Pastoralpsychologische Perspektiven in der Seelsorge: Grenzgänge zwischen Theologie und Psychologie [1 ed.] 9783788732219, 9783788732202, 9783788732196

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Pastoralpsychologische Perspektiven in der Seelsorge: Grenzgänge zwischen Theologie und Psychologie [1 ed.]
 9783788732219, 9783788732202, 9783788732196

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Michael Klessmann

Pastoralpsychologische Perspektiven in der Seelsorge Grenzgänge zwischen Theologie und Psychologie

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3220-2

 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath

Vorwort

Seelsorge als helfendes, begleitendes Gespräch unter vier Augen (im Unterschied zum katholischen Seelsorgebegriff, der das gesamte pastorale Handeln bezeichnet) ist ein in den Kirchen strukturell vernachlässigtes Arbeitsfeld. Das hat damit zu tun, dass Seelsorge diskret und im Verborgenen geschieht: Der beinahe intime Charakter des Gesprächs unter vier Augen, die Pflicht zur seelsorglichen Verschwiegenheit, führen dazu, dass mit Seelsorge »kein Staat« zu machen ist. Sie wird in aller Regel nicht öffentlich, ein geplanter Seelsorge-Besuch kann jederzeit entfallen, ohne dass es anderen auffällt, kurz: Seelsorge als Arbeitsfeld hat – trotz gelegentlicher gegenteiliger Beteuerungen von offizieller Seite – nur eine schwache Lobby in den Kirchen. Umso wichtiger scheint es mir, immer wieder Themen der Seelsorge zu veröffentlichen und auf dieses wichtige Feld kirchlicher Arbeit aufmerksam zu machen. Das Besondere der hier abgedruckten und bisher nicht veröffentlichten allgemeinverständlichen Vorträge sehe ich darin, dass sie auf bestimmte randständige Themen (Angst, Ärger und Aggression, Wahn) und Randgruppen (Menschen mit Depression, in der Psychiatrie, in der Geriatrie, im Gefängnis) aufmerksam machen und dabei immer wieder Grenzgänge zwischen Theologie und Psychologie unternehmen. Moderne Seelsorge kommt nicht aus ohne den Dialog mit den Sozial- und Humanwissenschaften, das wollen auch diese Beiträge veranschaulichen. Der Vortragsstil ist beibehalten; inhaltliche Überschneidungen zwischen den einzelnen Vorträgen waren nicht immer zu vermeiden. Die berichteten Fallbeispiele sind so verfremdet, dass der seelsorglichen Schweigepflicht Genüge getan ist. Ich danke Herrn Ekkehard Starke vom Neukirchener Verlag / Vandenhoeck & Ruprecht für die Unterstützung dieses Projekts und Frau Dorothee Schönau für die kompetente Erstellung des druckfertigen Manuskripts. Michael Klessmann

Ansbach, im November 2016

Inhalt

Vorwort ................................................................................................ 5 I

Angst macht den Menschen zum Menschen Soziologische, philosophische und theologische Deutungen der Angst .................................................................................... 11 1. Eine kleine Phänomenologie der Angst ................................... 11 2. Gesellschaftliche Bedingungen der Angst ................................ 14 3. Die Angst der Philosophen ..................................................... 17 4. Angst contra Bindung: Entwicklungspsychologische Aspekte 19 5. Angst kontra Glaube oder Angst im Glauben? Angst und Religion................................................................. 21 6. Destruktive und konstruktive Strategien zur Bewältigung kollektiver und individueller Angst ......................................... 24

II

Pastoralpsychologische Seelsorge mit depressiven Menschen ....... 27 1. Was bedeutet »pastoralpsychologisch orientierte Seelsorge«? ... 27 2. Soziologische Perspektiven...................................................... 29 3. Religion und Depression – religionspsychologische Perspektiven ........................................................................... 31 4. Gottesbilder und ihre Ambivalenzen....................................... 33 5. Die Rolle der Angehörigen ..................................................... 35 6. Anregungen für die Seelsorge.................................................. 36 7. Schluss ................................................................................... 42

III

Seelsorge auf dem Psychomarkt Wie positionieren wir uns? ......................................................... 43 1. Eindrücke zum Stichwort »Psychomarkt« ............................... 43 2. Kontinuierlich zunehmender Beratungsbedarf ........................ 45 3. Die Besonderheiten der kirchlichen Seelsorge ......................... 48 4. Stufen der Seelsorge................................................................ 53 5. Qualitätssicherung in der Seelsorge......................................... 55 6. Vernetzung statt Konkurrenz .................................................. 57

IV

Schuld und Gewissen Seelsorgliche Perspektiven .......................................................... 59 1. Einleitung: Gewissen und Schuld als Themen der Seelsorge ..... 59 2. Gewissensentwicklung und Schuldempfinden ........................ 60 3. Notwendige Unterscheidungen im Schuldbegriff ................... 65

8

Inhalt

4. Seelsorgliche Möglichkeiten: Schuld benennen, mit Schuld leben lernen, Vergebung empfangen .................... 70 V

Abschied und Neubeginn – als Themen in der Rehabilitation .... 76 1. Einleitung .............................................................................. 76 2. Zur Psychologie von Abschied und Neubeginn ...................... 77 3. Ressourcen, um Abschied und Neubeginn zu bewältigen (coping und Resilienz) ........................................................... 83 4. Biblische Perspektiven ............................................................ 85 5. Neues beginnen ..................................................................... 88

VI

Seelsorge und Ritual bei Abschied, Sterben, Tod und Trauer ..... 91 1. Einleitung .............................................................................. 91 2. Trauer und die Aufgaben der Trauerbewältigung ................... 93 3. Bedeutung und Funktion von Ritualen .................................. 95 4. Alte und neue Trauerrituale ................................................... 99 5. Seelsorge und Ritual – integrale Sterbe- und Trauerbegleitung 102

VII Belastet – Eingeschränkt – Krank – Gezeichnet – Ausgeschlossen Herausforderungen und Chancen von Seelsorge in Psychiatrie und Geriatrie ........................................................................... 107 1. Die Herausforderungen des Kontextes ................................. 107 2. Was ist Seelsorge und welche Möglichkeiten hat sie in diesen Kontexten? ................................................................. 110 3. Was ist der Mensch? Anthropologische Aspekte ................... 115 4. Ort und Funktion der Seelsorge in der Institution Krankenhaus ........................................................................ 119 5. Schluss ................................................................................. 121 VIII Religion/Glaube und Wahn Funktionen, Überschneidungen, Unterschiede......................... 122 1. Einleitung: Zur Verwandtschaft von Glaube und Wahn ...... 122 2. Glaube und Wahn als sinnerschließende Erfahrungen .......... 125 3. Warum »wählt« der Wahn eine religiöse Symbolik?.............. 128 4. Zu den Unterschieden zwischen Glaube/Religiosität und Wahn ................................................................................... 132 5. Konsequenzen für die Seelsorge............................................ 135 IX

Das Wort soll Fleisch werden … Zur Bedeutung der Leiblichkeit in der seelsorglichen Begegnung ............................................................................... 139 1. Einleitung ............................................................................ 139 2. Leib und Seele im Kontext der totalen Institution Gefängnis 141 3. Ambivalenzen der Leiblichkeit ............................................. 144

Inhalt

9 4. Leiblichkeit in der seelsorglichen Kommunikation im Gefängnis ............................................................................. 148 5. Leiblichkeit und Wort .......................................................... 153

X

Ärger, Aggression und Gewalt Schwierige Themen in Seelsorge und Beratung ......................... 155 1. Einleitung ............................................................................ 155 2. Formen und Funktionen von Ärger, Aggression, Gewalt ...... 157 3. Aggressions- und Konfliktberatung ....................................... 163 4. Theologische Aspekte zu Ärger, Aggression und Gewalt ....... 169

XI

Auf der Grenze Das Pfarramt zwischen Tradition, Säkularität und neuer Spiritualität .............................................................................. 172 1. Ausgangslage: Pfarrerinnen und Pfarrer sind zu Grenzgängern geworden ........................................................ 172 2. Das Pfarramt im gesellschaftlichen Wandel Erlebnisrationalität und Entdogmatisierung ......................... 174 3. Das Pfarramt im Kontext der Transformationskrise der Kirchen ................................................................................ 176 4. Von der Berufung zum Beruf ............................................... 179 5. Zum Verhältnis von Amt und Person ................................... 181 6. Welche Orientierung vermitteln gegenwärtige Pfarrbilder? ... 183 7. Welche Ziele sollte die theologische Ausbildung verfolgen? .... 188

XII Seelsorge im Pfarramt Welche Bedeutung hat sie (noch) in Gemeinde und Krankenhaus angesichts der gegenwärtigen kirchlichen Umstrukturierungsprozesse? ..................................................... 190 1. Die Ausgangssituation an Hand zweier Eindrücke ................ 190 2. Was verstehen wir unter Seelsorge? ....................................... 192 3. Seelsorge und Gemeinde ...................................................... 199 4. Zusammenarbeit von parochialen und funktionalen Diensten............................................................................... 202 5. Zur Bedeutung der Seelsorge im Gesundheitswesen.............. 203 6. Ist die evangelische Kirche eine seelsorgliche Kirche? ............ 205 XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus....................... 207 1. Krankenhaus als System........................................................ 207 2. Selbstverständnis der Seelsorge im System Krankenhaus ....... 212 3. Erwartungen an Seelsorge im Kontext von Gesundheit und Krankheit ...................................................................... 216

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Inhalt

4. Seelsorge als systemfremdes Angebot im Krankenhaus – Chancen und Grenzen ......................................................... 223 5. Schluss ................................................................................. 226 XIV Pastorale Identität im Krankenhaus .......................................... 227 1. Identitätskonzepte im gesellschaftlichen Wandel .................. 227 2. Identitätsarbeit und Rechtfertigung: Wie geht das zusammen? Theologische Anfragen .......................................................... 235 3. Professionelle (strukturelle) Identität der Seelsorge im Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus: Zwischen Abgrenzung und Anpassung ................................. 244 XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?.................................................................. 251 1. Einleitung: Die veränderte Diskussionslage .......................... 251 2. Freud: Religion als frühkindliche Sehnsucht nach dem Vater 252 3. C.G. Jung: Gott als unmittelbare Erfahrung......................... 255 4. Religion als Erbe des primären Narzissmus........................... 257 5. Religion als Möglichkeitsraum ............................................. 260 6. Konstruktivistisch-systemische Perspektiven: Gotteskonstrukte im sozialen System ................................... 263 7. Forschungen zum Zusammenhang von Religion und Gesundheit .......................................................................... 264 8. Fazit ..................................................................................... 267

I Angst macht den Menschen zum Menschen1 Soziologische, philosophische und theologische Deutungen der Angst

1. Eine kleine Phänomenologie der Angst »Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode …, sie ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit.«2 Durch unser Bewusstsein sind wir in der Lage, um unsere Endlichkeit und die Verletzlichkeit unseres Lebens zu wissen. So entsteht eine Urangst oder Grundangst, die sich in eine beinahe unbegrenzte Vielfalt von Ängsten ausdifferenziert: Angst, verlassen zu werden und die Liebe und Anerkennung wichtiger Menschen zu verlieren, Angst vor der Freiheit und Angst sich zu binden, Angst vor Erfolg und vor Scheitern, Angst vor sozialem Abstieg und Armut, Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Fremden und den Fremden, Angst vor Ohnmacht und Hilflosigkeit, vor Krankheit, Schmerzen und Tod etc. Solche einzelnen Ängste werden noch verstärkt durch die hohe Komplexität unseres gesellschaftlichen Lebens sowie durch die ständige Beschleunigung und zunehmende Unübersichtlichkeit aller Lebensbereiche; es entsteht Stress, der sich wiederum als diffuse Angst nieder schlägt. Angst – im Folgenden spreche ich durchgehend von »normaler« Angst und nicht von Angstkrankheit!3 – stellt eine psychophysische Reaktion auf reale oder vorgestellte Bedrohungen, Verluste oder Misserfolge dar: Wenn die leibliche Integrität, aber ebenso das Ansehen oder das Selbstwertgefühl bedroht erscheinen, reagieren wir mit Angst, erstarren, möchten weglaufen, oder wollen kämpfen. Dabei kann man unterscheiden zwischen der Bedrohungswahrnehmung, der Bedrohungsbewertung und der Bedrohungsantwort, die je nach Biografie und sozialer Lage unterschiedlich ausfallen. Alle drei bilden ein enges Geflecht wechselsei-

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Leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags vor der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Lebensberatung in der hannoverschen Landeskirche am 18.2.2016 in Hannover. Die Themenformulierung ist ein Zitat aus Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, E-Book Ausgabe der Hamburger Edition 2014, 7. 2 Fritz Riemann, Grundformen der Angst, München/Basel 1992, 7. 3 Egon Fabian, Anatomie der Angst, Stuttgart 2010, 33f schlägt folgende Unterscheidung vor: Normal ist Angst, wenn sie bewusst ist und das Leben und zwischenmenschliche Kontakte nicht einschränkt, während krankhafte Angst in der Regel nicht bewusst ist, sich durch andere Gefühle ausdrückt und das Alltagsleben deutlich einengt und behindert.

