr um ein Den­ ken noch vor aller Erfahrung (a priori) handelt, das sich deshalb nur solcher Begriffe bedienen kann und darf, die aus seiner eigenen (reinen) Quelle stammen.13 Deshalb enthält die Kritik der reinen Vernunft eine Theorie sowohl des empirischen als auch des nicht-empirischen Wissens. Sie be­ nennt die Grenze zwischen diesen beiden Wissensformen und macht ihre Unterschiede deutlich.14 Im Besonderen geht es Kant um die Frage nach der Möglichkeit nichtempirischen Wissens.15 In diesem Zusammenhang entwirft Kant mit der Kritik der reinen Vernunft gleichzeitig eine Theorie aller apriorischen Er­ kenntnisleistungen. Kants Theorie expliziert die Bedingungen, unter denen Erkenntnisse a priori möglich sind.16 Kant kommt zu dem Ergebnis, dass jedes Wissen nicht-empirische Bedingungen voraussetzt, die für unser Er­ fahrungswissen konstitutiv sind und durch die reflexive Methode, die Kant als transzendentale Kritik bezeichnet, expliziert werden können. In der Formulierung dieser nicht-empirischen Bedingungen von Erkenntnis sehen viele Autoren die große konstruktive Leistung der Kritik der reinen Vernunft. Da uns Kant aber auch die Grenzen unserer Erkenntnis aufzeigt, er­ geben sich außerdem „destruktive“ Konsequenzen: Kant zeigt, dass meta­ physische Theorien, die Gültigkeit auch jenseits der von ihm (Kant) aufge­ wiesenen Grenzen beanspruchen, zum Scheitern verurteilt sind. Da bis zu Kants „kopernikanischer Wende“ alle metaphysischen Entwürfe diese Grenzen überschritten, bedeutet die Kritik der reinen Vernunft nichts weni­ ger als das Ende der traditionellen Metaphysik.17 2. Verortung des Freiheitsthemas im Aufbau der Kritik der reinen Vernunft • Ästhetik Kant baut die Kritik der reinen Vernunft unserem Erkenntnisprozess ent­ sprechend hierarchisch auf. Er beginnt mit der Transzendentalen Ästhetik, in der die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit behandelt werden. Der 12  Mohr / Willaschek,

Einleitung 1998, S. 14 f. Kant 1969, S. 118. 14  Mohr / Willaschek, Einleitung 1998, S. 7. 15  Ebd., S. 6. 16  Kaulbach, Kant 1969, S. 116. 17  Mohr / Willaschek, Einleitung 1998, S. 7. 13  Kaulbach,



I. Die Erkenntnistheorie Immanuel Kants153

Begriff „Ästhetik“ hat hier nicht die Bedeutung einer Schönheitslehre oder einer Kunsttheorie. In der Ästhetik wird vielmehr der „Erkenntnisstamm“ der Sinnlichkeit analysiert.18 Dabei ist die sinnliche Anschauung bei Kant allerdings keines­ wegs eine „niedrigere“ Erscheinungsform oder eine unvollkommene Vorstu­ fe höherer Erkenntnis. Vielmehr ist sie neben dem Verstand der zweite gleichberechtigte „Stamm“ menschlicher Erkenntnis.19 Die sinnliche An­ schauung ist diejenige Erkenntnisart, durch die uns die Dinge mittels unse­ rer Sinne gegeben werden. Sie ist rezeptiv, im Unterschied zum „spontanen“ Verstand. Als empirische Subjekte sind wir andauernd dem Einfluss der uns umgebenden Körperwelt unterworfen und werden in der Sprache Kants von dieser ständig „affiziert“. Hierdurch ist uns empirische Anschauung mög­ lich, die allerdings nochmals weiter differenziert werden muss. Auf der einen Seite steht die Empfindung, die uns das „Material“ der empirischen Anschauung liefert: Empfindungsqualitäten wie Farbe, Härte, Kälte usw., auf der anderen Seite die Form. Bei der Form handelt es sich um die raumzeitlichen Verhältnisse, in de­ nen sich die Anschauung vollzieht. Haben wir rein formale Anschauung, ohne dass Empfindungsinhalte eine Rolle spielen, sind nur die Anschau­ ungsformen Raum und Zeit maßgeblich, wie etwa in der Logik und der Mathematik.20 • Analytik Die Transzendentale Analytik als erste Abteilung der Logik untersucht, ob der Verstand als Denkvermögen über nicht-empirische Begriffe verfügt und inwieweit es sich dabei um Voraussetzungen empirischen und nicht-empiri­ schen Wissens handelt.21 Die Werkzeuge des Verstandes sind der Begriff und das Urteil. Wie auch in der Anschauung unterscheidet Kant im Bereich des Verstandes als unseres zweiten „Erkenntnisstammes“ abermals zwischen empirischen und reinen Vorstellungen. Letzteren sind keine Empfindungen „beigemischt“. Der Verstand unterscheidet sich von der Anschauung durch seine Spontaneität. Hier werden wir nicht von Gegenständen affiziert. Leis­ tungen bringt der Verstand Kant zufolge unabhängig von der unmittelbaren Gegenwart gegenständlicher Einwirkungen der Anschauung zustande.22 18  Kaulbach,

Kant 1969, S. 127. S.  127 f. 20  Ebd., S. 128. 21  Mohr / Willaschek, Einleitung 1998, S. 21 f. 22  Kaulbach, Kant 1969, S. 133. 19  Ebd.,

154

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

„Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinnlich­ keit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“23

Kant wählt eine Mittelposition zwischen den bis dahin sich gegenüberste­ henden philosophischen „Lagern“ des Apriorismus und des Empirismus. So stimmt er der Feststellung des Apriorismus zwar zu, sinnliche Wahrnehmung sei keine hinreichende Basis für Wissen. Daraus folge aber keineswegs, dass Begriffe a priori allein und völlig unabhängig von Erfahrung Grundlage unserer Erkenntnis sein können. Ebenso stimmt Kant zwar der Feststellung des Empirismus zu, dass es Wissen von Gegenständen nur in der Erfahrung geben kann. Daraus folgt aber wiederum nicht, dass Begriffen a priori überhaupt keine Bedeutung für unser Erfahrungswissen zukommt.24 • Dialektik Die Transzendentale Dialektik als zweite Abteilung der Logik untersucht die Vernunft als „Vermögen“, Schlüsse zu ziehen. Hier lautet das Ergebnis, dass jeder Gebrauch der Vernunftschlüsse, der die Bedingungen empirischer Erfahrung übersteigt, zu trügerischem Scheinwissen führt.25 Kant kritisiert den Hang der menschlichen Vernunft zu Illusionsbildung und metaphysi­ scher Scheintheorie und zeigt den Mechanismus auf, der die Vernunft in die Irre führt.26 Als Begriffe der Vernunft fasst Kant die transzendentalen Ideen zu drei Hauptklassen zusammen, die der überlieferten Dreiheit der metaphysica specialis entsprechen: Die Psychologia rationalis, die Cosmologia rationalis und die Theologia rationalis. Die Psychologia rationalis27 hat die Idee der absoluten Einheit des den­ kenden Subjekts zum Gegenstand. Die Cosmologia rationalis beschäftigt sich mit der Idee der absoluten Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinungen. 23  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 75. Einleitung 1998, S. 9. 25  Ebd., S.  21 f. 26  Kaulbach, Kant 1969, S. 167. 27  Gegenstand der rationalen Psychologie ist weder die empirische Psychologie der inneren Anschauung als Selbsterkenntnis des Geistes, noch die Existenz des Geistes als kognitives Subjekt, sondern sind ausschließlich Aussagen zur Geistseele als ontologischem Subjekt, das als unabhängig vom Körper bzw. der sinnlichen Erfahrung gedacht wird (Natterer, Kommentar 2003, S. 479). 24  Mohr / Willaschek,



I. Die Erkenntnistheorie Immanuel Kants155

Und die Theologia rationalis fragt nach der Idee der absoluten Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt.28 Dementspre­ chend behandelt Kant in der Dialektik der reinen Vernunft 1. die Paralogis­ men der reinen Vernunft (Psychologie), 2. die Antithetik der reinen Vernunft (Kosmologie / Antinomienlehre) und 3. das Ideal der reinen Vernunft (Theo­ logie).29 Das Paralogismen-Kapitel ist im Prinzip eine vernichtende Kritik des Vorhabens einer rationalistischen Psychologie, die aus dem bloßen Bewusst­ sein seiner selbst, aus dem „Ich denke“, metaphysische Konsequenzen ab­ leiten möchte.30 So wird der cartesianische Substanzdualismus von Kant als ontologischer Dualismus bezeichnet31 und als dessen wesentlicher Fehler die Verwechslung der rein logischen Bestimmung des Begriffs Ich denke mit einer „realen“ Bestimmung des Ichs identifiziert. Das reine Ich denke erlaubt keine Erkenntnis seines ontologischen Status, da es ohne Rest in seiner erkenntnistheoretischen Funktion aufgeht.32 Kant kommt zu dem Ergebnis, dass die Frage, ob wir über eine unsterbliche Seele verfügen oder nicht, die Grenzen unserer Erkenntnis eindeutig überschreitet.33 Auch die inneren psychischen Zustände des Subjekts sind Erscheinungen. Daher kön­ nen wir uns unser eigenes Inneres nicht derart erschließen, wie es an sich ist, sondern nur so, wie es uns erscheint.34 In der Antithetik der reinen Vernunft beschreibt Kant vier Antinomien, in die sich die reine Vernunft verwickelt, wenn sie sich als ausschließlich theoretisches bzw. begriffliches Denken mit Fragen beschäftigt, die über ihre Reichweite hinausgehen. Es sind dies die Fragen nach der Entstehung der Welt (erste Antinomie), der Teilbarkeit der Materie (zweite Antinomie), der Determiniertheit der Welt (dritte Antinomie) und der Existenz Gottes (vierte Antinomie).

28  Kaulbach,

Kant 1969, S. 166. S.  166 f. 30  Mohr / Willaschek, Einleitung 1998, S. 25. 31  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), A 391. 32  Schlicht, Dualismus 2007, S. 284, Fn. 127. Kant hat nie eine eigenständige Theorie des Selbstbewusstseins entwickelt, weil es seiner Auffassung nach kein Phänomen war, das man isoliert vom einheitlichen Erfahrungsprozess vernunftbe­ gabter Subjekte betrachten kann. Der Sinn von Selbstbewusstsein erschließt sich nach Kant überhaupt erst in Verbindung mit einem philosophischen Verständnis des Erfahrungsprozesses. Eine Erklärung von Selbstbewusstsein kann daher von Kant nur im Zusammenhang mit einer integrativen Theorie der Erfahrung erwartet werden (Sturma, Kant 1985, S. 11). 33  Mohr / Willaschek, Einleitung 1998, S. 25. 34  Willaschek, Vernunft 1992, S. 141. 29  Ebd.,

156

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

Antinomisch ist nach Kant eine Aussage dann, wenn sich diese, aber auch ihr Gegenteil, mit den Mitteln der reinen Vernunft gleichermaßen beweisen lässt, hierdurch also die Gesetze der Vernunft miteinander in Widerspruch geraten.35

II. Kants Behandlung des Freiheitsthemas 1. Die „Freiheitsantinomie“ Die dritte Antinomie beginnt mit der kosmologischen Freiheit.36 Es geht um die Frage, ob es nur eine Art oder zwei Arten von Kausalität gibt. Die Thesis besteht in der Aussage, dass die Kausalität nach Naturgesetzen nicht die einzige ist. Die Antithesis besagt, dass alles in der Welt ausschließlich nach den Gesetzen der Natur geschieht, dass die Naturkausalität also doch die einzige ist. Dass es Naturgesetzlichkeit gibt, wird von Kant vorausge­ setzt. Dabei ist Gesetzmäßigkeit für Kant ganz allgemein das Wesensmerk­ mal von Kausalität. Strittig ist allein, ob neben den Naturgesetzen noch eine weitere Kausalität existiert, wie die Thesis behauptet oder nicht, wie die Antithesis besagt.37 Beide Welterklärungen lassen sich widerspruchsfrei beweisen, indem ihr jeweiliges Gegenteil ad absurdum geführt wird. Weil damit aber sowohl die These (Freiheit) als auch die Antithese (Determinis­ mus) widerspruchsfrei bewiesen werden können, entsteht auf einer höheren Ebene erneut ein Widerspruch, denn These und Antithese können nicht beide zugleich wahr sein.38 Da nach Kant die kosmologische Freiheit in ihrer Funktion als transzendentale Idee der Freiheit die Voraussetzung der praktischen Freiheit bildet,39 verknüpft er die kosmologische Frage der Kausalität mit dem Problem der Freiheit, das sich eigentlich erst in der praktischen Philosophie stellt.40 Um die intelligible Ursache einer Handlung erkennen zu können, müssten wir über eine intellektuelle Anschauung ver­ fügen, mittels derer wir ein Subjekt zugleich als Ding an sich zu identifi­ zieren vermögen. Nur mit einer solchen Anschauung könnten wir auch theoretisch, nicht nur praktisch, feststellen, ob und ggf. wie sich die Hand­ lung aus der Spontaneität des noumenalen Subjekts ergibt.41 Da wir jedoch keine intellektuelle Anschauung haben, können wir ein Subjekt auch nicht 35  Walter,

Neurophilosophie 1999, S. 21. Kritik 2004, S. 252. 37  Rohs, Unterscheidung 2002, S. 157. 38  Walter, Neurophilosophie 1999, S. 22. 39  Höffe, Kritik 2004, S. 252. 40  Kreimendahl, Antinomie 1998, S. 437. 41  Rohs, Gedanken 1986, S. 219. 36  Höffe,



II. Kants Behandlung des Freiheitsthemas157

als Ding an sich erkennen, sondern bleiben lediglich darauf verwiesen, den noumenalen Ursprung einer Handlung indirekt mittels des Moralgesetzes zu erschließen.42 Obwohl es also in der dritten Antinomie eigentlich um die rationale Kosmologie gehen soll, steht das moralphilosophische Freiheits­ problem sogar im Vordergrund der Ausführungen.43 Kants „Handlungstheo­ rie“ ist damit eingebettet in seine Kritik der alten Metaphysik und beruht auf der Philosophie des Transzendentalen Idealismus, in deren Zentrum die Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen steht.44 Die Willensfreiheit ist zwar kein kosmologischer Gegenstand, hat aber bei Kant eine kosmologische Voraussetzung.45 Wenn es keine vollständige Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnlichkeit gibt,46 lässt sich nach Kant auch die praktische Freiheit nicht mehr aufrecht erhal­ ten und es triumphiert der Determinismus.47 Aus dieser Annahme erklärt sich die von Kant vorgenommene Verknüpfung der kosmologischen Frei­ heitsproblematik mit der Freiheitsfrage in der praktischen Philosophie.48 2. Empirischer und intelligibler Charakter In seiner Auflösung der Freiheitsantinomie thematisiert Kant unter der Zwischenüberschrift „Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit, in Vereini­ gung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit“49 das Gegen­ satzpaar Freiheit und Naturnotwendigkeit im Hinblick auf den intelligiblen und den empirischen Charakter des Menschen. Damit bildet dieser Abschnitt den Übergang von der kosmologischen zur handlungstheoretischen Frei­ heitsproblematik. Hier wird nicht mehr nach dem Weltanfang gefragt, son­ dern nach einem ursprünglichen Anfang der einzelnen Handlung eines Menschen und dessen Vereinbarkeit mit dem Freiheitsgedanken.50 „Charak­ ter“ ist hier als „Kennzeichen“ oder „Unterscheidungsmerkmal“ zu verste­ hen.51

42  Rohs,

Gedanken 1986, S. 219 f. Antinomie 1998, S. 437. 44  Willaschek, Vernunft 1992, S. 21. 45  Höffe, Kritik 2004, S. 254. 46  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 831. 47  Höffe, Kritik 2004, S. 252. 48  Kreimendahl, Antinomie 1998, S. 437. 49  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 566–569. 50  Kawamura, Spontaneität 1996, S. 169. 51  Ebd., S. 170. 43  Kreimendahl,

158

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

• Empirischer Charakter Der Mensch ist in einer Hinsicht Gegenstand sinnlicher Anschauung und damit ein Teil der „Sinnenwelt“, in der er uns begegnet wie alle übrigen Objekte auch. Von diesen ist er grundsätzlich durch nichts zu unterschei­ den.52 Der empirische Charakter ist nach Kant eine Erscheinung, die durch und durch mit anderen Erscheinungen im Zusammenhang steht und den Naturgesetzen unterworfen ist.53 Der empirische Charakter eines Menschen findet seine Beschreibung im theoretischen Rahmen der Naturnotwendig­ keit. Sein Verhalten ist prinzipiell im Voraus berechenbar,54 weil eine Re­ gelhaftigkeit im Verhalten eines Menschen an dessen empirischen Charakter dem Gesetz der Kausalität gemäß erkannt werden kann.55 Handlungen werden so zum einen als ein Ereignis aufgefasst, das durch Naturkausalität zustande kommt:56 „[…] so sind alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem em­ pirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung ge­ ben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Be­ dingungen als notwendig erkennen könnten.“57

Der in seinen Anlagen her konstituierte und von seinen biographischen Umständen disponierte empirische Charakter des Menschen erscheint als unfrei. Das „physiologische Erforschen“ des empirischen Charakters richtet sich bei Kant auf alles, was nicht meta-physisch und den empirischen Hu­ manwissenschaften zugänglich ist. Hierunter fallen neben physiologischen Studien im engeren Sinne auch untersuchbare psychische, soziale usw. Determinanten des empirischen Charakters des Menschen.58 Der empirische Charakter steht nach Kant mit dem intelligiblen Charakter allerdings derart in Verbindung, dass der erstere die sinnliche Erscheinung des zweiten in Raum und Zeit ist. Der empirische Charakter ist als „Entfaltung“ des intelligiblen Charakters in der Zeit zu verstehen und steht als solcher gleichzeitig unter den Gesetzen der Naturkausalität. Deshalb ist es Kant zufolge auch legitim, von der Beschaffenheit des empirischen Charakters auf den intelligiblen zu schließen. Nach Kant stra­ 52  Kahlo,

Problem 1990, S. 291. KrV 1998 (1781 / 1787), B 567; Kawamura, Spontaneität 1996, S. 170. 54  Kaulbach, Kant 1969, S. 177. 55  Santel, Kompatibilismus 2001, S. 812. 56  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 204. 57  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 577 f. 58  Haddenbrock, Schuldfähigkeit 1992, S. 109. 53  Kant,



II. Kants Behandlung des Freiheitsthemas159

fen und belohnen wir den empirischen Charakter eines Menschen deshalb auch in der Überzeugung, dass er eine Erscheinungsform der Freiheit des intelligiblen Charakters ist.59 Dies ändert aber nichts daran, dass wir An­ haltspunkte für die Zurechnung allein im empirischen Charakter finden können: „[…] so nehme man eine willkürliche Handlung, z. E. eine boshafte Lüge, durch die ein Mensch eine gewisse Verwirrung in die Gesellschaft gebracht hat, und die man zuerst ihren Bewegursachen nach, woraus sie entstanden, untersucht, und darauf beurteilt, wie sie samt ihren Folgen ihm zugerechnet werden könne. In der ersten Absicht geht man seinen empirischen Charakter bis zu den Quellen dessel­ ben durch, die man in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Teil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells, aufsucht, zum Teil auf den Leichtsinn und Unbesonnenheit schiebt; wobei man denn die veranlassenden Gelegenheitsursachen nicht aus der Acht läßt. In allem diesem verfährt man, wie überhaupt in Untersuchung der Reihe bestimmender Ursachen zu einer gegebenen Naturwirkung.“60

• Intelligibler Charakter Kant definiert „intelligibel“ in B 566 zunächst negativ als dasjenige an einem sinnlichen Gegenstand, was selbst nicht Erscheinung ist.61 Auch ein beobachteter Vorgang muss nach Kants Lehre so verstanden werden, dass sich in ihm eine besondere, spezifisch menschliche Kausalität aus Freiheit manifestiert. Andernfalls wäre etwa eine Straftat als nicht-gewollter Vor­ gang dem Handelnden nicht zurechenbar.62 Der intelligible Charakter ist das transzendentale bzw. noumenale Subjekt (causa noumenon).63 Das Noumenon bezeichnet einen Bereich, der vom phänomenalen unterschie­ den wird und die nicht erkennbaren Gründe der Phänomene umfasst.64 Eventuell existierende objektiv-reale Noumena sind uns prinzipiell nicht zugänglich aufgrund unserer ausschließlich subjektiven Anschauungsfor­ men sowie wegen des Fehlens der Fähigkeit zu intellektueller Anschauung. Wir können immer nur Dinge in der Erscheinung erkennen.65 Von Nou­ mena kann dagegen ein ausschließlich negativer Gebrauch gemacht wer­ den; man kann sie nicht positiv bestimmen, sondern immer nur sagen, was sie nicht sind. Das Noumenon ist bei Kant deshalb auch ein reiner 59  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 579, Fn. 1; Beck, Kritik 1995, S. 181. KrV 1998 (1781 / 1787), B 582 f. 61  Kawamura, Spontaneität 1996, S. 169. 62  Kahlo, Problem 1990, S. 293. 63  Beck, Kritik 1995, S. 181. 64  Kaulbach, Kant 1969, S. 162. 65  Beck, Kritik 1995, S. 181; Natterer, Kommentar 2003, S. 524, 531. 60  Kant,

160

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

Grenzbegriff,66 der lediglich gedacht werden kann,67 niemals jedoch unse­ rer Anschauung zugänglich ist.68 Insofern der intelligible Charakter unter keinen Bedingungen der Sinn­ lichkeit steht,69 damit weder zeitlich noch räumlich ist,70 kann er auch nicht entstehen und vergehen,71 ist unabhängig von einem „vorherigen bestim­ menden Grund“72 und wird von Kant als immer schon existierend73 sowie als „freie“ und unveränderliche „Substanz“ gedacht.74 Zwar kann der empi­ rische Charakter als sinnliches Zeichen des intelligiblen Charakters interpre­ tiert werden,75 doch ist uns die Verifizierung des letzteren tatsächlich nicht möglich. Menschliches Handeln muss deshalb auch vollständig mit Rekurs auf den empirischen Charakter des Menschen durch Ursachen erklärt wer­ den können:76 „Denn wenn wir nur in dem, was unter den Erscheinungen die Ursache sein mag, der Naturregel folgen: so können wir darüber unbekümmert sein, was in dem transzendentalen Subjekt, welches uns empirisch unbekannt ist, für ein Grund von diesen Erscheinungen und deren Zusammenhange gedacht werde. Dieser intelligi­ bele Grund ficht gar nicht die empirischen Fragen an, sondern betrifft etwa bloß das Denken im reinen Verstande, und, obgleich die Wirkungen dieses Denkens und Handelns des reinen Verstandes in den Erscheinungen angetroffen werden, so müssen diese doch nichts desto minder aus ihrer Ursache in der Erscheinung nach Naturgesetzen vollkommen erklärt werden können, indem man den bloß empiri­ schen Charakter derselben, als den obersten Erklärungsgrund, befolgt, und den intelligibelen Charakter, der die transzendentale Ursache von jenem ist, gänzlich als unbekannt vorbeigeht, außer so fern er nur durch den empirischen als das sinnliche Zeichen desselben angegeben wird.“77

So, wie jeder Mensch in seinem empirischen Charakter hinsichtlich des Temperaments, der natürlichen Anlagen usw. von anderen Menschen ver­ schieden ist, unterscheidet er sich auch in seinem intelligiblen Charakter von allen anderen.78 Denn obwohl wir nach Kant vom intelligiblen Charak­ 66  Kaulbach,

Kant 1969, S. 162. Kommentar 2003, S. 529. 68  Willaschek, Vernunft 1992, S. 23. 69  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 567. 70  Ebd., B 581 f. 71  Kaulbach, Kant 1969, S. 177; Kawamura, Spontaneität 1996, S. 172. 72  Kawamura, Spontaneität 1996, S. 170. 73  Ebd., S. 172. 74  Beck, Kritik 1995, S. 181. 75  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 574. 76  Natterer, Kommentar 2003, S. 524. 77  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 573 f. 78  Kawamura, Spontaneität 1996, S. 170 f. 67  Natterer,



II. Kants Behandlung des Freiheitsthemas161

ter nichts als einen allgemeinen Begriff haben können,79 müsse er doch dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden.80 Um eine kausale Bedingt­ heitsrelation zwischen Intelligiblem und Phänomenalem begründen zu kön­ nen, führt Kant die These ein, Phänomenales und Intelligibles stünden in einem Verhältnis zueinander wie Zeichen und Bezeichnetes: Die intelligib­ len Eigenschaften des Menschen verursachen seine Handlungen, die uns empirisch erscheinen. Das, was also in den beobachtbaren Handlungen er­ scheint, entstammt der transzendentalen Ursache. Von dieser transzendenta­ len Herkunft unserer Handlungen können wir zwar keine Erkenntnis erlan­ gen, doch ist es uns möglich, das beobachtete Verhalten hierfür als Anzei­ chen zu betrachten.81 Kant wollte den Grund für eine bestimmte Handlung nicht ausschließlich in den zeitlich vorausliegenden Zuständen, Vorstellun­ gen und Motiven des empirischen Charakters sehen, sondern in erster Linie im intelligiblen Charakter des betreffenden Menschen, aus dem sich nach Kant auch die Legitimität für Strafen und Belohnungen von Handlungen ergibt.82 Dieser Zusammenhang zwischen einem spezifischen intelligiblen und einem spezifischen empirischen Charakter bleibt indes dunkel, da der intelligible Charakter kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist:83 „Warum aber der intelligibele Charakter gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter unter vorliegenden Umständen gebe, das überschrei­ tet so weit alles Vermögen unserer Vernunft es zu beantworten […].“84 Die Handlung als intelligible Kausalität des Dings an sich bringt die zweite empirische Kausalität in der Erscheinung hervor.85 Als Noumenon 79  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 569. Spontaneität 1996, S. 171; Willaschek, Vernunft 1992, S. 132. 81  Walter, Neurophilosophie 1999, S. 22; Willaschek, Vernunft 1992, S. 135, 255. Aus dieser Feststellung kann allerdings kein Argument gegen die These der Steuer­ barkeit abgeleitet werden (Willaschek, Vernunft 1992, S. 144). Denn Kant leitet die Fähigkeit zu bewusster Selbststeuerung von der Möglichkeit eines jeden Menschen zum rechten Vernunftgebrauch ab: „Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Ver­ nunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen […] anders habe bestimmen können und sollen.“ (B 583) „Diese gibt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, […].“ (B 830) An dieser Stelle, wie auch hinsichtlich des Zusammenhangs von Freiheit und Praxis, ar­ gumentiert Kant zirkulär: Das beobachtbare Verhalten soll deshalb ein Anzeichen des intelligiblen Handlungsgrundes sein, weil dieser das Verhalten verursache: „So, wie das Erröten ein Zeichen der Scham sein kann, weil die Scham Ursache des Errötens ist, so kann auch das beobachtbare Verhalten Zeichen seiner ‚intelligiblen Ursache‘, des Grundes bzw. des Charakters sein.“ (Willaschek, Vernunft 1992, S. 256). 82  Kawamura, Spontaneität 1996, S. 171. 83  Kaulbach, Kant 1969, S. 178. 84  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 585. 85  Natterer, Kommentar 2003, S. 521. 80  Kawamura,

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E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

ist das handelnde Subjekt dem Determinismus der Naturkausalität nicht unterworfen, es steht vielmehr außerhalb eines notwendigen Ursache-Wir­ kung-Zusammenhangs und fängt seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst an.86 Seine Aktivierung erfolgt dann nicht deterministisch durch empirische, kausale Antezedenzbedingungen, sondern aus Gründen des Ver­ standes bzw. der Vernunft.87 Dennoch entspricht dieses freie Handeln aus rationalen Gründen in der Erscheinungswelt völlig den Gesetzen der empi­ rischen Kausalität.88 Auch die „intelligible Ursache“ unserer Handlungen können wir uns nur nach dem Schema von Ursache und Wirkung denken.89 Das vernunftgelei­ tete, verantwortliche Handeln des intelligiblen Charakters determiniert sei­ nerseits rational und intentional den empirischen Charakter als dessen Erscheinung.90 Der Mensch zeitigt gewissermaßen als Teil der intelligiblen Welt Wirkungen in der Erscheinungswelt.91 Der intelligible Charakter entspricht der „Selbstbestimmung aus prakti­ scher Vernunft“. Hierunter ist ein „gesolltes“ Verhalten aus rationalen Grün­ den zu verstehen,92 das jene Maximen hervorbringt, die den empirischen Charakter bestimmen.93 Nur in seinem intelligiblen Charakter ist der Mensch im Hinblick auf Freiheit und Moral ansprechbar.94 3. Kants Auflösung der Freiheitsantinomie Letztlich ist für die Auflösung der dritten Antinomie die Unterscheidung von phänomenaler und intelligibler Welt von fundamentaler Bedeutung. Mit dieser Differenzierung postuliert Kant neben der Naturkausalität eine weite­ re Kausalität aus Freiheit:95 „Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erschei­ nungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, ange­ sehen werden, […].“96

86  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 569, 579–582. B 573, 578. 88  Ebd., B 573; Natterer, Kommentar 2003, S. 521. 89  Gerhardt, Handlung 1986, S. 122. 90  Natterer, Kommentar 2003, S. 523, 525. 91  Kahlo, Problem 1990, S. 292. 92  Natterer, Kommentar 2003, S. 523. 93  Ebd., S. 525. 94  Haddenbrock, Schuldfähigkeit 1992, S. 109. 95  Beck, Kritik 1995, S. 37; Walter, Neurophilosophie 1999, S. 22. 96  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 565. 87  Ebd.,



II. Kants Behandlung des Freiheitsthemas163

Bereits in der zweiten Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft hatte Kant festgestellt:97 „Wenn aber die Kritik nicht geirrt hat, da sie das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung oder als Ding an sich selbst […], so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) als dem Naturgesetze notwendig gemäß und so fern nicht frei, und doch andererseits, als einem Dinge an sich selbst angehörig, […] mithin als frei gedacht, ohne daß hierbei ein Widerspruch vorgeht.“98

Die zwei Kausalitäten der dritten Antinomie sind in einem weit grundle­ genderen Sinne verschieden als die Kausalitäten jener Auffassung, die sich auf die Gegenüberstellung von Innerem und Äußerem bezieht. Sowohl die innere als auch die äußere Kausalität sind bei Kant lediglich zwei Unterar­ ten der phänomenalen Naturkausalität.99 Auch eine mögliche „psychische Kausalität“ wird von Kant als Bestandteil der Naturkausalität aufgefasst.100 Den Grundsatz, dass die Natur durchgängig kausal strukturiert ist und es hier kein „Einfallstor“ für die Freiheit gibt, lässt Kant völlig unangetastet. Bei Kant erstreckt sich dieser deterministische Kausalzusammenhang aller­ dings immer nur auf die Erscheinungen, nie auf die Dinge an sich bzw. auf den Bereich des Noumenalen. Denn wären Erscheinungen zugleich Dinge an sich, dann wäre, so Kant, Freiheit nicht zu retten.101 In einem solchen Fall wäre die Natur allein absolute Realität und kein Ort für Freiheit. Statt­ dessen ist die Natur für uns immer nur Erscheinung, die sich in einer na­ turkausalen Weise darstellt. Dieser Kausalzusammenhang wird der Natur durch unseren Verstand „vorgeschrieben“.102 Naturkausalität ist bei Kant nicht subjektunabhängig, kein eigenständiger Ablauf, sondern wird erst durch eine synthetische Leistung des Subjekts generiert.103 Der Naturkausalität setzt Kant aber die völlig andere Kausalität aus Frei­ heit entgegen, die ihren Ursprung in der Vernunft hat.104 Für Kant ist die Auflösung der dritten Antinomie in einem transzendentalen Idealismus die einzige Möglichkeit, Freiheit als noumenale Eigenschaft aus der kausalen Determination herauszulösen.105 Freiheit als intelligible Ursache der Er­ scheinungswelt tritt bei Kant in der Freiheitsantinomie lediglich als Denk­ 97  Höffe,

Lebenskunst 2007, S. 241. KrV 1998 (1781 / 1787), B XXVII f. 99  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 243 f. 100  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 204. 101  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 565. 102  Kaulbach, Kant 1969, S. 176. 103  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 231, Fn. 24. 104  Kant, KpV 2003 (1788), A 160. 105  Kuhlen / Seidel / Tsouyopoulos, Determinismus / Indeterminismus 1972, Sp. 152. 98  Kant,

164

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

möglichkeit in den Blick,106 sodass Kant das Determinismus / Indeterminis­ mus-Problem theoretisch durch die These auflöst, dass es kein Widerspruch sei, Freiheit und Kausalität zu denken.107 Der Idee der Freiheit entspricht kein Objekt. Denn Kausalität aus Freiheit ist stets nur eine transzendentale Idee, die an sich nicht erkannt werden kann.108 Da diese Kausalität aus Freiheit ihrerseits unbedingt ist109 und nach Kant außerhalb der Zeitreihe stehen soll,110 ist Kant gezwungen, die Kausalität aus Freiheit in einen intelligiblen Bereich zu verlegen:111 „Es braucht also nichts weniger als eine Freiheit, die jede Bindung an die Empi­ rie aufgibt. Es ist eine für den Menschen sonst unbekannte, im strengen Sinn absolute Freiheit. Sie tritt aber nicht an die Stelle von Handlungs- oder Willens­ freiheit. Sie besteht auch nicht in einer weiteren, dritten Art. Als Bedingung der Möglichkeit, die (Willens-)Freiheit zu denken, heißt sie ‚transzendentale‘ Frei­ heit.“112

Die Unterscheidung zwischen phänomenaler und intelligibler Welt muss Kant zufolge konsequent durchgehalten werden, da die Gefahr des „Scheins“ dort entsteht, wo der Versuch unternommen wird, Freiheit auf dieselbe Wei­ se erklären zu wollen wie die Naturkausalität und sie als empirisches Phä­ nomen aufzufassen.113 Mit der Gegenüberstellung des empirischen und des intelligiblen Charak­ ters ist für Kant bereits ein wichtiger Schritt zur Auflösung der dritten Antinomie getan. Kant weist zwar mit der transzendentalen Freiheit die Alleinherrschaft der Naturkausalität ab, lässt aber darüber hinaus den frei­ gewordenen Platz auch nicht „leer“, sondern „füllt“ ihn mit einer anderen Art von Gesetzen und Ursächlichkeit aus.114 Freiheit lässt sich nach Kant unter der Voraussetzung der von ihm akzeptierten durchgängigen kausalen Bestimmung aller natürlichen Begebenheiten in Raum und Zeit nur dann widerspruchsfrei denken, wenn sie nicht als Abwesenheit von Kausalität, sondern als Kausalität eigenen Ursprungs verstanden wird.115 Deshalb kann nach Kant der Indeterminismus, verstanden als Abwesenheit von Determination, auch keine Alternative zum Determinismus sein. Freiheit widerspricht 106  Kaulbach,

Kant 1969, S. 176. Kritik 2004, S. 252 f.; Kuhlen / Seidel / Tsouyopoulos, Determinismus / In­ determinismus 1972, Sp. 152. 108  Santel, Kompatibilismus 2001, S. 811 f. 109  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 243 f. 110  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 579; Höffe, Lebenskunst 2007, S. 245. 111  Rohs, Unterscheidung 2002, S. 166. 112  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 245. 113  Kaulbach, Kant 1969, S. 177; Walter, Neurophilosophie 1999, S. 22. 114  Höffe, Kritik 2004, S. 254 f. 115  Mohr, Determinismus / Indeterminismus 1999, S. 239. 107  Höffe,



II. Kants Behandlung des Freiheitsthemas165

zwar dem Determinismus, da eine Handlung unter ihr nicht den „Bestim­ mungsgrund der Handlung in der vorigen Zeit“ haben darf, wenn sie frei genannt werden soll. Diese Freiheit besteht aber „nicht in der Zufälligkeit der Handlung (daß sie gar nicht durch Gründe determinirt sei), d. i. nicht im Indeterminism […], sondern in der absoluten Spontaneität […].“116 Auf der Handlungsebene besteht nach Kant die Kausalität der Freiheit vielmehr in der Fähigkeit, sich in praktischer Hinsicht in seinem Handeln durch ver­ nünftige Gründe bestimmen zu lassen,117 wobei „Gründe der Vernunft“ bei Kant eben normativ-moralisch verfasst sind.118 Kant sieht Freiheit im Prak­ tischen also als Selbstdetermination des eigenen Handelns durch vernünftige Gründe an.119 Der höchste Grad an Freiheit ist Kant zufolge nur durch ein Handeln zu erreichen, das sich vom Kategorischen Imperativ, dem Sittengesetz, das als Endzweck selbst von keiner Ursache mehr abhängig ist, leiten lässt.120 Nach Kant ist die Freiheit die einzige der Ideen der spekulativen Vernunft, um die wir a priori wissen, insofern diese Freiheit Bedingung der Mög­ lichkeit des Kategorischen Imperativs ist, dessen Existenz wir in der Be­ folgung des Sittengesetzes nur praktisch erfahren können:121 „Freiheit ist aber die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen.“122 Damit hat die Freiheit nach Kant eine objektive, wenngleich auch „nur“ prakti­ sche Realität, weil hier Vernunft in der Sinnenwelt praktisch „zur Anwen­ dung“ gelangt.123 Zusammenfassend lässt sich zu Kants Umgang mit der Freiheitsantinomie festhalten, dass der Widerspruch der dritten Antinomie zwischen der intel­ ligiblen und der empirischen Welt erst im Bereich des Praktischen aufgelöst werden kann.124 Deshalb geht es in der Kritik der reinen Vernunft auch zunächst nur um die theoretische Denkmöglichkeit von Freiheit und deren 116  Kant, Religion 1968 (1793), S. 50, Anm.; Mohr, Determinismus / Indeterminis­ mus 1999, S. 239. 117  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 243 f. 118  Kawamura, Spontaneität 1996, S. 174. 119  Mohr, Determinismus / Indeterminismus 1999, S. 239. 120  Höffe, Kritik 2004, S. 254 f.; Kuhlen / Seidel / Tsouyopoulos, Determinismus / In­ determinismus 1972, Sp. 152; Mohr, Determinismus / Indeterminismus 1999, S. 239; Wildfeuer, Determinismus 1998, S. 477. 121  Mohr, Determinismus / Indeterminismus 1999, S. 240; Reichold, Leiblichkeit 2004, S. 59. 122  Kant, KpV 2003 (1788), A 5. 123  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 108. 124  Walter, Neurophilosophie 1999, S. 22.

166

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

widerspruchsfreie Vereinbarkeit mit der Naturkausalität.125 Freiheit ist nach Kant nicht theoretisch durch die reine Vernunft zu bestimmen, sondern nur durch praktisches Handeln nach dem Kategorischen Imperativ als moralische Freiheit.126 „Die Antithesis der dritten Antinomie propagiert die Allein­ herrschaft der Naturkausalität, der die Thesis unter Berufung auf eine zweite Kausalitätsart (aus Freiheit, d. Verf.) widerspricht, worauf die Auflösung der Antinomie beiden Kausalitäten einen je eigenen Wirkungsbereich, dort die Natur, hier die Moral, zuweist (Hervorhebungen vom Verf.).“127 These und Antithese sind beide dann wahr, wenn sie sich auf zwei unter­ schiedliche Anwendungsbereiche beziehen. Während sich die These auf das Verhältnis der Noumena zu den Phaenomena bezieht, ist der Anwendungs­ bereich der Antithese allein auf die Verknüpfungen innerhalb der Erschei­ nungen (Phaenomena) beschränkt. Die Beweise begründen nur eine Anwen­ dung von These und Antithese auf ihre jeweils zugehörigen und voneinander getrennten Bereiche.128 Die Freiheit ist als eine Kausalität eigenen Ursprungs zu verstehen, als ein Vermögen „einen Zustand von selbst anzufangen“,129 das gleichberechtigt neben der Naturkausalität steht.130 Da sich die Wirklichkeit von Freiheit nach Kant allein im Praktischen zeigt, bleibt deren Aufweis auch der Kritik der praktischen Vernunft vorbehalten.131 In mora­ lischer Hinsicht betrachtet gehört der Mensch nach Kant nicht in die Welt der Natur, sondern ist Teil jener Welt, in der die Gesetze der Vernunft gelten.132 Die in Kants Philosophie enthaltene Überlegung, dass menschli­ che Handlungen unbeschadet ihres Auftretens in der physischen Welt auch noch in einem anderen Kontext eine Rolle spielen und dann auch eine an­ dere Rede als die der natürlichen Ursächlichkeit erfordern, ist später durch Karl Raimund Popper, Jürgen Habermas und andere Philosophen wieder aufgegriffen worden, um Ursachen von Gründen eindeutig abzugrenzen: Naturereignisse hätten Ursachen, Handlungen dagegen Gründe.133

125  Kaulbach,

Kant 1969, S. 178. Neurophilosophie 1999, S. 22. 127  Höffe, Kritik 2004, S. 254 f. 128  Beck, Kritik 1995, S. 36. 129  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 561. 130  Walter, Neurophilosophie 1999, S. 22. 131  Kaulbach, Kant 1969, S. 178. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist we­ niger trennscharf, als man aus Kants Gegenüberstellung schlussfolgern könnte, denn bei der Konzeption des Kategorischen Imperativs handelt es sich selbstverständlich ebenfalls um Theorie (Brandt, Kant 2007, S. 211). 132  Reichold, Leiblichkeit 2004, S. 58. 133  Wildfeuer, Determinismus 1998, S. 477. 126  Walter,



III. Schwierigkeiten in Kants Umgang mit dem Freiheitsproblem167

III. Schwierigkeiten in Kants Umgang mit dem Freiheitsproblem • Das Verhältnis zwischen empirischer und intelligibler Welt Kants Freiheitstheorie krankt an der Schwierigkeit, das Verhältnis von intelligibler und empirischer Welt zu erklären. Kant wollte die Willensfrei­ heit trotz der von ihm selbst gerechtfertigten uneingeschränkten Geltung des Kausalprinzips im Bereich der erkennbaren Natur (einschließlich der empi­ rischen Psyche) verteidigen. Dies gelingt ihm aber nur, wie die Auflösung der dritten Antinomie der Transzendentalen Dialektik zeigt, um den Preis der Annahme eines transzendentalen Idealismus, durch den es erst möglich ist, Freiheit als noumenales Vermögen aus der naturkausalen Determination herauszulösen.134 Die Charakterisierung des Intelligiblen durch Kant als „vernünftig“ ist zu kritisieren, da über das unerkennbare transzendentale Objekt, das unserer erscheinenden Wirklichkeit zugrunde liegt, nach Kant selbst keinerlei Aussagen getroffen werden können. Eine solche Behauptung würde gerade den erkenntniskritischen Anspruch der Kritik der reinen Ver­ nunft konterkarieren. Es wäre nach Kant eigentlich unmöglich, diesem „bloßen Etwas“ überhaupt konkretisierende Eigenschaften zuzuschreiben, auch keine vernünftigen oder intelligiblen. Unsere gesamte Realität ist Er­ scheinung von etwas, von dem wir nicht das Geringste wissen können. Daraus folgt aber wiederum, dass von dem beobachteten Verhalten einer Person eben nicht auf eine unterstellte vernünftige Beschaffenheit des intel­ ligiblen Charakters geschlossen werden kann.135 Kant gelingt es nicht, das Problem durch die Annahme einer Welt an sich, die für uns lediglich auf­ grund eines epistemischen Defizits nicht erkennbar ist, zu lösen. Weder dem Handelnden selbst noch einem außenstehenden Beobachter sind die intelli­ giblen Gründe des Handelns zugänglich, da beide es immer nur mit phäno­ menalen Erscheinungen zu tun haben. Auch dem Handelnden sind im inne­ ren Sinn immer nur Erscheinungen gegeben, ein „Durchblick“ auf die noumenale Ursache seines Handelns bleibt ihm verwehrt. Beiden sind die Gründe ihres Handelns lediglich über eine Interpretation des (eigenen) be­ obachteten Verhaltens möglich.136 134  Wildfeuer,

Determinismus 1998, S. 476. Vernunft 1992, S. 256. 136  Ebd., S. 254 f. Auch diese Feststellung zeigt, dass eine Parallelisierung der Ersten-Person-Perspektive mit der transzendentalen Ebene hinkt. Denn in der ErstenPerson-Perspektive ist keine Erkenntnis der Dinge an sich, etwa noumenaler Gründe eigenen Handelns (wie nach cartesianischer Auffassung), möglich, sondern lediglich ein epistemisch komfortablerer Zugang zu den eigenen psychischen (also empiri­ schen) Zuständen des inneren Sinns. 135  Willaschek,

168

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

Die von Kant im Phänomenalen unterstellte durchgängige Naturkausalität deckt sich mit dem, was Physiker heute mit Bezugnahme auf den Energie­ erhaltungssatz als „kausale Geschlossenheit der Welt“ bezeichnen. Einige Autoren kritisieren Kants These von der Existenz einer intelligiblen Kausa­ lität als unvereinbar mit dieser kausalen Geschlossenheit der Natur. So merkt etwa Merkel an: Wer mit Kant den noumenal freien Willen zum „unverursachten Verursacher“ erkläre, müsse sich nach der empirischen Vereinbarkeit der behaupteten Folgen dieses Willens mit dem physikalischen Weltbild fragen lassen. Denn jeder kausale Akt eines freien Willens verur­ sache die Veränderung einer physikalischen Größe dieser Welt. Sei der freie Wille selbst unverursacht, also nicht physikalisch erklärbar, so verletze seine physische Wirkung den Energieerhaltungssatz, eines der wenigen so gut wie unbestrittenen Grundgesetze der Physik. Auch wenn der Satz nur für geschlossene physikalische Systeme gelte, zu denen der Mensch oder sein Gehirn nicht zählten, müsse man allerdings mit der ganz überwiegen­ den Mehrheit der Physiker den gesamten Kosmos als geschlossenes System ansehen. Hätte Kant recht, so müsste durch jeden noumenal freien Willensakt, der „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst“ anfängt,137 im Universum mit jeder Sekunde milliardenfach neue Energie entstehen, was dem heutigen Weltbild der Physik fundamental widerspreche.138 Wie gezeigt wurde, ist auch die Theorie der „kausalen Geschlossenheit“ nicht unumstritten. Aller­ dings besteht das Problem m. E. weniger in der Nichtvereinbarkeit von in­ telligibler Welt und Energieerhaltungssatz, sondern vielmehr in der imma­ nenten Inkonsistenz von Kants Zwei-Welten-Lehre, da Kant selbst von einer lückenlosen Kausalreihe in der phänomenalen Welt ausgeht. Die natürliche Welt ist bei Kant kausal geschlossen.139 Ereignisabläufe können nur dann als „objektiv“ gelten, wenn sie sich prinzipiell nach kausalen Regeln erklä­ ren lassen. Auch das Verhältnis von mentalen und körperlichen Phänomenen gehört dazu, sodass selbst die Welt des Handelns in empirischer Hinsicht vollständig kausal geschlossen ist.140 Für die Möglichkeit von Freiheit wäre nach Kants Überlegungen ein intelligibles „Hineinhandeln“ in den kausal geschlossenen Bereich des Phänomenalen notwendig.141 Peter Rohs stellt 137  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 562. Willensfreiheit 2008, S. 69 f. 139  Höffe, Kritik 2004, S. 232 f. Inwiefern man mit Sturma so weit gehen kann, Kant eine „transzendentalphilosophische Version des Physikalismus“ entwickeln zu sehen, lasse ich mit Blick auf das erkenntniskritische Gesamtprogramm der Kritik der reinen Vernunft dahingestellt. Vgl. Sturma, Perspektiven 1992, S. 116. 140  Höffe, Kritik 2004, S. 232 f. 141  Rohs, Unterscheidung 2002, S. 168. 138  Merkel,



III. Schwierigkeiten in Kants Umgang mit dem Freiheitsproblem169

hierzu fest: „In meinen Augen ist das eine unmögliche Position.“142 Die Voraussagbarkeit von innerweltlichen Ereignissen setzt voraus, dass ein System kausal geschlossen ist. Es darf nichts von außen hineinwirken, auch nichts Intelligibles.143 Die Vorausberechenbarkeit der phänomenalen Welt schließt vielmehr aus, dass innerhalb der Zeitreihe etwas neu kausal „anfängt“.144 • Freiheit durch Praxis Kant behauptet, praktische Freiheit könne durch Erfahrung bewiesen werden.145 Dabei ist keineswegs unmittelbar evident, dass man von der behaupteten praktischen Freiheit des Handelns auf die unerkennbare trans­ zendentale Freiheit schließen kann und dass hierdurch die Wirklichkeit von Freiheit bewiesen wird. Hier stellt Kant lediglich eine Behauptung auf, bleibt aber den in Aussicht gestellten Beweis in Wirklichkeit schuldig:146 „Der Sonderweg Kants, die Rücknahme des Freiheitsgrundes aus der Welt in die ‚intelligible‘ Sphäre reiner Begriffe, scheitert nicht nur an seinen inneren Inkon­ sistenzen, sondern vor allem an der Unmöglichkeit, von einer solchen transzen­ dentalen Freiheit aus eine kausale Brücke in die Welt der ‚Erscheinungen‘ zu schlagen. Wer will, mag einen Begriff ‚noumenaler Freiheit‘ aus dem sittengesetz­ lichen ‚Factum der Vernunft‘ deduzieren. Aber ‚Kausalität aus Freiheit‘ dieser Provenienz ist eine Fata Morgana.“147

Kant entzieht sich einer Beantwortung der Frage des Zusammenhangs von intelligibler und phänomenaler Welt dadurch, indem er eine theoreti­ sche Beantwortung als unzulässige Überschreitung der Grenzen der theore­ tischen Vernunft für unmöglich erklärt. Innerhalb von Kants Erkenntniskritik müsste damit ein Verhältnis aufge­ klärt werden, das Kant zufolge einer theoretischen Erklärung gerade nicht zugänglich ist und deshalb dem Bereich des Praktischen überantwortet wird.148 Das bloße Postulieren einer kontrakausalen Freiheit durch Kant als Substitut für einen nicht erbringbaren Beweis bleibt problematisch. Mit der Konstruktion des Postulats ist es aus Gründen unseres moralischen Selbst­ verständnisses legitim, uns selbst für frei und selbstbestimmt zu erklären, 142  Rohs, 143  Ebd.

144  Ebd.,

Unterscheidung 2002, S. 166.

S. 16. KrV 1998 (1781 / 1787), B 830. 146  Recki, Kanon 1998, S. 602. 147  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 79. 148  Reichold, Leiblichkeit 2004, S. 69. 145  Kant,

170

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

obgleich eine beweisende Erkenntnis einer solchen Freiheit, wie Kant selbst einräumt, nie zu erreichen ist:149 „Wird nun aber unser Erkenntnis auf solche Art durch reine praktische wirklich erweitert, und ist das, was für die spekulative transzendent war, in der praktischen immanent? Allerdings, aber nur in praktischer Absicht. Denn wir erkennen zwar dadurch weder unserer Seele Natur, noch die intelligibele Welt, noch das höchste Wesen, nach dem, was sie an sich selbst sind, sondern haben nur die Begriffe von ihnen im praktischen Begriffe des höchsten Guts vereinigt, als dem Objekte un­ seres Willens, und völlig a priori, durch reine Vernunft, aber nur vermittels des moralischen Gesetzes, und auch bloß in Beziehung auf dasselbe, in Ansehung des Objekts, das es gebietet. Wie aber auch nur die Freiheit möglich sei, und wie man sich diese Art von Kausalität theoretisch und positiv vorzustellen habe, wird da­ durch nicht eingesehen, sondern nur, daß eine solche sei, durch das moralische Gesetz und zu dessen Behuf postuliert.“150

Kant beschränkt sich damit im Beweisgang auf eine moralische Berech­ tigung, die eigene Person unter moralischem Gesichtspunkt als frei anzuse­ hen. Kant beansprucht die Wirklichkeit von Freiheit für jede Person, die sich selbst als sittliches Wesen betrachtet.151 Die These von der Beweiskraft des Praktischen ist aber nicht überzeugend: „Kants Lösung muß sich nach wie vor vorhalten lassen, daß sie nur unter Zugrun­ delegung einer grundsätzlich optimistischen vernünftigen und gerechten Einrich­ tung der Welt etwas als objektive, ‚obzwar nur praktische‘ Realität präsentiert, was eine vielleicht für das Subjekt und sein Selbstverständnis notwendige Illusion, eine moralische Fiktion sein und bleiben könnte.“152

Eine Plausibilisierung der Freiheit müsste m. E. auch erkenntnistheoretisch erfolgen können. Den Versuch eines solchen Beweises hat Kant mit der kon­ zeptionellen Anlage seines Ansatzes allerdings nicht anstreben können. Schwierigkeiten des Denkens der Gleichzeitigkeit von Freiheit und Notwen­ digkeit können auf diese Weise nicht behoben werden. So ist es etwa nach Kant trotz der empirischen Determiniertheit einer Handlung gerechtfertigt, einen „Missetäter“ zu tadeln, da sich dieser Tadel durch das Moralgesetz le­ gitimiere.153 Dabei bleibt die Frage offen: Wenn es für den Täter empirisch unmöglich war, die Tat zu unterlassen, wie kann ihm diese dann zugerechnet werden? Kants wenig überzeugende Antwort in diesem Zusammenhang lau­ tet, dass der Täter entgegen der durchgängigen Determination seines empiri­ 149  Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, II. Buch, 2. Hauptstück, Abschnitt VI: Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft über­ haupt; Pothast, Probleme 1993, S. 107. 150  Kant, KpV 2003 (1788), 240 f. 151  Pothast, Probleme 1993, S. 107. 152  Lenk, Begriffe 1986, S. 196. 153  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 583.



