Paul Ehrlich - Ein Lebensweg von der Histologie über die Immunologie zur Chemotherapie: Verschiedene Texte 3662621541, 9783662621547, 9783662621554

Paul Ehrlich war einer der bedeutendsten Lebenswissenschaftler seiner Zeit. Er hat unser heutiges Verständnis zum Ablauf

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Paul Ehrlich - Ein Lebensweg von der Histologie über die Immunologie zur Chemotherapie: Verschiedene Texte
 3662621541, 9783662621547, 9783662621554

Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
1 Paul Ehrlich – Ein Lebensweg von der Histologie über die Immunologie zur Chemotherapie
Paul Ehrlich – Stationen eines Lebens
2 Praxis und Theorie – Ehrlichs wissenschaftliche Arbeiten
Wissenschaftliche Pfade zwischen Praxis und Theorie, von Histologie zu Chemotherapie
3 Textauswahl
Text 4: Paul Ehrlich, Über die Färbung der Tuberkelbazillen

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Klassische Texte der Wissenschaft

Axel C. Hüntelmann

Paul Ehrlich – Ein Lebensweg von der Histologie über die Immunologie zur Chemotherapie

Klassische Texte der Wissenschaft Gründungsherausgeber Olaf Breidbach, Institut für Geschichte der Medizin, Universität Jena, Jena, Deutschland Jürgen Jost, Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften, Leipzig, Deutschland Reihe herausgegeben von Jürgen Jost, Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften, Leipzig, Deutschland Armin Stock, Zentrum für Geschichte der Psychologie, University of Würzburg, Würzburg, Deutschland

Die Reihe bietet zentrale Publikationen der Wissenschaftsentwicklung der Mathematik, Naturwissenschaften, Psychologie und Medizin in sorgfältig edierten, detailliert kommentierten und kompetent interpretierten Neuausgaben. In informativer und leicht lesbarer Form erschließen die von renommierten WissenschaftlerInnen stammenden Kommentare den historischen und wissenschaftlichen Hintergrund der Werke und schaffen so eine verlässliche Grundlage für Seminare an Universitäten, Fachhochschulen und Schulen wie auch zu einer ersten Orientierung für am Thema Interessierte.

Axel C. Hüntelmann (Hrsg.)

Paul Ehrlich – Ein Lebensweg von der Histologie über die Immunologie zur Chemotherapie

Hrsg. Axel C. Hüntelmann Charité – Universitätsmedizin Berlin Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Berlin, Deutschland

ISSN 2522-865X ISSN 2522-8668 (electronic) Klassische Texte der Wissenschaft ISBN 978-3-662-62154-7 ISBN 978-3-662-62155-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62155-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Wolf Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Danksagung

Für die Aufnahme des Beitrags in der Reihe Klassische Texte der Wissenschaft möchte ich dem Reihenherausgeber Armin Stock und dem Springer Verlag danken. Für die Durchsicht und kritische Kommentierung früherer Versionen dieses Textes danke ich ebenfalls Armin Stock sowie Hans-Martin Jäck und insbesondere Ulrike Enke. Thomas Schnalke vom Medizinhistorischen Museum der Charité in Berlin hat großzügigerweise zahlreiche Sonderdrucke zur Verfügung gestellt, die von Isabel Megatli digitalisiert wurden – auch ihnen beiden gilt mein Dank. Zahlreiche weitere Anregungen zu Paul Ehrlich verdanke ich Christoph Gradmann und Klaus Cussler.

V

Inhaltsverzeichnis

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Paul Ehrlich – Ein Lebensweg von der Histologie über die Immunologie zur Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Axel C. Hüntelmann

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Praxis und Theorie – Ehrlichs wissenschaftliche Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . Axel C. Hüntelmann

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Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Axel C. Hüntelmann

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Paul Ehrlich – Ein Lebensweg von der Histologie über die Immunologie zur Chemotherapie Axel C. Hüntelmann

Paul Ehrlich war einer der bedeutendsten Mediziner seiner Zeit – der letzten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts In den Nachrufen und der Bezugnahme späterer Lebenswissenschaftler auf Ehrlich wurde er als genialer Forscher und Experimentator, als großer Entdecker, als Vater der Chemotherapie, als Wegbereiter der Immunologie, Serologie und Hämatologie bezeichnet. Fraglos ist die Idee der modernen Arzneimittelforschung, systematisch nach chemischen Substanzen zu suchen, ihre Wirkung auf Krankheitserreger und die Zellen des menschlichen Organismus zu prüfen und gegebenenfalls die Zusammensetzung der Substanzen zu modifizieren, ohne Paul Ehrlich genauso wenig denkbar wie die Vorstellung von verschiedenen Rezeptoren, mittels derer Zellen bestimmte Wirk- und Nahrungsstoffe an sich binden. Die erstgenannten Zuschreibungen als Entdecker und genialer Forscher greifen natürlich zu kurz und können weder (zufriedenstellend) seinen wissenschaftlichen Erfolg erklären noch entsprechen sie neueren wissenschaftshistorischen, -theoretischen und -soziologischen Erkenntnissen1 oder Theorien zur Lebenslaufforschung und aktuellen 1 Siehe

die zahlreichen wissenschaftshistorischen, -soziologischen, und -philosophischen Arbeiten im Anschluss an Ludwik Fleck, zur historischen Epistemologie im Anschluss an Gaston Bachelard, Georges Canguilhelm und zuletzt Hans-Jörg Rheinberger, auf Grundlage des material, practical und ontological turn in den Geisteswissenschaften die Arbeiten zur Actor-NetworkTheory im Anschluss an John Law, Michel Callon, Annemarie Mol und Bruno Latour sowie die Arbeiten zu biomedical platforms und wissenschaftlichen Gefügen im Anschluss an Gilles Deleuze und Felix Guattari. A. C. Hüntelmann (*) Charité - Universitätsmedizin Berlin, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 A. C. Hüntelmann (Hrsg.), Paul Ehrlich - Ein Lebensweg von der Histologie über die Immunologie zur Chemotherapie, Klassische Texte der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62155-4_1

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A. C. Hüntelmann

Studien zur Biografik.2 Ehrlichs Erfolg beruhte auf einer Vielzahl von Faktoren. Seine zweifelsohne herausragenden wissenschaftlichen Arbeiten sind ohne die laboratory revolution des 19. Jahrhunderts und die Experimentalisierung (in) der Medizin, ohne eine prononcierte preußische Wissenschaftspolitik und die Schaffung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, den Aufstieg der chemischen Industrie in Deutschland oder auch seine zahlreichen wissenschaftlichen Mit- und Zuarbeiter sowie Kooperationspartner nicht zu erklären.3 Hinzu kommt die Voraussetzung, wirtschaftlich unabhängig eigene Forschungsinteressen zu verfolgen4 und Ehrlichs Fähigkeiten, eine arbeitsteilige Forschung zu organisieren und orchestrieren, wissenschaftliche und persönliche Beziehungen zu knüpfen und internationale Forschungsnetzwerke zu unterhalten, seine interdisziplinäre Herangehensweise und nicht zuletzt die Verbindung von Theorie und Praxis. Ehrlichs Name ist untrennbar verbunden mit der sogenannten Seitenkettentheorie, später als Rezeptortheorie bezeichnet, mit der er die im Körper ablaufenden und vom Organismus initiierten Prozesse zur Abwehr pathogener Mikroorganismen oder chemischer Stoffe zu erklären versuchte. Ehrlich nahm an, dass Zellen mit Rezeptoren, bildlich zunächst als „Fangarme“ und aufgrund der mehrteiligen, kettenförmigen Struktur auch als Seitenketten bezeichnet, ausgestattet seien, mittels derer sie Nahrungsstoffe wie Eiweißsubstanzen oder Sauerstoff an sich binden können. An diese Rezeptoren dockten sich jedoch nicht nur Nährstoffe an, sondern auch, sofern sie eine ähnliche Molekülstruktur aufwiesen, Fremdstoffe (Antigene) wie Bakteriengifte. Die Rezeptoren seien dann ‚besetzt‘, und die Zelle könne keine Nahrungsstoffe mehr auf-

2 Einen

Überblick über Biografietheorie, Lebenslaufforschung und wissenschaftshistorische Erinnerungskulturen liefern die Beiträge in den Sammelbänden und Handbüchern von Pnina G. Abir-Am (Hg.), Comemorative Practices in Science. Historical Perspectives on the Politics of Collective Memory (Osiris 14), Chicago 1999; Hans Erich Bödeker (Hg.), Biographie schreiben, Göttingen 2003; Thomas Söderqvist (Hg.), The History and Poetics of Scientific Biography, Ashgate 2007; Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009; Bernhard Fetz (Hg.), Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin 2009. 3 Hierzu gibt es zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. Exemplarisch zur laboratory revolution: Andrew Cunningham und Perry Williams (Hsg.), The Laboratory Revolution in Medicine, Cambridge 1992; Christoph Gradmann, Krankheit im Labor. Robert Koch und die medizinische Bakteriologie, Göttingen 2005. Zur preußischen Wissenschaftspolitik Bernhard vom Brocke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive, Hildesheim 1991; aus der Reihe Acta Borusica (Neue Folge, Reihe 2): Bärbel Holtz und Wolfgang Neugebauer (Hg.), Preußen als Kulturstaat, Abt. 1: Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Bd. 1: Die Behörde und ihr höheres Personal, Teil 1: Darstellung (Acta Borussica, Neue Folge, Reihe 2), Berlin 2009. Zu technischen Hilfskräften in den Wissenschaften siehe Steven Shapin, The Invisible Technician, in: American Scientist 77 (1989), S. 554–563; und den Band von Klaus Hentschel (Hg.), Unsichtbare Hände. Zur Rolle von Laborassistenten, Mechanikern, Zeichnern u. a. Amanuenses in der physikalischen Forschungs- und Entwicklungsarbeit, Diepholz 2008. 4 Ehrlich selbst hat die Faktoren seines Erfolges als Geduld, Geschick, Geld und Glück bezeichnet.

1 Paul Ehrlich – Lebensweg

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nehmen und drohe unterzugehen. Um den Verlust zu kompensieren, produzierten die Zellen eine Vielzahl von Seitenketten und nicht benötigte, überschüssige Seitenketten würden ins Blut abgegeben, von Ehrlich als Antikörper bezeichnet, wo sie wiederum die Fremdstoffe binden und neutralisieren könnten (siehe ausführlich die Texte 12 bis 15). Für die Arbeiten zur Seitenkettentheorie wurde er 1908 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet. Ehrlich hat diese Theorie im Rahmen seiner praktischen Tätigkeit und der Reflexion darüber herausgebildet und im Austausch mit anderen Wissenschaftlern über Jahre entwickelt und fortentwickelt. Der vorliegende Band enthält eine Auswahl seiner Publikationen, die die unterschiedlichen Themen und Facetten seiner Forschung verbinden und einen Bogen seiner wissenschaftlichen Tätigkeiten über die Histologie und Histopathologie, Hämatologie und Serologie, Immunologie und Krebsforschung, Biochemie und Chemotherapie schlagen und die überdies seine theoretischen Ideen zusammenfassen. Zunächst wird in wenigen Linien der Lebensweg Paul Ehrlichs skizziert. Anschließend werden die verschiedenen Arbeitsfelder Ehrlichs miteinander in Bezug gesetzt, die mitnichten in sich abgeschlossene Forschungsgebiete darstellen, und es wird kurz in die hier abgedruckten Texte eingeführt sowie ihre Auswahl erläutert.

Paul Ehrlich – Stationen eines Lebens Paul Ehrlich wurde am 14. März 1854 in Strehlen, einer kleinen niederschlesischen Kreisstadt unweit von Breslau, geboren.5 Sein Vater, Ismar Ehrlich (1818–1898), war Lotterieeinnehmer und Likörfabrikant, seine Mutter Rosa Ehrlich (geb. Weigert, 1826– 1909) betrieb die Gastwirtschaft „Krug zum Rautenkranz“. Paul Ehrlich war der einzige Sohn, er hatte noch vier Schwestern. Ehrlichs Vater war Vorsteher der jüdischen Gemeinde, und seine Eltern waren im Ort angesehen und galten als relativ vermögend. Man kann annehmen, dass Paul Ehrlich eine unbeschwerte Kindheit verlebt hat. Nach dem Besuch der Volksschule in Strehlen wechselte Ehrlich mit zehn Jahren an das renommierte Maria-Magdalenen-Gymnasium in Breslau, wo er eine höhere Schulbildung erhalten sollte. Die Freundschaft zu seinem Mitschüler Albert Neißer (1855–1916) währte bis an das Lebensende. Nach dem Besuch des Magdalanaeums studierte Ehrlich in Breslau (1872, 1874–1877), Straßburg (1872–1874) und Freiburg (1875/1876) Medizin. Unter den namhaften Professoren, von denen er unterrichtet wurde, sind insbesondere der Anatom H. Wilhelm G. Waldeyer (1836–1921, ab 1916

5 Auf

Anmerkungen wird in diesem Abschnitt weitgehend verzichtet. Die Angaben sind eine Zusammenfassung aus Axel C. Hüntelmann, Paul Ehrlich. Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke, Göttingen 2011. Die Biografie enthält auch ausführliche Literatur zum Leben und Wirken Ehrlichs.

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A. C. Hüntelmann

Abb. 1.1 Paul Ehrlich, ca. 1910. Diese Portraitaufnahme fand Paul Ehrlich am gelungensten und wurde oft als „Autogrammkarte“ verwendet. (Mit freundlicher Genehmigung des Rockefeller Archive Center, auch abgedruckt in den Gesammelten Arbeiten, Bd. 3)

von Waldeyer-Hartz) zu nennen, dem Ehrlich von Breslau nach Straßburg folgte und der ihn förderte und ihn zum Demonstrator in den anatomischen Seminaren ernannte, sowie der Pathologe Julius F. Cohnheim in Breslau, in dessen Laboratorium Ehrlich einen Arbeitsplatz erhalten hatte und bei dem er 1878 promovierte. Eine zentrale Rolle spielte Ehrlichs Vetter Carl Weigert (1845–1904), der ihm Vorbild, Mentor und Freund war. Weigert stellte auch die wichtigen Beziehungen zu Waldeyer und Cohnheim her, bei denen er als wissenschaftlicher Assistent arbeitete. Bereits während seines Studiums war Ehrlich mit färbetechnischen Arbeiten zur Histologie und Morphologie von Zellen hervorgetreten (siehe Text 1), und nach der Approbation und Abschluss der Promotion in Leipzig 1878 holte ihn der führende deutsche Internist Friedrich Theodor Frerichs (1819–1885) als Assistent an die Berliner Charité. Frerichs förderte Ehrlich in seinen wissenschaftlichen Forschungen zur Färbung von Zellen, besonders von Blutzellen, zu Bluterkrankungen und zur ersten klinischen Prüfung von Arzneimitteln. In diese Zeit wurden auch zahlreiche Mikroorganismen als Erreger von Krankheiten identifiziert, und die Bakteriologie entwickelte sich zur neuen Leitwissenschaft in der Medizin. Nachdem Ehrlich im März 1882 Kochs Vortrag über die Ätiologie der Tuberkulose gehört hatte,6 entwickelte er ein leichter anwendbares und praktisch nutzbareres Verfahren zur Identifizierung der sogenannten Tuberkelbazillen, durch das diese zudem weitaus deutlicher

6 Siehe

hierzu den von Christoph Gradmann herausgegebenen Band in der Reihe Klassische Texte der Wissenschaft zu Robert Koch.

1 Paul Ehrlich – Lebensweg

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gefärbt wurden (siehe Text 4). Ehrlichs histopathologische Arbeiten wurden im Juli 1882 mit der frühen Ernennung zum Professor honoriert.7 In dem darauffolgenden Jahr heiratete Ehrlich 1883 Hedwig Pinkus (1864–1948), die Tochter des schlesischen Textilindustriellen Joseph Pinkus (1829–1909). 1885 fasste Ehrlich seine langjährigen Erfahrungen in der Publikation „Das Sauerstoff-Bedürfnis des Organismus. Eine farbenanalytische Studie“ zusammen, die er später als Habilitationsschrift einreichte. 1887 habilitierte er sich mit einem Vortrag über „Blutbefunde bei verschiedenen Formen von Anaemien“. Bis Mitte der 1880er-Jahre schienen seine Zukunftsaussichten ungetrübt, doch im März 1885 verübte sein Förderer Friedrich Theodor Frerichs Selbstmord. Mit dem neuen Leiter der (II.) Medizinischen Klinik der Charité und seinem neuen Chef, dem aus Würzburg berufenen Carl Gerhardt (1833–1902), verstand sich Ehrlich schlecht. Einige Monate zuvor war bereits sein Doktorvater Julius F. Cohnheim in Leipzig verstorben, und bei der Neubesetzung der beiden Professuren kamen deren Assistenten, Weigert in Leipzig und Ehrlich in Berlin, nicht in die (engere) Auswahl möglicher Nachfolgekandidaten. Ehrlich hatte sich zwar nicht der Illusion hingegeben, dauerhaft auf das Ordinariat berufen und zum Leiter der Klinik ernannt zu werden, aber dass er überhaupt nicht in Betracht gezogen wurde, und auch nicht übergangsweise für die Vertretung der Stelle vorgesehen war, verletzte ihn. Als Grund, warum man sie übergangen hatte, vermuteten Ehrlich und Weigert ihren jüdischen Glauben in der sich im deutschen Kaiserreich in den 1880er-Jahren wieder verstärkenden antisemitischen Stimmung. Dies waren keine guten Voraussetzungen für die Arbeitsbeziehung zwischen Ehrlich und Gerhardt. Hinzu kam, dass Gerhardt die klinische Arbeit seiner Assistenten am Krankenbett weitaus höher schätzte als experimentelle Forschung und der Arbeit im Labor kritisch gegenüberstand. Die Erkrankung Kaiser Friedrich III. an Kehlkopfkrebs und die öffentlich ausgetragene Debatte zwischen Rudolf Virchow (1821–1902), Carl Gerhardt und anderen Medizinern über die Diagnose und Natur der Krankheit wird die Stimmung zwischen den Ärzten in der Klinik weiter belastet haben. An seinen späteren amerikanischen Freund Christian A. Herter (1865–1910) schrieb er 1909 über diese unglückliche Zeit: „Sie wissen, wie ich damals bei Gerhard [sic!] mich so elend fühlte, ging ich immer an meinen Farbenschrank und sagte: ‚Das sind meine Freunde, die mich nicht im Stich lassen werden.‘“8 Einen Trost und Rückzugsort wird er in der Familie gefunden haben, und Lichtblicke mögen die rasch aufeinander geborenen Töchter Stefanie (1884) und Marianne (1886) gewesen sein. In dieser Zeit zogen auch Ehrlichs

7 Es

handelte sich um eine Titular-Professur, d. h. um eine Auszeichnung durch das preußische Kultusministerium, und nicht um eine Universitätsprofessur. Mit der ehrenhalber verliehenen Titular-Professur war weder eine finanzielle Vergütung verbunden noch berechtigte sie zum Halten von Vorlesungen. 8 Paul Ehrlich an Christian A. Herter, 10.7.1909, Rockefeller Archive Center (Tarrytown, NY), Paul Ehrlich Collection 650 Eh 89, Box 1, Folder 17.

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A. C. Hüntelmann

Eltern nach Berlin. Quasi als psychosomatische Manifestation des beruflichen Konfliktes infizierte sich Paul Ehrlich – vermutlich in der Klinik – an Tuberkulose. Im Oktober 1888 kündigte er seine Stellung als Oberarzt an der Charité. In den folgenden Monaten reiste er zusammen mit seiner Frau in die Schweiz, nach Italien und für mehrere Monate nach Ägypten, um sich dort zu erholen. Nach seiner Rückkehr richtete sich Ehrlich ein Privatlaboratorium ein. Nachdem Robert Koch im August 1890 auf dem Zehnten Internationalen Medizinischen Kongress bekannt gegeben hatte, dass er mit dem sogenannten Tuberkulin ein (vermeintliches) Heilmittel gegen Tuberkulose gefunden hatte, beteiligte sich Ehrlich an der klinischen Prüfung des Präparates im Städtischen Krankenhaus Moabit. Dort prüfte Ehrlich ebenfalls die therapeutische Wirkung von Methylenblau (siehe Text 8). In dieser Zeit wurde er auch zum außerordentlichen Professor an der medizinischen Fakultät der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität ernannt. 1891 wurde das Königlich Preußische Institut für Infektionskrankheiten gegründet und Robert Koch zum Direktor ernannt. Koch bot ihm einen Arbeitsplatz in seinem Institut an, d. h. Ehrlich konnte auf Infrastruktur wie Labortiere, Geräte und Apparate sowie Laborpersonal zurückgreifen, erhielt aber keine monetäre Vergütung. An dem von Koch geleiteten Hygiene-Institut der Berliner Universität und später am Institut für Infektionskrankheiten arbeitete ebenfalls der dorthin abkommandierte Stabsarzt Emil Behring (1854–1917). Er hatte 1890 beobachtet, dass mit dem Blutserum von Tieren, die nach einer überstandenen Diphtherieinfektion Immunität gegen diese Erkrankung erworben hatten oder, im Fall von Milzbrand, eine natürliche Immunität gegen bestimmte Erreger zeigten, die erworbene oder natürliche Schutzfunktion auf andere Organismen übertragen werden konnte. Zahlreiche Mediziner wiederholten Behrings bahnbrechende Versuche zur sogenannten Serumtherapie und entwickelten sie weiter. Man versuchte, auch für andere Infektionskrankheiten ursächlich wirksame Heilseren zu entwickeln und die Methode zur Gewinnung von Heilseren zu verbessern. So nahm Ehrlich ebenfalls Experimente zur Immunisierung von Ziegen gegen Diphtherie und Tetanus vor. Die im Institut für Infektionskrankheiten arbeitenden Forschungsgruppen wurden von Koch zusammengeführt, und gemeinsam gelang es Behring und Ehrlich, ein spezifisch wirksames Heilserum zu entwickeln, das Menschen passiven Schutz vor Ansteckung gegen Diphtherie verlieh. Das neuartige, auf der Basis der Antitoxingabe beruhende Therapieprinzip, durch dessen Anwendung erstmals die Infektionskrankheit geheilt und nicht mehr nur die Symptome gemildert werden konnten, wurde als Meilenstein der Medizin gefeiert. Das Diphtherieheilserum war nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern auch ein wirtschaftlicher Erfolg. In der Medizinalverwaltung wurde sowohl über die Vermarktung des Serums als auch über seine staatliche Regulierung diskutiert und zu diesem Zweck die Einrichtung einer staatlichen Kontrollstation für Diphtherieserum beschlossen. Im Unterschied zu Behring, dessen Rolle bei der Entwicklung des Diphtherieserums durch die Ernennung zum ordentlichen Professor für Hygiene in Marburg anerkannt und ‚belohnt‘ wurde, konnte Ehrlich vorerst keinen größeren Nutzen aus seiner Forschungstätigkeit ziehen. Im November 1895 wurde