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I Angst macht den Menschen zum Menschen

tiger Beeinflussung.4 Was dem einen reizvoller Nervenkitzel ist, versetzt den anderen in großen Schrecken (man denke an Bungee-Jumping oder Achterbahnfahren). Jede Angst zeigt ein individuelles Erscheinungsbild mit einem familiär-biografischen und einem gesellschaftlichen Hintergrund.5 Der biografisch-familiäre Hintergrund ist für Ihre Beratungsarbeit von besonderem Interesse: Jede Familie, jedes System entwickelt einen bestimmten »Stil« im Umgang mit Angst, von dem die Kinder natürlich stark geprägt werden. Kinder neigen dazu, sich mit den Ängsten und den Bewältigungsmechanismen ihrer Bezugspersonen zu identifizieren, auf diese Weise kommt es zu einer transgenerationalen Weitergabe bestimmter Angstmuster. Angst als Gefahrensignal ist unbedingt sinnvoll; sie kann hellsichtig machen und dazu beitragen, dass man angemessene Vorsicht und Schutzmechanismen entwickelt (S. Freud nannte diese Angst Real- oder Signalangst). Aber Angst kann sich natürlich auch verselbstständigen, sich lösen von realen Gefahrensituationen und sich zu einer Angststörung generalisieren, für die es noch einmal zahlreiche Unterformen gibt. In der popularwissenschaftlichen Ratgeberliteratur wird suggeriert, dass man Angst völlig aus dem Leben verbannen könne und solle;6 das erscheint irreführend – und es werden die potentielle Sinnhaftigkeit von Angst und die konstruktiven Möglichkeiten, die im Umgang mit ihr liegen, übersprungen. Angst ergreift den ganzen Menschen, ist immer ein psychisches und körperliches Geschehen zugleich. Die erlebte oder vorgestellte Bedrohung löst Enge aus, die sich wiederum in Herzklopfen, Zittern, Schweißausbruch, flachem Atmen, Anspannung und Starre manifestiert. Dabei ist das Feld dessen, was wir mit Angst bezeichnen, groß:7 Sie beginnt mit leichter Anspannung, geht einher mit Unsicherheit und Hilflosigkeit, Scheu und Schüchternheit, steigert sich zur Beklemmung, zur Furcht vor einem konkreten Ereignis, zur diffusen Angst bis hin zu Entsetzen, Horror, Grauen und Panikattacke, die einen Menschen vollständig ergreift und alle vernunftgesteuerten Fähigkeiten außer Kraft setzt. Zum Umfeld von Angst gehören ihre Bewältigungsmechanismen Zorn, Wut und Aggression: Manche Menschen nehmen keine Angst wahr, weil sie latent ständig wütend sind. Sie vermeiden damit das Gefühl der Hilflosigkeit, das häufig mit Angst einhergeht, und erleben sich stattdessen so, dass sie aktiv sind und das Leben scheinbar unter Kon4 5 6

Friedrich Strian, Angst und Angstkrankheiten, München 1995, 15. Strian, ebd., 10. Z.B. Norbert Preetz, Nie wieder Angst, 2012; Jakob Bargak, Sofort ohne Angst leben, 2014. 7 Verena Kast, Vom Sinn der Angst, Freiburg/Basel 21996, 20ff spricht von einem Emotionsfeld.

1. Eine kleine Phänomenologie der Angst

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trolle haben. Auch Scham und Schuld lagern sich an die Angst an; die Sprache verrät die gesellschaftliche Bewertung: Angsthase, Hasenfuß, Feigling, Schisser etc. Wer will das schon sein? Vor allem Männer nicht, die auf Grund gesellschaftlicher Klischees in besonderem Maß die Wahrnehmung von Angst abspalten. Das Gegenfeld zur Angst bilden Mut, Vertrauen und Hoffnung, die wir zur Bewältigung der Angst brauchen. Angst, solange sie nicht eine bestimmtes Maß überschreitet, ist nicht nur unangenehm, sondern auch Herausforderung und Kitzel, die M. Balint als »Angstlust« gekennzeichnet hat. Angst entzündet sich an konkreten Gefahren oder an vorgestellten, fantasierten Bedrohungen. Die Neurobiologie hat inzwischen erforscht, wie Angst eine Stressreaktion im Gehirn auslöst, die wiederum in Kampf oder Flucht mündet.8 Im Hintergrund steht eigentlich immer die existentielle Angst vor der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit. In einer begrenzten Bedrohung schimmert die Gefährdung der gesamten Existenz durch. In diesem Sinn ist Angst ein »primäres Gefühl, ein Grundaffekt«,9 von dem sich viele andere Emotionen herleiten. Weil Angst als unangenehm erlebt wird, neigen wir dazu, sie zu verdrängen und abzuspalten, sie durch Geschäftigkeit, Konsum und Aktionismus zu übertönen, sie durch Alkohol und Drogen zu betäuben; auch die Flucht in autoritäre Strukturen und Ideologien, in fremdenfeindliche populistische Vorurteile, in entsprechenden religiösen Dogmatismus, zählt zu den Abwehrmechanismen der Angst. Es entsteht eine meistens unbewusste Angst vor der Angst – ein tückischer Kreislauf, den man oft nur schwer aufdecken und unterbrechen kann. Die Psychologie nennt es kontraphobisches Verhalten: Wir lassen uns bewusst und unbewusst viel einfallen, um uns unseren Ängsten nicht zu stellen.10 Dabei ist gerade das vielleicht der wichtigste Weg im Umgang mit Ängsten: sie wahrzunehmen, sie anzunehmen, und das, was produktiv sein könnte an ihnen, zu entdecken. Ängste auszusprechen, sie beim Namen zu nennen, trägt viel dazu bei, sie auf eine erträglichere Distanz zu bringen. Wir kennen das alle aus der Kindheit: Von Monstern und Gespenstern zu erzählen, nimmt ihnen einen Teil ihrer Macht und lässt 8 9

Vgl. Gerald Hüther, Biologie der Angst, Göttingen 122014, 33ff. Egon Fabian, Anatomie der Angst. Ängste annehmen und an ihnen wachsen, Stuttgart 2010, 41. 10 Besonders eindringlich schildert Elie Wiesel in seinem Buch »Die Nacht zu begraben, Elischa«, Frankfurt a.M. 1988, wie die Juden in seiner Heimatstadt Sighet in Ungarn die Nachrichten vom Näherrücken der deutschen Wehrmacht und der drohenden Deportation der Juden immer wieder als unwahrscheinlich verharmlosten und sich auf diese Weise kurze Zeiten der relativen Angstfreiheit verschafften, gleichzeitig dadurch aber die noch mögliche Chance zur Auswanderung verpassten. Fabian 2010, 199ff beschreibt in einem ausführlichen Kapitel Bewältigungs- und Abwehrstrategien der Angst.

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I Angst macht den Menschen zum Menschen

Gegenkräfte wachsen. In Märchen werden die Ängste konkret heraufbeschworen: der Held oder die Heldin muss sich ihnen stellen, sie drei Mal durchleben, dann kann Rettendes wachsen.11 Bleibt zum Schluss dieser kleinen Phänomenologie der Hinweis auf das Ideal der Gelassenheit: Angst gehört zum Leben, Angst zeigt, was mit uns los ist, Angst macht den Menschen zum Menschen; neben Erstarrung und Beklemmung, die sie in uns auslöst, lehrt sie uns auch Mitgefühl und Einfühlung in uns selbst und andere und mobilisiert kreative Energien. 2. Gesellschaftliche Bedingungen der Angst Angst ist in ihren Ausdrucksformen in hohem Maß an historischgesellschaftliche Gegebenheiten und Kontexte gebunden. Die Ängste, die in einer Gesellschaft in einer bestimmten Epoche vorherrschen, bilden eine »kulturelle Matrix«, vor allem vermittelt über die Massenmedien, von der die Einzelnen selbstverständlich tief geprägt werden. Gegenwärtig kann man das an der Berichterstattung über die Flüchtlinge/ Asylsuchenden sehen: Werden neben der Herausforderung, die deren Zuwanderung zweifellos für Deutschland bedeutet, auch die Chancen und Gewinne genannt, oder blickt man nur gebannt auf die Gefahren der Überfremdung und Überforderung? Je nachdem, welche Medien jemand zur Kenntnis nimmt, ist sein Weltbild mehr von der kreativen Herausforderung oder von Angst und als deren Abwehr von Aggression bestimmt. Bis ins ausgehende Mittealter waren Menschen erfüllt von Ängsten vor Hungersnöten, Kriegen, Seuchen und dem jähen Tod, vor Geistern und Dämonen, vor Gottes Gericht, Teufel und Hölle. Die Angst um das Seelenheil wurde offenbar viel drängender erlebt als die Angst um körperliche Unversehrtheit.12 Gleichzeitig waren diese Ängste eingebunden in stabile gesellschaftliche Strukturen und einen tragenden metaphysisch-moralischen Rahmen: Selbst die schrecklichen Widerfahrnisse wurzelten für die Menschen in Gottes unerforschlichen Ratschluss und waren damit letztlich sinnhaft. Mit der Aufklärung begann dieser Rahmen sich aufzulösen: der Mensch beherrschte die Natur in zunehmendem Maß durch seine Vernunft, Blitz und Donner beispielsweise wurden nicht mehr als Ausdruck des Zornes Gottes gefürchtet, sondern als naturgesetzlich erklärbare Phänomene gedeutet, gegen die man sich mit einem Blitzableiter schützen konnte. Krankheit wurde nicht mehr als göttliche Strafe oder als 11 12

Vgl. z.B. das Märchen der Gebrüder Grimm »Die Nixe im Teich«. Vgl. ausführlich Jean Delumeau, Angst im Abendland, Hamburg 1989.