III. Schwierigkeiten in Kants Umgang mit dem Freiheitsproblem171

schen Charakters dennoch sein Verhalten dem Moralgesetz entsprechend „an­ ders habe bestimmen können und sollen“.154 Kant identifiziert Können mit Sollen, sofern die Handlung „unmittelbar unter der Macht der Vernunft“ steht.155 Kant hat hier die Vernunft als Moralgesetzgeberin im Blick, die in der Lage sei, eine eigene Kausalität spontan zu begründen:156 „[…] so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen sie so gar Handlungen für notwendig erklärt, die doch nicht geschehen sind und viel­ leicht nicht geschehen werden, von allem aber gleichwohl vorausgesetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Kausalität haben könne; denn, ohne das, würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten.“157

Damit denkt Kant Vernunft und Moral zusammen. Kant konstruiert den nicht überzeugenden Zusammenhang von empirischem und intelligiblen Charakter dergestalt, dass die gebotene Handlung möglich sei. Möglich sei die gebotene Handlung deshalb, weil sie in einer möglichen Welt (mundus moralis), wirklich sei. Diese deshalb sowohl mögliche als auch wirkliche Handlung, in der sich das Sollen ausdrücke, sei demnach Handlung über­ haupt.158 • Kants Rückfall in die alte Metaphysik Ein weiterer Kritikpunkt hinsichtlich der Auflösung der Freiheitsantino­ mie besteht in dem Vorwurf, Kant habe den erkenntnistheoretischen Ansatz seiner Kritik verlassen und sei in einen vorkritischen, ontologischen Dualis­ mus zurückgefallen. Tatsächlich setzt Kant die beiden Erkenntnisstämme des Intelligiblen und des Sinnlichen in der Dialektik zueinander in ein ontisch-kausales Verhält­ nis. Um der Moral willen entscheidet sich Kant hier für eine kausalistische Auflösung der Freiheitsantinomie, von der er selbst zugibt, dass sie „äußerst subtil und dunkel“ sei.159 Der empirische Charakter ist bei Kant nicht aus­ schließlich ein sinnliches Anzeichen des intelligiblen Charakters, sondern auch dessen Wirkung.160 Wie oben gezeigt wurde, wird der intelligible 154  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 583. B 584. 156  Santel, Kompatibilismus 2001, S. 816 f. 157  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 576. 158  Santel, Kompatibilismus 2001, S. 818. 159  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 565. 160  Ebd., B 573 f. 155  Ebd.,

172

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

Charakter als die transzendentale Ursache des empirischen Charakters vor­ gestellt.161 Kant gelingt es damit nicht, die von ihm selbst definierten Grenzen der Erkenntnis einzuhalten. Schon der Begriff einer intelligiblen Ursache über­ geht die Einschränkung des Noumenalen auf den Gebrauch „im negativen Verstande“.162 Eine causa noumenon, die mit der kausal strukturierten Rei­ he der Erscheinungen verträglich ist, kann der Transzendentalen Analytik zufolge nicht möglich sein.163 Die Reihe der Erscheinungen muss als lü­ ckenlos und durchgehend betrachtet werden, sodass die Einwirkungsmög­ lichkeit einer causa noumenon „wie an einer dichtgefügten Kette abprallt“.164 Indem Kant den empirischen Charakter als Wirkung einer intelligiblen Kausalität denkt, fällt er in einen vorkritischen Zustand mit ontologischen Verpflichtungen zurück. Dies wird besonders am ontologischen Dualismus von empirischem und intelligiblem Subjekt deutlich, welcher mit der Pro­ grammatik der Kritik nicht mehr zu vereinbaren ist.165

IV. Methodischer Determinismus 1. Entwicklung des Methodischen Determinismus aus Kants Erkenntnistheorie • Systematische Einheit der Erkenntnis Das Thema des ersten Abschnitts des Anhangs zur transzendentalen Dialektik, „Vom regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft“,166 ist die regulative Funktion der transzendentalen Vernunftprinzipien als Heuristiken. Hier wird die allgemeine methodologische und erkenntnistheoretische Funk­ tion der Vernunft diskutiert.167 Die Vernunft ist bei Kant ein „Vermögen“, das selbst keine Erfahrungserkenntnis liefert, sondern Erfahrungskenntnisse 161  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 581 f.; Santel, Kompatibilismus 2001, S. 813. KrV 1998 (1781 / 1787), B 307. 163  Röttges, Auflösung 1974, S. 44. 164  Ebd., S. 48. 165  Santel, Kompatibilismus 2001, S. 814. Heidemann sieht Kant auch im Paralo­ gismen-Kapitel metaphysische Anleihen nehmen: Der Versuch Kants, dem empiri­ schen Bewusstsein ein intellektuelles Bewusstsein zur Seite zu stellen, müsse im Hinblick auf die Programmatik und innere Systematik der Kritik als gescheitert angesehen werden, da ein reines, intellektuelles Selbstbewusstsein letztlich doch nur als ein metaphysischer Ich-Begriff einzuführen sei, der aber gerade über die kriti­ sche Erkenntnisbegrenzung hinausgehe (Heidemann, Kant 1998, S. 231). 166  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 670 ff. 167  Horstmann, Anhang 1998, S. 526 f.; Natterer, Kommentar 2003, S. 609. 162  Kant,



IV. Methodischer Determinismus173

des Verstandes auf eine systematische Einheit hin ordnet, sodass wenigstens prinzipiell ein Ganzes der Erfahrungserkenntnisse angenommen werden kann.168 Das heißt, die Vernunft stiftet eine systematische Einheit der Erkenntnisse.169 So, wie der Verstand Einheit durch Urteilsformen stiftet, fasst die Vernunft durch das Verfahren des Schließens diese unterschiedlichen Urteile und die in sie bereits investierten Einheitsbildungen zu einer noch höheren Einheit zusammen:170 „Man sieht daraus: daß die Vernunft im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntnis des Verstandes auf die kleinste Zahl der Prinzipien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken suche.“171 So lässt sich zeigen, dass wir auch bei der wissenschaftlichen Erklärung von empirischen Phänomenen immer streng reduktionistisch verfahren: Wir streben danach, die Vielfalt der Phänomene auf einige wenige Faktoren zurückzuführen und diese unter allgemeine Gesetze zu subsumieren. Ein solches Vorgehen ist aber nur dann sinnvoll, wenn wir unterstellen, dass es so etwas wie eine Einheit der Natur gibt, die wir nach und nach immer besser erfassen kön­ nen. Diese Überlegung lässt sich jedoch nicht unmittelbar aus der Vielfalt der Phänomene selbst ableiten, sondern ist nach Kant auf das Streben unserer Vernunft auf Einheit hin zurückzuführen.172 „Systematische Einheit“ ist als ein logisches, subjektives, heuristisches, hypothetisches und ökonomi­ sches „Prinzip“ der Vernunft zu verstehen. Die „Gesetze der Vernunft“, die als Ausdruck dieser systematischen Einheit auftreten, sind zu interpretieren als „Ordnungsregeln“, denen die Ge­ genstände der Erfahrung entsprechen, die aber dennoch die Begriffe der Objekte nicht bestimmen bzw. konstituieren. Diese Ordnungsregeln können deshalb nur regulative, nicht konstitutive Prinzipien von nicht-bestimmter, gleichwohl objektiver Gültigkeit sein.173 Die Vorstellung von der „systema­ tischen Einheit“ findet ihre Basis also nicht in den Objekten selbst, sondern hat den Charakter einer bloßen Maxime, einer Vernunftaufgabe oder eines Postulats, dem wir bei allen unseren Erkenntnisprozessen folgen müssen. Wir nehmen dabei an, dass die für uns erkennbaren Phänomene der Welt so angeordnet sind, als ob sie den „Maximen der Einheit“, den Ideen, entsprä­ chen.174

168  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 671 ff. Anhang 1998, S. 527, 529. 170  Kaulbach, Kant 1969, S. 164. 171  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 361. 172  Horstmann, Anhang 1998, S. 527; Kaulbach, Kant 1969, S. 165. 173  Horstmann, Anhang 1998, S. 533 f. 174  Ebd., S. 536. 169  Horstmann,

174

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

• Transzendentale Ideen Vernunftbegriffe wie die der absoluten Einheit aller Erscheinungen wer­ den von Kant als „Ideen“ bezeichnet.175 Der zweite Abschnitt des Anhangs, „Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“, legt dann das Augenmerk auf die spezifischen Funktionen, die jeder der drei transzendentalen Ideen für die Erweiterung unserer Erkenntnis zukom­ men.176 Dem „Interesse der Vernunft“, systematische Einheit der empiri­ schen Erkenntnis zu stiften, dienen in erster Linie die Vernunftideen von Seele, Welt und Gott.177 Diese Ideen sind Kant zufolge nicht willkürlich erdacht, sondern durch die Vernunft „selbst aufgegeben“ und beziehen sich notwendig auf den gesamten Verstandesgebrauch. Vernunftideen haben nur eine regulative Funktion, formulieren also Regeln für den Verstandesge­ brauch, sich an der höchsten Einheit zu orientieren.178 Und obwohl diese Ideen im Ergebnis keinen uns epistemisch zugänglichen Gegenständen entsprechen, stellen sie doch „imaginäre“ Objekte vor, die als Prinzipien der Vereinheitlichung empirischer Erkenntnisse funktionieren. So lassen sich alle psychischen Erscheinungen in einen systematischen Zusammenhang bringen, indem wir sie so interpretieren, als ob sie Zustände einer umfas­ senderen (fiktiven) Entität der Seele wären. Ähnliches gilt auch für die transzendentale Idee der Welt: Sie hat in Kants Erkenntnistheorie den Status einer heuristischen Fiktion, die uns dazu „nötigt“, alle Naturerscheinungen mit ihren ins Unendliche reichenden Kau­ salreihen so zu behandeln, als ob sie Bestandteile einer als total gedachten, ganzen Welt wären.179 Die drei Vernunftideen dürfen nicht insofern miss­ verstanden werden, dass sie nun doch Begriffe von eigentlich unerkennbaren Gegenständen seien.180 Objektiv ist bei Kant immer nur das, was angeschaut werden kann. Den Ideen entsprechen aber keine Gegenstände der Anschau­ ung.181 Die Dinge, für die sie zu stehen scheinen, sind lediglich Schemata, nach denen die Vernunft die vielen Verstandeserkenntnisse auf einen einzi­ gen Fluchtpunkt hin anordnet.182 175  Kaulbach,

Kant 1969, S. 165. Anhang 1998, S. 526 f. 177  Ebd., S.  527 f. 178  Kaulbach, Kant 1969, S. 166. Natterer sieht bei den Vernunftideen allerdings einen halb-konstitutiven, wenn auch indirekten Gegenstandsbezug, eine unbestimmte Art von objektiver Gültigkeit (Natterer, Kommentar 2003, S. 617). 179  Horstmann, Anhang 1998, S. 527 f. 180  Ebd., S. 528. 181  Kaulbach, Kant 1969, S. 166. 182  Horstmann, Anhang 1998, S. 528. 176  Horstmann,



IV. Methodischer Determinismus175 „So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen, und endigt mit Ideen. […] so überzeugt doch eine vollendete Kritik, daß alle Vernunft im spekulativen Gebrauche mit diesen Elementen niemals über das Feld möglicher Erfahrung hinaus kommen könne, und daß die eigentliche Bestimmung dieses obersten Erkenntnisvermögens sei, sich aller Methoden und der Grundsätze derselben nur zu bedienen, um der Natur nach allen möglichen Prinzipien der Einheit […] bis in ihr Innerstes nachzugehen, niemals aber ihre Grenze zu überfliegen, außerhalb welcher für uns nichts als leerer Raum ist.“183

Was z. B. die Idee der höchsten, umfassenden Einheit betrifft, so darf sie nie als sinnlich gefüllter Begriff, als objektive Realität, missverstanden werden. Diese Idee kann allenfalls als Anweisung, als regulatives Prinzip für das empirische Denken dienen, alle empirischen Einzelerkenntnisse auf die Idee einer umfassenden Einheit hin zu orientieren. Diese Ausrichtung auf das Ganze und Unbedingte (Absolute) leistet eine Ergänzung zu dem, was der Verstand zuwege bringt. Diese Ergänzung leistet die Vernunft.184 • Einheit der Natur So darf auch die Idee von der Einheit der Natur nicht als objektive Re­ alität missverstanden werden. Kant bezeichnet sie als bloße, aber notwendi­ ge Idee, deren Unabdingbarkeit in der Funktion begründet liegt, dem theo­ retischen Verstand eine Ausrichtung auf das nie zu erreichende Ziel totaler Naturerkenntnis zu geben. Man muss dieses Ziel utopisch nennen, da es außerhalb der Perspektive möglicher Erfahrung liegt. Die Idee der Einheit der Natur bezeichnet kein Vermögen zur Konstitution von Objekten, son­ dern sie weist dem theoretischen Verstand in seiner nie endenden For­ schungsarbeit nur regulativ die Richtung und spiegelt ihm vor, dass er am Ende die Erkenntnis der systematischen Einheit der Natur durch die Entde­ ckung der einen unbedingten Ursache erreichen könnte. Dieses „Als-ob“ dient als Projektionsfläche und motiviert den Verstand „zum Fortschreiten auf seinem endlosen Wege“.185 • Handlungsleitende Heuristiken Auch wenn wir in der Erfahrung zu jedem Bedingten das Unbedingte su­ chen, können wir das absolut Unbedingte in der phänomenalen Welt nie auf­ finden, denn in der Erfahrung ist jedes Ereignis selbst wiederum räumlich, zeitlich oder kausal bedingt. Die Vorstellungen von etwas Unbedingtem, die 183  Kant,

KrV 1998 (1781 / 1787), B 730. Kant 1969, S. 164. 185  Ders., Philosophie 1990, S. 48, 82 f. 184  Kaulbach,

176

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

wir uns nach Kant aufgrund der Eigendynamik der Vernunft notwendig ma­ chen, sind reine Vernunftbegriffe, dienen aber der empirischen Forschung immer als handlungsleitende Heuristiken, zu allem Bedingten immer das Un­ bedingte zu suchen.186 Damit ergänzt Kant im Anhang zur transzendentalen Dialektik das für die Metaphysik ernüchternde Resultat der Vernunftkritik um einen zentralen positiven Aspekt: Auch wenn wir über die Gegenstände der transzendentalen Ideen (Seele, Welt und Gott) kein Wissen erlangen können, so haben diese Ideen dennoch eine wichtige regulative Funktion, indem sie unserem Forschen und Trachten eine Richtung weisen und uns dabei helfen, das Wissen zu systematisieren.187 Diese regulative Funktion wird auch heute vor allem durch die wissenschaftliche Forschungspraxis und durch die Maxi­ men, die dieser Forschung zugrunde liegen, bestätigt.188 2. Methodischer Determinismus in den Wissenschaften Was kann man für die gegenwärtige Diskussion aus Kants Überlegungen im Anhang zur transzendentalen Dialektik für die hier interessierende Frei­ heitsproblematik lernen? „Ideen“ sind heute in den Wissenschaften auch umfassende Fachtheorien wie Chemie, Physik oder Geographie. Die Sche­ mata dieser Ideen sind zusammenhängende theoretische Entwürfe über ihre Gegenstände und können als solche auch im Sinne „regulativer Prinzipien“ verstanden werden, die zwar nicht konstitutiv erweiternd sind, dafür aber projektiv als „Wegweiser“ sowie als Ordnungs-Schemata funktionieren.189 Wenn etwa der Physiker im Bereich der Verstandeserkenntnis mehrere ein­ zelne Naturgesetze formuliert hat, dann tritt seitens der Vernunft eine Regel hinzu, die den Verstand dazu anleitet, seine einzelnen Gesetze unter ein umfassendes und allgemeines Einheitsgesetz zu subsumieren und die vielen singulären Bedingungen, die jeweils nur für ein einzelnes Gesetz gelten, auf eine einzige höchste Bedingung zurückzuführen. Die umfassenderen Geset­ ze müssen dann auch die Bedingungen für die Gültigkeit der spezielleren Theorien mit enthalten.190 Der als theoretische Hintergrundannahme auf Kant zurückgehende Methodische Determinismus191 ist also auch für die Gesetzesbildung der Einzelwissenschaften unverzichtbar.192 Dabei müssen die jeweiligen Gesetze natürlich nicht der klassischen Physik entsprechen. 186  Mohr / Willaschek,

Einleitung 1998, S. 24. S. 26. 188  Horstmann, Anhang 1998, S. 527. 189  Natterer, Kommentar 2003, S. 617. 190  Kaulbach, Kant 1969, S. 165. 191  Höffe, Kritik 2004, S. 167. 192  Beck, Kritik 1995, S. 40; Wildfeuer, Determinismus 1998, S. 477. 187  Ebd.,



IV. Methodischer Determinismus177

Denn es gibt auch statistische Gesetzmäßigkeiten, Quasi-Gesetze oder, wie etwa im subatomaren Bereich, Unbestimmtheitsbeziehungen.193 Unsere ko­ gnitiven Strukturen sind offenbar darauf ausgerichtet, für die Erklärung ei­ ner bestimmten Beobachtung immer nach Ursachen suchen zu müssen.194 Da das Denken in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen wissenschaftliche Bemühungen im Grundsatz kennzeichnet,195 muss auch die heutige Wissen­ schaft ihren Forschungen die Annahme einer durchgängigen Determination zugrunde legen.196 Alle wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten sind aus methodischen Gründen deterministisch. Da dem Methodischen Determinis­ mus disziplinübergreifend Gültigkeit für jedes wissenschaftliche Vorgehen überhaupt zukommt,197 enthält er zugleich ein Plädoyer dafür, keine Einzel­ disziplin in ihrem Erklärungsanspruch absolut zu setzen, da andernfalls z. B. menschliches Verhalten immer nur verkürzt aus physikalischen, biologi­ schen, psychischen, sozialen etc. Determinanten einseitig erklärt würde.198 Aus der Sicht des Methodischen Determinismus gibt es keinen Grund für die Annahme, dass die Theorien der Physik oder der Sozialwissenschaften mehr mit „der Wirklichkeit“ zu tun haben als die Theorien der Psychologie oder der Biologie.199 3. Methodischer Determinismus in der Erklärung menschlichen Verhaltens Wenn die Wissenschaften insgesamt einen Methodischen Determinismus zugrunde legen, nach dem sich für alles im Prinzip adäquate wissenschaft­ liche Erklärungen finden lassen, dann gilt dies auch für menschliches Ver­ halten.200 Kant gibt den Deterministen insofern Recht, als sich alle Ereig­ nisse, menschliches Verhalten eingeschlossen, auf äußere oder innere Ursa­ 193  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 230 f. Wie alle Forscher gehen natürlich Sozial­ wissenschaftler ebenfalls von Wirkungen aus und sind bestrebt, von dort auf mögli­ che Ursachen schließen zu können. Insoweit liegt auch den Sozialwissenschaften die Annahme eines (sozial)deterministischen Zusammenhangs zugrunde (Lampe, Wil­ lensfreiheit 2006, S. 118). 194  Natterer, Kommentar 2003, S. 617. 195  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 230 f.; Planck, Kausalität 1949, S. 268; Sturma, Kant 1985, S. 17. 196  Wildfeuer, Determinismus 1998, S. 477. Zu dieser Annahme sind wir nach Kant allein schon deshalb gezwungen, weil wir sonst keinerlei Ordnung in die Welt der Erscheinungen zu bringen vermögen (Sturma, Kant 1985, S. 17). 197  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 230 f.; Walde, Willensfreiheit 2006, S. 123 f. 198  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 230 f. 199  Pauen, Rätsel 1999, S. 48. 200  Wildfeuer, Determinismus 1998, S. 477.

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E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

chen hin erforschen lassen.201 Wenn es deshalb möglich wäre, wie in Kants zweiter regulativer Idee des Weltganzen gefordert wird, die „Erscheinungen der Willkür“ bis zu ihrem ersten Grund zu erforschen, so würde es, wie es in B 578 heißt, „keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewissheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten.“202 „Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Men­ schen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkenden äußeren Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte […].“203

Die Untersuchung „bewegender Ursachen“ mit dem Ziel, mehr über die Zusammenhänge zu erfahren, welche die Handlungen des Menschen bestimmen,204 ist aber auch ohne Kants transzendentales Erkenntnisideal zu haben. „Zugegeben, daß die erforderlichen Gesetze noch nicht voll bekannt sind, daß sie nie vollständig erkannt werden können, daß die bisher bekannten Gesetze, vergli­ chen mit denjenigen der Wissenschaften von der unbelebten Natur, nur geringe statistische Gültigkeit besitzen, zugegeben schließlich, daß selbst für die am bes­ ten erhärteten psychologischen Gesetze die empirischen Daten, die für ihre An­ wendung auf einen individuellen Fall erforderlich sind, gewöhnlich zu dem Zeit­ punkt, wo sie am meisten benötigt werden, fehlen: trotz allem und grundsätzlich würden die meisten Psychologen mit Kant übereinstimmen in der Annahme, daß menschliches Verhalten mit derselben Sicherheit voraussagbar ist wie eine Son­ nen- oder Mondfinsternis.“205

Vom Standpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung aus gesehen er­ scheint der menschliche Wille als vollkommen determiniert.206 Mit dem Freiheitspostulat kann die Wissenschaft hingegen nichts anfangen. So gehen der Historiker, der Psychologe und der Biologe gleichermaßen von der Voraussetzung aus, dass das Verhalten der von ihnen untersuchten Personen grundsätzlich immer auf bestimmte Ursachen zurückzuführen ist, sofern uns die entsprechenden Untersuchungsmethoden zur Verfügung stünden.207 Für die wissenschaftliche Forschung ist es ja, wie oben gezeigt wurde, gerade 201  Höffe,

Lebenskunst 2007, S. 243 f. KrV 1998 (1781 / 1787), B 578. 203  Ders., KpV 2003 (1788), A 177. 204  Gerhardt, Handlung 1986, S. 118; Lenk, Begriffe 1986, S. 196; Santel, Kom­ patibilismus 2001, S. 812. 205  Beck, Kritik 1995, S. 39. 206  Planck, Determinismus 1990 (1938), S. 198. 207  Ebd., S. 196, 198. 202  Kant,



IV. Methodischer Determinismus179

charakteristisch, den Ablauf des untersuchten Geschehens durch determina­ tive Zusammenhänge zu erklären.208 Wenn der Historiker Julius Cäsars Überschreitung des Rubicons nicht auf dessen politische Erwägungen, sein angeborenes Temperament oder auf situative Bedingungen zurückführen würde, sondern auf dessen Willensfreiheit, so könnte mit diesem Vorgehen wissenschaftlich überhaupt nichts erklärt werden. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet müssen wir daher immer unterstellen, dass für ein bestimmtes menschliches Verhalten auch Determinanten angegeben werden können.209 4. Dritte-Person-Perspektive und methodische Determination Begibt sich der Mensch auf den Standpunkt eines Beobachters (specta­ tor), dann stellt sich ihm die Welt unter dem Aspekt objektiver Gesetzmä­ ßigkeit dar: „Wie der Zuschauer in einem Theater sieht er ein Stück nach einem festen Plan von Autor und Regisseur.“210 Diesen Zusammenhang von Determination und Beobachtung hat auch Kant bereits gesehen: „In Ansehung dieses empirischen Charakters gibt es also keine Freiheit, und nach diesem können wir doch allein den Menschen betrachten, wenn wir lediglich beobachten, und, wie es in der Anthropologie geschieht, von seinen Handlungen die bewegenden Ursachen physiologisch erforschen wollen.“211

Das bedeutet, dass die wissenschaftliche Betrachtungsweise in der Drit­ ten-Person-Perspektive es als solche bereits mit sich bringt, dass ein be­ stimmtes Geschehen determiniert erscheint.212 Oder anders formuliert: De­ termination ergibt sich epistemisch aus einer objektiv-analytischen Betrach­ tung. In der Perspektive der dritten Person lässt sich nichts Anderes als durchgängige Kausalität erkennen.213 Die Einnahme der Dritten-Person-Perspektive ist mit einer DistanzKomponente des Beobachtenden zum Untersuchungsgegenstand verknüpft.214 Sie ist auch gegenüber zu analysierenden Personen die notwendige Bedin­ gung dafür, dass Verhalten überhaupt als determiniert in den Blick gerät.215 Daher kann der Person selbst ihr eigenes Handeln auch nie auf die gleiche Weise erscheinen, wie sich dasselbe Handeln einer anderen Person darstellt, 208  Planck,

Determinismus 1990 (1938), S. 198. Scheinprobleme 1990 (1947), S. 224. 210  Gerhardt / Kaulbach, Kant 1979, S. 79. 211  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 578. 212  Planck, Determinismus 1990 (1938), S. 198. 213  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 229. 214  Planck, Scheinprobleme 1990 (1947), S. 224. 215  Ders., Determinismus 1990 (1938), S. 199. 209  Ders.,

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E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

die dieses Handeln beobachtet. Vom distanzierten Beobachterstandpunkt aus erscheinen die Handlungen des Anderen als eine Reihe von Ereignissen, deren Verknüpfungen sich beschreiben lassen.216 Die Dritte-Person-Perspek­ tive ist allerdings nicht ausschließlich als Forschungsperspektive relevant, sondern gilt über die Wissenschaft hinaus für alle Zugriffe, die analysierend, betrachtend oder beobachtend vorgenommen werden: „Die Beobachterpers­ pektive reicht dabei von der Beobachtung des Common Sense bis hin zu den ausdifferenzierten Herangehensweisen der empirischen Einzelwissen­ schaften.“217 Von Kant haben wir gelernt, dass Kausalität nicht empirisch in der Welt „vorgefunden“ wird, sondern dass wir es sind, welche die Welt kausal strukturiert erkennen. Wir strukturieren in der Beobachtung das, was wir erkennen, kausal, weil wir nicht anders als in Ursache-Wirkungs-Zu­ sammenhängen denken können.218 Deshalb können wir auch das Verhalten eines Menschen nicht anders betrachten als durch determinative UrsacheWirkungs-Zusammenhänge bestimmt, da diese Beobachtungen unter der Vorannahme einer durchgängigen Kausalität stehen, welche durch die Ein­ nahme der Dritten-Person-Perspektive bedingt wird.219 Fragt man in der Perspektive der dritten Person nach Freiheit, so kann durch Beobachtung immer nur der, in Kants Begrifflichkeit, empirische Charakter eines Men­ schen in den Blick geraten.220 Es ist absurd, Freiheit mittels wissenschaftli­ cher Untersuchungen finden zu wollen.221 Für die empirische Welt im All­ gemeinen wie für menschliches Verhalten im Besonderen gilt vielmehr, dass durch Beobachtung und wissenschaftliche Forschung grundsätzlich keine Freiheit „gefunden“ werden kann.222 Durch die Einnahme einer objektivie­ renden Perspektive ist es den Wissenschaften zwar möglich, Wissen über den Menschen zu generieren, das zu begründeten und systematisch darstell­ baren Einsichten führt,223 Freiheit ist mit wissenschaftlichen Methoden je­ doch weder beweis- noch widerlegbar.224 Das bedeutet, dass es dem Men­ schen in der Dritten-Person-Perspektive nur möglich ist, auch seinesgleichen als Bestandteil eines umfassenden Determinationsgefüges als unfrei zu er­ kennen.225 Wir haben Kant die erkenntnistheoretische Einsicht zu verdan­ 216  Beck,

Kritik 1995, S. 39. Leib-Seele-Problem 1989, S. 243. 218  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 205; Spitzer, Gehirnforschung 2004, S. 292. 219  Spitzer, Gehirnforschung 2004, S. 293. 220  Haddenbrock, Schuldprinzip 2003, S. 529. 221  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 230. 222  Gerhardt, Handlung 1986, S. 118; Rosenberger, Determinismus 2006, S. 10. 223  Thies, Einführung 2004, S. 11. 224  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 231. 225  Haddenbrock, Schuldfähigkeit 1992, S. 105, 195; ders., Versuch 1995, S. 641. 217  Hastedt,



IV. Methodischer Determinismus181

ken, dass durch den beobachtenden Zugriff Freiheit methodisch „verunmög­ licht“ wird. Kant zufolge kann der Mensch immer nur entweder in der Beobachterperspektive als Bestandteil einer Ursachenkette betrachtet werden oder auch als im „Raum der Freiheit“ befindlich. Die gleichzeitige Einnah­ me beider Standpunkte ist nicht möglich.226 5. Der Zusammenhang von Zeit und methodischer Determination Im Zusammenhang mit der Determiniertheit aller Beobachtungen ist der Aspekt der Zeitlichkeit besonders hervorzuheben. Jede Handlung lässt sich bei retrospektiver Betrachtung als ein Zusammenspiel unterschiedlicher anlage- oder umweltbedingter Determinanten erklären.227 Wenn etwas in der Zeit betrachtet wird, das in der Vergangenheit und insofern als unveränder­ bar vor uns liegt, sind in der Retrospektive nur die vorausgehenden und veranlassenden Faktoren vorzufinden, die notwendig zu diesem Ergebnis geführt haben.228 Eine (wissenschaftliche) Untersuchung, welche die Ursa­ chen einer bereits feststehenden Reihe zu bestimmen sucht, kann demnach auch nur deterministisch verfahren.229 Die Empirie betrachtende Retrospek­ tive kann überhaupt nichts anderes als Determination feststellen, worauf ebenfalls bereits Kant hinwies.230 Mit Blick auf die Philosophie des Geistes, die Psychologie und die Ko­ gnitionswissenschaften muss betont werden, dass sich nach Kant nicht nur Ereignisse der „äußeren“ Welt in der Zeitreihe befinden und daher in ih­ rem Ablauf unumkehrbar sind. Dasselbe gilt auch für das Verhältnis von inneren zu äußeren Ereignissen und vor allem auch für die nur inneren Vorstellungen. Die gegenwärtigen Vorstellungen sind die Wirkung der vo­ rangegangenen Vorstellungen, die aber als vorangegangene ebenfalls be­ reits vergangen sind. Im retrospektiven Blick auf vergangene innere „Be­ wegursachen“ muss schon mit Kant also sogar eigenes vergangenes Han­ deln notwendig determiniert erscheinen.231 Das eigene Bewusstsein als Gegenstand der reflexiven Analyse steht auch Alfred Schütz zufolge aus­ schließlich in der Retrospektive auf eigene vergangene Bewusstseinserleb­ 226  Rosenberger,

Determinismus 2006, S. 230. Strafrecht AT 2008, S. 138. 228  Keil, Willensfreiheit 2007, S. 90; Rosenberger, Determinismus 2006, S. 110. Koch bezeichnet den Methodischen Determinismus unter Betonung des Zeit-Aspekts auch als „Postdiktiven Determinismus“ (Koch, Kausalität 1994, S. 70). 229  Haddenbrock, Schuldfähigkeit 1992, S. 242. 230  Kant, KrV 1998 (1781 / 1787), B 578; Rosenberger, Determinismus 2006, S. 265. 231  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 243 f. 227  Wessels / Beulke,

182

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

nisse zur Verfügung.232 Die untersuchende Beobachtersicht liegt also auch subjektintern der Selbstbetrachtung zugrunde: „2. Aber auch sich selbst kann ein jeder nicht nur als frei erleben, sondern auch als unfrei denken. Nur als Subjekt bin ich frei; werde ich mir zum Objekte der Selbstbetrachtung, so bin ich, wie für jeden dritten, so auch für mich selbst unfrei. Ich bin frei – aber ich weiß mich unfrei. In dem „ich“ ist die Freiheit – in dem „mich“ die Unfreiheit gesetzt. Das Selbst, das ich in der Selbstbetrachtung erfas­ se, ist also notwendig ein ganz anderes als das freie Ich […].“233

Im Rückblick auf ein faktisch vorliegendes Gedacht- und Gehandelthaben ist es mir nur möglich, die Bedingungen oder Ursachen postdiktiv zu ana­ lysieren, aus denen meine gegenwärtigen und zukünftigen Vorstellungen und mein Verhalten notwendig hervorgehen mussten.234 In der Retrospekti­ ve erkennt sich der Mensch auch selbst als eingebettet in ein umfassendes Determinationsgefüge, das von seinen genetischen Anlagen bis hin zu sozi­ alen Einflüssen seiner individuellen Biographie alle Determinanten umfasst, aus denen sein Handeln resultiert.235 Über 200 Jahre Humanwissenschaft haben Kants Theorie des Methodischen Determinismus eindrucksvoll bestä­ tigt: Bei beobachtender sowie zeitlich retrospektiver Untersuchung eines (eigenen) konkreten Verhaltens, gleichviel, ob „verdienstvoll“ oder „verwerf­ lich“, muss der Mensch methodisch als vollständig determiniert erschei­ nen.236 6. Postdiktive Verdichtungsdynamik in der Retrospektive Hier greift ein „erkenntnistheoretischer Automatismus“, nach dem eine zunehmend verfeinerte Subtilanalyse gleichzeitig zu einer progressiven Verdichtung des Determinationsaspekts führt. Je subtiler die (wissenschaftliche) Analyse ausfällt, umso mehr treten determinative Zusammenhänge in den Blick.237 Je sorgfältiger etwa die Untersuchung eines konkreten menschli­ chen Verhaltens betrieben wird, umso zwingender erscheinen die vielfältigen genetischen, physischen, psychischen, sozialen etc. Determinanten des Han­ delns, welche auf die in Frage stehende Tat hinführten.238 Entsprechend verkleinert sich epistemisch äquivalent unser bestehender Eindruck der „Lücke“ eines möglichen Spielraums für Verantwortlichkeit in dem Maße, 232  Schütz,

Aufbau, S. 83 f., S. 93. Rechtsphilosophie II 1993 (1932), S. 80. 234  Haddenbrock, Versuch 1995, S. 640; Pothast, Einleitung 1988, S. 22. 235  Haddenbrock, Versuch 1995, S. 640. 236  Ders., Schuldfähigkeit 1992, S. 124. 237  Ebd. 238  Ebd., S. 242; ders., Schuldprinzip 2003, S. 529. 233  Radbruch,



IV. Methodischer Determinismus183

in welchem wir ein bestimmtes Verhalten aus kausalen Zusammenhängen erklären können. Je gründlicher und detaillierter wir dabei „hinschauen“, desto geringer wird auch der Bereich für ein angenommenes Handeln aus Freiheit.239 Ein anfangs eventuell noch recht groß erscheinender Spielraum für freie Ent­ scheidungen verkleinert sich somit rasch, sobald die konkrete Entschei­ dungssituation, etwa im Hinblick auf die psychische Verfasstheit eines Menschen, näher untersucht wird: „Das Kriterium des Andershandelnkönnens für die Zurechnung von Handlungen leuchtet jedem pragmatisch denkenden Menschen sofort ein. Bedenken, ob der Handelnde tatsächlich jemals den erforderlichen Spielraum an Freiheit besitzt, tauchen erst dann auf, wenn man die psychische Situation, in der sich der einzel­ ne im Moment der Entscheidung befindet, näher untersucht. Dann entsteht in vielen Fällen der Eindruck, daß die bei erster Betrachtung offensichtlich vorhan­ dene Freiheit durch Faktoren, die dem Verhalten vorausgehen, eingeschränkt oder gänzlich beseitigt wird.“240

Es ist davon auszugehen, dass mit dem zunehmenden Fortschritt der Er­ forschung des individuellen Bedingungsgefüges des Menschen aufgrund dieses epistemischen Automatismus der deterministische Erklärungsaspekt im Laufe der Zeit immer deutlicher und verdichteter hervortreten wird.241 Auch diese determinative „Verdichtungsdynamik“ gilt nicht nur mit Blick auf die „Außenwelt“, sondern auch subjektintern. Je genauere Einsicht wir auf psychischer Ebene in den Zusammenhang unserer Motive erwerben, desto weniger fühlen wir uns natürlich auch für die Folgen einer zu treffen­ den Entscheidung verantwortlich.242 7. Konsequenzen des Methodischen Determinismus für das Strafrecht Auch bei der Untersuchung eines Straftäters können wir im Nachhinein nichts anderes identifizieren als die physischen, psychischen, biographischen, situativen, sozialen usw. Aspekte von Täter und Tat.243 Je mehr die Täterper­ sönlichkeit offengelegt wird, desto deutlicher erscheint die konkrete Ent­ scheidung des Täters als bedingt und bestimmt durch die unterschiedlichen Determinanten seiner Persönlichkeit wie der Tatsituation und desto geringer wird der Spielraum für die Zuschreibung einer freien Entscheidung.244 239  Hospers,

Reichweite 1988, S. 103. Grundlagenprobleme 1986, S. 204. 241  Ders., Indeterminismus 1993, S. 515. 242  Planck, Wesen 1990 (1936), S. 161. 243  Haddenbrock, Schuldprinzip 2003, S. 524. 244  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 204. 240  Tiemeyer,

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E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

Diese Sichtweise wurde von bedeutenden Juristen, wie etwa von Gustav Radbruch, auch für das Strafrecht voll akzeptiert.245 Entsprechend Kants Lehre des Methodischen Determinismus muss bei einer Intensivuntersu­ chung zwangsläufig das Bild einer Vorgeschichte von Täter und Tat entste­ hen, die schicksalhaft in die begangene Tat zu münden scheint. Die moder­ nen Untersuchungsmethoden lassen insoweit zunehmend die vielfältigen Determinanten des menschlichen Verhaltens in den Fokus treten:246 „[…]; und es wäre unumgehbar, daß schon bei Beurteilung der Schuld eine prin­ zipiell endlose Reihe von inneren und äußeren Gegebenheiten Beachtung findet, in psychiatrisch-erfahrungswissenschaftlicher Terminologie etwa: die erbbiologi­ schen und erbpsychologischen Faktoren; die endokrinologischen, hirnphysiologi­ schen, metabolischen und eventuell toxikologischen Daten des somatopsychischen Bedingungsgefüges; die tiefenpsychologischen Relevanzen der biographischen Affekt- und Triebdisponierung; die Abhängigkeit eines verpflichtenden sozialethi­ schen Bewußtseins von voraufgegangenen oder ausgebliebenen erzieherischen Lernprozessen; die soziologischen Grunddeterminanten als Abhängigkeit der bio­ graphischen Formung des Individualverhaltens von Vorerlebnissen und Vorprägung im Medium seines familiären und gesellschaftlichen Kollektivs; die situationspsy­ chologischen Faktoren als provozierende Kräfte der Aktualkonstellation zur Tatzeit und vieles mehr.“247

Besonders im Strafrecht stellt sich die Frage, inwieweit angesichts der beschriebenen erkenntnistheoretischen Verdichtungsdynamik überhaupt noch die Annahme einer Entscheidungs- und Handlungsfreiheit gerechtfertigt werden kann.248 Die grundsätzliche wissenschaftliche Entwicklung führt dabei zu gravierenden Konsequenzen für das Strafrecht:249 „Es ist davon auszugehen, dass in der Strafrechtstheorie in den kommenden Jah­ ren viel in Bewegung geraten wird, insbesondere angesichts der dramatisch sich anhäufenden Erkenntnisse über die Faktoren, die Personen zu Straftätern machen […].“250

Es zeichnet sich ab, dass der wissenschaftliche Progress mit den hiermit verbundenen Möglichkeiten zu einer mehr und mehr verfeinerten Analyse des Angeklagten auch nicht ohne strafprozessuale Wirkungen bleiben wird.251 Zur Klärung der Schuldfähigkeit wird der schwerkriminelle Täter heute einer außerordentlich intensiven Begutachtung zugeführt. Sorgfältig geht man allen eventuell vorhandenen psycho(patho)logischen Einschrän­ 245  Haddenbrock,

Schuldfähigkeit 1992, S. 243. S. VIII. 247  Tiemeyer, Indeterminismus 1993, S. 514. 248  Ebd., S.  514 f. 249  Haddenbrock, Versuch 1995, S. 641. 250  Roth, Willensfreiheit 2007, S. 174. 251  Haddenbrock, Versuch 1995, S. 641. 246  Ebd.,



IV. Methodischer Determinismus185

kungen nach, die der normativ postulierten Fähigkeit zur bewussten Tatver­ meidung entgegenstehen könnten. Man sucht nach Ursachen des Tatverhal­ tens, für die dem Täter keine Verantwortung zugeschrieben werden kann. Regelmäßig werden, korrelativ zur Intensität der Untersuchung, Determi­ nanten identifiziert, welche die bewusste Selbststeuerung des Angeklagten in Frage stellen: „Sozialisationsdefizite in der Kindheit, dyssoziale Prägungen im hierfür empfäng­ lichen Jugendalter, ideologische Indoktrinierung, Gruppeninduktionen, zermürben­ de Konfliktbelastungen, evtl. Kränkungen oder Provokationen durch das Tatopfer […] intellektuelle Mängel oder / und psychopathische Gemütsdefekte, neurotische Triebanomalien, pathobiologisch (z.  B. durch Drogen, Alkohol, physische Er­ schöpfung, Schlafdefizit) bedingte abnorme Beschaffungsbedürfnisse, Reizbarkeit oder Enthemmung bei Tatbegehung.“252

Solchen und anderen „Anomalien“ wird eine eindeutige kriminogene Bedeutung zugesprochen. Innerhalb eines insgesamt auf dem Gedanken der persönlichen Vorwerfbarkeit bauenden Strafrechts entstehen hierdurch be­ denkliche Effekte.253 Die Erforschung des Bedingungs- und Ursachengefü­ ges des konkreten Täterverhaltens, das derzeit nur selektiv bei „Schwerkri­ minellen“ zum Tragen kommt, führt dann nämlich wegen des hierbei ver­ stärkt hervortretenden Unfreiheitsaspekts des Täters zu problematischen Konsequenzen:254 „Es wird […] der sorgfältig untersuchte Schwerkriminel­ le – relativ zur Schwere seiner Tat – regelmäßig milder bestraft als der (schon aus Aufwandsgründen nicht so genau zu untersuchende) Leicht­ kriminelle.“255 Es ist davon auszugehen, dass angesichts des rasanten wis­ senschaftlichen Fortschritts und der Entwicklung immer neuer Untersu­ chungstechniken und -methoden die nur selektive Detailanalyse von Täter und Tatgeschehen auf Dauer nicht mehr gerechtfertigt werden kann, sondern auch und vor allem im Sinne der Gleichbehandlung auf alle Angeklagten ausgeweitet werden muss.256 Bislang behilft sich die tradierte Lehre mit der Forderung eines Stücks „Nichteingehen auf den Täter“, um Verantwortlich­ keit weiterhin zurechnen zu können.257

252  Haddenbrock, 253  Ebd.

254  Ders.,

Schuldfähigkeit 1992, S. VIII.

Versuch 1995, S. 641. Schuldfähigkeit 1992, S. VIII. 256  Ders., Versuch 1995, S. 641. 257  Tiemeyer, Indeterminismus 1993, S. 518. 255  Ders.,

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E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

8. Abgrenzung des Methodischen vom Metaphysischen Determinismus Die Position des Metaphysischen Determinismus besagt, dass die Welt „tatsächlich“ determiniert ist. Diese Sichtweise kann weiter differenziert werden mit Blick auf die Vergangenheit (Historischer Determinismus) und hinsichtlich der Zukunft (Futuristischer Determinismus). Der Methodische Determinismus geht hingegen davon aus, dass entweder Vergangenes ein­ deutig kausal erklärt werden kann (Postdiktiver Determinismus) oder als stärkere Variante, dass es zudem möglich ist, die Zukunft im Voraus zu bestimmen (Prädiktiver Determinismus).258 Im Unterschied zum metaphy­ sischen Deterministen fragt der methodische Determinist in gewisser Weise „mäßiger“ nach der Möglichkeit, wie wir die Weltzustände bestimmen.259 Daher ist es wichtig, die metaphysische und die epistemische Ebene klar voneinander zu unterscheiden.260 Aus dem Methodischen Determinismus folgt mit Kant deshalb kein dogmatischer, weil menschliche Handlungen nur innerhalb von Zeitverhältnissen, also im Bereich der uns zugänglichen phänomenalen Welt, umfassend methodisch determiniert sind.261 Aus der Erfassung der Dinge in der phänomenalen Welt nach dem „Muster“ der Kausalität darf deshalb auch nicht auf eine kausale Anordnung der Dinge an sich geschlossen werden. Dem Metaphysischen Determinismus erteilt Kant eine deutliche Absage. Eine solche epistemologische Thematisierung naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse muss auch in der gegenwärti­ gen Freiheitsdebatte stärker beachtet werden.262 Aus wissenschaftstheoretischer Sicht wird der blinde Fleck des Meta­ physischen Determinismus durch dessen Methodenvergessenheit markiert, da Determination vom Standpunkt des Methodischen Determinismus aus „lediglich“ der epistemische Effekt eines bestimmten methodischen Vorge­ hens ist.263 Die Wissenschaftstheorie stützt Kants Auffassung durch die Beobachtung, dass Gesetze der empirischen Wissenschaften Personen oder Dinge nicht zu irgendetwas „zwingen“. Sie beschreiben nur Regelhaftig­ keiten, die in Untersuchungen beobachtet wurden und die sich bislang em­ pirisch bestätigten. Daher ist es nicht korrekt, wenn der Determinist seine Auffassung von der Determiniertheit des Menschen mit der Aussage aus­ drückte: „Jeder muss so handeln, wie er handelt.“ Zutreffend wäre aus der 258  Walter,

Neurophilosophie 1999, S. 39. Willensfreiheit 2009, S. 4. 260  Walter, Neurophilosophie 1999, S. 39. 261  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 244 f. 262  Urbaniok / Hardegger / Rossegger / Endrass, Determinismus 2006, S. 134. 263  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 205. 259  Stuckenberg,



V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus187

Sicht des Methodischen Determinismus die Formulierung, dass Verhalten aus der Dritten-Person-Perspektive heraus so beschrieben werden muss, dass ein regelhafter Zusammenhang mit vorausliegenden Umständen sicht­ bar wird.264

V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus 1. Prädiktiver Determinismus als Vorausbestimmbarkeit Was meinen wir, wenn wir sagen, ein Vorgang, ein Ereignis, eine Hand­ lung vollzieht sich mit Notwendigkeit und ist determiniert? Vom methodi­ schen Standpunkt aus betrachtet besteht der deutlichste und überzeugendste Nachweis in der Möglichkeit, das Eintreten eines bestimmten Vorgangs im Vorhinein sicher prognostizieren zu können.265 Wenn man von einem Kau­ salzusammenhang zwischen zwei aufeinanderfolgenden Ereignissen spricht, so ist damit eine notwendige Verkettung der beiden Ereignisse gemeint, wobei das frühere Ereignis als die Ursache, das spätere als die Wirkung bezeichnet wird.266 Dem Kausalgesetz zufolge ist alles zu einem ganz be­ stimmten Zeitpunkt vollständig bestimmt durch den Zustand zum vorherge­ henden Zeitpunkt.267 Ein solcher Prädiktiver Determinismus liegt dann vor, wenn sich aus der Gesamtheit der Ursachen eindeutig jede Wirkung voraus­ sagen lässt.268 Oft kommt es aber vor, dass wir auch dort einen Kausalzusammenhang unterstellen, wo von einer sicheren Prognose überhaupt nicht die Rede sein kann, z. B. die Wettervorhersage betreffend. Obwohl die Unzuverlässigkeit der Wetterprognose sprichwörtlich ist, betrachtet die Meteorologie die Vor­ gänge in der Atmosphäre als determiniert. Hier liegt der Verdacht nahe, dass hinsichtlich der Prognostizierbarkeit ein Zusammenhang zur Komplexität des untersuchten Systems besteht.269 So ist es schon eher möglich, richtige Voraussagen zu treffen über das Verhalten eines Liters Luft gegenüber Faktoren wie Kompression, Erwär­ mung, Anfeuchtung usw. als über das Verhalten der gesamten Atmosphäre. Aber selbst wenn die Verhältnisse noch so einfach und die Messinstrumen­ te noch so genau sind, kann es trotzdem nicht gelingen, das Messergebnis 264  Pothast,

Einleitung 1988, S. 17. Wesen 1990 (1936), S. 152. 266  Ders., Kausalität 1949, S. 250. 267  Ders., Gesetzlichkeit 1949, S. 196. 268  Koch, Kausalität 1994, S. 70. 269  Planck, Kausalität 1949, S. 252. 265  Planck,

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E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

mit vollständiger Genauigkeit vorauszusagen. Im Gegensatz zu rein mathe­ matischen Berechnungen bleibt ein Rest an Ungenauigkeit zurück.270 2. Die Figur des „allwissenden Beobachters“ Ein determinativer Zusammenhang besteht also dort, wo eine Wirkung aus einer vorangehenden Ursache mit Notwendigkeit hervorgeht. Im er­ kenntnistheoretischen Zugriff wird Determinismus an die Beobachtbarkeit und die Beobachtung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen gebunden und keine Aussage darüber getroffen, wie die Welt auch unabhängig vom beobachtenden Zugriff beschaffen ist. Wir haben bereits gesehen, dass in der Retrospektive vom Beobachterstandpunkt aus methodisch bedingt über­ haupt nur determinative Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge bestimmt wer­ den können. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern dieser Postdiktive De­ terminismus um einen Prädiktiven, auf die Zukunft gerichteten Determinis­ mus erweitert werden kann.271 Sollte dies möglich sein, handelte es sich zwar noch immer um einen erkenntnistheoretischen, dann aber um einen viel umfassenderen Determinismus-Begriff. Unter Zugrundelegung dieses Begriffs müsste es möglich sein, einen Vorgang, ein Ereignis oder ein be­ stimmtes Verhalten der Zukunft an die Möglichkeit einer sicheren Prognose zu binden. Ist es möglich, im Voraus Ursachen konkret zu benennen, die zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt spezifische Folgen bedingen, kann man sagen, dass auch die Zukunft determinativ bestimmbar ist.272 Um diese Möglichkeit zu überprüfen, greifen Max Planck und der briti­ sche Physiker, Neurowissenschaftler und Philosoph Donald M. MacKay im Rahmen eines Gedankenexperiments auf die Figur des „Laplaceschen Dä­ mons“ zurück. Dieser ideale, selbst nicht in das Weltgeschehen involvierte Beobachter verfügt über die „Allperspektive“273 und kennt sämtliche Welt­ zustände: 270  Planck,

Kausalität 1949, S. 253. Kausalität 1994, S. 70; Walter, Neurophilosophie 1999, S. 39. 272  Planck, Gesetzlichkeit 1949, S. 196; ders., Wesen 1990 (1936), S. 152. 273  Da die Kenntnisse des außerweltlichen und übermenschlichen Laplaceschen Dämons über solche hinausgehen, die auf der Basis des nur für Menschen geltenden Methodischen Determinismus ermittelt werden können und der allwissende Beobach­ ter die kausalen Zusammenhänge der Geschehnisse dort „tatsächlich“ durchschaut, wo für den Menschen nur eine „Relation“ von Ursache und Wirkung erkennbar ist, handelt es sich beim Laplaceschen Dämon um eine Figur, die über ontologische Ein­ sichten verfügt. Im Hintergrund von Plancks und MacKays erkenntnistheoretischen Konzeptionen steht die Annahme eines Metaphysischen Determinismus. Man kann die Tatsache, dass Planck und MacKay ihre erkenntnistheoretischen Freiheitskonzep­ tionen sogar vor dem Hintergrund der Maximalannahme eines metaphysischen Uni­ 271  Koch,



V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus189 „Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wir­ kenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen.“274

Von dem Standpunkt dieses hypothetischen Beobachters aus betrachtet, der die umfassende Kenntnis aller einzelnen determinierenden Umstände (Antezedenzbedingungen) besitzt, die am Beginn eines in den Blick genom­ menen Vorgangs vorliegen, müsste das Eintreten dieses Geschehens275 mit Notwendigkeit vorausgesagt werden können.276 Dieser allwissende Beob­ achter dürfte aber seinerseits nicht aktiv in den Verlauf des untersuchten Prozesses eingreifen, sondern müsste sich völlig passiv verhalten.277 Greift er dennoch ein, hätte dies weitreichende Konsequenzen. MacKay gestaltet das Gedankenexperiment folgendermaßen: Der Leser soll sich in die Lage einer Person versetzen, die sich um 19:00 Uhr dazu entscheiden muss, ent­ weder zu gehen, um den Zug um 19:15 Uhr zu erreichen (G) oder noch zu warten und einen späteren Zug zu nehmen (W). Bis 19:00 Uhr betrachtet man G und W als gleichermaßen mögliche Alternativen, aber um 19:00 Uhr fällt die Entscheidung zu gehen, womit die Beschreibung G wahr und die Beschreibung W falsch wird. Aus der eigenen Ersten-Person-Perspektive würde man eine solche Entscheidung im Augenblick der Entscheidung als frei ansehen.278 Wenn ich nun durch eine Vorhersage des allwissenden Be­ versaldeterminismus plausibilisieren, (Detlefsen, Grenzen 2006, S. 43; Planck, Ge­ setzmäßigkeit 1949, S. 93) als Stärke dieser Ansätze sehen (Planck, Gesetzlichkeit 1949, S. 196). So vernachlässigt MacKay zusätzlich die die Freiheit begünstigenden Phänomene der Quantenphysik ebenso wie die Möglichkeit des Zufalls in der Natur (Spitzer, Gehirnforschung 2004, S. 297). Einige der Argumente MacKays sind beein­ flusst von Karl Poppers Aufsatz: „Indeterminism in Quantum Physics and in Classi­ cal Physics“, in: The British journal for the philosophy of science, Bd. 1, 1950, S. 117–133; Pothast, Notiz Indeterminismus 1988, S. 271). MacKay möchte zeigen, dass selbst bei der Annahme eines vollständig physikalisch determinierten Gehirns die prinzipielle Ablehnung von Freiheit nicht nur unbegründet, sondern auch nachweisbar falsch ist und stützt sich dabei auf die Konsequenzen, die sich aus dem Wissenser­ werb ergeben (MacKay, Freiheit 1988, S. 304). Für erkenntnistheoretische Konzep­ tionen liegt hier kein Problem vor, da der Laplacesche Dämon als Metapher, wie z. B. auch Kants Ding an sich, lediglich der Veranschaulichung eines epistemischen Vor­ gangs dient (Rosenberger, Determinismus 2006, S. 146). 274  Laplace, Versuch 1996 (1814), S. 1 f. 275  Planck, Wesen 1990 (1936), S. 156; Pothast, Notiz Indeterminismus 1988, S. 269. 276  Planck, Wesen 1990 (1936), S. 153, 163. 277  Ebd., S. 153; Ritzenhoff, Freiheit 1999, S. 63. 278  MacKay, Freiheit 1988, S. 310.