1 Paul Ehrlich – Lebensweg

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Ehrlich zum Honorarprofessor mit dem Schwerpunkt „spezielle Therapie und Pathologie“ ernannt. Die Besoldung war kümmerlich, aber erstmals seit 1888 musste er nicht vom Vermögen leben, sondern er bezog wieder ein reguläres Einkommen. Nach Verselbständigung der Kontrollstation 1896 als Institut für Serumforschung und Serumprüfung wurde Ehrlich zum Direktor und, einhergehend mit der leitenden Position, zum Geheimen Medizinalrat ernannt. Das Institut, untergebracht im angemieteten Gebäude einer ehemaligen Bäckerei in Steglitz, hatte zwar bescheidene Ausmaße, aber, wie Ehrlich Gästen gegenüber stolz betonte: „Klein, aber mein.“9 In den folgenden Jahren arbeiteten Ehrlich und seine Mitarbeiter zu Fragen der Wertbestimmung von Seren, zur Prüfungsstandardisierung sowie zur Entstehung und Konstitution von Antitoxinen (und Toxinen) bzw. Antikörpern und zum Ablauf immunologischer Prozesse, die Ehrlich durch seine Seitenkettentheorie erklärte. Mit der Verlegung des Instituts nach Frankfurt 1899 begann Ehrlichs erfolgreichste Zeit. In den folgenden Jahren sollten ihm höchste wissenschaftliche Anerkennung zuteil und Preise verliehen werden. Die Umbenennung seiner Wirkungsstätte in Institut für experimentelle Therapie kennzeichnet die Verlagerung des Forschungsschwerpunktes von der Immunologie zur Chemotherapie. Zum einen arbeitete er auf Grundlage seiner Erfahrungen bei der Wertbestimmung von Seren und der geäußerten Kritik insbesondere von Jules Bordet (1870–1961)10 und Svante Arrhenius (1859–1927)11 die Seitenkettentheorie weiter aus.12 Die von ihm oder unter seiner Regie publizierten Arbeiten fasste

9 Siehe

August (von) Wassermann, Paul Ehrlich†, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 41 (1915), S. 1103–1106, 1135 f. 10 Siehe Eileen Crist und Alfred I. Tauber, Debating Humoral Immunity and Epistemology: The Rivalry of the Immunochemists Jules Bordet and Paul Ehrlich, in: Journal of the History of Biology 30 (1997), S. 321–356. 11 Siehe Lewis P. Rubin, Styles in Scientific Explanation: Paul Ehrlich and Svante Arrhenius on Immunochemistry, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 35 (1980), S. 397– 425; Franz Luttenberger, Arrhenius vs. Ehrlich on Immunochemistry. Decisions about Scientific Progress in the Context of the Nobel Prize, in: Theoretical Medicine 13 (1992), S. 137–173. Zu den unterschiedlichen Denkstilen in der Biochemie siehe auch Joseph S. Fruton, Contrasts in Scientific Style. Research Groups in the Chemical and Biochemical Sciences, Philadelphia 1990; und beispielsweise in der Genetik Jonathan Harwood, Styles of Scientific Thought. The German Genetics Community 1900–1933, Chicago 1993. 12 Zur Seitenkettentheorie zeitgenössisch Ludwig Aschoff, Ehrlich’s Seitenkettentheorie und ihre Anwendung auf die künstlichen Immunisierungsprozesse. Zusammenfassende Darstellung, Jena 1902; Paul Römer, Die Ehrlichsche Seitenkettentheorie und ihre Bedeutung für die medizinischen Wissenschaften, Wien 1904. Zu den verschiedenen Auseinandersetzungen und Unterschieden der Konzepte zur Erklärung von Immunität zwischen Ehrlich, Bordet, Ilja I. Metschnikow (1845– 1916), Max von Gruber (1853–1927) und Karl Landsteiner (1868–1943) siehe Cay-Rüdiger Prüll, Part of a Scientific Master-Plan? Paul Ehrlich and the Origins of his Receptor Concept, in: Medical History 47 (2003), S. 332–356; ders. et al., A Short History of the Drug Receptor Concept, Basingstoke 2009; sowie Arthur M. Silverstein, Paul Ehrlich’s Receptor Immunology: The Magnificent Obsession, San Diego 2002.

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A. C. Hüntelmann

er 1904 in dem voluminösen Band „Gesammelte Arbeiten zur Immunitätsforschung“ zusammen. Zum anderen nahm Ehrlich frühere Forschungen zur sogenannten Farbenchemie und zur therapeutischen Wirksamkeit von Farbstoffen wieder auf und setzte sie fort. Zudem hatte Ehrlich 1901 private Zuwendungen erhalten, um die experimentelle Krebsforschung voranzutreiben. In einer eigens dafür gegründeten Abteilung arbeiteten vornehmlich Anton Sticker (1861–1944), Hugo Apolant (1866–1915) und Gustav Embden (1874–1933) zur Übertragung und Züchtung sowie zur Struktur und Morphologie von Tumoren. Die parallelen Arbeiten zu biologisch-organischen und zu künstlich synthetisierten Wirkstoffen und Präparaten waren, wie weiter unten gezeigt wird, nicht getrennt, sondern bildeten ein gemeinsames Forschungsfeld. Ehrlich reduzierte das Wirkprinzip der vom Körper als Reaktion auf die Toxine gebildeten Antitoxine auf ihre molekulare bzw. chemische Zusammensetzung. In Anlehnung an dieses Vorbild suchte er nach chemischen Substanzen, die direkt auf den die Krankheit verursachenden Erreger oder auf dessen Giftstoffe einwirkten, sich gegenüber dem Organismus aber neutral verhielten. Vergleichbar mit einem Screening, wurden auf der Suche nach diesen idealen „Zauberkugeln“ systematisch chemische Substanzen experimentell auf ihre therapeutische Wirkung untersucht. Hierbei konzentrierte sich Ehrlich auf durch exotische Parasiten ausgelöste Krankheiten wie Malaria, später die Schlafkrankheit und zuletzt Syphilis. Darüber hinaus legte er den Fokus auf bestimmte chemische Substanzen, vor allem die ihm vertrauten basischen Farbstoffe der Azogruppe (Anilinfarben). Die Forschungen auf dem Gebiet der experimentellen Therapie erwiesen sich in (mindestens) zweierlei Hinsicht als schwierig. Zum einen war die Arbeit interdisziplinär. Paul Ehrlich kommunizierte und kooperierte mit zahlreichen Netzwerkpartnern, unter ihnen auch Chemiker und chemisch-pharmazeutische Unternehmen. Die Kooperation war jedoch arbeitsaufwendig: In Briefen bat Ehrlich chemische Unternehmen wie zum Beispiel die Cassella Farbwerke oder die Badische Anilin- & Soda-Fabrik (BASF) um neu entwickelte und in Katalogen beworbene Farbpräparate, er schrieb Chemiker an, die mit einer Publikation über neu entwickelte Farbstoffe hervorgetreten waren, oder er bat befreundete Chemiker, ob sie bestehende Farbstoffe für ihn modifizieren könnten. Hierbei konnten sich kollegiale und familiäre Netzwerke überlagern oder hilfreich sein, denn Ehrlich kooperierte gerne und vielfach mit seinem Vetter, dem Chemiker Siegmund Gabriel (1851–1924), und seinen Neffen Franz Sachs (1875–1919)13 und

13 Franz Sachs war der Sohn von Ehrlichs ältester Schwester Bertha (1852–1911), die mit Wilhelm Sachs (1842–1891) verheiratet war. Siehe zum Beispiel die von Ehrlich und Sachs beschriebene und nach ihnen benannte Ehrlich-Sachs-Reaktion und ihre gemeinsame Publikation Paul Ehrlich und Franz Sachs, Ueber Condensationen von aromatischen Nitrosoverbindungen mit Methylenderivaten. Erste Mittheilung, in: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 32 (1899), S. 2341–2346.

1 Paul Ehrlich – Lebensweg

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Georg Pinkus (1870–1943), der unter den Fittichen von Gabriel im Laboratorium von Emil Fischer (1852–1919) tätig war.14 Es wurden jedoch nicht nur bestehende Kontakte mobilisiert, sondern aus der jahrelangen Zusammenarbeit zwischen Ehrlich und seinen Kooperationspartnern, wie beispielsweise mit dem Eigentümer und Direktor der Cassella Farbwerke Arthur von Weinberg (1860–1943), entwickelten sich auch enge Freundschaften. Mit Intensivierung der farbtherapeutischen Versuche ab der Jahrhundertwende wurde die Organisation und Koordination dieser Kooperationen zunehmend problematisch, und Ehrlich stellte mit Heinrich J. Bechhold (1866–1937) erstmals einen Chemiker ein, der die gewünschte Modifikation chemischer Präparate und die Synthese neuer Substanzen direkt im Institut vornehmen konnte. Zweitens waren die farbtherapeutischen Forschungsarbeiten ungemein teuer. Personelle Ressourcen, der Bezug von Chemikalien und die zahllosen Tierversuche erwiesen sich als außerordentlich kostspielig. Die chronische Unterfinanzierung des Instituts bildete die Ursache für wiederholte Etatüberschreitungen – und die damit einhergehenden Maßregelungen durch das preußische Kultusministerium als übergeordneter Instanz. Das Institut war vornehmlich als Prüfinstanz konzipiert und sollte sich im Wesentlichen aus den von den Serumherstellern zu zahlenden Prüfgebühren tragen. Darüber hinaus hatte Ehrlich bedeutende Förderer im Kultusministerium: zum einen den „allmächtigen“ Ministerialdirektor Friedrich Althoff (1839–1908), dem Ehrlich in den „Gesammelten Arbeiten zur Immunitätsforschung“ in einer Widmung seinen Dank zollte; und zum zweiten den wenig bekannten, aber nicht minder wichtigen Wilhelm Spielmann, Rechnungsrat im preußischen Kultusministerium, der in der Steglitzer Zeit das Rechnungswesen des Instituts im Nebenamt erledigt hatte und Ehrlich auch nach dem Umzug nach Frankfurt in Etatangelegenheiten beriet und ihn mit Interna aus der Ministerialbürokratie versorgte. Um den Etat nicht über Gebühr zu belasten, trug Ehrlich einen Teil der Kosten selbst: So kaufte er beispielsweise Chemikalien auf eigene Rechnung, und auch die Stelle der im November 1902 verpflichteten Sekretärin Martha Marquardt (1873–1956), die ihm fortan die überbordenden (und ungeliebten) Schreib- und Verwaltungsarbeiten abnehmen sollte, finanzierte er privat.

14 Georg

Pinkus war der Sohn von Benjamin (Benno) Pinkus (1831–1879) und Rosalie Fraenkel (1840–1912). Benjamin Pinkus war der Bruder von Joseph Pinkus; und Rosalie Fraenkel die Schwester von Auguste Fraenkel (1838–1919), den Eltern von Hedwig Pinkus. Nach den Erinnerungen von Felix Pinkus (1868–1947) haben sich Paul Ehrlich und seine spätere Ehefrau Hedwig Pinkus im Haus der verwitweten Rosalie Pinkus in Berlin kennengelernt. Felix Pinkus arbeitete ebenfalls mit Paul Ehrlich zusammen, siehe z. B. Paul Ehrlich, Adolf Lazarus und Felix Pinkus, Leukaemie. Pseudoleukaemie. Haemoglobinaemie (Specielle Pathologie und Therapie, hg. von Hermann Nothnagel, Bd. 8: Die Anaemie, Teil 1), Wien 1901. Weitere Informationen zu den familiären Netzwerken in Hüntelmann, Paul Ehrlich. Siegmund Gabriel war Mitarbeiter am Lehrstuhl von Fischer und dessen Stellvertreter und zudem langjähriges Vorstandsmitglied (und Vorsitzender) der Deutschen Chemischen Gesellschaft, Franz Sachs führte für einige Jahre die Redaktion der Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, siehe Berthold Peter Anft, Gabriel Siegmund, in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 10 f.

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In den kommenden Jahren sollte sich die finanzielle Situation des Instituts wesentlich verbessern. Ludwig Darmstaedter (1846–1927), ein Berliner Chemie-Industrieller, vermittelte nach der Jahrhundertwende die Bekanntschaft zwischen seinem Schwager, dem Frankfurter Bankier und Philanthropen Georg Speyer (1835–1902) und dessen Ehefrau Franziska (1844–1909), und Althoff bzw. Ehrlich. Nach dem Tod ihres Ehemannes 1902 erhöhte Franziska Speyer das bereits beträchtliche finanzielle Engagement für gemeinnützige Zwecke und spendete eine Million Mark zur Errichtung einer Forschungsstätte zum Andenken an ihren verstorbenen Ehemann. Die Idee, ein zentrales wissenschaftliches Forschungsinstitut in Frankfurt anzusiedeln, war von dem Frankfurter Bürgermeister Franz Adickes (1846–1915) initiiert worden, der Ehrlich von Beginn an unterstützte, wenngleich Adickes mit der Gründung einer Frankfurter Universität langfristig eigene Pläne verfolgte und das Institut für experimentelle Therapie ein Mosaikstein in diesem Unternehmen darstellte. Adickes sorgte dafür, dass die Stadt ein Baugrundstück zur Verfügung stellte und mit der großzügigen Stiftung und der Gründung des Georg-Speyer-Hauses 1906 war die Finanzierung der experimentellen Forschung auf eine solide Grundlage gestellt, sodass die Versuche in großem Umfang ausgeweitet werden konnten. Die Zeit zwischen 1901 und 1908 waren für Ehrlich außerordentlich gute Jahre, oder, um ein biblisches Bild zu bemühen, sieben fette Jahre. Seine Tätigkeitsfelder weiteten sich auf die Krebsforschung aus, er hatte wesentlichen Anteil an der Etablierung der Immunitätsforschung, und er initiierte mit der Chemotherapie ein neues Forschungsgebiet und die institutionellen Voraussetzungen verbesserten sich maßgeblich. Auch privat stellte sich familiäres Glück ein: 1904 heiratete Ehrlichs älteste Tochter Stefanie den Textilfabrikanten Ernst L. Schwerin (1869–1946), ein Jahr später heiratete Marianne den Mathematiker Edmund Landau (1877–1938). Bald nach der Heirat erblickten die ersten Enkelkinder das Licht der Welt: im Dezember 1905 wurden Herbert Landau († 1910) und im Januar 1906 Hans-Wolfgang Schwerin († 1987) geboren (es folgten Charlotte, genannt Dolli, Landau [verheiratete Schoenberg] 1907–1949; Susanne Landau [verheiratete von Schüching] 1908–1982; Günther K. J. Schwerin 1910–1997; und Matthias Landau 1911–1991). Auch wenn es Ehrlich vorerst nicht gelang, die von ihm euphemistisch als Zauberkugeln bezeichneten chemischen Wirkstoffe zu finden, die wirksam Krankheitserreger abzutöten in der Lage waren, ohne den erkrankten Organismus zu schädigen, so gelang ihm 1906 mit der Synthese des als Arsacetin bezeichneten Präparats 306 sowie 1908 mit dem als Arsenophenylglycin und Spirasyl bezeichneten Präparats 418 ein beachtlicher Erfolg.15 Erst in der klinischen Prüfung wurde deutlich, dass die Präparate zwar gegen die Erreger wirksam waren, aber mitunter auch den Sehnerv beeinträchtigen konnten und andere Nebenwirkungen zeigten, folglich also für die Therapie ungeeignet waren. In diesen Jahren wurde Ehrlich mit gesellschaftlichen und

15 Siehe hierzu ausführlich Axel C. Hüntelmann, Seriality and Standardization in the Production of Salvarsan, in: History of Science 48 (2010), Heft 3/4, S. 435–460.

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wissenschaftlichen Auszeichnungen überhäuft: Ihm wurden zahlreiche Orden verliehen, und er wurde zum (Ehren-)Mitglied internationaler Akademien und wissenschaftlicher Gesellschaften ernannt.16 Hervorzuheben wäre die Verleihung der Großen Goldenen Medaille für Wissenschaften 1903, die höchste wissenschaftliche Auszeichnung, die der preußische Staat zu vergeben hatte, und vor allem die Verleihung des erst wenige Jahre zuvor erstmals gestifteten, aber schon als höchste wissenschaftliche Auszeichnung angesehenen Nobelpreises für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Immunologie, der ihm 1908 (zusammen mit Ilja I. Metschnikow, 1845–1916) verliehen wurde.17 Doch kurz nach Verleihung des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin trat auf dem vorläufigen Höhepunkt seines Ruhms in seinem persönlichen Leben ein Wendepunkt zum Schlechten ein. Auf die biblischen fetten Jahre folgten magere, die sich ganz körperlich auch in der Auszehrung Ehrlichs manifestieren. Auch wenn sich die beruflichen Erfolge mit der Entwicklung und Durchsetzung des Salvarsans vermeintlich fortsetzten, war die Zeit vor allem von Todesfällen, Rückschlägen, Überarbeitung und gesellschaftlichen Anfeindungen geprägt. Ende Oktober 1908 war Friedrich Althoff, Ehrlichs Gönner im preußischen Kultusministerium, gestorben und überschattete die Mitteilung Anfang November, dass er den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhalten solle. Kurz nach seiner Rückkehr von der Nobelpreis-Verleihung aus Stockholm und unmittelbar nach dem Ehrlich-Kommers, einer Festveranstaltung, die die Stadt Frankfurt zu Ehren Ehrlichs ausgerichtet hatte, starb Ehrlichs Schwiegervater und langjähriger Förderer Joseph Pinkus Anfang Januar 1909. Kurz darauf, im Mai 1909, starb sein Schwager Richard Lobethal, dem Ehrlich freundschaftlich verbunden war. Überdies kamen die Arbeiten mit dem Arsenophenylglycin weniger gut voran, als von Ehrlich erwartet und erhofft. Anfänglich vielversprechende Ergebnisse im Labor und bei der klinischen Prüfung des chemischen Präparates bei Trypanosomen-Erkrankungen durch befreundete Kollegen zeigten im längeren Verlauf und bei Ausweitung der Prüfung, dass das Präparat schwere Nebenwirkungen hatte. Die Herstellung, Verbesserung und Versendung des Präparats in die Tropen waren sehr teuer, und die finanziellen Mittel drohten, trotz der ursprünglich guten Ausstattung, zu versiegen. Zur Aufrechterhaltung des Betriebs streckte Ehrlich private Mittel vor, und Stellen blieben vorerst unbesetzt. Dem Japaner Sahachiro Hata (1873–1938), der bei ihm als Gastwissenschaftler arbeiten wollte, musste Ehrlich (vorerst) absagen: „Was aber das Speyerhaus anbetrifft, so sind dort die Finanzverhältnisse zurzeit leider derartige, dass ich schon anfangen musste, den Betrieb durch Herabsetzung

16 Eine

Auflistung aller Preise, Orden und Mitgliedschaften findet sich in Martha Marquardt, Paul Ehrlich, Berlin 1951, S. 225–229. 17 Wenngleich Ehrlich in den Jahren zuvor (und danach erneut) insgesamt 89 Mal von 80 Nominatoren vorgeschlagen wurde, siehe Axel C. Hüntelmann, Paul Ehrlich und der Nobelpreis. Die Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 41 (2018), S. 47–72.

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der Assistentenstellen zu verkleinern.“18 Zwar gelang es ihm, neue Mittel zu beschaffen, und vor allem eine Förderung durch die Rockefeller Foundation ermöglichte es ihm, die Arbeiten fortzusetzen (und Hata doch als Gastwissenschaftler zu beschäftigen). Auch die Entwicklung eines neuen Präparats 592/606 und die damit angestellten Tierversuche waren ermutigend, doch eine Serie von Todesfällen deprimierte ihn sehr. Anfang November 1909 starb Franziska Speyer, die sich in den letzten Jahren als große (finanzielle) Stütze erwiesen hatte, und nur kurze Zeit später starb seine Mutter, zu der er ein inniges Verhältnis hatte. Schon im März 1909 hatte Ehrlich gegenüber seinem früheren Mitarbeiter und befreundeten Kollegen Adolf Lazarus (1867–1925) geklagt, dass er sich „wirklich vorkomme wie ein Schwimmer, dem die Wellen über den Kopf schlagen“.19 Im Januar 1910 verknüpfte Ehrlich seine Neujahrswünsche an August von Wassermann (1866–1925) mit der Hoffnung, dass das neue Jahr besser werden möge, denn das „letzte Jahr war für uns beide ein sehr schlimmes“. In dieser „Periode der Depression“ sei er, vertraute er Wassermann an, von „den Aufregungen und Unannehmlichkeiten ganz kaputt“.20 Besonders tragisch war der Tod von Ehrlichs Enkel Herbert Landau, der dem besiegt geglaubten „Würgeengel der Kinder“ zum Opfer fiel und Ende Februar an den Folgen einer Diphtherieerkrankung starb. Ihm hatten auch reichliche Gaben des von Ehrlich und Behring entwickelten Diphtherieheilserums nicht mehr helfen können. Schließlich starb im Mai 1910 auch Ehrlichs früherer Mentor Robert Koch. Während sich in der zweiten Jahreshälfte 1909 das Scheitern des Arsenophenylglycin immer deutlicher abzeichnete, machten die im Tierversuch erzielten Ergebnisse mit dem neu synthetisierten Präparat Dioxydiaminoarsenobenzol neuen Mut. In zahlreichen Versuchsserien wurde von Ehrlichs Mitarbeitern die Wirkung des Präparats auf Trypanosomen und Spirochäten in vitro und in vivo getestet und die Bandbreite der Dosierung und Wirkungsskala von der letalen Dosis bis hin zur Wirkungslosigkeit ermittelt. Im September 1909 hatte Ehrlich das im Georg-Speyer-Haus hergestellte Präparat an Konrad Alt (1861–1922), den Leiter der Landes- und Pflegeanstalt Uchtspringe, weitergereicht, damit dieser eine erste orientierende klinische Prüfung vornehmen konnte. Nach positiven Ergebnissen weitete Ehrlich die Kooperationen mit ihm gut bekannten Klinikern weiter aus, und im Frühjahr wurden die Ergebnisse der medizinischen Öffentlichkeit präsentiert. Seitdem waren er und seine Mitarbeiter damit beschäftigt, das sogenannte Präparat 606 in der chemischen Abteilung des Speyer-Hauses herzustellen, an mit der therapeutischen Prüfung betrauten Kliniker in aller Welt zu versenden und die Ergebnisse zu sammeln, abzugleichen, einzuordnen und auftretende Schwierigkeiten zu erörtern. Die Arbeiten absorbierten alle Ressourcen in den von Ehrlich geleiteten Instituten und forderten ihn selbst ungemein: Neu hinzugekommene Kooperationspartner mussten angeleitet, die Verabreichung und Dosierung erklärt und unerwünschte und

18 Paul

Ehrlich an Sahachiro Hata, 13.3.1909, RAC PEC, Box 25, Kopierbuch XXV. Ehrlich an Adolf Lazarus, 30.3.1909, RAC PEC, Box 25, Kopierbuch XXVI. 20 Paul Ehrlich an August von Wassermann, 4.1.1910, RAC PEC, Box 26, Kopierbuch XXVII. 19 Paul