2. Gesellschaftliche Bedingungen der Angst

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Erziehungsmittel verstanden, sondern als körperliche organbezogene Fehlsteuerung, die man gezielt behandeln und bekämpfen konnte. Die Moderne ist gekennzeichnet durch »eine schleichende Erosion von Evidenz und Selbstverständlichkeit«, Lars Koch spricht von einem »Veränderungstaumel der Moderne«:13 Mit der immer weitergehenden Technisierung und Globalisierung der westlichen Gesellschaften spüren wir die Schattenseiten des sonst viel gepriesenen technologischen Fortschritts. Es entstehen ganz neue Risiken und Ängste, die frühere Generationen so natürlich nicht kannten: Angst vor der Atomstrahlung, Angst vor einer Klimakatastrophe, Angst vor den Auswirkungen der Gentechnologie, Angst vor einem Kollaps der Finanzsysteme, Angst vor internationalem Terror usw. Globalisierung und Pluralisierung machen unsere Welt immer undurchschaubarer, lösen ein diffuses Gefühl der Ungesichertheit und Undurchschaubarkeit aus; die Zukunft insgesamt erscheint als risikoträchtig und damit Angst auslösend. Solche Visionen treiben viele Menschen in die Arme von Fundamentalisten, Rechtsradikalen und Populisten, die vorgeben, einfache, jene Ängste beruhigende Antworten zu haben. Auch der gegenwärtige Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland löst viele zusätzliche Ängste aus: Auf dem Arbeitsund Wohnungsmarkt wird es enger, das betrifft vor allem die unteren gesellschaftlichen Segmente; ängstigende Gerüchte verbreiten sich. Damit werden Ängste vor dem Fremden überhaupt reaktiviert – so dass der »Spiegel« Ende 2015 titelte »Die verstörte Nation«:14 Ist unsere Sicherheit bedroht? Können die sozialen Sicherungssysteme die Zuwanderung verkraften? Verschwindet so etwas wie eine deutsche Identität angesichts der Vielzahl von Migranten mit anderer Kultur und Religion? Löst sich all das, was Sicherheit und Halt gab und gibt (Heimat, Tradition, Religion etc.) auf und wird durchmischt von einer unüberschaubaren und verwirrenden Vielfalt und Buntheit? Umgekehrt kann man bei Flüchtlingen beobachten, wie ihnen die Angst vor den Gefahren eines Bürgerkriegs oder vor einer aussichtslosen Zukunft für ihre Kinder und Enkel großen Mut verleiht, der sie dazu motiviert, unglaubliche Risiken auf sich nehmen. Die Kultur einer Region kann man als »System der Angstbesänftigung« verstehen:15 Künstler und Wissenschaftler setzen sich mit dem Phänomen Angst auseinander, reflektieren es, bringen es künstlerisch zum Ausdruck und eröffnen damit Möglichkeiten der Bearbeitung und der Bewältigung gesellschaftlich induzierter Ängste. 13 14 15

Lars Koch (Hg.), Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, 6. Der Spiegel Nr. 51, 2015. Koch, ebd., 9 als Zitat von Hermann Broch.

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I Angst macht den Menschen zum Menschen

Auch der Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn seit dem 20. Jahrhundert kennen, dient der Eindämmung verschiedenster Ängste:16 Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Altersarmut, also die mehr oder weniger normalen Risiken des Lebens, sollen verhindert oder aufgefangen, schon die Ängste vor diesen Widerfahrnissen reduziert und genommen werden. Deswegen gehören die verschiedenen Formen der Beratung unabdingbar zu den Strategien des Wohlfahrtsstaates. Menschen sollen allein und mit staatlicher Unterstützung Wege finden, um sich sicher fühlen und auf der Basis dieser Sicherheit ihr Leben frei gestalten zu können. Seit jedoch gesellschaftlicher Erfolg nicht mehr an ererbten Status, sondern in hohem Maß an individuelle Leistung und Kreativität (und eine gute Portion an Zufall) gebunden ist, wird es zunehmend anstrengend und ängstigend: Man kann von Anfang an so viel falsch machen, die falsche Schule, die falsche Universität, die falschen Kontakte im Beruf. Die Drohung des Scheiterns, die Gefahr, im Prekären hängen zu bleiben und trotz vieler Praktika und Auslandsaufenthalte keine zufriedenstellende Position zu bekommen, oder nach einer betriebsbedingten Kündigung keine angemessene Arbeit mehr zu finden etc. sind Quelle vieler Ängste um Status und Sicherheit. Leistung und Qualifikation garantieren nicht mehr selbstverständlich Erfolg; die Angst abzustürzen oder im Mittelmaß hängen zu bleiben, erfasst nicht nur Menschen aus bildungsfernen Schichten, sondern auch solche aus der sog. Mittelschicht. Das soziale Gewebe ist für viele brüchig und damit angstauslösend geworden. Die Medien geben den verschiedenen Ängsten Ausdruck und heizen sie zugleich an: Ständig wird von bereits eingetretenen Gefahren berichtet und zugleich werden mögliche zukünftige Risiken antizipiert. Damit werden die Medien zu machtvollen Akteuren in den Angstszenarien unserer Gesellschaft. Indem beispielsweise im letzten Jahr tage- und wochenlang über den Terroranschlag von Paris berichtet wurde, entsteht ein diffuses Angstempfinden selbst weit weg in ländlichen Regionen, die wahrscheinlich völlig ungefährdet sind. Etwas Ähnliches passiert im privaten Bereich: Je mehr wir über Gesundheit und Ernährung wissen, desto stärker rücken die Gefahren eines falschen Verhaltens in den Blickpunkt. Und die Widersprüchlichkeit der Forschungsergebnisse steigert die Ängste noch – oder führt zu einer Art von Apathie, in der man alle Art von ängstigenden Nachrichten überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen will. Der soziologische Blick kann uns in Beratung und Seelsorge vor vorschnellen Individualisierungen schützen: Individuelle Angst hat häufig einen sozialen Hintergrund, der wiederum individuelle Ängste verschärft 16

Vgl. Heinz Budde, Gesellschaft der Angst, eBook der Hamburger Edition 2014.

3. Die Angst der Philosophen

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und möglicherweise frühe biografische Bedrohungen und Verletzungen reaktiviert. Das gilt es zu berücksichtigen. 3. Die Angst der Philosophen Angst meint nicht nur einen Affekt, der einen angesichts einer Bedrohung ergreift, wie es die Psychologie formuliert, sondern eine Grundbefindlichkeit, eine Grundgestimmtheit des gesamten menschlichen Daseins17 – das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis philosophischer Beschäftigung mit dem Thema Angst seit dem 19. Jahrhundert. Sören Kierkegaard – und nach ihm viele andere Philosophen – unterscheidet Angst und Furcht: Furcht ist gegenstandsbezogen, entsteht angesichts einer greifbaren Bedrohung, während Angst eine eher diffuse Grundstimmung meint, die einfach mit unserem In-der-Welt-Sein entsteht. In unserer Lebenserfahrung ist die Unterscheidung von Angst und Furcht kaum durchzuhalten, philosophiegeschichtlich jedoch ist sie erhellend. So kann man sagen, dass in der Philosophie der Antike über Furcht nachgedacht wurde, aber nicht über Angst: Konkrete Bedrohungen, die Furcht auslösen, sollen mithilfe der Tugenden des Mutes und der Hoffnung sowie durch Rationalität besiegt werden. Das hielt man für möglich, weil man die Welt insgesamt als einen gut geordneten Kosmos betrachtete, der ein letztes Weltvertrauen rechtfertigt.18 So galt beispielsweise der Tod des Sokrates als sein persönliches Schicksal, das die Gesamtordnung jedoch nicht in Frage stellte. Nach Epikur soll die Furcht vor dem Tod durch eine lapidare Überlegung überwunden werden: »Der Tod geht uns nichts an, denn solange wir sind, ist der Tod nicht da; aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr.«19 Der Held der Antike ist ein Mensch, der Furcht zwar spürt, aber sie im Dienst höherer Ideale und mit Vernunft überwindet. Mit der ausgehenden Antike und dem frühen Christentum gilt die Welt als vom Göttlichen abgefallen, als Ort des Dunklen und Dämonischen, so dass eine diffuse Weltangst entsteht. Der kann man zwar im Glauben an Gott oder Jesus Christus begegnen (vgl. Joh 16,33: »In der Welt habt ihr Angst, doch seid getrost, ich habe die Welt überwunden«), aber es bleibt trotzdem eine umfassende Angst vor Tod, Teufel und Hölle bestehen, eine Angst, die die Kirche Jahrhunderte lang schürt und ausbeutet, um ihre Macht über die Menschen zu stabilisieren; gleichzei17

So Martin Heidegger in Sein und Zeit, zitiert bei Arnim Regenbogen, Art. Angst, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. von Hans Jörg Sandkühler, Bd. 1, Hamburg 2010, 98. 18 Vgl. zum Folgenden Walter Schulz, Das Problem der Angst in der neueren Philosophie, in: Aspekte der Angst, hg. von Hoimar von Ditfurth, München 21977, 13–27. 19 Zitiert bei Fabian 2010, 54.

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I Angst macht den Menschen zum Menschen

tig bietet die Kirche über die vorgeschriebene Teilnahme an ihren Ritualen Wege an, diese Angst zu begrenzen, sich wenigstens vorübergehend von ihr zu befreien. Später begrenzen Aufklärung und Idealismus für eine kurze Zeit die Angst, indem sie die Vernünftigkeit der Weltordnung postulieren und darauf setzen, dass sich die Vernunft immer mehr durchsetzen wird. Aber schon im 19. Jahrhundert wachsen Zweifel an diesem an der Vernunft orientierten Optimismus. Schelling, Kierkegaard, Nietzsche und nach ihnen die Psychoanalyse bezweifeln die Vernünftigkeit der Welt und entdecken das Irrationale, Triebhafte, Dunkel-Chaotische und Böse, vor dem der Mensch mit gutem Grund Angst empfindet. In der sog. Existenzphilosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts wird dann das Phänomen der Angst als Dreh- und Angelpunkt der gesamten menschlichen Existenz verstanden. 18. und 19. Jahrhundert kann man als einen Übergang von der Vormoderne zur Moderne verstehen, als einen Übergang, in dem die bis dahin stabilen gesellschaftlichen Institutionen und Überzeugungen an tragender Kraft verlieren. Der englische Soziologe Anthony Giddens spricht vom Verlust der ontologischen Sicherheit, vom Verlust in das Zutrauen zur Kontinuität und Stabilität sowohl der eigenen Identität wie auch zur Konstanz der umgeben sozialen und materialen Welt,20 Verluste, die zu tiefen Existenzängsten führen, die frühere Generationen in dieser Form nicht gekannt haben. In der Angst werden wir der Endlichkeit und Verletzbarkeit unseres Lebens, unserer Integrität ansichtig sowie der Möglichkeit, Sinn und Ziel des eigenen Lebens zu verfehlen. Wir sind, so beschreiben es verschiedene Existenzphilosophen, ins Nichts, in die Bodenlosigkeit hineingehalten, in die Existenz geworfen, wir laufen auf den Abgrund des Todes zu, und sind ständig mit der Möglichkeit konfrontiert, unser Leben zu verfehlen. Nietzsche hat es so beschrieben: »Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten, er rollt immer schneller … aus dem Mittelpunkt weg – wohin? Ins Nichts? In’s durchbohrende Gefühl seines Nichts?«21 Für Kierkegaard ist es die Freiheit, die den Menschen zutiefst ängstigt.22 Der Geist ahnt seine unendlichen Möglichkeiten und ängstigt sich vor dem Verfehlen dieser Möglichkeiten. Selbstwerdung ist nicht ohne diese Angst, sich zu verfehlen, zu haben. Karl Jaspers unterscheidet zwischen Daseinsangst und existentieller Angst: Daseinsangst meint die Angst vor Krankheit, Unfall oder Arbeits20 21

Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, 117ff. Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, Werke, hg. von Karl Schlechta, Bd. II, Darmstadt 1973, 893. 22 Vgl. zum Folgenden Christoph Demmerling, Philosophie der Angst, in: Koch 2013 (Anm. 13), 33ff.