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E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

obachters erführe, dass ich um 19:00 Uhr die Entscheidung treffe, zum Zug zu gehen und damit determiniert bin, die Variante G zu realisieren, träfe ich die Entscheidung aber bereits vor 19:00 Uhr. Damit wäre allerdings die ursprüngliche Grundlage der Vorhersage, dass ich mich nämlich erst um 19:00 Uhr entscheide, nicht mehr dieselbe.279 Zudem verfüge ich nun über weitere Informationen, die mir zuvor unbekannt waren. Die gesamte Daten­ basis der Prognose, die mir mitgeteilt wird, verändert sich also genau im Augenblick der Mitteilung, sobald der Beobachter aus seiner Passivität he­ raustritt.280 Die Voraussage selbst wird insoweit wertlos, als sie den Status einer Prognose im Augenblick ihrer Übermittlung einbüßt.281 In einem endlosen Regress verändert die Mitteilung der Voraussage an eine Person über deren zukünftiges Verhalten die Datengrundlage, aufgrund derer die Prognose erstellt wurde.282 Die allwissende Perspektive des „Alles-vorherWissens“ kann vom beobachteten Akteur mit Notwendigkeit nicht als eige­ nes Wissen übernommen werden, ohne damit gleichzeitig den Determinis­ mus des laplaceschen Beobachterstandpunkts aufzuheben.283 Zwar kann ein Laplacescher Dämon genau wissen, wie ein Akteur sich entscheiden wird, aber der Handelnde selbst könnte dies niemals.284 Diese „Verneinung der Transferabilität“ der prognostischen Wissensbasis auf den Handelnden nennt MacKay das „philosophische Relativitätsprinzip“.285 Es darf nicht der Fehler begangen werden, anzunehmen, es bestünde ein Wissensdefizit des Akteurs im Vergleich zum allwissenden Beobachter. Denn auch was der Beobachter über das zukünftige Verhalten des beobach­ teten Akteurs weiß, kann von diesem nicht gewusst werden, ohne dass der Status dieser Information als Wissen im Augenblick der Mitteilung verloren ginge.286 Es gibt zwei epistemisch eigenständige Perspektiven der ersten und der dritten Person auf ein und dieselbe Situation. Es ist Merkel zuzu­ stimmen, dass beide Perspektiven für denjenigen, der sie einnimmt, keine Wissenslücke lassen. Keine Perspektive kann beanspruchen, allein die „wahre“ Sicht auf die Dinge zu ermöglichen. Jede Perspektive ist für sich wahr und vollständig.287 279  MacKay,

Freiheit 1988, S. 311. Indeterminismus 2006, S. 86; Guckes, Freiheit 2003, S. 27; Planck, Wesen 1990 (1936), S. 157; Pothast, Einleitung 1988, S. 23. 281  Guckes, Freiheit 2003, S. 27. 282  Planck, Wesen 1990 (1936), S. 157; Walter, Neurophilosophie 1999, S. 91. 283  Merkel, Handlungsfreiheit 2005, S. 462. 284  Ebd., S.  462 f. 285  Donald MacKay spricht vom „philosophical Principle of Relativity“: On the Logical Indeterminacy of a Free Choice, in: Mind, XIX (1960), S. 39; Merkel, Wil­ lensfreiheit 2008, S. 119 ff. 286  Merkel, Handlungsfreiheit 2005, S. 463. 280  Fink,



V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus191

Aus der subjektiven Ersten-Person-Perspektive bleibt es also dabei, dass die Zukunft als offen angesehen werden muss, da es nicht möglich ist, ei­ gene zukünftige Entscheidungen prädiktiv im Voraus bestimmen zu kön­ nen.288 Für einen Beobachter muss hingegen gefordert werden, dass er selbst nicht Teil desjenigen Systems ist, dessen zukünftiger Zustand prog­ nostiziert werden soll. Die Beobachtung müsste völlig unabhängig vom beobachteten Untersuchungsobjekt durchgeführt werden, um eine Beeinflus­ sung des beobachteten Systems auszuschließen.289 Wie bedeutsam diese Überlegung für eine Freiheitstheorie ist, wird im nächsten Abschnitt deut­ lich. 3. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus auf personaler Ebene Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Reflexionen über das Verhältnis eines allwissenden Beobachters zum beobachteten Subjekt für eine Freiheitstheorie, die den konkreten Menschen betrifft? Max Planck zeigt, dass jede Voraussage aus dem Inneren eines „Systems“ dessen Zu­ stand dergestalt verändert, dass sich die Ausgangsdaten für eine eigene Verhaltensprognose im Augenblick ihrer Durchführung so ändern, dass sie nicht mehr zutreffen.290 Durch eine Prädiktion mit dem Ziel, die eigenen zukünftigen Entscheidungen und Handlungen vorauszubestimmen, werden auf der Wissensebene jene Voraussetzungen geändert, die Bestandteil der Prognose hinsichtlich eigener Entscheidungen gewesen wären, da den ana­ lysierten Ausgangsdaten sukzessive die noch zu analysierenden Ergebnisse dieser Analyse als neue Daten hinzugefügt werden.291 Die Grundlage, auf der die prädiktive Selbstanalyse erfolgen soll, wird so immer wieder neu verändert.292 Weil sich dieser Vorgang auch durch Wiederholung strukturell nicht ändert, können nie alle Determinanten eigener Entscheidungen im Voraus gekannt und bestimmt werden, was jedoch die Voraussetzung für einen prädiktiven, also auch in die Zukunft gerichteten Determinismus wä­ re.293 Die Eigenanalyse auf determinierende Faktoren zukünftiger Entschei­ dungen hin fällt immer zusammen mit der Entscheidungsfindung selbst. Diese beiden Momente lassen sich nicht trennen, wenn man das eigene 287  Merkel,

Handlungsfreiheit 2005, S. 463. Freiheit 1988, S. 312. 289  Koch, Kausalität 1994, S. 92. 290  Fink, Indeterminismus 2006, S. 86. 291  Koch, Kausalität 1994, S. 92. 292  Planck, Determinismus 1990 (1938), S. 197 f.; ders., Gesetzmäßigkeit 1949, S. 93; Pothast, Notiz Indeterminismus 1988, S. 269. 293  Koch, Kausalität 1994, S. 92. 288  MacKay,

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E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

zukünftige Verhalten prädiktiv im Voraus bestimmen möchte.294 Heiner Hastedt spricht hier von einer Doppelstruktur der Selbsterkenntnis, die da­ durch charakterisiert ist, dass das Selbst zugleich Erkennendes wie Erkann­ tes ist.295 Jeder Versuch, eine eigene Handlung vorauszusagen, muss an dieser Identität von Erkennendem und Erkanntem scheitern.296 Das Subjekt selbst kann nie sicher wissen, wie es selbst in Zukunft entscheiden wird.297 Aus der Tatsache, dass Personen ihre eigenen Entscheidungen im Voraus nicht prädiktiv bestimmen können, leitet der Erkenntnistheoretische Indeter­ minismus mit Blick auf den Faktor der Zeit das entscheidende Kriterium für Freiheit ab:298 „Die Ereignisse der Zukunft können wir nicht aus den ge­ genwärtigen erschließen. […] (5.1361) Die Willensfreiheit besteht darin, daß zukünftige Handlungen jetzt nicht gewußt werden können. (5.1362)“299 Der Erkenntnistheoretische Indeterminismus knüpft hier an Überlegungen des Modallogischen Indeterminismus an. Die Grundthese besagt, dass Aus­ sagen, die sich auf Zukünftiges beziehen, grundlegend von Konstatierungen zu unterscheiden sind. Zukünftige Ereignisse sind in den meisten Fällen als bloße Möglichkeiten zu behandeln. Nur in der Retrospektive ist man mit der Faktizität des Geschehenen konfrontiert. Vor dem Eintreten eines Gesche­ hens sind prinzipiell sowohl das Eintreten wie das Nichteintreten des Ereig­ nisses möglich.300 Ob eine Entscheidung als frei oder determiniert gelten kann, wird also nicht definiert durch eine allgemeine Struktur, die alle Vorgänge prinzipiell kennzeichnet, sondern von der zeitlichen Perspektive, in welcher etwas in den Blick genommen wird. Die Freiheit von Entschei­ dungen ist an den Zeitpunkt der Erkenntnis gebunden.301 Der Erkenntnisthe­ oretische Indeterminismus Plancks und MacKays unterscheidet sich von früheren Spielarten dieses Ansatzes darin, dass nicht mehr behauptet wird, menschliches Verhalten sei grundsätzlich nicht voraussagbar. Die Unmög­ lichkeit einer Prädiktion wird nur noch an die erstperspektivische Selbstpro­ gnose geknüpft. Diese Ansicht hat sich unter dem Eindruck durchgesetzt, dass die empirischen Humanwissenschaften heute dazu in der Lage sind, bestimmte Verhaltensweisen des Menschen allein aufgrund empirischer Da­ ten vorauszusagen.302

294  Planck,

Determinismus 1990 (1938), S. 197 f. Leib-Seele-Problem 1989, S. 226. 296  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 177. 297  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 264. 298  Planck, Kausalität 1949, S. 267. 299  Wittgenstein, Tractatus 1984 (1922), S. 48. 300  Stekeler-Weithofer, Determinismus / Indeterminismus 1999, S. 231. 301  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 203. 302  Ders., Einleitung 1988, S. 21. 295  Hastedt,



V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus193

Nur wenn es jemandem möglich wäre, eigene zukünftige Entscheidungen sicher zu prognostizieren, läge keine Freiheit vor.303 Freiheit in der je ei­ genen Ersten-Person-Perspektive wird so lang gegeben sein, bis eine voll­ ständige und sichere Prognose zukünftiger Entscheidungen aus der subjek­ tiven Innenperspektive heraus möglich ist. Soweit zu sehen ist, wird es dazu nicht kommen können, da eine vollständig zutreffende Voraussage der Zukunft in der Ersten-Person-Perspektive nicht möglich sein wird.304 Weil uns aus der subjektiven Ersten-Person-Perspektive die Einnahme der exter­ nen Allperspektive des „Laplaceschen Dämons“ grundsätzlich verwehrt ist, sind unsere Prognosemöglichkeiten jederzeit begrenzt: Es lassen sich immer nur approximative (annähernde) oder probabilistische (wahrscheinliche) Prognosen aufstellen.305 Hampshire führt hierzu aus, dass man immer über die Gründe für ein bestimmtes Verhalten reflektieren müsse, um eine eigene Handlung prognostizieren zu können. Diese Reflexion über die Verhaltens­ gründe ist aber nicht zu trennen von dem regulären Deliberationsprozess, dem normalen Abwägen von Gründen, wenn eine zukünftige Entscheidung ansteht.306 Das Denken in mehreren möglichen Alternativen ist in der Ersten-Person-Perspektive mit konstitutiv für den Eindruck, Entscheidungen bewusst treffen zu können.307 In diesem Sinne ist in dem Bemühen um eine Prognose des eigenen Verhaltens immer auch schon der Versuch einer Ent­ scheidungsfindung mit inbegriffen. Niemand kann seine eigenen Entschei­ dungen voraussagen, ohne sie zugleich denkend vorwegzunehmen,308 womit Hampshire die Konstellation des mackayschen Zugbeispiels auf das Subjekt überträgt: Die Entscheidung wird „vorgezogen“, die Grundlage der prognos­ tizierten Entscheidung damit aber zugleich verändert:

303  Planck,

Gesetzlichkeit 1949, S. 196. Willensfreiheit 2006, S. 204. 305  Klein, Anschläge 2004, S. 189. Tichy merkt an, dass es durchaus möglich sei, hypothetische Prognosen über eigene Entscheidungen zu treffen. Er sieht darin ein Argument gegen den Erkenntnistheoretischen Indeterminismus (Tichy, Selbstver­ ständnis 1985, S. 413). Allerdings behauptet der Erkenntnistheoretische Indetermi­ nismus nicht, dass überhaupt keine Voraussagen über eigenes zukünftiges Verhalten möglich sind. Er weist lediglich darauf hin, dass jeder Versuch einer solchen Selbst­ prognose die Grundlage verändert, auf der die Prognose erstellt wurde. Hieraus leitet sich nicht die Aussichtslosigkeit jeglicher Selbstprognose, sondern die Unmög­ lichkeit einer determinativen, absolut sicheren Prognose ab, mit der ein Prädiktiver Determinismus einherginge. Wenn aber Determinismus im Sinne einer solchen strengen Voraussagbarkeit verstanden wird, ist die Zukunft aus der Ersten-PersonPerspektive epistemisch nicht determiniert, sondern offen. 306  Hampshire, Thought 1982, S. 130; Pothast, Notiz Einsicht 1988, S. 416. 307  Fink, Indeterminismus 2006, S. 86. 308  Hampshire, Thought 1982, S. 130; Pothast, Notiz Einsicht 1988, S. 416. 304  Walde,

194

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

„I have so far suggested that there is a necessary regress in self-consciousness. Every influence bearing upon me is added to the factors in the situation confront­ ing me, as soon as I become aware of the fact of the influence. The mere knowl­ edge, and the identification of, the influence is enough to turn it into an objective factor in the situation confronting me.“309

Der Versuch einer sicheren Prognose eigener Handlungen führt zum „Vorziehen“ von Entscheidungen und lässt bei der handelnden Person den Eindruck entstehen, dass das zukünftige Geschehen nicht unabhängig von den eigenen Entscheidungen ablaufen kann:310 „Wollte S aber sagen, es kennt ‚jetzt‘ seine Handlungsbedingungen vollständig für einen bestimmten zukünftigen, u. U. sehr nahe an der Gegenwart liegenden ‚Zeit­ punkt‘, so müßte es entweder behaupten, daß es sich ‚jetzt‘ für den zukünftigen ‚Zeitpunkt‘ aus den und nur den Gründen schon entschieden hat – das geht aber aus Gründen der Unvollständigkeit der Selbstobjektivation nicht –, oder es müßte beanspruchen, daß die erst in der Zukunft getroffene Entscheidung streng und eindeutig vorhersagbar ist – und das geht auch nicht; wollte S aber behaupten, die Vorhersage dieser in der Zukunft zu treffenden Entscheidung sei deshalb möglich, weil ‚jetzt‘ schon alle von ihm als maßgeblich erachteten und entscheidungsbe­ stimmenden Gründe feststehen, dann würde S wiederum stillschweigend ‚jetzt‘ die prinzipiell unmögliche vollständige Kenntnis seiner selbst beanspruchen.“311

Eine agierende Person kann der Entscheidungsposition durch die Voraus­ sage nicht „entfliehen“. Sie kommt nicht umhin, selbst zu entscheiden, ohne hierbei zuvor bereits selbst prädiktiv bestimmen zu können, wie sie sich entscheiden wird.312 Aufgrund der Nicht-Berechenbarkeit von Bewusstseins­ phänomenen können Entscheidungen nie vorausgesagt, sondern lediglich getroffen werden.313 Der Bereich aber, der nicht im Voraus prädiktiv be­ stimmt werden kann, markiert den „Raum der Freiheit“.314 Die Möglichkeit einer analysierend verfahrenden Untersuchung der Entscheidungsgenese ist nach Planck bei der Beurteilung anderer Personen aus der Dritten-PersonPerspektive durchaus gegeben. Für die eigene Person ist es hingegen nur dann möglich, Entscheidungsursachen zu identifizieren, wenn diese „fertig abgeschlossen“ in der Vergangenheit liegen, nicht mit Blick auf Gegenwart und Zukunft. Planck bringt somit für die Analyse von Vergangenem Kants Methodischen Determinismus zur Geltung.315 Denn für vergangenes eigenes Verhalten gelten andere Erkenntnisprozesse als für gegenwärtige oder zu­ 309  Hampshire,

Thought 1982, S. 181. Selbstverständnis 1985, S. 411. 311  Wetzel, Philosophie 1993, S. 143. 312  Tichy, Selbstverständnis 1985, S. 411. 313  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S.  388; Walter, Neurophilosophie 1999, S. 91; Wildfeuer, Determinismus 1998, S. 474. 314  Planck, Kausalität 1949, S. 267. 315  Ders., Gesetzmäßigkeit 1949, S. 93. 310  Tichy,



V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus195

künftige Entscheidungen. Für den Akteur ist es durchaus möglich, die eige­ nen bereits vollzogenen und endgültig abgeschlossenen Verhaltensweisen nachträglich postdiktiv zu bestimmen.316 Dass abgeschlossenes Verhalten in der Retrospektive aus der bestehenden Situation heraus regelhaft erklärt werden kann wie andere Ereignisse in Natur und Gesellschaft auch, steht nicht im Widerspruch zu der prinzipiellen Unmöglichkeit einer sicheren prädiktiven Entscheidungsprognose vom präsent-prospektiven Standpunkt aus.317 a) Die intrapersonale Differenzierung in Beobachter und Beobachtetes Vor dem Hintergrund seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen führt Max Planck ein personales Modell ein, das intrasubjektiv zwischen einem erkennenden und einem wollenden Ich differenziert. Das erkennende Ich übernimmt die Funktion des Beobachters, dem wollenden Ich fällt zum Teil (nämlich aus der Perspektive des Beobachters) die Rolle des Beobachteten zu. Der Unterschied wird deutlich, wenn die beobachtete Entscheidung ent­ weder der Vergangenheit oder der Zukunft angehört. In dem Fall, dass die Entscheidung bereits getroffen wurde, trifft die Bedingung der Passivität des Beobachters, der nicht in das Geschehen eingreift, ohne Weiteres zu. Eine Beeinflussung durch das erkennende Ich ist in diesem Fall natürlich ausge­ schlossen. Frühere Entscheidungen liegen, wie alle vergangenen Ereignisse, abgeschlossen und unveränderbar vor uns und können wie ein statisches „Objekt“ analysiert werden. Anders verhält es sich, wenn die Entscheidungen in Gegenwart und Zu­ kunft liegen, da die Bedingung der Passivität des Beobachters hier nicht mehr erfüllt ist. Für den Bereich je gegenwärtiger und zukünftiger Entschei­ dungen ist nach Planck die Trennung zwischen erkennendem und wollen­ dem Ich nicht möglich. Vielmehr werden dann das erkennende und das wollende Ich miteinander identisch und die zirkulären Abläufe des Wissens­ erwerbs mit Blick auf Gegenwart und Zukunft setzen ein.318 Die beiden intrasubjektiven Gesichtspunkte können nicht zum selben Zeitpunkt einge­ nommen werden.319 316  Planck, Kausalgesetz 1990 (1923), S. 116; Pothast, Notiz Indeterminismus 1988, S. 269; ders., Unzulänglichkeit 1980, S. 187. 317  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 14, 187. 318  Planck, Gesetzlichkeit 1949, S. 196; ders., Physik 1949, S. 297; ders., Wesen 1990 (1936), S. 159 f.; Pothast, Einleitung 1988, S. 22; Ritzenhoff, Freiheit 1999, S. 63; Spitzer, Gehirnforschung 2004, S. 295. 319  Planck, Scheinprobleme 1990 (1947), S. 223.

196

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

Plancks personales Modell stellt keine einfache Übertragung des Kon­ zepts der Perspektivendualität auf das Innere eines einzelnen Individuums dar. Vielmehr handelt es sich um eine Differenzierung zweier Standpunkte, dem erkennenden und dem wollenden Ich, die ihre Bestimmungen nicht nur „konstruktivistisch“ aus sich selbst heraus entwickeln, sondern, mit Blick auf das wollende Ich, jedenfalls teilweise von dem empfangen, das in den Blick genommen wird. Das erkennende Ich kann deshalb nur erkennend verfahren, weil das zu Beobachtende, vergangene Entscheidungen und ver­ gangenes Verhalten, unveränderbar und analysierbar vorliegt. Das „wollen­ de“ Ich kann seine eigenen Entscheidungen nur als frei ansehen, weil jeder Versuch einer sicheren prädiktiven Vorausbestimmung eigener Entscheidun­ gen zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist. Vom Standpunkt des wollenden Ichs aus bestimmt sich dessen Spezifik nicht allein vom Beobachteten her, sondern aufgrund der Verschränkung von Erkennendem und Erkanntem teilweise auch vom „aktiven“ Tun des Erkennenden in „erfolglosen“ Bestimmungsversuchen. Der Erkenntnisvor­ gang des wollenden Ichs ist also kein ausschließlich rezeptiver Akt, sondern stellt eine Rückkopplung zum Erkannten her, das wiederum durch den Erkenntnisakt verändert wird. Aufgrund dieser Verbindung muss der Mensch mit dem prädiktiven Aufweis eines kausalen Zusammenhangs immer dann scheitern, wenn ein zu großes Näheverhältnis zum Erkenntnisgegenstand vorliegt.320 Wo der Mensch es mit seinen eigenen zukünftigen Entscheidun­ gen zu tun hat, ist diese Nähe zum Gegenstand des Erkennens maximal: Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt vereinigen sich in einer Person.321 Hinsichtlich dieser Überlegungen Max Plancks kommt Michael Rosenber­ ger zu dem Ergebnis: „Mit einer strengen Analyse und Reflexion menschli­ chen Erkennens gelingt Max Planck der entscheidende Durchbruch in dem 2500 Jahre alten Streit von Determinismus und Willensfreiheit.“322 b) Epistemischer Prozess und phänomenales Erleben Der Münchner Strafrechtler Björn Burkhardt vertritt in der Freiheitsfrage einen ebenfalls perspektivischen Ansatz, der Ähnlichkeiten mit dem Er­ kenntnistheoretischen Indeterminismus aufweist, jedoch nicht an epistemi­ sche Bedingungen anknüpft, sondern an die phänomenale Freiheitserfahrung, die eine Zuschreibung von Schuld und Verantwortlichkeit ermögliche.323 Reinhard Merkel kritisiert an dieser Konzeption die Täuschbarkeit des erst­ 320  Rosenberger,

Determinismus 2006, S. 146. S. 147. 322  Ebd., S. 146. 323  Burkhardt, Freiheitsbewußtsein 1998, S. 3 ff. 321  Ebd.,



V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus197

perspektivischen, nicht epistemisch begründeten Freiheitsgefühls, das inso­ weit nicht für die Legitimierung der Verantwortungszuschreibung hinrei­ chend sei. Für die normative Begründung von Verantwortlichkeit reiche die Bezugnahme auf ein, wenn auch „unentrinnbares“ und „stabiles“, Freiheits­ gefühl nicht aus. Anders, so Merkel, verhalte es sich mit der Theorie des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus, die nicht auf eine „Freiheitsillusi­ on“ abstelle, sondern auf die epistemische324 Indeterminiertheit einer Per­ son vor einer bestimmten Entscheidung. Eine solche Entscheidung sei aus der Perspektive der ersten Person indeterminiert und leide auch an keinem Defekt der Unvollständigkeit. Vielmehr sei die Welt des Handelnden so, wie sie sich in dessen Erster-Person-Perspektive darstelle.325 In Wirklichkeit handelt es sich hierbei nicht um einander ausschließende Konzepte. Beide Vorschläge legen ihr Augenmerk lediglich auf einzelne Aspekte ein und desselben Zusammenhangs. Das Freiheitsgefühl entsteht als subjektives Phänomen wegen der vorgängigen epistemischen Prozesse. Aufgrund der Tatsache, dass Personen nie alle Faktoren überblicken können, die ihre Entschlüsse herbeiführen, kann sich der Mensch im Augenblick seiner Ent­ scheidung dem phänomenalen Eindruck des freien Handelns normalerweise nicht entziehen. Im Augenblick der Entscheidung ist der Blick des Men­ schen prospektiv in die Zukunft gerichtet. Er erlebt sich in diesem Moment gegenwärtig selbst als „erste Ursache“.326 Epistemische Unbestimmbarkeit führt zu einem stabilen Freiheitsgefühl.327 Beide Momente sollten zukünf­ tig als zwei Stufen desselben Vorgangs aufgefasst und unter der Überschrift des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus subsumiert werden. c) Subjektives Freiheitserlebnis Freiheit ist eine allein im geistigen Präsens erlebte Wirklichkeit. Im fort­ laufenden Kontinuum seiner je gegenwärtigen präsent-prospektiven Ent­ scheidungen, gleichgültig, ob sekundenkurz oder monatelang, erlebt sich der Mensch selbst als frei in der Wahl der sich ihm in seiner Ersten-PersonPerspektive darbietenden Handlungsalternativen:328 „Es gehört also zur alltäglichen subjektiven Empirie menschlichen Verhaltens, dieses aktuell und prospektiv als ein freies, als ein ‚Willkür‘-Handeln zu erleben […].“329 324  Merkel

325  Merkel,

spricht von „logischer Unbestimmtheit“. Handlungsfreiheit 2005, S.  464; ders., Handlungsfreiheit 2006,

S. 189. 326  Tiemeyer, Indeterminismus 1993, S. 506; Walkowiak, Wille 2006, S. 49. 327  Tiemeyer, Indeterminismus 1993, S. 510. 328  Haddenbrock, Komplementarität 1996, S.  51; ders., Schuldprinzip 2003, S. 524; ders., Versuch 1995, S. 638 ff. 329  Ders., Schuldfähigkeit 1992, S. 87.

198

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

Insofern ist im Hinblick auf den zeitlichen Aspekt das menschliche Be­ wusstsein kontinuierlich prospektiv „nach vorn“ in die Zukunft gerichtet.330 Personen haben aus der Perspektive der ersten Person zwangsläufig den Eindruck, dass sie selbst es sind, die neue Kausalreihen beginnen kön­ nen.331 Für das alltägliche Selbstverständnis gilt somit, dass Menschen sich nicht als frei erleben, weil sie frei sind, sondern dass sie umgekehrt frei „sind“, weil sie sich selbst als frei erleben. Insofern kann man sagen, dass Menschen auch das sind, wofür sie sich selbst halten.332 Dieses erstpers­ pektivische Freiheitserlebnis ist zwar streng zu unterscheiden von der Be­ hauptung, wir verfügten über „tatsächliche“ Freiheit auch in metaphysischer Hinsicht,333 andererseits steht fest, dass Menschen Freiheit so umfassend erleben, als träfe Freiheit auch auf metaphysischer Ebene „an sich“ zu:334 „Wir haben tatsächlich alle das unmittelbare Gefühl unsrer freien Spontane­ ität, sei dieses nun etwas der Wirklichkeit Entsprechendes oder etwas Illu­ sorisches […].“335 „Der Nachweis des den Willensvorgängen innewohnenden Freiheitserlebnisses ist aber leicht zu erbringen. Man kann ja den Erlebnisinhalt des Wollens zum Unter­ schiede von demjenigen des seelischen Müssens, des Triebes, gar nicht anders kennzeichnen als durch das in dem ersteren enthaltene Freiheitserlebnis. Dies Freiheitserlebnis genauer zu beschreiben ist unmöglich, man kann es nur durch andere Ausdrücke umschreiben: Subjekterlebnis, Ich-Erlebnis.“336

Freiheit ist für den Erkenntnistheoretischen Indeterminismus auf phänome­ naler Ebene ein innerlicher Zustand des Gemüts.337 In der Ersten-PersonPerspektive haben wir den Eindruck, als könnten wir mittels unseres bewuss­ ten Willens beliebig über unsere Entscheidungen und Handlungen verfü­ 330  Haddenbrock,

Versuch 1995, S. 639 f. Kant 1979, S. 79; Walde, Willensfreiheit 2006, S. 26. 332  Burkhardt, Thesen 2006, S. 88. 333  Lenk, Begriffe 1986, S. 195; Walde, Willensfreiheit 2006, S. 26. 334  Walde, Willensfreiheit 2006, S. 121. 335  Bergson, Zeit 1994, S. 107. Personen erleben sich selbst in ihren bewusst getroffenen Entscheidungen, in den Gründen, die sie für plausibel halten und in ihren Abwägungen, die sie vornehmen, als die Urheber ihrer Handlungen. Neben Studien zu unbewussten Abläufen, die zu bewusst wahrgenommenen Handlungen führen, beschäftigt sich auch eine Reihe von empirischen Untersuchen mit der Ent­ stehung und der kausalen Rolle des Gefühls der Urheberschaft. Diese Studien legen nahe, dass der subjektive Eindruck der Urheberschaft auf eine nachträgliche Kausal­ attribution zurückzuführen ist und aus wissenschaftlicher Sicht keineswegs die tat­ sächlichen Kausalverläufe der Initiierung von Entscheidungen und Handlungen wi­ derspiegelt (Walde, Willensfreiheit II 2006, S. 110 f.). Es ist völlig klar, dass Freiheit als subjektives Phänomen in der Intensität ihrer „Bewusstheit“ ein durchaus verän­ derliches mentales Erleben ist (Haddenbrock, Komplementarität 1996, S. 51). 336  Radbruch, Rechtsphilosophie II 1993 (1932), S. 77. 337  Mohr, Determinismus / Indeterminismus 1999, S. 239. 331  Gerhardt / Kaulbach,



V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus199

gen.338 Für die Entstehung des subjektiven Freiheitsgefühls ist der Eindruck der bewussten Selbststeuerbarkeit entscheidend: „Dieses Bewußtsein mehre­ rer echter Verhaltensalternativen wird von mir deutlich erlebt […].“339 4. Vereinbarkeiten des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus • Vereinbarkeit mit dem Methodischen Determinismus Entgegenzutreten ist der Auffassung, die prinzipielle Nichtvorhersagbar­ keit eigener zukünftiger Entscheidungen impliziere einen Indeterminismus, der jegliche Form des Determinismus unmöglich mache. Vielmehr ist der Erkenntnistheoretische Indeterminismus lediglich mit einem Prädiktiven (also auf die Zukunft gerichteten) Determinismus als Variante des Erkennt­ nistheoretischen Determinismus unvereinbar, dagegen völlig kompatibel mit einem Methodischen bzw. Postdiktiven Determinismus als zweiter Variante des Erkenntnistheoretischen Determinismus:340 „Beide fahren übrigens in diesem Kartell denkbar gut, denn sie decken so mit einem Minimum an Dogmatismus ein Maximum an ‚Fällen‘ ab, ohne einander zu widersprechen: Der aus dem Nichtwissen resultierende Indeterminismus ist ledig­ lich eine Folge der Unmöglichkeit der sicheren Prognose der Zukunft, während der Determinismus dann umgekehrt allein daran aufgehängt wird, daß der erken­ nende Bezug auf die Vergangenheit nicht anders als nach dem Muster der kausa­ len Erklärung vonstatten gehen kann.“341

Da das individuelle Freiheitsbewusstsein in der Perspektive der ersten Person völlig vereinbar ist mit dem Determinismus der Dritten-PersonPerspektive,342 gerät das Selbstverständnis einer Person im Ansatz des Er­ kenntnistheoretischen Indeterminismus auch nicht in Konflikt mit wissen­ schaftlichen Erklärungen, sofern hier Freiheit im Sinne einer Unmöglichkeit zu prädiktiver Bestimmbarkeit eigener zukünftiger Entscheidungen und Handlungen verstanden wird.343 338  Pauen / Roth,

Freiheit 2008, S. 130. S. 131. 340  Walter, Neurophilosophie 1999, S. 90. 341  Wetzel, Philosophie 1993, Fn. 33. Fälschlicherweise spricht Wetzel hier von der Vereinbarkeit des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus mit dem Metaphysi­ schen Determinismus, obwohl doch mit der Formulierung der „kausalen Erklärung“ erkennbar der Methodische Determinismus in Anlehnung an Kant gemeint ist, der in Kombination mit dem Epistemischen Indeterminismus dann allerdings genau jene Vorzüge für sich in Anspruch nehmen kann, die Wetzel dem „Kartell Ontischer De­ terminismus & Epistemischer Indeterminismus“ zugesteht: „mit einem Minimum an Dogmatismus ein Maximum an ‚Fällen‘ (abzudecken)“. 342  Merkel, Handlungsfreiheit 2006, S. 190; Planck, Gesetzmäßigkeit 1949, S. 93. 343  Tichy, Selbstverständnis 1985, S. 412. 339  Ebd.,

200

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

• Vereinbarkeit mit dem Metaphysischen Determinismus Mit der in dieser Arbeit vorgestellten perspektivisch-erkenntnistheoreti­ schen Konzeption ist die Auffassung verknüpft, dass die Frage nach der „Existenz“ personaler Freiheit nicht metaphysisch und subjektunabhängig beantwortet werden kann. Dennoch bedarf es des Hinweises, dass die The­ orie des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus, herausgelöst aus dem hier vertretenen umfassenden perspektivischen Grundlagenmodell, auch mit einem Metaphysischen Determinismus vereinbar wäre. Der Erkenntnistheo­ retische Indeterminismus beschreibt die Person in einer permanenten „Alsob-Situation“: Man entwirft seine eigenen Handlungen und trifft seine eige­ nen Entscheidungen immer so, als ob man auch in metaphysischer Hinsicht frei wäre, selbst wenn man es de facto (was „an sich“ nicht aufklärbar ist) nicht sein sollte. Die Möglichkeit des Anderskönnens muss keineswegs „tatsächlich“ vorhanden sein, vielmehr genügt es, dass wir unsere eigenen Entscheidungen so ansehen, als verfügten wir über tatsächliche Wahlmög­ lichkeiten.344 „Daher also scheint es dem erkennenden Bewußtseyn (Intellekt), daß, in einem vorliegenden Fall, dem Willen zwei entgegengesetzte Entscheidungen gleich mög­ lich wären. Hiermit aber verhält es sich gerade so, wie wenn man, bei einer senkrecht stehenden, aus dem Gleichgewicht ins Schwanken gerathenen Stange, sagt ‚sie kann nach der rechten, oder nach der linken Seite umschlagen‘, welches ‚kann‘ doch nur eine subjektive Bedeutung hat und eigentlich besagt ‚hinsichtlich der uns bekannten Data‘: denn objektiv ist die Richtung des Falls schon nothwen­ dig bestimmt, sobald das Schwanken eintritt. So demnach ist auch die Entschei­ dung des eigenen Willens bloß für seinen Zuschauer, den eigenen Intellekt, inde­ terminirt, mithin nur relativ und subjektiv, nämlich für das Subjekt des Erkennens; hingegen an sich selbst und objektiv ist, bei jeder dargelegten Wahl, die Entschei­ dung sogleich determinirt und nothwendig.“345

Selbst eine metaphysische Determination unserer Entscheidungen und Handlungen änderte nicht das Geringste am Prinzip der epistemischen Of­ fenheit aus der Ersten-Person-Perspektive des Akteurs selbst.346 Durch die Position des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus wird nicht schon per se die Möglichkeit ausgeschlossen, dass es in der Welt in ontologischer Hinsicht deterministisch zugeht.347 Der Ansatz des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus (ohne perspektivische Rahmentheorie) gesteht zu, dass menschliches Verhalten auch metaphysisch determiniert sein könnte, betont 344  Klein,

Anschläge 2004, S. 189 f. Welt 1977 (1844), S. 366. 346  Grundmann, Determinismus 2001, S.  13  f.; Guckes, Freiheit 2003, S. 27; Spilgies, Bedeutung 2004, S. 40. 347  Klein, Anschläge 2004, S. 190; Walter, Neurophilosophie 1999, S. 226. 345  Schopenhauer,



V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus201

jedoch gleichzeitig, dass die handelnden Personen die Verursachung ihrer zukünftigen Entscheidungen durch Determinanten nicht erkennen können.348 Da sich der Erkenntnistheoretische Indeterminismus metaphysisch neutral verhält, ist er eben auch mit dem Metaphysischen Determinismus vereinbar. Die erkenntnistheoretische Ebene wird durch den Metaphysischen Determi­ nismus nicht berührt.349 Der Erkenntnistheoretische Indeterminismus ist aber auch mit bereichsspezifischen Determinismen vereinbar, die z. B. aus der neurobiologischen Forschung abgeleitet werden. Denn selbst wenn die bewusste Entscheidung lediglich ein neuronales „Nachfolgeprodukt“ im Sinne eines Epiphänomens wäre und es der Hirnforschung irgendwann ge­ länge, jegliches Verhalten einer Person aus der analysierenden Dritten-Per­ son-Perspektive genau vorherzubestimmen, hätte dies keinerlei Einfluss auf die epistemische Indeterminiertheit der eigenen Entscheidung in der Pers­ pektive der ersten Person:350 „Subjektive Willensfreiheit ist daher völlig vereinbar mit der Nichtexistenz objektiver Willensfreiheit.“351 5. Abwehr des Fatalismus Eine Person ist der Überzeugung, dass sie auch anders entscheiden und handeln kann, sodass sie der Meinung ist, das künftige Geschehen hänge zumindest teilweise auch von ihr ab.352 Die Gegenthese drückt sich in der fatalistischen Haltung aus, dass eigenes Abwägen, Entscheiden und Tun für die Zukunft irrelevant ist, da ohnehin alles bereits durch Determination feststeht.353 Angesichts dieser Herausforderung stellt sich die Frage, ob der Erkenntnistheoretische Indeterminismus allein bereits hinreichend ist, eine fatalistische Haltung entkräften zu können: „Teilt eine Person beispielsweise die Überzeugung, ohnehin keine Wahl zu haben (da alles festgelegt ist), so wird sie auch keine (bewussten) Abwägungsprozesse mehr anstellen, um herauszufinden, welche von mehreren Alternativen gewählt werden sollte. Dies wird in der Folge dazu führen, dass solche Personen tatsäch­ lich nicht mehr die für sie bestmöglichen Entscheidungen treffen oder in neuarti­ gen Situationen gar keine angemessenen Entscheidungen treffen können. Der Grund dafür liegt darin, dass sie aufhören, die Folgen verschiedener Entschei­ dungs- und Handlungsmöglichkeiten zu antizipieren und gegeneinander abzuwä­ gen – teilt man die Überzeugung, dass die zu treffende Entscheidung ohnehin 348  Pothast, 349  Walde,

Einleitung 1988, S. 21. Willensfreiheit 2006, S. 222 f.; Walter, Neurophilosophie 1999, S. 90,

Fn. 71. 350  Klein, Anschläge 2004, S. 190; Spitzer, Gehirnforschung 2004, S. 301. 351  Roth, Willensfreiheit 2007, S. 179. 352  Walde, Willensfreiheit 2006, S. 223 f. 353  Pothast, Einleitung 1988, S. 23; Walde, Willensfreiheit 2006, S. 221 f.

202

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

feststeht und dass man keine Alternativen hat, so macht man sich auch keine Gedanken über die Folgen der ohnehin nicht verfügbaren Alternativen. Solche Personen, also Personen, die dieser Theorie über Personen anhängen, werden womöglich auch aufhören, neue, für bestimmte Entscheidungen relevante Infor­ mationen zu sammeln, um eine Entscheidungsgrundlage zu verbessern. Denn Entscheidungen wären ja gerade nicht mehr zu treffen, wenn man der Theorie anhängt, nie zwischen alternativen Möglichkeiten wählen zu können, da alles determiniert sei.“354

Die Ausführungen stehen für die Auffassung, dass eine fatalistische Ein­ stellung möglich ist, wenn eine Person den Determinismus für wahr hält und dass aus einer solchen Überzeugung von der determinierten Bedingtheit eigenen Handelns tatsächlich negative Konsequenzen für die Flexibilität und das Selbstbild des Individuums entstehen. Solche Bedenken können durch den Erkenntnistheoretischen Indeterminismus allerdings zerstreut werden: Denn ganz unabhängig von der Frage des persönlichen Für-wahrHaltens des Metaphysischen Determinismus kommt man vor dem Hinter­ grund der epistemischen Offenheit gleichwohl nicht umhin, eigenes künfti­ ges Verhalten unter der Prämisse einer prädiktiv unbestimmbaren Zukunft zu konzipieren. Diese Bedingung ist dafür hinreichend, selbst gefasste Entscheidungen und Handlungen als frei ansehen zu können, gleichviel, ob menschliches Verhalten auch in metaphysischer Hinsicht frei ist. Das Zutreffen des Metaphysischen Determinismus kann für jeden präsentprospektiv Entscheidenden und Handelnden getrost dahingestellt bleiben.355 Metaphysische Überzeugungen hinsichtlich der Existenz der Willensfreiheit sind irrelevant für die epistemische Freiheit der ersten Person. Selbst die Überzeugung von der Determiniertheit des eigenen Verhaltens kann als solche nicht zum Fatalismus führen.356 Auch ein Fatalist, der an einen me­ taphysischen Universaldeterminismus glaubt und davon ausgeht, dass alles im Voraus festgelegt ist, kommt aufgrund der Unbestimmtheit der Zukunft dennoch nicht umhin, seine eigenen Entscheidungen und Handlungen als frei anzusehen. Er könnte nicht mit Verweis auf den unabänderlichen Welt­ verlauf einfach „aufhören“, sich zu entscheiden, da er aus seiner ErstenPerson-Perspektive zu einer Zukunftsprognose eigenen Verhaltens nicht fä­ hig ist.357 Am Ende sind wir alle dazu „verurteilt“, immer entscheiden zu müssen: „Aus zwingenden Gründen der Erkenntnissituation, in der wir uns gegenüber möglichen eigenen Handlungen in der Zukunft immer befinden, können wir unse­ 354  Walde,

Willensfreiheit II 2006, S. 109 f. Probleme 1993, S. 109. 356  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 34 f. 357  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 193 f. 355  Pothast,



V. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus203 ren Entscheidungen niemals bloß zuschauen; wir sind genötigt, unsere Entschei­ dungen zu treffen.“358

Die epistemische Indeterminiertheit unseres zukünftigen Verhaltens be­ dingt das phänomenale Erleben des Freiheitsgefühls und verhindert, dass eine fatalistische Einstellung zu einem „Nicht-Entscheiden“ führen kann.359 Aus der Perspektive der dritten Person betrachtet mag die Welt vollständig determiniert erscheinen, für den je gegenwärtig Handelnden kann sie es aus der Ersten-Person-Perspektive nicht sein.360 Somit besteht eine der Leistun­ gen des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus in der Abwehr eines Fata­ lismus, der aus der Annahme eines metaphysischen Universaldeterminismus resultieren könnte:361 „Ein Fatalismus, der sich auf die Annahme der Fremdbestimmtheit […] beruft, ist logisch nicht haltbar.“362 6. Abgrenzung des Erkenntnistheoretischen vom Metaphysischen Indeterminismus Die These des Metaphysischen Indeterminismus besagt, dass es bei freien Handlungen tatsächlich keine vorausliegenden Umstände gibt, welche die Handlung determinieren könnten.363 Wenn Ludwig Wittgenstein im „Tracta­ tus logico-philosophicus“ schreibt: „Die Willensfreiheit besteht darin, daß zukünftige Handlungen jetzt nicht gewußt werden können. (5.1362)“,364 dann ist aber mit „Freiheit“ ganz offensichtlich kein metaphysischer Sach­ verhalt gemeint, also die „tatsächliche“ Abwesenheit determinierender Fak­ toren, sondern ein Aspekt des Wissenserwerbs.365 Aus dem Erkenntnistheo­ retischen Indeterminismus folgt keineswegs, dass alternative Handlungs­ möglichkeiten auch in einem ontologischen Sinne bestehen.366 Bei der Be­ gründung subjektiver Freiheit werden metaphysische Erwägungen vielmehr ausgeklammert.367 Nach Auffassung von Keil ist der Erkenntnistheoretische Indeterminismus deshalb eine kompatibilistische Position, da die Unmög­ lichkeit einer sicheren Prognose keine Aussage darüber enthält, ob eine Entscheidung auch „objektiv“ frei ist. Freiheit ist dem Erkenntnistheoreti­ 358  Pothast,

Probleme 1993, S. 109. Einleitung 1988, S. 23. 360  Merkel, Handlungsfreiheit 2006, S. 189. 361  Pothast, Probleme 1993, S. 109; Rosenberger, Determinismus 2006, S. 264. 362  Spitzer, Gehirnforschung 2004, S. 304. 363  Pothast, Einleitung 1988, S. 21. 364  Wittgenstein, Tractatus 1984 (1922), S. 48. 365  Pothast, Probleme 1993, S. 107. 366  Walde, Willensfreiheit 2006, S. 179, 185. 367  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 43. 359  Ders.,

204

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

schen Indeterminismus zufolge keine Tatsachenfrage (ob es Freiheit wirklich „gibt“), sondern eine Frage der Perspektive, die man auf menschliche Ent­ scheidungen oder Handlungen einnimmt. „Harte“ Indeterministen bzw. „Libertarier“ halten die Willensfreiheit dagegen für eine robuste Tatsache im ontologischen Sinne, die nicht auf einer vorgängigen Unterscheidung ver­ schiedener Perspektiven beruht. Libertarier lehnen es im Unterschied zu Vertretern des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus ab, Freiheit nur in der Ersten-Person-Perspektive zuzulassen. Der Freiheitsbegriff der Liberta­ rier muss vom Standpunkt des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus im Gegenzug als metaphysisch kritisiert werden.368 Mit Blick auf ein Verständ­ nis, das Freiheit in der Fähigkeit zur rationalen Selbststeuerung realisiert sieht, lässt sich feststellen, dass eine Entscheidung, die auf epistemischer Ebene der Person erstperspektivisch als frei erscheint, noch keine Aussage darüber enthält, ob in ontischer Hinsicht auch „tatsächlich“ (rational) steu­ ernd und kausal in den Weltverlauf eingegriffen werden kann.369

VI. Die Gleichberechtigung der Perspektiven der ersten und der dritten Person in der Freiheitsfrage Der epistemisch bedingte Eindruck der bewussten Selbststeuerbarkeit in der Ersten-Person-Perspektive kollidiert mit wissenschaftlichen Erkenntnis­ sen, die in der Dritten-Person-Perspektive generiert werden.370 Die neuro­ wissenschaftliche Skepsis am Freiheitseindruck in der Ersten-Person-Pers­ pektive wird gestützt von empirischen Studien, die zeigen, dass sich Indivi­ duen in ihren Entscheidungen und Handlungen zwar als „frei“ ansahen, dies aber aufgrund gezielter experimenteller Täuschungen aus wissenschaftlicher Sicht nicht der Fall war. Die Studien legen nahe, dass es nicht die bewusst erlebten Intentionen und Entscheidungen in der Ersten-Person-Perspektive sind, die unsere Handlungen verursachen, sondern Determinanten, die sich nur in der Dritten-Person-Perspektive beschreiben lassen.371 Aus der dritt­ perspektivischen Sicht der Neurobiologie ist das, was wir in der ErstenPerson-Perspektive als freie Entscheidung erfahren, lediglich eine nachträg­ liche Rationalisierung von Zustandsänderungen, die ohnehin erfolgt wären, auch ohne Zutun des Bewusstseins.372 In dieser Sichtweise mögen Entschei­ dungen subjektiv als bewusste Deliberationsprozesse (Abwägungsvorgänge) erlebt werden, doch lassen sie sich drittperspektivisch zurückführen auf die 368  Keil,

Willensfreiheit 2007, S. 74. Determinismus 2001, S. 13. 370  Merkel / Roth, Bestrafung 2008, S. 25. 371  Walde, Willensfreiheit 2006, S. 26 f. 372  Singer, Selbsterfahrung 2004, S. 238. 369  Grundmann,



VI. Gleichberechtigung der Perspektiven der ersten und dritten Person205

genetischen Anlagen der Person, ihre frühkindliche Prägung, Erziehung sowie die je spezifische Erfahrungsbiographie.373 Insofern ist es nachvoll­ ziehbar, wenn Neurowissenschaftler die Frage nach der Möglichkeit be­ wusster Handlungssteuerung aus der für sie maßgeblichen objektiv-wissen­ schaftlichen Dritten-Person-Perspektive verneinen müssen.374 So lang sich die Gültigkeit wissenschaftlicher Erklärungen des Verhaltens auf den „Zu­ ständigkeitsbereich“ der Dritten-Person-Perspektive beschränkt, liegt hier kein Problem vor. Auch lebenswissenschaftliche Erklärungsmuster sind im Rahmen eines Methodischen Determinismus legitime Beschreibungen menschlichen Verhaltens. Deutungen lebenswissenschaftlicher Befunde kön­ nen aber auch auf die ontische Struktur eines Ansichseins zielen oder die epistemische Gleichberechtigung beider Erkenntnisperspektiven infrage stellen: „[…] und zweitens ist ihre Relevanz für das Verständnis von Willensfreiheit zwei­ felhaft: Die ontische Ebene bleibt ja deterministisch strukturiert, und auch das Erleben der sich entscheidenden Person bleibt somit festgelegt. […] Eine Offen­ heit der Zukunft wird so nicht begründet, sondern lediglich ihre Voraussagbarkeit erschwert oder verhindert.“375 „Es ist hier schon unverständlich, warum nur ein Bewusstsein des Anderskön­ nens – trotz Enttarnung dieses Bewusstseins in der Dritte-Person-Perspektive als Illusion – als Entscheidungsfreiheit deklariert wird. […] Was ist nun aber, wenn ich mir angesichts der neuesten Forschungsergebnisse durchaus bewusst bin, eben nicht anders handeln zu können. Muss ich dann nie mehr Verantwortung für mein Tun übernehmen?“376

In solchen Fällen müssen metaphysische Vorannahmen deutlich ausge­ wiesen werden. Es lässt sich festhalten, dass die Realität des Freiheitserle­ bens in der Ersten-Person-Perspektive zwar auch von den Hirnforschern anerkannt wird, bei Naturwissenschaftlern und anderen Autoren gelegentlich aber doch eine naturalistische Ontologie durchscheint, wenn behauptet wird, die Perspektive der dritten Person sei der maßgebliche Standpunkt, von dem aus es als legitim erscheine, Freiheit zur Illusion zu erklären. Wie im Perspektivitätskapitel bereits dargelegt wurde, kann allerdings keine Perspektive durch die jeweils andere „enttarnt“ werden, da sich Wis­ sensansprüche entlang von Perspektivengrenzen definieren. So kann das Freiheitsbewusstsein in der Ersten-Person-Perspektive nicht durch For­ schungsergebnisse beeinträchtigt werden, die in der Dritten-Person-Perspek­ tive generiert werden. Die Gültigkeit der deterministischen Betrachtungs­ 373  Pauen / Roth,

Freiheit 2008, S. 139. Strafrecht 2005, S. 313. 375  Fink, Indeterminismus 2006, S. 85. 376  Schiemann, Willen 2004, S. 2058. 374  Hillenkamp,

206

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

weise beschränkt sich auf die Dritte-Person-Perspektive bzw. die postdiktive Retrospektive. Viele Wissenschaftler verkennen diese formale Gleichberech­ tigung beider Erkenntnisperspektiven in der Freiheitsfrage, indem sie etwa darauf verweisen, dass es „in Wirklichkeit“ keine Freiheit, sondern nur Determination gebe. Wer so formuliert, geht aber an epistemologischen Er­ kenntnissen vorbei: Denn „in Wirklichkeit“ gibt es subjektunabhängig weder Freiheit noch Determination, da beide Konstruktionen des erkennenden Subjekts sind.377 Die Frage nach dem epistemischen Status der Begriffe „Freiheit“ und „Determination“ führt zu Kant: Sowohl Freiheit als auch Notwendigkeit entstammen als Begriffe dem Denken und liegen der empirischen Erfahrung als apriorische Struktur zugrunde. Was Kant noch als vor-empirische Begrif­ fe bezeichnet, spricht die Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts als Kons­ truktionen an, die überindividuell und für alle Menschen als gleichermaßen relevant angesehen werden. Auch Hirnforscher wie Wolf Singer bezeichnen Freiheit als Konstruktion. Dann ist konsequenterweise aber auch zu beachten, dass Determination ebenso als Konstruktion angesprochen wird und auf der anderen Seite Frei­ heit keineswegs eine „Illusion“ ist.378 Freiheit wie Determination sind an unterschiedliche Perspektiven gebunden, aber selbst keine Eigenschaften einer an sich existierenden „objektiven Realität“.379

VII. Zur Bedeutung des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus für das Strafrecht Im Jahr 2005 konstatierte Reinhard Merkel, dass für die strafrechtliche Schuldtheorie genauer geklärt werden müsse, wie man eine „haltbare Brü­ cke“ schlagen könne vom Erkenntnistheoretischen Indeterminismus der ersten Person zur Legitimation des strafrechtlichen Schuldvorwurfs.380 Die­ se Aufgabe, so Merkel, sei zwar für die Gegenwart noch nicht bewältigt, allerdings glaube er, dass sie bewältigt werden könne.381 Einen Versuch unternimmt 2006 Grischa Detlefsen in ihrer Rostocker Dissertation, in der sie u. a. fragt, inwieweit die Theorie des Erkenntnistheoretischen Indetermi­ nismus auf das Strafrecht angewandt werden könne.382 Nach Max Planck 377  Rosenberger,

Determinismus 2006, S. 231. S. 227. 379  Ebd., S. 205, 228. 380  Merkel, Handlungsfreiheit 2005, S. 465. 381  Ebd. 382  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 44. Unter Bezugnahme auf Ulrich Pothast denkt Grischa Detlefsen in dieser Teilfrage ihrer Arbeit über die Konsequenzen des „zeit­ 378  Ebd.,



VII. Bedeutung des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus207

sind Personen in dem Sinne frei, dass sie ihre eigenen Entscheidungen nicht prädiktiv vorhersagen können und sich trotzdem als diejenigen ansehen müssen, von denen zukünftige Entscheidungen abhängen. Insofern kann Verantwortlichkeit auch nur so weit reichen, wie der aufgewiesene Bereich der Freiheit, der mit Blick auf den Faktor der Zeit definiert wird. Frei sind Entscheidungen 1. nur für Personen in ihrer je individuellen Ersten-Person-Perspektive und 2. nur im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft.383 Dem Subjekt erscheinen seine eigenen Entscheidungen als nicht determi­ niert und daher sieht es sich selbst auch als verantwortlich an. Der Mann­ heimer Strafrechtler Björn Burkhardt sieht im individuellen Freiheitsbe­ wusstsein den Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Verantwortlichkeit. Die Zuschreibung von Schuld basiere auf dem subjektiven Freiheitsempfinden des Einzelnen, da der Richter den Standpunkt des handelnden Subjekts zum Gegenstand der Bewertung machen müsse.384 Burkhardts Ansatz zufolge kommt dem Freiheitsbewusstsein bei der Begründung des Schuldvorwurfs nicht nur eine mittelbare, sondern eine ganz unmittelbare, sogar primäre Bedeutung zu. Denn da, wo keine subjektive Freiheit ist, kann es nach Burkhardt auch keine objektive geben. „Wenn also irgendeine Art Freiheit bei der Schuldbegründung von Bedeutung sein sollte, dann ist dies in erster Linie subjektive Freiheit. […] Grundlage des Schuldvorwurfs ist das Bewußtsein des Anderskönnens.“385 Dieser Feststellung Burkhardts ist zuzustimmen.386 Wenn man einen Schuldvorwurf gegen einen Täter erhebt, so muss der innere Standpunkt, die Erste-Person-Perspektive, zum Gegenstand der Bewertung gemacht wer­ lichen Aspekts“ der besprochenen Theorie für das Strafrecht nach. Aus der Feststel­ lung Pothasts, dass sich im Erkenntnistheoretischen Indeterminismus die Reichwei­ te der Verantwortlichkeit nur auf zukünftige Ereignisse der eigenen Person erstrecken könne, leitet Detlefsen ab, dass der Täter bei Tatbegehung selbst subjektiv nicht frei sei, da „er nicht mehr vor der subjektiv offenen Zukunft steht, sondern diese sich durch die Handlung schon verwirklicht […].“ (Detlefsen, Grenzen 2006, S. 44) Al­ lerdings verhält es sich so, dass die Zukunft von Augenblick zu Augenblick offen ist: Hat sich der Beginn der Handlung bereits realisiert, sind der weitere Verlauf und das Ende der Tathandlung noch unabgeschlossen. Aus diesem Grunde spricht Haddenbrock im Zusammenhang mit der Freiheitserfahrung in der Ersten-Person-Per­ spektive auch von einer präsent-prospektiven Offenheit, um den permanenten Über­ gang des Gegenwärtigen zum Zukünftigen zu verdeutlichen. 383  Pothast, Notiz Indeterminismus 1988, S. 269. 384  Keil, Willensfreiheit 2007, S. 198, Fn. 12. 385  Burkhardt, Freiheitsbewußtsein 1998, S. 6. 386  Nagel, Grenzen 1991, S. 100; Planck, Scheinprobleme 1990 (1947), S. 225.