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nicht intendierte Nebenwirkungen mussten in unzähligen Briefen diskutiert werden. Die Arbeitslast mag Ehrlich ein willkommener Anlass gewesen sein, der privaten Misere und Trauer zu entfliehen und so die zahlreichen Todesfälle im Kreis der Familie, der Freunde und Förderer vergessen zu machen, aber sie war, wie Fotos von Paul Ehrlich nach 1910 zeigen, ungemein kräftezehrend. Auf der Tagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte im September 1910 berichtete er von 10.000 Fällen, bei denen das Präparat bei an Syphilis und anderen an Spirillosen Erkrankten verabreicht worden war, die er gesammelt und ausgewertet habe, im November waren weltweit 40.000 Proben zur klinischen Prüfung versandt. Bis zur Freigabe des Mittels waren Ehrlich zufolge 30.000 Fälle mit der Behandlung von Dioxydiaminoarsenobenzol bekannt. Am Ende des Jahres war ihm auf dem Gebiet der Chemotherapie der Durchbruch, der seinen Ruhm zementieren sollte, gelungen: Gegen den Erreger der Syphilis hatten Ehrlich und seine Mitarbeiter mit dem Präparat 606, das von den Farbwerken Hoechst unter dem Namen „Salvarsan“ auf dem Arzneimittelmarkt eingeführt und vertrieben wurde, ein rasch wirksames Therapeutikum entwickelt, an dessen Verbesserung er in den folgenden Jahren weiter arbeitete. Emil Behring und Paul Ehrlich werden bereits bei der Einführung des Diphtherieheilserums das Debakel des Tuberkulin-Skandals vor Augen gehabt haben und spätere Kontroversen um die Jahrhundertwende, wie die Debatte um Albert Neißer, der Prostituierte für medizinische Versuche zur Erprobung eines Serums gegen Syphilis verwendet hatte,21 werden Ehrlich bei der Entwicklung des Salvarsans zur Vorsicht gemahnt haben. Carola Throm bemerkt einleitend in ihrer Studie zur Entwicklung und Markteinführung des Diphtherieserums,22 dass Behring in der ersten Hälfte der 1890er-Jahre alle Kriterien der modernen Arzneimittelforschung erfüllt und Standards gesetzt habe: Auf In-vitro-Versuche folgten In-vivo-Versuche an kleinen und später an größeren Versuchstieren. Die entwickelten Präparate wurden auf ihre Unschädlichkeit getestet, bevor in kontrollierten klinischen Versuchen die Wirkung des Serums ermittelt wurde. Erst danach wurde das neu entwickelte Serum an Kliniker zur Prüfung der Unschädlichkeit und Heilwirkung weitergereicht. Da Koch sich anfangs geweigert hatte, die Zusammensetzung des Tuberkulin bekanntzugeben und das Präparat mit dem Makel des Geheimmittels behaftet war, wurden beim Diphtherieserum von Beginn an alle Informationen hinsichtlich der Gewinnung und Wirkung des Serums publiziert und in der Fachöffentlichkeit diskutiert.23 Vergleichbar ging Ehrlich vor: Nur waren die klinische Prüfung

21 Siehe

Barbara Elkeles, Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1996; Katja Sabisch, Das Weib als Versuchsperson. Medizinische Menschenexperimente im 19. Jahrhundert am Beispiel der Syphilisforschung, Bielefeld 2007. 22 Carola Throm, Das Diphtherieserum. Ein neues Therapieprinzip, seine Entwicklung und Markteinführung, Stuttgart 1995, Vorwort. 23 Siehe Axel C. Hüntelmann, Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans, in: Medizin, Geschichte und Gesellschaft 24 (2006), S. 71–104.

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und deren Dokumentation wesentlich umfangreicher und die Herstellung des Salvarsans ungleich schwieriger. Zwar ließ sich mit Ehrlichs Präparat eine der sogenannten Volksseuchen bekämpfen, aber die Zielgruppe bestand nicht aus an Diphtherie erkrankten Kindern, sondern es handelte sich um, vermeintlich moralisch verwerflich, an einer Geschlechtskrankheit Leidende – wenngleich Salvarsan wesentlich dazu beitrug, die von der Krankheit Gezeichneten gesellschaftlich zu entstigmatisieren. Zudem hatten sich die Rahmenbedingungen geändert: Seit Anfang der 1880er-Jahre hatte sich neben Großbritannien auch in Deutschland eine Tierschutzbewegung formiert, die Tierversuche in Universitätslaboren und wissenschaftlichen Einrichtungen anprangerte und dagegen agitierte. Ehrlich selbst hatte ein ambivalentes Verhältnis zu Tieren – er hatte einen Dackel namens Männe und bezeichnete sich wenig reflektiert selbst als Tierfreund, zugleich wurden in seinem Institut zahllose Tiere in der immunologischen, chemotherapeutischen und in der experimentellen Krebsforschung verwendet und getötet – und er trug in den 1900er-Jahren gerichtliche Konflikte mit Tierschützern aus. Die zweite wesentliche Veränderung betraf den Übergang vom Tier- zum Menschenexperiment und eine sich wandelnde öffentliche Wahrnehmung darauf. Zudem hatten sich mit dem preußischen Erlass über Menschenversuche im Dezember 1900 die rechtlichen Rahmenbedingungen verändert: Als Folge der öffentlichen Diskussionen über Humanexperimente waren medizinische Eingriffe am Menschen, die über rein diagnostische Zwecke und die präventive oder kurative Heilbehandlung hinausgingen, untersagt bzw. wissenschaftliche Versuche nur an mündigen und volljährigen Erwachsenen nach deren Aufklärung (über Zweck, Risiken und Nebenwirkungen) und Einwilligung erlaubt.24 Doch mit der Entwicklung neuer medizinisch-technischer Verfahren, z. B. in der Chirurgie, oder neuer Arzneimittel durch die aufkommende chemisch-pharmazeutische Industrie stieg die Notwendigkeit, die Wirkung (und Nebenwirkungen) von Arzneimitteln letztendlich auch am Menschen zu prüfen. Probanden und Leidtragende waren größtenteils arme Kranke bzw. Patienten aus der Unterschicht wie Arbeiter, Prostituierte und Empfänger von Wohlfahrtsleistungen oder, wie im Fall Ehrlichs und bedingt durch den Erreger-Typ, Anstaltsinsassen (Paralyse, Tabes und andere Spätformen der Syphilis) oder die indigene Bevölkerung in Kolonien (Trypanosomen-Erkrankungen). Die Kritik der sich formierenden Arbeiterbewegung an der oft als zweifelhaft empfundenen Verwendung von Menschen als „Versuchskaninchen“ einerseits und die ungeregelten,

24 Versuche

an minderjährigen Kindern und nicht voll geschäftsfähigen Patienten waren grundsätzlich verboten, siehe Andreas Reuland, Menschenversuche in der Weimarer Republik, Noderstedt 2004, S. 7–34, insbesondere S. 15–23. Die öffentliche Diskussion hatte sich insbesondere am „Fall Neißer“ entzündet, der in den 1890er-Jahren an einem Serum bzw. einer Schutzimpfung gegen Syphilis forschte und zu diesem Zweck gesunden und zum Teil minderjährigen Frauen, von denen einige Prostituierte waren, ohne deren Wissen zellfreies Serum von Syphiliskranken injiziert, um die Wirkung des Serums zu testen, siehe hierzu auch Elkeles, Diskurs; und Sabisch, Weib. Der preußische Erlass vom 29.12.1900 wurde als bindende Richtlinie an alle preußischen Krankenhäuser versandt.

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in einem hierarchischen Arzt-Patienten-Verhältnis oft harsch behandelten und nicht über die Versuche aufgeklärten Patienten andererseits führten zu einer angespannten Situation, die dadurch verschärft wurde, dass sich Gegner und Befürworter von Humanexperimenten unerbittlich gegenüberstanden: hier die Verfechter von Fortschritt versus Fortschrittsfeinde, dort die Humanisten versus Menschenfeinde. Bereits während der klinischen Prüfung des Dioxydiaminoarsenobenzols war deutlich geworden, dass das Präparat, besonders bei unsachgemäßer Applikation, starke Nebenwirkungen haben konnte, und nach der Anwendung des Präparates war auch über Todesfälle berichtet worden. Ehrlich ging den Berichten über Todesfälle und Nebenwirkungen nach, entkräftete Todesfälle, wo ihm kein Zusammenhang gegeben schien, oder erklärte das Auftreten von Nebenwirkungen in zahlreichen Publikationen, um die Technik der Verabreichung des Mittels bekannt zu machen und zu verbessern oder um zu vermeiden (bzw. später auszuschließen), dass bestimmte Patientengruppen (mit bestimmten Vorerkrankungen oder ab einem bestimmten Alter) mit Dioxydiaminoarsenobenzol behandelt wurden. Bei der großen Anzahl an behandelten Personen, insbesondere, nachdem das Mittel von Ehrlich für den Arzneimittelmarkt freigegeben wurde, blieb das Auftreten weiterer Nebenwirkungen nicht aus. In der oben beschriebenen angespannten Gemengelage führte dies jedoch dazu, dass seitens der medizinkritischen Bewegung moniert wurde, dass das Salvarsan nicht oder nur ungenügend klinisch-therapeutisch getestet worden sei. Überdies wurden in Frankfurt Gerüchte verbreitet, dass Prostituierte medizinalpolizeilich „zwangsgeimpft“ und in Frankfurter Krankenhäusern als lebende „Versuchskaninchen“ missbraucht würden; angeblich, um die Wirkung des Salvarsans zu erproben, und es infolgedessen zu schweren Nebenwirkungen und Fällen von Erblindung und Todesfällen gekommen sei. Die Anschuldigungen waren Teil der sogenannten „Salvarsan-Kriege“, verschiedene öffentlich kolportierte Anschuldigungen gegen Paul Ehrlich, in denen in Verbindung mit antisemitischer Hetze der hohe Preis des Salvarsans, unverantwortliches Gewinnstreben und Ehrlichs Verbindungen zur chemischpharmazeutischen Industrie kritisiert wurden. Die öffentlichen Angriffe mündeten schließlich in einem aufsehenerregenden Gerichtsprozess, der von Karl Herxheimer (1861–1942), der als Leiter der Dermatologischen Klinik des Städtischen Krankenhauses in Frankfurt ebenfalls im Fokus der Anschuldigungen stand, angestrengt wurde. Ehrlich trat hier zwar nur als Zeuge auf, allerdings wurde vor Gericht nichts weniger als die Wirksamkeit des Mittels und Umfang und Validität der klinischen Erprobung juristisch (und öffentlich) verhandelt. Die Anschuldigungen gegen das Salvarsan erwiesen sich zwar als haltlos und konnten entkräftet werden, indes zehrte die Aufregung um den Prozess an Ehrlichs Gesundheit. Darüber hinaus belasteten ihn die zunehmenden politischen Spannungen und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914, der seine internationalen Kooperationen und Netzwerke stark einschränkte. Nichtsdestotrotz unterzeichnete Ehrlich als einer von 93 deutschen Wissenschaftlern den Aufruf „An die Kulturwelt“ im September 1914 und wenig später die „Erklärung der deutschen Hochschullehrer des Deutschen Reiches“, in dem deutsche Kriegsverbrechen – wie der Einmarsch in das neutrale Belgien, die Tötung

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zahlreicher belgischer Zivilisten oder die Zerstörung belgischer Dörfer und der Universitätsstadt Leuven – geleugnet, verharmlost und gerechtfertigt wurden. Insbesondere das vielfach beachtete sogenannte „Manifest der 93“ entfremdete Ehrlich von seinen anglo-amerikanischen Kollegen und Freunden. Zudem waren Mitarbeiter der von ihm geleiteten Institute zum Kriegsdienst eingezogen worden, und er hatte den Tod von zwei wichtigen Mitarbeitern (Alfred Bertheim 1879–1914 und Hugo Apolant 1866–1915) zu beklagen. Im Winter 1914/1915 erkrankte Paul Ehrlich schwer, und erst im Frühjahr und Sommer 1915 ging es ihm wieder etwas besser, sodass er gelegentlich im zunehmend verwaisten Institut für experimentelle Therapie anzutreffen war. Da sich jedoch keine grundlegende Erholung einstellen wollte, trat er Anfang August 1915 einen längeren Erholungsurlaub an, den er in dem Sanatorium des befreundeten Arztes Curt Pariser (1863–1932) in Bad Homburg verbrachte. Nach einem Herzinfarkt am 17. August verstarb er wenige Tage später am 20. August 1915 im Kreise seiner Familie. Mit der Entwicklung des Salvarsans war es Ehrlich gelungen, das von ihm propagierte Ideal der „Zauberkugeln“, basierend auf seinem theoretischen Konzept der Seitenketten, später als Rezeptoren bezeichnet, zu beweisen und praktisch umzusetzen und es war ihm gelungen, aus den theoretischen Überlegungen praktischen Nutzen zu ziehen. Zugleich legte Ehrlich mit der Entwicklung des Salvarsans nicht allein den Grundstock für die moderne Arzneimittelforschung, sondern wie in einem Brennglas lassen sich die Herangehensweise, aber auch die Probleme der Arzneimittelforschung betrachten: Zum einen verfestigte Ehrlich die bereits bei der Entwicklung des Diphtherieheilserums erprobte Vorgehensweise und die Aufeinanderfolge von Invitro- und In-vivo-Versuchen und die sich daran anschließende klinische Prüfung und öffentliche Diskussion des Präparates und schließlich die statistische Erfassung und Auswertung der Verwendung des entwickelten Produkts (zumindest in der Prüfungsund Einführungsphase). Ein Pionier der modernen Arzneimittelforschung war Ehrlich auch durch seine systematische Herangehensweise und die konsequente Quantifizierung seiner Forschungsergebnisse, wie sie besonders in den Arbeiten zur Immunität gegen Abrin und Ricin (siehe Texte 9 und 10), zur Wertbestimmung von Diphtherieserum (Text 12) oder zur Konstitution des Diphtheriegiftes hervortraten. Durch seine systematische Herangehensweise war es Ehrlich im Unterschied zu Behring möglich, den wellenförmigen Wirkungsverlauf des Antitoxins genau zu verfolgen und durch die erneute Injektion von Diphtheriegift auf dem Scheitelpunkt der Wirkung die Produktion weiterer Antikörper zu stimulieren und die therapeutische Wirkung des Diphtherieserums so zu steigern, dass es eben nicht nur bei Meerschweinchen, sondern auch beim Menschen wirksam war. Und nicht zuletzt wird die systematische, serielle Herangehensweise bei der Modifizierung chemischer Substanzen deutlich, die sich in der Hochzählung (und Bezeichnung) der Präparatevarianten äußert. Ehrlichs Synthese chemischer Substanzen führt uns zu einem weiteren Merkmal der modernen Arzneimittelforschung: der Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft. Die kostspielige Finanzierung der Versuche hatte bereits Anfang der 1890er-Jahre

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zur Kooperation von Industrie und Forschung geführt, allerdings waren die chemischpharmazeutische Industrie, konkret die Farbwerke, vorm. Meister Lucius & Brüning in Hoechst oder fünfzehn Jahre später Cassella Farbwerke Mainkur in Frankfurt, unmittelbar in die Arbeiten einbezogen und mit der Modifizierung und Synthese chemischer Substanzen nach Anregungen Ehrlichs integrativer Bestandteil der Forschung – oder umgekehrt argumentiert Wolfgang Wimmer, dass die in Hoechst ansässigen Farbwerke ihre Forschung an externe Wissenschaftler wie Ehrlich bzw. an wissenschaftliche Einrichtungen auslagerten und auf eine eigene Forschungsabteilung verzichteten, während die Farbenfabriken Bayer in Elberfeld eine solche unterhielten.25 Als weitere Merkmale moderner Arzneimittelforschung seien hier Ehrlichs seinerzeit als unkonventionell empfundene interdisziplinäre Herangehensweise genannt sowie seine umfangreichen Kooperationen und sein umfassendes Netzwerk zu Kollegen (wie zum Beispiel zu Albert und Ernst Neisser, Wilhelm Wechselmann [1860–1942], Carl Julius Salomonsen [1847–1927] und Thorvald Madsen [1870–1957] aus Kopenhagen, Almroth Wright [1861–1947] und German S. Woodhead [1855–1921] aus London, Christian A. Herter und William Welch [1850–1934] aus den USA), zur Medizinalverwaltung (zum Beispiel Friedrich Althoff) und zu pharmazeutischen Unternehmen (zum Beispiel der bereits erwähnte Arthur von Weinberg oder August Laubenheimer [1848–1904] von den Farbwerken, vorm. Meister Lucius & Brüning in Hoechst) im In- und Ausland, die wiederum eine arbeitsteilige Organisation seines Instituts erforderten, um die verschiedenen Forschungsarbeiten koordinieren und das Netzwerk verschiedener Kontakte verwalten zu können. Die aufgeführten Aspekte, die Ehrlich als einen theoretischen Vordenker und praktischen Pionier der modernen Arzneimittelforschung erscheinen lassen, verweisen aber zugleich auch auf die Probleme und Ambivalenzen, mit denen sich die moderne Arzneimittelforschung konfrontiert sah und sieht: Die enge Verbindung von chemisch-pharmazeutischer Industrie und Wissenschaft ist Vorteil und Nachteil zugleich, denn die chemotherapeutisch forschenden Wissenschaftler sahen sich mit Vorwürfen konfrontiert, sich von der Industrie instrumentalisieren und aus finanziellen Gründen korrumpieren zu lassen und freie Forschung und den Austausch wissenschaftlicher Ergebnisse zu behindern. Für in der Industrie tätige Wissenschaftler stellten Verschwiegenheitsklauseln mitunter ein individuelles Problem dar, weil sie somit von der innerwissenschaftlichen Kommunikation ausgeschlossen waren. Die Ausweitung von Tierversuchen und der heikle Übergang vom Tier- zum Humanexperiment sowie umfangreiche klinische Prüfungen der entwickelten Mittel führten – jenseits der Ambivalenz, dass Ehrlich sich selbst, trotz zahlloser Tierversuche, als Tierfreund sah – zu Widerständen und Konflikten mit der sich gleichzeitig formierenden Tierschutzbewegung und Gruppierungen, die sich für die Rechte von Patienten (vor allem aus der

25 Siehe Wolfgang Wimmer, „Wir haben fast immer was Neues“. Gesundheitswesen und Innovation der Pharma-Industrie in Deutschland, 1880–1935, Berlin 1994.

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Unterschicht) einsetzten. Mit den Vorwürfen, dass die Gewinnmarge des Salvarsans viel zu hoch sei und den Anfeindungen hinsichtlich Ehrlichs Industrienähe und schließlich auch den Konflikten, die mit dem sogenannten Salvarsan-Krieg ausbrachen, traten bereits die Probleme der modernen Arzneimittelforschung hervor, die bis heute virulent geblieben sind. Darüber hinaus verdeutlichen sie die Ambivalenz der modernen Arzneimittelforschung und das Dilemma der daran beteiligten Akteure: Hoher organisatorischer Aufwand und hohe Kosten zur Entwicklung von Arzneimitteln – mit ungewissem Erfolgspotenzial – stehen oft gering bemessene Etats wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen gegenüber; den sich selbst hohen ethischen Standards (und dem Wohl des Patienten) verpflichtenden Medizinern bzw. Lebenswissenschaftlern stehen nach ökonomischen Prinzipien handelnde, profitorientierte Unternehmen gegenüber (die sich wiederum selbst als dem Patientenwohl verpflichtete Einrichtungen vermarkten). Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich auch in Ehrlichs Publikationen wider, in denen nicht nur seine Experimente beschrieben und seine theoretischen Ideen entfaltet wurden. Sie verfolgten auch den Zweck, Kritiker und Geldgeber von der Notwendigkeit weiterer Forschung zu überzeugen, klinische Versuche zu legitimieren, wissenschaftliche Ansprüche zu untermauern oder die Vermarktung entwickelter Präparate vorzubereiten. Zudem können sie auch als Werbung in eigener Sache verstanden werden. Auch die in diesem Band versammelten Publikationen Ehrlichs bilden diese Bandbreite ab. Nachfolgend werden Ehrlichs Veröffentlichungen zusammengefasst und in den historischen Kontext eingeordnet sowie ein die verschiedenen Forschungsfelder seiner wissenschaftlichen Arbeiten verbindender Bogen geschlagen.