4. Angst contra Bindung: Entwicklungspsychologische Aspekte

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losigkeit; man kann ihr nicht grundsätzlich entgehen, aber sie enthält doch den Impuls, sich aktiv und vorausschauend um eine gute Gestaltung des Lebens zu bemühen, damit eben jene gefürchteten Perspektiven nicht eintreten. Existentielle Angst bezieht sich vor allem darauf, dass wir die Möglichkeiten unseres Selbstseins verfehlen. Jaspers beschreibt diesen Zustand so: »Ich weiß nicht, was ich wollen soll, weil ich alle Möglichkeiten ergreifen, auf keine verzichten möchte, und doch von keiner weiß, ob es auf sie ankommt.«23 Jean Paul Sartre spitzt die Sicht auf den Zusammenhang von Freiheit und Angst noch weiter zu, indem er sagt:24 Wir sind total frei, wir können in jedem Augenblick frei entscheiden über das, was wir tun oder lassen. Wir sind die Urheber unseres Lebens, wir tragen die ganze Verantwortung für uns selbst. Wenn ich im Gebirge an einem tiefen Abgrund stehe: was hindert mich, mich hinabzustürzen oder es nicht zu tun? »Wenn mich nichts zwingt, mein Leben zu bewahren, hindert mich nichts, mich in den Abgrund zu stürzen.«25 Angesichts dieser Freiheit entsteht Angst, der »Schwindel der Freiheit«; wenn ich mich ihr stelle, wenn ich ihren »Ruf« höre, gelange ich zu meiner Eigentlichkeit; wenn ich ihr ausweiche, gerate ich in die Unaufrichtigkeit, verstecke mich im »man«. In der bildenden Kunst, in der Dichtung finden sich vielfältige Spiegelungen dieser von Tod und Sinnlosigkeit bedrohten Existenz: Man denke an die Texte von Franz Kafka, Albert Camus oder Ingeborg Bachmann, an die Bilder des Expressionismus und Surrealismus, die den Menschen als gebrochenes, fragmenthaftes, suchendes und zutiefst geängstigtes Wesen zeigen. 4. Angst contra Bindung: Entwicklungspsychologische Aspekte Zu psychologisch-psychotherapeutischen Perspektiven zum Thema Angst will ich hier nichts sagen, weil ja Ihre weitere Tagung darauf den Schwerpunkt legen wird, sondern nur ein paar Andeutungen zur Bedeutung der Angst im Rahmen der frühen Entwicklung des Kindes machen. Ein neugeborenes Kind ist wegen seiner Hilflosigkeit und Abhängigkeit ständig in der Gefahr, von Ängsten überflutet zu werden (unabhängig davon, ob man der von Otto Rank aufgestellten Hypothese von der Geburt als tiefem, das Leben bestimmenden Trauma zustimmt oder nicht): Innere Reize (Hunger, Durst, Schmerzen) und äußere Gefahren oder emotionale Vernachlässigung durch die Mutter bzw. Trennung 23 24

Karl Jaspers, Philosophie, zitiert nach Demmerling, ebd., 39. Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts oder Was ist Existentialismus?, in: Sartre Lesebuch. Den Menschen erfinden, hg. von Traugott König, Hamburg 1992, 41ff. 25 Sartre, ebd.

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von ihr (oder die mothering person) lösen schnell schwer erträgliche Spannungen aus, panische Angst und Schrecken, die einem so kleinen Wesen wie die Vorboten der Vernichtung erscheinen müssen. Ein großer Teil der elterlichen Fürsorge für den Säugling ist darauf ausgerichtet, durch einfühlsame und umfassende Präsenz diese Angst erst gar nicht aufkommen zu lassen oder, wenn sie nicht zu vermeiden ist, sie so schnell wie möglich einzugrenzen oder aufzuheben. Bis in die 70er Jahre hinein gab es in Deutschland eine Art Ideologie, gespeist noch aus nationalsozialistischen Erziehungsidealen, dass man kleine Kinder nicht verwöhnen dürfe, dass man sie frühzeitig an Regeln und Ordnung gewöhnen müsse etc. D.h. man hat auf Grund dieser Erziehungsvorstellungen bereits Säuglinge extremer Angst ausgesetzt und damit Grundlagen für die Ausbildung einer »autoritären Persönlichkeitsstruktur« gelegt, wie sie Theodor Adorno und Max Horkheimer beschrieben haben. Wer immer wieder und gezielt starker Angst ausgesetzt wird, neigt dazu, sich entweder konstant weg zu ducken oder die eigene Angst in Form von Aggression und Gewalt an andere weiter zu geben. Moderne Entwicklungspsychologie hat mit ihren Konzepten langsam aber sicher dazu beigetragen, dass sich diese Erziehungsvorstellungen geändert haben. Besonders bekannt geworden ist die Polarität von Urvertrauen und Urmisstrauen, die Erik Erikson als ersten zentralen Konflikt in der Entwicklung des Menschen bezeichnet hat. Bei einer guten wechselseitigen Regulierung oder Affektabstimmung zwischen Mutter und Kind kann das Urmisstrauen, das man auch als Urangst vor dem Verlassen-Werden bezeichnen könnte, eingegrenzt und durch die Entwicklung eines Urvertrauens an den Rand gedrängt werden. Entscheidend dafür ist die Fähigkeit der Mutter, einfühlsam und verlässlich auf die Bedürfnisse des Kindes zu antworten. In ähnlicher Weise beschreibt Donald W. Winnicott die Bedeutung des Haltens (holding) durch die Mutter als wichtiges Mittel gegen Angst, Schrecken und Unbehagen. Und die Bindungsforschung hat gezeigt, wie der Aufbau einer sicheren Bindung gelingen kann und wie sie ein wirksames Mittel gegen die Angst darstellt. Wenn Unbehagen und Schmerzen und damit Angst beim Säugling auftreten, wird in den meisten Fällen die elterliche Fürsorge aktiviert. Dabei muss diese Fürsorge keinesfalls herausragende Qualität haben, es reicht, wenn sie in ihrer Beschaffenheit, wie Winnicott formuliert hat, »good enough« ist. Beim kleinen Kind sehen wir diese Zusammenhänge besonders deutlich, im Grunde jedoch bleiben die Mechanismen lebenslang relevant. Auch wir Erwachsenen müssen ständig Vertrauen zu anderen aufbauen und immer neu bekräftigen, um uns selbst als vertrauenswürdig erleben zu können und unsere Ängste, Liebe und Anerkennung zu verlieren (Ängste, die wir latent mehr oder weniger bewusst und

5. Angst kontra Glaube oder Angst im Glauben? Angst und Religion

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ausgeprägt mit uns herum tragen) in Grenzen halten zu können. Wer von Angst bestimmt wird, zieht sich auf sich selbst zurück und steht in der Gefahr, aus wichtigen familiär-gesellschaftlichen Zusammenhängen herauszufallen – ein negativer Regelkreis setzt ein. Wir brauchen tragfähige Bindungen, wir brauchen es, buchstäblich und im übertragenen Sinn, gehalten zu werden, um uns sicher und geborgen zu fühlen. Es ist tragisch zu beobachten, wie viele Menschen eine solche emotionale Sicherheit offenbar nicht erleben und dann zu kontraproduktiven Mitteln wie Aggression und Gewalt greifen, um ihre Angst zu bewältigen. 5. Angst kontra Glaube oder Angst im Glauben? Angst und Religion Die amerikanische Schriftstellerin Marilynne Robinson hat kürzlich in einem Essay mit dem Titel »fear« geschrieben: »fear is not a Christian habit of mind«.26 Sie bezieht sich auf Psalm 23, in dem es heißt »und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück …« Vertrauen auf Gott, auf seine Güte und Liebe, soll jede Angst aufheben. Religion, Glaube erscheinen als Gegenmittel gegen die Angst; an vielen Stellen der Bibel wird Angst als Ausdruck von Kleinglaube oder sogar von Unglaube gewertet. Die Jünger, die mit einem kleinen Boot auf dem See Genezareth in einen Sturm geraten und um ihr Leben fürchten, schilt Jesus Kleingläubige (Mk 4,35–41 parr). Spätere Textausleger dramatisieren diese Zuschreibung noch: Karl Barth sieht in der Geschichte einen »tiefen, tiefen Mangel an Glauben«; andere nennen die Angst einen Anlass sich zu schämen. Dietrich Bonhoeffer bezeichnet die Angst als den »Urfeind«: »Sie sitzt dem Menschen im Herzen, sie höhlt ihn aus, bis er plötzlich widerstandslos und machtlos zusammenbricht.« Den Menschen, der von Angst ergriffen ist, bezeichnet er als »Teufelsmenschen«.27 Und in der christlichen Dogmatik erscheint Angst als Ausdruck und Folge von Sünde.28 Warum diese extreme Angst vor der Angst? Warum erscheint Angst so bedrohlich für den Glauben? Warum wird Angst geradezu ideologisiert und Angstfreiheit zu einem immer wieder propagierten Ideal? Warum kommt die Aufforderung »fürchte dich nicht« ungefähr einhundert Mal in der Bibel vor? Offenbar kann Angst das Vertrauen auf Gott, Mut und Hoffnung so tief erschüttern, als eine so tiefe narzisstische Kränkung wahrgenommen werden, dass alles ins Wanken gerät – und das erscheint wiederum als äußerst bedrohlich. Insofern ist jene Aufforde26 27

Marilynne Robinson, Fear. The New York Review of Books, Sept. 24, 2015, S. 2. Zitiert bei Michael Klessmann, Angst und Angstbewältigung als Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion, Waltrop 1998, 19f. 28 Vgl. Gunda Schneider-Flume, Angst und Glaube, ZThK 88 (1991), 480f.