208

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

den.387 Auch dass Burkhardt überhaupt die Dualität der beiden Erkenntnis­ perspektiven für die Strafrechtswissenschaft rezipiert,388 ist zunächst einmal positiv zu bewerten: „Es geht bei Licht besehen nicht darum, ob die Rechtsordnung davon ausgehen sollte, daß der normale Mensch tatsächlich frei handeln kann. Die Frage lautet vielmehr, ob sie den Standpunkt des handelnden Subjekts einnehmen und sein Freiheitsbewußtsein zum Fundament von Schuld und Verantwortung machen sollte.“389

Da Burkhardt die grundsätzliche Berechtigung der Zuschreibungen von Schuld nicht in Zweifel zieht, schließt er darüber hinaus auch auf die notwendige Einnahme die Ersten-Person-Perspektive des Richters gegenüber dem Angeklagten: „Ich als Richter muß fragen, wie der Täter bei Begehung der Tat die Welt gesehen hat. Und ich werde im Normalfall, wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte vor­ liegen, davon ausgehen dürfen, daß es dem Täter aus seiner Sicht (nach seiner eigenen Überzeugung) möglich war, sich für oder gegen das Recht zu entscheiden. Davon werde ich deshalb ausgehen können, weil ich aus eigener Erfahrung (und aus der Kommunikation mit anderen) weiß, daß dies der alltägliche und ubiquitä­ re Normalfall ist. Wenn aber der Täter bei Begehung der Tat für sich selbst davon ausgegangen ist, so oder auch anders entscheiden zu können, warum soll ich ihn daran nicht festhalten dürfen? Welchen tieferen Grund für einen Vorwurf soll es eigentlich geben als den, daß der Täter für sich selbst von einem Anders-Können ausgegangen ist?“390

Nur auf diese Weise scheint es Burkhardt möglich zu sein, die Ansprüche aus den Neurowissenschaften für das Strafrecht abzuwehren: „Man wird mir vorhalten, daß damit im Ergebnis doch alles beim alten bleibe. Das ist, was die praktischen Auswirkungen betrifft, (glücklicherweise) richtig.“391 An dieser Stelle muss hinsichtlich der Ersten-Person-Perspektive auf die wichtige Differenzierung zwischen dem epistemisch verursachten Freiheits­ empfinden einerseits und dem spezifischen Wissen einer Person anderer­ seits hingewiesen werden: „Wie die Diskussion um die Beweisbarkeit der Schuld gezeigt hat, kann das rein subjektive Erleben schon wegen seiner absoluten Privatheit keine Voraussetzung strafrechtlicher Verantwortung 387  Burkhardt, Freiheitsbewußtsein 1998, S.  21. Burkhardt ergänzt allerdings, dass sich das Strafrecht nicht mit dem subjektiven Standpunkt begnügen dürfe, was man daran ablesen könne, dass der Schuldvorwurf nicht schon immer dann zu erhe­ ben sei, wenn der Täter im Bewusstsein des Anderskönnens eine rechtswidrige Tat begangen habe. Dies zeige u. a. der entschuldigende Notstand (ebd.). 388  Ebd., S.  19 f. 389  Ebd., S. 22. 390  Ebd., S. 21. 391  Ebd., S. 24.



VII. Bedeutung des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus209

bilden.“392 In dieser Pauschalität kann diesem Befund nicht zugestimmt werden. Natürlich kann man im Hinblick auf spezifisches Wissen nicht unmittelbar von der eigenen Erste-Person-Perspektive auf diejenige Ande­ rer schließen, aber in der Annahme basaler epistemischer Prozesse und daraus resultierender phänomenaler Eindrücke wird man jedenfalls grund­ sätzlich gleiche oder wenigstens ähnliche Vorgänge bei allen Individuen annehmen dürfen. Sichere Gewissheit darüber, ob alle Menschen ein glei­ chermaßen völlig identisches Freiheitsgefühl empfinden, können wir frei­ lich nicht erlangen.393 Dennoch ist mit Hörnle festzustellen, dass praktisch allen Menschen ein relativ stark ausgeprägtes Freiheitserleben gemein ist. Jeder Einzelne macht die konstante Grunderfahrung, frei zwischen Alterna­ tiven entscheiden zu können. Die Tatsache, dass dieses subjektive Erleben nicht ausschließlich individuell ist, sondern von anderen Menschen geteilt wird, verleiht diesem Phänomen intersubjektiven Charakter.394 Der persönliche Eindruck, dem der Einzelne in seiner je individuellen Perspektive unterliegt, nämlich mit Blick auf Gegenwart und Zukunft seine eigenen künftigen Entscheidungen und Handlungen als „offen“ und selbst­ bestimmt anzusehen, muss grundsätzlich auch anderen Individuen für deren Erste-Person-Perspektive zugestanden werden.395 Auf der grundlegenden Fragestufe, ob der Täter im Bewusstsein der Freiheit gehandelt hat, kann der Richter völlig problemlos aus seinem eigenen Freiheitserleben schlie­ ßen, dass es sich bei dem Täter genauso oder ähnlich verhält. Die Allge­ meingültigkeit epistemischer Prozesse gestattet den Schluss vom Freiheits­ erleben in der eigenen Ersten-Person-Perspektive auf dasjenige anderer Menschen. Das Problem der Privatheit des Wissens stellt sich im strafrecht­ lichen Kontext erst auf der Ebene des subjektiven Tatbestands, wenn es um spezifisches Wissen geht, das sich allein im Besitz des Täters befinden kann.

392  Detlefsen,

Grenzen 2006, S. 337. S. 41. 394  Hörnle, Unwerturteil 2005, S. 124. Aus dem subjektiven und intersubjektiv geteilten Freiheitsbewusstsein der Ersten-Person-Perspektive folgt jedoch keines­ wegs, dass eine Rechtsordnung, welche die Dritte-Person-Perspektive zugrunde legt, nicht „praktizierbar“ ist. Das Freiheitserleben in der individuellen Ersten-PersonPerspektive muss von den Zurechnungen, die in der Dritten-Person-Perspektive vollzogen werden, nicht berührt werden (Hörnle, Unwerturteil 2005, S. 124). 395  Walde, Willensfreiheit 2006, S. 26. Aus dieser Annahme folgt jedoch nicht automatisch (wie z. B. bei Björn Burkhardt), dass deshalb andere Personen für ihre Entscheidungen und Handlungen auch verantwortlich gemacht werden können. Die Zuschreibung von Verantwortung für das Handeln von Menschen ergibt sich nicht zwingend aus erstperspektivischer Freiheit. 393  Ebd.,

210

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

Eine Zuspitzung erfährt das „Spannungsverhältnis“ von Erster- und Dritter-Person-Perspektive, wenn das subjektive Freiheitsempfinden mit Wissen kollidiert, das in der Perspektive der dritten Person generiert wird. Diese Situation kann nach Detlefsen etwa dann eintreten, wenn der in einem Strafverfahren festgestellte psychische Defekt zur Anwendung der §§ 20, 21 StGB führt, der Angeklagte aber darauf beharrt, subjektiv frei gehandelt zu haben. Das bedeutet, dass sich in einer solchen Konfliktsituation die Deu­ tungsansprüche beider Perspektiven in ein und demselben Strafverfahren gegenüberstehen: Auf der einen Seite die Erste-Person-Perspektive des Täters, die auf­ grund des Gefühls freien Anderskönnens als Anknüpfungspunkt für dessen Schuld dienen soll und auf der anderen Seite der objektivierende Blick des Beobachters, der dem Angeklagten auf der Grundlage einer Analyse in der Dritten-Person-Perspektive, etwa wegen eines psychischen Defekts, Schuld­ unfähigkeit bescheinigt. Welche Perspektive ist nun für das Strafrecht die maßgebliche?396 Als verantwortlich gelten üblicherweise diejenigen, die nicht, etwa aufgrund psychischer Erkrankungen, von der Verantwortlichkeit ausgenommen sind. Unfähig zur prädiktiven Selbstvoraussage, folglich im Sinne des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus frei, also in der Selbst­ wahrnehmung verantwortlich, sind aber alle diejenigen, die Prognosen über eigene zukünftige Entscheidungen bilden und dabei den beschriebe­ nen epistemischen Beschränkungen unterliegen, also auch psychisch Kran­ ke, Drogenabhängige, Kinder usw. Unter Zugrundelegung der Ersten-Per­ son-Perspektive für das Strafrecht würde die Verantwortlichkeit also auf Gruppen ausgedehnt, die bislang hiervon ausgenommen sind oder nur als teilweise verantwortlich gelten.397 Der psychisch Kranke kann sich episte­ misch verursacht als Ursprung seiner eigenen Entscheidungen und in die­ sem Sinne aus der Ersten-Person-Perspektive subjektiv als frei erleben,398 denn auch er kann seine zukünftigen Entscheidungen nicht prädiktiv im Voraus bestimmen.399 Selbst wenn psychisch Kranke ihre eigenen Hand­ lungen erstperspektivisch als frei betrachten, ändert dies andererseits nichts an der retrospektiven Determiniertheit ihres Verhaltens aus der DrittenPerson-Perspektive.400 Auch ein psychotischer Täter kann die Entscheidung zu seiner Tötungshandlung nur unter dem Eindruck „freier“ Selbststeue­ rung treffen, sofern er sie als seine eigene Entscheidung erlebt und nicht als externen Zwang. Gleichwohl wird er nicht für schuldig erklärt und 396  Detlefsen,

Grenzen 2006, S. 42. Unzulänglichkeit 1980, S. 190. 398  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 119 ff. 399  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 188. 400  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 67. 397  Pothast,



VII. Bedeutung des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus211

bestraft.401 Ein solcher Täter könnte noch so sehr darauf insistieren, dass er sich zum Tatzeitpunkt „frei“ dazu entschloss, der Stimme zu folgen, welche ihm die Tötung einer anderen Person befahl. Fällt die Tat in den Zeitraum eines schizophrenen Schubs, wird der Täter „bei Begehung der Tat“ für schuldunfähig erklärt. Das Kriterium des bewussten Erlebens von Freiheit wird in diesem Fall für die Zuschreibung strafrechtlicher Schuld nicht akzeptiert.402 Das Gericht könnte sich sogar der Auffassung des An­ geklagten anschließen, er hätte aus seiner Sicht unter dem Eindruck freier Selbststeuerung gehandelt. Dennoch würde es davon ausgehen, dass dieses Handeln Ergebnis der Geisteskrankheit war.403 Auch Epileptiker können die handlungslosen Dämmerzustände ihrer Anfälle in der subjektiven Ge­ wissheit eigenen freien Handelns erleben.404 Hätte das Tatgericht die Ein­ lassungen des epilepsiekranken Angeklagten von seiner angeblichen Akti­ vität während eines Anfalls am Steuer seines PKWs als Begründung für Verantwortlichkeit gelten lassen, so hätte es den Angeklagten aus § 222 und § 229 StGB verurteilen müssen. Er hatte einen Menschen tödlich über­ fahren und zwei andere verletzt. Dafür wurde er aus §§ 222, 229 StGB verurteilt, allerdings nicht wegen des unmittelbar unfallverursachenden Verhaltens im Dämmerzustand, sondern weil er sich in Kenntnis seiner Krankheit hinter das Steuer gesetzt hatte. Der BGH hob die Entscheidung auf, billigte aber die Wertung seines Verhaltens während des Anfalls als Nichthandeln. Das Gericht bezog sich nicht auf das subjektive Freiheitser­ leben des Täters, sondern stellte aus der Dritten-Person-Perspektive fest, dass er während seines Anfalls nicht gehandelt hatte.405 Die Schuldfähig­ keit kann beim Vorliegen pathologischer Fehlfunktionen des Gehirns als beeinträchtigt gelten oder ausgeschlossen werden, auch wenn der Täter seine eigenen Handlungen in der Ersten-Person-Perspektive selbst als frei ansah.406 Die Beispiele zeigen, dass hinsichtlich des Freiheitserlebnisses in der Ersten-Person-Perspektive die epistemische Freiheit für alle gilt und sie mit Blick auf Gegenwart und Zukunft zugleich den subjektiven Bereich von Verantwortlichkeit definiert. Hiervon streng zu unterscheiden ist die völlig andere Frage, ob die Erste-Person-Perspektive auch als Grundlage für die Zurechnung für Verantwortung ex post dienen kann.

401  Merkel,

Willensfreiheit 2008, S. 67. Bestrafung 2008, S. 28. 403  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 67. 404  BGHSt 40, 341. 405  Merkel, Willensfreiheit 2008, S. 119 ff. 406  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 335. 402  Merkel / Roth,

212

E. Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem

Der Auffassung, das Strafrecht müsse sich auf die Erste-Person-Perspek­ tive des handelnden Subjekts gründen, ist entgegenzuhalten, dass das Straf­ recht Fremdzuschreibungen aus der Perspektive der dritten Person vornimmt, obgleich dem Täter sein Handeln aus der eigenen Ersten-Person-Perspektive als frei erscheint.407 Aus epistemologischer Sicht bildet nicht die ErstePerson-Perspektive, sondern die Dritte-Person-Perspektive die Kategorie der strafrechtlichen Zurechnung,408 was durch den häufigen Versuch der Be­ rücksichtigung subjektiver Elemente im Strafrecht allerdings konterkariert wird. Das Gesetz legt etwa die Dritte-Person-Perspektive zugrunde, wenn es Kinder und Geisteskranke gem. §§ 19, 20 StGB als schuldunfähig behan­ delt, selbst wenn sie sich selbst erstperspektivisch als frei entscheidend und selbstbestimmt erleben.409 Dass die strafrechtliche Zurechnung eigentlich aus der Perspektive der dritten Person vorgenommen wird, hatte bereits Karl Engisch festgestellt: „Denn wenn es sich um die Begründung des Vorwurfs gegen einen Täter handelt, so sind wir von Rechts wegen gezwungen, den Standpunkt des strafenden Richters einzunehmen, welchen Planck als den äußeren bezeichnet. Handelt es sich ja hier um die ‚Betrachtung der Willensvorgänge anderer Menschen‘ und nicht um die Betrachtung unserer eigenen Willensvorgänge. Bei dieser ‚äußeren‘ strafrechtli­ chen Betrachtung ist aber für Planck die ‚kausale Determiniertheit‘ ohne weiteres vorausgesetzt, also die Willensfreiheit gar nicht mehr aktuell. […] bei der straf­ rechtlichen Fragestellung kann uns der innere Standpunkt nicht weiterhelfen, zu­ mindest nicht, wenn es sich um die Rechtfertigung des Schuldvorwurfs handelt.“410

Die Analyse des Strafrechts auf subjektive und objektive Elemente hin hat bereits ergeben, dass diese Orientierung der strafrechtlichen Zurechnung an der Dritten-Person-Perspektive nach und nach einer immer stärkeren, und, wie noch gezeigt wird, epistemologisch höchst problematischen Sub­ jektvierung des Strafrechts gewichen ist.

407  Stuckenberg,

Willensfreiheit 2009, S. 14. Handlungsfreiheit 2005, S.  465; ders., Handlungsfreiheit 2006, S. 190; Stuckenberg, Willensfreiheit 2009, S. 14. 409  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 139, Fn. 464. 410  Engisch, Lehre 1963, S. 4. 408  Merkel,

F. Das Problem des Fremdverstehens Die Diskussion erkenntnistheoretischer Ansätze zum Umgang mit der Freiheitsfrage führte zu dem Ergebnis einer präsent-prospektiven Freiheit in der Ersten-Person-Perspektive und einer methodischen Determination in der Dritten-Person-Perspektive bzw. Retrospektive. Dabei wird ein epistemisch bedingtes phänomenales Freiheitsgefühl für alle Individuen gleichermaßen konstatiert. Als Herausforderung, die für das Strafrecht in besonderer Weise besteht, wurde die Feststellbarkeit spezifischen fremdperspektivischen Wis­ sens identifiziert. Im Mittelpunkt des Problems des Fremdverstehens steht die Frage nach der Möglichkeit verlässlichen Wissens über Fremdpsychi­ sches. Die Fragestellung, inwiefern die Perspektive eines Anderen einnehm­ bar ist, muss im Rahmen einer Theorie des Fremdverstehens behandelt werden. Möchten wir andere Personen verstehen, müssen wir versuchen, etwas über ihre Intentionen, Auffassungen, Wünsche und Einstellungen herauszu­ finden. Dabei sind wir in der Regel daran interessiert zu erfahren, warum jemand etwas getan hat. Wir wollen also die Gründe kennen, die jemand subjektiv mit dem eigenen Handeln in Verbindung bringt.1 Diese Zu­ schreibungen erfüllen eine wichtige Funktion in unserem Alltag, da wir uns das Verhalten anderer Menschen in aller Regel durch solche Zuschreibungen verständlich machen.2 Das Problematische an der Erkenntnis mentaler Zustände Anderer besteht darin, dass es gute Argumente dafür gibt, dass wir über Fremdpsychisches grundsätzlich nichts Sicheres wissen können.3 Hierfür kann man sich auch auf unsere alltägliche Erfahrung stützen, dass wir uns häufig täuschen, wenn wir anderen Menschen mentale Zustände zuschreiben.4 Diese Be­ obachtung kennen wir aus Situationen, in denen wir annehmen, eine andere Person und deren Verhalten „verstanden“ zu haben, während wir dem Han­ delnden in Wirklichkeit ganz „falsche“ Vorstellungen und Absichten unter­ stellen.5 Mindestens die Möglichkeit, dass wir uns in der Zuschreibung 1  Scholz, 2  Ernst, 3  Ebd.

4  Ebd.,

Verstehen 1999, S. 1700. Menschen 2008, S. 137.

S. 138. Probleme 1983, S. 417 f.

5  Stegmüller,

214

F. Das Problem des Fremdverstehens

mentaler Zustände irren, scheint in den allermeisten zwischenmenschlichen Fällen gegeben zu sein.6 Wenn wir etwas über das Erleben einer anderen Person in Erfahrung bringen wollen, sind wir auf bestimmte Zugänge beschränkt. Es ist möglich, aus dem Verhalten einer Person auf die subjektive Innen­ perspektive zurückzuschließen, sie zu befragen oder auch z. B. im neurowis­ senschaftlichen Zugriff die Hirnaktivität mit berichteten Gedanken oder Wahrnehmungen zu korrelieren. Aber diese Zugänge ermöglichen uns nur sehr begrenzte Einblicke in das Bewusstsein Anderer.7 Die Tatsache, dass sich fremdpsychische Zustände der direkten äußeren Wahrnehmung entzie­ hen, führt zum philosophischen Problem des Fremdverstehens.8 Wie im Freiheitskapitel gezeigt, fungiert bei Kant vor dem Hintergrund der basalen Differenzierung von noumenaler und phänomenaler Welt der empirische Charakter als „Anzeichen“ des zugrundeliegenden intelligiblen Charakters. Bereits Kant differenziert also hinsichtlich des menschlichen Verhaltens zwei unterschiedliche Betrachtungsmöglichkeiten.9 Allerdings findet sich schon bei Kant die Überlegung, dass wir als Menschen auf die Interpretation sinnlicher Anzeichen angewiesen sind, um herauszufinden, aus welchen Gründen jemand gehandelt hat.10 Kant verknüpft die Überle­ gung, dass wir vom empirischen Charakter interpretierend auf die intelligi­ blen Gründe eines Verhaltens schließen müssen, mit der These, dass diese Gründe gleichzeitig auch die Ursachen unseres Verhaltens sind.11 Im Fall der intelligiblen Handlungsverursachung durch einen Grund sind die kausa­ le und die epistemische Ordnung der Relata gegenläufig: Der intelligible Charakter bedingt kausal den empirischen, während wir von diesem erst auf jenen epistemisch schließen können. Während der intelligible Grund der Handlung kausal vorausgeht, können wir erst im Nachhinein vom beobach­ teten Verhalten auf den bedingenden intelligiblen Grund schließen.12 Der Ursprung der modernen Methode des Verstehens ist bei Friedrich Schleiermacher zu suchen,13 der etwa 50 Jahre nach Kants Kritik der reinen Vernunft die Frage nach allgemeinen Prinzipien der Auslegung auf­ wirft, wenn Äußerungen als Zeichen für einen darin zum Ausdruck gebrach­ 6  Ernst,

Menschen 2008, S. 138. Verantwortung 2008, S. 127. 8  Geulen, Handeln 1982, S. 50; Kapsch, Verstehen 2007, S. 11. 9  Willaschek, Vernunft 1992, S. 14. 10  Ebd., S. 133. 11  Ebd., S.  141 f. 12  Ebd., S. 143. 13  Schleiermacher, Begriff 1995 (1835), S. 314 ff. 7  Linden,



I. Die These der Perspektivenübernahme215

ten mentalen Gehalt erfasst werden. Wenn Sinn als die Funktion eines indi­ viduellen Inneren aufgefasst wird, so tritt damit in einer fremden Äußerung dem Anderen zunächst einmal etwas ihm Fremdes gegenüber.14 Das Pro­ blem des Fremdverstehens im engeren Sinne ist eine Thematik, die seit dem 20. Jahrhundert größere Beachtung findet15 und auch mit dem Namen Edmund Husserls verbunden ist.16

I. Die These der Perspektivenübernahme Die These der Perspektivenübernahme besagt, dass die Perspektive einer Person von anderen Subjekten eingenommen werden kann.17 Hierbei han­ delt es sich um eine idealisierende Annahme der Austauschbarkeit von Perspektiven, mittels derer jemand davon ausgeht, dass er in der Position eines Anderen über dieselben Perspektiven verfügen würde. Die eigene In­ terpretation von Verhaltensweisen anderer Menschen, von Objekten und Ereignissen wäre dann identisch mit der Interpretation des Anderen. Erst durch diese Annahme prinzipieller Austauschbarkeit von Perspektiven wer­ den nach Edelstein und Keller Interaktion und Wissensvermittlung ermög­ licht. Auf diese Weise könnten die individuellen Perspektiven zu universa­ lisierbaren, objektiven Realitäten werden:18 „In einer gegebenen Situation versetzen wir uns virtuell in die Position eines anderen, um seine Perspektive von dieser Situation oder von einer bestimmten Sache, auf die auch wir intentional gerichtet sind, zu erkennen. […] Hier geht es darum, daß wir auf der Grundlage unserer Kenntnis von der Position, vom Ver­ hältnis eines anderen zu der Sache, in begründeter Unterstellung imaginieren können, wie ihm die Sache erscheint, welches seine Perspektive ist, und daraus wiederum Schlüsse ziehen zu können, wie er voraussichtlich handeln wird. Dies hat dann wiederum Konsequenzen für die Planung unseres eigenen Handelns. So etwa läßt sich vorläufig umschreiben, was in der neueren Forschung als role-taking oder perspective-taking bezeichnet und hier ‚Perspektivenübernahme‘ genannt wird.“19

14  Prechtl,

Verstehen 1999, S. 638. Verstehen 2007, S. 11. 16  Ebd., S. 17. Husserl hat keine einheitliche Theorie des Fremdverstehens ent­ wickelt, sondern sich zu diesem Thema an verstreuten Stellen seines Werks geäußert (Ebd.): in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, in den Cartesianischen Meditationen sowie in einzelnen Passagen der drei Bände Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. 17  Geulen, Handeln 1982, S. 50. 18  Edelstein / Keller, Perspektivität 1982, S. 16. 19  Geulen, Einleitung 1982, S. 11. 15  Kapsch,

216

F. Das Problem des Fremdverstehens

Wichtig ist der terminologische Hinweis, dass der Begriff der „Perspek­ tivenübernahme“ dem des „Perspektivenwechsels“ vorzuziehen ist, da nicht der subjektinterne Tausch der Perspektive, sondern die „Hereinnahme“ einer anderen gemeint ist.20 Unter „Perspektivenwechsel“ wird hingegen die Einnahme einer anderen Perspektive durch dasselbe Individuum verstanden. Die Rede von der „Perspektivenübernahme“ und ähnlicher Metaphern ist insoweit nicht unproblematisch, als sie bereits unterstellt, was eigentlich erst plausibilisiert werden müsste: die Möglichkeit zum „Verlassen“ der eigenen Perspektive und die Fähigkeit zur Einnahme einer anderen.21 Um feststel­ len zu können, inwieweit die Übernahme der Perspektive einer anderen Person überhaupt möglich ist, müssen zunächst die Probleme diskutiert werden, die mit dem Vorgang einer Perspektivenübernahme verbunden sind. Fraglos befinden wir uns im Alltag häufig in Situationen, in denen wir bemüht sind, die Intentionen, Gefühle oder Gedanken unserer Mitmen­ schen nachzuvollziehen. Ebenso alltäglich ist aber auch unsere Erfahrung des Scheiterns dieser Bemühungen. Insofern ist es notwendig, die These der Perspektivenübernahme auf ihre Möglichkeiten, aber auch auf ihre Grenzen hin zu überprüfen. Insbesondere stellt sich die Frage, welche erkenntnistheoretischen Bedingungen hier beachtet werden müssen. Gerade im Strafverfahren als eines ausgesprochen beglaubigungs- und belegorien­ tierten Kommunikationsprozesses kann man sich nicht auf ein mal mehr, mal weniger gelingendes und alltägliches „Sichhineinversetzen“ verlassen. Hier wird die Frage der Möglichkeit oder Verlässlichkeit des Nachvollzie­ hens von Fremdpsychischem mit Blick auf spezifisches Täterwissen beson­ ders virulent. Die These der Perspektivenübernahme begegnet bereits in einem sehr grundsätzlichen Sinne philosophischen Bedenken: Immer handelt es sich doch um die eigene Perspektive, die man einnimmt. Sie kann nicht einfach „verlassen“ werden im Sinne eines „Überschritts“ in eine andere Perspekti­ ve.22 Schon die Perspektiven zweier Personen auf etwas Drittes können nicht völlig deckungsgleich sein, da sie nicht über identisches Wissen verfügen:23 „[…] selbst in einem gemeinsam geteilten Raum ist das ‚Hier‘ des einen immer noch das ‚Dort‘ des anderen, so daß jeder die Dinge aus einer anderen Perspektive und damit letztlich verschieden wahrnimmt.“24 20  Geulen,

Einleitung 1982, S. 11 f. Perspektive 2004, S. 11 ff. 22  Ebd.; Stoellger, Wahrheit 2004, S. 348. 23  Edelstein / Keller, Perspektivität 1982, S. 16. 24  Hanke, Schütz 2002, S. 88. 21  Dalferth / Stoellger,



I. Die These der Perspektivenübernahme217

Im Prozess des Personenverstehens müsste der Eine für ein vollständiges Verstehen des Anderen dazu in der Lage sein, selbst alle vorvergangenen Erlebnisse des In-den-Blick-Genommenen zu durchlaufen, er müsste auch dieselben bereits vergangenen Geschehnisse in identischer Abfolge erlebt und auf dieselbe Weise reflektiert haben. Kurz: Das Bewusstsein des Beob­ achters und des Beobachteten müsste identisch sein.25 Eine „stellvertretende Erfahrungsmöglichkeit“ ist aber nicht gegeben.26 Die Unmöglichkeit stell­ vertretender Erkenntnis kann durch ein „Sichhineinversetzen“ in eine ande­ re Person nicht aufgehoben werden. Denn auch dann bleibt sie eine andere Person,27 die sich in jemanden hineinversetzt. Ein sicheres und vollständiges Verstehen setzte eine logisch ausgeschlossene Identität unterschiedlicher personaler Perspektiven voraus.28 Nur in meiner eigenen Perspektive ist mir der Andere zugänglich. Aber in dieser einzigen Weise, in der mir dieser Andere überhaupt zugänglich sein kann, ist mir der Andere nie zugänglich als Anderer. Vielmehr ist er durch meinen perspektivischen Zugriff auf seine Person bereits für mich.29 Es gibt auch keine „Transformationsregeln“, nach denen meine Perspek­ tive in die eines Anderen überführt werden könnte.30 Ein „Hinübersteigen in die fremde Bewusstseinswelt“ ist prinzipiell ausgeschlossen,31 die Pers­ pektive eines Anderen kann also nicht „eingenommen“ werden:32 „Ist diese Rede nicht ähnlich hyperbolisch und aporetisch wie das alte Theorem der ‚Einfühlung‘, die auch nie beim Anderen ankommt?“33 Das bedeutet aber, dass verlässliches Wissen über Fremdpsychisches nicht möglich ist:34 „Dein Bewusstsein ist für mein Bewusstsein absolutes Aussensein, und mein Be­ wusstsein für dich.“35 25  Schütz,

Aufbau 2004 (1932), S. 222. Perspektive 2004, S. 11 ff.; Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 225. 27  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 226. 28  Hanke, Schütz 2002, S. 86; Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 102. Damit wird übrigens auch deutlich, dass die Erkenntnisform der Selbsterkenntnis in der ErstenPerson-Perspektive nicht vollständig durch eine wissenschaftliche Fremderkenntnis ersetzt werden kann. Diese kann zwar auch Aussagen über ein anderes Selbst for­ mulieren, aber immer in einer anderen Weise als es durch das Selbst „selbst“ ge­ schehen würde (Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 226). 29  Dalferth / Stoellger, Perspektive 2004, S. 21. 30  Ritzenhoff, Freiheit 1999, S. 116. 31  Stegmüller, Probleme 1983, S. 427. 32  Stoellger, Wahrheit 2004, S. 348. 33  Ebd. 34  Stegmüller, Probleme 1983, S. 427. 35  Husserl, Phänomenologie 1973, Beilage III, S. 6. 26  Dalferth / Stoellger,

218

F. Das Problem des Fremdverstehens

Allerdings sind wir durchaus in der Lage, in der eigenen Perspektive diejenige eines Anderen zu „imaginieren“, also die eigene Perspektive aus­ zudifferenzieren.36 Dann handelt es sich um die Konstruktion einer Perspek­ tive aus der eigenen heraus. Bei der Imagination anderer Perspektiven be­ wegt man sich erkenntnistheoretisch betrachtet allerdings immer in der je eigenen Perspektive.37 Auf diese Weise ist es möglich, auch einen intrasub­ jektiven Perspektivenwechsel vorzunehmen, mit dem sich der Blick auf et­ was ändert.38 Für das Strafverfahren folgt hieraus, dass der Inhalt der Täterperspektive als solcher aus epistemologischen Gründen kein Erkenntnisgegenstand des Richters sein kann. Es wurde bereits mit Blick auf die Frage nach subjek­ tiven Selbstzuschreibungen bewusster Steuerbarkeit gezeigt, dass im Straf­ prozess ein Spannungsverhältnis zwischen Erster- und Dritter-Person-Pers­ pektive besteht,39 das durch eine „Perspektivenübernahme“ allerdings nicht aufgelöst werden kann.

II. Das Privileg der ersten Person Wir verstehen auch uns selbst immer vor dem Hintergrund einer spezifi­ schen Biographie und persönlicher lebensgeschichtlicher Erfahrungen.40 Jedes Subjekt besitzt einen grundsätzlich privaten und für Andere unzu­ gänglichen Bereich einzigartig geprägter Erfahrungen.41 Die Art und Wei­ se, in der wir um unsere eigenen mentalen Zustände wissen, unterscheidet sich fundamental von der Möglichkeit, wie wir Wissen von anderen Perso­ nen und deren Bewusstsein haben können. Das Wissen um die eigenen bewussten Zustände ist nur vom Standpunkt der Ersten-Person-Perspektive aus möglich.42 Der besondere Status dieser Selbstzuschreibungen ist gera­ de deshalb gerechtfertigt, weil der spezifische Erkenntniszugang des Sub­ jekts zu sich selbst zu Wissen führt, über das es exklusiv auch nur selbst verfügt.43 Die Unbeobachtbarkeit innerer Vorgänge durch Außenstehende beruht auf der Privatheit geistiger Vorgänge.44 Selbstwissen ist deshalb 36  Dalferth / Stoellger,

Perspektive 2004, S. 11 ff. Wahrheit 2004, S. 348. 38  Ebd., S. 348. 39  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 42. 40  Endreß / Renn, Vorbemerkung 2004, S. 51. 41  Hanke, Schütz 2002, S. 84 f. 42  Davidson, Spielarten 2004, S. 339; Newen / Vosgerau, Facetten 2005, S. 9. 43  Röska-Hardy, Rolle 2005, S. 192. 44  Willaschek, Handeln 1992, S. 149. 37  Stoellger,



II. Das Privileg der ersten Person219

scharf abzugrenzen von Wissen über Fremdpsychisches.45 Wissen von raumzeitlichen Gegenständen, aber auch über psychische Zustände Anderer, muss sich wesentlich auf die äußere Beobachtung als Quelle stützen. Hier­ in besteht die grundlegende Asymmetrie zwischen Erster- und Dritter-Per­ son-Perspektive.46 Unabhängig von zukünftig zu erwartenden noch mehr verfeinerten Erkenntnismöglichkeiten in der Dritten-Person-Perspektive ha­ ben wir es hier beim Versuch des Fremdverstehens im Vergleich mit der Ersten-Person-Perspektive mit einem „entfernteren“ Zugang zu mentalen Vorgängen zu tun. Als externe Beobachter sind wir in einer erkenntnistheo­ retisch wesentlich schlechteren Position als der Andere, dessen mentale Prozesse uns interessieren.47 Wir müssen davon ausgehen, dass es tatsäch­ lich eine epistemische Asymmetrie zwischen Selbst- und Fremderkenntnis gibt, die mit der Autorität der ersten Person zusammenhängt.48 Selbstver­ ständlich können wir uns auch über unsere eigenen mentalen Zustände täuschen, z. B. indem wir eine unzutreffende Selbsteinschätzung vornehmen, allerdings wird die „Fehlbarkeit der Introspektion […] nicht so hoch zu veranschlagen sein, daß die Fremdbeobachtung regelhaft mehr als man oder frau selbst über die eigene Person weiß. Eine solche These wäre nur die überzogene, ins andere Extrem fallende Reaktion auf die Überbewertung der Introspektion in der Bewußtseinsphilosophie.“49 Mit Heiner Hastedt tut eine angemessene Geist-Körper-Position daher gut daran, die Möglichkeit der Introspektion nicht zu vernachlässigen und auch eine spezifische „Un­ fehlbarkeit“ in bestimmten Fällen einzuräumen.50 Deshalb kann die Hirnfor­ schung bei ihren Versuchen, den Zusammenhang von neuronalen Prozessen und mentalen Ereignissen zu erklären, auch nicht auf die subjektiven Pro­ bandenberichte der untersuchten Personen verzichten. Sollen etwa Lokalisa­ tionen komplexer mentaler Leistungen genauer vorgenommen werden, be­ nötigt man einerseits die neurowissenschaftlichen Messungen der Hirnakti­ vitäten, andererseits aber auch die subjektiven Erlebnisberichte der unter­ 45  Röska-Hardy,

Rolle 2005, S. 192. Wissen 2005, S. 119; Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 96; Newen / Vosgerau, Facetten 2005, S. 9; Tugendhat, Egozentrizität 2003, S. 24. 47  Pauen, Perspektive 2008, S. 111. 48  Röska-Hardy, Rolle 2005, S. 207. 49  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 28. 50  Ebd., S. 29. Eine ähnliche Position vertritt Davidson. Sprachphilosophisch gewendet kann sich der Sprecher hinsichtlich der Bedeutung seiner Worte natürlich auch irren, woraus folgt, dass die Autorität der ersten Person nicht unfehlbar ist. Allerdings wird die Asymmetrie durch eine prinzipielle Irrtumsanfälligkeit auch nicht völlig aus der Welt geschafft. Denn trotzdem gilt weiterhin, dass sich der In­ terpret nur auf die Deutung fremder Äußerungen stützen kann, während es der Sprecher selbst ist, der seinen Worten einen direkteren Sinn mit auf den Weg gibt (Davidson, Autorität 2004, S. 37). 46  Bernecker,

220

F. Das Problem des Fremdverstehens

suchten Probanden. Es ist derzeit nicht zu sehen, wie auf die Selbsterfahrung der Versuchspersonen bei neurowissenschaftlichen Untersuchungen des Mentalen verzichtet werden könnte. Philosophisch betrachtet besteht hier in Form der Ersten-Person-Perspektive tatsächlich ein epistemologisch irredu­ zibler Bereich, der darauf verweist, dass das Mentale Anderer aus der Dritten-Person-Perspektive nicht beschreibbar ist.51 Das Unmittelbarkeits-Argument besagt, dass man subjektintern nicht die Dritte-Person-Perspektive anlegen, sich nicht auf die Beobachtung des eige­ nen Verhaltens stützen muss, um angeben zu können, was man intendiert oder wie man sich gerade fühlt. Das Erkennen eigener psychischer Vorgän­ ge bedarf keiner Vermittlung, sie sind uns unmittelbar gegeben.52 Die These der epistemischen Asymmetrie geht vielmehr davon aus, dass man normalerweise eben direkt weiß, wie man sich fühlt, ohne dabei einen „Um­ weg“ über Belege gehen zu müssen oder Schlüsse zu ziehen.53 Das auf dem Argument der Unmittelbarkeit beruhende epistemische Pri­ vileg der Ersten-Person-Perspektive wird von dem behavioristisch orientier­ ten Beobachtungsansatz in Frage gestellt. Der Beobachtungsansatz steht für die Auffassung, dass sowohl Fremd- als auch Selbstzuschreibungen psychi­ scher Zustände aufgrund von Schlussfolgerungen aus der Dritten-PersonPerspektive vorgenommen werden. Damit wird zugleich geleugnet, dass man die eigenen Gedanken, Gefühle und Absichten auf eine grundsätzlich andere Weise kennen kann als andere Personen sie kennen können.54 Die Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Methodischem Determinismus und Max Plancks intrasubjektiver Binnendifferenzierung in ein wollendes und ein erkennendes Ich hat bereits zu dem Ergebnis geführt, dass wir in der postdiktiven Retrospektive auch auf faktisch abgeschlossene eigene Entscheidungen und eigenes vergangenes Verhalten notwendig die DrittePerson-Perspektive einnehmen. Die Reichweite der behavioristischen Ge­ genüberlegung zur Frage des privilegierten Zugangs ist insoweit im hier 51  Quante,

52  Carnap,

Blick 2006, S. 141. Aufbau 1961 (1928), S. 79; Röska-Hardy, Zuschreibungen 2001,

S. 108. 53  Kapsch, Verstehen 2007, S. 39. 54  Röska-Hardy, Zuschreibungen 2001, S. 108. Nagel diskutiert die Möglich­ keit, eigene Erlebnisse als innerweltliche Ereignisse aus einer Außenperspektive aufzufassen, was den Beginn eines objektiven Begriffs des Bewusstseins markiere. Wenn diese Möglichkeit für einen selbst gegeben sei, dann wären auch andere Indi­ viduen in der Lage, sich ihre eigenen Erlebnisse als innerweltliche Ereignisse aus der Außenperspektive zu denken. Darüber hinaus könnte man selbst die Erlebnisse Anderer aus der Außenperspektive nachvollziehen (Nagel, Grenzen 1991, S. 22). Pauen greift Nagels Gedanken für seine Argumentation gegen die Erklärungslücke zwischen Erster- und Dritter-Person-Perspektive auf (vgl. Pauen, Perspektive 2008, S.  111 ff.).



III. Theorien des Fremdverstehens221

interessierenden Kontext eher begrenzt. Denn auch wenn dem Beobach­ tungsansatz darin zuzustimmen ist, dass wir nicht nur im Blick auf Andere die Dritte-Person-Perspektive anlegen, sondern dazu auch subjektintern in der Lage sind, ändert dies nichts an den grundsätzlich verschiedenen Posi­ tionen, von denen aus die Beobachtungen unternommen werden. Auch bei prinzipieller Zugrundelegung der Dritten-Person-Perspektive führen Beob­ achtungen relativ zum jeweiligen Beobachterstandpunkt zu unterschiedli­ chen Ergebnissen. Das besondere Näheverhältnis von subjektinterner Beob­ achterperspektive und den beobachteten eigenen mentalen Zuständen oder Vorgängen wird auch vom Beobachtungsansatz nicht bestritten, ein privile­ gierter „Zugang“ zu uns selbst eingeräumt. Die Tatsache, dass wir uns Gedanken, Gefühle usw. zuschreiben, liegt demnach darin begründet, dass wir uns uns selbst gegenüber in einer besonders günstigen Position befin­ den, von der aus wir unser eigenes Verhalten privilegiert beobachten kön­ nen. Hieraus resultiert auch eine spezifische Vertrautheit mit unserem eige­ nen sprachlichen und nicht-sprachlichen Verhalten. Befänden wir uns nicht in dieser komfortablen Beobachterposition „erster Klasse“, könnten wir im Vergleich zu externen Beobachtern unser eigenes Verhalten keineswegs besser beurteilen. Die auch im Beobachtungsansatz vertretene Einsicht, dass wir über einen privilegierten Zugang zu uns selbst verfügen, ist im hier diskutierten Zusammenhang völlig ausreichend.

III. Theorien des Fremdverstehens Der Beobachtungsansatz betont die Möglichkeit, von einem äußerlich beobachtbaren sprachlichen und nichtsprachlichen Verhalten auf psychische Zustände rückschließen zu können. Der Ansatz der „Theorie-Theorie“ verweist darauf, dass unsere alltags­ psychologischen Zuschreibungen bereits eine universelle Theorie des Geis­ tes voraussetzen.55 Die Einfühlungstheorie behauptet unsere Fähigkeit, uns an die Stelle Anderer zu denken und in einem Akt direkter Anschauung fremde Bewusst­ seinsinhalte unmittelbar und authentisch wahrzunehmen. Die Simulationstheorie schließlich geht davon aus, dass wir versuchen, uns in die betreffende Person „hineinzuversetzen“, indem wir überlegen, wie wir an ihrer Stelle denken, fühlen und entscheiden würden. Damit legt die Simulationstheorie ihr Augenmerk auf die psychischen Zustände des Zuschreibenden.56 55  Röska-Hardy, 56  Ebd.,

S. 106.

Zuschreibungen 2001, S. 105 f.

222

F. Das Problem des Fremdverstehens

1. Der Beobachtungsansatz Da mentale Phänomene als „Untersuchungsobjekte“ subjektiv sind57 und die fremde Psyche der direkten Wahrnehmung prinzipiell entzogen ist,58 möchte sich der Beobachtungsansatz für die Beschreibung, Erklärung und Prognose psychischer Zustände allein auf die Beobachtung sprachlichen und nichtsprachlichen Verhaltens stützen.59 Damit steht der Beobachtungsansatz in der behavioristisch orientierten Theorietradition. Dieses Verfahren kennen wir auch aus unserem Alltag, wenn wir unser Augenmerk vor allem auf das beobachtbare Verhalten und die Äußerungen anderer Menschen legen, um herauszufinden, was sie denken, fühlen oder wollen.60 Das Fremdpsychische ist aus behavioristischer Sicht gegenüber dem Physischen erkenntnistheore­ tisch sekundär oder gar irrelevant.61 Dagegen bietet der nicht-private, son­ dern öffentliche Charakter des äußerlich beobachtbaren Verhaltens aus Sicht des methodologischen Behaviorismus ein viel höheres Maß an Verlässlich­ keit und Überprüfbarkeit.62 Als ein früher Vertreter des später vor allem mit dem Namen B. F. Skinners verbundenen Behaviorismus63 kann Rudolf Carnap angesehen werden, der davon ausging, dass sich uns fremdes Ver­ halten nicht als eine Abfolge von Erlebnissen des Anderen zeigt, so wie sich etwa unser eigenes Handeln als eine Reihe von Erlebnissen präsentiert, sondern als ein beobachteter Vorgang oder eine wahrgenommene Verände­ 57  Rosenberger,

Determinismus 2006, S. 182. Schütz 2006, Bd. 3, S. 35 f., Fn. 11. 59  Röska-Hardy, Zuschreibungen 2001, S. 106. 60  Ebd., S. 109. 61  Carnap, Scheinprobleme 2004, S. 24; Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 102. 62  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 82. 63  Skinner ging es darum zu zeigen, dass die Psychologie auch ohne Bezugnah­ me auf mentale Phänomene alles erklären kann, was sie erklären möchte. Zu den behavioristischen Ansätzen zählt auch der philosophische Behaviorismus, der von Gilbert Ryle begründete wurde [Vgl. Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969 (1949)]. Die Kernthese des philosophischen Behaviorismus besagt, dass alles, was bislang mit mentalem Vokabular ausgedrückt wurde, wie etwa subjektive Grün­ de für bestimmte Handlungen, sich ohne semantischen Rest in Sätzen über Verhalten ausdrücken lässt (Schlicht, Dualismus 2007, S. 83 f.; Walde, Willensfreiheit 2006, S. 147 f.). Kritik am philosophischen Behaviorismus richtet sich vor allem auf den Umstand, dass behavioristische Beschreibungen letztlich doch nicht ohne Bezüge auf mentale Zustände auskommen, wie etwa zu Meinungen und Wünschen der be­ treffenden Person oder zu spezifischen Qualia von Empfindungen und Wahrnehmun­ gen (Schlicht, Dualismus 2007, S. 83 f.). Die Identitätstheorie geht insoweit über den philosophischen Behaviorismus hinaus, als sie geistige Zustände nicht mit Verhalten identifiziert, sondern mit neuronalen Prozessen. Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist darauf hinzuweisen, dass sowohl makroskopisch beobachtbares Verhalten als auch neuronale Abläufe in ein und derselben Erkenntnisperspektive der dritten Person beschrieben werden (Schlicht, Dualismus 2007, S. 83 f.). 58  Endreß,



III. Theorien des Fremdverstehens223

rung am anderen Körper.64 Nach Carnap sind Eigenpsychisches und Fremd­ psychisches erkenntnistheoretisch voneinander getrennt zu betrachten.65 Fremdpsychisches wird aufgrund der Wahrnehmung von Physischem er­ schlossen.66 Neben physischen Vorgängen an einem anderen Menschen67 wie Ausdrucksbewegungen (Mimik, Gestik)68 kommen noch Mitteilungen des Betreffenden oder Zeichen als Träger von Fremdpsychischem infrage.69 Immer aber kann Fremdpsychisches nur durch die Vermittlung über Physi­ sches erschlossen werden:70 „Die ‚psychophysische Beziehung‘ ist die zwischen einem psychischen Vorgang und dem parallelen Nervenvorgang. Die ‚Ausdrucksbeziehung‘ ist die Beziehung zwischen einer Bewegung, Miene, Stimmäußerung eines Menschen und dem psy­ chischen Vorgang, der in der Äußerung kenntlich wird. Die ‚Zeichenbeziehung‘ ist die Beziehung zwischen einem physischen Zeichen (Schriftzeichen, Laut, Abzei­ chen usw.) und dem Bezeichneten [..].“71

Neuere Varianten des Behaviorismus beziehen sich nicht mehr nur auf Physisches, sondern auch auf soziale, kommunikative oder sonstige „exter­ ne“ Faktoren, um individuelle mentale Zustände als öffentlich zugänglich zu beschreiben.72 • Einwände gegen den Beobachtungsansatz Mentale Zustände lassen sich auch aus dem beobachtbaren Verhalten einer Person nicht direkt ablesen. Zwar lässt sich aus dem sichtbaren Ver­ halten einer Person auch Internes konstruieren, aber es ist keine hinrei­ chende Basis für die Erkenntnis von Fremdpsychischem.73 Es bleibt eine 64  Schütz,

Aufbau 2004 (1932), S. 103. Scheinprobleme 2004, S. 17.