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Praxis und Theorie – Ehrlichs wissenschaftliche Arbeiten Axel C. Hüntelmann

In den „Schlußbemerkungen“ (siehe Text 20) des von ihm herausgegebenen Bandes zur „experimentellen Chemotherapie der Spirillosen“ (1910) verweist Paul Ehrlich (Abb. 2.1) einleitend auf die 1871 veröffentlichte Monografie von Karl-Georg Emil Heubel (1838–1912) über die „Pathogenese und Symptome der chronischen Bleivergiftung“.1 Er hebt den Einfluss hervor, den die Lektüre der Arbeit bereits während seines Studiums gehabt und die letztlich seine (lebenslange) Arbeit geprägt habe. Ehrlichs Freund und Förderer Arthur von Weinberg, Direktor und Eigentümer der Cassella Farbwerke, griff diesen Hinweis in der „Biographischen Einführung“ auf, die er für die Festschrift zu Ehren Ehrlichs sechzigstem Geburtstag verfasst hatte.2 Der junge Student Ehrlich habe „hier die ersten Anfänge einer selektiven Verankerungstheorie“ gesehen. Er habe die Arbeiten wiederholt, doch weil die quantitative Verteilung des Bleis schwierig zu verfolgen sei, habe er die Versuche abgewandelt und den Farbstoff Fuchsin verwendet. „Der Versuch gelang“, resümiert Weinberg, „und nun richtete sich das ganze

1 Siehe

Emil Heubel, Pathogenese und Symptome der chronischen Bleivergiftung, Berlin 1871. Arthur von Weinberg, Biographische Einführung, in: Hugo Apolant et al. (Hg.), Paul Ehrlich. Eine Darstellung seines wissenschaftlichen Wirkens. Festschrift zum 60. Geburtstage des Forschers, Jena 1914, S. 3–13. 2 Siehe

A. C. Hüntelmann (*) Charité - Universitätsmedizin Berlin, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 A. C. Hüntelmann (Hrsg.), Paul Ehrlich - Ein Lebensweg von der Histologie über die Immunologie zur Chemotherapie, Klassische Texte der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62155-4_2

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Abb. 2.1 Paul Ehrlich in seinem Laboratorium bei einem „Handversuch“, nach 1910. (Mit freundlicher Genehmigung des Rockefeller Archive Center)

Denken des Studenten auf diese merkwürdige Erscheinung.“3 Der Hinweis auf Heubel knüpft an andere Erzählungen an, dass Ehrlich bereits seit seiner Kindheit und Schulzeit ein besonderes Interesse an chemischen Problemen und eine frühe chemische Begabung gehabt habe, und dient als Verbindungsstück zu späteren Arbeiten: der Seitenkettentheorie.4 Dem früheren Biografen Gerhard Venzmer (1893–1986) zufolge habe Ehrlich zwar „im späteren Leben diesen Hauptweg im Garten seiner wissenschaftlichen Forschung“ für kürzere oder längere Zeit verlassen, doch hätten ihn seine Arbeiten auf Seitenpfaden stets zurückgeführt „auf den geradenwegs zum großen Endziel weisenden Hauptweg“.5 Wobei der Hauptweg demnach die spezifische (biochemische) Affini-

3 Ebenda,

S. 4. Bedeutung von Heubel in Gerhard Venzmer, Paul Ehrlich. Leben und Wirken, Stuttgart 1948, S. 28 f., und Ernst Bäumler, Paul Ehrlich. Forscher für das Leben, Frankfurt am Main 1979, S. 36 f. Beide Biografen spannen einen Bogen von Ehrlichs Kindheit, seine farbchemischen Studien über die Arbeiten zur Vitalfärbung bis hin zu den immunologischen und chemotherapeutischen Arbeiten. Zum Mythos und der sozialen und „familialen“ Konstruktion eines Genius siehe Axel C. Hüntelmann, Legend of Science. External Constructions by the Extended ‚Family‘ – the Biography of Paul Ehrlich, in: InterDisciplines 2 (2010), S. 13–36. 5 Vgl. Venzmer, Paul Ehrlich, S. 29. 4 Die

2 Einführung in die wissenschaftlichen Arbeiten und Texte

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tät bestimmter Gewebszellen zu Nahrungsstoffen bzw. Stoffen mit ähnlich molekularer Struktur sein musste. Folgt man Ehrlich und seinen früheren Biografen, so sei er zu dieser genialen Erkenntnis während seines Studiums gekommen, und er habe die daraus erwachsene Seitenkettentheorie allen Widrigkeiten zum Trotz im Laufe seines Lebens umgesetzt. Die Realisierung dieser Idee erfolgte dann zuerst in der Histologie und über den Umweg der Immunologie schließlich in der Chemotherapie. Demnach waren die Entwicklung des Diphtherieserums und des Salvarsans quasi schon im Keim in den ersten histologischen Arbeiten angelegt. Ein solch gradliniger Forschungsweg von der frühen, quasi genialen Konzeption und deren lebenslanger Umsetzung wäre nicht nur langweilig und lebensfern, sondern wissenschaftshistorische und -soziologische Studien haben in den letzten Jahrzehnten gezeigt,6 dass Erkenntnisgewinn und Wissensproduktion weitaus komplexer und vielschichtiger sind. Die Konstruktion, die Zuschreibung einer linearen Entdeckungs- und Erfolgsgeschichte und die Begradigung der verschlungenen Forschungspfade, erfolgt erst ex post und retrospektiv am Lebensende oder danach durch andere. Am Beispiel ausgewählter Veröffentlichungen wird gezeigt, wie Ehrlichs Forschungen Schritt für Schritt aufeinander aufbauten und die daraus gewonnenen Erkenntnisse über verschlungene Pfade erschlossen wurden; wie sich aus der Beantwortung von Forschungsfragen neue Probleme und neue Fragen ergeben haben, denen Ehrlich nachzugehen sich genötigt sah; wie er sich bei der Lösung von Schwierigkeiten durch die Einbeziehung interdisziplinärer Aspekte neue Forschungsfelder erschloss oder wie er bei der Lösung neuer Probleme gelegentlich auf alte Forschungsarbeiten zurückgriff und die Forschungsergebnisse aufeinander aufbauten. Über diese verschlungenen praktischen Forschungspfade gelangte Ehrlich schließlich zur Seitenketten- bzw. Rezeptortheorie

6 Siehe die einleitenden Hinweise auf die wissenschaftshistorischen, -soziologischen, und -philosophischen Arbeiten im Anschluss an Ludwik Fleck, zur historischen Epistemologie oder zur Actor-Network-Theory. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind zahlreiche Veröffentlichungen zur Entwicklung, Produktion, Vermarktung und Regulation von Arzneistoffen und -mitteln entstanden. Beispielhaft seien genannt: Jean-Paul Gaudillière, Introduction. Drug Trajectories, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 36 (2005), S. 603–611; Nicholas Eschenbruch et al. (Hg.), Arzneimittel des 20. Jahrhunderts. Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan, Bielefeld 2009; Heiko Stoff, Wirkstoffe. Eine Wissenschaftsgeschichte der Hormone, Vitamine und Enzyme, 1920–1970, Stuttgart 2012; Alexander von Schwerin et al. (Hg.), Biologics. A History of Agents Made from Living Organisms in the Twentieth Century, London 2013; Dominik Merdes, Die Produktion eines Pharmakons. Eine Kartographie der Kala-Azar und der Antimonalien, Stuttgart 2019. Zur Produktion, Vermarktung und Regulation von Arzneistoffen: Jean-Paul Gaudillière und Ilana Löwy (Hg.), The Invisible Industrialist. Manufactures and the Production of Scientific Knowledge, Basingstoke 1998; Christoph Gradmann und Jonathan Simon, Evaluating and Standardizing Therapeutic Agents, 1890–1950, Basingstoke 2010; Jean-Paul Gaudillière und Volker Hess (Hg.), Ways of Regulating Drugs in the 19th and 20th Centuries, Basingstoke 2013.

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bzw. wurde diese auf Grundlage praktischer Forschungsarbeit und wissenschaftlicher Kommentierung und der Kritik von Fachkollegen sukzessive korrigiert, verändert und weiter ausgebaut. Bei den ausgewählten Texten handelt es sich einmal um „klassische“ Texte – solche, auf die sich Ehrlich selbst, Kollegen und spätere Forscher bezogen haben, die wiederholt zitiert oder diskutiert worden sind –, wenngleich es schwierig ist, einen wesentlichen Text herauszugreifen. Überdies zielt der Band darauf ab, über die Auswahl der Texte in das Werk Ehrlichs einzuführen, d. h. die Summe der Texte soll Ehrlichs wissenschaftliche Arbeit in toto repräsentieren und einen Überblick vermitteln und, in Verbindung mit der Einleitung, in sein Werk einführen. Die gesammelten Werke Ehrlichs umfassen drei voluminöse Bände, und verschiedene Texte können als klassische gelten. Entsprechend dem Ziel und Zweck des Bandes mussten die hier versammelten Texte vier Kriterien erfüllen, und die Auswahl ist nicht immer leichtgefallen – es sind oft auch Alternativen denkbar. Einen ersten Ausschlag gaben Umfang und Textgattung. Eigenständige Monografien, wie die 1885 im Verlag August Hirschwald veröffentlichte Studie über das „Das Sauerstoff-Bedürfniss des Organismus“,7 die Ehrlich 1887 als Habilitationsschrift einreichte, werden nicht reproduziert, weil sie zu umfangreich sind. Ähnliches gilt für Ehrlichs 1878 verfasste Dissertation „Beiträge zur Theorie und Praxis der histologischen Färbung“8 oder andere umfassende Publikationen, wenn es kürzere Texte mit einem ähnlichen Status gibt. Ebenso schieden kurze Diskussionsbeiträge in Gesellschaften oder Versammlungen aus (mit Ausnahme von Text 4). Zweitens sollte jedes der Forschungs- und Arbeitsfelder Ehrlichs durch mindestens einen Text dargestellt werden, idealiter ein Text, der Anknüpfungspunkte zu späteren Forschungsthemen bietet. Drittens wurden Texte gewählt, die grundsätzlicheren Charakter haben, d. h. in denen er theoretische Zusammenhänge erklärt und die einzelnen Forschungen in einen größeren Zusammenhang einordnet, wie beispielsweise sein Aufsatz zur Wertbestimmung des Diphtherieheilserums oder die „Schlußbemerkungen“ in dem Band zur Spirillose der Hühner, die nicht nur diesen Band beenden, sondern mit der Entwicklung des Salvarsans auch das erfolgreiche Ende eines Forschungsvorhabens markieren. Viertens wurden schließlich Texte ausgewählt, die stellvertretend für eine Serie von Publikationen stehen und entweder seine Forschungsinteressen widerspiegeln oder für ein Cluster unterschiedlicher Forschungsarbeiten in den von ihm geleiteten Institutionen stehen. Einige der hier erneut abgedruckten Texte haben ihre eigene Geschichte. Ehrlich selbst fasste einige seiner in Zeitschriften veröffentlichten Artikel zu Sammelbänden zusammen: „Aeltere und Neuere Arbeiten“ fasste Ehrlich in einem Robert

7 Paul

Ehrlich, Das Sauerstoff-Bedürfniss des Organismus. Eine farbenanalytische Studie, Berlin 1885. 8 Paul Ehrlich, Beiträge zur Theorie und Praxis der histologischen Färbung, Diss. med. Universität Leipzig 1878.

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Koch gewidmeten Band mit dem programmatischen Titel „Constitution, Vertheilung und Wirkung chemischer Koerper“ zusammen, der 1893 in Leipzig im Georg Thieme Verlag erschien (hier abgedruckt Texte 7 und 8). Seine neueren und in unterschiedlichen Zeitschriften verstreut veröffentlichten chemotherapeutischen Arbeiten vereinigte er in dem Band „Beiträge zur experimentellen Pathologie und Chemotherapie“, der 1909 in Leipzig in der Akademischen Verlagsgesellschaft erschien (hier abgedruckt Text 17). Der Band enthielt ebenfalls Ehrlichs Nobelvortrag „Über Partialfunktionen Zelle“, der auch in Zeitschriften wie der „Münchener Medizinischen Wochenschrift“ (hier abgedruckt als Text 18) oder als Einzelheft publiziert wurde. Trotz der wiederholten Veröffentlichung durfte dieser Text hier nicht fehlen. Auch andere Texte wurden separat gedruckt und einzeln vertrieben, wie beispielsweise der umfangreiche Artikel über die Wertbemessung des Diphtherieserums, der nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in die Grundlagen der Wertbestimmung von Seren einführte. Der Artikel war ursprünglich im Klinischen Jahrbuch (Bd. 6) erschienen, das vom Preußischen Kultusministerium herausgegeben wurde, und hatte quasi amtlichen Charakter und war somit auch für Serumproduzenten und Apotheker bedeutsam. Bei einigen der hier erneut veröffentlichten Artikel handelt es sich um Sonderdrucke (Texte 9 bis 12, 14, 16, 18 und 19), die in den 1950er-Jahren von Ehrlichs früherer Sekretärin Martha Marquardt und dem Herausgeber von Ehrlichs Arbeiten, Fred Himmelweit, gesammelt wurden und vermutlich aus Ehrlichs Bestand stammten und für die Herausgabe bearbeitet wurden. Die Sonderdrucke gelangten später in den Besitz des früheren Ehrlich-Biografen Ernst Bäumler (1926 bis ca. 2006), und seit dessen Tod befinden sie sich im Medizinhistorischen Museum der Charité in Berlin. Die Sonderdrucke wurden für den erneuten Abdruck herangezogen, weil sie nicht nur die damaligen editorischen Notizen enthalten, sondern auf einer Metaebene auch das anhaltende Interesse an der Herausgabe von Ehrlichs Arbeiten dokumentieren. In der nachfolgenden Übersicht wird in die wissenschaftliche Arbeit Ehrlichs und seine Veröffentlichungen eingeführt, die ausgewählten Texte kurz vorgestellt, in den Forschungskontext eingebettet und das verbindende Element und die Idee seiner Forschung hervorgehoben. 1870er-Jahre bis ca. 1890 – Praxis und Systematik, Histologie und Biochemie Die Periode zwischen 1874 und Ende der 1880er-Jahre umfasst Ehrlichs Studienzeit und seine Beschäftigung als Arzt an der Charité. In der Festschrift zu seinem sechzigsten Geburtstag und in den „Gesammelten Arbeiten“ wird dieser Zeitraum unter den Überschriften „Histologie und Biologie der Zellen“ bzw. „Histologie – Biochemie – Pathologie“ zusammengefasst. Doch diese Schlagwörter können nur ungenügend die Vielzahl der Tätigkeiten Ehrlichs zusammenfassen und die Entwicklung seiner Arbeitsweise beschreiben: Zunächst einmal ist die differenzierte Beschreibung der Plasmazelle und, in Abgrenzung hierzu, die Identifizierung der Mastzelle zu nennen. Paul Ehrlichs erste wissenschaftliche Publikation aus dem Jahr 1877, die „Beiträge zur Kenntniss der Anilinfärbungen und ihrer Verwendung in der mikroskopischen Technik“ (Text 1), die

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die Ergebnisse eines Freiburger Semesteraufenthaltes und die während des Studiums betriebenen Techniken der Gewebefärbung zusammenfasste, beeindruckt durch seine systematische und kenntnisreiche Herangehensweise, die er in seiner Dissertation 1878 zu einer „Theorie und Praxis der histologischen Färbung“ ausbaute. Zugleich bilden die „Beiträge zur Kenntniss der Anilinfärbungen“ die beiden Interessengebiete Ehrlichs ab: Medizin und Chemie. Obwohl die „Anilinfärbung in der Textilindustrie eine ausgedehnte Verbreitung gefunden hätte“, bemerkte er einleitend, habe sich die Anilinfärbung in der mikroskopischen Färbung (noch) nicht durchgesetzt. Nur wenige Wissenschaftler arbeiteten Anfang der 1870er-Jahre an der Schnittstelle zwischen Medizin und Chemie und verwandten chemische Farbstoffe zur Tinktion von Gewebe9 bzw. arbeiteten überhaupt mit Farbstoffen in der Medizin. Auf diesem Gebiet ebenso wie in der Kooperation mit der sich herausbildenden chemischen Industrie kann Ehrlich als Pionier gelten. Nachdem Ehrlich 1878 von Friedrich Theodor Frerichs als Arzt an der Charité angestellt wurde, konzentrierte er sich auf die Mikrostruktur des Blutes und die Zusammensetzung der einzelnen Bestandteile des Blutes. Um Blut überhaupt färben und untersuchen zu können, hatte er das Verfahren der Trockenpräparate entwickelt, d. h. ein Blutstropfen wurde zwischen zwei Glasplättchen verteilt und diese anschließend erhitzt. Das dergestalt fixierte Blut konnte dann gefärbt werden. Auf dem Gebiet der Hämatologie gelang ihm so die Identifizierung der eosinophilen Zellen sowie die Differenzierung der nicht granulierten Lymphozyten von den mono- und polynukleären Leukozyten.10 Die Differenzierung der Leukozyten bildete die Grundlage für die Unterscheidung verschiedener Bluterkrankungen und die Klassifizierung der Leukämien.11 Ebenso untersuchte er die Bestandteile der roten Blutkörperchen und, kontrastierend zu „normalen“ Blutkörperchen, den Normoblasten, unterschied davon in Anämien 9 Chemische

Farbstoffe erweiterten zwar das Spektrum natürlicher Farbstoffe und waren zudem wesentlich billiger, allerdings unterlagen sie zu diesem Zeitpunkt noch größeren Qualitätsschwankungen und färbten unregelmäßig, siehe Alexander Engel, Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500–1900, Frankfurt am Main 2009; Anthony S. Travis, The Rainbow Makers. The Origins of the Synthetic Dyestuff Industry in Western Europe, Bethlehem 1993; ders., Science as Receptor of Technology. Paul Ehrlich and the Synthetic Dyestuffs Industry, in: Science in Context 3 (1989), S. 383–408. 10 Siehe zum Beispiel Paul Ehrlich, Beiträge zur Kenntniss der granulirten Bindegewebszellen und der eosinophilen Leukocyten (Archiv für Anatomie und Physiologie. Physiologische Abteilung 1879), in: Gesammelte Arbeiten (GA), Bd. I, S. 114–116; ders., Über die specifischen Granulationen des Blutes (Archiv für Anatomie und Physiologie. Physiologische Abteilung 1879), in: GA Bd. I, S. 117–123; ders., Methodologische Beiträge zur Physiologie und Pathologie der verschiedenen Formen der Leukocyten (Zeitschrift für klinische Medizin 1880), in: GA Bd. I, S. 124–129. 11 Igor Buchwalow et al., The Contribution of Paul Ehrlich to Histochemistry. A Tribute on the Occasion of the Centenary of his Death in: Virchows Archiv 466 (2014), S. 111–116, hier S. 113; siehe zusammenfassend den umfassenden Handbuchartikel Paul Ehrlich et al., Leukaemie. Pseudoleukaemie. Haemoglobinaemie (Specielle Pathologie und Therapie, hg. von Hermann Nothnagel, Bd. 8), Wien 1901.

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beobachtete abweichende Formen wie sogenannte Megaloblasten, Mikroblasten und Poikiloblasten.12 Bei seinen Untersuchungen zur zellulären Struktur des Blutes grenzte er von als „normal“ erachteten Zellen pathologische Veränderungen ab, je nachdem, ob diese Veränderungen in der Form abwichen oder nach Auszählung der weißen und roten Blutkörperchen in ihrer Anzahl oder in ihrem anteiligen Verhältnis zueinander als krankhaft erschienen, und unterschied Formen der Anämie und Leukämie.13 Wenngleich der Schwerpunkt der hämatologischen Arbeiten Ende der 1870er- und Anfang der 1880erJahre lag und er Ende der 1880er-Jahre auf diesem Gebiet als Koryphäe galt, kam er später immer wieder auf die Krankheiten des Blutes zurück – die von ihm mitverfassten und maßgeblich mitverantworteten, knapp 530-Seiten umfassenden Handbuch-Beiträge zu Anämien und Leukämien erschienen 1898 und 1901 sowie in zweiter Auflage 1910.14 Stellvertretend für die zahlreichen veröffentlichten Texte auf diesem Gebiet, die er 1891 ergänzt um Artikel seiner „Mitarbeiter“ zu einem Band zusammenfasste,15 wurden diejenigen zur Physiologie und Pathologie der verschiedenen Formen der Leukozyten (1880, Text 2) sowie zur Physiologie und Pathologie der Blutscheiben (1885, Text 3) ausgewählt. Die Texte stehen am Ende einer jeweiligen Untersuchungsphase, waren nicht als Vortrag konzipiert, erläuterten die Methoden und fassten die Ergebnisse einordnend zusammen. Methodisch verweisen sie einerseits auf die bisherigen histologischen Arbeiten und stellen zugleich einen Anknüpfungspunkt für die späteren serologischen Arbeiten dar. Die Färbung von auf Glasplättchen fixierten Flüssigkeiten beschränkte sich jedoch nicht allein auf Blut. Angeregt durch die Forschungen auf dem sich neu etablierenden Feld der Bakteriologie, beschäftigte sich Ehrlich auch mit der Sichtbarmachung von Krankheitserregern, die durch spezifische Färbung von dem sie umgebenden Gewebe

12 Siehe

Buchwalow et al., Contribution, S. 113. den Anämien siehe den Handbuchartikel von Paul Ehrlich und Adolf Lazarus, Die Anaemie. 1. Abteilung: Normale und Pathologische Histologie des Blutes und 2. Abteilung: Anaemie (Specielle Pathologie und Therapie, hg. von Hermann Nothnagel, Bd. 8), Wien 1898; sowie den kurzen Überblick von denselben, Die Anämien, in: Ernst von Leyden und Felix Klemperer (Hg.), Die Deutsche Klinik am Eingange des zwanzigsten Jahrhunderts 1901, S. 81–97; sowie den Handbuchartikel von denselben, siehe Buchwalow et al., Contribution; George Rosenow, Paul Ehrlichs Bedeutung für die Haematologie, in: International Archives of Allergy and Applied Immunology 5 (1954), S. 197–206. 14 Die Handbuchbeiträge zur normalen und pathologischen Histologie des Blutes sowie zu den Anämien erschienen 1906 und 1913 in zweiter Auflage. Die Bände wurden auch ins Englische übersetzt (besorgt und eingeleitet von German Sims Woodhead) und erschienen 1900/1905/1909 bei unterschiedlichen Verlagen und in zweiter Auflage 1910 in New York (Rebman Company). 15 Siehe Paul Ehrlich (Hg.), Farbenanalytische Untersuchungen zur Histologie und Klinik des Blutes. Gesammelte Mittheilungen, Berlin 1891. Der Sammelband enthielt auch von ihm betreute Dissertationen. Die Veröffentlichung war als erster Band von mehreren konzipiert (siehe das Vorwort S. IV), allerdings erschien nur dieser Band. 13 Zu

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oder Sputum abgegrenzt wurden. So gelang es Ehrlich, nachdem Robert Koch 1882 den Erreger der Tuberkulose identifiziert hatte, diesen durch Anilinfarben und insbesondere das Methylviolett besser zu färben, sodass sich der Erreger eindeutiger von dem umgebenden Gewebe abhob, wobei er überdies die Färbe- und Entfärbetechnik derart vereinfachte, dass das Verfahren von jedem Mediziner ausgeführt werden konnte bzw. können sollte. Das von Ehrlich auf einer Sitzung des Berliner Vereins für innere Medizin vorgestellte Verfahren eignete sich sowohl zur Färbung von Sputum als Trockenpräparat als auch von Schnittpräparaten, und der in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift veröffentlichte Text kann als klassisch gelten und wird daher hier abgedruckt (Text 4) und um einen Text ergänzt, in dem er in den Charité-Annalen 1886 die „Theorie der Bacillenfärbung“ ausführlich erörtert (Text 5). Eine andere Form der Färbung zur Absicherung einer Diagnose hatte Ehrlich mit der sogenannten Diazo-Reaktion entwickelt. In Wasser gelöste Salpeter- und Sulfanilsäure mit einigen „Körnchen Natriumnitrit“ wurde mit Urin vermengt. Normaler Urin führte zu keiner wesentlichen Veränderung, während sich bei pathologischem Urin und besonders bei Typhus die Mischung intensiv färbte und die Farbintensität Ehrlich zufolge Rückschlüsse zum Charakter der Krankheit und eine Prognose zum Krankheitsverlauf erlaubte.16 Aus den zahlreichen zumeist kürzeren Artikeln, Ehrlich hat die Entwicklung der Diazo-Reaktion bis zur Jahrhundertwende verfolgt, wird stellvertretend der in den Charité-Annalen veröffentlichte ausführlichere Text abgedruckt (siehe Text 6). Über die Färbung von totem Gewebe und Körperflüssigkeiten hinaus ist Ehrlichs grundlegende Arbeit zur Vitalfärbung zu nennen: Mit dem „Sauerstoff-Bedürfniss des Organismus“ gelang es ihm, verschiedene Gewebestrukturen zu unterscheiden und nachzuweisen, dass einzelne Organe und Gewebestrukturen ein unterschiedliches Sauerstoffbedürfnis haben.17 In dem Text spricht Ehrlich auch erstmals von Seitenketten, allerdings noch unbestimmt und wenig ausdifferenziert. Stellvertretend für die Arbeiten zur Vitalfärbung wird der in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift publizierte Artikel zur „Methylenblaureaktion der lebenden Nervensubstanz“ ausgewählt (Text 7), der von Ludwig Edinger als „einer der inhaltsreichsten Aufsätze“ bezeichnet wurde, „die jene Zeitschrift je gebracht hat.“ Auch wenn die Vitalfärbung der Nervensubstanz nur einen „Seitenzweig“ Ehrlichscher Forschung repräsentiere und dieser das Thema nicht weiter verfolgt habe, so habe sich daraus „ein mächtiger eigener Baum entwickelt“.18 Das Methylenblau, das bereits bei der Vitalfärbung der Nervensubstanz und zuvor bei der diagnostischen Färbung von Bakterien in den Vordergrund getreten war, wurde

16 Siehe Paul Ehrlich, Ueber eine neue Harnprobe, in: Zeitschrift für klinische Medizin 5 (1882), S. 285–288. 17 Siehe Ehrlich, Sauerstoff-Bedürfniss. 18 Siehe Ludwig Edinger, Neurologie, in: Hugo Apolant et al. (Hg.), Paul Ehrlich. Eine Darstellung seines wissenschaftlichen Wirkens. Festschrift zum 60. Geburtstage des Forschers, Jena 1914, S. 76–82, hier S. 77.