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rung »fürchte dich nicht« verständlich; sie ist ja gemeint als Trost, als Angebot zur Stärkung und Ermutigung. Aber funktioniert das? Wir wissen alle aus Erfahrung, dass man der Angst nicht befehlen kann zu verschwinden. Im Gegenteil: Die christliche Einstellung zur Angst ist ein gutes Beispiel für kontraphobisches Verhalten, das u.U. die Angst sogar noch verschlimmert, indem sie Schuldgefühle auslöst. Ich habe es erlebt bei einer depressiv gestimmten frommen Frau, die sich große Vorwürfe machte wegen ihrer Angst vor dem Sterben, von der sie meinte, sie eigentlich wegen ihres Glaubens nicht haben zu dürfen. Das kann man in reflektierter Form auch bei einem der populären theologischen Schriftsteller der Gegenwart, bei Eugen Drewermann finden: Für ihn ist die Überwindung der Angst »das einzig wesentliche Thema der Religion«.29 Der Mensch, so Drewermann, steht vor der grundsätzlichen Wahl zwischen Angst und Vertrauen; wenn der Mensch sich für Gott entscheidet, kann er im Vertrauen und damit angstfrei leben. Beispiel dafür ist Jesus: Drewermann stellt ihn als den absolut vertrauenden, angstfreien Menschen dar, an dem sich Christen ein Vorbild nehmen sollten. Damit verfolgt Drewermann, so würde ich ihn kritisch kommentieren, ein reduziertes Menschenbild: er propagiert den angstfreien Menschen. An einer Reihe von Gesprächsprotokollen aus der Seelsorge hat Hans-Christoph Piper gezeigt, wie Seelsorgende (man wird Ähnliches für Beratende annehmen dürfen) unbewusst ein solches reduziertes Menschenbild verfolgen, weil es damit für sie in der Situation des Gesprächs einfacher wird. Hinter ihren Interventionen wird als Ideal sichtbar: »der Mensch ohne Angst, ohne Zweifel, ohne Auflehnung und Aggression, ohne Klage oder Anklage«.30 Dieses merkwürdige Ideal ist sicherlich der Angst vor der Angst geschuldet; in seinen Konsequenzen macht es Menschen unmenschlich, weil es alle tiefen Emotionen, die uns lebendig machen – auch wenn es dadurch anstrengend wird – nicht wahr haben will und ausklammert. Interessanterweise gibt es in der Bibel neben dieser Argumentationslinie – Angst als zu bekämpfender Feind des Menschen und seines Glaubens – eine andere, entgegengesetzte: In vielen Psalmen wird die Angst direkt ausgesprochen und geradezu ausgebreitet: Die Betenden beschreiben ihre Angst und loten in starken, symbolträchtigen Bildern ihre Tiefe aus: Gewaltige Stiere umgeben mich, Ps 22; das Wasser geht mir bis an die Kehle, ich versinke in tiefem Schlamm …, ich habe mich müde geschrieen Ps. 69; »wir werden gedrückt und geplagt mit Schrecken und Angst« (KlgJer 3, 47) usw. Indem die Betenden ihre Angst derartig zum Ausdruck bringen, stellen sie sie aus ihrem Inneren heraus, 29 30

Zitiert nach Schneider-Flume, ebd., 486. Hans-Christoph Piper, Einladung zum Gespräch. Themen der Seelsorge, Göttingen 1998, 81.

5. Angst kontra Glaube oder Angst im Glauben? Angst und Religion

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bringen sie auf Distanz und dann entsteht neuer Raum für tröstliche Gegenbilder: Du bist bei mir, Ps. 23,4; du hörst mein Weinen, Ps 6,9; du hältst deine Hand über mir, Ps 139,5; der Herr verstößt nicht ewig (KlagJer 3, 31). In diesen zuletzt genannten Kontexten wird Angst nicht als Zeichen von Klein- oder Unglaube gewertet, sondern als Ausdruck eines Ringens zwischen der gegenwärtigen Bedrohung des Lebens auf der einen und erinnerter oder verheißener Rettung und der Hoffnung darauf auf der anderen Seite. Die Lebendigkeit der Klage in den Psalmen erwächst gerade aus dieser Spannung zwischen der erlebten Bedrohung und dem Widerstand dagegen. Der Widerstand beruft sich auf frühere gute und tragende Erfahrungen (Rettung des Volkes Israel aus Ägypten, oder das Faktum der eigenen Geburt, deren Bewahrung Gott zugeschrieben wird). Da wird eine »Erfahrung der Verlässlichkeit und Güte beschworen, die der Angst vorausliegt«.31 In diesem Ringen bleibt der Glaube verwickelt in die Auseinandersetzung mit den nicht aufgehobenen Bedrängnissen und Gefahren des Lebens. Es ist ein Kampf um die Wirklichkeit, genauer um die Deutung der Wirklichkeit. Der Glaube hebt die Angst nicht einfach auf; im besten Fall begrenzt er die Angst, umgibt sie mit einem Zaun, so dass sie einen nicht ganz wegschwemmt. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer »Angstfähigkeit im Glauben« sprechen;32 oder man könnte mit Paulus sagen, dass der Glaube gleichsam von »Furcht und Zittern« durchzogen (vgl. Phil 2,12) und gerade darin lebendig ist. Das Christentum pflegt also eine eigentümliche Ambivalenz: Auf der einen Seite schürt es die Angst vor Gott und dem Heiligen, vor dem Endgericht, vor Teufel und Hölle; auf der anderen Seite möchte es die Angst unbedingt überwinden durch Vertrauen und Hoffnung. Das Schüren der Angst verdankt sich sicher zum Teil dem Machtgebaren der Kirche, es hat aber letztlich tiefere Wurzeln. Der Religionsphilosoph Rudolf Otto hat die Reaktion des Menschen auf eine Begegnung mit dem Heiligen Fasziniert-Sein und Erschrecken (»fascinosum et tremendum«) genannt. Augenblicke, in denen Menschen dem Heiligen begegnen, sei es in der Natur, in der Kunst, im Raum der Religion, können tiefe Erschütterungen auslösen, die genau diesen zwiespältigen Charakter haben: Da zieht mich etwas zutiefst in seinen Bann und es erschreckt und ängstigt mich zugleich. Hier ahnt jemand etwas unendlich Größeres und Verborgenes, das zugleich trägt und bedroht. Das ist

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Klaus Seybold, In der Angst noch Hoffnung, in: Angst und Hoffnung, hg. von J. Fischer, Stuttgart 1997, 59f. 32 Vgl. G. Schneider-Flume, Angst und Glaube, ZThK 88 (1991), 478ff. Vgl. auch Michael Klessmann, Angst und Angstbewältigung, Waltrop 1998.

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die Natur der religiösen Erfahrung. Aber eben, dann gehört die Angst zum Glauben hinzu, in ihn hinein. Dieser Zwiespalt spiegelt sich im Begriff der Ehrfurcht: Die Autorität des Heiligen löst Respekt und Ehrerbietung aus. Mit dem, was einen zutiefst betrifft, geht man nicht locker und leger um, sondern mit Ernst und Scheu. Denn hier steht das ganze Leben auf dem Spiel. 6. Destruktive und konstruktive Strategien zur Bewältigung kollektiver und individueller Angst Angst stellt in der Regel eine sehr unangenehme Empfindung dar, deswegen tun wir viel, um sie nicht wahrzunehmen oder sie wenigstens so einzugrenzen, dass sie uns wenig belastet. Natürlich erfordern manchmal die Umstände, die eigenen Ängste situativ abzuwehren, sie zu verleugnen oder abzuspalten; wer das jedoch wiederholt und dauerhaft tut (oder unbewusst tun muss), handelt sich wohl eher destruktive Konsequenzen ein: Ein bestimmtes unzweckmäßiges Vermeidungsverhalten habitualisiert sich, die Bandbreite möglicher Lebensoptionen schränkt sich ein, und auch die Signalqualität der Angst ist dann ausgeschaltet. Die ganze Liste der Abwehr- oder Bewältigungsmechanismen, die bereits Anna Freud und ihrem Gefolge viele andere identifiziert haben, muss man im Blick auf die Angst nennen: Wir spalten Angst ab, nehmen sie nicht wahr, trennen Affekt und Idee, verkehren Angst in ihr Gegenteil, in Aggression, die wir wiederum auf andere, die wir zu Sündenböcken machen, projizieren usw. Diese klassischen Abwehrmechanismen lassen sich auch kollektiv beobachten. Die Gesellschaft als ganze ist von vielen Ängsten bestimmt – aber sie sollen nicht als solche benannt werden, weil unbedingt die Illusion aufrecht erhalten werden soll, dass wir »alles« im Griff haben. Einer Abwehr von Angst dient die Anhäufung von Wissen, Reichtum und Macht: Wissenschaft hat schon immer versprochen, gesellschaftliche Angstprobleme zu lösen, ihre Ursachen aufzudecken und neue Technologien zu ihrer Beseitigung zu entwickeln – bis sich irgendwann deren Schattenseiten offenbaren: Man denke an die Nutzbarmachung der Atomenergie, die uns von allen Energieproblemen erlösen sollte und unter der Hand viel größere Gefahren heraufbeschworen hat. Die Anhäufung von Wohlstand fungiert immer wieder als Mittel gegen die Angst: Mit Geld, so die Suggestion, kann man angeblich alles kaufen – aber eben nicht die Angst um das eigene Leben und seine Sinnhaftigkeit vertreiben. Ebenso gilt Macht als Gegengift gegen die Angst: Die Macht, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen und alle, die einem potentiell feindlich gesinnt sein könnten, an den Rand zu

6. Destruktive und konstruktive Strategien zur Bewältigung

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drängen, erzeugt ein Gefühl von narzisstischer Grandiosität, das alle ängstlichen Zweifel übertönt. Zu den Bewältigungsstrategien gehören natürlich nicht nur die Mechanismen gegen die Angst, sondern auch solche, die das Potential der Angst erkennen und nutzen wollen. An drei Beispielen »normaler« Angstbewältigung will ich das verdeutlichen: Der Philosoph Hans Jonas hat in den 70er Jahren unter dem Titel »Prinzip Verantwortung« eine »Ethik für die technologische Zivilisation« veröffentlicht.33 Sein zentraler Gedankengang: Die Folgen moderner Technologie sind langfristig unabsehbar, die Zerstörung unseres Planeten (durch Atomstrahlung oder CO2-Ausstoß) und damit allen Lebens ist zu einem möglichen Szenario geworden; wir tragen Verantwortung dafür, dass die Erde und alles Leben auf ihr, überlebt. Dann müssen wir uns bei technischen Entwicklungen die schlimmstmöglichen Konsequenzen vorstellen (Jonas spricht vom Vorrang der schlechten vor der guten Prognose oder davon, der Drohung größeres Gewicht als der Verheißung zu geben34); wir wissen alle, wie aus politischen und wirtschaftlichen Interessen die Folgen bestimmter Technologien verharmlost und schön geredet werden, das darf es nicht länger geben: Wenn auch nur die entfernte Möglichkeit besteht, dass ein Kernkraftwerk explodiert, dann muss man sich aus Verantwortung vor unserem eigenen und dem Leben der folgenden Generationen von dieser Technologie verabschieden. Wir müssen uns die schlechte Prognose gleichsam zu Herzen nehmen und die Furcht, die sie dann bei uns auslöst, wirklich spüren. Dann besteht die Chance, dass wir individuell und kollektiv aktiv werden, um die möglichen schlimmen Prognosen abzuwenden. Hier wird dann die Nächstenliebe, die sich auf den kleinen und überschaubaren Radius unseres Alltags bezieht, notwendig erweitert zur Fernstenliebe, zur Verantwortung auch für fernliegende Gegenden und Bereiche unserer Welt. Die Angst, die sich an solchen Voraussagen entzündet, macht uns hellsichtig und schärft unsere Verantwortung für Gegenwart und Zukunft.35 Dieses Modell könnte man gegenwärtig auch sehr gut für das Stichwort »Klimawandel« einsetzen; wenn wir uns bei diesem Menschheitsthema von den möglichen Bedrohungsszenarien leiten ließen, sähe unsere Welt wahrscheinlich schon anders aus. Eine zweite Möglichkeit eines produktiven Umgangs mit individueller Angst wird in der humanistischen Psychotherapie eingesetzt: Man kann der Angst eine Gestalt geben und mit ihr einen Dialog führen 33 34 35

Frankfurt a.M. 1984. Ebd., 71. Die Energiewende in Deutschland im Gefolge der Kernkraftwerksexplosionen in Fukushima kann man als ein Beispiel für eine so fundierte ethische Entscheidung verstehen.

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unter der Fragestellung »Was willst du mich lehren?«. Der Angst eine Gestalt zu geben, bedeutet bereits eine Distanzierung, die der Angst den Charakter des Überwältigenden nehmen kann. Durch den Dialog kommt eine differenzierte Auseinandersetzung in Gang, in dem Angst einerseits begrenzt, andererseits eine wichtige konstruktive Ressource werden kann.36 Eine dritte Möglichkeit kennen Sie aus der Meditation: Wenn es gelingt, sich aufmerksam und achtsam auf das »Jetzt« zu konzentrieren, hat Angst, die sich aus Vergangenheit oder Zukunft speist, keinen Raum und man spürt »ich bin viel mehr als mein momentanes Gefühl der Angst«37 – allerdings um den Preis einer individualisierenden, potentiell unpolitischen Engführung. In diesen beispielhaften Ansätzen wird der Mensch durch die Begegnung mit der Angst zum Menschen. Das Sprichwort »Hab Angst vor denen, die keine Angst haben« könnte man dann umwandeln: Vertrau denen, die ihre Angst wahrnehmen, ihr standhalten und bereit sind, produktive Konsequenzen aus ihr zu entwickeln.