65  Carnap, 66  Ebd.

67  Ders.,

Aufbau 1961 (1928), S. 185 f. S. 78; ders., Scheinprobleme 2004, S. 18. 69  Ders., Scheinprobleme 2004, S. 18. 70  Ders., Aufbau 1961 (1928), S. 79 f., 191 f. 71  Ebd., S. 263. Hier ergibt sich eine interessante Parallele zu Sartre, für den nur äußerliches Verhalten erkennbar ist, das seinerseits auf die „Black Box“ des Geistes verweist: „In erster Linie manifestiert sich die Erscheinung Anderer in meiner Er­ fahrung durch die Anwesenheit organisierter Formen wie der Mimik und des Aus­ drucks, der Handlungen und der Verhaltensweisen. Diese organisierten Formen verweisen auf eine organisatorische Einheit, die sich grundsätzlich außerhalb unserer Erfahrung befindet.“ [Sartre, Sein 1993 (1952), S. 413]. 72  Davidson, Wissen 2004, S. 54. Nach Davidson scheitern auch diese Versio­ nen an der Autorität der ersten Person. 73  Geulen, Handeln 1982, S. 35, 51. 68  Ebd.,

224

F. Das Problem des Fremdverstehens

Lücke bestehen zwischen der Beobachtung sprachlichen wie nichtsprach­ lichen Verhaltens einerseits und der Zuschreibung psychischer Zustände andererseits. Diese Lücke kann auch durch den Beobachtungsansatz nicht geschlossen werden.74 Aus Beobachtungen abgeleitete Annahmen über möglicherweise korrelierte mentale Zustände der Person bleiben spekula­ tiv.75 Was ich vielmehr erfasse, ist lediglich der beobachtbare Verhaltensab­ lauf, der mittels eines anschließenden Deutungsaktes durch mich in einen Sinnzusammenhang gebracht wird, der jedoch keinesfalls dem Sinnzusam­ menhang entsprechen muss, in den der Handelnde selbst sein Tun gestellt hat.76 Das gilt nicht nur für Beobachtungen von Zustandsveränderungen fremder Körper, sondern auch für durch Andere erzeugte und hervorge­ brachte Gegenstände. Von diesen Objekten ausgehend kann man zu den erzeugenden Vorgängen zurückfragen, die ihnen zugrunde liegen. Alle die­ se Wahrnehmungen und Geschehnisse haben für mich einen Sinn, der je­ doch keineswegs identisch sein muss mit dem Sinn, den der Urheber mit ihnen verbindet.77 Der Kardinaleinwand gegen den Beobachtungsansatz besteht darin, dass Beobachtungen nicht differenziert genug sind, um berechtigt auf den spezi­ fischen Inhalt der psychischen Zustände einer anderen Person schließen zu können. Von einer vorliegenden, äußerlich beobachtbaren Verhaltensweise lässt sich nicht auf einen spezifischen mentalen Zustand, ein konkretes Motiv, eine bestimmte Überzeugung oder eine spezielle Absicht schließen. Darüber hinaus kann Verhalten nicht nur durch einen einzigen Wunsch oder eine einzige Intention bestimmt sein, sondern oftmals durch ein ganzes Geflecht von Wünschen, Absichten usw.78 Die behavioristische Analyse hat einen „vergröbernden“ und vereinheit­ lichenden Effekt, insofern unser Verhaltensrepertoire wesentlich weniger differenziert ist als die mentalen Korrelate im Inneren. So ist es uns mög­ lich, auf der mentalen Ebene Zustände voneinander zu unterscheiden, de­ nen auf der beobachtbaren Verhaltensebene nichts entspricht. Die Vielfäl­ tigkeit mentalen Erlebens kann sich nicht im selben Maße auf der Verhal­ tensebene ausdrücken. Es gibt außerdem Fälle, in denen das beobachtbare äußere Verhalten nicht den mentalen Zuständen entspricht, die es auszudrü­ cken scheint.79 Der Sinn einer Verhaltensweise kann ausschließlich durch die Beobachtung des äußeren Verhaltens deshalb auch nicht immer trans­ 74  Röska-Hardy,

Zuschreibungen 2001, S. 110. Rolle 2005, S. 204. 76  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 110. 77  Ebd., S. 103. 78  Röska-Hardy, Rolle 2005, S. 197; dies., Zuschreibungen 2001, S. 109. 79  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 84. 75  Dies.,



III. Theorien des Fremdverstehens225

parent gemacht werden:80 „Ob es sich um einen Angriff, eine scherzhafte Begrüßung oder eine zupackende Rettungsaktion [..] handelt, geht nicht allein aus dem beobachteten Körperverhalten hervor.“81 Vom Beobachten­ den kann auch eine intentionale Handlung nicht ohne Weiteres von einem absichtslosen Verhalten unterschieden werden.82 Allein der äußere Ablauf gibt dem Beobachter also keinen hinreichenden Anhaltspunkt dafür, ob es sich bei dem am fremden Körper beobachteten Ausdruck um eine inten­ dierte oder um eine affektive Bewegung handelt. „Unwillkürliche“ Aus­ drucksbewegungen haben daher nur Sinn für den deutenden Beobachter, nicht unbedingt aber auch für denjenigen, an dem sie beobachtet werden.83 Die Absichtlichkeit eines Verhaltens kann somit von einem äußeren Beob­ achter nur näherungsweise erschlossen werden.84 Um solche Beurteilungen von Verhalten vornehmen zu können, sind bis zu einem bestimmten Ver­ haltenszeitpunkt zusätzliche Informationen aus der Ersten-Person-Perspek­ tive des Beobachteten unabdingbar. Die Tatsache, dass die individuelle Absicht eines bestimmten Verhaltens nur für den Agierenden selbst einseh­ bar ist, hat auch bedeutende Konsequenzen für die Bestimmung der Reichweite eines in den Blick genommenen Verhaltens. Denn Außenstehende können nicht beurteilen, wann für den Akteur ein bestimmtes Tun abge­ schlossen war, wann also eine Handlung, die aus mehreren Teilhandlungen bestehen kann, vollzogen ist. Der Maßstab hierfür kann natürlich nur die subjektive Erste-Person-Perspektive des Handelnden selbst sein. Auch Be­ obachter können ein Verhalten auf der Grundlage einer Interpretation äu­ ßerer Daten, erkennbarer Zustandsänderungen oder Körperbewegungen als abgeschlossen bewerten;85 diese Bewertung muss jedoch nicht mit der subjek­ tiven Handlungseinteilung des Akteurs übereinstimmen.86 Heiner Hastedt weist außerdem darauf hin, dass es auch mentale Zustände gibt, denen überhaupt kein Verhaltensausdruck entspricht, wie etwa im Fall ei­ nes aktiv gewahrten Geheimnisses oder bei einer Körperlähmung, die den Verhaltensausdruck innerer Vorgänge verhindert.87 Es ist möglich, dass Menschen Schmerzen haben, aber kein Schmerzverhalten zeigen, sodass ihnen die behavioristische Theorie, die mentale Zustände durch Verhalten

80  Röska-Hardy,

Rolle 2005, S. 196. Zuschreibungen 2001, S. 107. 82  Willaschek, Handeln 1992, S. 149. 83  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 246 f. 84  Willaschek, Handeln 1992, S. 149. 85  Endreß, Schütz 2006, S. 343. 86  Diese Tatsache ist auch für die Frage nach einer Objektivierbarkeit des Straf­ rechts von Bedeutung. 87  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 84. 81  Dies.,

226

F. Das Problem des Fremdverstehens

ersetzt, kein Schmerzgefühl zuschreiben würde.88 Liegen solche Fälle vor, können sie in aller Regel nicht erkannt werden.89 Für eine Bewertung des behavioristischen Beobachtungsansatzes muss strikt zwischen einem legitimen methodologischen und einem metaphysisch überhöhten Behaviorismus unterschieden werden; letzterer führt in die Irre. Die Forderung des metaphysischen Behaviorismus, nicht nur methodolo­ gisch vom Bewusstsein abzusehen, sondern darüber hinaus auch die Exis­ tenz des Bewusstseins oder des Mentalen grundsätzlich zu leugnen, ist nicht überzeugend.90 Dagegen kann ein recht verstandenes behavioristisches Vorgehen durch gute methodologische Gründe gerechtfertigt sein.91 Die Bedeutung behavioristisch orientierter Analysen ist insbesondere in der Strafrechtstheorie noch nicht hinreichend erkannt und berücksichtigt wor­ den. Die Behandlung des Methodischen Determinismus hat gezeigt, dass in einer nachträglichen Explikation faktisch geschehenen Verhaltens die me­ thodische Einnahme der Dritten-Person-Perspektive unumgänglich ist.92 Dasselbe gilt für die Deutung fremden Verhaltens anderer Personen: „Wir sahen schon, daß diese Fragestellung niemals zur Erfassung des gemeinten Sinnes in der prägnanten Bedeutung des Wortes führen kann. Was erfaßt werden kann, ist immer nur ein ‚Näherungswert‘ zu diesem Limesbegriff ‚fremder ge­ meinter Sinn‘, an welchen in unendlichem Progreß Annäherungen erfolgen können.“93

Ein gemäßigter Beobachtungsansatz räumt die Nichterreichbarkeit subjek­ tiven Wissens ein, ohne dabei die Existenz mentaler Zustände zu leugnen. Er lässt andererseits aber auch einen Zusammenhang zwischen Phänomenen der ersten und der dritten Person dahingestellt. Die beobachteten Personen spekulativ zugeschriebenen mentalen Korrelate werden als eigene Deutun­ gen erkannt, für die aus prinzipiellen Gründen nicht gezeigt werden kann, wie sehr sie den gemeinten Sinn des Anderen tatsächlich treffen. Der methodische Behaviorist zieht subjektive Erlebnisse aufgrund eviden­ ten Selbsterlebens nicht in Zweifel, interessiert sich in der Einschätzung eines Verhaltens allerdings auch nicht vorrangig für die Vorstellungen und Absichten des Anderen, da der Zusammenhang zwischen diesen und dem beobachteten Verhalten unsicher ist:94 88  Walde,

Willensfreiheit 2006, S. 149. Leib-Seele-Problem 1989, S. 84. 90  Ebd., S. 83; Rosenberger, Determinismus 2006, S. 184. 91  Hastedt, Leib-Seele-Problem 1989, S. 84. 92  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 186. 93  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 233. 94  Mit der Beschränkung auf die Analyse von äußerlich beobachtbarem Verhal­ ten umgeht der Behaviorismus das Problem, psycho-physische Zusammenhänge er­ klären zu müssen (Walde, Willensfreiheit 2006, S. 147 f.). 89  Hastedt,



III. Theorien des Fremdverstehens227

„Annahmen, die lediglich auf subjektiver Evidenz bauen, müssen jedoch dann zurücktreten, wenn sich das subjektive Erleben im Widerspruch zu objektiven Erkenntnissen befindet und nach letzteren gefragt werden muss.“95 2. Der Ansatz der „Theorie-Theorie“ Der Ansatz der „Theorie-Theorie“ erhebt nun den Anspruch, die erkennt­ nistheoretische Lücke, die der Beobachtungsansatz hinterlässt, durch eine alltagspsychologische Theorie des menschlichen Verhaltens schließen zu können.96 Aus Sicht der Theorie-Theorie gibt es keine erkenntnistheoreti­ sche Asymmetrie zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen,97 da durch die Partizipation beider Zuschreibungsvorgänge an derselben Alltagstheorie Bedeutungsähnlichkeit oder -gleichheit (abhängig von der Stärke der vertre­ tenen Position) von Ausdrücken wie „glauben“, „wünschen“ oder „wollen“ erreicht wird. Diese Ausdrücke sind theoretische Termini einer alltagspsy­ chologischen Theorie des Geistes, die im Prinzip genauso funktionieren wie die theoretischen Termini naturwissenschaftlicher Theorien. Wörter wie „Überzeugung“ oder „Wunsch“ sind demnach theoretische Begriffe, die nichtbeobachtbare Entitäten bezeichnen und durch ihre Funktion in der von allen geteilten Alltagspsychologie definiert werden.98 Selbst- und Fremdzu­ schreibungen mentaler Vorgänge wären demzufolge Ergebnisse eines theo­ retischen Schlussfolgerungsverfahrens. Die Theorie-Theorie kann im Rahmen des kognitionswissenschaftlichen Modells impliziter Wissensstrukturen vertreten werden. Die alltagspsycholo­ gische Theorie des Geistes wird dann als ein angeborenes Regelsystem, ähnlich Chomskys Universal-Grammatik, aufgefasst.99 Obwohl diese im­ plizite Wissensstruktur ihre Ausprägung erst im Laufe der menschlichen Individualentwicklung erfährt, wird die alltagspsychologische Theorie selbst als angeborener Bestandteil unserer kognitiven Architektur betrachtet. Die „erfahrungswissenschaftliche“ Variante der Theorie-Theorie geht dem­ gegenüber davon aus, dass die alltagspsychologische Theorie des Geistes aufgrund von Beobachtung und Hypothesenbildung erworben wird, wie dies auch bei der Entwicklung empirischer Theorien geschieht. Auch hier gelten Überzeugungen, Absichten und Wünsche als theoretische Konstrukte, die an­ 95  Detlefsen,

Grenzen 2006, S. 331. Zuschreibungen 2001, S. 110. 97  Ebd., S. 111. 98  Ebd., S. 112. 99  Ebd., S. 113. 96  Röska-Hardy,

228

F. Das Problem des Fremdverstehens

genommen werden, um Verhalten erklären zu können, Kausalerklärungen zu liefern und um Prognosen zu ermöglichen:100 „Wie ein Physiker aufgrund seines theoretischen Wissens ‚sehen‘ kann, daß eine Substanz in einer Nebel­ kammer Elektronen emittiert, so schreibe ich mir Überzeugungen und Wün­ sche aufgrund der impliziten alltagspsychologischen Theorie des Geistes zu.“101 Wie die theoretischen Begriffe der Naturwissenschaften unterliegen auch Begriffe wie „Absicht“ oder „Wunsch“ dem Theorienwandel.102 Die Grundüberlegung der Theorie-Theorie von der „Theoriengeladenheit“ aller Perspektiven, auch der Beobachterperspektive, ist zutreffend unter gleichzeitiger Einschränkung der Einheitlichkeits-These. Dass keine Pers­ pektive theorielos eingenommen werden kann, hatte schon Husserl gesehen: „Die Naivität der Rede von ‚Objektivität‘, die die erfahrende, erkennende, die wirklich konkret leistende Subjektivität ganz außer Frage läßt, die Naivität des Wissenschaftlers von der Natur, von der Welt überhaupt, der blind ist dafür, daß alle die Wahrheiten, die er als objektive gewinnt, und die objektive Welt selbst, die in seinen Formeln Substrat ist (sowohl als alltägliche Erfahrungswelt, wie auch als höherstufige begriffliche Erkenntniswelt), sein eigenes, in ihm selbst gewordenes Lebensgebilde ist, […]“103

Die Universalität der alltagspsychologischen Theorie des Geistes geht aber nicht so weit, dass sie die erkenntnistheoretische Asymmetrie von Selbst- und Fremderkenntnis aufheben könnte. Die Alltagserfahrungen zei­ gen nämlich auch, dass bestimmte Interna privat bleiben können und auch von mehreren gleich Bezeichnetes mit subjektiv Unterschiedlichem assozi­ iert werden kann. Auch die Partizipation an einer intersubjektiv geteilten alltagspsychologischen Theorie des Geistes kann nicht garantieren, dass der spezifische Inhalt jener psychischen Zustände, in denen sich jemand befin­ det, als solcher beim Anderen ankommt. Hierfür wären wir gezwungen, innerhalb der Alltagstheorie doch wieder auf eigene Ansichten zurückzu­ greifen, um den Inhalt fremder psychischer Zustände bestimmen zu können. Dies stellte jedoch eine Abkehr von der Theorie-Theorie und eine Hinwen­ dung zur Simulationstheorie dar. Der Rückgriff auf die kognitiven Fähigkei­ ten des Zuschreibenden, um den Inhalt psychischer Zustände Anderer zu spezifizieren, bedeutet eine Preisgabe der Theorie-Theorie. Denn das würde bedeuten, dass die universale Alltagstheorie des Geistes nicht ausreicht, um Aussagen über spezifische psychische Zustände zu treffen.104 Somit muss im Ergebnis festgestellt werden, dass die Theorie-Theorie allein keine ad­ 100  Röska-Hardy,

Zuschreibungen 2001, S. 114. S. 115. 102  Ebd., S. 114. 103  Husserl, Krisis 1977 (1936), S. 107. 104  Röska-Hardy, Zuschreibungen 2001, S. 119 f. 101  Ebd.,



III. Theorien des Fremdverstehens229

äquaten Erklärungen für die Beschreibung psychischer Zustände zu liefern imstande ist.105 3. Die Einfühlungstheorie Die Einfühlungstheorie kann als frühe „Vorläuferin“ der Simulationsthe­ orie betrachtet werden. Die geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens geht auf die romantische Hermeneutik Friedrich Schleiermachers zurück, der hierunter das „Sich-hinein-Versetzen“ in den Autor eines Textes ver­ stand. Schleiermacher ging davon aus, dass sich die Menschen zunächst als einander fremd gegenüberstehen und daher die Wahrscheinlichkeit eines gegenseitigen Missverständnisses groß ist. Auch dem Interpreten tritt der Autor als ein Fremder gegenüber. Diese Schranke der Fremdheit kann nach Schleiermacher allein durch ein einfühlendes Verstehen überwunden wer­ den. Über den divinatorischen Akt versucht der Interpret, sich an die Stelle des Autors zu denken.106 Bei Schleiermacher schafft der Interpret das zu deutende Werk allerdings noch einmal neu, und zwar nicht in identischer Weise, sondern durch einen Akt der Neuschöpfung, der über das Werk des Autors hinausreicht.107 Dieser Verstehensbegriff wurde u. a. von Wilhelm Dilthey zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Text auf menschliche Handlungen übertragen.108 Beim Fremdverstehen anderer Personen steht nicht der beobachtete Ablauf als solcher im Mittelpunkt des Interesses, sondern das Erlebnis des betrach­ teten Menschen: „Die Fragestellung lautet dann nicht: ‚Welche Abläufe gehen in der Außenwelt vor sich?‘, sondern: ‚Welche Erlebnisse erlebt der Andere in ihrem Vollziehen?‘ Handelt er überhaupt aus spontaner Aktivität nach vorangegangenem Entwurf? Wenn dies der Fall ist, worum willen vollzieht er dieses Handeln? Welches ist sein Um-zu-Motiv? In welchem Sinnzusammenhang steht dieses sein Handeln für ihn? usw.“109

Diese Fragen zielen erkennbar aber weder auf den äußeren Geschehensab­ lauf noch auf die Körperbewegungen als solche ab.110 105  Röska-Hardy,

Zuschreibungen 2001, S. 121. Begriff 1995 (1835), S. 314 ff. 107  Herbst, Komplexität 2004, S. 59. 108  Ebd., S.  59 f. Vgl. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1993 (1910), S. 89 ff.; ders., Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: Gesammelte Schiften, Bd. 5, 8. Aufl., Leip­ zig / Stuttgart 1990, S. 317 ff. 109  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 236. 110  Ebd. 106  Schleiermacher,

230

F. Das Problem des Fremdverstehens

Im Unterschied zur ursprünglichen hermeneutischen Überlegung der an­ eignenden Neuschöpfung von Sinn durch den Rezipienten oder Beobachter, teilt die Einfühlungstheorie mit der Theorie-Theorie die These, dass eine direkte und „authentische“ Wahrnehmung fremder Bewusstseinszustände möglich ist. Was in der Theorie-Theorie über die Partizipation an derselben alltagspsychologischen Theorie des Geistes gewährleistet wird, übernimmt in der Einfühlungstheorie unsere Fähigkeit zu „innerer Anschauung“, über die das fremde Erlebnis und der gemeinte Sinn fremden Verhaltens für ei­ nen Beobachter direkt erfassbar sind. Demnach wären uns die Erlebnisse der Anderen über eine Einfühlung genauso zugänglich wie die eigenen. Auf das fremde Erlebnis kann dann direkt hingesehen werden:111 „Vielmehr behaupten wir, daß, vom Akt der inneren Wahrnehmung und seinem Wesen aus gesehen sowie in bezug auf die Tatsachensphäre, die in innerer Wahr­ nehmung erscheint, jeder das Erleben der Mitmenschen genau so unmittelbar (und mittelbar) erfassen kann wie sein eigenes.“112

Die Einfühlungstheorie hat mit demselben Problem zu kämpfen, das sich auch der Theorie-Theorie stellt. Sie ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, über die Feststellung einer grundsätzlich mindestens ähnlichen Struktur des fremden Bewusstseins hinaus detaillierte Bewusstseinsinhalte des Anderen bestimmen zu können:113 „Die Theorie nimmt als grundlegenden Prozeß an, daß ein Subjekt (Ego) inner­ halb einer gegebenen Situation bzw. eines Bezugssystems, in dem es mit einem anderen Subjekt (Alter) bzw. mit mehreren Subjekten steht, sich virtuell in die Position des bzw. der anderen versetzt und die dieser Position entsprechende spezifische Perspektive von der Situation einschließlich von ihm selbst re­ konstruiert.“114

Beim einfühlenden Verstehen handelt es sich also um ein Gedankenexpe­ riment, dessen praktische Bedeutung darin liegt, Hypothesen darüber zu liefern, was in anderen Menschen vorgeht.115 Der Verstehende muss versu­ chen, sich geistig in die Lage der anderen Person zu denken: „[…], er muß sich darum bemühen, in die Vorstellungswelt jener Person einzu­ dringen, insbesondere deren faktische und normative Überzeugungen in sich zum Leben erwecken; und er muß danach trachten, sich alle Motive zu vergegenwär­ tigen, welche die Entscheidungen dieser Person hervorriefen. Es handelt sich also um ein Gedankenexperiment von bestimmter Art, […].“116

111  Schütz,

Aufbau 2004 (1932), S. 101 f. Wesen 1973 (1923), S. 250. 113  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 242. 114  Geulen, Handeln 1982, S. 53. 115  Stegmüller, Einheit 1967, S. 9 f. 116  Ders., Probleme 1983, S. 417. 112  Scheler,



III. Theorien des Fremdverstehens231

Damit liegt nach Stegmüller die Funktion des einfühlenden Verstehens in einem ersten Schritt der Vorklärung eines Sachzusammenhangs und der Formulierung einer Hypothese, die für sich genommen aber noch keine Erklärung darstellt.117 4. Die Simulationstheorie Die Einfühlungstheorie vermag mit ihrer Annahme einer direkten An­ schauungsmöglichkeit fremdpsychischer Prozesse nicht zu überzeugen. Plausibler ist es, dass wir in Wirklichkeit im Prozess des Fremdverstehens beobachtbares Verhalten als Anzeichen für etwas Bewusstes in den Blick nehmen und auf eine spezifische Art und Weise mit dieser Beobachtung umgehen. Der nachfühlende Beobachter interessiert sich beim Versuch des Fremdverstehens nicht für die Anzeichen selbst, sondern für das, wofür sie Anzeichen sein sollen: für das Bewusstsein des Beobachteten. Das setzt die Annahme zwingend voraus, dass der äußerlich beobachtete Geschehensab­ lauf überhaupt auf ein zugrundeliegendes Bewusstsein verweist, das mit ihm in einem Zusammenhang steht.118 Wir versuchen ein beobachtetes Verhalten zu verstehen, indem wir uns die fremden Motive mit einer zugleich in Kauf zu nehmenden Inadäquanz fiktiv zu eigenen machen.119 Allerdings bleibt es im Unterschied zur Einfühlungstheorie für den Ana­ logieansatz dabei, dass sich der Beobachter als Anhaltspunkt für seine Deutung nur auf einen äußerlichen Ablauf beziehen kann.120 Was der Erfah­ rung zugänglich ist, ist z. B. das Verhalten des anderen Leibes, nicht aber dessen Interna. Die Innerlichkeit eines anderen Menschen kann lediglich aus äußeren Beobachtungen abgeleitet und gedeutet werden, z. B., dass derjeni­ ge, der weint, möglicherweise traurig ist. Es kann aber auch nur eine aller­ gische Reaktion vorliegen. Eine solche Zuschreibung vollzieht sich auf dem Wege der Analogisierung: Dem Anderen wird analog die eigene Innerlich­ keit unterstellt, die das Ich von der Selbsterfahrung her kennt.121 Während also die Einfühlungs-These allgemein einen Erkenntnisgewinn durch den Versuch behauptet, sich direkt „an die Stelle des Anderen“ zu denken, nimmt das Analogie-Konzept 1. seinen Ausgangspunkt bei äußerlich Beobachtbarem und 117  Herbst,

Komplexität 2004, S. 65 f. Aufbau 2004 (1932), S. 236. 119  Hanke, Schütz 2002, S. 87 f. 120  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 243. 121  Kapsch, Verstehen 2007, S. 35. 118  Schütz,

232

F. Das Problem des Fremdverstehens

2. deutet das Beobachtete durch eine Simulation analog zu eigenen Erfah­ rungen. „Fremdes Bewusstsein nehme ich auf Grund der Einfühlung an. Man könnte sagen: Es ist doch ein Analogisieren […].“122 Damit hat das Fremdverstehen in der Simulationstheorie einen geradezu projektiven bzw. entwurfshaften Charakter. Denn um die Innerlichkeit des Anderen zu erschließen, muss ich von meiner eigenen Erfahrung ausgehen, die nicht dieselbe sein kann wie die desjenigen, dem ich meine Erfahrung zuschreibe.123 Der eigene Leib befindet sich im Modus des „Hier“. Von die­ sem „Hier“ aus lebt das Ich, handelt es und nimmt es wahr. Der andere Leib ist dem Ego dagegen immer im Modus des „Dort“ gegeben.124 Das Ich ana­ lysiert seinen eigenen Charakter und überträgt dieses Wissen im Verstehens­ vorgang auf den Anderen.125 So kann das Ego auf dem Wege der Analogie zwar imaginieren, welche Erlebnisse oder Vorstellungen der Andere hat, auch kann es versuchen, die eigene Wahrnehmung der des Anderen anzunähern, faktisch ist es aber unmöglich, dass das Ich und der Andere gleichzeitig den­ selben Standpunkt einnehmen.126 Fremderfahrung ist eine hypothetische Set­ zung des Ich:127 „ ‚In‘ mir erfahre, erkenne ich den Anderen, in mir konstitu­ iert er sich – appräsentativ gespiegelt, und nicht als Original.“128 Husserl legt die Überlegung nahe, dass Fremdverstehen immer nur in einem graduellen Maße möglich ist, jedoch nicht, wenn man es mit quali­ tativ Anderem zu tun hat. Ich kann immer nur das verstehen, was sowohl ich als auch der Andere teilen: So kann auch der Phlegmatiker analogisch nachvollziehen, wie sich gerade ein fröhlicher Mensch fühlen mag, da ihm trotz seines phlegmatischen Charakters fröhliche Gemütszustände jedenfalls nicht völlig unbekannt sind. Mittels einer graduellen Verschiebung ist es ihm möglich, die Fröhlichkeit des Anderen zu imaginieren.129 Die bisher systematischste Theorie des Fremdverstehens wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Wiener Philosophen Alfred Schütz entwi­ ckelt.130 In seinem 1932 verfassten Werk „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ knüpft Schütz methodisch an die Phänomenologie Edmund Husserls an.131

122  Husserl,

Phänomenologie 1973, Beilage IV, S. 8. Verstehen 2007, S. 33, 37 f., 71. 124  Ebd., S. 36. 125  Ebd., S. 70. 126  Ebd., S. 36. 127  Ebd., S. 37, 44. 128  Husserl, Meditationen 1977 (1931), S. 153. 129  Kapsch, Verstehen 2007, S. 80. 130  Kade, Methoden 1983, S. 26. 123  Kapsch,



III. Theorien des Fremdverstehens233 „Grundlegend sind hierfür die Untersuchungen, welche Bergson und Husserl über den inneren Zeitsinn angestellt haben. Erst die Arbeiten dieser Forscher, vor allem Husserls transzendentale Phänomenologie, haben jene Schichten philosophischen Denkens erschlossen, in denen eine wirkliche Begründung des Sinnproblems an­ gestrebt werden kann.“132

In welcher Weise das Ich fremdes Verhalten überhaupt und insbesondere den subjektiv gemeinten Sinn des sich Verhaltenden verstehen kann, diese Fragestellungen seien eigentlich keine der Soziologie, sie zielten vielmehr auf die den Sozialwissenschaften vorgängige philosophische Problematik der Konstitution der sozialen Realität durch setzende und deutende Akte ab.133 Schütz versteht seine Forschungen daher auch als „konstitutive Phänomeno­ logie“ und möchte eine philosophische Grundlegung der verstehenden Sozio­ logie erarbeiten.134 Der methodologische Individualismus bildet Schützens Ausgangspunkt für die Analyse der Konstitution des subjektiven Sinns: „[…] nur eine derart philosophisch fundierte Methodenlehre kann die Scheinpro­ bleme beseitigen, welche heute mehr denn je die Forschung auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften und insbesondere der Soziologie behindern. In der vorlie­ genden Arbeit ist der Versuch unternommen, die Wurzeln der sozialwissenschaft­ lichen Problematik bis zu den fundamentalen Tatsachen des Bewußtseinslebens zurückzuverfolgen.“135

Der subjektiv gemeinte Sinn ist nach Schütz nicht erfassbar.136 Schütz zufolge gibt es zum Bewusstsein eines anderen Menschen keinen direkten Zugang, weshalb auch die Gedanken des Anderen nie unmittelbar gewusst werden können.137 Es verbleibt ein unzugänglicher Bereich in dessen Be­ wusstsein.138 Der Andere ist gerade deshalb ein Anderer, weil nicht bezweifelt werden kann, dass er Erlebnisse hat, die nicht die meinigen sind. Wenn ich in mei­ nem Bewusstsein die Erlebnisse des Anderen hätte, dann wären es meine Erlebnisse und nicht die seinigen. Er wäre ich.139 Gleichwohl setzt der Versuch zur Ergründung des gemeinten Sinns fremden Verhaltens natürlich die Annahme der grundsätzlichen Erforschbarkeit der fremden Psyche, eine bestimmte Theorie der „Erfassbarkeit“ des Fremdpsychischen voraus. Aller­ 131  Endreß, Schütz 2006, Bd. 3, S. 38; ders. / Renn, Vorbemerkung 2004, S. 34, 37; Kade, Methoden 1983, S. 29. 132  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 75 f. 133  Ebd., S. 98. 134  Endreß, Schütz 2007, S. 371 f. 135  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 75 f. 136  Endreß, Schütz 2006, Bd. 3, S. 35 f.; Hesse, Ordnung 1999, S. 29. 137  Hanke, Schütz 2002, S. 77 f. 138  Ebd., S. 86. 139  Iribarne, Theorie 1994, S. 72.

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F. Das Problem des Fremdverstehens

dings muss der gemeinte Sinn eines fremden Verhaltens nicht mit demjeni­ gen Sinn zusammenfallen, den der von mir beobachtete, von mir als fremdes Verhalten interpretierte Vorgang hat.140 Schütz greift Husserls Analogie-Ansätze systematisierend auf,141 entwi­ ckelt seine Theorie auf der Grundlage der klassischen philosophischen Letztbegründungen der Subjektivität und des Bewusstseins142 und betont immer wieder die Vertrautheit mit sich selbst.143 Auch nach Schütz unter­ stellen wir unsere Bewusstseinsabläufe dem fremden Bewusstsein und haben daher eigentlich immer nur mit unseren eigenen Bewusstseinsinhalten zu tun, nicht jedoch mit fremden. Für Schütz ist es völlig evident, dass wir die Intention des Beobachteten „erfassen“, indem wir uns die fremde Hand­ lungsabsicht als Ziel unseres eigenen Handelns vorstellen und den Ablauf unseres an diesem Entwurf orientierten Tuns simulieren.144 Wir versetzen uns in die Lage des Beobachteten und überlegen mithilfe von Analogie­ schlüssen, wie es uns an dessen Stelle ginge oder wie wir uns verhalten würden.145 Alle Näherungswerte an das vom Anderen Gemeinte beruhen so letztlich doch wieder auf Akten der Selbstauslegung eigener Erlebnisse des Interpre­ tierenden vom Anderen. Denken, das Fremdpsychisches zum Inhalt hat, ist deshalb prinzipiell zweifelhaft:146 „Gemeinter Sinn ist also wesentlich subjektiv und prinzipiell an die Selbstausle­ gung durch den Erlebenden gebunden. Er ist für jedes Du wesentlich unzugänglich, weil er sich nur innerhalb des jemeinigen Bewußtseinsstromes konstituiert.“147

Der Deutende interpretiert in Selbstauslegung nicht nur seine Erlebnisse fremder beobachteter Körper, sondern auch von Artefakten und Medien, die auf eine Erzeugung durch Andere zurückverweisen. Er unternimmt den Versuch des Fremdverstehens, indem er sich ganz grundsätzlich auf „Objek­ tivationen“ bezieht, in denen fremde Bewusstseinsinhalte zum Ausdruck kommen. Ob es sich bei diesen Objektivationen um sprachliches oder nicht­ 140  Schütz,

Aufbau 2004 (1932), S. 101. hinaus vertreten Carnap [Carnap, Aufbau 1961 (1928), S. 186 ff.; ders., Scheinprobleme 2004, S. 38], Planck [Planck, Scheinprobleme 1990 (1947), S. 219] und Sartre [Sartre, Sein 1993 (1952), S. 410] Positionen des Analogie-An­ satzes. 142  Hanke, Schütz 2002, S. 26. 143  Endreß / Renn, Vorbemerkung 2004, S. 48. 144  Kade, Methoden 1983, S. 47; Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 241 f. 145  Stegmüller, Einheit 1967, S. 10; ders., Probleme 1983, S. 415. 146  Hanke, Schütz 2002, S. 86; Kade, Methoden 1983, S. 43; Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 232, 234. 147  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 222. 141  Darüber



III. Theorien des Fremdverstehens235

sprachliches Verhalten (Wörter, Bewegungen, Gesten, abgeschlossene Ver­ haltensresultate) handelt oder eben um Artefakte, also um Zeichen im enge­ ren Sinne bzw. hergestellte Objekte wie Schriftstücke, Geräte, Denkmale usw., ist für den Verstehensvorgang selbst nicht ausschlaggebend.148 Personen können immer nur mittelbar über Bedeutungsträger verstanden werden. Jeder Interpretationsversuch von Fremdpsychischem muss sich auf ein Objekt, ein Ereignis oder einen anderen Sachverhalt in der äußerlich erfahrbaren Welt beziehen. Ein solches Zeichen ist aber noch nicht als sol­ ches ein mentaler Zustand, sondern immer nur dessen Ausdruck. Jeder Kommunikationsprozess ist daher notwendig auf solche beobachtbaren Äußerungen wie Sprache, Schrift, Gestik usw. angewiesen, die von den Beobachtern als Zeichen dessen, was vermittelt werden soll, interpretiert werden können.149 Aus der Tatsache, dass wir für das Fremdverstehen als der Interpretation des subjektiven Sinns eines Anderen auf die Vermittlung durch Zeichen angewiesen sind, folgt ein Argument für die Möglichkeit eines lediglich allgemeinen Fremdverstehens. Damit grenzt sich Schütz zum einen von intuitionistischen Ansätzen ab, die das Verstehen Anderer durch Einfühlung unmittelbar zu erreichen trachten, zum anderen wendet er sich gegen die These der Möglichkeit eines vollständigen Verstehens anderer Menschen im Sinne der Erfassbarkeit spezifischen Fremdwissens. Schon die Diskussion des Beobachtungsansatzes hat gezeigt, dass die Deutung von Beobachtbarem, wozu auch Objektivationen zählen, nicht al­ len Facetten der subjektiven Sinnseite gerecht werden kann. Fremdverstehen ist bei Schütz allerdings nur im Rahmen von Objektivationen individueller Erlebnisse möglich, die dann eben auch eine Vergröberung bedeuten kön­ nen.150 Durch den kommunikativen Prozess des „Über-sich-Auskunft-Gebens“ besteht die Möglichkeit, Anderen einen Zugang zum eigenen Erleben zu eröffnen. Dadurch können Andere subjektiv Erlebtes zwar nicht identisch erfahren, aber sie sind doch in die Lage versetzt, das Kommunizierte nach­ zuvollziehen und einen „Abgleich“ mit eigenen Erfahrungen vorzunehmen. Subjektive Zustände können so mittels der Sprache und anderer Ausdrucks­ möglichkeiten Dritten zugänglich gemacht und in diesem Sinne „objektiviert“ werden. Allerdings stellt sich dann die Anschlussfrage nach der Reichweite dieser „Objektivität“.151 Interaktive bzw. kommunikative Situa­ tionen sind immer auch subjektiv konnotiert, da die Deutungsschemata der 148  Schütz,

Aufbau 2004 (1932), S. 223, 268. Schütz 2002, S. 12, 78. 150  Endreß, Schütz 2006, Bd. 3, S. 71. 151  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 137. 149  Hanke,

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F. Das Problem des Fremdverstehens

Teilnehmenden jederzeit individuell geprägt sind und dadurch der herge­ stellte intersubjektive Zusammenhang subjektiv transzendiert wird. Auch in einer kommunikativen Situation kann man nicht mit Sicherheit wissen, wie der Andere seinerseits sein eigenes Erleben auslegt. Es bleibt nur bei Annä­ herungen, die graduell unterschiedlich „treffsicher“ sein können. So wird etwa der Sinn eines materiellen Zeichens, über den man sich mittels allge­ meiner Deutungsschemata intersubjektiv „verständigt“ hat, subjektiv trans­ zendiert, indem die intersubjektive, schematisch-konventionelle Auslegung durch individuelle Bedeutungselemente modifiziert wird. Fremdverstehen vollzieht sich zugleich immer auch als Selbstauslegung.152 Die Grundüberlegungen zum Analogieverfahren bilden nach wie vor das Herzstück jener Konzepte, die in der Gegenwartsphilosophie unter dem Titel der „Simulationstheorien“ diskutiert werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Vorgang des Personenverstehens dem Analogiean­ satz zufolge in einem Abgleich persönlicher Erfahrungen mit dem beobach­ teten Verhalten anderer Menschen besteht. Demnach verstehen wir einen beobachteten Zusammenhang dann, wenn wir ihn analogisierend in Bezie­ hung setzen zu unserer eigenen Erfahrung. Eine Person beobachtet ein be­ stimmtes menschliches Verhalten und schreibt dem Beobachteten im An­ schluss an eine analogisierende Simulation bestimmte psychische Zustände zu wie Gefühle, Wertvorstellungen oder Absichten, die mit dem beobachte­ ten Verhalten korreliert sein könnten.153

IV. Möglichkeit und Grenzen des Fremdverstehens Eine wichtige Voraussetzung für unsere Personalität besteht darin, dass wir hinsichtlich unserer Gedanken und Gefühle nicht durchsichtig sind, dass also gegen den Wunsch eines Anderen in der Regel nicht festgestellt werden kann, was er gerade denkt, weiß oder möchte.154 Husserls und Schützens Überlegungen zum analogischen Verfahren sind daher vor allem mit Blick auf die Tatsache überzeugend, dass jede verstehende Projektion ihren Aus­ gangspunkt in der Analogie zur eigenen Erfahrung nehmen muss. Die inne­ ren, nicht äußerlich beobachtbaren Vorgänge eines anderen Menschen wer­ den immer auf der Basis des persönlichen Erfahrungsschatzes und innerhalb eigener Deutungsstrukturen ausgelegt.155 Jeder Versuch eines Fremdverste­ 152  Endreß / Renn,

Vorbemerkung 2004, S. 47. Erklären-Verstehen-Kontroverse 1999, S. 152. 154  Rohs, Sinn 1988, S. 71. 155  Kapsch, Verstehen 2007, S. 80 f. 153  Prechtl,



IV. Möglichkeit und Grenzen des Fremdverstehens237

hens ist damit letztlich eine, wenn auch projektive Selbstauslegung des Verstehenden selbst.156 Von Husserls Überlegungen ausgehend ist es allerdings fraglich, ob man durch die projektive Auslegung eigener Erfahrungen wirklich dem Anderen gerecht werden kann,157 auf dessen Interna sich die Verstehensbemühungen richten, oder ob es nicht vielmehr zu einer am Anderen vorbeizielenden Verdopplung des Ichs kommt:158 „Schon in der hier zum Modell genomme­ nen umweltlichen sozialen Beziehung zeigt sich aber die Unerfüllbarkeit des Postulates nach Erfassung des gemeinten Sinnes, […].“159 Diese grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich einer Erfassbarkeit von Fremdpsychischem bedeuten natürlich keineswegs, dass solche Gedanken­ experimente im Alltag nicht häufig unternommen werden, wenn es um die Interpretation oder Erklärung fremden Verhaltens geht.160 Den Bemühun­ gen um Fremdverstehen kommt eine bedeutende praktische Relevanz zu. Es handelt sich um eine Praxis, mit der die Verbindung zu Anderen hergestellt werden soll. Wir orientieren uns nicht ausschließlich am beobachteten Ver­ halten Anderer, sondern lassen immer auch Annahmen über deren Absichten in unser Bild über sie einfließen. Man macht sich ein Bild von den Inten­ tionen Anderer, davon, wie Andere zum eigenen Verhalten stehen, wie An­ dere einen sehen. Zudem geht man davon aus, dass der Andere genau dasselbe tut, indem er sich fragt, wie das Gegenüber ihn sieht. Auch wenn ein Verstehensversuch subjektiv zu einer veränderten praktischen Einstel­ lung gegenüber dem Betrachteten führen kann, ist dieses Wissen weder gesichert noch verlässlich, sondern kommt über den Charakter begründeter Annahmen nicht hinaus.161 Es stellt sich also nicht die Frage, inwiefern es Menschen überhaupt möglich ist, die Perspektiven Anderer zu imaginie­ ren – aus unserer Selbsterfahrung wissen wir, dass diese Möglichkeit be­ steht. Für den strafrechtlichen Kontext ist vielmehr die Beantwortung der Frage entscheidend, ob sich aus fremdverstehenden, analogisierenden Ope­ rationen sicheres Wissen über die Interna der beobachteten Person ableiten lässt.162 Die bisherigen Analysen zur Möglichkeit des Fremdverstehens ha­ ben ergeben, dass die Antwort verhalten ausfallen muss: Nach Schütz un­ terliegt jegliches Fremdverstehen fundamentalen Grenzen. Die Forderung nach einer treffsicheren Erfassung des fremden Handlungssinnes ist nicht 156  Hanke,

Schütz 2002, S. 36. Verstehen 2007, S. 80. 158  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 276, Anm. E 2. 159  Ebd., S.  263 f. 160  Stegmüller, Probleme 1983, S. 417. 161  Geulen, Handeln 1982, S. 48. 162  Ebd., S. 54. 157  Kapsch,

238

F. Das Problem des Fremdverstehens

erfüllbar,163 der subjektiv gemeinte Sinn bleibt der Fremderfahrung verschlossen:164 „Der vom Deutenden erfaßte subjektive Sinn ist bestenfalls ein Näherungswert zu dem gemeinten Sinn des Sinnsetzenden, aber niemals dieser selbst, denn dieser hängt von den Auffassungsperspektiven und dem notwendig immer fragmentari­ schen Vorwissen um die Deutungsschemata des Du ab.“165

Die These des Fremdverstehens sieht sich auch mit dem „biographischen Problem“ konfrontiert, das sich aus der mangelnden Zugänglichkeit der Genese der gegenwärtigen Innerlichkeit des Anderen ergibt: „Die individu­ elle ‚Historizität‘ […], die Gesamtheit der genetischen Konstitution des Subjekts, ist nicht gänzlich zu entschlüsseln.“166 Durch die spezifische Lebensgeschichte des Anderen und der daraus resultierenden einzigartigen biographischen Prägung des Wissenshaushalts bleibt der fremde Sinn auch bei möglichst optimaler Deutung ein Limesbegriff. Die Erfahrungen der Individuen können trotz möglicher vereinheitlichender Einflüsse durch kul­ turelle Prägung, Sozialisation usw. letztlich doch nicht völlig identisch sein.167 Aufgrund der spezifischen biographischen Situation des Einzelnen und dem hieran gekoppelten subjektiven Hintergrundwissen divergieren gemeinte und verstandene Bedeutung grundsätzlich.168 Das biographische Problem stellt sich selbstverständlich nicht nur für den Beobachteten, son­ dern umgekehrt ebenso für den Beobachter. Auch der individuelle und spezifisch durch die eigene Biographie geformte Beobachterstandpunkt kann nicht ausgeblendet werden.169 Die Anerkennung der heteronomen Bestimmtheit des Subjekts liefert demgegenüber ein Argument für die Mög­ lichkeit des Fremdverstehens: Gerade weil das Ich immer schon auch „Fremdes“ in sich trägt, sieht es sich imstande, Andere zu verstehen. Das Ich konstituiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern bildet ein Selbst überhaupt erst durch die Interaktion mit der Umwelt, wobei hier die Gren­ zen zwischen aktiver Aneignung und passiver Übernahme fließend sind und nicht klar definiert werden können. Durch seine weltliche, soziale Verfasst­ heit bleibt das Ich nicht in einer vermeintlichen Eigenheit eingeschlossen, sondern zeigt sich offen für die Andersheit des Anderen. Die soziale Mit-Konstitution des Subjekts ermöglicht so ein auf ein all­ gemeines Nachvollziehen-Können beschränktes Fremdverstehen des Ande­ 163  Hanke,

Schütz 2002, S. 36. S. 85; Kade, Methoden 1983, S. 37. 165  Schütz, Aufbau 2004 (1932), S. 264. 166  Kapsch, Verstehen 2007, S. 73. 167  Hanke, Schütz 2002, S. 36. 168  Ebd., S. 85. 169  Ebd., S. 36. 164  Ebd.,



IV. Möglichkeit und Grenzen des Fremdverstehens239

ren170 bei gleichzeitiger Anerkennung subjektiver Personalität, die eine ge­ naue Bestimmung spezifischer Interna verhindert. Die Rolle des Sozialen und der interpersonalen Kommunikation bei der Genese des Subjekts macht eine strikte Trennung von Eigenem und Fremdem unmöglich,171 nicht je­ doch die Unterscheidbarkeit von Subjekten. Das Subjekt wird intersubjektiv geprägt, erlebt sich selbst jedoch zugleich in Differenz zu allen Anderen, insofern es sich selbst am nächsten ist, Andere hingegen immer nur mittel­ bar wahrnimmt. Der Aspekt der heteronomen Konstitution des Subjekts vermag als solcher das Subjekt als „Fixpunkt“ sozialer Prozesse nicht aus­ zuhebeln, da auch intersubjektive Erfahrungen angeeignet, internalisiert werden müssen. Dadurch werden Erfahrungen zu eigenen Erfahrungen, die sich wiederum von jenen Erfahrungen unterscheiden, denen Andere in „ih­ rer“ intersubjektiven Interaktion unterliegen. Hieraus lässt sich auch die unmittelbare Vertrautheit mit der eigenen Innerlichkeit erklären.172 Aufgrund der Undurchsichtigkeit der heteronomen Subjektgenese könnte allerdings auch eine individuelle Selbsterkenntnis erschwert oder verunmöglicht wer­ den. Mit Blick auf Erkennbarkeit kann so aus der Heteronomie auch ein Argument gegen die Möglichkeit des Fremdverstehens erwachsen. Denn wenn das Subjekt noch nicht einmal sich selbst transparent ist, kann die Behauptung nur anmaßend sein, den Anderen verstehen zu können.173 Al­ lerdings sind der Heteronomität des Subjekts auch Grenzen gesetzt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Möglichkeit des Fremdverstehens über­ haupt: Ein völlig kontingent aufgefasstes Subjekt bliebe uns gänzlich unver­ ständlich.174 Das Subjekt muss sich selbst als einheitliches Selbst begreifen, das dem zu erkennenden Anderen seinerseits Einheitlichkeit unterstellt. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass sowohl Ego als auch Alter nicht einheitlich sein könnten, kommen beide nicht umhin, sich im Vollzug des Erkenntnisaktes gegenseitig Einheitlichkeit zuzuschreiben.175 Die praktische Notwendigkeit der Einheitsunterstellung gilt unbeschadet der Einsicht in die heteronome Struktur des Selbst.176 Individualität resul­ tiert nicht allein aus der Person selbst, sondern auch aus dem spezifischen Konglomerat intersubjektiver Kontexte: Keine Sozialisation ist mit einer anderen identisch. Andererseits kann Individualität auch nicht ausschließlich heteronom bestimmt sein, weil es dennoch immer eines „Kristallisations­ 170  Kapsch, 171  Ebd.

172  Ebd.,

Verstehen 2007, S. 81.

S. 76. S. 133. 174  Ebd., S. 78. 175  Gerhardt, Perspektive 1992, S. X f. 176  Ders., Perspektivik 1999, S. 91 f. 173  Ebd.,

240

F. Das Problem des Fremdverstehens

punktes“ bedarf, auf den hin sich die spezifischen intersubjektiven Einflüs­ se beziehen und verdichten können. Die intersubjektive Prägung subjektiver Erfahrungen kann die erkenntnistheoretische Asymmetrie zwischen Selbstund Fremderkenntnis nicht aufheben.177 Die Simulationstheorie bietet sich als eine Alternative zur Theorie-Theorie an, indem sie die Perspektive der ersten Person betont. Der Simulationsthe­ orie zufolge sind die Zuschreibungen psychischer Zustände nicht etwa auf eine alltagspsychologische Theorie des Geistes zurückzuführen, sondern auf unsere Fähigkeit, Simulationen psychischer Prozesse durchzuführen. Diese Gegenüberstellung von Theorie und Simulation ist jedoch nicht überzeu­ gend, da auch intrasubjektive Simulationen nicht völlig theorielos durch­ führbar sind. Um anderen Personen psychische Zustände zuzuschreiben oder um ihr Verhalten zu prognostizieren, versetzen wir uns an ihre Stelle und vollziehen auf der Basis erstperspektivischer theoretischer Annahmen eine Simulation, deren Ergebnis freilich von den Ressourcen unseres eige­ nen kognitiven Systems abhängt.178 Unter Zugrundelegung eines weiten Theorieverständnisses sind Theorie und Simulation keine konkurrierenden Ansätze, sondern jede Simulation ist ihrerseits auch theoriegeladen. Der Vorteil der Simulationstheorie, im Unterschied zum Beobachtungsan­ satz und der Theorie-Theorie nicht mit dem Inhaltsproblem konfrontiert zu sein, beschränkt sich allerdings nur auf die eigenen Interna. Hier besteht das Problem der Angabe detaillierter Bewusstseinsinhalte in der Tat deshalb nicht, da man qua Selbstauslegung eigener mentaler Prozesse eine spezifi­ sche Bestimmung vornehmen kann.179 Mit Schütz kann aber gezeigt werden, dass die Identifikation der über eine analogisierende Simulation ermittelten eigenen Bewusstseinsinhalte mit den Interna der anderen Person nicht ge­ rechtfertigt ist. Schütz zieht die richtigen Konsequenzen, indem er in der Frage der „Treffsicherheit“ die Möglichkeit des allgemeinen Nachvollzugs fremden Verhaltens aufgrund hinreichender Ähnlichkeit kognitiver Struktu­ ren einräumt bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber der detaillierten Angabe konkreter Bewusstseinsinhalte, an deren spezifischer Zuschreibung wir im Alltag regelmäßig scheitern. Diese Alltagserfahrung lässt sich auch nicht durch den Verweis auf vor­ gängige intersubjektive Kommunikationszusammenhänge einholen. Selbst­ verständlich erfordert jede Kommunikation eine bei den Beteiligten vorhan­ dene hinreichende Übereinstimmung der Interpretationsschemata, wobei al­ lerdings deren völlige Identität von Schütz ausgeschlossen wird. Natürlich 177  Kapsch,

Verstehen 2007, S. 42. Zuschreibungen 2001, S. 124.