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von Ehrlich ebenfalls therapeutisch verwendet. Um 1890 publizierte er zwei Artikel zur schmerzstillenden Wirkung des Methylenblau (siehe Text 8) und zur positiven Wirkung des Farbstoffes bei Malaria. Die beiden Publikationen stehen exemplarisch für die von ihm vorgenommenen klinische Prüfungen weiterer Arzneimittel, insbesondere des Thallin, und stellen zudem ein wesentliches Bindeglied früherer und späterer Arbeiten dar. Der Abdruck der Veröffentlichung zur schmerzstillenden Wirkung des Methylenblau erfolgt allerdings auch, weil er zahlreiche Probleme medizinischer und pharmazeutischer Forschung tangiert: Zum einen verweist Ehrlich auf seine Kooperation mit den Farbwerken vorm. Meister Lucius und Brüning (Farbwerke Höchst) und die zukünftige Zusammenarbeit zwischen chemisch-pharmazeutischer Industrie und Wissenschaft. Zum zweiten berichten Ehrlich und Leppmann frank und frei über die Auswahl der Probanden – Insassen der „Strafanstalt Moabit und der damit verbundenen Beobachtungsanstalt für geisteskranke Verbrecher“. Ob und inwieweit „das Krankenmaterial“ freiwillig an den Versuchen teilnahm und über Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt wurde, sei dahingestellt – man kann allerdings davon ausgehen, dass hierfür noch kein Problembewusstsein seitens der behandelnden Ärzte vorhanden war, wie die Behandlung mit Tuberkulin wenig später zeigen sollte.19 Zudem diskutierte Ehrlich explizit die Bedeutung der Probandenauswahl – und hier schienen ihm die Anstaltsinsassen besonders geeignet, „weil es sich bei denselben um fast gleichaltrige, jugendliche […], unter gleichen und sehr regelmäßigen Lebensbedingungen befindliche Männer handelt, bei welchen wegen der strengen Isolirung die gesamte Lebensführung genau controllirbar ist und ausserdem jedes suggestive Moment möglichst vermieden werden kann“ (S. 493). Einerseits beschrieb er wegweisend ideale Bedingungen für die klinische Prüfung von Arzneimitteln, andererseits bezogen sich diese idealen Bedingungen unreflektiert auf Insassen einer totalen Institution.20 Über die Aufzählung seiner verschiedenen „Entdeckungen“, „Erfindungen“ und Entwicklungen hinaus lassen sich jedoch einige grundlegende Prinzipien seiner Vorgehensweise beschreiben, die Ehrlichs spätere Arbeit nachhaltig beeinflusst haben. In dem zuvor angeführten Rückblick beschrieb Ehrlich die Umstände, die seinen Erfolg ermöglicht hätten: „Alle therapeutischen Arbeiten erfordern viel Geduld“, und die aus der ewigwährenden Wiederholung von Experimenten resultierende Erfahrung. Dies wird besonders in Ehrlichs Arbeit zur Anilinfärbung (Text 1) und seiner Dissertation über die Theorie und Praxis der histologischen Färbung deutlich, die das gesamte Spektrum der damals bekannten chemischen Farbstoffe und das ganze Repertoire technischer Fertigkeiten und Färbemethoden umfasste: die unzähligen Kombinationen verschiedener Gewebearten unterschiedlicher Tierarten und Farbstoffe lassen auf die Erfahrung von Tausenden von Färbeversuchen schließen. Das durch geschulte Erfahrung gewonnene

19 Siehe zum Tuberkulin(-Skandal) Gradmann, Krankheit; und zu Menschenversuchen Elkeles, Diskurs. 20 Siehe Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973.

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praktische Wissen21 zeigt sich auch darin, dass Ehrlich Hinweise zu Färbung und Entfärbung, zur Erstellung von Schnittpräparaten, zur technischen Einstellung des Mikroskops sowie zu verwendeten Farbstoffen und deren Hersteller geben konnte. Die Geduld, die der Student Ehrlich aufbringen und mühsam antrainieren musste und aus der sich die Erfahrung speiste, später bestimmte Strukturen erkennen oder das normale vom pathologischen unterscheiden zu können, bildete die Grundlage für seine immunologischen und chemotherapeutischen Arbeiten. Erst das mühsame Antrainieren und die dabei gewonnenen Erfahrungen ermöglichten es ihm, sich immer wieder abbildende Strukturen als normal zu definieren und zu erkennen und später davon abweichende Strukturen als pathologisch22 – wie bei den Leukämien und Anämien das abweichende Blutbild – oder als etwas „Neues“ – wie die Mastzellen – abzugrenzen. Die zahlreichen Versuche sowie die daraus gewonnenen Rückschlüsse zeigen überdies, dass Ehrlich aus der Praxis heraus die Arbeitsergebnisse theoretisch einordnet und erklärt und Arbeitshypothesen ableitet – die in weiteren Schritten bearbeitet wurden. So kann man verfolgen, wie Ehrlich mit der Färbung von Gewebestrukturen und totem Gewebe begann, diese Techniken verfeinerte und auf flüssige Strukturen durch die Entwicklung des sogenannten Trockenpräparates ausdehnte bzw. überhaupt aus der Färbung von Flüssigkeit Diagnoseverfahren entwickelte und schließlich nicht nur tote Strukturen, sondern auch lebendes Gewebe färbte, um nicht nur Rückschlüsse über mikroanatomische Strukturen des Gewebes und dessen pathologische Veränderungen, sondern auch über physiologische Abläufe im Organismus ziehen zu können. Dabei war die Abfolge der Arbeiten keineswegs von Beginn an vorgezeichnet, sondern resultierte aus technischen Neuerungen, fachlichen Entwicklungen wie dem Aufkommen der Bakteriologie und den praktisch produzierten Arbeitsergebnissen.23 Zudem schloss Ehrlich aus den praktischen Arbeiten, dass vitale Prozesse auf chemischen Reaktionen basieren müssten, was sich als das Leitmotiv seiner Forschung erweisen sollte und wodurch er zu den frühen Vertretern der Biochemie zählt.24 Paul Ehrlich gilt als Inbegriff des Experimentalforschers. Nach seinem Studium war Ehrlich jedoch mehr als zehn Jahre in der Klinik tätig, und Praxis meint hier nicht nur die praktische Laborarbeit, sondern auch die von ihm nicht geschätzte Arbeit am Krankenbett. Seine hämatologischen Arbeiten zur Morphologie und Pathologie der Blutzellen (siehe Texte 2 und 3), die DiazoReaktion zur Differenzialdiagnose (siehe Text 6), die Verbesserung der Bakterienfärbung

21 Zur Bedeutung praktischen Erfahrungswissens siehe Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt am Main 1985. 22 Siehe zur Abgrenzung zwischen normal und pathologisch Georges Canguilhelm, Das Normale und das Pathologische, München 1974. 23 Ausführlich beschrieben in Hüntelmann, Paul Ehrlich. 24 Siehe zum Leitmotiv Ernst Jokl, Paul Ehrlich – Man and Scientist, in: Bulletin of the New York Academy of Medicine 30 (1954), S. 968–975; Prüll, Part of a Scientific Master-Plan? Silverstein, Paul Ehrlich’s Receptor Immunology.

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(siehe Texte 4 und 5) oder die ersten Arbeiten zur klinischen Erprobung des Thallin resultierten aus der Krankenhausarbeit als behandelnder Arzt. Die berufliche Auseinandersetzung mit seinem damaligen Chef Carl Gerhardt und das Ende seiner Krankenhauskarriere, die Erkrankung an Tuberkulose und die dadurch bedingte halbjährige Auszeit lassen das Ende der 1880er-Jahre als Bruch erscheinen, der diesen Teil seiner Arbeit von den nachfolgenden – vermeintlich – trennt. 1890–1903 – Serumtherapie und Immunologie Die 1890er-Jahre werden in der Ehrlich-Festschrift und den Gesammelten Arbeiten unter der Überschrift Immunitätsforschung bzw. -lehre zusammengefasst. Die hierunter rubrizierten Arbeiten wirken auf den ersten Blick wesentlich kohärenter als die vorherigen: Zunächst sind Ehrlichs immunologische Arbeiten zu Ricin und Abrin (siehe Texte 9 und 10) zu nennen sowie die Prüfung des Tuberkulins. Als wesentlich gelten die Arbeiten zur Entwicklung und klinischen Erprobung des Diphtherieserums sowie die darauf folgenden Veröffentlichungen zur Wertbestimmung von Serum. Hieraus wiederum resultieren die Forschungen zur Erklärung immunologischer Prozesse, die in der Seitenkettentheorie mündeten, die sich bis 1903 hinzogen und mit den „Gesammelten Arbeiten zur Immunitätsforschung“ ihren experimentellen Abschluss gefunden haben. Als Appendix wirken die Arbeiten zur experimentellen Krebsforschung, für die sich Ehrlich nur wenige Jahre interessierte. Einerseits scheinen die Kapitel „Histologie“ und „Immunologie“ nur wenig miteinander gemein zu haben und disziplinär getrennt zu sein. Doch bei genauerem Hinsehen und wenn man kein gradliniges Fortschreiten Ehrlichs auf einem Hauptweg der Forschung annimmt, sondern ein vorsichtiges Vorwärtstasten auf verschlungenen Pfaden, ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte. Die erste Kontinuität zur histologischen, histopathologischen und hämatologischen Forschung ergab sich aus der einfachen Tatsache, dass Ehrlich zur Physiologie und Pathologie des Blutes und zur Morphologie der Blutkörperchen gearbeitet hatte. Die Beschäftigung mit der normalen Zusammensetzung des Blutes und davon abweichende pathologische Veränderungen setzte er, wie oben erwähnt, auch in der Zeit fort, als er an der Entwicklung des Diphtherieheilserums und zur Wertbestimmung von Seren arbeitete. Anknüpfungspunkte dieser Arbeiten bot außerdem die spätere Sero-Diagnostik. Eine weitere Verbindung ergab sich über das Methylenblau. Ehrlich hatte, wie bereits erwähnt, Mitte der 1880er-Jahre Versuche zur biologischen Verwertung des Methylenblau und zur Reaktion der „lebenden Nervensubstanz“ auf Methylenblau ausgeführt.25 Aus früheren Versuchen und der Beobachtung, dass bei Gelbsucht bis auf das zentrale Nervensystem alle Gewebe eingefärbt waren, schloss Ehrlich, dass das Zentralnervensystem gegen Färbung unanfällig sei. Aus dieser Beobachtung resultierte die

25 Siehe Paul Ehrlich, Zur biologischen Verwertung des Methylenblau, in: Centralblatt für die medicinischen Wissenschaften 23 (1885), S. 113–117; und den hier abgedruckten Text 7.

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Frage, „welche Farbstoffe von dem Centralnervensystem überhaupt aufgenommen würden“, stellvertretend für die Gruppe der sich als therapeutisch wirksam erweisenden Alkaloide. Die Färbung und die angezeigte mikrochemische Affinität zwischen Farbstoff und organischer Zelle sollte Aufschluss über die Beziehung geben, die zwischen der Konstitution des jeweiligen Farbstoffes und der Verteilung im Organismus bestand.26 Ehrlich stellte fest, dass das Methylenblau „eine auffallende Verwandtschaft zum Nervensystem, vor allem zu den Axencylindern der sensiblen und sensorischen Nerven“ zeigt.27 Aus dieser Beobachtung folgten Versuche zur „praktische[n] Ausmittelung der schmerzbeeinflussenden Wirkung des Methylenblau“ im Gefängnis Moabit. Die Versuche ergaben, dass der Farbstoff überraschend wirksam war. In Versuchen im städtischen Krankenhaus Moabit stellten Ehrlich und der dort tätige Arzt Paul Guttmann fest, dass der Farbstoff auch bei Malaria eine positive therapeutische Wirkung zeigte.28 In dem Forschungskontext der „Constitution, Vertheilung und Wirkung chemischer Körper“,29 um den Titel des von Ehrlich publizierten Aufsatzbands zu zitieren, waren die Arbeiten angesiedelt, die sich einerseits mit der therapeutischen Wirkung, andererseits mit der giftigen Wirkung von chemischen Substanzen auf den Organismus befassten. In diesem Zusammenhang stellen die therapeutisch-klinische Prüfung des Tuberkulins einerseits und die Versuche zur Gewöhnung des lebenden Organismus an die pflanzlichen Giftstoffe Abrin und Ricin andererseits nur marginale Verschiebungen in der Arbeit von Paul Ehrlich dar. Bereits bei den klinisch-therapeutischen Versuchen zum Methylenblau war es darum gegangen, die Dosis herauszufinden, ab der eine therapeutische Wirkung zu erkennen war, und die Dosis, die vom Organismus überhaupt vertragen werden konnte. Diese sogenannte dosologische Forschung übertrug Paul Ehrlich nun einerseits auf das Therapeutikum biologischen Ursprungs Tuberkulin, um die therapeutische Dosis herauszufinden, und andererseits auf die Pflanzengifte Ricin und Abrin, um die toxikologische Dosis festzustellen. Die Forschungen zielten darauf ab, die therapeutische Dosis des Tuberkulin zu verbessern oder, nachdem Zweifel an der Wirk-

26 Siehe Paul Ehrlich, Zur therapeutischen Bedeutung der substituirenden Schwefelsäuregruppe, in: Therapeutische Monatshefte 1 (1887), S. 88–90, hier S. 88. 27 Siehe den hier abgedruckten Text 8 zur schmerzstillenden Wirkung des Methylenblau. 28 Siehe Paul Ehrlich und Paul Guttmann, Über die Wirkung des Methylenblau bei Malaria, in: Berliner klinische Wochenschrift 28 (1891), S. 953–956. Ehrlich und Guttmann beschreiben hier zwei Malaria-Fälle, die mit Methylenblau behandelt wurden. Interessanterweise wurde die Publikation zur schmerzstillenden Wirkung von Methylenblau in den Gesammelten Arbeiten Band 1 zugeordnet, während die Wirkung des Methylenblau bei Malaria in den Gesammelten Arbeiten Band 3 (Chemotherapie) zugeordnet wurde. 29 Vgl. Paul Ehrlich (Hg.), Constitution, Vertheilung und Wirkung chemischer Körper. Aeltere und Neuere Arbeiten, Leipzig 1893.

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samkeit des von Robert Koch entwickelten Mittels laut wurden, überhaupt zu belegen30 sowie die letale Dosis der pflanzlichen Giftstoffe zu erhöhen. Letzteres erreichte Ehrlich, indem er Versuchstiere durch anfangs minimale und später immer größere Gaben an das Gift gewöhnte, bis die Tiere eine tausendfach tödliche Dosis vertrugen (siehe Text 9). Der Unterschied zur vorherigen Arbeit bestand vor allem darin, dass Ehrlich nicht mehr vornehmlich im Krankenhaus tätig war, sondern sich der Schwerpunkt seiner Forschung auf das Labor verlagerte: Die Rolle der Patienten nahmen zunehmend die Labortiere ein bzw. modellierten sie diese. Der zweite Grund, warum Ehrlich den Untersuchungsgegenstand wechselte, lag darin, dass Robert Koch mit dem Tuberkulin und seine Mitarbeiter Emil Behring und Shibasaburo Kitasato mit dem Blutserum die Entwicklung neuer spezifischer Heilmittel biologischen Ursprungs gegen bestimmte Infektionskrankheiten bekannt gegeben hatten und Ehrlich sich nun vorübergehend nicht mehr mit künstlich synthetisierten chemischen Stoffen beschäftigte, sondern sich Stoffen biologischen Ursprungs zuwandte, wobei es sich nach Ehrlich um biochemische Stoffe handelte und der Unterschied darin bestand, dass die Konstitution der von ihm verwendeten Farbstoffe hinreichend bekannt war, während die im Blut zirkulierenden und im Tuberkulin enthaltenen wirksamen Stoffe nicht bekannt waren. Ähnlich wie Ehrlich war auch Behring aufgrund seiner Arbeiten zur „inneren Desinfektion“31 davon überzeugt, dass Immunität an chemisch wirksame Bestandteile gebunden sei. Weiterhin hatte Behring beobachtet, dass nicht alle Tierarten für dieselben Krankheitserreger in gleichem Maß empfänglich waren. Zum Beispiel waren Ratten im Vergleich zu Meerschweinchen oder anderen Tieren für den Milzbranderreger Bacillus anthracis unempfänglich – sie besaßen eine natürliche Immunität gegen Milzbrand. Behring nahm an, dass sich Milzbrandorganismen nicht im Rattenblut entwickeln konnten, sondern im Gegenteil, dass sie dort zugrunde gingen:32 Auf Nährmedien

30 Ehrlich war maßgeblich an der klinischen Prüfung des Tuberkulins beteiligt – auch nachdem Koch längst Berlin verlassen hatte und in Ägypten untergetaucht war. Ehrlich war, abseits von der Notwendigkeit, dass das Tuberkulin klinisch noch nicht hinreichend getestet war und optimiert werden müsse, von der Wirksamkeit des Mittels überzeugt, siehe die kurzen Mitteilungen von Paul Ehrlich und Paul Guttmann über die Anfangs-Behandlung oder dies., Die Wirksamkeit kleiner Tuberkulindosen gegen Lungenschwindsucht, in: Deutsche medicinische Wochenschrift 16 (1891), S. 793–795; Paul Ehrlich, Über neuere Erfahrungen in der Behandlung der Tuberkulose nach Koch, insbesondere der Lungenschwindsucht, in: Transactions of the Seventh International Congress of Hygiene and Demography 7 (1891), S. 211–222; sowie eine Zusammenfassung in The Lancet (1891), S. 917–920. 31 Vgl. Jonathan Simon, Emil Behring’s Medical Culture: From Disinfection to Serotherapy, in: Medical History 51 (2007), S. 201–218. 32 Vgl. Emil Behring, Über die Ursache der Immunität von Ratten gegen Milzbrand, in: Centralblatt für Klinische Medicin (1888), S. 681–690; Throm, Diphtherieserum, S. 33; Axel C. Hüntelmann, Diphtheriaserum and Serumtherapy – Development, Production and Regulation in fin de siècle Germany, in: Dynamis. Acta Hispanica ad Medicinae Scientiarumque Historiam Illustrandam 27 (2007), 107–131.

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wachsende Milzbrandbakterien starben ab, nachdem man dem Medium Rattenserum hinzugefügt hatte, während das Wachstum der Milzbrandbakterien bei Zusatz von Meerschweinchenserum nicht beeinträchtigt wurde. In vivo war es Behring gelungen, mit Milzbranderregern infizierte Mäuse mit dem Blut immuner Ratten zu heilen und so die Übertragbarkeit immunisierender und heilender Substanzen im Blut nachzuweisen.33 Die bakterizide Wirkung des Rattenserums gegen Milzbrand schützte jedoch nicht grundsätzlich vor anderen Krankheitserregern, sondern jedem spezifischen Krankheitserreger stand ein spezifischer, im Serum gebundener Schutzstoff gegenüber.34 Ende 1890 waren es Behring und Kitasato schließlich gelungen, diese spezifischen Schutzstoffe im Blut von künstlich mit Diphtherie und Tetanus infizierten Meerschweinchen herzustellen und den Immunität verleihenden Schutz auf anderen Versuchstiere zu übertragen35 – was als Meilenstein der Medizin gefeiert wurde36 und zu zahlreichen Forschungen zur Gewinnung weiterer Heilseren anregte. Die Arbeiten zur Diphtherie von Friedrich Löffler, Émile Roux und Emil Behring hatten gezeigt, dass die Symptome der Krankheit durch die giftigen Stoffwechselprodukte der Bakterien – Bakteriengifte – ausgelöst wurden, wobei „die von den pathogenen Bacterien producierten Toxalbumosen noch nicht in absolut reinem Zustand isolirt“ werden konnten.37 Die Versuche zu Abrin und Ricin waren insofern eine ‚Hilfsvariable‘,38 eine Verbindung zwischen den mess- und wägbaren synthetisierten Farbstoffen mit bekannter Konstitution und den nur ungenügend herstellbaren Bakteriengiften, denn die Giftstoffe des Abrin und Ricin waren in „genügender Reinheit“ herstellbar, wäg- und messbar, und die toxische Wirkung auf den lebenden Organismus skalierbar – wie die Gewöhnung des Organismus an den Giftstoff ebenso quantifizierbar war. Ehrlich ordnete daher die „Experimentelle Untersuchung über Immunität“ ein in den Kontext seiner bisherigen Untersuchungen zu „einer größeren Zahl von Körpern“ und den „Beziehungen, die zwischen der chemischen Constitution, der Vertheilung in den einzelnen Organen und der physiologischen Wirkung“ bestehen.39 Wie zuvor

33 Vgl.

Throm, Diphtherieserum, S. 33–38; Derek S. Linton, Emil von Behring. Infectious Disease, Immunology, Serum Therapy, Philadelphia 2005. 34 Vgl. Emil Behring, Das Tetanusheilserum und seine Anwendung auf tetanuskranke Menschen, Leipzig 1892, S. 37. Zur Spezifizität siehe ausführlich Pauline M. H. Mazumdar, Species and Specificity. An Interpretation of the History of Immunology, Cambridge 1995. 35 Siehe Emil Behring und Shibasaburo Kitasato, Ueber das Zustandekommen der DiphtherieImmunität und der Tetanus-Immunität bei Thieren, in: Deutsche Medicinische Wochenschrift 16 (1890), S. 1113–1114. 36 Siehe Heinz Schott (Hg.), Meilensteine der Medizin, Dortmund 1996, S. 375–380. 37 Siehe Text 9 (Immunität – Ricin), S. 976. 38 Ähnlich wie die oben erwähnten Versuche mit Farbstoffen, die stellvertretend die Verteilung der Stoffe der substituierenden Schwefelsäuregruppe bzw. der Alkaloide sichtbar machen sollten. 39 Siehe Text 9 (Immunität – Ricin), S. 976.