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Vgl. Luise Reddemann, Imagination als heilsame Kraft, Stuttgart 152010, 68ff. Vgl. Luise Reddemann, Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt, Freiburg 102007, 134ff.

II Pastoralpsychologische Seelsorge mit depressiven Menschen38

1. Was bedeutet »pastoralpsychologisch orientierte Seelsorge«? In der Seelsorge begegnen wir häufig depressiv gestimmten Menschen: Ich denke an eine junge Frau, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hatte und nun wie erstarrt in ihrer Wohnung saß und nicht wusste, wie es für sie weitergehen sollte. Ich denke an den Besuch eines Pfarrers bei Konfirmandeneltern; bei diesem Besuch erfuhr er, dass im Obergeschoss die Mutter des Mannes im Bett lag, nur noch jammerte, sich überfordert fühlte von jeder kleinen Aufgabe, ständig von Ängsten und Schuldgefühlen umgetrieben war. Ich denke an den alten Mann, der ein Jahr nach dem Tod seiner Frau nicht mehr allein zurecht kam, in ein Altenheim ziehen musste, in das er nicht wollte und nun darüber nachgrübelte, wie er sich umbringen könnte. Ich denke an einen anderen Mann, der im depressiven Stupor bewegungslos in der psychiatrischen Klinik in seinem Bett lag und mit dem Seelsorger, der an sein Bett trat und ihn begrüßte, keinerlei erkennbaren Kontakt aufnahm. Wir begegnen in der Seelsorge Menschen mit solchen unterschiedlichen Ausdrucksformen von Depression relativ häufig. Das hat damit zu tun, dass Seelsorge ein niedrigschwelliges Angebot der Kirchen zur Begleitung von Menschen darstellt. Lange bevor Betroffene zum Arzt oder in die Klinik gehen, kann es sein, dass eine Seelsorgerin / ein Seelsorger bei einem Hausbesuch oder einem Krankenhausbesuch ihnen begegnet und dann herausgefordert ist, sich angemessen zu verhalten. Sie müssen dann wache Aufmerksamkeit für die Person, ihre Biographie und ihr Umfeld zeigen; bereits das tut den meisten Menschen ausgesprochen gut, wenn jemand so – absichtslos – für sie Interesse zeigt und darin Wertschätzung bekundet. Das Besondere der Seelsorge im Vergleich zu Beratung oder Psychotherapie ist der religiöse Horizont, in den sie eingebunden ist. Sobald sich jemand als Pfarrer/in oder als Mitglied eines kirchlichen Besuchsdienstes vorstellt, ist dem Gegenüber klar, dass das folgende Gespräch im Horizont von Religion stattfindet, d.h. in einem Horizont, in dem die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz, von Gott und Mensch, Sünde und Gnade, Leben und Tod, gut und böse etc. leitend ist. Die Seelsorgeperson bringt gewissermaßen Gott mit und steht für 38

Vortrag am 27.5.2010 in Düsseldorf im Rahmen eines Symposions zur Seelsorge mit depressiven Menschen.

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II Pastoralpsychologische Seelsorge mit depressiven Menschen

»ihn« ein (ob das ausdrücklich zur Sprache kommt oder nicht) – und das belebt natürlich im Gegenüber alte Erfahrungen und Gefühle mit Religion: Mit den Geschichten der Oma, mit dem Konfirmator, mit dem Religionslehrer in der Schule, mit dem Pfarrer bei der Trauung, mit der Pfarrerin bei der Beerdigung des Opas. Interesse oder Langeweile, Angst oder Zuwendung, Wut, Enttäuschung, Sehnsucht, Hoffnung, Zutrauen – alte Erfahrungen werden lebendig und in die neue Situation eingetragen. Bei depressiv gestimmten Menschen ist manchmal die Erwartung an den Seelsorger als Repräsentanten Gottes oder des Heiligen besonders groß. Depressive Menschen erleben sich selbst als weitgehend hilflos, ohnmächtig oder minderwertig – umso größer sind die Erwartungen an jemanden, der im Namen Gottes auftritt. Und die Gefahr ist besonders groß, dass der Seelsorger / die Seelsorgerin dieser Suggestion gerecht werden möchte: Nach einer Weile sind beide unvermeidlich umso tiefer enttäuscht. Auch der Mann Gottes oder die Frau Gottes kocht nur mit Wasser und muss an riesigen Erwartungen scheitern! Pastoralpsychologisch orientierte Seelsorge ist eine, die das Geschehen der Seelsorge zusätzlich zu einem theologischen Grundverständnis mit Hilfe von psychologischen oder sozialpsychologischen Erkenntnissen und Methoden besser und vertieft zu verstehen und zu praktizieren sucht. Die Theologie, die ein Pfarrer/in im Studium gelernt hat, reicht nicht für die Praxis der Seelsorge, finde ich – und auch der gesunde Menschenverstand langt nicht. Man sollte zusätzlich etwas gelernt haben über Gesprächsführung, Kenntnisse aus Kommunikationstheorie und Psychotherapie mitbringen – und vor allem: Man sollte sich mit der eigenen Person und Biographie intensiv auseinandergesetzt haben. Denn Seelsorge bedeutet immer, sich auf eine Beziehung einzulassen – und an einer Beziehung sind beide beteiligt, auch die Seelsorgeperson bleibt da nicht neutral und distanziert. Ein Mensch, der mir gegenübertritt, aktiviert und reaktiviert auch in mir als Seelsorger alte Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe; alte Ängste und Hoffnungen, Verletzungen und Erfolge, Vorlieben und Abneigungen fließen ein in die Interaktion mit dem/der anderen – dazu muss ich meine Anteile ansatzweise kennen, sonst werde ich unbewusst von ihnen bestimmt. Es geht in der Seelsorge darum, einen Raum der Wertschätzung und des Vertrauens entstehen zu lassen, in dem sich ein fremder Mensch ermutigt fühlt, sich zu öffnen. Damit ein solcher Raum entstehen kann, muss ich wissen, was ich dazu beitragen kann oder wie ich es – meistens unbeabsichtigt – verhindere. In diesem Sinn verstehe ich Pastoralpsychologie als eine Wissenschaft und eine Reihe von methodischen Ansätzen, die Seelsorge kritisch bereichern, vertiefen und ihr eine professionelle Qualität verleihen. Einige Perspektiven, die mir für die Seelsorge mit depressiven Menschen hilfreich und wichtig erscheinen, möchte ich Ihnen im Folgenden vorstellen.

2. Soziologische Perspektiven

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2. Soziologische Perspektiven Depression als individuelles Schicksal ist in konkrete gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet, die man auch in der Seelsorge berücksichtigen sollte. Ich nenne drei Punkte: 2.1 Der französische Soziologe Alain Ehrenberg vertritt in seinem 1998 erschienenen Buch »Der erschöpfte Mensch« die These: Der depressive Mensch »ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen«.39 Es gibt nur noch wenige verbindliche Vorgaben, denen wir folgen müssten; moralische Gesetze, haltgebende Traditionen pluralisieren und relativieren sich immer mehr, Institutionen wie die Kirchen verlieren ihre Leitfunktion und lassen uns gleichsam führungslos werden. Die Möglichkeit zu wählen und zu entscheiden ist zum Zwang geworden: Wir müssen ständig Entscheidungen treffen, weil nichts mehr selbstverständlich vorgegeben ist. »Das ideale Individuum wird nicht mehr an seiner Gefügigkeit gemessen, sondern an seiner Initiative.«40 Depression, so Ehrenberg, ist die Krankheit derer, die sich angesichts dieser Daueranstrengung, man selbst zu werden, originell zu sein, ständig in Kommunikation mit anderen zu stehen, erschöpfen und kaputt machen; deren Ansprüche und Ziele zu hoch sind, deren Ressourcen zu begrenzt sind, als dass sie diesem Dauerstress gewachsen wären; die sich dann in eine umfassende »Hemmung aller psychischen Vorgänge«, wie sie schon Emil Bleuler als für die melancholische Depression charakteristisch genannt hat,41 zurückziehen und sich gleichsam dem Leben, dem Lebendigen mit seinem Auf und Ab, mit seinen schönen und schmerzlichen Seiten verweigern. Die soziale Erwartung verstärkt die individuelle Dynamik: Es ist bekannt, dass depressiv gestimmte Menschen sich häufig durch ein hohes Leistungs- und Perfektionsideal auszeichnen und jedes Zurückbleiben hinter diesen Idealen als persönliches Versagen bewerten. Damit entsteht ein Kreislauf zwischen gesellschaftlichen und individuellen Faktoren: Der gesellschaftliche Leistungsanspruch wird von Einzelnen übernommen und verschärft, das individuelle Ideal wird durch den gesellschaftlichen Rahmen verstärkt und gleichsam zementiert. 2.2 Der Psychoanalytiker Eberhard Haas spitzt diese Diagnose noch um den Begriff des Transzendenzverlustes als Kehrseite und Folge der

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Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2008, 14f. 40 Ehrenberg, ebd., 19. 41 Zitiert nach Rainer Tölle, Klaus Windgassen, Psychiatrie, Heidelberg 142006, 238.

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Aufklärung zu:42 Religion bietet vom Ansatz her Entlastung von Selbstüberforderung an: Gott rechtfertigt den Sünder – das heißt, wir müssen uns nicht ständig selbst beweisen und rechtfertigen, sondern dürfen aus dem Vertrauen heraus leben, dass wir in einem letzten Sinn getragen und gehalten sind – egal was passiert. Aber ein solches Grundvertrauen ist für viele Zeitgenossen entfallen; das Sinnpotential der Religion erscheint überholt und abständig; der Verlust einer Jenseitsvorstellung erhöht den Druck, nun alles Wünschenswerte im Diesseits erleben zu müssen; der Glaube an den Menschen erscheint leichter als der Glaube an Gott als einer transzendenten Instanz, der man, wie es ein Gesangbuchvers formuliert, »Leib, Seel’ und Leben anheimstellen« konnte (EG 443,6). Jetzt muss man alles selber leisten – viele sind davon überfordert, müssen mit dem Druck leben oder zerbrechen daran. 2.3 Schließlich sollte man auf die verbreitete Verdrängung von Sterben und Tod und die damit verbundene Unterdrückung von Trauer in unserer Gesellschaft verweisen.43 Wenn Trauer als notwendige und hilfreiche Reaktion auf die unvermeidlichen Abschiede im Leben, vor allem im Blick auf den letzten Abschied, den Tod, vermieden, durch Drogen betäubt, durch Konsum und eine event-Kultur überspielt wird, legt sich gleichsam ein Schatten über das ganze Leben, dämpft die gesamte Lebendigkeit, das Erleben wird irgendwie gleichförmiger und gleichgültiger. »Alles Verdrängen von Trauer gleicht einem Ansparen auf eine Depression«, schreibt Rüdiger Dahlke.44 Es ist mir wichtig, solche gesellschaftlich-kulturelle Dimensionen dieser Erkrankung im Blick zu haben: Dann erscheint Depression nicht nur als individuelles Schicksal, sondern auch als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Und dann stellt sich m.E. die Frage, ob Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen Gegenakzente setzen und Lebensmilieus entwickeln kann, in dem Betroffene von diesem Stress, sie selbst zu sein, ein wenig entlastet sind; in dem Fragen nach Gott und dem Heiligen, nach Leben und Tod Platz haben; in dem Menschen ermutigt werden zu trauern, da wo es angebracht ist. Katholische Pastoralpsychologen haben von der Gemeinde als einem potentiell redemptiven, also einem erlösenden, befreienden und unterstützenden Milieu gesprochen.45 Ich zögere, in diese anspruchsvolle Formulierung einzustimmen, weil klar ist, dass Kirche den gesellschaftlichen Trends nicht entnommen ist und insofern nur in sehr begrenztem Maß eine Gegenwelt aufbauen kann. Trotzdem 42

Eberhard Th. Haas, Transzendenzverlust und Melancholie. Depression und Sucht im Schatten der Aufklärung, Gießen 2006. 43 Vgl. Rüdiger Dahlke, Depression. Wege aus der dunklen Nacht der Seele, München 2010, 186ff. 44 Dahlke, ebd., 370. 45 Vgl. Heribert Wahl, Lebenszeichen von Gott – für uns, Münster 2008, 250ff.