178  Röska-Hardy, 179  Ebd.



IV. Möglichkeit und Grenzen des Fremdverstehens241

ist für gelingende Kommunikation die ähnliche Struktur individueller Pers­ pektiven eine notwendige Voraussetzung. Andererseits ist auch bekannt, dass das Wissen über die Welt und ihre Objekte von Mensch zu Mensch verschieden ist.180 Alle drei Theorien, der Beobachtungsansatz, die Theorie-Theorie und die Simulationstheorie sind mit schwerwiegenden Problemen behaftet. Die Hauptschwierigkeit dürfte in der Dichotomie von Erster- und Dritter-PersonPerspektive liegen, die nicht überwunden werden kann.181 Die These der Möglichkeit sicheren Fremdverstehens begegnet auch in wissenschaftstheo­ retischer Hinsicht grundsätzlichen Bedenken. Handelt es sich hierbei doch um einen induktiven Analogieschluss vom eigenen auf einen anderen Fall. Die moderne Wissenschaftstheorie im Anschluss an Poppers „Logik der Forschung“182 zeigt jedoch, dass Induktion niemals zu sicheren Ergebnis­ sen führen kann.183 Der Haupteinwand gegen die Methode des nachfühlen­ den Verstehens richtet sich deshalb auf ihre geringe Zuverlässigkeit.184 Auch der simulierende Verstehensakt kann nur zu bloß möglichen oder bestenfalls wahrscheinlichen Deutungen führen, die immer der eigenen Er­ fahrung des Interpreten entstammen. Andere Interpretationen können ebenso wahrscheinlich sein.185 Das Fremdverstehen stellt ein heuristisches Verfah­ ren zur Verfügung, um Hypothesen aufzustellen, die dann als Anknüpfungs­ punkte für Erklärungen des Verhaltens dienen können. Es bietet aber keine Garantie dafür, dass die auf diese Weise gewonnenen Hypothesen auch zutreffend sind:186 Bereits durch den Versuch, uns mittels eines Gedanken­ experiments in die Lage des Anderen zu versetzen, können gravierende Fehler auftreten, denn bei der Beurteilung der Situation und in der geistigen Rekonstruktion der Auffassungen und Ziele des Anderen können wir uns gründlich irren.187 Das Fremdverstehen kann niemals hinreichend sein, um zu einem be­ stimmten sicheren Wissen über Fremdpsychisches zu gelangen:188 „Und weil es nichts von all dem bedeuten kann, gewährt die Befolgung des Re­ zeptes ‚wenn du die Motive eines anderen Menschen herausbekommen willst oder über diese Motive im Zweifel bist, so versetze dich in dessen Lage‘ auch keine 180  Hanke,

Schütz 2002, S. 88. Zuschreibungen 2001, S. 126. 182  Vgl. Karl R. Popper: Logik der Forschung, 10. Aufl., Tübingen 1994. 183  Stegmüller, Probleme 1983, S. 422. 184  Ders., Einheit 1967, S. 9. 185  Herbst, Komplexität 2004, S. 65. 186  Stegmüller, Probleme 1983, S. 417. 187  Ebd. 188  Ders., Einheit 1967, S. 10. 181  Röska-Hardy,

242

F. Das Problem des Fremdverstehens

Sicherheit. Das Ergebnis ist nicht zuverlässig. […] Damit sind wir in bezug auf das Geltungsproblem abermals zu einem negativen Ergebnis gekommen. Die Methode des Verstehens ist kein sicherer Weg zur Wahrheit, sondern bestenfalls ein heuristischer Kunstgriff, um zu Hypothesen zu gelangen, die vielleicht zutreffen. Die Überlegung lehrt nur, daß es so gewesen sein könnte, aber nicht, daß es so gewesen sein muß, wie ich mir dies in meinem gedanklichen Identifizierungspro­ zeß ausmalte.“189

V. Die methodische Ausklammerung des Fremdpsychischen Die Defizite des Verstehensansatzes bei der Genese sicheren Wissens über die Interna anderer Personen lässt die Frage berechtigt erscheinen, ob nicht auch Kontexte denkbar sind, in denen für die Verhaltenserklärung die Bezugnahme auf Erlebnisse aus der Ersten-Person-Perspektive der in den Blick genommenen Person überhaupt notwendig erscheint.190 Was jemand denkt, fühlt oder „will“ kann jeder primär selbst wissen.191 Aufgrund des privilegierten Zugangs zum eigenen Innenleben besteht für uns die Möglichkeit, individuelle Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedan­ ken und Gefühle auszudrücken und mitzuteilen. Tun wir dies nicht, bleiben Interna für Andere aber unzugänglich.192 Die Möglichkeit, subjektives Wissen zu verbergen, markiert ein Kern­ problem der Theorie des Fremdverstehens: Wie ist es möglich, etwas über die Innenseite des Anderen in Erfahrung zu bringen, wenn er selbst nur wenig oder gar nichts hiervon preisgibt? Die intuitionistische Option einer direkten Anschauung fremder innerer Zustände wurde bereits ebenso zu­ rückgewiesen wie die Möglichkeit einer zuverlässigen Zuordnung von Fremdpsychischem zu behavioral erhobenen Beobachtungen. Beobachtun­ gen führen nicht zu einer verlässlichen Erschließung innerer Zustände an­ derer Personen und können Fehlinterpretationen nicht verhindern. Fremd­ psychisches kann nicht wahrgenommen werden. Wir sind es, die mentale Zustände aufgrund gegebener Informationen konstruieren und Anderen zuschreiben. Wir befinden aus einer externen Perspektive über die Interna Anderer.193 Das Ich kann dem Anderen Aussagen über dessen Innerlichkeit immer nur unterstellen, letztlich aber nie selbst erfahren. Die Originalitäts­ 189  Stegmüller,

Probleme 1983, S. 421 f. S. 418. 191  Planck, Scheinprobleme 1990 (1947), S. 220. 192  Newen / Vogeley, Selbstbewusstsein 2007, S. 109 f. 193  Geulen, Handeln 1982, S. 52. 190  Ebd.,



V. Die methodische Ausklammerung des Fremdpsychischen243

sphäre, die spezifische Erfahrungswelt des Anderen bleibt vom Ich aus betrachtet immer eine Hypothese.194 „Damit ist aber auch gesagt, daß die Fremdseelisches zum Gegenstand habenden Cogitationes prinzipiell zweifelhaft sind, […]“195 Fremdverstehen stößt an grundsätzliche Grenzen der Überprüfbarkeit. Wir können niemals sicher sein, dass wir den Anderen in seiner individuellen Verfasstheit richtig verstehen. Nie können wir mit Gewissheit wissen, wie der Andere sich fühlt oder denkt.196 Stets ist es möglich, dass wir uns gravierend im Anderen täuschen.197 Ein angemessenes Verständnis des Verstehens muss sich dieser Grenzen des Nachvollzugs innerer Vorgänge anderer Menschen bewusst sein.198 Neben den grundsätzlichen Schwierigkeiten der Feststellbarkeit fremder Interna gibt es auch Fälle, in denen Verhalten, wie z. B. Schmerzverhalten, nur vorgespielt und der dazugehörige mentale Zustand nicht gegeben ist. Im Falle einer Verstellung, Täuschung oder eines Schauspiels seitens der be­ trachteten Person entspricht zwar die äußere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die wahrgenommenen Ausdrucksbewegungen sind wirklich, die Bewusst­ seinskorrelate hingegen nicht.199 Das äußere Verhalten einer Person täuscht dann den Beobachter in der Zuschreibung eines mentalen Zustands zu einem bestimmten Verhalten.200 Diese Fälle werden im strafrechtlichen Kontext dann zum Problem, wenn das Gericht für die rechtliche Einordnung eines Verhaltens auf Täterwissen angewiesen ist, das vom Täter aktiv zurückge­ halten oder verfälscht wiedergegeben wird: „When a man says ‚I simply cannot bring myself to do it, however hard I try‘, we as observers cannot normally test the truth of what he says, and it is difficult in normal circumstances to agree upon means of testing whether he has genu­ inely tried to overcome the resistance. It is difficult also to prescribe the circum­ stances in which as observers we can be sure that an impulse said to be irresist­ ible really was at that time irresistible. How do we here tell the difference be­ tween merely not resisting the impulse and finding it irresistible, between not overcoming a felt resistance and finding it insuperable? It seems that we can here only rely on the evidences of sincerity surrounding the subject’s own testimony.“201

194  Kapsch,

Verstehen 2007, S. 44. Aufbau 2004 (1932), S. 231. 196  Geulen, Handeln 1982, S. 52; Kapsch, Verstehen 2007, S. 39. 197  Davidson, Autorität 2004, S. 36. 198  Kapsch, Verstehen 2007, S. 39. 199  Carnap, Scheinprobleme 2004, S. 23. 200  Walde, Willensfreiheit 2006, S. 149. 201  Hampshire, Thought 1982, S. 191 f. 195  Schütz,

244

F. Das Problem des Fremdverstehens

Im Strafrecht werden nur diejenigen Vorgänge oder Befindlichkeiten als „innere Tatsachen“ bezeichnet, die sich in den „Hirnen von Tätern, Opfern, Zeugen ereignen“ und die eine Relevanz besitzen für die strafrechtliche und strafprozessuale Reaktion des Staates:202 „Vorsatz, Voraussehbarkeit, Irrtum über das Verbot oder über die objektiven und andere subjektive Tatbestandsmerkmale, die Fähigkeit, das Verbot zu erkennen, die Fähigkeit, aus Einsicht in das Verbot das betreffende Handeln zu unterlassen. Schuldeinsicht und Reue, Leidensdruck als Strafmilderungsgrund, infolge des (langen) Verfahrens, psychische Auswirkungen, z. B. Wiederholungsneigung eines Täters (‚Hang‘). Und dann die vielen deliktsspezifischen inneren Tatsachen, wie z. B.: niedrige Beweggründe, Bereicherungsabsicht, Zueignungsabsicht und das Wissen um die deliktische Herkunft von Geld bei § 261 StGB.“203

Alle inneren Tatsachen haben gemeinsam, dass sie sich der unmittelbaren Wahrnehmung von außen entziehen.204 Sie befinden sich in einer Art „Black Box“ und bleiben es im Strafverfahren oft auch, wenn auf die Preis­ gabe von Täterwissen verzichtet wird. Hinsichtlich innerer Tatsachen ist man gleich mit drei Unsicherheiten konfrontiert: Erstens ist sich der Täter manchmal selbst nicht (mehr) über seine inneren Zustände im Klaren, zwei­ tens, sofern er sich erinnert, gibt er nicht immer darüber Auskunft, und drittens muss, sofern er sich einlässt, das Ausgesagte nicht der Wahrheit entsprechen. „Ist es also aussichtslos, die inneren Tatsachen zu beweisen? Wenn das so wäre, wäre das ein Grund, das Strafrecht abzuschaffen.“205 Demgegenüber lassen sich äußere, objektive Tatsachen sehen, messen, errechnen und, sofern sie nicht ihrerseits wiederum strafbar sind, auch be­ liebig oft reproduzieren: Ob eine Körperverletzung stattgefunden hat, ein Vermögen durch die Verfügung geschädigt wurde, ein Gewässer verunrei­ nigt, ob ein Verhalten kausal für den Erfolg war, ein Beweismittel erreichbar ist – all diese Tatsachen lassen sich objektiv feststellen.206 Für die Rechtsprechung ist klar, dass bei der Zurückhaltung von Täter­ wissen der Versuch einer „Rekonstruktion“ innerer Tatsachen, also der Vorgänge des Innenlebens, der Absichten, des Dolus und der Fahrlässigkeit, nur dadurch unternommen werden kann, dass aus anderen Umständen (In­ dizien) indirekt auf die festzustellende Tatsache geschlossen wird, etwa von einem äußeren Geschehen auf innere Tatsachen.207 Dem wissenschaftsthe­ oretisch informierten Rechtsmethodiker stellt sich freilich die Frage, mit 202  Hamm, 203  Ebd. 204  Ebd.

205  Ebd.,

Beweis 2009, S. 137.

S. 138. S. 137. 207  Dedes, Beweisverfahren 1992, S. 68; Hamm, Beweis 2009, S. 138. 206  Ebd.,



V. Die methodische Ausklammerung des Fremdpsychischen245

welcher Berechtigung die mittels solcher „Rückschlussverfahren“ rekonstru­ ierten inneren „Tatsachen“ als „Beweise“ bezeichnet werden können: Mit Blick auf die Rücktrittsproblematik lässt sich festhalten, dass „[…] die Verurteilung des Täters letztlich von seinen unüberprüfbaren Einlassungen bzw. dem ungeschickten Zugeständnis einer bewußten Selbstbindung (abhängt).“208 Als „Nebeneffekt“ einer Objektivierung des Rücktritts vom Versuch stell­ ten sich wenigstens hier die bekannten prozessualen Probleme nicht mehr: „Insbesondere für die gerichtliche Praxis schafft sie eine klare, weil von jeder Psychologisierung ferne und tatsächlich rekonstruierbare Leitlinie und vermeidet damit die Schwächen und Unsicherheiten, die jeder subjektiven, auf die Vorstel­ lung des Täters abstellenden Methode zur Ermittlung der geforderten Rücktritts­ leistung immanent sind. Beweisschwierigkeiten, die nach der subjektiven Methode durch das nicht auszuschließende Einlassungsgeschick von Täter und Verteidiger entstehen könnten, sind dem objektiven Lösungsansatz fremd.“209

Hiergegen wendet Scheinfeld ein, dass eine Lösung prozessualer Proble­ me nicht durch die Veränderung materieller Kriterien angestrebt werden dürfe. Beim Problem der wahrheitswidrigen Behauptung durch Versuchstä­ ter, die Gefahr nicht erkannt zu haben, müsse die Trennung beachtet werden zwischen dem materiellen Kriterium und der prozessualen Ermittlung seines Vorliegens. Für den Rechtsanwender, so Scheinfeld, sei es stets unzulässig, einer prozessualen Problematik dadurch Herr zu werden, indem man sie einer materiellen Lösung zuführe. Vielmehr gelte es, prozessuale Probleme auch allein mit prozessualen Mitteln zu beheben.210 Im Prinzip ist Schein­ felds Einwand zuzustimmen. Aus rechtstheoretischer Sicht ist es aber auf einer noch grundsätzlicheren Ebene problematisch, materiell-rechtlich etwas einzufordern, was epistemologisch gar nicht möglich ist. Erkenntnistheore­ tische Grundlagen sind auch im materiellen Strafrecht zu beachten: „Denn sowohl die im Kern subjektivistische Normierung des Versuchsbeginns in § 22 StGB als auch die Möglichkeit, den subjektiven Tatbestand als logisches und zeitliches Prius der Prüfung des objektiven Tatbestands vorzuziehen (vgl. die Fi­ gur des Tatentschlusses beim Versuch), werfen Fragen nach den epistemischen Möglichkeiten und den normativen Risiken dieses Zugangs auf.“211

Carnap sieht angesichts der unüberwindbaren Schwierigkeiten des Fremd­ verstehens die Lösung darin, bei der Beurteilung von Verhalten Fremdpsy­ chisches methodisch auszuklammern.

208  Borchert / Hellmann,

Abgrenzung 1982, S. 432. Ermittlung 2002, S. 171. 210  Scheinfeld, Rücktritt 2006, S. 377. 211  Bung, Wissen 2009, S. 110. 209  Heckler,

246

F. Das Problem des Fremdverstehens

Der erste Schritt der erkenntnistheoretischen Analyse besteht nach Carnap in der logischen Zerlegung des Erlebnisinhalts in einen hinreichen­ den (äußerlichen Ausdruck) und einen entbehrlichen (innere Bewusstseins­ vorgänge) Bestandteil. Der entbehrliche Bestandteil liefert über den hinrei­ chenden hinaus kein neues Wissen, sein theoretischer Gehalt kann aus dem hinreichenden Teil in rationaler Nachkonstruktion erschlossen werden. Die an die logische Zerlegung anschließende erkenntnistheoretische Zerlegung unterscheidet bezüglich des Erlebnisgehalts zwischen einem Kern a (beob­ achtbare Äußerungen) und einem Nebenteil b (Fremdpsychisches). Diese Differenzierung ist dadurch charakterisiert, dass (b) sowohl entbehrlicher Bestandteil als auch gegenüber dem Kern (a) erkenntnistheoretisch sekun­ där ist.212 Dieser Beurteilung liegt das Kriterium zugrunde, dass eine Er­ kenntnis von (b) nur durch den Rekurs auf (a) möglich ist. Darüber hinaus kann der theoretische Gehalt von (b) auf Täuschung beruhen. In der An­ wendung auf die Erkenntnis von Fremdpsychischem stellt Carnap fest, dass eine Erkenntnis von Fremdpsychischem stets einen Kernbestandteil (a) enthält, der sich auf Physisches bezieht und einen entbehrlichen Neben­ teil (b), der das Fremdpsychische darstellt. (B) ist bezüglich (a) dann im­ mer verzichtbar.213

VI. Theoriehaltigkeit aller Perspektiven In der philosophischen Tradition wie in der gegenwärtigen Theorie des Geistes werden Wahrnehmung bzw. Beobachtung einerseits und Theorie andererseits als Gegensätze betrachtet, denen auch eine perspektivische Differenzierung entsprechen müsse: Hier die theoriegeladene Erste-PersonPerspektive, dort die theorielose Dritte-Person-Perspektive der unmittelbaren Beobachtung. Die Diskussion unterschiedlicher Theorien des Fremdverste­ hens hat demgegenüber die „Theoriehaltigkeit“ aller Perspektiven ergeben: „Theorielose“ Erkenntnisse sind nicht möglich, weder in der Ersten- noch in der Dritten-Person-Perspektive. Die Feststellung der „Theoriegeladenheit“ aller Perspektiven beinhaltet allerdings kein Votum zugunsten der Universa­ litäts-These der Theorie-Theorie, nach der die Partizipation der vielen Sub­ jekte an der einen Alltagstheorie des Geistes die epistemische Asymmetrie von Selbst- und Fremderkenntnis aufzuheben vermag. Akzeptiert man diese Sichtweise, besteht auch kein Problem damit, die epistemische Asymmetrie nicht mehr von der Frage abhängig zu machen, ob uns intrasubjektiv Erstperspektivisches unmittelbar oder vermittelt zu­ gänglich ist: Die „Autorität der ersten Person“ leitet sich vielmehr aus ei­ 212  Carnap, 213  Ebd.,

Scheinprobleme 2004, S. 43. S. 44.



VII. Die Frage des Perspektivenwechsels247

nem besonderen Näheverhältnis gegenüber eigenen Interna ab, das auch dann noch bestünde, wenn sich die subjektinterne Zugangsart zur eigenen Psyche nicht grundsätzlich von derjenigen unterschiede, die anderen Sub­ jekten möglich ist: Die in Dritte-Person-Perspektiven generierten Erkennt­ nisse variieren relativ zu den Standpunkten, von denen aus sie entworfen werden. Wenn Beobachtungen ebenso theoriegeladen sind wie Erlebnisse der Ersten-Person-Perspektive und sie damit ebenfalls dem Theorienwandel unterliegen, ergibt sich für das Thema des Fremdverstehens die Frage, wa­ rum dann äußerlich Beobachtbares „objektiver“ oder „verlässlicher“ sein sollte als Nicht-Beobachtbares in der Ersten-Person-Perspektive anderer Personen. Ein Vorteil der Orientierung an Objektivierbarem besteht in seiner Öffentlichkeit. Es ist möglich, sprachliches wie nicht-sprachliches Verhalten zum Gegenstand mehrerer Rezipienten werden zu lassen, während sub­ jektinternes Wissen privat bleiben kann. Die „Rekonstruktion“ von NichtBeobachtbarem bleibt wegen der explanatorischen Lücke „spekulationsge­ fährdet“.

VII. Die Frage des Perspektivenwechsels Nachdem die Resultate des Gedankenexperiments der Perspektivenübernahme als Ergebnisse einer analogisierenden Simulation in der Ersten-Per­ son-Perspektive des Beobachters aufgezeigt wurden, muss noch die Frage nach der Möglichkeit des subjektinternen Perspektivenwechsels beantwortet werden. Die Einnahme epistemischer Perspektiven kann vom Einzelnen nicht im Sinne eines voluntaristischen Verständnisses nach Belieben „gesteuert“ wer­ den. Die Perspektiveneinnahme erfolgt nicht „in freier Wahl“, sondern wird durch den Phänomen- oder Betrachtungsbereich festgelegt, auf den der Blick sich richtet. Hieraus ergibt sich eine Einschränkung jener konstrukti­ vistischen Position, welche die Festlegung der eingenommenen Perspektive allein der „freien Willkür“ des Subjekts überantwortet: Wie der Arzt den Organismus des Patienten aus der Dritten-Person-Perspektive untersucht, so kommen wir auch ganz grundsätzlich nicht umhin, mit Blick auf Andere im ersten Zugriff zwingend die externe Beobachterperspektive einzunehmen, der sich eine analogisierende Deutung durch den Beobachter anschließt, die durch Erstperspektivisches begleitet wird. Die externe Festlegung der Pers­ pektiveneinnahme ändert nichts an der erkenntnistheoretischen Vorgängig­ keit des Subjektiven. Es gibt ein Primat des Internen, aus dem heraus auch die distanziert-objektivierende Haltung der Dritten-Person-Perspektive ent­ wickelt werden kann, sofern sich der Fokus des Erkennenden auf etwas

248

F. Das Problem des Fremdverstehens

richtet, das die Einnahme einer Beobachterperspektive erfordert. Die Ab­ grenzung der zwei Erkenntnisperspektiven in je aktuellen Kontexten ist schwierig, da sich Perspektivenwechsel abrupt vollziehen können, doch gibt es eindeutige Situationen der externen Festlegung des kognitiven Stand­ punktes und der damit verbundenen Perspektive wie die des Arztes,214 des analysierenden Forschers und des erkennenden Richters.215

214  Willaschek, 215  Engisch,

Handeln 1992, S. 154. Lehre 1963, S. 4.

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht am Beispiel des Versuchs (§§ 22–24 StGB) Die philosophische Diskussion zur Möglichkeit eines Fremdverstehens hat gezeigt, dass die Erste-Person-Perspektive eines Anderen entgegen weit verbreiteter Auffassungen nicht ohne Weiteres „eingenommen“ werden kann und die simulierend-analogisierende Rekonstruktion von Fremdpsychischem nicht zu verlässlichem Wissen führt. Dennoch spielt die subjektive Täter­ sicht für das Strafrecht eine entscheidende Rolle, so auch hinsichtlich des Versuchs, des Rücktritts vom Versuch und der Freiwilligkeit des Rücktritts, die im folgenden Kapitel vor dem Hintergrund der erarbeiteten philosophi­ schen Position zur Frage des Fremdverstehens erörtert werden sollen.

I. Der Versuch Der Versuch ist eine tatbestandsnahe Gefährdung, die als solche im Straf­ recht auf der Grundlage der Tätervorstellung ermittelt wird und mit dem Vorsatz der Tatbestandsverwirklichung erfolgt (Tatentschluss). § 22 StGB verlangt für den Versuch außerdem ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung1 als nach außen gerichtete Betätigung des Tatent­ schlusses.2 Begrifflich setzt sich das Versuchsdelikt somit aus einem subjektiven und einem „objektiven“ Versuchselement zusammen. Aufgabe des „unmittelbaren Ansetzens“ zur Tatbestandsverwirklichung, das sich wie der Tatentschluss nach der Vorstellung des Täters von der Tat bemisst, ist es, straflose Tatvorbereitungen von strafbaren Versuchshandlungen abzu­ grenzen.3 Der Versuch ist die begonnene, aber nicht vollendete Tat, die den subjektiven Tatbestand vollständig, den objektiven Tatbestand dagegen nur teilweise verwirklicht oder dazu unmittelbar ansetzt.4 Die Formulie­ rung „nach seiner Vorstellung“ zeigt, dass nur eine vorsätzliche Tat versucht werden kann. Einen fahrlässigen Versuch gibt es nicht.5 Für den Versuch ist hinsichtlich des Delikts ein Mangel am objektiven Unrechtstatbestand 1  Roxin,

Strafrecht, AT II 2003, S. 333. Grundbegriffe 2008, S. 218.

2  Bringewat, 3  Ebd.

4  Fischer, 5  Ebd.,

§ 22 Rn. 2. Rn. 8a.

250

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

charakteristisch bei voller Erfüllung der subjektiven Tatbestandsvorausset­ zungen. Ein strafbarer Versuch liegt also dann vor, wenn folgende Voraus­ setzungen erfüllt sind: – Strafbarkeit der versuchten Tat, – Fehlen der Tatvollendung, – Tatentschluss (subjektiver Versuchstatbestand), – unmittelbares Ansetzen Versuchstatbestand).6

zur

Tatbestandsverwirklichung

(objektiver

Zur Begründung der Strafbarkeit des Versuchs folgt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einer subjektiven Versuchstheorie, welche die Ge­ fährdung nicht an einem objektiven Befund festmacht, sondern an der „Betätigung des verbrecherischen Willens“ des Täters, der als solcher „ge­ fährlich“ sei.7 Die Literatur ist sich jedenfalls darin einig, dass „die vom BGH in die Strafgrundbestimmung des Versuchs eingestreuten Gefähr­ dungsformulierungen nur eine umschreibende Phrase für den rechtsfeindli­ chen Willen des Täters bedeuten.“8 Im Schrifttum wird dagegen hinsichtlich des Strafgrunds überwiegend eine allerdings der subjektiven Theorie nahestehende „gemischt subjektivobjektive“ Eindruckstheorie vertreten, nach der die auf Tatbestandsverwirk­ lichung gerichtete Betätigung des rechtsfeindlichen Willens geeignet ist, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Sicherheit der Rechtsgüter und die Geltung der Rechtsordnung zu erschüttern.9 Die vor dem unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung liegende Vorbereitung der Tat (Tat­ geneigtheit / Tatplan) ist noch kein Versuch.10 Die straflose Vorbereitungs­ phase der Straftat endet mit dem Beginn des Versuchs, dem unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung, der gem. § 23 Abs. 1 StGB bei Verbrechen immer, bei Vergehen nur in den im Gesetz genannten Fällen strafbar ist. Beispiele finden sich in den §§ 223 Abs. 2 StGB (Körperverlet­ zung), 242 Abs. 2 StGB (Diebstahl).11 6  Wessels / Beulke,

Strafrecht AT 2008, S. 215. § 22 Rn. 2a; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 214. 8  Heckler, Ermittlung 2002, S. 51. 9  Fischer, § 22 Rn. 2a; Heckler, Ermittlung 2002, S. 20; Wessels / Beulke, Straf­ recht AT 2008, S. 214. Damit müsste eigentlich selbst vom Standpunkt der herr­ schenden Eindruckstheorie aus der Grund für das Privileg der Straffreiheit in der freiwilligen Beseitigung dieses Eindrucks der Allgemeinheit durch den Rücktritt bestehen (Heckler, Ermittlung 2002, S. 20). 10  Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 333. 11  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 215; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 215. 7  Fischer,



I. Der Versuch251

Zwingende Bedingung für das Vorliegen eines Versuchs ist die Nichtvoll­ endung der Straftat. An Vollendung fehlt es, wenn der objektive Unrechtstat­ bestand nicht oder jedenfalls nicht vollständig erfüllt ist. Aus welchen Grün­ den der Mangel am objektiven Tatbestand konkret besteht, ist für die Fest­ stellung der fehlenden Vollendung des objektiven Tatbestands unerheblich. In Frage kommen etwa die Nichterfüllung einzelner Tatbestandsmerkmale oder das Ausbleiben des tatbestandlichen Erfolgs.12 Kommt es zur formellen Tatvollendung, liegt kein Versuch mehr vor. Vollendet ist eine Tat, wenn alle Tatbestandsmerkmale verwirklicht sind. Die formelle Tatvollendung ist allein abhängig von der gesetzlichen Fassung des jeweiligen Delikts.13 Der Deliktsaufbau der Versuchsstraftat hat im Vergleich zum vollendeten vorsätzlichen Delikt eine besonders im Unrechtstatbestand veränderte Ge­ stalt: Systematisch geht der subjektive Versuchstatbestand (Tatentschluss und weitere subjektive Unrechtselemente) dem objektiven Versuchstatbe­ stand (unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung) voraus.14 Die Prüfung des Tatbestands verläuft beim versuchten Delikt also entgegen­ gesetzt zum vollendeten Delikt.15 Der subjektive und der objektive Ver­ suchstatbestand bilden zusammen den Unrechtstatbestand des Versuchs­ delikts. Dem Versuchstatbestand folgen wie auch beim vollendeten Delikt die Systemstufen der Rechtswidrigkeit und der Schuld.16 Eine besondere Fragestellung der Versuchsstrafbarkeit besteht wegen der strafbefreienden Wirkung des Rücktritts vom Versuch gem. § 24 StGB.17 1. Subjektiver Versuchstatbestand (Tatentschluss) Mit dem Tatentschluss nimmt der Täter die Tat gedanklich vorweg.18 Der subjektive Tatbestand des Versuchs, der Tatentschluss, deckt sich voll­ ständig mit dem subjektiven Unrechtstatbestand des vollendeten Vorsatzde­ likts. Der Tatentschluss setzt sich damit zusammen aus dem – auf sämtliche objektive Tatbestandsmerkmale bezogenen Tatvorsatz und – weiteren subjektiven Unrechtselementen, sofern diese im gesetzlichen Straftatbestand enthalten sind, wie z. B. die besonderen Absichten in den 12  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 219; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 215. 13  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 215. 14  Ebd., S. 219. 15  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 9. 16  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 224. 17  Ebd., S. 219. 18  Gropp, Tatbestand 2003, S. 18.

252

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

§§ 242 (Diebstahl), 249 (Raub), 253 (Erpressung), 259 (Hehlerei) und 263 (Betrug). Diese Absichten sind auch Merkmale des subjektiven Ver­ suchstatbestandes.19 Der subjektive Versuchstatbestand enthält neben den besonderen subjekti­ ven Unrechtselementen sowohl das kognitive wie das voluntative Element des Tatvorsatzes.20 Maßgeblich ist hierbei die Tätervorstellung.21 Der Täter muss alle Tatumstände, die zur Verwirklichung des Unrechtstatbestandes er­ forderlich sind, in seine „Vorstellung von der Tat“ aufgenommen haben.22 2. Objektiver Versuchstatbestand (unmittelbares Ansetzen) Der „objektive“ Versuchstatbestand besteht im unmittelbaren Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes, auf den der Vorsatz des Täters sich richtet.23 Die Grundlage für die Beurteilung der Frage, wann ein unmittel­ bares Ansetzen i. S. d. § 22 StGB („objektive“ Seite des Versuchs) vorliegt, ist jedoch ebenfalls die Vorstellung des Täters von der Tat. Diese in der Rechtsprechung dominierende subjektive Theorie stellt nicht auf eine objek­ tive Betrachtung ab.24 Vielmehr ist ersichtlich, dass auch der „objektive“ Versuchstatbestand in Wirklichkeit eine subjektive Grundlage hat.25 Der Gesetzgeber entschied sich Kristian Kühl zufolge für eine subjektive Grundlage, da eine objektive Begründung für den Versuch insbesondere bei objektiv mehrdeutigen Verhaltensweisen zu unsicher erschien.26 Mit der Anerkennung der Tätervorstellungen als Beurteilungsgrundlage des „objek­ tiven“ Versuchstatbestands ist zugleich das Kriterium der objektiven Gefähr­ lichkeit der Tat für das Tatopfer als Beurteilungskriterium des Versuchs verneint worden. Das bedeutet: Es kann auch dann ein Versuch vorliegen, wenn es objektiv nicht zu einer Gefährdung des Opfers kam, sondern ledig­ lich in der Vorstellung des Täters.27 Die herrschende Meinung dagegen folgt der „gemischt subjektiv-objekti­ ven“ Theorie, die sowohl von der Vorstellung des Täters als auch von der 19  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 220; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 215. 20  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 220; Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 9. 21  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 215. 22  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 220. 23  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 216. 24  Ebd. 25  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 457; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 216. 26  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 457. 27  Ebd., S. 458.



I. Der Versuch253

Unmittelbarkeit des Angriffs auf das geschützte Tatobjekt ausgeht und somit subjektive und objektive Kriterien miteinander kombiniert.28 Der Wille zur Tatbestandsverwirklichung muss demzufolge nach außen in Erscheinung getreten sein durch einen sichtbaren Beginn der Tatausfüh­ rung.29 Ein solches unmittelbares Ansetzen liegt dann vor, wenn der Täter bereits ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht.30 Regelmäßig müssen Gefähr­ dungshandlungen vorgenommen werden, die nach der Tätervorstellung in ungestörtem Verlauf unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen oder mit ihr in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang ste­ hen. Die Rechtsprechung umschreibt solche Handlungen formelhaft damit, dass der Täter die Schwelle zum „Jetzt geht es los.“ überschreitet und nach seiner subjektiven Vorstellung das geschützte Rechtsgut in eine konkrete nahe Gefahr bringt. Die Schwelle zum Versuch sei noch nicht überschritten, wenn es noch an einem letzten Willensruck fehle.31 Fehlt es an einem sol­ chen „unmittelbaren Ansetzen“, kommt eine Strafbarkeit wegen Versuchs nicht in Betracht, da das Tatgeschehen dann in der Verwirklichungsstufe der meistens straflosen Tatvorbereitung „stecken geblieben“ ist. Die sog. An­ satzformel dient somit dazu, das noch straflose, tatvorbereitende Verhalten von der bereits strafbaren Versuchshandlung abzugrenzen.32 Es bleibt jedoch dabei, dass für die Beantwortung der Frage, ob ein „unmittelbares Anset­ zen“ vorliegt, letztlich die Vorstellung des Täters von seiner Tat hinsichtlich der Tatbestandsverwirklichung maßgeblich ist. 3. Rechtswidrigkeit und Schuld Zwischen der Rechtswidrigkeit des Versuchs und der des vollendeten Delikts besteht kein inhaltlicher Unterschied. Die Rechtswidrigkeit des Ver­ suchs wird durch den Versuchstatbestand indiziert. Die Rechtswidrigkeit entfällt, wenn die versuchte Tat gerechtfertigt ist. Ein Versuchsdelikt ist dann gerechtfertigt, wenn auch die vollendete Tat von einem Rechtferti­ gungsgrund gedeckt wäre. Auf das Versuchsunrecht sind daher keine ande­ ren Rechtfertigungsregeln anzuwenden als bei dem vollendeten Delikt. Entsprechendes gilt ebenfalls für die inhaltliche Begründung bzw. den Ausschluss der Versuchsschuld.33

28  Wessels / Beulke,

Strafrecht AT 2008, S. 216. Grundbegriffe 2008, S. 221. 30  Fischer, § 22 Rn. 9. 31  Ebd., Rn. 10. 32  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 221. 33  Ebd., S. 224. 29  Bringewat,

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G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

4. Kritik an der subjektiven Versuchstheorie Der subjektiven Versuchstheorie zufolge, die Rechtsprechung und Teile der Literatur vertreten, liegt der Strafgrund des Versuchs in dem „betätigten rechtsfeindlichen Willen“ des Täters:34 „Jedenfalls hat die Rechtsprechung an das Vorliegen des objektiven Moments in der Vergangenheit derart geringe Anforderungen gestellt und das subjektive Mo­ ment dermaßen überbetont, daß die tradierte Bezeichnung dieser Versuchstheorie als ‚subjektiv‘ gerechtfertigt erscheint.“35

Deshalb wird in Anwendung der subjektiven Versuchstheorie auch der Versuch mit untauglichen Mitteln und am untauglichen Objekt bestraft, selbst bei objektiver Ungefährlichkeit des Versuchs. Entscheidend ist allein, dass der Täter den Versuch für tauglich hält und kein Fall groben Unver­ standes vorliegt.36 Im Hinblick auf die objektive Voraussetzung der „Wil­ lensbetätigung“, in der sich der subjektive Täterwille objektiv manifestieren muss, ist die subjektive Versuchstheorie formal zwar eine „gemischt subjek­ tiv-objektive“ Theorie, doch werden die beiden Komponenten nicht gleich gewichtet, der Schwerpunkt liegt eindeutig auf dem subjektiven Element des Täterwillens.37 Denn nach der subjektiven Theorie ist es völlig unerheb­ lich, ob die Versuchshandlung bezüglich des angegriffenen Rechtsguts auch objektiv gefährlich war oder ob überhaupt eine Gefährdung eingetreten ist. Es kommt ihr nur darauf an, dass die Gefährdung in der Täterperspektive vorhanden war.38 Das in § 22 StGB genannte Normmerkmal „unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzen“, auf dessen Vollendung der Vorsatz des Täters gerichtet ist, enthält aber nicht den Normbefehl „Du sollst nicht zu etwas ansetzen, das nach deiner Einschätzung eine Verwirk­ lichung des Tatbestandes ist!“ Nach Heckler ist es demnach nicht entschei­ dend, welchen Sinn der Täter im Tatvorsatz seiner Tat gibt.39 Insofern ist Heckler zufolge in dem in § 22 StGB vorausgesetzten Merkmal des „unmit­ telbaren Ansetzens zur Verwirklichung des Tatbestandes“ eigentlich ein wirkliches objektives Unrechtsmerkmal des Versuchs zu sehen, das durch die Rechtsprechung hinsichtlich des Täters subjektivistisch uminterpretiert wird, wonach es sich bei dem objektiven Tatbestand des Versuchs lediglich um eine „Verlängerung der deliktischen Vorstellungen des Täters“ in Form einer „Ausdruckshandlung“ handelt.40 34  Heckler, 35  Ebd., 36  Ebd., 37  Ebd., 38  Ebd., 39  Ebd.,

Ermittlung 2002, S. 47, 49, 51. S. 49. S. 50. S.  51 f. S. 52. S. 98.



I. Der Versuch255

5. Objektive Versuchslehren Nach § 22 StGB ist aber auch die Vorstellung des Täters von seiner Tat ein Schlüsselbegriff der Versuchsdogmatik. Damit scheint der Gesetzgeber die subjektive Versuchslehre gesetzlich anzuerkennen.41 Der Gesetzgeber beschränkt sich darauf, im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs nur voll­ endete Taten in den Tatbeständen zu fixieren. Für den Versuch einer Tat gibt er im Allgemeinen Teil in § 22 StGB vor, dass derjenige eine versuchte Tat begeht, der nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Der Gesetzgeber schafft damit einen blo­ ßen Strafausdehnungsgrund, um strafwürdige Verhaltensweisen auch außer­ halb der Tatbestandsverwirklichung zu erfassen. Damit entsteht die Sonder­ form „Versuchsdelikt“. Dieses Vorgehen ist jedoch keineswegs selbstver­ ständlich. Grundsätzlich wäre es dem Gesetzgeber auch möglich, für jedes vollendete Delikt den entsprechenden Versuch in den Deliktstatbeständen zu bestimmen.42 Zum subjektiven Ansatz gibt es mehrere Alternativen. Zu nennen ist zum einen die Lehre von der konkreten Gefährdung des Tatobjektes, wonach sich der objektive Versuchstatbestand durch die objektiv konkrete Gefährlichkeit der Tat bestimmt.43 Fasst der Täter einen Tat­ entschluss, scheitert die Vollendung jedoch, so kann man demnach nur dann von einer versuchten Tat sprechen, wenn die misslungene Tat die in Frage stehende Situation auf eine Weise verändert hat, dass die Möglichkeit des Erfolgseintritts bestand. Als Kriterium dafür, ob eine versuchte Tat vorliegt, dient also die Gefahr der Tatvollendung.44 Als weitere objektive Versuchslehre ist die Risikoerhöhungstheorie zu nennen, die auf der Basis der Lehre von der objektiven Zurechnung entwi­ ckelt wurde. Nach dieser Lehre ist eine versuchte Tat dann anzunehmen, wenn der Täter mit seiner Handlung ein verbotenes Risiko geschaffen hat für den Eintritt eines tatbestandsmäßigen Erfolges. Der innere Grund für die Strafbarkeit der versuchten Tat besteht in dem Moment der Rechtsgutsge­ fährdung. Eine Versuchstat liegt dann vor, wenn die Versuchshandlung hinsichtlich der Verwirklichung eines bestimmten Tatbestandes als riskant anzusehen ist. Ein Urteil über die Risikoschaffung bzw. Risikoerhöhung wird hier auf der Grundlage einer „Verletzungssorgfaltswidrigkeit“ getrof­ fen, die aus der Dritten-Person-Perspektive für den einzelnen Fall festzustel­ len ist, und zwar auf der Basis der bis zum Zeitpunkt der Tathandlung er­ 40  Heckler,

Ermittlung 2002, S. 99. Objektivierung 2005, S. 30. 42  Ebd., S. 40. 43  Ebd., S. 171. 44  Ebd., S. 172. 41  Maier,

256

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

kennbaren Tatsachen.45 Führt die Feststellung nach einer solchen Erhebung dazu, dass die Verwirklichung eines bestimmten Tatbestandes nicht mit Si­ cherheit ausgeschlossen werden kann, so ist die Tathandlung sorgfaltswidrig sowie riskant und mithin eine Versuchstat.46 Maier favorisiert eine Objekti­ vierung durch die Formulierung objektiver Versuchstatbestände in Anleh­ nung an die jeweiligen Vollendungstatbestände. Nach Maier bedeutet die Thematisierung des Unrechts der Versuchstat zugleich das Aufwerfen der Frage, welche Anforderungen neben dem unmittelbaren Ansetzen zur Tatbe­ standsverwirklichung gem. § 22 StGB an den objektiven Versuchstatbestand zu stellen sind. Für die herrschende Versuchslehre stellt sich diese Frage hingegen nicht. Ihr zufolge ist einziger Bestandteil des objektiven Versuchs­ tatbestandes die Betätigung des Tatentschlusses nach den Modalitäten des § 22 StGB. Die objektiven Merkmale des jeweiligen Deliktstatbestandes werden für vollständig durch die Vorstellung des Täters ersetzbar erklärt. Damit ist das Unrecht der versuchten Tat nahezu gänzlich subjektiviert.47 Maier zieht in Zweifel, dass es eine vernünftige Entscheidung ist, wie die herrschende Versuchslehre vollständig auf das objektive Vorliegen von Tat­ umständen zu verzichten und damit jeden Anspruch auf Ähnlichkeit der versuchten Tat mit dem im Deliktstatbestand manifestierten Verhalten auf­ zugeben: „Wird dies einem Tatstrafrecht gerecht und dem Anspruch des Rechts überhaupt, eine rationale Ordnung zu konstituieren?“48 Konkret schlägt Maier Folgendes vor: „[…] Vom Unrecht versuchter Taten zu sprechen, bedeutet für die hier entwickel­ te Versuchskonzeption, die Bedingungen zu klären, unter denen der objektive und der subjektive Tatbestand eines Versuchsdelikts rechtswidrig erfüllt sind. [..] Das Unrecht der versuchten Tat auf eine objektive Grundlage zu stellen, heißt, auf der Basis der gesetzlichen Regelung in den §§ 22, 23 StGB eine neue Technik der Formulierung der objektiven Versuchstatbestände aus den jeweiligen Vollendungs­ tatbeständen zu entwickeln. [..] An die Stelle der beliebigen Ersetzbarkeit objek­ tiver Deliktstatbestandsmerkmale durch die Tätervorstellung tritt die analytische Betrachtung jedes einzelnen Deliktes und die tatbestandsbezogene Entscheidung, welche objektiven Merkmale des Vollendungstatbestandes auch bei der versuchten Tat erfüllt sein müssen, um die im Tatstrafrecht notwendige Tatbestandsähnlichkeit von Vollendungs- und Versuchsdelikt zu wahren.“49 45  Maier,

Objektivierung 2005, S. 173. S. 174. Beide Versuchslehren (Gefährdungs- und Risikoerhöhungstheo­ rie) sind Maier zufolge de lege lata unvertretbar, da der Gesetzgeber den Rechtsstab anweise, grundsätzlich auch wegen solcher versuchter Taten zu strafen, deren Voll­ endung von vornherein unmöglich war, bei der es weder zu einer konkreten Gefähr­ dung, noch zu einer Risikoerhöhung kam. Die Tathandlung als solche musste auch nicht gefährlich sein (ebd., S. 180). 47  Ebd., S. 212. 48  Ebd., S. 213. 46  Ebd.,



II. Der Rücktritt vom Versuch257

II. Der Rücktritt vom Versuch Mit dem § 24 StGB hat der Gesetzgeber eine Spezialregelung für Ver­ suchstäter geschaffen, deren Verhalten nach der Tat im freiwilligen Rücktritt vom Versuch besteht.50 Für den Täter geht es beim Rücktritt um „alles oder nichts“, da er bei einem durchgreifenden Rücktritt vollständige Straffreiheit erlangen kann oder strafbar bleibt. Dieser krasse Alternativismus hat den Rücktritt vom Versuch zu einem der meistdiskutiertesten und kontroverses­ ten Bestimmungen des StGB gemacht. Besonders umstritten, aber auch von besonderer praktischer Bedeutung, ist die Frage, was der Alleintäter im Rücktrittsfall tun muss, um Strafbefreiung zu erlangen. Es geht um die Er­ mittlung der erforderlichen Rücktrittsleistung gem. § 24 Abs. 1 StGB.51 Das Gesetz bestimmt hier lediglich, dass wegen Versuchs nicht bestraft wird, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert, ohne genau festzulegen, in welcher Rücktrittssituation der Täter welche Rücktrittsleistung erbringen muss.52 Durch den freiwilligen Rücktritt wird die bereits eingetretene Versuchs­ strafbarkeit wieder aufgehoben, ohne dass hierdurch der Schuldvorwurf gänzlich getilgt würde.53 Die Schuld des Versuchsdelikts kann durch den Rücktritt nicht wieder beseitigt, gänzlich ausgeglichen oder aufgehoben werden.54 § 24 StGB gewährt dem Täter bei freiwilligem Rücktritt vom Versuch allerdings volle Straflosigkeit. „Diese Großzügigkeit des Gesetzgebers ist nicht selbstverständlich, […].“55 „[…] zuzugeben ist, dass die völlige Straffreiheit, zu der das Rücktrittsprivileg dank seiner starren Regelung de lege lata führt, ein unbe­ friedigendes Ergebnis sein kann.“56 Wieso die Rücktrittsleistung mit einer vollständigen Strafbefreiung honoriert wird57 und nicht mit einer Milderung angesichts der immerhin versuchten Tat, ist nicht unmittelbar evident. Denn es wäre ebenso möglich, lediglich die ordentliche Strafe entfallen zu las­ sen.58

49  Maier,

Objektivierung 2005, S. 268. § 24 Rn. 13. 51  Heckler, Ermittlung 2002, S. 13. 52  Ebd., S.  13 f. 53  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 227. 54  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 228. 55  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 538. 56  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 254. 57  Joecks / Miebach-Herzberg, § 24 Rn. 13. 58  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 538. 50  Joecks / Miebach-Herzberg,

258

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

Ist die Straftat über das Versuchsstadium hinaus formell vollendet, kommt ein strafbefreiender Rücktritt nicht mehr in Frage.59 Der auf Feuerbach zurückgehenden kriminalpolitischen Theorie der „gol­ denen Brücke“ zufolge soll dem Täter durch die „Verheißung der Straffrei­ heit“ ein Anreiz gegeben werden, den Versuch vor der Vollendung aufzuge­ ben und ggf. den Erfolgseintritt zu verhindern.60 Dem Umkehrwilligen soll durch die Androhung von Strafe der Rückweg in die Legalität nicht verbaut werden.61 Das gesetzliche Signal, bei Pflichterfüllung in Gestalt des freiwilligen Rücktritts werde wegen Versuchs nicht bestraft, sei das notwendige Gegenstück zur gesetzlichen Androhung der Strafe im Falle der Pflichtverletzung durch Versäumung des Rücktritts. So, wie die Furcht vor Strafe von der Pflichtverletzung abschreckt, verlocke auch die Aussicht, unbestraft zu bleiben, zur Pflichterfüllung, zum Rücktritt.62 Bemängelt wird an dieser Theorie vor allem die Vorstellung, die Verheißung der Straf­ losigkeit habe im entscheidenden Augenblick einen Einfluss auf den Ent­ schluss des Täters. Die Theorie der „goldenen Brücke“ ist in der Bevölke­ rung weitgehend unbekannt.63 Ferner zeigt die gerichtliche Praxis, dass alle möglichen Motive beim Rücktritt des Täters vom Versuch eine Rolle spielen, nicht jedoch die Er­ wägung, sich von einer bereits verwirklichten Strafe wieder befreien zu können:64 „Aber der Täter hat […] weder die nötigen Rechtskenntnisse, noch bringt er wäh­ rend der Handlung die nötige Rationalität auf, um sich von dem Rücktrittsangebot beeinflussen zu lassen. Wenn er aufhört, ehe er den Erfolg endgültig herbeigeführt hat, so tut er es deshalb, weil er entweder sein motivierendes Ziel erreicht hat, zufrieden ist und auf die Idee gar nicht kommt, einen neuen Tatentschluß zu fassen, oder weil sein Aggressionstrieb erlahmt ist, er also, schlicht gesagt, keine Lust mehr hat.“65

Es ist lebensfremd anzunehmen, der Täter denke zum Zeitpunkt der Tat über die Vorzüge der Rücktrittsregelung nach. Diese Feststellung kann par­ allelisiert werden mit Überlegungen zur grundsätzlichen Nichtbegehung von Straftaten:66 59  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 216; Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 491; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 26. 60  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 538. 61  Joecks / Miebach-Herzberg, § 24 Rn. 21. 62  Ebd., Rn. 22. 63  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 538. 64  Ebd., S. 539. 65  Puppe, Frage 2000, S. 72. 66  Joecks / Miebach-Herzberg, § 24 Rn. 25.



II. Der Rücktritt vom Versuch259 „Auch das Nichtbegehen von Straftaten, zB dass man den Ehegatten leben lässt, keinen Rentner beraubt, selbst reizvolle Frauen nicht sexuell belästigt und Verun­ glückten hilft, erklärt sich fast nie als Folge strafrechtlicher Reflexion, als Ent­ scheidung gegen das Übel der Strafe und für die Vorteile der Straffreiheit. Was hier wirkt, sind normalerweise andere Kräfte wie Zuneigung, Mitleid, verinner­ lichter Anstand und anerzogener Respekt vor fremden Interessen.“67

Die kriminalpolitische Theorie wird auch dahingehend variiert, dass es dem Gesetzgeber weniger darauf ankomme, die Erfolgsabwendung des Zu­ rücktretenden zu honorieren, sondern vielmehr auf die Erhöhung der Ret­ tungschance für das Opfer, indem dem Täter die „goldene Brücke“ der Erfolgsabwendung möglichst lang erhalten bleiben solle. Auch der BGH betont, dass es insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes sinnvoll sein könne, dass sich dem Täter die Möglichkeit eröffne, Straflo­ sigkeit durch bloßes Ablassen von seinem Opfer zu erlangen.68 Aus ähn­ lichen Gründen, die auch schon in grundsätzlicher Hinsicht gegen die Plausibilität der kriminalpolitischen Theorie angeführt werden, äußern sich Stimmen in der Literatur skeptisch zur Annahme eines opferschützenden Effekts der Rücktrittsregelung: „Allein mit kurzsichtigen und lebensfremden Opferschutzspekulationen ist also das Rücktrittsprivileg nicht zu rechtfertigen.“69 Verwandt mit der kriminalpolitischen Theorie der „goldenen Brücke“ ist die heute überwiegend vertretene sog. Verdienstlichkeits- oder Belohnungstheorie, nach welcher dem Täter die Strafbefreiung als Prämie oder Beloh­ nung für das „verdienstliche Handeln“ des Rücktritts gewährt wird. Der Täter soll „etwas davon haben“, wenn er freiwillig die Vollendung vermei­ det.70 Wer zurücktrete, hebe in der Rechtsgemeinschaft den „rechtser­ schütternden Eindruck“ seiner Tat teilweise wieder auf und verdiene daher Nachsicht:71 „Nur der freiwillige Rücktritt gleicht die Erschütterung des Normvertrauens der Allgemeinheit durch die Versuchstat wieder aus, nur er zeigt, dass der Täter in die Bahnen des Rechts bzw. auf den Boden der Legalität zurückgekehrt ist.“72 Dementsprechend geringer sei auch das Bedürfnis, die Geltung der Norm durch die Sanktion zu bekräftigen, wenn der Täter selbst sie wieder anerkenne.73

67  Joecks / Miebach-Herzberg,

§ 24 Rn. 25. Rn. 21. 69  Puppe, Frage 2000, S. 72. 70  Joecks / Miebach-Herzberg, § 24 Rn. 30. 71  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 539. 72  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 493. 73  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 252. 68  Ebd.,

260

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

„Dass die Strafe völlig erlassen (und nicht nur gemildert) wird, ist damit allein jedoch nicht zu erklären, wenn man sich nicht mit der formalen Versicherung begnügen will, für die in geringerem Maße strafwürdige Tat bestehe kein Strafbedürfnis mehr. Insoweit dürfte vielmehr auch das kriminalpolitische Kalkül im Spiel sein, dass der Täter durch die Aussicht auf vollen Straferlass am ehesten zur Umkehr bewogen werden könne – wie realistisch eine solche Überlegung auch immer sein mag.“74

Das Gesetz begnügt sich dabei mit der Freiwilligkeit des Rücktritts, ein ethisch hochstehender Wert des Rücktrittsmotivs wird dagegen nicht ver­ langt.75 Die Grenze dieser Theorie wird deshalb auch in Fällen deutlich, in denen der Täter die weitere Ausführung nur deshalb aufgibt, um eine andere Straftat zu begehen. So wird der Täter wegen des Versuchs, die zunächst festgehaltene ältere Frau sexuell zu nötigen auch dann nicht be­ straft, wenn er nur „umdisponiert“, weil ein junges Mädchen um die Ecke kommt. Hier liegt weder „Verdienstlichkeit“ vor, noch kann der Täter für eine „Rückkehr in die Legalität“ belohnt werden, wenn er nur deshalb vom Versuch zurücktritt, um eine andere Straftat zu begehen.76 Der BGH begründet die Straflosigkeit des Rücktritts vor allem mit dem Wegfall des Strafzwecks (Strafzwecktheorie). Denn wenn der Täter freiwil­ lig von der Vollendung der Tat Abstand nehme, so zeige er damit, dass sein rechtsfeindlicher Wille zur Durchführung der Tat nicht ausgereicht habe. Strafe sei damit eben nicht mehr geboten. Dem ist entgegenzuhalten, dass die objektive Gefährlichkeit der Tat normalerweise wegen des Rücktritts kaum geringer wird, was freilich dann unbeachtlich ist, wenn statt auf die objektive Gefährlichkeit auf den „rechtsfeindlichen Willen“ des Täters ab­ gestellt wird. Die Strafwürdigkeit der Tat wird durch den Rücktritt keines­ wegs ohne Weiteres aufgehoben.77 Wer nach § 24 StGB vom Versuch zurücktritt, kann nicht wegen eines Versuchsdelikts bestraft werden. Allerdings betrifft die strafbefreiende Wir­ kung des Rücktritts nur den Versuch als solchen. Ist z. B. im Versuch bereits ein anderes vollendetes Delikt enthalten, bleibt diese vollendete Tat strafbar. So bleibt etwa die im Tötungsversuch enthaltene Körperverletzung von der strafbefreienden Wirkung des Rücktritts unberührt. Tritt trotz der Rücktrittsbemühungen dennoch der tatbestandliche Erfolg ein, ist der Rücktritt misslungen und der Täter kann nicht mehr nach § 24 StGB zurücktreten. Er ist dann wegen vollendeter Tat zu bestrafen.78

74  Stratenwerth / Kuhlen,

Strafrecht AT I 2004, S. 252. Lehrbuch 1996, S. 539. 76  Joecks / Miebach-Herzberg, § 24 Rn. 31. 77  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 539. 75  Jescheck / Weigend,



II. Der Rücktritt vom Versuch261

1. Beendeter und unbeendeter Versuch Von der Einordnung des Versuchs als eines beendeten oder unbeendeten hängt die Rücktrittsleistung ab, die für den Täter zur Straffreiheit führt.79 § 24 Abs. 1 S. 1 StGB beschreibt zwei Rücktrittshandlungen, die dem Täter eines strafbaren Versuchs Straffreiheit verschaffen können. Beide Alternati­ ven stehen dem Täter allerdings nicht gleichrangig zur Verfügung. Wegen unterschiedlicher Anforderungen an das Verhalten des Täters kommt der Einordnung eines Versuchs als beendet oder unbeendet erhebliche Bedeu­ tung zu.80 Das Gesetz selbst kennt die Begriffe des beendeten und des un­ beendeten Versuchs nicht.81 Eigentlich liegt es nah anzunehmen, allein der objektive Ablauf des Ver­ suchsgeschehens entscheide darüber, ob ein Versuch bereits so weit gediehen ist, dass sich der Eintritt des Erfolges nur noch durch aktive Gegenmaßnah­ men verhindern lässt. Nicht so jedoch die fast einhellige Rechtsprechung und Lehre, die es wie auch schon in der Frage nach dem Vorliegen des Versuchs für die Abgrenzung von beendetem und unbeendetem Versuch auf die Vorstellungen des Täters über das Verwirklichungsstadium der Tat ankommen lassen möchte.82 Für die Rechtsprechung, die der „subjektiven Theorie“ folgt,83 liefert das subjektive Vorstellungsbild des Täters über die Erfolgsnähe seiner Tat den Maßstab für die Unterscheidung zwischen beendetem und unbeendetem Versuch, nicht die tatsächliche Erfolgsnähe der Tathandlun­ gen.84 Der Täter bestimmt also in gewisser Weise selbst über die erforderli­ che Rücktrittsleistung bzw. trifft die Wahl zwischen den verschiedenen Rück­ trittsvarianten des § 24 Abs. 1 StGB.85 Über den Inhalt der Tätervorstellung, also über die wichtige Frage, welchen Wahrscheinlichkeitsgrad die Tatbe­ standsverwirklichung nach der Vorstellung des Täters haben muss, damit der Versuch als noch unbeendet oder bereits als beendet gilt, besteht aufgrund der Subjektivität des Abgrenzungskriteriums erwartungsgemäß Uneinigkeit. Sprechen sich einige Meinungen dafür aus, einen beendeten Versuch erst 78  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 229; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 549; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 260; Wessels / Beulke, Straf­ recht AT 2008, S. 242. 79  Fischer, § 24 Rn. 14. 80  Borchert / Hellmann, Abgrenzung 1982, S. 430. 81  Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 526. 82  Heckler, Ermittlung 2002, S. 156; Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 481; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 253; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 231. 83  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 231. 84  Fischer, § 24 Rn. 14; Joecks / Miebach-Schneider, § 212 Rn. 57. 85  Heckler, Ermittlung 2002, S. 157.