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Behring ging es ihm zuerst darum, die Versuchstiere „ricinfest“ zu machen, also eine Immunität erst über die Beifütterung von Ricin-Cakes und später durch die subkutane Injektion von Ricin-Verdünnung herzustellen, so sollte in einem nächsten Schritt „in exacter Weise zahlenmässig“ der Gang der Immunisierung verfolgt werden, um den zu- oder abnehmenden Grad der Immunität zahlenmäßig beschreiben und mathematisch berechnen zu können, um etwaige Gesetzmäßigkeiten zu erfassen. Die beiden Publikationen (siehe Texte 9 und 10) gelten nicht nur deshalb als „Klassiker“, weil Ehrlich sich erstmals expressis verbis mit Fragen der Immunität auseinandersetzt, sondern auch weil er Methoden der Quantifizierung aus seinen Farben- und biochemischen Versuchen in der sich neu etablierenden Immunologie verankerte. In dem daran anschließenden Text „Ueber die Immunität durch Vererbung und Säugung“ (siehe Text 11) wies Ehrlich nach, dass Immunität auch an die Nachkommen „vererbt“ werden könne. Es handle sich jedoch nicht um die „erbliche Uebertragung der Immunität […] im eigentlichen Sinne des Wortes“, sondern um die Weitergabe der maternalen „Antikörper“ im Mutterleib (S. 190). Ehrlich postulierte nicht nur die Weitergabe der Antikörper über den Mutterleib oder, wie in späteren Versuchen zur Säugung, über die Milch, sondern er prägte auch den unspezifischen Begriff der Antikörper und differenzierte zwischen aktiver (aktiv erworbene und lang andauernde) und passiver (passiv übertragene und vorübergehende) Immunität bzw. Immunisierung. Während einige von Ehrlichs Zeitgenossen, wie Hans Buchner (1850–1902) oder Ludwig Brieger (1849–1919), sich mit der Frage nach dem Wesen und der Zusammensetzung der im Serum vorhandenen Gegengifte oder Antitoxine auseinandersetzten, konzentrierten sich Ehrlich und Emil Behring ganz pragmatisch darauf, die Wirkung des Tetanus- und vor allem des Diphtherieserums zu steigern. In langen Versuchsserien hatten Ehrlich und seine Mitarbeiter beobachtet, dass der Antitoxinspiegel nicht gleichmäßig, sondern erst Tage nach Verabreichung des Giftes sprunghaft anstieg. Bei der Untersuchung von Milch immunisierter Ziegen bestimmte Ehrlich über Monate hinweg jeden zweiten Tag den Antitoxingehalt. Dabei entdeckte er einen wellenförmigen Verlauf der Immunisierung: Nach einem verzögerten hohen Anstieg sank der Antitoxinspiegel, um anschließend wieder langsam auf ein Maximum zu steigen. Erst nach einem Monat stellte sich ein konstanter Antitoxintiter ein. Der Kurvenverlauf war für den Zeitpunkt der Immunitätsbestimmung wichtig: Zu frühe Prüfungen konnten zu niedrige oder zu hohe Werte ergeben. Eine erneute Toxininjektion sollte erst dann erfolgen, wenn der Antitoxinspiegel sein Maximum erreicht hatte.40 Auf Basis dieser Beobachtungen war es Ehrlich gelungen, Ziegen gegen eine vielfach tödliche Dosis Tetanusgift zu immunisieren und Milch mit einem entsprechend hohen Antitoxinwert zu erhalten,41 das sich im September 1893 auch beim Menschen als wirksam erwies.

40 Vgl.

Throm, Diphtherieserum, S. 52 f. Paul Ehrlich und Ludwig Brieger, Über die Übertragung von Immunität durch Milch, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 18 (1892), S. 393 f. 41 Vgl.

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Behring blieb der Erfolg, Diphtherieserum in gleichem Maße hochzuskalieren, versagt, sodass eine Kooperation zwischen ihm und Ehrlich vereinbart wurde, die rasch zum Erfolg führte. Von Januar bis Frühjahr 1894 wurde experimentell hergestelltes Serum, mit Pferden als Wirtstieren, in verschiedenen Kliniken auf seine therapeutische Wirkung und etwaige Nebenwirkungen geprüft, und ab August 1894 war Diphtherieserum in Apotheken erhältlich.42 Auch die folgenden Jahre war Ehrlich vor allem praktisch tätig – zunächst beschäftigte er sich mit der Verbesserung der Serumqualität und 1896 wurde er zum Direktor des staatlichen Instituts für Serumforschung und Serumprüfung ernannt. Von den zahlreichen von Ehrlich und seinen Mitarbeitern und Kollegen im Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten veröffentlichten Artikeln zur Entwicklung und klinischen Prüfung des Tetanus- und Diphtherieserums wird an dieser Stelle der grundlegende Text über die Wertbestimmung des Diphtherieserums abgedruckt, in dem er das Verfahren der Wertbestimmung beschreibt und die im Organismus ablaufenden immunologischen Prozesse zur Bekämpfung der Krankheitserreger bzw. der Neutralisierung der bakteriellen Stoffwechselprodukte zu erklären versucht und die Grundzüge der Seitenkettentheorie entwirft (siehe Text 12). Einen wesentlichen Anteil der staatlichen Prüfung bildete die Wertbestimmung des Serums. Bereits während der Entwicklung von Serum spielte die Messung der therapeutischen Wirkung eine wesentliche Rolle, um eine positive oder negative Veränderung des Serums beurteilen zu können. Einen sicheren Maßstab zur Bestimmung einer erhöhten Giftfestigkeit schien nur die minimale absolut tödliche Giftdosis zu liefern (siehe Text 9). Die Steigerung der Immunität wird in einem Mehrfachen dieser einfachen tödlichen Dosis ausgedrückt: Nämlich der 100-fache Wert, der ein Meerschweinchen binnen vier Tage soeben zu töten in der Lage war, wurde als eine Immunisierungseinheit (IE) definiert, wobei für den Markt zugelassenes Serum mindestens 100 IE in 1 ccl. Flüssigkeit enthalten musste. Eine andere Prüfungsmethode beruhte darauf, dass man das Minimum der immunisierenden Substanz feststellte, das vor der einfachen tödlichen Dosis schützt. Zwischen den Prüfungsarten bestehe kein prinzipieller Unterschied, außer dass bei der ersten Methode die Menge des Giftes variiert werde und bei der zweiten Methode die Menge des Antikörpers. Um zu vergleichbaren Ergebnissen zu kommen, sei es für die Dauer des Versuchs unabdingbar,

42 Siehe

Paul Ehrlich, Hermann Kossel und August Wassermann, Über Gewinnung und Verwendung des Diphtherieheilserums, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 20 (1894), S. 353–355; Paul Ehrlich und Hermann Kossel, Über die Anwendung des Diphtherieantitoxins, in: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 17 (1894), S. 486–488; Paul Ehrlich und August Wassermann, Über die Gewinnung der Diphtherie-Antitoxine aus Blutserum und Milch immunisirter Thiere, in: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 18 (1894), S. 239–250; Paul Ehrlich, Über die Gewinnung, Werthbestimmung und Verwerthung des Diphtherieheilserums, in: Hygienische Rundschau 4 (1894), S. 1140–1152.

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konstantes Giftmaterial zu verwenden und gleiche Versuchsbedingungen zu gewährleisten.43 Da man das Antitoxin nicht rein gewinnen konnte, musste man die Wirkung über die relationale Beziehung zwischen Gift und Serum bemessen, die am Verhalten eines Versuchstieres abgelesen werden musste. Die Wertbestimmung wurde zunächst dahingehend ausgeführt, dass man einem Meerschweinchen als Bioindikator eine Mischung aus zu prüfendem Serum und einer entsprechenden Menge Standardgift injizierte und das Prüftier nach vier Tagen keinerlei Krankheitssymptome mehr zeigen durfte. Als Krankheitssymptome wurden Apathie, Fressunlust, Gewichtsabnahme oder eine Infiltration an der Einstichstelle gewertet. Bei diesem Verfahren kam es jedoch früh zu Unstimmigkeiten zwischen den Serumherstellern und der Prüfeinrichtung: Zum einen stellte sich das Problem, ob das Verhalten des als Bioindikator fungierenden Versuchstieres allein die zu prüfende Mischung von Gift und Serum spiegelte oder ob andere Begleitumstände wie die individuelle Konstitution, Applikationsform, jahreszeitliche Schwankungen oder Kreuzinfektionen das Ergebnis beeinträchtigten. Überdies stellte man fest, dass die Wirkung des Bakteriengiftes nicht, wie ursprünglich angenommen, konstant war, sondern sich über einen längeren Zeitraum abschwächte. Nachdem Zweifel an der Methode und Schwankungen in der Wirksamkeit die Serumtherapie als Ganzes infrage zu stellen drohten, wurde der Modus der Wertbestimmung in zweierlei Hinsicht verändert: Als Bezugsgröße wurde ein vakuumgetrocknetes Serum mit einer genau bestimmten Wirkung definiert, und als eineindeutiges Kriterium wurde der Tod des Prüftieres festgelegt: Nach Injektion einer Mischung aus Serum und der entsprechenden Menge Toxin sollte das Meerschweinchen nach genau vier Tagen sterben. Überdies konnte der Wert an Immunisierungseinheiten genauer bestimmt werden, denn starb das Tier früher als vier Tage, so war das Serum minderwertig; und lebte es noch am fünften Tag, so war das Serum höherwertig. Die Anzahl der Immunisierungseinheiten konnte man durch wiederholte Prüfung mit einem veränderten Giftstoff-Serum-Verhältnis weiter differenzieren und möglichst genau quantifizieren. Das praktische Problem, nämlich dass sich das als Standard definierte Diphtheriegift entgegen der ursprünglichen Annahme und Voraussetzung abschwächte, führte dazu, dass Ehrlich sich intensiv mit der Konstitution der Diphtherietoxine auseinandersetzte und diese in verschiedene Bestandteile aufteilte,44 um beispielsweise zu erklären, warum abgeschwächtes Gift in der Lage war, Serum zu binden. Auf Grundlage dieser Arbeiten und den zahllos wiederholten Prüfungen und praktischen Arbeiten zur Verbesserung der Wertbestimmung versuchte er in einem nächsten Schritt, die immunologischen Prozesse im Organismus mit der Seitenkettentheorie zu erklären. Klar war für ihn, dass sich vitale und pathologische Prozesse auf der mikrobiologischen Zellebene auf ihre (bio-) 43 Siehe

Ehrlich, Kossel & Wassermann, Gewinnung; Ehrlich & Brieger, Beiträge, S. 339. Paul Ehrlich, Zur Kenntnis der Antitoxinwirkung, in: Fortschritte der Medizin 15 (1897), S. 41–43; ders. Über die Constitution des Diphtheriegiftes, in: Deutsche medicinische Wochenschrift 24 (1898), S. 597–600. 44 Vgl.

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chemische Natur reduzieren lassen: So würden sich Gift und Serum bzw. Toxin und Antitoxin gegenseitig chemisch neutralisieren, vergleichbar einer chemischen Reaktion von Säure und Lauge.45 Die Vereinigung erfolge, so Ehrlich, in einem bestimmten Verhältnis, sodass ein Molekül Gift eine entsprechende Menge Antikörper binde. „Man wird annehmen müssen, dass diese Fähigkeit, Antikörper zu binden, auf Anwesenheit einer specifischen Atomgruppe des Giftkomplexes zurückzuführen ist, die zu einer bestimmten Atomgruppe des Antitoxinkomplexes eine maximale, specifische Verwandtschaft zeigt und sich an sie leicht einfügt, wie Schlüssel und Schloss nach einem bekannten Vergleich von Emil Fischer“ (siehe Text 12). Ehrlich nahm an, dass Körperzellen spezifische Fangarme hätten – später als Rezeptoren bezeichnet –, die lebensnotwendige Nahrungsstoffe an die Zelle bänden und Seitenketten bildeten. Die Bakteriengifte wiesen allerdings eine ähnliche molekulare Struktur wie die Nahrungsstoffe auf, sodass sich die Gifte ebenfalls mit der Zelle verbinden und die Rezeptoren besetzen könnten, was bei Belegung aller Rezeptoren zum Untergang der Zelle führe. Dieser Vorgang sei jedoch nicht rein chemisch, sondern biologisch regenerativ und die Zelle würde ersetzt. In höchster Alarmbereitschaft produziere der Körper neue Andockstellen bzw. Rezeptoren, allerdings ein Vielfaches der erforderlichen Menge, und nicht benötigte Antikörper wurden als „Seitenketten“ in die Blutbahn abgegeben, die wiederum das Antitoxin im Serum darstellten.46 Diese waren allerdings (vorerst) unsichtbar, nicht materiell nachweisbar, und ihre Existenz sollte durch aufwendige Tierversuchsreihen bewiesen werden. In der praxis- und empirisch orientierten Bakteriologie wurde die Theorie daher skeptisch aufgenommen und vielfach kritisiert, z. B. in Frankreich im Umfeld des Institut Pasteur von Ilja I. Metschnikow und Jules Bordet, in Deutschland von Hans Buchner und Max von Gruber sowie aus dem skandinavischen Raum von Svante Arrhenius, wodurch Ehrlich sich genötigt sah, die Theorie immer weiter auszubauen und auch die Konstitution der von ihm postulierten Seitenketten bzw. der Antikörper weiter auszudifferenzieren. Zwischen 1900 und 1903 veröffentlichte Ehrlich zusammen mit seinen Mitarbeitern, insbesondere mit Julius Morgenroth (1871–1924), Serien von Artikeln – Mitteilungen über Lysinwirkung, Haemosine, Komplemente und Amboceptorenwirkung – die er in den „Gesammelte Arbeiten zur Immunitätsforschung“ zusammenfasste.47 Aus der Vielzahl von Artikeln aus dieser Zeit werden hier nur die Croonian Lecture (Text 13), in der er frühe Ergebnisse einem internationalen Publikum vorstellte und auch die berühmten Zeichnungen zur Erklärung seiner Seitenketten entwarf, und am Ende dieser Periode ein zusammen mit Morgenroth verfasster Überblicksartikel, der im „Handbuch für patho-

45 Siehe

Ehrlich, Constitution. Text 12. Zur Seitenkettentheorie auch die Texte 13 und 14 und zeitgenössisch Aschoff, Seitenkettentheorie; und Römer, Seitenkettentheorie. Ferner Prüll, Part of a Scientific Master-Plan? ders. et al., Short History; sowie Silverstein, Paul Ehrlich’s Receptor Immunology. 47 Siehe Paul Ehrlich (Hg.), Gesammelte Arbeiten zur Immunitätsforschung, Berlin 1904. 46 Siehe

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gene Mikroorganismen“ erschien, abgedruckt (Text 14) und ergänzt um einen späteren Überblicksartikel im „Handbuch der Technik und Methodik der Immunitätsforschung“ (Text 15), in dem er den Begriff der Antigene und Antikörper maßgeblich definierte. In den Veröffentlichungen zur „Lysinwirkung“ und über „Haemolysine“ griff Ehrlich Arbeiten von Jules Bordet und Richard Pfeiffer zur Bakteriolyse auf. Die temperaturbedingte Aufhebung und Reaktivierung dieses Vorganges erklärte Ehrlich mit Bezug auf seine Seitenkettentheorie dahingehend, dass es eine verbindende Substanz zwischen dem Fremdkörper und dem Antikörper geben müsse. Insgesamt seien drei Körper beteiligt: neben dem Antigen zudem der durch die Immunisierung entstehende spezifische widerstandsfähige Wirkstoff, von Pfeiffer als Immunkörper bezeichnet, sowie ein hitzeempfindlicher unspezifischer Ergänzungsstoff, von Ehrlich als Additiv bzw. später als Komplement bezeichnet. Der Immunkörper wiederum müsse zwei haptophore Komplexe haben: zum einen mit einer größeren Verwandtschaft zum Antigen und zum anderen zu dem Komplement. Dieses bewirke fermentative Prozesse, vergleichbar mit denen der Verdauung, die die Bakterien oder Erythrozyten in kleinere Einheiten zerlegen und auflösen würden. Das Komplement werde während des Immunisierungsvorganges verbraucht; durch den Zusatz von „frischem“ Komplement könne man den Prozess allerdings fortsetzen. Durch die Immunisierung würde „die ganze Seitenkette mit ihren beiden functionirenden Gruppen“ produziert und freigesetzt, wobei die Gruppen völlig unterschiedlich seien, abhängig vom Erregungsreiz, vom Organismus, von der Ernährung oder von der Spezies.48 Den hitzestabilen, bei der Immunisierung entstehenden spezifischen Wirkstoff nannte Ehrlich Ambozeptor. In den weiteren Mitteilungen differenzierte er die Seitenketten weiter aus, daher führte Ehrlich in der dritten Mitteilung über Hämolysine den Begriff „Rezeptor“ anstelle von „Seitenkette“ ein.49 Dieser Begriff schien besser zur Gruppierung der Körper geeignet. Seitenketten, die an ihrer Oberfläche sowohl Komplemente als auch Immunkörper binden konnten (zwei Haft- bzw. haptophore Gruppen, die man sich als Andockstellen denken könne), hatte er zuvor als „Riesenmoleküle“ beschrieben. Nun unterschied Ehrlich Rezeptoren der I. Ordnung mit einer haptophoren Gruppe zur Bindung von Nahrungsmolekülen, der II. Ordnung mit einer haptophoren Gruppe zur Bindung von Nahrungsmolekülen und einer weiteren Gruppe zur Bindung von Komplementen (wie die oben beschriebenen Riesenmoleküle), sowie Rezeptoren der III. Ordnung, die eine haptophore Gruppe für das Nahrungsmolekül und noch eine zwei haptophore oder komplementophile Gruppe für die Verankerung der Komplemente hatte. Je nach Ordnung der Rezeptoren lieferten

48 Vgl.

Paul Ehrlich und Julius Morgenroth, Zur Theorie der Lysinwirkung, in: Berliner Klinische Wochenschrift 36 (1899), S. 6–9, das Zitat S. 9; dies., Ueber Hämolysine. Zweite Mitteilung, in: Berliner Klinische Wochenschrift 36 (1899), S. 481–486; Prüll et al., Short History; Silverstein, Paul Ehrlich’s Receptor Immunology. 49 Vgl. Paul Ehrlich und Julius Morgenroth: Ueber Hämolysine. Dritte Mitteilung, in: Berliner Klinische Wochenschrift 37 (1900), S. 453–458.

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diese nach Ehrlich Antitoxine, Anti-Komplemente, Anti-Fermente, Agglutinine, Präzipitine oder Ambozeptoren bzw. Immunkörper. Ehrlich ergänzte weitere Gruppen von Rezeptoren: Triceptoren oder Quatriceptoren konnten drei oder vier, Polyceptoren eine Vielzahl von Komplementen binden.50 Spätestens seit 1902 richtete Ehrlich seine Aufmerksamkeit auf andere Fragestellungen. Der Sammelband „Arbeiten zur Immunitätsforschung“ markiert insofern auch einen Wendepunkt in Ehrlichs wissenschaftlicher Arbeit. Intermezzo – Krebsforschung (ab 1901) Eine merkwürdige Sonderstellung nimmt auf den ersten Blick die experimentelle Krebsforschung in dem von Ehrlich geleiteten Institut für experimentelle Therapie ein. Für Ehrlich war die Krebsforschung insofern reizvoll, weil er abseits der definierten Aufgaben von Serumprüfung und Wertbestimmung durch die privaten Sonderzuwendungen experimentell forschen konnte. Auf den zweiten Blick ergaben sich über die Histopathologie und experimentelle bzw. spezielle Pathologie – Ehrlich hatte an der FriedrichWilhelms-Universität auf diesem Gebiet gelehrt – sowie die Bakteriologie zahlreiche Verbindungen und Anknüpfungspunkte zur experimentellen Krebsforschung. Bis in die 1890er-Jahre war die sogenannte Geschwulstforschung Domäne der Chirurgie und Histologie. In der Chirurgie standen therapeutische Aspekte im Vordergrund mit Fokus auf die (erfolgreiche) operative Entfernung von Geschwülsten, während die Histologie die Entstehung und Struktur der Gewebeveränderungen zu ergründen versuchte. Die Geschwulstforschung hatte sich bis dahin vor allem auf die Untersuchung „natürlicher“ Tumoren beschränkt, die „spontan“ bei Tier und Mensch auftraten und die man nach operativer Entfernung unter dem Mikroskop untersuchte.51 Mit Durchsetzung der Bakteriologie als Denkkollektiv in den 1890er-Jahren fanden die bakteriologischen Denkmodelle Eingang in die Krebsforschung: Ideen und Diskurse, Techniken und Methoden in der experimentellen Krebsforschung glichen denen in der Bakteriologie (bzw. waren denen entlehnt). So wurde diskutiert, ob Krebs durch Mikroorganismen ausgelöst werden könne oder ob Krebs übertragbar sei. Ähnlich wie in der Bakteriologie sprach man vom Überimpfen (von Tumoren) oder von ihrer „Virulenz“, d. h. der Geschwindigkeit und das Ausmaß des Tumorwachstums, wobei die unentwegte Passagierung und Fortpflanzung von Tumoren und Bakterienstämmen auf die Erhöhung von deren Malignität gerichtet war und die Standardisierung von Erkrankung zum Ziel hatte. Und im Sog der sich institutionalisierenden Bakteriologie wurde auch die Krebsforschung um die Jahrhundertwende intensiviert: Im Februar 1900 wurde

50 Siehe die Übersicht in Paul Th. Müller, Vorlesungen über Infektion und Immunität, 2. Aufl., Jena 1909, S. 257–261; Prüll: Part of a Scientific Masterplan? S. 345 f. 51 Siehe Ulrike Bode, Frühe histologische Krebsforschung in Deutschland, Frankreich und Österreich, Köln 1979.