3. Religion und Depression – religionspsychologische Perspektiven

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scheint es mir wichtig, den Netzwerkcharakter von Gemeinde als Ressource zu erkennen und zu fördern. 3. Religion und Depression – religionspsychologische Perspektiven Religionspsychologische Forschungen haben in der Vergangenheit das pathologische Potential einer religiösen Orientierung in den Vordergrund gerückt: Das christliche Menschenbild mit seiner Betonung der Sünde und Schuld des Menschen und der Drohung von Verdammung und Hölle verstärke die düsteren und ängstigenden Aspekte des Lebens, fördere den anstrengenden moralischen Kampf für das Gute und gegen das Böse, klammere die freudigen und lockeren Seiten des Alltagslebens tendenziell aus und verstärke damit depressive Charakterstrukturen. So konnte man es verbreitet lesen. Seit einer Reihe von Jahren hört man viel über die gegenläufige These: Neuere Forschungen zum Zusammenhang von Religion und Gesundheit kommen manchmal sehr vollmundig daher, vor allem, wenn sie aus dem US-amerikanischen Kontext stammen, und behaupten, Religiosität fördere in jedem Fall das physische und psychische Wohlbefinden, trüge zur besseren Krankheits- und Lebensbewältigung bei. Solche Behauptungen sind kaum aufrecht zu erhalten; denn Religion ist der Ambivalenz des Lebens nicht entnommen: Religion enthält zweifellos depressionshemmende Faktoren, sie trägt aber auch Elemente in sich, die Depression verstärken oder ihr Vorschub leisten. Auf beide Aspekte sollte man in der Seelsorge achten: Zunächst einmal erscheint die Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Religiosität, die der amerikanische Religionspsychologe Gordon Allport schon in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen hat, von großer Bedeutung. Intrinsische Religiosität bezeichnet eine religiöse Einstellung, in der die betreffende Person aus innerer Überzeugung heraus, sozusagen aus ganzem Herzen, ihren Glauben lebt. Die Person ist überzeugt von ihrem Glauben, die entsprechende Praxis, Engagement für religiöse Lehren und Traditionen, ist dann um der Sache willen selbstverständlich und unverzichtbar. Extrinsische religiöse Orientierung meint demgegenüber eine Haltung, die sich an Glaube und Kirche vorrangig aus Gründen sozialer Erwünschtheit orientiert: Wenn es in bestimmten Kreisen üblich ist, dass man sich religiös interessiert gibt, dann tun wir das auch, das bringt Vorteile in der Einschätzung anderer, ist also im Grunde utilitaristisch motiviert. Wer in der Diakonie einen Arbeitsplatz haben will, muss seine Zugehörigkeit zu einer Kirche nachweisen und gelegentlich auch mal im Gottesdienst erscheinen. Weihnachten geht man in den Gottesdienst, weil dadurch das Fest erst feierlich wird.

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Interessant ist nun das inzwischen vielfach bestätigte Ergebnis religionspsychologischer Forschung, dass Personen mit einer intrinsischen religiösen Orientierung niedrigere Depressivitätswerte aufweisen als extrinsisch motivierte.46 Für ein solches Ergebnis lassen sich eine Reihe von Gründen namhaft machen: – Religiös engagierte Menschen gehören häufig zu einer Gemeinde, die als stützendes Netzwerk erlebt werden kann. In der Gemeinde erfahren Betroffene Anerkennung und Zuwendung – und das stabilisiert natürlich besonders in Krisensituationen. – Religiös engagierte Menschen finden in ihrem Glauben Sinngebungen für eine unüberschaubare Welt und für schwierige biographische Ereignisse. Der Glaube an Gott und seine Liebe kann dazu motivieren, ein krisenhaftes Ereignis besser anzunehmen oder auch dagegen zu klagen und zu protestieren. Der israelische Gesundheitswissenschaftler Aaron Antonowsky hat die inzwischen verbreitete These vertreten, dass ein Kohärenzgefühl, also das Gefühl, dass im eigenen Leben die Dinge mehr oder weniger sinnhaft geordnet sind, einen wichtigen Beitrag zum Gesundsein oder zum Bewältigen von Krankheit darstellt. – Das Vertrauen, von Gott geliebt und angenommen zu sein, stärkt das Selbstwertgefühl. Auch wenn man sich selbst gerade in Krisensituationen nichts mehr zutraut und sich selbst nicht leiden kann, bleibt die Zusage des Glaubens, dass jeder Mensch als Geschöpf Gottes liebens- und anerkennenswert ist. Religiosität kann, so gesehen, eine Art von Pufferwirkung ausüben: Der Glaube an einen liebenden Gott tritt gewissermaßen zwischen das eigene Ich und die Angstvorstellungen, die es sich macht.47 Allerdings gibt es auch die Kehrseite: Biblische Geschichten vom strafenden und richtenden Gott, der die sündigen Menschen gnadenlos der Höllenstrafe überantwortet (denken Sie an das Gleichnis vom großen Weltgericht Mt 25); die Vorstellung vom Menschen als einem, der ganz und gar in Sünde und Schuld verstrickt und zu nichts Gutem fähig ist, wie das in vielen Sündenbekenntnissen zum Ausdruck kommt; der Satz, dass die Sünde gegen den hl. Geist nicht vergeben werden kann; Passionslieder, die ausführlich darstellen, wie der Mensch durch seine 46

Vgl. Anette Dörr, Religiosität und Depression, Weinheim 1987; Bernhard Grom, Religionspsychologie, 3. völlig neu überarbeitete Auflage, München 2007, 251. Vgl. auch Christine Thomas u.a., Religiöse Motivation und Depression im Alter, in: Günter Thomas / Isolde Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft, Stuttgart 2009, 603–613. Die AutorInnen der klinisch-prospektiven Studie kommen zu dem Fazit: »Religiös stärker motivierte Patienten sind bei der stationären Aufnahme und im Verlauf weniger depressiv als nicht und weniger religiös motivierte Patienten« (613). 47 Vgl. Grom 2007, 90.

4. Gottesbilder und ihre Ambivalenzen

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Sünde den Tod des Gottessohnes verursacht hat (z.B. EG 81,3) etc. – von solchen Vorstellungen fühlen sich depressiv gestimmte Menschen besonders angesprochen, alle Anklänge an Sünde und Schuld bestätigen sie in ihrem Gefühl des Scheiterns, der Verlorenheit und Verworfenheit.48 Oft genug habe ich von depressiven Menschen gehört, dass sie nicht mehr glauben könnten, dass sie den Zugang zum Gebet verloren hätten, dass ihnen Kirchgang oder das Singen eines Chorals eine Qual geworden seien etc. – und wegen dieses »nicht-mehr-Könnens« empfanden sie zusätzliche Scham- und Schuldgefühle. Die »gute Nachricht« erreicht sie nicht, findet in dieser Situation kein Gehör und kein Verständnis. So entsteht ein sich selbst verstärkender negativer Regelkreis. Es hängt also stark davon ab, welche Art von Kirchlichkeit bzw. Religiosität ein depressiver Mensch erlebt hat, ob die depressionshemmenden oder die depressionsfördernden Aspekte überwiegen. Es lohnt sich, in der Gestaltung von Gottesdiensten z.B. darauf zu achten – auch wenn man es natürlich nicht in der Hand hat, wie bestimmte Aussagen in Liturgie oder Predigt von depressiven Menschen aufgenommen werden. 4. Gottesbilder und ihre Ambivalenzen Am deutlichsten kommt die Ambivalenz von Religion zum Ausdruck in den Gottesbildern, u.z. sowohl in denen, die in den biblischen Traditionen überliefert werden als auch in denen, die einzelne Menschen aus der großen Vielzahl der Vorstellungen auswählen. Zwar heißt es an verschiedenen Stellen der Bibel, dass Gott nicht erkannt werden kann, in einem unzugänglichen Licht wohnt (1Tim 6,16), als Geheimnis und Urgrund allen Lebens ganz anders ist, als wir es uns vorstellen. Trotzdem oder gerade deswegen machen wir uns Bilder von dem Göttlichen, vom Heiligen, weil es sonst abstrakt bleibt und wir uns mit Abstraktionen nicht in Beziehung setzen können. Die Bilder, die wir uns von Gott machen, sind Spiegel der jeweiligen Kultur und der individuellen Lebenserfahrungen bzw. Lebensgefühle – und sie sind und bleiben Annäherungen an die Wirklichkeit des Heiligen. Bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Gott häufig als der strenge und strafende Richter dargestellt, so war er Bestandteil einer autoritären Gesellschaftsstruktur und Erziehungspraxis. Der Film »Das weiße Band« zeigt in erschütternder Weise, wie dieses Gottesbild eine autoritäre Erziehung religiös legitimiert und bei den betroffenen Kindern Ängste und Beschämung auslöst, die sich dann wiederum ein Ventil in heimlichen Gewalttaten suchen. 48

Vgl. die Schilderungen von Piet Kuiper, Seelenfinsternis, Frankfurt a.M. 1988, 90ff.