262

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

dann anzunehmen, wenn die Deliktsvollendung aus der Sicht des Täters mit erheblicher Wahrscheinlichkeit einzutreten droht, sehen andere den Versuch bereits immer dann als beendet an, wenn der Täter mit der nicht auszuschlie­ ßenden Möglichkeit des Erfolgseintritts rechnet.86 Mit seiner rücktrittsfreundlichen Rechtsprechung geht der BGH davon aus, dass durch eine erweiterte Rücktrittsmöglichkeit dem Opferschutz ge­ dient wird: Man spricht von einem „erweiterten Rücktrittshorizont“, nach dem die Tätervorstellung erst nach der letzten Ausführungshandlung für die Zuordnung der Tathandlung zu einem beendeten bzw. unbeendeten Versuch maßgeblich ist.87 Obgleich die Unterscheidung zwischen beendetem und unbeendetem Ver­ such auf der Grundlage der Täterperspektive vorgenommen wird, kann schon heute auf die Heranziehung objektiver Kriterien jedenfalls nicht völ­ lig verzichtet werden. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass Erfolgsnähe und Gefahreninten­ sität als Indizien Rückschlüsse auf das Vorstellungsbild des Täters nach dem Abschluss der Tathandlung gestatten. Namentlich bei gefährlichen Gewalt­ taten und schwerwiegenden Verletzungen des Opfers muss man nach Auf­ fassung des BGH in der Regel von einem beendeten Versuch ausgehen, denn dann läge es besonders nahe, dass der Täter, der die Gefährdung des Opfers durch seine Handlungen realisiert, zugleich deren Erfolgsträchtigkeit erkennt. Die jedenfalls grundsätzliche Beibehaltung der Täterperspektive als Maßstab der Abgrenzung des beendeten vom unbeendeten Versuch bei gleichzeitigem Rekurrieren auf das objektiv feststellbare Tatgeschehen als „Anzeichen“ für subjektive Tätervorstellungen führt dazu, dass es mitunter vom Verhalten des Opfers nach dem Vollzug der Tathandlungen abhängt, unter welchen Rücktrittsbedingungen der Täter Straffreiheit erlangt:88 „Stößt der Täter dem Geschädigten ein Messer mit Tötungsvorsatz in den Ober­ körper, liegt die Vorstellung, der Angegriffene könne an den Folgen des Stiches sterben, auf der Hand. […] Aus der Täterperspektive dürfte eine erkennbare Le­ bensgefährdung gegeben sein, wenn das Opfer nach dem Angriff getroffen zusam­ mensinkt, sich nur mühsam vom Tatort wegschleppen oder gar nur noch kriechen kann. […] Demgegenüber kann koordiniertes Nachtatverhalten des Opfers dem Täter die Vorstellung vermitteln, der Geschädigte sei nicht tödlich getroffen. Na­ mentlich dann, wenn das Opfer – vom Täter wahrgenommen – den Tatort zu verlassen vermag, kann beim Täter der zur Annahme eines unbeendeten Versuchs führende Eindruck entstehen, der Verletzte sei nicht tödlich getroffen. […] Häufig

86  Heckler,

Ermittlung 2002, S. 157, Fn. 745. Lehrbuch 1996, S. 542. 88  Joecks / Miebach-Schneider, § 212 Rn. 58. 87  Jescheck / Weigend,



II. Der Rücktritt vom Versuch263 verhält es sich so, dass das Opfer nach einem lebensgefährlichen Messerstich zunächst keine Wirkungen zeigt, sondern den Angriff nur als Schlag wahrnimmt.“89

Für die wichtige Entscheidung, welche Rücktrittsleistungen der Täter zur Erlangung vollständiger Straffreiheit für das versuchte Delikt zu erbringen hat, ist es jedoch verfehlt, darauf abzustellen, wie das Opfer unmittelbar auf die objektiv lebensgefährlichen Tathandlungen reagiert und ob der Täter dieses Opferverhalten wahrnimmt. Das Problem besteht vielmehr darin, dass es auch bei Heranziehung objektiver Anhaltspunkte für die Abgrenzung von beendetem und unbeendetem Versuch letztlich bei der schon erkenntnisthe­ oretisch ungedeckten Beurteilung der Tat aus der Täterperspektive bleibt: Es werden mehr oder minder spekulative Rückschlüsse gezogen, wie sich dem Täter seine Tat dargestellt haben könnte. Kann sich etwa das Tatopfer nach der letzten Tathandlung eines Tötungsversuchs vom Tatort wegbewegen, liegt die Annahme eines unbeendeten Versuchs nahe, da der Täter noch nicht mit einem naheliegenden Eintritt des Tötungserfolgs rechnet: „Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 24 StGB kommt es zunächst darauf an, ob ein beendeter oder ein unbeendeter Versuch vorliegt. Maßgebend dafür ist die Vorstellung des Täters nach der letzten Ausführungshandlung (‚Rücktrittshori­ zont‘). Hält er in diesem Zeitpunkt den Tod des Opfers schon auf Grund seines bisherigen Handelns für möglich oder macht er sich in diesem Zeitpunkt über die Folgen seines Tuns keine Gedanken, so ist der Versuch beendet. […] Diese be­ weiswürdigenden Erwägungen können die aufgezeigte Feststellungslücke aber schon deshalb nicht schließen, weil das Landgericht dabei nicht alle Umstände berücksichtigt hat, die gegen die Annahme sprechen könnten, daß der Angeklagte den Tod des Opfers als Folge des ersten Stichs für möglich gehalten hat. Dazu gehörte etwa, daß S. […] flüchtend noch eine gewisse, offenbar beträchtliche Strecke zurücklegte und erst an einer Stelle, die für den Angeklagten womöglich nicht einsehbar war, auf Helfer stieß, die sich um ihn kümmerten. Da die Sach­ verhaltsschilderung keine Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten enthält, bleibt überdies unklar, ob das Landgericht wirklich davon überzeugt war, daß der Angeklagte glaubte, mit dem ersten Messerstich alles zur Tötung des S. Erforderliche getan zu haben; […].“90

a) Beendeter Versuch Als beendet gilt ein Versuch, wenn der Täter glaubt, alles zur Tatbe­ standsverwirklichung Erforderliche getan zu haben.91 Hält der Täter nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung den Eintritt des Taterfolgs ohne 89  Joecks / Miebach-Schneider,

§ 212 Rn. 59. 2 StR 540 / 98, Beschl. v. 03.02.1999. 91  Fischer, § 24 Rn. 14; Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 231; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 231. 90  BGH

264

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

weiteres eigenes Zutun wenigstens für möglich, liegt ein beendeter Versuch vor.92 Der Täter muss über das sog. „Gefahrbewusstsein“ verfügen, also das Bewusstsein, dass der Eintritt des Erfolgs keine nur entfernte Möglichkeit mehr ist. Wer über dieses Gefahrbewusstsein verfügt, befindet sich im Sta­ dium des beendeten Versuchs.93 Ein Beispiel für den spekulativen Charakter bei der Zuschreibung des „Gefahrbewusstseins“ für die Annahme eines beendeten Versuchs liefert der folgende Fall: Das Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Der BGH hatte über die hiergegen eingelegte Revision des Angeklagten zu entscheiden. Die Revi­ sion hatte Erfolg, die Sache wurde zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Demnach würgte der Angeklagte das Tatopfer unter dem Ruf „Es ist mir egal, ich bring‘ dich um!“ mindestens 15 bis 20 Sekunden lang, bis dieses keine Luft mehr bekam und bewusstlos wurde.94 Die Gewalteinwirkung, dem Angeklagten bewusst, war konkret lebensbedrohlich. Auch rechnete der Angeklagte damit, dass das Opfer ge­ tötet werden könnte, nahm dies aber gleichwohl billigend in Kauf. Der Angeklagte ließ das mit geschlossenen Augen bewusstlose Opfer auf dem Boden liegen und entfernte sich vom Tatort. Das Landgericht schloss aus der objektiven erheblichen Gefährlichkeit der Tathandlung, den Äußerungen des Angeklagten und dem Umstand, dass er sich vom Tatort entfernte, ohne Hilfe für das bewusstlose Opfer herbeizuholen, auf einen bedingten Tö­ tungsvorsatz. Einen strafbefreienden Rücktritt vom unbeendeten Versuch des Totschlags gem. § 24 Abs. 1 StGB verneinte das Landgericht. Es habe ein beendeter Versuch vorgelegen, da der Angeklagte nach Beendigung des Würgevorgangs den Eintritt des Todes für möglich gehalten habe. Nach Auffassung des BGH reicht die Formulierung des Landgerichts nicht aus, der Täter habe damit rechnen müssen, dass der Tod ohne weiteres Handeln eintreten könne. Diese Formulierung belegt nach Auffassung des BGH nicht das für die Annahme eines beendeten Versuchs notwendige tatsächliche Erkennen der Möglichkeit des Todeseintritts seitens des Täters. Angesichts u. a. der „relativ kurzen Zeit des freiwillig beendeten Würgevorgangs“ und der affektiv aufgeladenen Tatsitua­ tion liege eine solche Vorstellung des Angeklagten auch nicht auf der Hand.95

92  Bringewat,

Grundbegriffe 2008, S. 232; Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 482. Strafrecht AT 2008, S. 497. 94  BGH 3 StR 179 / 07, Beschl. v. 29.05.2007. 95  BGH 3 StR 179 / 07, Beschl. v. 29.05.2007. 93  Kühl,



II. Der Rücktritt vom Versuch265

Ist sich der Täter darüber unklar, ob seine bisherigen Handlungen zur Erfolgsherbeiführung ausreichend sind oder macht er sich keine Gedanken über die Folgen seines Tuns, wird ein beendeter Versuch angenommen.96 • Der Rücktritt vom beendeten Versuch Hat der Täter bei der Verwirklichung seines Tatentschlusses ein Stadium erreicht, in dem aus seiner Perspektive die nahe liegende Möglichkeit des Erfolgseintritts besteht, kann er das in § 24 Abs. 1 StGB vorgesehene Rück­ trittsprivileg nicht mehr durch einfaches Nichtweiterhandeln erlangen.97 Der beendete Versuch bleibt dann straflos, wenn der Täter freiwillig die Vollendung der Tat verhindert,98 bloße Passivität ist nicht ausreichend.99 Anders als das bloße Aufgeben der weiteren Tatausführung beim Rücktritt vom unbeendeten Versuch setzt der Rücktritt vom beendeten Versuch also nicht nur einen „Gegenentschluss“, sondern einen Gegenakt voraus.100 „An dieses aktive Tun, d. h. an die Erfolgsverhinderung sind nach dem Gesetzes­ wortlaut nur geringe objektive und subjektive Anforderungen zu stellen.“101 Der herrschenden Meinung zufolge reicht es hierfür, wenn der Täter be­ wusst und gewollt eine neue Kausalreihe in Gang setzt, die für das Ausblei­ ben der Vollendung mindestens mitursächlich ist.102 Dabei ist es belanglos, ob der Täter noch mehr hätte tun können oder ob zusätzlich andere, von seinem Willen unabhängige Umstände zur Verhinde­ rung des Taterfolgs mit beitragen, wenn er nur die ihm bekannten und zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hat, die aus seiner Sicht den Erfolg verhindern konnten.103 Anders als in einer Garantenstellung aus Ingerenz, die den Täter verpflichten würde, das Bestmögliche für sein Opfer zu tun, ist es nach herrschender Meinung nicht erforderlich, dass der Täter die optimalste oder sicherste Variante ergreift, die den Erfolg verhindern würde:104 „Auch 96  Jescheck / Weigend, 97  Roxin,

Lehrbuch 1996, S. 541. Strafrecht AT II 2003, S. 545 f.; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008,

S.  233 f. 98  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 482; Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 545; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 238. 99  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 233; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 253. 100  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 233; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 540. 101  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 497. 102  Joecks / Miebach-Schneider, § 212 Rn. 57; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 236. 103  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 233. 104  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 236.

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G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

wenn der Erfolgsabwendungsversuch objektiv gesehen von vornherein sinn­ los ist oder keine Wirkung zeigt, genügt der gute Wille des Täters für die Bejahung eines Rücktritts.“105 Ein ernsthaftes Bemühen i. S. d. § 24 Abs. 1 S. 2 StGB ist dann anzunehmen, wenn der Täter alles tut, was aus seiner Sicht zur Abwendung des drohenden Erfolgs notwendig und geeignet er­ scheint.106 Auch wenn die Rücktrittshandlungen anderen Zielen, wie z. B. der Verschleierung der eigenen Täterschaft, dienen sollen, bleibt der Verhinde­ rungsvorsatz unberührt.107 Wer dagegen nur aus Versehen den Erfolgseintritt verhindert, kann nicht durch Erfolgsverhinderung zurücktreten.108 Der Täter darf sich auch nicht mit erkennbar unzureichenden oder gar törichten Maßnahmen begnügen.109 Wenn der Täter den Erfolg für bereits eingetreten hält, die Tat aus der Tä­ terperspektive also bereits vollendet wurde, ist auch ein Rücktritt vom be­ endeten Versuch ausgeschlossen.110 Der Täter trägt das Risiko des Gelingens der Erfolgsabwendung.111 Der Rücktritt ist nicht mehr möglich, wenn der Erfolg trotz der vom Täter un­ ternommenen Rücktrittshandlungen eintritt. Bringt also etwa der Täter das von ihm mit Tötungsabsicht verletzte Opfer, dessen Rettung nicht mehr gelingt, ins Krankenhaus, hat er den Erfolg nicht verhindern können und bleibt wegen vollendeter Tötung strafbar.112 Hier haben wir es mit einem Wechsel der zugrunde gelegten Perspektive zu tun: In den Fällen des Er­ folgseintritts ist die Gefährdungsumkehr also nach objektiven Maßstäben zu behandeln, sodass beim Misslingen der Rücktrittsbemühungen kein Rücktritt vorliegt. Beim Ausbleiben des Erfolgs wird dagegen auf die Täterperspek­ tive abgestellt.113 b) Unbeendeter Versuch Als unbeendet gilt ein Versuch, wenn der Täter glaubt, noch nicht alles getan zu haben, was nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Vollen­ 105  Roxin,

Strafrecht AT II 2003, S. 491 f. Strafrecht AT 2008, S. 238. 107  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 497. 108  Ebd. 109  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 238. Hierin könnte man Ansätze einer „objektiven Korrektur“ der vom Täter subjektiv für geeignet gehaltenen Mittel und Maßnahmen zur Erfolgsverhinderung erblicken. 110  Fischer, § 24 Rn. 29. 111  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 231. 112  Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 491. 113  Ebd. 106  Wessels / Beulke,



II. Der Rücktritt vom Versuch267

dung notwendig ist.114 Geht der Täter im Anschluss an die Vornahme der letzten Ausführungshandlung subjektiv davon aus, noch weitere Handlungen vornehmen zu müssen, damit es zum Erfolgseintritt kommt, ist der Versuch noch unbeendet.115 Der Dieb, der den Arm bereits nach der zu stehlenden Sache ausstreckt, befindet sich im Stadium des unbeendeten Versuchs, da er den Gegenstand noch ergreifen und wegnehmen kann. Wenn er jedoch aufhört, indem er weitergeht, so hat er aufgegeben und ist zurückgetreten.116 Der unbeendete Versuch setzt voraus, dass der Täter im Augenblick des Abstandnehmens von der Tat davon ausgeht, dass der Erfolg nicht eintreten wird. Unter Zugrundelegung des sog. „erweiterten Rücktrittshorizonts“ ist der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zufolge ein Versuch auch dann nicht beendet, wenn der Täter nach der letzten Ausführungshandlung zu­ nächst den Erfolg zwar für möglich hält, dann aber zu der Erkenntnis ge­ langt, der Erfolg werde doch nicht eintreten und er habe noch immer die Möglichkeit zur Tatvollendung.117 Dann wird wieder von einem unbeende­ ten Versuch ausgegangen, für den ein einfaches Nichtweiterhandeln für den Rücktritt genügt, z. B. beim Weggehen des in den Brustkorb gestochenen Tatopfers ohne erkennbare Beeinträchtigung.118 „In BGHSt 36, 224 hatte der Angeklagte mit Tötungsabsicht auf sein Opfer ein­ gestochen und schließlich in der Erwartung des Erfolgseintritts mit den Worten ‚Jetzt bist du erledigt!‘ von ihm abgelassen. Als sein Opfer entgegnete: ‚Ich lebe noch, ich rufe die Polizei‘, ging der Täter nunmehr davon aus, das Opfer nicht tödlich verletzt zu haben, sah aber von weiteren und nunmehr tödlichen Stichen ab. Darin lag ein Rücktritt durch Aufgabe […]. Entsprechendes gilt für den Fall BGH NStZ 1999, 449, in dem die Täterin ursprünglich ihren Vater durch Messer­ stiche möglicherweise tödlich verletzt zu haben glaubte, bald darauf aber – wie man in dubio pro reo annehmen muß – zu der Annahme gelangte, die Stiche seien doch nicht tödlich gewesen, und ihren Vater aus der Wohnung gehen ließ, ‚obwohl sie das Messer erneut hätte einsetzen können‘.“119

In solchen Fällen wird ein beendeter Versuch in einen unbeendeten „zurückverwandelt“.120

114  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 231; Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 526; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 231. 115  Fischer, § 212 Rn. 14; Joecks / Miebach-Schneider, § 212 Rn. 57; Kühl, Straf­ recht AT 2008, S. 482. 116  Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 526. 117  Ebd., S. 530. 118  Fischer, § 24 Rn. 15a. 119  Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 530. 120  Ebd.

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G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

Der Täter kann selbst dann von einem unbeendeten Versuch ausgehen, wenn „die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die den Erfolgseintritt nach der Lebenserfahrung nahe legen“ gegeben ist. Scheinfeld parallelisiert die Frage nach dem Vorliegen des Wissenselements des Tötungsvorsatzes während der Tathandlungen mit der Frage, ob der Täter nach dem Ende der letzten Ausführungshandlung die Erfolgstauglichkeit seiner Handlungen er­ kannt hat, was maßgeblich ist für die Entscheidung darüber, ob ein beende­ ter oder unbeendeter Versuch anzunehmen ist, wonach sich wiederum ent­ scheidet, welche Leistungen der Täter (einfaches Ablassen oder aktive Ge­ genmaßnahmen) zur Erlangung des Rücktritts erbringen muss: „Das gilt jedenfalls, wenn man die Sicht des BGH zum Wissenselement des Tö­ tungsvorsatzes teilt. Danach kann dem Täter trotz massivster Gewaltanwendung die Todesgefahr verborgen bleiben. Für zumindest fraglich erklärt hat der BGH die Kenntnis der Todesgefahr etwa beim einmaligen kräftigen Schütteln eines Säuglings, bei mehreren Schlägen gegen Kopf und Kehlkopf, bei 3 Schlägen mit einem Teleskopschlagstock auf den Kopf, beim Würgen eines gebrechlichen Alten und bei einem Stich mit dem Küchenmesser (Klingenlänge 20 cm) in den Rücken des Ehemannes. Wenn es möglich ist, dass der Täter bei der Vornahme solcher Gewalthandlungen keine Tötungsgefahr sieht, ‚obwohl jeder normale Mensch die Vollendungsgefahr‘ erkannt hätte, dann ist es auch möglich, dass der Täter nach dem Abschluss solcher Handlungen keine Gefahrkenntnis hat. Ob er sie hat, das muss der Tatrichter feststellen, und zwar in freier Würdigung. Dabei muss er zwar veranschlagen, dass es ‚grob unverständig‘ ist, nach derartigen Gewalthandlungen das Opfer nicht in Todesgefahr zu sehen, und dies daher selten vorkommen wird; doch kann man seine Würdigung nicht angreifen, wenn er darauf verweist, dass der Täter wohl so unverständig war. Denkbar sind solche Fälle insbesondere, wenn es dem Täter nicht auf den Tod des Opfers ankam und er vielleicht sogar hoffte, das Opfer werde überleben. Dann mag er angesichts des Opferverhaltens froh und erleichtert sein, dass nichts Schlimmeres passiert ist […].“121

Selbst bei äußerst gefährlichen Tathandlungen, die den Erfolgseintritt nahelegen, ist es durchaus möglich, dass der Täter die Erfolgstauglichkeit seiner bisherigen Tathandlungen verkennt und daher ein einfacher Rücktritt vom unbeendeten Versuch durch bloßes Nichtweiterhandeln genügt. Das zeigen auch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, die in einigen Fällen selbst massive Gewaltanwendung nicht ausreichen ließen, um das Wissens­ element des Tötungsvorsatzes als erfüllt anzusehen. Diese Sichtweise kriti­ siert Scheinfeld als lebensfremd: „Wer einen Tötungsversuch begeht, handelt definitionsgemäß mit Tötungsvorsatz, und wenn er plangemäß seinem Opfer ein Messer bis zum Heft in den Bauch treibt oder ein Klappmesser mit voller Wucht in den Rücken rammt, dann hat er damit genau die Gefahr geschaffen, die er beim Zustechen als lebensgefährlich eingestuft hatte. Dass er plötzlich die Vorstellung haben soll, die Situation sei 121  Scheinfeld,

Rücktritt 2006, S. 378.



II. Der Rücktritt vom Versuch269 gleichwohl für das Opfer ungefährlich, ist unplausibel und auch unwahrscheinlich. An dieser Beurteilung ändert sich nichts, wenn das Opfer noch reden und flüchten kann, da es – wie der Täter weiß – allemal versorgt werden muss, um Schlimme­ res zu verhindern.“122

• Der Rücktritt vom unbeendeten Versuch Wenn der Täter die weitere Ausführung der Tat in dem Bewusstsein auf­ gibt, dass der tatbestandsmäßige Erfolg, den er anstrebt, noch nicht eingetre­ ten ist und ohne sein weiteres Handeln auch nicht eintreten wird, dass er sein Ziel mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gleichwohl noch erreichen könnte, wird ein Rücktritt vom unbeendeten Versuch gem. § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB angenommen.123 Für die Erlangung von Straffreiheit ist es dann ausreichend, wenn der Täter die für den Erfolgseintritt erforderlichen Hand­ lungen freiwillig unterlässt,124 er von weiteren Tathandlungen Abstand nimmt.125 Die Großzügigkeit bei der Unterstellung eines aus der Täterpers­ pektive unbeendeten Versuchs führt in der Praxis auch zu einer ausgedehnten Inanspruchnahme des Rücktritts durch einfaches Ablassen: „Die Rechtsprechung des BGH zum Rücktritt durch ‚Aufgeben der Tat‘ krankt an der Furcht vor dem Schmerz der Grenze. Den Richtern ist offenbar der Gedanke unerträglich, daß es mit dem Rücktritt durch Aufgeben endgültig vorbei sein soll, wenn der Täter, und sei es aus noch so guten Gründen, zur Überzeugung gelangt ist, das Opfer könne an seinen bisherigen Handlungen sterben.“126

2. Die „Freiwilligkeit“ des Rücktritts vom Versuch Die strafbefreiende Wirkung des Rücktritts ist in allen Fällen des § 24 StGB an die Freiwilligkeit gebunden.127 Ob diese Freiwilligkeit des Rück­ tritts gegeben war, bemisst sich immer nach der Sicht des Zurücktretenden.128 Für die Annahme der Freiwilligkeit ist es entscheidend, ob der 122  Scheinfeld,

Rücktritt 2006, S. 377 f. Strafrecht AT 2008, S. 231, 233. 124  Fischer, § 24 Rn. 26; Joecks / Miebach-Schneider, § 212 Rn. 57; Borchert / Hellmann, Abgrenzung 1982, S. 430; Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 482; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 253; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 234. 125  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 540; Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 526. 126  Puppe, Frage 2000, S. 74. 127  Fischer, § 24 Rn. 18; Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 492; Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 590. 128  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 234. 123  Wessels / Beulke,

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G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

Rücktritt aus „autonomen“ oder „heteronomen“ Gründen erfolgte.129 Nach der psychologischen Theorie ist der Rücktritt freiwillig, wenn der Täter ohne psychischen Zwang gehandelt hat.130 Der Täter muss „Herr seiner Entschlüsse“ sein, die Ausführung seines Tatplans noch für möglich halten und sich weder durch eine äußere Zwangslage noch durch „seelischen Druck“ an der Vollendung der Tat gehindert sehen.131 Auf der Willensebene gilt ein Rücktritt der psychologischen Theorie zufolge dann als freiwillig, wenn er nicht durch zwingende Hinderungsgründe negativ verursacht wird, sondern auf der „autonomen“ Entscheidung des Täters beruht. Als autono­ me, selbstgesetzte Beweggründe werden emotional besetzte Gemütszustände des Täters akzeptiert wie Mitleid mit dem Opfer, seelische Erschütterung, Furcht vor Strafe, Gewissensbisse, Reue, Scham, Schreck:132 „Wer sich angesichts des blutüberströmten Opfers bewusst wird, was er da ange­ richtet hat, handelt freiwillig, wenn er den Versuch abbricht. […] Wer aus Angst vor Verhaftung den Bankraub abbricht, kann durchaus freiwillig zurücktreten, wenn seine Entscheidung für den Abbruch nicht von der Angst diktiert ist, son­ dern die Angst seine Entscheidung nur mitbestimmte.“133

Wenn auch kein äußerer Zwang zum Rücktritt vorliegen darf, so ist durchaus erlaubt, dass die „Anregung“ zum Rücktritt von „außen“ kommt, z. B. aufgrund guten Zuredens des Opfers oder eindringlicher Vorhaltungen des Mittäters. Entscheidend ist für die herrschende Meinung allein, dass der Beweggrund trotz äußerer „Anstöße“ ein „eigener“ Grund des Täters ist, der zum Rücktrittsentschluss führt und der Täter weder durch eine äußere noch durch eine innere Zwangslage davon abgehalten wird, die ihm möglich er­ scheinende Vollendung der Tat ohne erheblich erhöhtes Risiko herbeizufüh­ ren. Auf den moralischen Wert der Rücktrittsmotive kommt es der psycholo­ gischen Theorie nicht an.134 Der Begriff der Freiwilligkeit wird rein psycho­ logisch, nicht ethisch bestimmt: Selbst der Täter, der nur deshalb von seinem Opfer ablässt, um ein anderes Opfer zu töten, wird mit Straffreiheit hono­ riert.135 Freiwilligkeit des Rücktritts ist auch dann anzunehmen, wenn die 129  Wessels / Beulke,

Strafrecht AT 2008, S. 240. Strafrecht AT II 2003, S. 591. 131  Fischer, § 24 Rn. 19. 132  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 234; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 545; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 240. 133  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 495 f. 134  Fischer, § 24 Rn. 19b; Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 234; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 545; Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 493 f.; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 240. 135  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 543. 130  Roxin,



II. Der Rücktritt vom Versuch271

Tat zwar objektiv entdeckt war, dem Täter die Entdeckung aber verborgen blieb.136 Unfreiwillig hat der Täter der psychologischen Theorie zufolge dagegen gehandelt, wenn die Umstände ihm nichts anderes übrig ließen als zurück­ zutreten.137 Heteronome, fremdgesetzte Motive für den Rücktritt werden auf der Willensebene angenommen, wenn der Tatvollendung zwingende Hinder­ nisse im Wege standen, die nicht der positiven Einflussnahme des „Täter­ willens“ unterlagen, wie z. B. innere Hemmungen oder die Veränderung der äußeren Tatumstände, die das Entdeckungs- und Strafrisiko für den Täter erhöhten und das er nicht in Kauf nehmen wollte.138 Bricht der Täter den Tötungsversuch an seiner Frau ab, weil er die ihn beobachtenden Nachbarn schreien gehört hat und keinen Ärger mit der Polizei haben will, so spricht das gegen die Freiwilligkeit.139 Die Entdeckung der Tat, die dem Täter be­ kannt ist, schließt Freiwilligkeit aus.140 Und wer vom Versuch der Verge­ waltigung nur deshalb Abstand nimmt, weil er das Opfer wider Erwarten als eine Bekannte identifiziert und er deshalb alsbaldige Strafverfolgung befürchtet, tritt nicht freiwillig zurück.141 Gegen die psychologische Betrachtungsweise der Freiwilligkeit werden in der Literatur Einwände erhoben, die ein normatives Korrektiv des nur ne­ gativen Freiwilligkeitskriteriums einfordern. Als Voraussetzung der Freiwil­ ligkeit wird in der normativen Theorie vom Täter eine über die „autonom entschiedene“ Aufgabe der Tatvollendung hinausgehende innere Distanzierung von der Tat verlangt, die als Abkehr von der Gesinnung eines Ver­ suchstäters erscheint.142 Der Rücktritt kann demzufolge nur dann als „frei­ willig“ bezeichnet werden, wenn er sich als „Rückkehr in die Legalität“ darstellt, in der sich eine gewandelte Einstellung des Täters ausdrückt.143 „Fall 1 (BGHSt 35, 184): Der Angeklagte (A) wollte seine frühere Ehefrau (E) und deren neuen Freund (F) töten. Er lauerte ihnen an einem Parkplatz auf und hatte den zuerst erschienenen F schon schwer verletzt und fluchtunfähig gemacht. Dann ließ er aber von ihm ab, weil inzwischen die E erschienen war und er be­ 136  Jescheck / Weigend,

Lehrbuch 1996, S. 547. Strafrecht AT II 2003, S. 591. 138  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 234; Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 494; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008. 139  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 495. 140  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 545. 141  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 234; Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 543; Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 494; Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 241. 142  Fischer, § 24 Rn. 20. 143  Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 591. 137  Roxin,

272

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

fürchtete, sie bei einer weiteren Beschäftigung mit F zu ‚verpassen‘. Da er ‚die Tötung seiner geschiedenen Ehefrau für vorrangiger erachtete‘ als die des F, brachte er nunmehr die E durch 17 Messerstiche um, während der F am Leben blieb.“144

Die Frage, ob A vom Mordversuch an F freiwillig zurückgetreten ist, wird vom Standpunkt der psychologischen Theorie aus bejaht, da der Täter sich in „freier Wahl“ für die Tötung der E entschieden hat, ohne durch ei­ nen äußeren Zwang hierzu genötigt worden zu sein.145 Folgerichtig erlang­ te der Täter Straflosigkeit wegen Rücktritts vom Versuch. Dagegen wäre mit der normativen Theorie die Freiwilligkeit des Rücktritts in diesem Falle zu verneinen. Denn wenn jemand einen Mord allein deshalb nicht zu Ende führt, weil ihm ein anderer Mord als vordringlicher erscheint, so drücke sich hierin keine gewandelte Einstellung des Täters zu seiner Tat aus und bedeute keine „Rückkehr in die Legalität“.146 Lässt sich nicht eindeutig klären, welche Vorstellungen den Täter zum Rücktritt vom Versuch veranlasst haben, bleibt indessen Raum für ein Motiv, das zur Freiwilligkeit führen würde, findet nach herrschender Meinung der Grundsatz in dubio pro reo Anwendung, der zur Annahme eines freiwilligen Rücktritts als der für den Täter günstigsten Interpretation verpflichtet.147 3. Ansätze für eine Objektivierung des Rücktritts vom Versuch Schiebt jemand seine Hand in Hüfthöhe zwischen die sich in die Straßen­ bahn drängenden Fahrgäste, so kann tatsächlich nur die Tätersicht darüber Aufschluss geben, ob er im nächsten Augenblick mit einem Griff in die Jackentasche das Portemonnaie eines Fahrgastes entwenden will oder ob er nur Halt am Lehnengriff eines Sitzplatzes sucht.148 Denn hier geht es vor allem um die Frage, ob das Tatgeschehen mit Blick auf einen Diebstahl nach der Vorstellung des Täters von seiner Tat als unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung i. S. d. § 22 StGB zu werten ist. Steht aber bereits fest, dass das Verhalten den objektiven Tatbestand des versuchten Delikts erfüllt, lässt sich auch ganz unabhängig von der Tätervorstellung eine Feststellung treffen über das Versuchsstadium und die hiermit verbundenen notwendigen Rücktrittsbedingungen.149 Das Beispiel zeigt, dass hier prinzipiell eine Objektivierung möglich ist: Die Abgrenzung 144  Roxin,

Strafrecht AT II 2003, S. 591. S.  591 f. 146  Kühl, Strafrecht AT 2008, S. 495; Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 592. 147  Wessels / Beulke, Strafrecht AT 2008, S. 241. 148  Borchert / Hellmann, Abgrenzung 1982, S. 437 f. 149  Ebd., S. 438. 145  Ebd.,



II. Der Rücktritt vom Versuch273

unterschiedlicher Rücktrittsleistungen kann durchaus objektiv erfolgen. Die Unterscheidungslinie orientiert sich an der objektiven Erfolgstauglichkeit der Versuchshandlungen zum Zeitpunkt der Rücktrittsmaßnahmen.150 Wel­ che Rücktrittsleistung der Täter zur Erlangung der Straffreiheit erbringen muss, bestimmt sich dann nach der objektiven Sachlage und unabhängig von der Täterperspektive. Entscheidend ist, inwiefern die bisherigen Aus­ führungshandlungen des Täters objektiv die Gefahr der Tatbestandsverwirk­ lichung begründen.151 Im Strafrecht haben normalerweise die sichtbaren Fakten Vorrang vor den unsichtbaren, die leichter beweisbaren den Vorrang vor den schwerer be­ weisbaren. Die strafrechtliche Erkenntnis nimmt den Erfolg wahr und sucht von ihm ausgehend nach dem verursachenden Verhalten, sie bewertet in einem ersten Schritt den sichtbaren Erfolg als rechtswidrig und sieht darin ein Indiz für die Rechtswidrigkeit auch des verursachenden Verhaltens. Die Richtigkeit dieses Vorgehens wird zudem historisch verbürgt: So war die sichtbare Verletzung stets die Grundlage des Verbrechens, während Aspekte wie Vorsatz und Fahrlässigkeit, Handlung und Unterlassung, Vollendung und Versuch erst später als Differenzierungsmomente berücksichtigt wur­ den. Auch die heutige Rechtspraxis setzt in ihrer Untersuchung eines Falles beim Erfolg einer Straftat an und wendet sich erst dann der Tathandlung und dem Vorsatz zu.152 Für die Stadien der Vollendung und Beendigung ist zunächst der objektive Maßstab als Ansatzpunkt der Feststellung also un­ strittig.153 Beim Versuch hingegen, wo es am Taterfolg fehlt, kehrt die Theorie die Abfolge ihrer Untersuchung um. Der Vorsatz steht dann am Anfang, die Feststellung, was er bewirkt hat, folgt nach.154 Wenn es für die einen strafbefreienden Rücktritt zu ermittelnden Rück­ trittsleistungen maßgeblich darauf ankommt, ob zum Rücktrittszeitpunkt objektiv eine Vollendungsgefahr besteht, muss dieses Kriterium der Vollen­ dungsgefahr inhaltlich bestimmt werden, was mittels der Lehre der objektiven Zurechnung geschieht.155 Die Lehre der objektiven Zurechnung richtet sich gegen den Finalismus in der Tradition Welzels und formuliert objektive Kriterien für die Zurech­ nung eines tatbestandlichen Erfolgs.

150  Borchert / Hellmann,

Abgrenzung 1982, S. 437. Ermittlung 2002, S. 16, 168. 152  Lampe, Willensfreiheit 2006, S. 12. 153  Borchert / Hellmann, Abgrenzung 1982, S. 439. 154  Lampe, Willensfreiheit 2006, S. 12. 155  Heckler, Ermittlung 2002, S. 173. 151  Heckler,

274

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

Der Grundformel objektiver Zurechnung zufolge wird einem Täter der eingetretene tatbestandsmäßige Erfolg dann objektiv zugerechnet, wenn er verbotswidrig eine Erfolgsgefahr geschaffen oder erhöht und sich diese rechtlich unerlaubte Gefahr in dem eingetretenen Erfolg verwirklicht hat.156 Die für einen strafbefreienden Rücktritt erforderliche Rücktrittsleistung ist anhand des Kriteriums der objektiven Vollendungsgefahr zu ermitteln.157 Zum Rücktrittszeitpunkt besteht immer dann eine Vollendungsgefahr, wenn aus der Dritten-Person-Perspektive nicht ganz unwahrscheinlich ist, dass sich die Tatbestandsverwirklichung als Folge der Tathandlungen einstellt.158 Liegt ein solcher Fall vor, ist als Rücktrittsleistung vom Täter allgemein die ihm zurechenbare Beseitigung der Gefahr zu verlangen.159 Allein hierin kann die für einen solchen Versuch erforderliche Umkehrleistung bestehen. Die objektive Gefahrbeseitigung muss wenigstens zu einer Reduzierung der Gefahr auf ein Maß unterhalb der Schwelle einer unerlaubten, adäquaten Erfolgsgefahr führen. Denn nur dann besteht auch kein hinreichend vollen­ dungstaugliches Risiko mehr. Dieser Fall des für die Nichtvollendung der Tat kausalen Rücktritts ist in der Vorschrift des § 24 Abs. 1 S. 1 StGB normiert. Der Paragraph stellt dem rücktrittswilligen Täter zur Gefahrbeseitigung zwei mögliche Rücktrittsleis­ tungen zur Verfügung, entweder die Aufgabe der weiteren Tatausführung oder die Vollendungsverhinderung. Welche dieser Rücktrittsleistungen der Täter erbringen muss, hängt aus Sicht der Lehre der objektiven Zurechnung davon ab, ob die von ihm geschaffene Vollendungsgefahr bereits von sich aus objektiv geeignet ist, die Tatbestandsverwirklichung herbeizuführen oder nicht.160 Der beendete Versuch verlangt die Beseitigung des Tatvollendungsrisikos durch die Verhinderung der Vollendung der Tat. Eine Gefahrbeseitigung durch Vollendungsverhinderung ist unabhängig von der Tätervorstellung dann notwendig, wenn sich die durch die Versuchshandlung geschaffene Vollendungsgefahr bereits in dem Sinne verselbstständigt hat, dass bei un­ gestörtem Geschehensverlauf die Tatbestandsverwirklichung eintreten wür­ de.161 Ein Rücktritt vom beendeten Versuch durch das Ergreifen aktiver Gegenmaßnahmen ist also dann zu verlangen, wenn ohne das Greifen täter­ unabhängiger Umstände oder glücklicher Fügungen die Vollendung des Delikts, etwa der Tod des Opfers, eintreten kann.162 Dies wäre etwa dann 156  Heckler,

Ermittlung 2002, S. 175 f. S. 184. 158  Ebd., S.  183 f. 159  Ebd., S.  184 f. 160  Ebd., S. 185. 161  Ebd. 157  Ebd.,



II. Der Rücktritt vom Versuch275

der Fall, wenn der Täter das Opfer durch einen Schuss bereits lebensgefähr­ lich verletzt hat.163 Hier muss der Täter zur Erlangung von Straffreiheit durch Rücktritt vom beendeten Versuch als Umkehrleistung die bestehende Gefahr der Deliktsvollendung durch eine aktive Gegenmaßnahme beseiti­ gen, z. B. indem er dem Opfer durch Erste Hilfe das Leben rettet oder den Notarzt verständigt.164 Der Täter muss die Vollendung verhindern, wenn nach dem Abschluss der letzten Ausführungshandlung der Erfolgseintritt noch objektiv möglich ist.165 Damit wäre die Bezugnahme auf die Täterper­ spektive ausgeschaltet.166 Wer durch seine Ausführungshandlungen das er­ heblich verletzte Opfer an den Rand des Todes gebracht hat, der kann von dem Versuch des Totschlags nicht dadurch strafbefreiend zurücktreten, dass er in Verkennung der objektiv bestehenden Vollendungsgefahr den Dingen ihren Lauf lässt und das Glück hat, dass die Vollendung nicht eintritt:167 „Freilich läßt sich der […] Objektivierung ein berechtigter Kern nicht abspre­ chen. Es wäre tatsächlich unangemessen, wenn ein Versuchstäter schon dann Straflosigkeit erlangen würde, wenn er sich darauf beruft, die Möglichkeit des Erfolgseintrittes nicht erkannt zu haben, obwohl jeder normale Mensch die Voll­ endungsgefahr und die Notwendigkeit von Verhinderungsbemühungen bemerkt hätte.“168

Liegt ein unbeendeter Versuch vor, kann das Tatvollendungsrisiko durch die bloße Aufgabe der weiteren Tatausführung beseitigt werden. Eine Ge­ fahrbeseitigung durch Aufgabe der weiteren Tatausführung kommt immer dann in Betracht, wenn die vom Täter durch den Versuch geschaffene objektive Vollendungsgefahr nicht geeignet ist, ohne weitere hinzukommende Handlung in eine Schädigung umzuschlagen. Die Gefahr ist in diesem Fall noch nicht vom Täter unabhängig, sondern steht noch unter seiner „Herr­ schaft“: „Beispielhaft gesprochen ist dies etwa dann der Fall, wenn der Täter mit einem Knüppel zum tödlichen Schlag gegen das Opfer ausholt oder mit seinem Gewehr auf das Opfer angelegt hat, um es zu erschießen. Der über das Vorhandensein einer ‚Vollendungsgefahr‘ urteilende objektive Beobachter des Geschehens wird das Verhalten des Täters in einem solchen Fall zwar für riskant halten und eine ‚Vollendungsgefahr‘ bejahen […]. Der Täter kann die Gefahr der Deliktsvollen­ dung jedoch schon dadurch in zurechenbarer Weise beseitigen und damit in ob­ jektiver Hinsicht eine für den Rücktritt hinreichende Umkehrleistung erbringen, 162  Borchert / Hellmann,

Abgrenzung 1982, S. 438. Ermittlung 2002, S. 185. 164  Ebd., S.  185 f. 165  Ebd., S. 158. 166  Borchert / Hellmann, Abgrenzung 1982, S. 437. 167  Heckler, Ermittlung 2002, S. 168. 168  Roxin, Strafrecht AT II 2003, S. 493. 163  Heckler,

276

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

daß er die weitere Ausführung der Tat aufgibt, etwa indem er den Arm mit der Waffe unverrichteter Dinge sinken läßt.“169

Ein Rücktritt vom unbeendeten Versuch durch bloßes Absehen von wei­ teren Tathandlungen ist objektiv dann möglich, wenn das Täterverhalten den tatbestandsmäßigen Erfolg noch nicht herbeiführen kann, also z. B. die ab­ gegebenen Schüsse nicht treffen oder nicht lebensgefährlich sind.170 Puppe fordert in Teilobjektivierung des Rücktritts eine Beschränkung des unbeendeten Versuchs. Demnach darf sich ein Täter nur dann mit bloßem Aufhören begnügen, wenn die Umstände, die sich ihm nach seiner bisheri­ gen Handlung darbieten, nach der Lebenserfahrung den zwingenden Schluss zulassen, dass der Erfolg nicht eintreten kann. Ist sich der Täter dessen nicht sicher, so ist er nach Puppe aus Ingerenz171 zum Handeln für das Opfer verpflichtet. Die erste Pflicht des zweifelnden Täters besteht demnach darin, sich zu überzeugen, ob das Opfer tatsächlich in Gefahr ist oder nicht.172 Kommt er nach einer solchen Prüfung zu dem Ergebnis, dass keinerlei Gefahr für das Opfer besteht, dann genügt zum Rücktritt ein Nichtweiterhandeln deshalb, weil der Täter nichts Besseres für sein Opfer tun kann.173 Aufgrund des 169  Heckler,

Ermittlung 2002, S. 186. Abgrenzung 1982, S. 438. 171  Die Garantenstellung aus Ingerenz aufgrund gefährlichen Vorverhaltens ist ein Merkmal vor allem der Unterlassungsdelikte. Wer einen Anderen fahrlässig in Lebensgefahr bringt, ist als Garant verpflichtet, die Realisierung der Lebensgefahr zu verhindern. Tut er dies nicht, macht er sich beim Vorliegen aller weiteren ­Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts wegen Totschlags durch Unter­ lassen strafbar (Stein, Garantenpflichten 1999, S. 266). Die Tatsache, dass über­ haupt Garantenpflichten aus Ingerenz bestehen, und zwar wenigstens bei pflichtwidrigem Vorverhalten, wird in neuerer Zeit nur noch selten bestritten. Diskutiert werden hingegen Garantenpflichten aufgrund auch vorsätzlich-pflichtwidrigen Ver­ haltens. Bringt der Täter das Opfer mit Tötungsvorsatz in Lebensgefahr und wen­ det dann die bereits eingetretene Lebensgefahr nicht vorsätzlich ab, obwohl es ihm möglich wäre, so ist er nach heute ganz herrschender Ansicht wegen Totschlags oder Mordes schuldig zu sprechen. Der Totschlag oder Mord durch Unterlassen wird auf der Konkurrenzebene verdrängt (ebd., S. 267). Wenn durch eine Handlung die Gefahr für ein Rechtsgutsobjekt herbeigeführt wurde, dann ist die Auferlegung einer Pflicht zur Vornahme einer sich zeitlich anschließenden Handlung, die zur Abwendung der Gefahr geeignet und erforderlich ist, grundsätzlich sinnvoll und auch legitimierbar (ebd., S. 270): „Die These, wer mit dem Vorsatz, einen bestimm­ ten Erfolg herbeizuführen, die Gefahr des Eintritts dieses Erfolgs begründe, sei generell nicht als Garant verpflichtet, die Gefahr wieder zu beseitigen, ist unzutref­ fend; […].“ (Ebd., S. 273). 172  Puppe, Anmerkung 2005, S. 385; Scheinfeld, Rücktritt 2006, S. 376. 173  Puppe, Anmerkung 2005, S. 385; dies., Frage 2000, S. 74; Scheinfeld, Rück­ tritt 2006, S. 376. 170  Borchert / Hellmann,



II. Der Rücktritt vom Versuch277

vorangegangenen, gefährlichen Tuns befindet sich der Versuchstäter in einer Pflichtenstellung dem Opfer gegenüber.174 Die Pflicht zur Erfolgsabwen­ dung aus Ingerenz entsteht objektiv, sobald der Täter einen Verlauf in Gang setzt, der in zurechenbarer Weise zum Erfolg führen kann.175 Der Täter ei­ nes tauglichen Versuchs, der wegen seiner rechtswidrigen, objektiv rechtsgutgefährdenden Ausführungshandlungen die Gefahr eines Schadenseintritts heraufbeschwört, ist als Garant verpflichtet, die drohende Tatvollendung doch noch zu verhindern.176 Puppe will mit den Garantenpflichten aus Ingerenz objektive Anknüp­ fungspunkte für Schlussfolgerungen auf die Tätervorstellung liefern. Die Objektivierung läuft über die Frage der Erfüllung der Garantenpflichten des Täters gegenüber seinem Opfer. Diese „Teilobjektivierung“ des Rücktritts vom Versuch bestünde darin, dass man den Maßstab nicht mehr ausschließlich in die Täterperspektive verlegt, sondern strenge, äußerlich aus der Dritten-Person-Perspektive beurteilbare Anforderungen an das objektiv be­ obachtbare Verhalten des Täters stellt. Der Täter muss sich von der bishe­ rigen Ungeeignetheit seines Tatverhaltens für die Herbeiführung des Er­ folgseintritts überzeugt haben, um in den Genuss der Strafbefreiung durch einen Rücktritt vom unbeendeten Versuch gelangen zu können. Dann sind Puppe zufolge, und hierin wird deutlich, dass es sich lediglich um eine Teilobjektivierung handelt, auch Aussagen darüber möglich, welche Vorstel­ lungen sich der Täter über die Erfolgstauglichkeit seiner Versuchshandlun­ gen gemacht hat. Insofern ist Bungs Sorge, die Lehre der objektiven Zu­ rechnung bedrohe die Handlungskausalität und den Kern des subjektiven Tatbestands,177 im Fall einer Teilobjektivierung unbegründet. Das, was der Täter wusste und wollte, ist jedenfalls bei Puppe keineswegs gänzlich uner­ heblich gegenüber jenen Strukturen und Verfahren der Zurechnung, die sich auch unabhängig von der Steuerungswahrnehmung des Täters feststellen lassen. Vielmehr wird die Zurechnung nur stärker als bisher an objektiven Anhaltspunkten orientiert, um letztlich doch wieder auf die Tätervorstellun­ gen zu rekurrieren: „Der Kardinalfehler besteht aber schon darin, daß ausschließlich auf in­ nerpsychische Tatsachen abgestellt wird […] [Hervorhebung vom Verf.].“178 Nur bei solchen strengen Anforderungen an die Tätervorstellung, das Opfer noch nicht in Gefahr gebracht zu haben, ließe sich nach Puppes Auffassung der Rücktritt durch bloße Passivität mit den Pflichten des Täters und den 174  Heckler,

Ermittlung 2002, S. 171. S. 172. 176  Ebd., S.  171 f. 177  Bung, Wissen 2009, S. 96. 178  Puppe, Frage 2000, S. 74. 175  Ebd.,

278

G. Objektivierungsmöglichkeiten im Strafrecht (§§ 22–24 StGB)

Schutzinteressen des Opfers vereinbaren. Ein Rücktritt durch bloßes Nicht­ weiterhandeln ist nach Puppe nur dann legitimierbar, wenn sich der Täter von der Ungefährlichkeit seines bisherigen Verhaltens überzeugt hat. Die von der subjektiven Ermittlungsmethode der Rücktrittsleistung be­ hauptete Relevanz der Tätervorstellungen für die Anforderungen, welche an die Aktivität des Täters beim Rücktritt gestellt werden, setzt die von Neu­ rowissenschaftlern gerade kritisierte These des Zusammenhangs erstper­ spektivischer Tätervorstellungen von der eigenen Tat und der Möglichkeit zu bewusster Handlungssteuerung voraus. Der philosophisch begründete objektive Maßstab hingegen wäre mit der wissenschaftlichen Sichtweise der Neurowissenschaften insofern vereinbar, als die Frage, ob es dem Täter überhaupt möglich war, sein Bewusstsein als „Steuerungsinstanz“ zu ge­ brauchen – in diesem Falle als Basis eines möglichen Rücktrittsverhaltens –, dahingestellt bliebe. Der Rückschluss auf das Vorstellungsbild des Täters auch bei Puppe macht tatsächlich nur dann Sinn, wenn man geneigt ist, den bewussten Vorstellungen des Täters eine Relevanz für die Beurteilung der Tat zuzuschreiben. Bei konsequenter methodischer Ausklammerung fremdpsychischer Zu­ stände des Täters und ausschließlicher Geltung objektiver Maßstäbe im Sinne einer Vollobjektivierung des Rücktritts vom Versuch enthielte man sich hingegen eines Urteils über die Bedeutsamkeit der subjektiven Täter­ sicht auf die Tat.179

179  Heckler,

Ermittlung 2002, S. 172.

Abschließende Betrachtungen • Objektiver Geist Nach Habermas ergibt sich aus der „Nicht-Hintergehbarkeit der […] Wissensperspektiven“1 das Problem der mentalen Verursachung, da der kognitive Apparat des Menschen offensichtlich nicht darauf ausgerichtet ist, zu verstehen, wie deterministische Wirkungszusammenhänge interagieren können mit einer „kulturellen Programmierung“, die als bewusste Hand­ lungssteuerung durch Gründe erlebt wird. In kantischer Terminologie be­ schreibt Habermas dieses „Rätsel“ folgendermaßen: „Es ist unbegreiflich, wie die Kausalität der Natur und die Kausalität aus Freiheit in ‚Wechselwir­ kung‘ treten können.“2 Einen Ansatz für die Lösung dieses Dilemmas sieht Habermas in der Verschiebung des Augenmerks von der Betrachtung des einzelnen Individuums hin auf überindividuelle Zusammenhänge.3 Neben der an das Subjekt geknüpften epistemischen Freiheit, die im Zen­ trum dieser Untersuchung stand, „existiert“ Freiheit demnach auch als überindividuelles, sozio-kulturelles Phänomen. Offenbar geht in der Evolu­ tion auf anthropologischer Entwicklungsstufe aus der intensivierten Interaktion von Artgenossen eine in Zeichen materialisierte Schicht von gramma­ tisch geregelten Sinnzusammenhängen hervor, an denen die einzelnen Indi­ viduen intersubjektiv partizipieren.4 Dieser „objektive Geist“ ist für uns nur dank seiner Verkörperung in akustisch und optisch wahrnehmbaren materiellen Zeichen greifbar, also in kommunikativen Äußerungen, symbo­ lischen Gegenständen und Artefakten. Solche sinnhaften Symbolsysteme, die eine relative Unabhängigkeit von der Natur erlangten, können als emer­ gente Eigenschaften verstanden werden, die sich in einem evolutionären Schub zur „Vergesellschaftung der Kognition“ herausbildeten.5 Vom subjektiven Geist der bewussten Ebene ausgehend entwickeln sich über kommunikative Prozesse auch soziale Strukturen, die sich so sehr durch die Ausprägung normativer Ordnungen verselbstständigen, dass sie 1  Habermas, 2  Ebd. 3  Ebd.

4  Ebd., 5  Ebd.,

Freiheit 2004, S. 886.