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in Berlin das „Comité für Krebsforschung“ gegründet52 und 1901 entstand die privat finanzierte Abteilung für experimentelle Krebsforschung im Königlich Preußischen Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt. Wenig später folgte die Gründung ähnlicher Abteilungen in Berlin und Heidelberg53 und der „Zeitschrift für Krebsforschung“ (1903). Trotz der zahlreichen Gründungen und der Intensivierung der Forschung warnte Paul Ehrlich vor zu hohen Erwartungen an die Krebsforschung und der Hoffnung auf ein baldiges Heilmittel. Zunächst galt es, die Limitierung auf spontan auftretende Tumoren zu überwinden, da diese an die individuellen Bedingungen der Erkrankten geknüpft waren. Deshalb arbeitete man im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts im Institut für experimentelle Therapie an der Entwicklung eines geeigneten Tiermodells für die Krebsforschung und an methodischen Verbesserungen zur Fortzüchtung der Tumoren. Der Tumor wurde, vergleichbar mit einer Passage, von Tier zu Tier übertragen, d. h. den Labortieren wurde zu diesem Zweck das Gewebe oder Gewebebrei spontan gewachsener Tumoren unter die Haut injiziert oder angepflanzt, sodass das Tumorgewebe weiterwachsen oder sich an der Injektionsstelle ein Tumor herausbilden sollte, was anfangs nur selten gelang, bis der Däne Carl Olaf Jensen (1864–1934) 1903 eine Methode zur Übertragung von Tumoren entwickelt hatte und man diese Methode im Frankfurter Institut übernahm. Seitdem wurden Tumoren – analog zu Krankheitserregern in der Bakteriologie – gezüchtet, um systematisch die Struktur und Ursache, das Wesen und die Ausbreitung von Tumoren zu verstehen, um die Zellkulturen in ihrem Wachstum und die Morphologie der verschiedenen Geschwulstformen zu vergleichen oder Veränderungen der Virulenz von

52 Initiatoren

waren unter anderen der Bakteriologe Martin Kirchner (1854–1925), Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium, und Ernst Viktor von Leyden (1832–1910), Direktor der I. Medizinischen Klinik der Charité. Das Comité wurde mehrfach umbenannt und firmierte ab 1911 als „Deutsches Zentralkomitee zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit e. V.“ (kurz: Komitee für Krebsforschung). Das Komitee sollte eine breite Öffentlichkeit für die Anliegen der Krebsforschung herstellen und finanzielle Ressourcen mobilisieren, siehe Thorsten Kohl, Ernst von Leyden und die Institutionalisierung der Krebsforschung zwischen 1896 und 1911, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 24 (2016), S. 39–60. 53 In Berlin wurde 1903 an der von Leyden geführten I. Medizinischen Klinik der Charité eine Abteilung für Krebsforschung eingerichtet, an der unter anderen Ferdinand Blumenthal und Leonor Michaelis, ein früherer Mitarbeiter Ehrlichs, beschäftigt waren. 1907 wurde die Einrichtung verselbständigt und 1910 in „Königliches Institut für Krebsforschung“ umbenannt, die fortan Leydens Mitarbeiter Georg Klemperer leitete. In Heidelberg entstand 1906 ebenfalls auf Grundlage privater Spenden das „Institut für experimentelle Krebsforschung“, das – unter der Leitung von Vinzenz Czerny (1842–1916) – im Rahmen der ersten internationalen Konferenz für Krebsforschung eingeweiht wurde, siehe Birgit Hellmann-Mersch, Institutionen zur Krebsforschung und Krebsbekämpfung in Deutschland. Historischer Überblick und Analyse, Diss. med. Aachen, 1994; Gustav Wagner und Andrea Mauerberger, Krebsforschung in Deutschland. Vorgeschichte und Geschichte des Deutschen Krebsforschungszentrums, Berlin 1989; und Kohl, Ernst von Leyden.

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Tumoren über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Darüber hinaus wurde im kontrollierten Versuch bzw. unter Laborbedingungen die Wirkung von Chemikalien oder Umweltbedingungen wie Hitze, Nahrung und Hunger auf den Tumor und die Veränderungen im Wachstum (oder Niedergang) beobachtet.54 In diesem Kontext waren Ehrlichs Arbeiten zur experimentellen Krebsforschung angesiedelt, wenngleich es schwierig ist, einen „klassischen“ Text zu benennen. Abgedruckt wird der erste grundlegende Text „Experimentelle Carcinomstudien an Mäusen“ (siehe Text 16), den Ehrlich prominent 1906 im ersten Heft der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Arbeiten aus dem Königlichen Institut für Experimentelle Therapie zu Frankfurt am Main“ publiziert hat. Darüber hinaus verknüpfte Ehrlich die Krebsforschung mit der Seitenkettentheorie, um die Entstehung von Krebs, das Wachsen von Tumoren oder die widersprüchliche Beobachtung zu erklären, dass sich bei Mehrfachimpfungen nur der erste Tumor entwickelte oder nach der chirurgischen Entfernung maligner Tumoren keine Besserung eintrat, sondern es anschließend zu einer stürmischen Entwicklung von Zweittumoren bzw. Metastasen kam. Und Ehrlichs Mitarbeiter Hugo Apolant hatte bei der Transplantation von Tumoren beobachtet, dass bei unter Nährstoffmangel leidenden Tieren die Transplantation nicht oder nur schwer gelang und das Wachstum stark beeinträchtigt war, was Ehrlich als athreptische Immunität bezeichnete, abgeleitet vom griechischen threpsis (Ernährung) bzw. a-threpsis als Nährstoffmangel. Mit Bezug auf die Seitenkettentheorie erklärte Ehrlich, dass Körper- wie Krebszellen die gleichen zur Aufnahme der Nahrung nötigen Rezeptoren (Nutrizeptoren) hätten, jedoch sei die Affinität der Körper- und Krebszellen, lebensnotwendige Stoffe zu binden, unterschiedlich und die Fähigkeit bei Tumorzellen stärker ausgeprägt als bei Körperzellen. Wenn dem Körper nun Nahrung entzogen würde, könne sich auch der Tumor nur ungenügend entwickeln, ebenso wie ein Primärtumor bei einer Mehrfachimpfung dem injizierten Sekundärtumor (oder Metastasen) aufgrund einer stärker ausgeprägten Affinität die Nahrung entzöge und sich diese erst entwickelten, nachdem der Primärtumor entfernt worden war.55 Der Nobelvortrag über die „Partialfunktionen der Zelle“ (Text 18) und die drei Vorträge der Harben Lectures56 machen deutlich, wie eng Immunologie und Seitenketten-

54 Siehe

Hugo Apolant, Ergebnisse der experimentellen Geschwulstforschung (mit Ausschluß der athrepischen Immunität), in: ders. et al. (Hrg.), Paul Ehrlich, S. 361–378; Janina Hurwitz, Paul Ehrlich als Krebsforscher, Diss. med. Universität Zürich 1962. 55 Siehe Paul Ehrlich, Experimentelle Studien an Mäusetumoren, in: Zeitschrift für Krebsforschung 5 (1907), S. 59–81; ders., Über athreptische Funktionen (2. Harben Lecture, Original im Journal of the Royal Institute of Public Health 15 [1907], Heft 7), in: ders (Hg.), Beiträge zur experimentellen Pathologie und Chemotherapie, Leipzig 1909, S. 117–164 (Text 17); Georg Schöne, Athreptische Immunität – die Bedeutung des Gedankens der Athrepsie für die Pathologie und Biologie des Wachstums, der Geschwülste und der Infektionskrankheiten, in: Hugo Apolant et al., Paul Ehrlich, S. 379–407; Hurwitz, Paul Ehrlich als Krebsforscher. 56 Siehe Paul Ehrlich, Experimental Researches on Specific Therapeutics (The Harben Lectures for 1907 of the Royal Institute of Public Health), London 1908.

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theorie, Krebsforschung und Chemotherapie unter biochemischen Gesichtspunkten miteinander verknüpft waren, wenngleich sich Ehrlichs Interesse ab 1903 vornehmlich auf chemotherapeutische Themen verlagerte. 1898/1904 bis 1915 – Farbenchemie, Seitenketten- und Rezeptortheorie, Chemotherapie Bei der Verwendung des Diphtherieserums kam es immer wieder zu Nebenwirkungen, meist allergische und anaphylaktische Reaktionen, die weniger eine Folge der Antikörper als vielmehr des im Serum enthaltenen Eiweißes waren. Infolgedessen versuchten die Hersteller zunächst, immer hochwertigeres Serum herzustellen, um den Anteil der Serumflüssigkeit zu reduzieren. Nach Ehrlich müsse das Ziel sein, das Antitoxin chemisch rein – ohne das störende Serum – darzustellen: Das Antitoxin stelle eine Zauberkugel dar, die ideal die Bakteriengifte neutralisiere ohne den Organismus zu schädigen. Das Ideal dieser Zauberkugel vor Augen setzte Ehrlich, anknüpfend an die oben beschriebenen Arbeiten zur therapeutischen Wirkung des Methylenblau bei Malaria (Text 8), seine Arbeiten zur Farbenchemie Ende der 1890er Jahre fort und baute diese systematisch aus, um die therapeutische Wirkung von Farbstoffen auf durch parasitäre Erreger ausgelöste Erkrankungen zu prüfen. Die Koordination der Beschaffung und der Modifikation der Farbstoffe und deren klinischer Prüfung wurde durch den Umzug nach Frankfurt 1899 unterbrochen und erwies sich zudem als problematisch, denn bis 1903 musste er sich darauf beschränken, verwandte und befreundete Chemiker oder Farbstoffhersteller um neue oder um die chemische Modifikation bekannter Farbstoffe zu bitten, die er dann in vitro und in vivo auf ihre therapeutische Wirkung prüfte und, sofern die Farbstoffe eine positive Wirkung zeigten, an befreundete Ärzte weiterreichte mit der Bitte, die therapeutische Wirkung und Dosis klinisch zu prüfen sowie auftretende Nebenwirkungen zu dokumentieren. Mit der Einstellung eines Chemikers 1903 und seit Gründung des Georg-Speyer-Hauses 1906 war man unabhängig von externen Kooperationspartnern in der Lage, Farbstoffe und Arsenikalien zu synthetisieren und die Präparate in einer gesonderten Abteilung auf ihre therapeutische und toxikologische Wirkung zu prüfen. Wie bereits einleitend beschrieben, erwiesen sich aus der Vielzahl synthetisierter Substanzen nur einige Hundert Präparate als ausreichend stabil und in der Lage, Krankheitserreger abzutöten, ohne den infizierten Organismus selbst schwer zu schädigen. Und nur wenige Präparate entsprachen Ehrlichs Ideal einer Zauberkugel: Zwar gelang es, den Erreger zu töten, gleichzeitig nahm aber auch der infizierte Organismus Schaden oder starb; zeigten die Versuchstiere allerdings keine Nebenwirkungen, so war auch der Erreger nicht endgültig vernichtet und es entwickelten sich Resistenzen gegen das Präparat. Bei einigen Präparaten, wie dem Arsenophenylglycin (418), traten die Nebenwirkungen erst bei der klinisch-therapeutischen Prüfung auf. Erst mit dem 606. Präparat gelang es Ehrlich und seinen Mitarbeitern, ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen, das sich auch in der klinischen Prüfung bewährte und später, wie hinlänglich bekannt, als Salvarsan vermarktet wurde.

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Auch wenn die systematische Entwicklung eines wirksamen Chemotherapeutikums in früheren Überblickswerken und in den „Gesammelten Arbeiten“ als Band 3 getrennt von Ehrlichs vorherigen Forschungen dargestellt wurde, so soll zusammenfassend die Kontinuität und das Verbindende seiner Forschung betont werden, auch wenn er sich jetzt wieder anorganischen Stoffen, hier der Gruppe der Azofarbstoffe und später der Arsenikalien, zuwandte. Zunächst ist das Leitmotiv seiner Arbeit, die chemische Grundlage vitaler Prozesse, ein verbindendes Element seiner Forschung. Von der chemischen Komposition der Bakteriengifte war es, im Rahmen seiner Forschungen zur Seitenkettentheorie und aus biochemischer Perspektive, nur noch ein gradueller Schritt zu der Frage, welche chemischen Substanzen die körpereigenen Abwehrstoffe kopieren oder imitieren oder die Bakteriengifte zumindest neutralisieren könnten. Die Anknüpfungspunkte zeigen sich auch über die Vorträge der sogenannten Harben Lectures, die Ehrlich 1907 im Royal Institute of Public Health in London hielt und die von der Immunität (Vortrag 1) über „athreptische Funktionen“ (Vortrag 2, siehe Text 17) bis hin zu den „Chemotherapeutischen Trypanosomenstudien“ (Vortrag 3) eine Serie bilden, die unter dem Titel: „Experimental Researches on Specific Therapeutics“ vereinigt wurden.57 Die aufeinander bezogene Forschung wird gleichfalls in Ehrlichs Nobel-Vortrag deutlich, in dem er mit den Bestandteilen des Diphtherietoxins und der Definition der die Giftstoffe verankernden Zellkomplexe als (Gift-)Rezeptoren beginnt und einleitend den Prozess der Verankerung und die körpereigenen Reaktionen wie in dem Artikel zur Wertbestimmung (Text 12) beschreibt. Verallgemeinernd macht Ehrlich deutlich, dass diese Prozesse für unterschiedlichste Arten von Giftstoffen gelten (siehe hierzu insbesondere auch Text 17) und sich übertragen lassen: Als Reaktion auf einen spezifischen Giftstoff produziert der Organismus in einem Prozess der Hyperregeneration entsprechende spezifische Antikörper. Doch viel schwieriger sei „die Frage, ob denn auch für die große Zahl der wirklichen Arzneimittel in der Zelle solche präformierten Chemozeptoren anzunehmen sind.“ Und diese Frage führe ihn wieder „in das wichtige Gebiet des Zusammenhangs zwischen Konstitution und Wirkung“ (Text 18, S. 231), woraufhin Ehrlich seine chemotherapeutischen Versuche umreißt, die von der Frage ausgehen: „besitzen die Trypanosomen in ihrem Protoplasma bestimmte Gruppierungen, die die Fesselung bestimmter chemischer Substanzen bedingen“ (S. 232) – und die es zu finden gilt. Das weitere Vorgehen berichtet Ehrlich dann zwei Jahre später in den „Schlußbemerkungen“ (Text 20). Doch über diese inhaltlichen Verbindungen stellte die Arbeitsweise, die Organisation und das Vorgehen bei der Entwicklung chemischer Präparate und deren klinischer Erprobung ebenfalls eine Verbindung zu biologischen Heilmitteln wie dem Diphtherieserum dar. Die „Geduld“, von der Ehrlich in seinem biografischen Rückblick sprach und die er als Student 57 Siehe

Paul Ehrlich, Experimental Researches. Aus dieser Serie wird hier nur der Text Athreptischen Funktionen (der Zelle) abgedruckt, da die Themen des ersten (Immunität) und dritten (Chemotherapeutische Trypanosomenstudien) Vortrags bereits durch andere Texte repräsentiert sind.

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mühsam erlernen musste und die gleichfalls bei der sich über ein Jahr erstreckende Entwicklung des Diphtherieserums und eines sicheren Verfahrens zur Wertbestimmung erforderlich war, blieb bei der Entwicklung des Salvarsans eine unabdingbare Voraussetzung. Und die Erfahrungen, die er bei der klinischen Erprobung des Diphtherieserums gesammelt hatte – die notwendige Abfolge von In-vitro-Versuchen, umfangreichen Tierversuchen, der dosologischen Prüfung und klinisch-therapeutischen Prüfung – dienten als Blaupause bei der Entwicklung und Erprobung des Salvarsans. In der Periode zwischen 1902 bis 1914 hat Ehrlich zahlreiche Artikel veröffentlicht – neben den zuvor beschriebenen Themen vor allem auf dem Gebiet der Chemotherapie, die von Fred Himmelweit und Martha Marquardt als dritter Band der Gesammelten Arbeiten zusammengefasst wurden. Die Publikationen lassen sich in drei Kategorien einordnen: Zunächst veröffentlichte Ehrlich zusammen mit seinen Mitarbeitern der Chemischen Abteilung des Georg Speyer Hauses Artikel, zumeist in den Berichten der Chemischen Gesellschaft, zur Synthese neuer chemischer Präparate.58 Eine zweite Kategorie betrifft Studien, die über die fortgesetzten Versuche berichten, d. h. nach der Zusendung (meist Farbstoffe durch die chemische Industrie) oder Entwicklung (vor allem ab 1904) eines Präparates wurde dessen Wirkung in vitro an Bakterienkulturen und in vivo an Versuchstieren, die man zuvor mit einem spezifischen Krankheitserreger infiziert hatte, getestet. Falls klinische Studien durchgeführt wurden, fasste Ehrlich die Ergebnisse kurz zusammen. Die ganze Bandbreite dieser Arbeiten, die schließlich zum Erfolg des Präparates 606 führten, stellte Ehrlich in den „Schlußbemerkungen“ des von ihm mit herausgegebenen Bandes „Die experimentelle Chemotherapie der Spirillosen“ dar, der aus diesem Grund auch als letzter Text abgedruckt ist (Text 20). In den „Schlußbemerkungen“ spannt Ehrlich selbst den Bogen von Heubel und seinen eigenen Überlegungen zu der „Art und Weise, in der sich Arzneimittel im Körper verteilen“ und dem Zusammenhang zwischen „Konstitution [chemischer Substanzen] und physiologischer Wirkung“, und er legt die Grundsätze der Chemotherapie dar: das „corpora non agunt nisi fixata“ und die Vorsetzung wirksamer (und nebenwirkungsarmer oder im Idealfall -freier) Arzneimittel, die sowohl organotrop und parasitotorop sein müssen, sowie später das „Therapia sterilisans magna“ (siehe auch die Schlusssätze in Text 18 und 20). Die „Schlußbemerkungen“ historisieren Ehrlichs eigenes Vorgehen: Die beschreiben die Synthese, (vermeintliche) Zusammensetzung, chemische Formel und Eigenschaften des Dioxydiamidoarsenobenzol, Vorüberlegungen und das Vorgehen Ehrlichs und seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei der systematischen Suche nach einem Heilmittel gegen Trypanosomenerkrankungen und die Übertragung des Vorgehens auf Spirillosen, die klinischen Versuche zur Erprobung des Präparates sowie dessen Dosierung, und er diskutiert ausführlich die bei der klinischen Prüfung auftretenden Nebenwirkungen und Todesfälle, schließlich wagt er einen Ausblick auf noch ausstehende Arbeiten und mögliche zukünftige Anwendungsgebiete. 58 Siehe zum Beispiel die Publikationen Nr. 11, 17, 27 oder 33 in den Gesammelten Arbeiten Ehrlichs (Bd. 3: Chemotherapie) zusammen mit Alfred Bertheim.

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In weiteren Texten und „Schlußbemerkungen“ in den „Abhandlungen über Salvarsan“ fasste Ehrlich vor allem spätere Berichte über die mit Salvarsan gemachten klinischen Erfahrungen, Heilerfolge als auch nicht intendierte Wirkungen zusammen, ordnete diese ein oder er reagierte auf Kritiker, und er berichtete über weitere (veterinär-)medizinische Anwendungen und Verbesserungen des Präparates. In einer dritten Kategorie von Texten erläuterte Ehrlich sein Verständnis von Chemotherapie. In Artikeln „Über moderne Chemotherapie“, „Über den jetzigen Stand der Chemotherapie“ und „Allgemeines über Chemotherapie“ erläuterte er am Beispiel der eigenen Versuche die wesentlichen Grundsätze, und er differenzierte die Arten von Chemozeptoren und ihre Eigenschaften weiter aus. Stellvertretend für diese konzeptionellen Texte wurde der mit seinem Mitarbeiter Richard Gonder (1881–1917) veröffentliche Handbuchartikel über „Experimentelle Chemotherapie“ abgedruckt (Text 19). Der 1914 im „Handbuch der pathogenen Protozoen“ publizierte Text (ein ähnlicher Text findet sich auch in der zweiten Auflage des „Handbuch der pathogenen Mikroorganismen“) dekliniert die Grundsätze der Chemotherapie, wie sie in den „Schlußbemerkungen“ eher beiläufig abgehandelt werden, explizit durch. Er macht auch deutlich, dass sich die Chemotherapie binnen kurzer Zeit etabliert hat – denn in der ersten Auflage des „Handbuchs der pathogenen Mikroorganismen“ sucht man einen Eintrag hierzu vergeblich. Weiterhin fasst der Handbuchartikel am Ende von Ehrlichs wissenschaftlicher Tätigkeit (und Leben) den Kenntnisstand auf diesem neuen Gebiet zusammen und vermittelt einen Überblick über die experimentelle Chemotherapie. Der Koautor Gonder verweist außerdem auf die Vielzahl von Mitarbeitern, deren Unterstützung und Zuarbeit für Ehrlich oftmals unerlässlich war, um neben der Organisationstätigkeit als Institutsleiter überhaupt publizieren zu können. Die Publikationen nach der Jahrhundertwende und die Rahmenbedingungen ihrer Veröffentlichung unterscheiden sich in gewisser Weise von den vorherigen. Ehrlich beschreibt weniger eigene Experimente und Forschungen, sondern er veröffentlichte Überblicks- und Handbuchbeiträge, konzeptionelle und theoretische Überlegungen, fasste die wissenschaftlichen Arbeiten seiner Mitarbeiter zusammen und ordnete diese in das theoretische Gerüst der Seitenkettentheorie ein oder differenzierte diese auf Grundlage neuerer Forschungen (oder der Kritik daran) aus. Den Publikationen zur Hämolyse bzw. zur Seitenkettentheorie, zur Krebsforschung und zur Entwicklung eines chemischen Präparates zur Heilung von Trypanosomen-Erkrankungen, denen meist aufwendige Experimente vorausgingen, sind oft Gemeinschaftspublikationen von Ehrlich und einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin – hervorzuheben sind besonders Julius Morgenroth, Hans Sachs (1877–1945), Kiyoshi Shiga (1871–1957), Alfred Bertheim oder Sahashiro Hata, der unter Ehrlichs Anleitung die experimentellen Tätigkeiten durchgeführt und mit dem er den Band zur Chemotherapie der Spirillosen publiziert hat, und nicht zuletzt Richard Gonder,59 mit dem er zwei Handbuchartikel zur Chemotherapie verfasste. 59 Richard

Gonder starb 1917 in Folge einer Laborinfektion, die er sich bei experimentellen Studien über die Weil’sche Krankheit zugezogen hatte, siehe den Nachruf in dem Bericht der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft in Frankfurt am Main 1919, S. 124 f.

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Die eher konzeptionellen Artikel markieren nicht nur einen Wandel von der Praxis zur Theorie, sondern sie machen deutlich, dass Ehrlich in dieser Zeit weniger experimentell forschte als vielmehr experimentelle Forschung organisiert und orchestriert hat, wie die Pflege von Beziehungen zu nationalen und internationalen wissenschaftlichen Kollegen und Institutionen sowie zur Medizinalverwaltung Preußens und des Reiches, die Mobilisierung finanzieller Ressourcen, die Verwaltung klinischer Versuche und die Erledigung von Aufgaben, die im Rahmen der staatlichen Serumprüfung anfielen. Mit der zunehmenden Forschungsorganisation wurden allerdings auch die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wie sie ausführlich im ersten Teil für diese Zeit geschildert wurden, immer wichtiger. Mit der Entwicklung des Salvarsans wähnte Ehrlich sich selbst am Ziel seiner Forschung – in diesem Sinne wären die Schlussbemerkungen nicht nur als abschließende Bemerkungen (50 Seiten!) am Ende eines Buches, sondern auch am Ende eines Forschungs- und Lebensprojektes zu verstehen – „der Abschluß einer durch viele Jahre fortgesetzten Richtung“ (S. 114). Dieser „Abschluß“ – aber auch und besonders der Wandel von der Praxis zur Theorie – verändert auch die Forschungsperspektive bzw. Ehrlichs Perspektive auf seine Forschung. Wurde Ehrlichs wissenschaftliche Arbeit eingangs so charakterisiert, dass sich über die praktische und experimentelle Forschung seine Ideen und Konzepte zum Ablauf immunologischer Prozesse und zur Seitenkettentheorie über Jahre fortentwickelt haben, so ist der Blick nun zurück gerichtet – mit Heubel bis in seine frühe Studienzeit – in dem Bemühen, die eigene Arbeit zu deuten bzw. die Deutungshoheit zu gewinnen und ehemals verschlungene Wege zu begradigen. Auch nach Ehrlichs Tod verlief die Rezeption seiner Arbeit (und die Erinnerung an sein Leben) in Schlangenlinien. Lange Zeit waren Ehrlichs Arbeiten in Vergessenheit geraten oder standen hinter denen seiner Zeitgenossen Robert Koch oder Emil von Behring zurück. Dies war schon zu Lebzeiten so: Er genoss außerhalb Deutschlands, wie z. B. in Skandinavien, Großbritannien oder den USA, größeres Ansehen als in seinem Heimatland. In die öffentlichen Diskussionen zur Wirksamkeit des Salvarsans oder in Prioritätsstreitigkeiten mischten sich immer wieder antisemitische Untertöne. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges verkümmerten seine internationalen Netzwerke, und nach seinem Tod verblassten auch die Erinnerungen an ihn. Nach 1933 bemühten sich die Nationalsozialisten, seine wissenschaftlichen Verdienste zu schmälern bzw. das wissenschaftliche Erbe Ehrlichs aus der Erinnerung zu tilgen. Seine Witwe Hedwig Ehrlich, seine Töchter Marianne Landau und Stefanie Schwerin und ihre Familien waren zur Emigration gezwungen, wollten sie einem Schicksal ähnlich dem seines Freundes Arthur von Weinberg, der 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt starb, entgehen. Nach der Entwicklung des Salvarsans 1910 geriet die Entwicklung weiterer Chemotherapeutika gegen Infektionskrankheiten zunächst ins Stocken. Die Wirksamkeit der von ihm postulierten Seitenketten- bzw. der Rezeptortheorie war lange umstritten und setzte sich erst in den 1960er-Jahren mit Raymond P. Ahlquists (1914–1983) Arbeiten

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zu Adrenozeptoren durch, die wiederum Forschungen zur Entwicklung weiterer Arzneimittel stimulierten.60 Auf dem Symposium zum hundertsten Todestag Ehrlichs im November 2015 in Frankfurt am Main hoben die Referenten Ehrlichs Bedeutung für gegenwärtige Forschungsthemen hervor: zum Verständnis von allergischen Reaktionen oder Autoimmunerkrankungen, für die Entwicklung einer Immuntherapie und der personalisierten Medizin (zum Beispiel bei Krebserkrankungen).61 Doch abgesehen von Ehrlichs Bedeutung für spezifische Forschungsthemen und anlassbezogener Bedeutungszuweisung ist Ehrlich heutzutage omnipräsent in der allgemein üblichen Praxis, bei verschiedenen Leiden oder Erkrankungen ein chemotherapeutisches Arzneimittel zu verschreiben oder einzunehmen. Chemotherapie ist dabei nicht im heute üblichen engeren Verständnis als „Chemotherapie“ bei Krebserkrankungen zu verstehen, sondern bezieht sich ursprünglich auf ein allgemeines Arzneimittel, das auf Grundlage chemischer Stoffe (systematisch) entwickelt wurde.62 Insbesondere die Forschungen zum Verständnis der gegenwärtigen Corona-Pandemie, zum Ablauf immunologischer Prozesse nach einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 – Covid-19 und zur Bekämpfung des Virus, stehen auf dem Fundament von Ehrlichs Arbeiten. Auf Grundlage der Rezeptortheorie wird derzeit davon ausgegangen, dass das Coronavirus SARS-CoV-2 das Enzym ACE2 als Rezeptor verwendet, um in die Körperzellen einzudringen.63 Der Bezug zu Ehrlich wird vor allem deutlich in der ikonografischen Darstellung des Coronavirus als kugelförmigem Körper, an dessen Außenhülle sogenannte Spikes haften, die quasi an den ACE2-Rezeptor der Wirtszelle andocken – und die wie eine moderne Version der von Ehrlich imaginierten Fangarme der Körperzellen anmuten. Schließlich verweist die früh angedachte Behandlung Schwerkranker mit dem Blutserum von genesenen Patienten, deren Antikörper einen passiven Impfschutz bieten,64 bis zur Entwicklung eines geeigneten (aktiven) Impfstoffes

60 Siehe

Prüll et al., Short History. das Programm zum 100. Todestag von Paul Ehrlich: „Scientific Symposium Paul Ehrlich 2015: From Salvarsan to Personalised Medicine“. Das Symposium wurde federführend vom PaulEhrlich-Institut ausgerichtet, Informationen auf deren Homepage https://www.pei.de. 62 Darüber hinaus war Salvarsan, entgegen der heutigen Verengung von Antibiotika allein in Bezug auf Penicillin, das erste systematisch entwickelte Antibiotikum – also ein gegen lebende Krankheitserreger gerichteter Wirkstoff. 63 Wegen der sich rapide verändernden Forschungslage sei hier auf die Erklärungen des Robert Koch-Instituts verwiesen: SARS-CoV2 Steckbrief zur Corona-Virus-Krankheit-2019 (COVID19), Stand 4.9.2020 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief. html). 64 Siehe mit weiteren Hinweisen beispielsweise Joachim Müller-Kung, Die Corona-Feuerwehr winkt mit der Antikörperspende, in: FAZ am 29.3.2020; Jonathan Abraham, Passive Antibody Therapy in COVID 19, in: Nature Immunology 20, Juli 2020, S. 401–403. 61 Siehe

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gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 auf Behrings und Ehrlichs Entwicklung und Herstellung des Diphtherieheilserums.65 Ehrlichs Arbeiten bieten also mehr denn je Anknüpfungspunkte an aktuelle Forschungsfragen.

Wissenschaftliche Pfade zwischen Praxis und Theorie, von Histologie zu Chemotherapie Die ausgewählten Texte sollen zum einen in Ehrlichs wissenschaftliche Arbeit einführen und einen Überblick gewähren. Die Artikel machen zudem deutlich, dass es keinen „Hauptweg“ und davon abweichende Nebenpfade Ehrlichscher Forschung gab, wie dies Ehrlich selbst und sein Biograf Venzmer suggerieren, sondern Ehrlich sich auf verschlungenen Wegen suchend fortbewegte: Eine Arbeit wuchs auf den Ergebnissen und Erfahrungen vorheriger Forschungen und setzte diese fort, neue Forschungsergebnisse warfen neue Fragen auf. Deshalb waren die Arbeiten nie abgeschlossen und überlappten sich: Ehrlich setzte die Forschungen zu Bluterkrankungen und Farbstoffen auch in den 1890er-Jahren fort, das anschauliche Bild der Seitenkette zur Erklärung einer Affinität chemischer Stoffe 1885 taucht mehr als zehn Jahre später wieder und wieder auf. Nur im Rückblick ergibt sich das Bild eines gradlinigen Weges. Ein wesentliches Merkmal seines Vorgehens war, um im Bild des Wegs zu bleiben, dass er geduldig Schritt für Schritt den Weg fortsetzte – auch wenn die Pfade schmal und mühsam waren, bergauf oder durch kaum erschlossenes Gelände führten. Als Kompass diente ihm das Leitmotiv, dass vitale Prozesse auf chemischen Grundlagen basieren. Weiterhin soll die große Bedeutung der „Praxis“ für Ehrlichs Arbeit hervorgehoben werden. Ehrlich arbeitete aus der Praxis heraus und baute auf Grundlage der praktischen Erfahrungen und empirischen Forschungsergebnisse seine Theorien auf – und nicht umgekehrt, wie dies die „Hauptweg-Narration“ suggeriert. Insbesondere in den frühen Texten wird dieser Praxisbezug deutlich, während Ehrlich nach 1896/99 und 1906 zunehmend Forschung organisierte, was wiederum auf die zahlreichen Forschungskooperationen verweist. Schließlich zeichneten sich Ehrlichs Arbeiten – wie die immunologische Forschung heute – nicht nur durch Interdisziplinarität aus, sondern auch durch die Verbindung von Theorie und Praxis und die Kooperation zwischen Forschung und Industrie, die Übertragung vom Labor auf das Krankenbett aus.

65 Wie

auch die aktuellen Quarantäne-Maßnahmen wie die Isolierung von Kranken (inklusive der Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der Quarantäne), Desinfektions- und Hygienemaßnahmen, die Schließung von Märkten bzw. das Zurückfahren des öffentlichen Lebens denen im 1900 verabschiedeten Reichsseuchengesetz gleichen.

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Abb. 2.2 Paul Ehrlich in seinem Arbeitszimmer, ca. 1908, umgeben von Akten und Sonderdrucken (ursprünglich publiziert in Bäumler, Paul Ehrlich). (Mit freundlicher Genehmigung des Medizinhistorischen Museums der Charité in Berlin)

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Textauswahl Axel C. Hüntelmann

Paul Ehrlich, Beiträge zur Kenntniss der Anilinfärbung und ihrer Verwendung in der mikroskopischen Technik, in: Archiv für mikroskopische Anatomie 13 (1877), S. 263– 278. Paul Ehrlich, Methodologische Beiträge zur Physiologie und Pathologie der verschiedenen Formen der Leukocyten, in: Zeitschrift für klinische Medizin 1 (1880), S. 553–560. Paul Ehrlich, Zur Physiologie und Pathologie der Blutscheiben, in: Charité-Annalen 10 (1885), S. 136–146. Paul Ehrlich, Über die Färbung der Tuberkelbazillen, in: Deutsche Medicinische Wochenschrift 8 (1882), S. 269–270. Paul Ehrlich, Beiträge zur Theorie der Bacillenfärbung, in: Charité-Annalen 11 (1886), S. 123–138. Paul Ehrlich, Ueber eine neue Harnprobe, in: Charité-Annalen 8 (1883), S. 140–166. Paul Ehrlich, Über die Methylenblaureaction der lebenden Nervensubstanz, in: Deutsche Medicinische Wochenschrift 12 (1886), S. 49–52. Paul Ehrlich und Arthur Leppmann, Ueber schmerzstillende Wirkung des Methylenblau, in: Deutsche medicinische Wochenschrift 16 (1890), S. 493–494. Paul Ehrlich, Experimentelle Untersuchungen über Immunität. I. Über Ricin, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 17 (1891), S. 976–979. Paul Ehrlich, Experimentelle Untersuchungen über Immunität. II. Über Abrin, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 17 (1891), S. 1218–1219.

A. C. Hüntelmann (*) Charité - Universitätsmedizin Berlin, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 A. C. Hüntelmann (Hrsg.), Paul Ehrlich - Ein Lebensweg von der Histologie über die Immunologie zur Chemotherapie, Klassische Texte der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62155-4_3

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Paul Ehrlich, Über Immunität durch Vererbung und Säugung, in: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 12 (1892), S. 183–203. Paul Ehrlich, Die Wertbemessung des Diphtherieheilserums und deren theoretische Grundlagen, in: Klinisches Jahrbuch 6 (1897), S. 299–326. Paul Ehrlich, On immunity with special reference to cell life. Croonian lecture, in: Proceedings of the Royal Society of London 66 (1900), S. 424–448. Paul Ehrlich und Julius Morgenroth, Wirkung und Entstehung der aktiven Stoffe im Serum nach der Seitenkettentheorie, in: Handbuch der pathogenen Mikroorganismen: mit Einschluß der Immunitätslehre und Epidemiologie sowie der mikrobiologischen Diagnostik und Technik, Bd. 1, hrsg. von Willhelm Kolle, Jena 1903, S. 430–451. Paul Ehrlich, Über Antigene und Antikörper, in: Handbuch der Technik und Methodik der Immunitätsforschung. Bd. 1: Antigene, hrsg. von Rudolf Kraus und A. Böhme, Jena 1908, S. 1–10. Paul Ehrlich, Experimentelle Carcinomstudien an Mäusen, in: Arbeiten aus dem Königlichen Institut für Experimentelle Therapie zu Frankfurt am Main 1 (1906), S. 75–102. Paul Ehrlich, Über athreptische Funktionen (2. Harben-Lecture 1907), in: ders. (Hg.), Beiträge zur experimentellen Pathologie und Chemotherapie, Leipzig 1909, S. 50–96. Paul Ehrlich, Über Partialfunktionen der Zelle. Nobel-Vortrag, gehalten am 11. Dezember 1908 zu Stockholm, in: ders. (Hrsg.), Beiträge zur experimentellen Pathologie und Chemotherapie, Leipzig 1909, S. 203–247. Paul Ehrlich und Richard Gonder, Experimentelle Chemotherapie, in: Handbuch der pathogenen Protozoen, hrsg. von Stanislaus von Prowazek, Leipzig 1914, S. 752–779. Paul Ehrlich, Schlußbemerkungen, in: ders. und Sahachiro Hata, Die experimentelle Chemotherapie der Spirillosen (Syphilis, Rückfallfieber, Hühnerspirillose, Frambösie), Berlin 1910, S. 114–164.

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Abb. 3.1 Stichwortliste erstellt von Paul Ehrlich, vermutlich betreffend die Plandung des Bandes: Constitution, Vertheilung und Wirkung chemischer Körper. Ältere und neuere Arbeiten, hg. von Paul Ehrlich, Leipzig 1893, mit Angaben zur ursprünglichen Publikation der in dem Bändchen versammelten Beiträge

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Text 4: Paul Ehrlich, Über die Färbung der Tuberkelbazillen V. Aus dem Verein für innere Medicin zu Berlin. Sitzung vom 1. Mai 1882. Wir bringen schon heute das Stenogramm folgender Mittheilungen, welche durch Herrn Ehrlich in der letzten Sitzung des Vereins gemacht wurden. Als vor wenig Wochen Herr Regierungs-Rath Dr. Koch seine hochbedeutsamen Untersuchungen über die Aetiologie der Tuberculose, über den Bacillus der Tuberculose kund gab, musste es allgemeine Pflicht sein, diese Erweiterung unserer Kenntniss in diagnostischer und therapeutischer Beziehung zu verwerthen. Auch ich habe mich derartigen Bestrebungen nicht entziehen können und habe geglaubt, dieselbe in diagnostischer Beziehung nachprüfen zu müssen. Wenn ich als Hauptresultat meiner Untersuchungen zunächst gewisse Modificationen der Methodik darlege, so geschieht das, weil sie einerseits gewisse Erleichterungen für die Praxis schaffen und andererseits geeignet sind, über gewisse Eigenthümlichkeiten des Bacillus der Tuberculose Aufschluss zu geben. Wie bekannt, besteht die von Herrn Reg.-Rath Koch angegebene Methode darin, dass er Trockenpräparate in einer schwach alkalischen Lösung von Methylenblau färbt. Nach 24 h setzt er sie der Einwirkung einer Vesuvin-Lösung aus. Dann wird das Präparat braun, und es zeigt sich, dass sämmtliche Elemente intensiv braun sind und nur der Bacillus rein und intensiv blau bleibt. Offenbar beruht das Wesen der Methode darin, dass die Lösung des Methylenblau alkalisch gehalten ist. Von dieser alkalischen Beschaffenheit bin ich ausgegangen und habe versucht, ob sich nicht durch ein anderes Alkali das von Koch angewandte ersetzen könne. Ich habe im Anilin ein geeignetes Substitut gefunden. Nach diesen Bemerkungen sei es mir gestattet, in kurzen Zügen die Methode anzugeben. Ich habe fast ausschliesslich an Trockenpräparaten, d. h. von Sputis gearbeitet, wenn ich auch Controllversuche gemacht habe, die beweisen, dass die Methode auch auf Schnittpräparate anwendbar ist. Ich verfahre der Art, dass ich mittelst Präparirnadeln aus dem Sputum ein Partikelchen herausnehme und zwischen zwei Deckgläsern platt presse. Es ist zweckmässig, Deckgläser von bestimmter Dicke zu nehmen und habe ich gefunden, dass solche von 0,10 bis 0,12 Mm. am empfehlenswerthesten sind. Es gelingt unter diesen Bedingungen leicht, aus dem kleinen Pfropf des Sputums gleichmässige dünne Lagen zu erhalten. Man zieht dann beide Gläser auseinander und bekommt zwei dünne Schichten, die leicht lufttrocken werden. Diese Präparate sind noch nicht recht geeignet. Es ist zweckmässig, das Eiweiss zu fixiren. Ich selbst habe gewöhnlich dies dadurch bewirkt, dass das Präparat durch eine Stunde auf 100–110° erhalten wird, jedoch giebt es für die Praxis ein zweckmässigeres Verfahren, dessen Anwendung ich im Kaiserlichen Gesundheitsamte gesehen habe und das darin besteht, dass man das lufttrockene Präparat mittelst einer Pincette dreimal durch die Flamme eines Bunsen’schen Gasbrenners zieht. Für die Färbung verwende ich ein mit Anilinöl gesättigtes Wasser, dass sich durch Schütteln von Wasser mit überschüssigem Anilinöl und Filtriren durch ein angefeuchtetes Filter binnen wenigen Minuten herstellen lässt. Der so gewonnenen

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wasserklaren Flüssigkeit fügt man tropfenweise von einer gesättigten alkoholischen Fuchsin- oder Methylviolettlösung so lange hinzu, bis eine deutliche Opalescenz der Flüssigkeit eintritt, die die Sättigung mit Farbstoff anzeigt. Auf dieser Flüssigkeit lässt man die Präparate schwimmen und sieht sie binnen ¼ bis ½ h intensiv in dem betreffenden Farbton sich anfärben. Die isolirte Tinction der Tuberculosebacillen gelingt nun unter dem Einfluss des Vesuvin gar nicht oder nur sehr langsam, es ist erforderlich, Säuren anzuwenden und bin ich bald zur Anwendung starker, ich möchte sagen, heroischer übergegangen. Am meisten empfiehlt sich Säuregemisch, das aus 1 Volumen officineller Salpetersäure und 2 Voluminibus Wasser besteht. Man sieht unter seinem Einfluss in wenig Secunden das Präparat erblassen, es heben sich gelbe Wolken hervor, und das Präparat wird weiss. Untersucht man in diesem Stadium das Präparat, so ergiebt sich, dass Alles entfärbt ist, und nur der Bacillus die intensive Färbung beibehalten hat. Man könnte jetzt schon ein derartiges Präparat untersuchen, doch sind die technischen Schwierigkeiten ausserordentlich gross, den Bacillus einzustellen. Es empfiehlt sich, den Untergrund anzufärben und zwar, wenn das Präparat violett ist, gelb, wenn es roth ist, blau. Es ist vielleicht gestattet mit kurzen Worten die Vorzüge dieser Methode hervorzuheben. Das Anilin wirkt viel schonender auf die Gewebe als die Alkalien, unter deren Einwirkung, insbesondere der Schleim sich leicht ablöst. Ein weiterer Vortheil ist die grosse Schnelligkeit des Verfahrens. Während nämlich die Koch’sche Methode 24 h erfordert, genügt hier ¾–1 h, um das Präparat herzustellen. Wichtiger aber scheint mir noch, dass die Präparate intensiver gefärbt sind und dass, wie ich glaube, behaupten zu können, der Bacillus selbst bedeutend grösser erscheint, als bei Koch. Rechnet man dazu, dass der Untergrund, auf dem der Bacillus hervortritt, heller ist, so ergiebt sich, dass der Bacillus mit schwächerer Vergrösserung leichter wahrgenommen werden kann. Weiterhin möchte ich noch hervorheben, dass möglicher Weise mehr Bacillen durch das von mir geschilderte Verfahren zum Vorschein treten. Wenigstens spricht dafür die Statistik der Sputauntersuchungen, die ich noch geben werde. Es ist mir gelungen, den Bacillus in allen basischen Anilinfarben, selbst in Bismarckbraun anzufärben, und ergiebt sich hieraus, dass die Substanz des Bacillus selbst sich in ihren färberischen Eigenschaften nicht von denjenigen der anderen Bacterienarten unterscheidet. Wenn nun aber dennoch der Tuberculosenbacillus sich durch die Färbung von allen anderen Pilzen unterscheidet, so beruht dies auf dem Vorhandensein einer Hülle, der eigenthümliche und specifische Eigenschaften zukommen. Die erste von ihnen, auf welche die Koch’sche Methodik ohne weiteres hinweist, ist diejenige, dass die Umhüllungsschicht für Farbstoffe nur unter dem Einfluss von Alkalien durchgängig ist. Ein weiterer Punkt, den ich berühren möchte, ist die Frage, welchen Aufschluss die Färbung über die Natur des Bacillus giebt. Die zweite, die ich gefunden habe, ist die, dass die Hülle unter dem Einfluss von Säuren, starker Mineralsäuren ganz undurchgängig ist. Es scheint dieser Umstand ein gewisses praktisches Interesse zu haben, indem er ein Licht auf die Desinfectionsfrage wirft. Es dürften alle Desinfectionsmittel, die eine saure Beschaffenheit haben, ohne Einwirkung sein, offenbar muss man auf alkalische Desinfectionsmittel recurriren.

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Nach diesen Vorbereitungen gehe ich zu den Resultaten über, die ich bei den Untersuchungen gewonnen habe. Die von mir verwandten Fälle waren alle ausgeprägte Fälle von Phthisis pulmonum. Ich selbst habe 26 derartige Fälle untersucht und bei sämmtlichen den Bacillus nachweisen können. Dabei muss ich betonen, dass ich bei der Darstellung der Präparate keine besondere Sorgfalt oder Auswahl angewandt habe. In fast sämmtlichen Fällen genügte es, ein einziges Präparat und meistens ein einziges Gesichtsfeld zu untersuchen, und nur in einem einzigen Falle war es nothwendig, beide Präparate genau zu untersuchen. Selbstverständlich habe ich mich durch Controllversuche überzeugt, dass bei anderen Lungenerkrankungen keine Bacillen vorkommen. Als ganz besonders beweisend kann ich einen Fall anführen. Ich hatte einen Freund gebeten, mir phthisische Sputa zuschicken zu lassen. Ich erhielt ein Sputum, bei dem ich bei mehrfacher Untersuchung keine Bacillen fand. Auf meine Anfrage stellte sich heraus, dass aus Versehen ein Sputum von einem Manne geschickt war, der an einem durchbrochenen Empyem litt. Was die weitere Frage anbetrifft, welche prognostische Bedeutung dem Befunde zukommt, so möchte ich glauben, dass weitere Untersuchungen nöthig sind, um zu einem definitiven Beschluss zu gelangen. Ich habe in Fällen, die auffallend acut verliefen, Bacillen in ungeheurer Menge gefunden, in anderen Fällen, die eminent langsam verliefen, eine geringe Zahl. Andererseits habe ich aber auch in nicht rasch verlaufenden Fällen Bacillen in reicher Zahl gefunden.

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