S. 887. S. 886.

280

Abschließende Betrachtungen

ihrerseits den sozio-kulturellen Rahmen bilden, in dem sich individuelle Gehirne entwickeln.6 Neben einer propositional strukturierten Sprache als „Herzstück“, gibt es noch zahlreiche andere symbolische Formen, Medien und normative Regel­ systeme, z. B. das Strafrecht, deren Sinn- bzw. Bedeutungsgehalte intersub­ jektiv geteilt und reproduziert werden.7 Die intersubjektive Kommunikation und die hiermit zusammenhängenden Vorgänge der Bewertung und wech­ selseitigen Verantwortungszuschreibung tragen so zur Reproduktion jenes objektiven Geistes bei, der seinerseits qua sozio-kultureller „Programmie­ rung“ neuronaler Strukturen, etwa über Erziehungsprozesse, gleichsam „durch die Hintertür“ auf die einzelnen Gehirne zurückwirkt:8 „Warum sollte es nicht, gegenläufig zur Determinierung des subjektiven Geistes durch das Gehirn, auch eine ‚mentale Verursachung‘ im Sinne der Program­ mierung des Gehirns durch den objektiven Geist geben?“9 Es ist nicht zu sehen, warum kulturelle und soziale Prägungsprozesse die Hirnfunktion nicht ebenso beeinflussen sollten wie andere Faktoren, die auf neuronale Strukturen einwirken, auch. Die Plastizität des Gehirns darf aller­ dings nicht dahingehend interpretiert werden, dass sie ein Argument gegen die aus der Dritten-Person-Perspektive deterministisch beschreibbare Ver­ fasstheit des Gehirns darstellt, sondern sie ist lediglich ein Hinweis auf eine auch sozio-kulturelle Programmierung des Gehirns10 parallel zur natürli­ chen Determination, die auf subjektiv-bewusster Ebene neben den beschrie­ benen epistemischen Ursachen auch an freiheitlichen Selbstzuschreibungen beteiligt ist. So tritt der natürlichen Determination eine soziale an die Seite, die gleichwohl immer auch neuronal realisiert und „verarbeitet“ sein muss, um auf personaler Ebene wirksam werden zu können. Insofern wird aller­ dings eine eventuelle „Vorgängigkeit“ des objektiven Geistes, der die Ge­ hirne „programmiert“, auch wieder neuronal eingeholt. Der konkrete „Me­ chanismus“, nach dem eine solche objektiv-geistige Programmierung erfol­ gen soll, kann auch durch eine Verschiebung ins Überindividuelle nicht aufgeklärt werden. Eine sozio-kulturelle Determination ist auf ontogeneti­ scher Ebene für die Verankerung des Selbstbilds autonom handelnder und zur Selbststeuerung fähiger Individuen vor allem in frühkindlichen Prägun­ gen und anderen frühen Erziehungsprozessen zu suchen.11 Frühkindliche Prägungen setzen in einer Entwicklungsphase ein, in der Kleinkinder über 6  Singer,

Selbsterfahrung 2004, S. 253. Freiheit 2004, S. 886. 8  Ebd., S. 887; Singer, Selbsterfahrung 2004, S. 249, 253. 9  Habermas, Freiheit 2004, S. 886. 10  Ebd., S.  885 ff. 11  Singer, Selbsterfahrung 2004, S. 246. 7  Habermas,



Abschließende Betrachtungen281

ein deklaratives Gedächtnis kaum verfügen und deshalb noch nicht in der Lage sind, fundamentale Lern- und Prägungsprozesse zu erinnern. Sie eig­ nen sich zwar das Gelernte an, können aber später nicht mehr angeben, woraus sich dieses Wissen herleitet („frühkindliche Amnesie“). So erschei­ nen uns in späteren Lebensphasen Inhalte dieser frühen Lernprozesse, wie das Gefühl der bewussten Urheberschaft für eigene Entscheidungen und Handlungen, ihrerseits als nicht-verursacht, „absolut“. In dieser fehlenden Erinnerung an frühe sozio-kulturelle Lernprozesse ist eine Ursache für die „eigentümliche, transzendente Komponente unseres Selbstmodells, die wir mit unserem Ich verbinden […]“ zu sehen.12 Als fest verankerter Bestand­ teil unseres Selbstbilds und Überzeugungssystems kann das Konstrukt der Willensfreiheit so handlungswirksam werden.13 Mit dem Spracherwerb erlernen Kinder auch das „Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft“. Hier müssen sie „Rede und Antwort stehen“ sowie Gründe angeben, warum sie so und nicht anders gehandelt haben: „Willensfreiheit ist mithin eine zum Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft gehörende Präsupposition des Tun- und Lassenkönnens, die die Zurechnung von Verantwortung erst ermöglicht.“14 Ein Beobachter, der in der Dritten-Person-Perspektive alle Anklänge an eine mentalistische Sprache vermeiden möchte, müsste deshalb in einem empiristischen Sprachgebrauch alle Bezüge auf propositionale Einstellungen von Subjekten, die etwas als wahr oder falsch bewerten, eli­ minieren. Prädikate wie „bejahen“, „verneinen“, „meinen“ und „überzeu­ gen“ dürften nicht mehr vorkommen.15 Damit vermag die Sprache der Neurowissenschaften angesichts unseres lebensweltlich geprägten intentio­ nalistischen Sprachgebrauchs derzeit nicht durchzudringen: „Dieser Determinismus ist allerdings mit dem alltäglichen Sprachgebrauch han­ delnder Subjekte unvereinbar. Im Alltag kommen wir nicht umhin, uns gegenseitig und bis auf weiteres die verantwortliche Urheberschaft für unsere Handlungen zuzuschreiben. Die in Aussicht gestellte wissenschaftliche Aufklärung über die naturgesetzliche Determination unseres Handelns kann das intuitiv verankerte und pragmatisch bewährte Selbstverständnis von zurechnungsfähigen Aktoren nicht ernsthaft infrage stellen. Die objektivierende Sprache der Neurobiologie mutet dem ‚Gehirn‘ die grammatische Rolle zu, die bisher das ‚Ich‘ gespielt hat, aber sie findet damit an die Sprache der Alltagspsychologie keinen Anschuss.“16

Mit dem Spracherwerb finden wir Anschluss an elementare Sprachstruk­ turen, in denen die Subjekt-Objekt-Unterscheidung ebenso verankert ist, wie die Differenz von Aktiv und Passiv. Die Freiheit ist Bestandteil einer in der 12  Singer,

Selbsterfahrung 2004, S. 247. Willensfreiheit 2006, S. 204. 14  Habermas, Sprachspiel 2008, S. 16. 15  Ders., Freiheit 2004, S. 875. 16  Ebd., S.  871 f. 13  Walde,

282

Abschließende Betrachtungen

Alltagssprache und damit in der Gesellschaft „unausweichlichen“ Wirklich­ keit, die das Individuum nicht ohne Weiteres verlassen kann:17 „Denn die Konstruktion der Sätze mit einem handelnden Subjekt und einem die Handlung erleidenden Objekt wie auch die grammatischen Formen des Aktivs und des Passivs belegen eine Welt-Sicht, die von dem handelnden Subjekt und damit in letzter Konsequenz von dessen Handlungsfreiheit geprägt ist und hinter die man infolgedessen überhaupt nicht zurückgehen kann, solange diese Sprachstrukturen unsere Gesellschaft beherrschen. […] Erst wenn es für jeden von uns selbstver­ ständlich wäre, selbst in seinen eigenen Gedankenspielen nicht mehr in den Ka­ tegorien von Subjekt, Prädikat und Objekt, von Aktiv und Passiv zu denken, […] könnte dann auch im Strafrecht daran gedacht werden, das ihm bis dahin aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit notwendig zuwachsende Fundament der Willensfreiheit aufzugeben.“18

Auch das Recht als Regelungsinstanz von durch Sprache konstituierten, bedeutungshaltigen Beziehungen der Menschen untereinander kann hinter diese sprachliche Realität natürlich nicht zurückgehen:19 „Daß die wechselseitige Zuschreibung eines freien Willens zu den Fundamenten unserer Sprach- und Lebensform gehört, ist gewiß zutreffend. In unzähligen For­ men des alltäglichen Umgangs der Menschen miteinander – in Lob, Tadel, Be­ wunderung, Verachtung, Dankbarkeit, Sympathie und wohl auch in den Urteilen staatlicher Kriminalgerichte – ist sie ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Richtig ist auch, daß unsere sprachlich konstituierten Lebensformen bedeutende Bereiche des gesellschaftlichen wie des individuellen Lebens und Handelns, also der von allen geteilten Wirklichkeit, ganz buchstäblich hervorbringen, erzeugen – die symbolischen Sphären der Normen etwa oder die der Kunst, und zahlreiche weitere.“20

• Die Sprache des Strafrechts ist intentionalistisch Die intentionalistischen Sprachkonventionen konnten in Kapitel C. zu sub­ jektiven und objektiven Elementen für das Strafrecht konkret aufgezeigt wer­ den. Ob jemand, der vom Inhaber des Hausrechts unaufgefordert ein Haus betritt, Hilfe in einer Notlage leisten möchte oder den Hausherrn ermorden will, kann nur entschieden werden, wenn man weiß, aus welchen Gründen er handelt. Da die äußere Verhaltensseite aufgrund der explanatorischen Lücke oftmals mehrdeutig ist, muss auf den subjektiven Tatbestand zurückgegriffen werden, um den inhärenten Sinn des Verhaltens überhaupt identifizieren zu können.21 Insofern kommt dem subjektiven Tatbestand eine Differenzie­ 17  Schünemann,

Funktion 1984, S. 163 f.; ders., Stand 2003, S. 547. Funktion 1984, S. 164 f. 19  Ders., Stand 2003, S. 547. 20  Merkel, Handlungsfreiheit 2005, S. 443. 21  Bung, Wissen 2009, S. 120. 18  Ders.,



Abschließende Betrachtungen283

rungsfunktion gegenüber der objektiven Tatseite zu. Die Vernachlässigung der subjektiven Seite des Tatgeschehens würde bei den reinen Erfolgsdelikten zu einer Einebnung unterschiedlicher Unrechtsgrade führen.22 So stimmen die meisten Fälle des Mordes und des Totschlags (§§ 211, 212 StGB), der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) und der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) jedenfalls im objektiven Tatbestand überein. Würde das Un­ recht nur durch die objektiven Umstände der Tat (Verursachung des Todes eines Menschen) bestimmt, so verletzte der aus Habgier handelnde Mörder die Rechtsordnung nicht schwerer als derjenige Täter, der einen Verkehrsun­ fall mit tödlichem Ausgang leichtsinnig herbeiführte.23 Dass ein und derselben Verhaltensweise ganz unterschiedliche innere Einstellungen entsprechen können,24 verdeutlicht auch das Absichtsdelikt des Diebstahls: So lässt sich bei der Wegnahme eines Autos die Abgrenzung zwischen § 242 (Diebstahl) und § 248b (Unbefugter Gebrauch eines Fahr­ zeugs) nur unter Rückgriff auf Intentionales bemessen, ob Zueignungs- oder lediglich Gebrauchsabsicht vorliegt.25 Was die Wegnahme einer fremden, beweglichen Sache zu einem Diebstahl macht, ist die Zueignungsabsicht, über die nur der Täter selbst Auskunft geben kann. Insofern verwundert es nicht, dass eine rein objektive Definition des Diebstahls unmöglich ist.26 Für die Gruppe der Absichts- oder Tendenzdelikte im engeren Sinne bzw. der Delikte mit „überschießender Innentendenz“ ist es charakteristisch, dass die besonderen subjektiven Tatumstände im objektiven Tatbestand kein Gegenstück haben.27 Im günstigeren Fall können deliktsspezifische subjektive Tatbestands­ merkmale wie bei den Absichtsdelikten eindeutig identifiziert werden. Hier stellt sich lediglich die dargestellte „Differenzierungsproblematik“. Andere Beispiele verdeutlichen die komplexe Verschränkung von Subjek­ tivem und Objektivem in der Sprache des Strafrechts, die schon eine ein­ deutige Unterscheidung unmöglich macht und die derzeitige Undurchführ­ barkeit des sprachlichen Behaviorismus bestätigt. Schwierig wird es bei Delikten, in denen „finale Verben“ zur Tatbestandsbeschreibung verwendet werden: Worte wie „täuschen“, „wegnehmen“, „falsch schwören“ usw. be­ zeichnen keine Vorgänge, die rein objektiv aus der Dritten-Person-Perspek­ tive beschreibbar wären.28 22  Stratenwerth / Kuhlen,

Strafrecht AT I 2004, S. 103 f. S. 104. 24  Puppe, Aufbau 2007, S. 394. 25  Jescheck / Weigend, Lehrbuch 1996, S. 242. 26  Puppe, Aufbau 2007, S. 394. 27  Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT I 2004, S. 130. 28  Kelker, Legitimität 2007, S. 406; Puppe, Aufbau 2007, S. 394. 23  Ebd.,

284

Abschließende Betrachtungen

Die Subjektivität unserer Sprache durchzieht aber nicht nur den subjek­ tiven Tatbestand, sondern auch die objektiven Tatbestandsmerkmale, die nicht nur Gegenstände der „Außenwelt“ beschreiben, sondern alles, was sich außerhalb der Täterperspektive befindet. Demnach sind die objektiven Tatbestandsmerkmale nicht ausschließlich Vorgänge oder Gegenstände, die der sinnlich wahrnehmbaren Welt angehören, wie „Mensch“, „Tier“, „Sa­ che“, „töten“, „beschädigen“ usw. Oftmals handelt es sich vielmehr um komplexere Begriffe, deren Bedeutungsgehalte sich entweder nur teilweise oder sogar überhaupt nicht der bloßen Anschauung erschließen, sondern durch psychische Prozesse oder rechtliche bzw. soziale Wertungen be­ stimmt oder mitbestimmt werden. So weisen auch deskriptive Merkmale oftmals normative Einschläge auf, die über den Bereich der bloßen An­ schauung hinausgehen. Bei den finalen Tätigkeitsworten, wie etwa „nach­ stellen“ in § 292 StGB, ist die deskriptive Handlungsbeschreibung so voll­ ständig mit der subjektiven Intention des Täters verschmolzen, dass dieses „eigentlich“ zum objektiven Tatbestand zählende Merkmal durch subjekti­ ve Elemente aus der Täterperspektive mitbestimmt wird. Der Begriff des Objektiven im Tatbestand kann also nicht allein auf äußere Erscheinungen beschränkt werden, sondern ist vielfach durch subjektive Faktoren und normative Wertungen mitbestimmt. Somit ist auch die im Strafrecht übli­ che formale Trennung des Tatbestands in objektive und subjektive Be­ standteile nicht immer stringent durchführbar.29 Ob es sich in diesen Fällen um objektive Merkmale mit subjektiven Komponenten handelt30 oder um eine dritte Variante von Tatbestandsmerkmalen, in denen objektive und subjektive Elemente sprachlich unlösbar miteinander verflochten sind,31 mag an dieser Stelle dahinstehen. Als Ergebnis der perspektivischen Analyse des Strafrechts und insbeson­ dere der Unrechtsebene bleibt indes festzuhalten, dass schon in den Tatbe­ standsbeschreibungen von Vorstellungen und Absichten des Täters nicht abgesehen werden kann, ohne dass die Tat ihren eigentümlichen Sinngehalt verlöre. Das bedeutet aber, dass die Frage nach einer sprachlichen Objektivierbarkeit des Strafrechts, das sich als solches nicht von unseren Sprach­ konventionen abkoppeln kann, derzeit negativ beantwortet werden muss.

29  Jescheck / Weigend,

Lehrbuch 1996, S. 273; Puppe, Aufbau 2007, S. 394. Aufbau 2007, S. 394. 31  Vgl. die „Vorspiegelung“ i.  S. d. § 263 StGB, bei der es sich zwar um ein äußeres Tun handelt, das aber ohne das subjektive Element des Täuschungsbewusst­ seins grundsätzlich nicht verstehbar ist (Roxin, Strafrecht AT I 2006, S. 306). 30  Puppe,



Abschließende Betrachtungen285

• Die Freiheitsdebatte im Strafrecht konzentrierte sich strafrechtssystematisch betrachtet bislang auf den Nebenschauplatz der Schuld Die von den Neurowissenschaften angestoßene aktuelle Freiheitsdebatte im Strafrecht hat sich bis dato auf der dogmatisch sekundären Schuldebene vollzogen.32 Hinsichtlich des schon auf den ersten Blick engen Zusam­ menhangs von bewusster Selbststeuerbarkeit, Verantwortlichkeit und der daraus resultierenden Möglichkeit der Schuldzurechnung ist diese Fokussie­ rung nachvollziehbar. Im systematischen Aufbau der Straftat tritt die Schuld ganz konkret als Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld in Erscheinung. Die Strafbegründungsschuld bildet den Überbegriff für diejenigen Aspekte, wel­ che die Verhängung der Strafe gegen einen Täter rechtfertigen oder verhin­ dern. Die Strafzumessungsschuld liefert Anknüpfungspunkte für die richter­ liche Strafzumessung.33 Indem § 46 Abs. 1 S. 1 die individuelle Schuld des Täters zur Grundlage der Strafzumessung macht, signalisiert das Gesetz, dass es von der greif- und bemessbaren „Existenz“ der Schuld ausgeht.34 Die perspektivische Analyse subjektiver und objektiver Elemente im Strafrecht führt hinsichtlich der Rolle der Schuld zu folgenden Ergebnissen: Die strafrechtliche Schuld ist in einem sehr stringenten Sinne einseitig unrechtsbezogen. Schuld ist dogmatisch vor allem ein Beziehungsbegriff, der sich auf das Unrecht richtet. Mit Blick auf das Bedingungsverhältnis ist die Schuldebene gegenüber dem Unrecht sekundär. Die Unrechtsbezogenheit der 32  Stollwerck,

Tatbestandsmerkmale 2003, S. 106. Freiheit 2006, S. 344 f. Der dogmatische Begriff der Strafzumes­ sungsschuld kann freilich auch straftheoretisch gedeutet werden. Dann ist die Grundlagenformel in § 46 Abs. 1 S. 1 („Die Schuld des Täters ist die Grundlage für die Zumessung der Strafe.“) in straftheoretischer Hinsicht Ausdruck des Vergel­ tungsgedankens sowie des Grundsatzes, dass Strafe stets Schuld voraussetzt. Man kann sagen, dass mit § 46 Abs. 1 S. 1 das strafrechtliche Schuldprinzip (keine Stra­ fe ohne Schuld) gesetzlich verankert wurde. Darüber hinaus drückt die Bestimmung aber auch aus, dass Strafe immer nur äquivalent zur individuellen Schuld verhängt werden darf (Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 47). 34  Bringewat, Grundbegriffe 2008, S. 47. Hier ist fraglich, inwiefern „Schuld“ als kategorisch-definitorische Größe überhaupt bestimmbar und messbar gestaltet werden kann, wie dies im strafrechtlichen Deliktsaufbau geschieht (Czerner, Schuld­ begriff I 2006, S. 66). Durchaus kritisch ist die Frage zu stellen, ob es nicht gera­ dewegs anmaßend ist, mit letzter Gewissheit und dem Anspruch auf Validität das letztlich auch erkenntnistheoretische Problem der Schuldfeststellung lösen zu kön­ nen. Trotz dieses „fast als ‚untauglich‘ zu beurteilenden Versuchs einer qualitativquantitativen Operationalisierbarkeit von Schuld basiert das Strafrecht […] auf die­ sem diffus und fragil anmutenden Fundament des Schuldprinzips.“ (Ebd., S. 67). 33  Lindemann,

286

Abschließende Betrachtungen

Schuld spiegelt die schuldindizierende Funktion des tatbestandsmäßigen Un­ rechts: Tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Verhalten indiziert regelmä­ ßig auch die Schuld des Täters. Mit der Verwirklichung tatbestandsmäßigen Unrechts ist daher in der Regel auch ein schuldhaftes Handeln verbunden. Je größer das Unrecht, desto höher ist auch die Schuld: Tritt z. B. der Erfolg einer Straftat ein, erhöht sich die Schuld des Täters.35 Zuerst wird ermittelt, ob ein Rechtsgut verletzt wurde und inwiefern hierfür eine menschliche Intention zugeordnet werden kann.36 So beginnt der Jurist auch die Prüfung der Straftat mit der rechtswidrigen Willensverwirklichung und kommt erst anschließend zur schuldhaften Willensbestimmung.37 Es kann keine Schuld ohne Unrecht geben, wohl aber ein Unrecht ohne Schuld.38 Bereits auf der Unrechtsebene wird also nach dem Willen gefragt und nicht erst bei der Schuldzurechnung.39 Der Wille, eine fremde Sache wegzunehmen, die Absicht, sie sich zuzueignen, ist kein Schuld-, sondern ein Unrechtselement.40 Die grundsätzliche Abwesenheit von Wil­ lensfreiheit schlösse also bereits strafrechtliches Unrecht aus.41 Im Straf­ recht stellt sich die Frage der bewussten Handlungssteuerung somit schon auf der rechtsdogmatisch vorgängigen Unrechtsebene. Bereits strafwürdiges Unrecht kann nur begehen, wer jedenfalls grundsätzlich dazu befähigt ist, sein Handeln bewusst an normativen Vorgaben auszurichten.42 • Der Prozess des Sprach- und Verständniswandels ist offen Sprachliche Strukturen und durch sie beeinflusste Selbstwahrnehmungen sind nicht unveränderlich. Schon der Blick in die Geschichte zeigt die Exis­ tenz deterministischer Weltbilder. Erinnert sei etwa an die christlichen Prä­ destinationslehren des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die das Offene und Unabgeschlossene selbst fundamentaler Deutungsgefüge vor Augen führen.43 Gesellschaften, in denen ein anderes Verständnis von persön­licher 35  Puppe,

36  Lampe, 37  Ebd.

38  Ebd.,

Aufbau 2007, S. 391 f. Bedeutung 2008, S. 304.

S. 305. S.  304 f. 40  Ders., Willensfreiheit 2006, S. 5. 41  Ders., Bedeutung 2008, S. 305. Einige Strafrechtler diskutieren die „Hand­ lung“ als noch basalere Kategorie im Vergleich zur Unrechtsebene. Allerdings ist die Handlung keine Stufe des strafrechtlichen Deliktsaufbaus im engeren Sinne, der „erst“ mit der Frage beginnt, ob die Verwirklichung eines Tatbestands vorliegt und auch philosophisch zu unbestimmt für eine strafrechtliche „Operationalisierung“. 42  Ders., Beiträge 2008, S. 31. 43  Schünemann, Stand 2003, S. 548. 39  Ebd.,



Abschließende Betrachtungen287

Verantwortlichkeit und Entscheidungsfreiheit vorherrscht, sind jedenfalls nicht grundsätzlich undenkbar:44 „Im Übrigen sollte nicht ignoriert werden, dass der Determinismus eine lange Tradition in der abendländischen Geistesgeschichte hat, dass die auf deterministi­ sche Annahmen gestützte Forderung nach einem reinen Maßregelrecht auch unter Kriminologen seit langem Anhänger findet und dass gerade neueste hirnphysiolo­ gische Forschungen der These von der Determiniertheit aller menschlichen Hand­ lungen wieder Auftrieb gegeben haben. Dass ein deterministisches Menschen- und Gesellschaftsbild dem modernen Menschen geradezu unvorstellbar sei, wird man also nicht sagen können.“45

Auch die in unseren Sprachstrukturen fixierten Realitätskonstruktionen sind also keineswegs „immun“ gegen neu entstehende Deutungen, die auf naturwissenschaftlicher Forschung basieren können.46 Für sozio-kulturelle Freiheitszuschreibungen kann es daher, im Unterschied zu epistemologisch begründeter präsent-prospektiver Freiheit, auch kein „erdbebenfestes“ Fundament geben: „Falls sich kritische naturwissenschaftliche Stellungnahmen zum Postulat der Willensfreiheit zu einem ‚etablierten Stand der Forschung‘ verdichten und mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch als ‚Allgemeinwissen‘ rezipiert wür­ den, würde sich unsere sprachlich vermittelte gesellschaftliche Konstruktion von Realität langfristig anpassen.“47

Solche Anpassungen vollziehen sich allerdings langsam, da sprachliche Tiefenstrukturen intersubjektiv geteilter Erfahrungen Ergebnisse langwieri­ ger Prozesse sind. Die sozio-kulturelle Freiheitskonvention ist ein konserva­ tives Muster, das tiefgreifende Umbrüche in Zurechnungssystemen zunächst abfedert.48 Sprachspiele und ihre internen Logiken verändern sich dennoch kontinuierlich. So wäre es durchaus denkbar, dass sich durch die Diskussion um die Relevanz der Neurowissenschaften für das Strafrecht auch nach und nach objektive Maßstäbe in dogmatischen Bereichen durchsetzen, in denen Subjektives bislang dominierte:49 „Das heißt nicht, dass man die Zurech­ nungskriterien des Straftatsystems ein für allemal festschreiben könnte. Der Versuch einer solchen Fixierung wäre zum Scheitern verurteilt. Das Straf­ tatsystem ist immer in Bewegung […].“50 Die Rechtswissenschaft wird die 44  Bung,

Wissen 2009, S. 6. Strafrecht AT I 2006, S. 871. Merkel verweist zusätzlich auf abwei­ chende Sprachpraxen in rezenten nicht-europäischen Kulturen (Merkel, Handlungs­ freiheit 2006, S. 167 f.). 46  Hörnle, Unwerturteil 2005, S. 124 f. 47  Ebd., S. 125. 48  Ebd. 49  Bung, Wissen 2009, S. 6. 50  Ebd., S. 97. 45  Roxin,

288

Abschließende Betrachtungen

Diskussionsstände anderer Disziplinen auch nicht permanent ignorieren können: „Infolge der Interpretationsoffenheit der juristischen Begriffe wäre der Versuch, die Jurisprudenz dauerhaft von der Entwicklung in den anderen Wissenschaften abzuschotten, ohnehin zum Scheitern verurteilt. Ich wage deshalb die Vermutung, dass sich auch die Jurisprudenz dem weiteren Vordringen des naturalistischen Denkstils in alle Bereiche des menschlichen Lebens nicht dauerhaft wird wider­ setzen können.“51

Eine mögliche Naturalisierung des Strafrechts ist an einen strukturellen Sprachwandel gebunden, der selbstverständlich auch durch die Rezeption naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse beeinflusst wird. Dennoch hat die Untersuchung des Deliktsaufbaus die derzeitige intenti­ onalistisch-normative Tiefenstruktur der Sprache auch für das Strafrecht bestätigt, der selbst die im Strafrecht sonst übliche Unterscheidung nach subjektiven und objektiven Elementen nicht gerecht werden kann. Eine fundamentale Umgestaltung des Zurechungssystems setzte bei Beto­ nung der Rolle sozio-kultureller Kontexte eine bis in Tiefenstrukturen hinein objektivierte Alltagssprache voraus. Aufgrund eines nur langsamen Sprach­ wandels steht daher ein sprachlich vollständig objektiviertes Strafrecht derzeit auch nicht auf der Tagesordnung. • Freiheit und Determinismus sind an Erkenntnisperspektiven gebunden Von der derzeitigen Nicht-Objektivierbarkeit der Sprache des Strafrechts aus kommunikationstheoretischer Sicht darf deshalb aber nicht auf die völ­ lige Unmöglichkeit einer Objektivierung des Strafrechts geschlossen wer­ den. Im Rahmen des in Kapitel B. konturierten perspektivischen Ansatzes lässt sich vielmehr eine erkenntnistheoretisch begründete Objektivierung des Strafrechts legitimieren. Vor dem Hintergrund eines auch auf Kants Theorie des inneren und äußeren Sinns zurückgehenden Konzepts der Per­ spektivität erscheint die Freiheitsfrage als perspektivisches Problem: In Kapitel E. „Erkenntnistheoretische Zugänge zum Freiheitsproblem“ wurde gezeigt, dass im perspektivendualen Zugriff derjenige, der essentialistisch nach dem „Wesen“ des Willens oder der Willensfreiheit fragt, sich selbst die Möglichkeit einer differenzierten Beantwortung verbaut. Jemand oder etwas ist nicht schlechthin determiniert oder indeterminiert. Vielmehr hängt für die Beantwortung dieser Frage alles davon ab, aus welcher Perspektive sie thematisiert wird.52 Freiheit und Determinismus sind an die Erkenntnisper­ 51  Hilgendorf, 52  Planck,

Naturalismus 2003, S. 101. Determinismus 1990 (1938), S. 198; Pothast, Freiheit 2011, S. 15.



Abschließende Betrachtungen289

spektiven der ersten und der dritten Person gebunden: „Die Probleme von Freiheit und Naturnotwendigkeit werden unter der Voraussetzung entscheid­ bar, daß ich mich jeweils einer besonderen Perspektive bediene, in deren einer der Mensch als freies Wesen, in deren anderer er als naturbedingt in den Blick kommt.“53 Bereits Kant konnte im Rahmen seines Methodischen Determinismus eine vollständige und lückenlose Determination der natürlichen Welt als methodische Projektion problemlos akzeptieren:54 „Die […] alternative Lösung baut Kant argumentativ sehr gründlich auf. Als ers­ tes entwickelt er eine neue Theorie der Kausalität, die letztlich dem Freiheitsgeg­ ner entgegenkommt. […] Diese transzendentale, weil auf Möglichkeitsbedingun­ gen gerichtete Kausalitätstheorie stellt den methodischen Determinismus auf eine neue, erkenntnistheoretische Grundlage.“55

Demnach kann auch menschliches Verhalten durch Beobachtung nur als naturgesetzlich determiniert in den Blick geraten. In der Perspektive der dritten Person ist ein spezifisches Verhalten das Ergebnis einer vorangehen­ den Ursache, das selbst wieder Ursache für eine neue Veränderung dar­ stellt.56 Die wissenschaftliche Betrachtungsweise entspricht der Perspek­tive der distanzierten dritten Person.57 In dieser Perspektive gehört auch mensch­ liches Verhalten in den Bereich erscheinender Objekte.58 Betrachten wir unser Tun in der Retrospektive, kann hier die Dritte-Person-Perspektive subjektintern auch auf eigenes vergangenes Verhalten zur Anwendung kom­ men.59 Weder in der retrospektiven Analyse abgeschlossenen eigenen Ver­ haltens noch in der drittperspektivischen Beobachtung Anderer ist es mög­ lich, Freiheit, Verantwortung und Schuld zu „finden“.60 Bereits dieser kantische Methodische Determinismus legt eine Position nahe, die in der Freiheitsfrage die Bedingungen menschlicher Erkenntnis in den Vordergrund rückt.61 Die Grundthese des Erkenntnistheoretischen Indeterminismus, der im 20. Jahrhundert von Max Planck, Ludwig Wittgenstein, Karl Raimund Popper und Donald M. MacKay entwickelt und vertreten wurde,62 besteht darin, dass eigene Entscheidungen und Handlungen dann 53  Gerhardt / Kaulbach:

Kant 1979, S. 12. Determinismus 2006, S. 226. 55  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 242. 56  Kahlo, Problem 1990, S. 293; Kaulbach, Philosophie 1990, S. 83 f., 116. 57  Planck, Wesen 1990 (1936), S. 164. 58  Kahlo, Problem 1990, S. 293; Kaulbach, Philosophie 1990, S. 83 f., 116. 59  Gethmann, Erfahrung 2006, S. 222. 60  Hillenkamp, Strafrecht 2005, S. 313; Nagel, Grenzen 1991, S. 104 f. 61  Höffe, Lebenskunst 2007, S. 232 f. 62  Walde, Willensfreiheit 2006, S. 176 f., 224. 54  Rosenberger,

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Abschließende Betrachtungen

als frei angesehen werden, wenn kein vollständiges Wissen über deren De­ terminanten vorliegt.63 Personen können kein vollständiges Wissen über die determinierenden Faktoren haben, die ihre zukünftigen Entscheidungen und Handlungen bestimmen. Ohne dieses vollständige Wissen stellt sich die Zukunft aus der Perspektive der ersten Person so dar, als sei sie überhaupt nicht determiniert, sondern offen.64 Ein subjektives Freiheitserlebnis als phänomenaler Effekt erkenntnistheoretischer Bedingungen des Wissenser­ werbs stellt sich dann ein, wenn eine Person vor dem Zeitpunkt ihrer Ent­ scheidung oder Handlung die prädiktive Vorab-Bestimmung derselben aus epistemologischen Gründen nicht vornehmen kann.65 Für den Erkenntnis­ theoretischen Indeterminismus ist die Undurchführbarkeit einer prädiktiven Bestimmung der (eigenen) Zukunft sowohl die notwendige als auch die bereits hinreichende Bedingung für individuelle Freiheit.66 Die eigenen Entscheidungen und Handlungen müssen unter diesem Eindruck der Unbe­ stimmtheit der Zukunft betrachtet werden. Diese „Offenheit der Zukunft“ ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass wir die Empfindung haben, allein mittels unseres „freien“ Willens bewusste Entscheidungen treffen und diese schließlich auch in Handlungen überführen zu können. Aufgrund dieser subjektiv erlebten zeitlichen Reihen­ folge haben wir den Eindruck, steuernd einzugreifen und ziehen den Schluss, dass unser Wille die direkte Ursache der Handlung ist.67 Individuelle Frei­ heit ist immer an die Erste-Person-Perspektive gebunden, die sich auf Ge­ genwart und Zukunft richtet.68 Dass der subjektive Eindruck der willentlichen Handlungssteuerung in der Perspektive, in welcher im Strafprozess nach ihm gefragt wird, nicht existiert, hat allerdings weitreichende Konsequenzen für das Strafrecht.69 Denn die Perspektive des Gerichts auf den Angeklagten ist die „objektivier­ te Außensicht Dritter“,70 in der ausschließlich ein Determinationszusammen­ hang sichtbar wird.71 Vergangene Entscheidungen können in der Retrospek­ tive nur postdiktiv erklärt werden.72 Sogar der Täter selbst wird, wenn er 63  Walde,

Willensfreiheit 2006, S. 34. S. 183. 65  Pothast, Unzulänglichkeit 1980, S. 13. 66  Keil, Willensfreiheit 2007, S. 74; Walde, Willensfreiheit 2006, S. 178 f.; Wittgenstein, Tractatus 1984 (1922), S. 48. 67  Merkel / Roth, Bestrafung 2008, S. 24; Planck, Wesen 1990 (1936), S. 164. 68  Rosenberger, Determinismus 2006, S. 9. 69  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 340. 70  Ebd., S. 131; Höffe, Lebenskunst 2007, S.  212; Merkel / Roth, Bestrafung 2008, S. 28; Rosenberger, Determinismus 2006, S. 271. 71  Detlefsen, Grenzen 2006, S. 44. 64  Ebd.,



Abschließende Betrachtungen291

sich als „erkennendes Ich“ retrospektiv die Frage vorlegt, ob er zur Tatzeit anders hätte handeln können, nur eine Rekonstruktion des tatsächlichen Tathergangs leisten können. Nirgends findet der Täter im postdiktiven Rückblick einen Zeitpunkt, an dem er einen anderen Weg hätte einschlagen können.73 Insofern fragt der Baseler Strafrechtler und Rechtsphilosoph Kurt Seel­ mann nach der Berechtigung, dem Einzelnen im Nachhinein Verantwortung zuzurechnen, obgleich sich im Rückblick bei hinreichender Subtilanalyse die Determinanten seines Handelns eindeutig angeben ließen. Wenn der Täter in der Retrospektive nur als determiniertes Wesen in den Blick gerät, kann ihm die vergangene, nunmehr postdiktiv erklärbare Tat nicht mehr vorgeworfen werden. Auf die Probleme, die im Rahmen der strafprozessu­ alen Schuldfähigkeitsprüfung mit der nur selektiven Anwendung des Metho­ dischen Determinismus verknüpft sind, wurde in Kapitel E. bereits hinge­ wiesen. Allerdings ergeben sich auch Konsequenzen für die grundsätzliche Ausrichtung des Strafrechts. • Aus der perspektivendualen Behandlung des Freiheitsproblems folgt für das Strafrecht die Ablösung der Schuld durch die Haftung Aus der Sicht des entfalteten perspektivischen Ansatzes folgt für das Strafrecht eine Haftungszuschreibung, welche die epistemische Differenz zwischen Gegenwart sowie Zukunft einerseits und Vergangenheit anderer­ seits berücksichtigt. Je gegenwärtig und auf die Zukunft gerichtet können wir auch rechtlich nicht miteinander umgehen, ohne uns gegenseitig Verant­ wortung zuzuschreiben.74 Die Lösung könnte darin bestehen, Gegenwart und Zukunft von der Verantwortung leiten zu lassen und die Vergangenheit der drittperspektivischen Erklärung zu überantworten.75 Eine solche Ein­ teilung würde etwa auch traditionelle zivilrechtliche Sanktionen für vergan­ gene Taten nicht ausschließen. Es besteht kein Problem, dem Anderen den objektiv verursachten Schaden zuzurechnen, d. h. von ihm als des Sach­ nächsten Ersatz abzufordern. Äquivalent verhielte es sich im Strafrecht, insofern der Täter für vergangenes Unrecht als dessen Verursacher mit sei­ ner Person haftet. Der verursachte Schaden, nicht die Verantwortung, wird ihm zugerechnet.76 Ein je präsent-prospektiv verantwortungsvoller intersub­ 72  Pothast,

Probleme 1993, S. 109. Determinismus 2006, S. 271; Seelmann, Grundannahmen 2006,

73  Rosenberger,

S.  100 f. 74  Seelmann, Grundannahmen 2006, S. 100. 75  Ebd., S. 101. 76  Ebd.

292

Abschließende Betrachtungen

jektiver Umgang bleibt erkenntnistheoretisch abgesichert völlig unberührt von der Zuschreibung eines staatliche Maßnahmen nach sich ziehenden Verhaltens ex post in der Dritten-Person-Perspektive unter Verzicht auf ei­ nen explizit wertenden Schuldaspekt.77 Aus der Analyse basaler epistemischer Zusammenhänge, von denen auch das Strafrecht nicht absehen kann, resultiert in der Retrospektive eine grundsätzliche Objektivierung im Sinne der Ersetzung des Schuldprinzips durch die Haftung. Die perspektivischen Untersuchungen zum Fremdverstehen in Kapitel F. haben gezeigt, dass die Feststellung von Fremdpsychischem mit grundsätz­ lichen epistemologischen Schwierigkeiten behaftet ist. Schon Kant hatte darauf hingewiesen, dass sich Subjektives der äußeren Beobachtung entzieht und damit erhebliche Schwierigkeiten hinsichtlich der Erfass- und Beweis­ barkeit verursacht werden.78 Die „Übernahme“ der Ersten-Person-Perspekti­ ve eines Anderen ist nicht möglich. Vielmehr ziehen wir in unseren ErstenPerson-Perspektiven analogisierende Schlüsse aus einer subjektinternen Si­ mulation gemutmaßter erstperspektivischer Inhalte des Anderen. Insofern kann es nicht verwundern, dass auch die subjektive Tatseite im Strafrecht erhebliche Probleme hinsichtlich ihrer Erfass- und Beweisbarkeit verursacht. Diese Schwierigkeiten treten grundsätzlich immer dort auf, wo subjektive Elemente im Strafrecht berücksichtigt werden sollen:79 Trotz gewisser äuße­ rer Anhaltspunkte wirft die Feststellung aller subjektiver Elemente der Straftat grundsätzliche Probleme auf, „und jeder Richter bewegt sich hier […] auf unsicherem Boden zwischen Schlussfolgerungen, Vermutungen und Zuschreibungen […].“80 Und dennoch: „Unser geltendes Strafrecht ist […] durch einen ausgeprägten Subjektivismus gekennzeichnet. Maßgebend für die Bewertung der Schwere der Schuld und damit der Schwere der Strafe ist, was der Täter sich vorgestellt und was er gewollt hat. […] Heute sind wir […] an einem Punkte angelangt, wo [..] die subjektive Vor­ stellung des Täters, sein Wille, seine Gesinnung […] alles, die objektiven Folgen seiner Tat nichts oder fast nichts für die Strafzumessung zählen.“81

77  Pothast,

Freiheit 2011, S. 17 f.; ders., Unzulänglichkeit 1980, S. 24. Legitimität 2007, S. 440. 79  Ebd., S. 406. Nach Kelker berge die mangelhafte Erfass- und Beweisbarkeit „reale Risiken und Gefahren bei der Rechtsanwendung“. Es bestehe die Gefahr, dass die „größere Unbestimmtheit der Merkmale zu Gerechtigkeitsproblemen bei der Rechtsanwendung“ führe (ebd., S. 477). 80  Ebd., S. 411. 81  Frey, Schuld 1964, S. 303. 78  Kelker,



Abschließende Betrachtungen293

Angesichts dieses Umstands könnte die Objektivierung in Teilbereichen des Strafrechts ein Korrektiv zu einem ausufernden Subjektivismus bilden, wie er sich etwa hinsichtlich der Regelungen zum Versuch (§§ 22–24 StGB) zeigt.82 In Kapitel G. wurde dargelegt, dass Strafrechtler hierfür bereits auf über­ zeugende objektive Ansätze zurückgreifen können, die im Schrifttum disku­ tiert werden, teilweise in der Rechtsprechung Anwendung finden und sich auch epistemologisch gut begründen lassen: „Ist der subjektiven Terminolo­ gie erst einmal ihre Selbstverständlichkeit, ihr Absolutheitsanspruch genom­ men, wird der bisher vorgeprägte Blick frei für eine Differenzierung, die sich näher am Wortlaut des § 24 Abs. 1 Satz 1 orientiert.“83 Mit Blick auf das Beispiel des Rücktritts vom Versuch sind zwei Objek­ tivierungsstufen zu unterscheiden. Die Objektivierung erster Stufe bezieht sich auf objektive Anhaltspunkte, die in der Dritten-Person-Perspektive er­ hoben werden können, um von diesen ausgehend auf Interna der Täter­ psyche zu schließen. Dieses Schlussverfahren sieht sich allerdings all jenen erheblichen epistemologischen Bedenken ausgesetzt, die im Kapitel zum Fremdverstehen skizziert wurden. Die Objektivierung zweiter Stufe hinge­ gen klammert fremdpsychische Interna der Täterperspektive systematisch aus. So ist insgesamt eine Objektivierung des Strafrechts einerseits mit Blick auf jene erkenntnistheoretischen Bedingungen, die sich aus einer perspekti­ vendualen Behandlung des Freiheitsproblems und insbesondere aus dem Methodischen Determinismus ergeben, für die Zurechnung überhaupt zu begründen und andererseits hinsichtlich epistemologischer Grenzen des Fremdverstehens auch für Teilbereiche des materiellen Strafrechts (wie z. B. für den Rücktritt vom Versuch) philosophisch legitimierbar.

82  Vgl. Czerner, Schuldbegriff II 2006, S. 137; Hillenkamp, Strafrecht 2005, S.  317 f. 83  Borchert / Hellmann, Abgrenzung 1982, S. 437.

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Stichwortverzeichnis Alltagspsychologie  221, 227 f., 230, 240, 281 Alternativismus  22, 27 ff., 142 Analogieansatz  84, 231 f., 234, 236 f., 240 f., 247, 249, 292 Andershandelnkönnen  32 ff., 40, 54, 56 ff., 148, 183 Anderswollenkönnen  28 ff. Asymmetrie  81 –– in der Erkenntnis  219 f., 227 f., 240, 246 Äußerer Sinn  22, 67 ff., 288 Autonomie  15, 51, 142 ff., 148, 270 f., 280

–– methodischer  17, 24, 172 ff., 176 f., 182, 186 f., 199, 205, 220, 226, 289, 291, 293 –– naturwissenschaftlicher  13, 17, 83 –– neurowissenschaftlicher  16 f., 20, 22, 41, 49, 55 f., 83, 136, 141 f. –– physiologischer  16, 141 –– psychologischer  141 –– wissenschaftlicher  52, 140 f. Dolus eventualis  siehe Eventualvorsatz Dritte-Person-Perspektive  siehe Perspektive

Charakter  16, 33, 148, 232 –– empirischer  157 ff., 164, 170 ff., 179 f., 214 –– intelligibler  28, 157 ff., 164, 167, 171 f., 214

Einfühlungstheorie  221, 229 ff. Erkenntnistheoretischer Indeterminismus  siehe Indeterminismus Erkenntnistheorie  22, 24, 61, 66, 72, 78 f., 89, 131 f., 149 f., 155, 170 ff., 174, 180, 182, 184, 188, 206, 216, 218 f., 222 f., 227, 245 f., 263, 288 ff., 292 f. Erste-Person-Perspektive  siehe Perspektive Eventualvorsatz  112 ff. Evolution  84, 279 Experimente zur Willensfreiheit  siehe Freiheit

Deliberation  16, 39, 49, 142 f., 149, 193 Determination  14 f., 22, 28, 31, 33, 46, 103, 136, 139 ff., 145 ff., 165, 167, 170, 177, 179 ff., 186, 188 f., 200 ff., 206, 210, 212 f., 280 f., 289 f. Determinismus  18, 40, 138 ff., 143, 145, 149 f., 156 f., 162 ff., 165, 177, 181, 183, 186, 188, 190 f., 194, 196, 199, 202, 205, 279 ff., 286 ff. –– metaphysischer  186, 200 ff.

Fatalismus  201 ff. Finale Handlungslehre  103 ff., 132, 273 Freiheit  13 ff., 18 f., 24 ff., 29 f., 33 ff., 37, 40, 51 ff., 54, 57 f., 89, 133 ff., 142 ff., 147 f., 150, 156 f., 159, 162 ff., 176, 178 ff., 191 ff., 196 ff., 203 ff., 213, 279, 281, 285, 288 ff., 293 –– Antinomie  155 ff., 162 ff., 171 –– Entscheidungsfreiheit  20, 40 ff., 57, 136, 142 ff., 149, 183 f., 189 ff., 207, 209 f., 281, 287, 289 f.

Behaviorismus  220, 222 ff. Beobachtungsansatz  220 ff., 226 f., 235, 240 f. Bereitschaftspotential  41 ff., 47

Stichwortverzeichnis313 –– Experimente  40 ff. –– Handlungsfreiheit  24, 33 ff., 40, 145 f., 164, 184, 282 –– objektive  279 ff., 287 –– subjektive  23, 41 f., 45, 49, 51 ff., 56 ff., 182, 193 f., 196 ff., 202 ff., 207 ff., 290 –– Willensfreiheit  13, 17 ff., 22, 24, 28 f., 32 f., 40, 45 ff., 49, 51 f., 141, 143, 145 ff., 157, 164, 167, 179, 192, 196, 201 ff., 212, 281 f., 286 ff. Fremdverstehen  24 f., 213 ff., 219, 221, 229, 231 f., 234 ff., 241 ff., 245 ff., 249, 292 f. Garantenstellung  265, 277 Geisteswissenschaften  77, 134, 229 Gesinnungsmerkmal  40, 123 f. –– echtes  124 ff., 129, 131 –– halbes  129 f. –– unechtes  124, 129 f. Haftung  291 f. Handlungsfreiheit  siehe Freiheit Hermeneutik  134, 229 f. Heteronomie  238 f., 270 f. Indeterminismus  18, 33, 144, 164 f., 288 –– erkenntnistheoretischer  24, 187 ff., 191 f., 196 ff., 206, 210, 290 –– metaphysischer  203 Ingerenz  265, 276 f. Innerer Sinn  22, 67 ff., 76 f., 167, 288 Intersubjektivität  65, 82, 209, 228, 236, 239 f., 279 f., 287 Introspektion  50 f., 70, 87, 219 Kategorischer Imperativ  29 f., 165 f. Kausalität  16, 18, 39, 41 f., 51, 53, 66, 80, 83, 94 f., 97 f., 103 f., 133 f., 139, 142 f., 147 ff., 156 ff., 161 ff., 174 f., 179 f., 183, 186 f., 196, 198, 212, 214, 265, 277, 279, 289

Kognitionswissenschaften  22, 49, 181, 227 Kommunikationstheorie  25, 279 f. Kompatibilismus  24, 145 f., 203 Kopernikanische Wende  60 ff., 152 Körper-Geist-Problem  siehe Leib-SeeleProblem Lebenswissenschaften  19, 22, 26, 40, 205 Leib-Seele-Problem  21, 24, 67, 133 Libet-Experimente  siehe Freiheit Materialismus  78 Methodischer Determinismus  siehe Determinismus Monismus  24, 108, 137 f. Naturalismus  138, 205, 288 Naturalistischer Fehlschluss  147 Naturwissenschaften  13, 16 f., 18 f., 77, 80 ff., 84, 134, 138 f., 186, 287 f. Neukantianismus  27 Neurowissenschaften  13, 15 ff., 37 f., 40 ff., 45, 47 ff., 53, 56, 79 f., 82 f., 139, 142 f., 201, 204 f., 208, 214, 219 f., 278, 281, 285, 287 Objektive Zurechnung  273 f., 277 Objektivierung  23, 25, 80, 82, 85, 180, 210, 235, 245, 247, 249, 256, 272 ff., 281, 284, 288, 290, 292 f. Personale Handlungslehre  109, 132 Perspektive  39, 59 ff., 149, 190, 204 ff., 217 f., 228, 246 f., 288 –– Außenperspektive  77 f., 80 ff., 85 –– Beobachterperspektive  80 f., 180 f., 210, 221, 228, 247 f. –– Dritte-Person-Perspektive  22, 58, 66, 77 ff., 93 f., 97, 101, 109, 114 f., 123, 125, 130, 132, 179 f., 187, 190, 194, 199, 201, 203 ff., 210 ff., 218 ff., 226, 241, 246 f., 255, 274, 277, 280 f., 283, 289 f., 292 f.

314 Stichwortverzeichnis –– Erste-Person-Perspektive  22, 57 f., 77 ff., 81 ff., 93, 101, 105 f., 115, 123, 128, 130 ff., 189 ff., 193, 197 ff., 207 ff., 218 ff., 225, 240 ff., 246 f., 249, 290, 292 –– Innenperspektive  56 f., 77 f., 81, 83, 85, 193, 214 Perspektivendualität  22, 66 ff., 78, 89, 118, 196, 288, 291, 293 Perspektivenübernahme  213, 215 ff., 247, 292 Perspektivenwechsel  39, 216, 218, 247 f. Perspektivität  22, 59 ff., 79, 205, 288 Philosophie  21 –– Bewusstseinsphilosophie  84, 219 –– der Perspektivität  siehe Perspektivität –– des Geistes  86 f., 181 –– Gegenwartsphilosophie  21, 67, 146, 236 –– phänomenologische  232 ff. –– praktische  28, 147, 156 f. –– Rechtsphilosophie  21 –– sprachanalytische  77 f., 84, 87 –– theoretische  75 –– Transzendentalphilosophie  60 f., 151, 157 Physikalismus  78, 85 Postrationalisierung  51 Psychologie  14, 18, 41, 49 ff., 83, 154 f., 177 f., 181 Qualia  85, 87 Retrospektive  34 f., 131, 181 f., 188, 192, 195, 206, 210, 213, 220, 289 ff. Rücktritt vom Versuch  245, 249, 251, 257 ff., 293 –– Freiwilligkeit  249, 257 ff., 264 f., 269 ff. Schuld  15 ff., 22, 24, 26 ff., 31 ff., 49, 54 ff., 90 ff., 97 ff., 101 f., 104, 106 f., 109, 118 ff., 142, 184, 196, 206 ff., 210 ff., 251, 253, 257, 285 f., 289, 291 f.

–– Fahrlässigkeitsschuld  98, 107, 119 f., 122 –– Paradoxon  17, 183 ff., 291 –– Schuld(un)fähigkeit  17, 22, 32, 38 ff., 55, 119 ff., 184, 210 f., 291 –– Strafbegründungsschuld  119, 121, 285 –– Strafzumessungsschuld  118 f., 121 f., 285 –– Verhältnis zum Unrecht  24, 91, 97 ff., 118 ff., 128 ff., 132, 285 f. –– Vorsatzschuld  98, 102, 104, 106 f., 119 f., 122 f. Simulationstheorie  84, 221, 228 f., 231 f., 236, 240 f., 292 Sinn (Bedeutung) 13, 17, 63, 105, 123, 143, 215, 224 ff., 229 f., 233 ff., 254, 279 f., 282, 284 Sinn (Wahrnehmung) 82, 87, 150 f., 284 Sinnlichkeit  28 f., 61, 68 ff., 74 f., 153 f., 157 f., 160, 171 Sozialwissenschaften  14, 177, 233 Standpunkt  60, 62, 64, 66, 79, 81, 84, 179 ff., 188, 218, 221, 232, 238, 247 f. Strafrecht  13 ff., 31 f., 34 f., 37 ff., 54 ff., 58, 89, 91 ff., 97 ff., 101, 103, 107 f., 132, 183 ff., 206 ff., 237, 243 ff., 249, 273, 280, 282, 284 ff., 290 ff. Straftat  17, 54, 90 ff., 97, 99, 118 f., 122, 132, 159, 251, 258 ff., 273, 285 f. Subjektivierung  108, 132 Tatbestand  14, 23 f., 40, 90 ff., 110 ff., 117, 120 ff., 125 f., 127, 130, 255 –– objektiver  94 ff., 104, 110 ff., 116 f., 244, 251, 283 f. –– subjektiver  96 ff., 110, 116 f., 124 f., 209, 244, 277, 282 ff. –– Tatbestandsmäßigkeit  91, 93, 95, 98, 104, 110, 113, 118, 255, 269, 274, 276, 286 –– Tatbestandsverwirklichung  14, 23, 90 f., 102, 104 ff., 108, 110 ff., 116 f., 120 ff., 132, 249 ff., 261, 263, 272 ff., 286

Stichwortverzeichnis315 –– Tatbestandsvorsatz  104 ff., 110 ff., 116, 123, 132 Tätervorstellung  23, 25, 131 f., 249, 252 ff., 256, 261 ff., 266, 272 ff., 277 f., 292 f. Theorie-Theorie  221, 227 f., 230, 240 f., 246 Urheberschaft  15, 49, 51, 57, 143, 148, 281

–– objektiver Versuchstatbestand  245, 249 ff., 254 ff., 272 –– Rechtswidrigkeit  253 –– Schuld  253 –– subjektiver Versuchstatbestand  245, 249 ff., 256 –– unbeendeter  261 ff., 275 ff. –– Unrecht  15, 20, 26 ff., 30, 37 ff., 57, 92 f., 95, 101 f., 104, 106, 108 ff., 116, 118, 253, 256, 283, 291

Versuch  25, 102, 105 f., 249 ff., 293 –– beendeter  109, 261 ff., 274 f.

Willensfreiheit  siehe Freiheit Wissenschaftstheorie  77, 186, 241, 244