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Nicht zufällig kam in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts das Stichwort von der ekklesiogenen Neurose auf, also einer neurotischen Entwicklung, die überwiegend von strengen, angsteinflößenden religiösen Bildern und Normen ausgelöst wurde. Das bekannteste literarische Zeugnis einer solchen seelischen Verkrümmung ist das Buch »Gottesvergiftung« von Tilman Moser – ein Buch, in dem eindringlich erzählt wird, wie der kleine Tilman angesichts eines alles sehenden und alles wissenden Gottes in ständige Angst und Schrecken versetzt war und in einen depressiv getönten Selbsthass geriet.49 Alles Lebendige, Sexualität, Aggression, Neugier etc. war verboten, musste unterdrückt werden. Wundert es, wenn dadurch der depressiven Erstarrung, der Abspaltung lebendiger Gefühle, Vorschub geleistet wird? Gegenwärtig sind solche religiösen Erziehungsstrukturen kaum noch anzutreffen, vielleicht noch in manchen freikirchlich-pietistischen Milieus.50 Wichtig bleibt trotzdem, die Ambivalenz der Gottesbilder nicht zu übersehen: Sie entsprechen der Wahrnehmung des Heiligen, wie es schon Rudolf Otto beschrieben hat: Das Heilige wird als fascinosum et tremendum erlebt, als das Faszinierende und zu Fürchtende – wie denn auch Luther in der Erläuterung der Zehn Gebote jede Erklärung beginnt mit dem Satz »Wir sollen Gott fürchten und lieben …«. Es geht also nicht ohne eine solche Zwiespältigkeit: Die göttliche Wirklichkeit, die uns trägt und bewahrt, ist zugleich auch die, die uns schlägt und vernichtet. Im Buch Hiob heißt es: »Denn er [der Allmächtige] verletzt und verbindet, er zerschlägt und seine Hand heilt.« (Hi 5,18) Damit entspricht diese doppelgesichtige Gotteserfahrung der menschlichen Lebenserfahrung, in der sich immer Freude und Leid, Hoffnung und Angst, Macht und Ohnmacht, Erfolg und Scheitern mischen. Gott ist nicht nur der »liebe Gott«, zu dem wir ihn in Gebeten häufig verharmlosen, sondern immer diese liebevolle und erschreckende, gnädige und richtende Wirklichkeit zugleich. Wenn diese Spannung festgehalten und nicht einseitig aufgelöst wird, können Menschen nach meinem Eindruck durchaus damit leben, sich der göttlichen Wirklichkeit in Lob und Klage zuwenden. Erst wenn die richtenden und strafenden Aspekte der Gotteserfahrung einseitig hervorgehoben und zusätzlich in einen autoritäre pädagogische Struktur eingebunden werden, wenn Gott zum verborgenen großen Erzieher wird, der die strafenden Impulse von Eltern und Lehrern religiös legitimiert und unangreifbar macht, entsteht 49

Tilman Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt a.M. 1976. Der Psychiater Piet Kuiper, ebd., 40ff, schreibt über die strengen religiösen Überzeugungen seiner Mutter, denen er eine Mitursache an seiner Depression zuweist. 50 Christoph Morgenthaler und Gina Schibler berichten in ihrem Buch »Religiösexistentielle Beratung«, Stuttgart 2002, 79 und 94ff von Theologiestudierenden, die aus einem freikirchlichen Milieu stammen und unter religiös motivierten Ängsten und Schuldgefühlen leiden.

5. Die Rolle der Angehörigen

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daraus eine Angst erzeugende, Depressionen fördernde Atmosphäre. Darauf gilt es zu achten. Eine Form der Reaktion auf die Furcht auslösende Dimension der Gottesbegegnung ist die Depression, d.h. die seelische Erstarrung angesichts der Angst machenden Dimensionen. In der Erstarrung vermeidet der Betroffene die Auseinandersetzung, die Klage und Anklage, zieht sich zurück auf das eigene Ungenügen, den Kleinglauben oder Glaubensmangel. Und die Vertreter der Kirche haben immer wieder dazu beigetragen, diese Erstarrung zu fördern, weil sie den Machtinteressen der Institution entgegen kam. Wenn im seelsorglichen Gespräch die Rede auf Gottesbilder kommt, erscheint es mir wichtig, den ambivalenten Charakter dieser Bilder zu berücksichtigen. 5. Die Rolle der Angehörigen Wie bei allen Krankheiten steht in aller Regel die betroffene Person im Mittelpunkt seelsorglicher Aufmerksamkeit. Bei einer depressiven Erkrankung sind jedoch Angehörige und Freunde in besonderer, oft verwirrender Weise mitbetroffen – und wir sollten in der Seelsorge dafür sensibilisiert sein, diesen familiären Kontext, die Familie als System, mit in den Blick zu nehmen. Angehörige sind, sofern ein depressiv erkrankter Mensch nicht in eine Klinik aufgenommen werden muss, mehr oder weniger den ganzen Tag mit ihm/ihr zusammen und emotional natürlich besonders eng verbunden und verstrickt. Wenn es nun dazu kommt, dass ein Familienmitglied in einem schleichenden Prozess depressiv wird, seine alltäglichen Aufgaben nicht mehr angemessen wahrnehmen, seine Rolle als Vater oder Mutter, als Partner oder Partnerin nicht mehr ausüben kann, von Todesängsten geplagt wird, hilflos und abhängig erscheint, dann erleben Angehörige einen solchen Prozess mit einer heftigen Gefühlsmischung: Da entsteht echtes Mitgefühl und Erschrecken angesichts solcher Veränderungen des vertrauten Menschen; da entsteht der Wunsch, verstärkt Liebe, Rücksicht und Zuwendung zu vermitteln; da wächst aber auch Unverständnis: »es kann doch nicht sein, dass du nicht einmal mehr die Teller abwaschen kannst«; da ist der spontane Impuls zu sagen »reiß dich doch zusammen, so schwierig kann es doch nicht sein …«; da entsteht zunehmend Frustration und Ärger, die wiederum Schuldgefühle auslösen. Hilflosigkeit und unterdrückte Aggression des depressiven Menschen übertragen sich auf das Umfeld: Man will ihm/ihr doch helfen, will einfühlsam und nahe sein, Zuwendung und Mitgefühl anbieten – und erlebt schnell, wie diese Zuwendung nicht ankommt, die Depression sich manchmal sogar zu verschlimmern scheint, so dass die Angehörigen

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ihrerseits sich zunehmend hilflos und ärgerlich fühlen. Es ist, als ob die unterdrückte Aggression der hauptsächlich betroffenen Person von den Außenstehenden um so stärker empfunden wird – worauf sie wiederum mit Schuldgefühlen reagieren, weil man auf einen leidenden Menschen doch nicht ärgerlich sein darf. So entstehen Teufelskreise von Depression und Aggression, von Schuldgefühlen, Besänftigungs- und Wiedergutmachungsversuchen, von Rückzug, Streit und Wiederannäherung – Teufelskreise, die für alle Beteiligten anstrengend und kräftezehrend wirken. Man könnte manchmal geradezu von einem Liebestest sprechen, den die depressive Person mit ihrem Umfeld anstellt: Wer hat mich wirklich lieb? Wer hält mich – so schrecklich wie ich bin – aus?51 Es ist klar, dass dieser paradoxe Test für alle nur destruktiv ausgehen kann. Der hilfsbereite Angehörige erlebt sich selbst als frustriert und ärgerlich und unterstellt dem hilfsbedürftigen Familienmitglied, dass er einen quälen und erpressen wolle. »Es ist so schwierig einzusehen, dass eben beides zugleich da ist: das Gefühl absoluter Wertlosigkeit einerseits und (unbewusst) massiver Hass auf reale oder ›verinnerlichte‹ Bezugspersonen andererseits. Der Wunsch zu sterben einerseits und (unbewusst) der Wunsch zu ›töten‹. Die Meinung, total zu versagen und (unbewusst) ein sehr hoher Anspruch an sich selbst und/oder an die Hilfe und Aufmerksamkeit der Umwelt. Beides liegt in ein und derselben Person, aber es liegt weit, weit auseinander …«52 Angesichts dieser schwierigen und belastenden Situation tut es Mitbetroffenen wohl, wenn sie überhaupt von der Seelsorge wahrgenommen und ihre Belastung auch gewürdigt wird. Angehörige von depressiven Menschen brauchen selber Zuwendung und Aufmerksamkeit. Weiter kann es für die Angehörigen entlastend sein zu hören, dass sie Mitbetroffene einer ernst zu nehmenden Krankheit sind, dass sie Angehörige sind und bleiben, also nicht zu Therapeuten des Familienmitglieds werden sollen, dass sie das Recht haben, sich zeitweilig zurückzuziehen und für ihr eigenes Wohlbefinden zu sorgen, dass sie ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe einschalten sollten, nicht zuletzt, um eigenen Erschöpfungszuständen vorzubeugen. 6. Anregungen für die Seelsorge Aus der Vielfalt der Anregungen, die es für eine seelsorgliche Begleitung von depressiven Menschen aus pastoralpsychologischer Sicht gibt, nenne ich einige ausgewählte Punkte: 51

Zitiert bei Jochen Schweizer / Arist von Schlippe, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II, Göttingen ²2007, 80. 52 Paul Gerhard Nohl, Mit seelischer Krankheit leben. Hilfen für Betroffene und Mitbetroffene, Göttingen 1981, 158.

6. Anregungen für die Seelsorge

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Einen Raum der unbedingten Wertschätzung eröffnen Seelsorge geschieht absichtslos in dem Sinn, dass sie zunächst einmal nichts erreichen will. Seelsorge stellt keine Diagnose im medizinischen Sinn, muss und will nicht wie Psychotherapie oder psychiatrische Hilfe bestimmte Ziele erreichen. Seelsorge ist ein Angebot, in dem Betroffene ohne Vorleistung Wertschätzung erfahren sollen und können, Wertschätzung durch die seelsorgende Person, die gewissermaßen Gott mitbringt und in ihrer begrenzten Zuwendung und Wertschätzung auf die grenzenlose Zuwendung und Wertschätzung Gottes verweist und aufmerksam macht.



Beziehung hat Vorrang Kurze stützende und regelmäßige Kontakte sind wichtiger als lange Gespräche, die mit depressiven Menschen sowieso häufig nicht gelingen.53 Seelsorgende müssen von sich aus immer wieder auf depressive Personen zugehen; mangelnde Resonanz heißt nicht, dass die Begegnung nicht wichtig war. Präsenz, Freundlichkeit, Verlässlichkeit und Initiativeergreifen sind Qualitäten, die die Grundlage bilden für eine vertrauensvolle Beziehung. In einer solchen Beziehung kann sich jemand, dem aller Halt verloren gegangen ist, gehalten fühlen. So setzt eine vertrauensvolle Beziehung heilende Kräfte frei. Auch das, was wir als Trost oder Glaube oder Hoffnung weiter geben möchten, kommt im Grunde nur an, wenn es auf der Beziehungsebene eingebunden ist. »Ein Seelsorger ›erzählt‹ doch gerade dann glaubwürdig von Gottes Nähe und Treue, wenn er selbst einem leidenden Menschen nahe und treu und so mit ihm solidarisch ist.«54



Lebensdeutungen gemeinsam bedenken55 Depressive Menschen sehen in ihrem Leben nur das Dunkle, das Scheitern, die Sinnlosigkeit, d.h. die Bedeutung, die sie ihrem Leben geben, ist von der Depression schwarz oder bestenfalls grau eingefärbt. Selbst ein Sonnentag wirkt auf sie deprimierend. Diese Bedeutungsgebung ist von der Seelsorgeperson zunächst einfach ernst zu nehmen: So sieht und erlebt dieser Mensch sich selbst und seine Welt, so sehen seine Gedanken und Gefühle momentan aus. Man darf als Außenstehender nicht versuchen, dem Anderen nun gleichsam beweisen zu wollen, dass sein Leben oder die Welt so schwarz doch nicht sei; das führt nur dazu, dass sich der Depressive nicht ernst genommen fühlt.



53 54 55

Vgl. Klaus Kießling, Seelsorge bei Seelenfinsternis, Freiburg 2002, 320ff. Kießling 2002, 361. Zum Thema Lebensdeutung in der Seelsorge vgl. Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn ²2009, 178ff.

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Aber man kann gemeinsam nach Differenzierungen und kleinen Akzentuierungen suchen: Z.B. ob sich denn das Dunkle immer gleich anfühle oder ob es in bestimmten Zusammenhängen Unterschiede gäbe etc. Besonders hilfreich finde ich das Bedenken von Bildern: Ein Klinikseelsorger hat mit einem depressiven Patienten das Logo der evangelischen Krankenhausseelsorge angeschaut: Zunächst konnte sich der Mann in dem Baumstumpf wieder finden, abgebrochen und vertrocknet; aber dann konnte er auch vorsichtig den seitlich neu austreibenden Zweig wahrnehmen: Gibt es neben dem Vertrockneten auch Neues? Wichtig ist, dass der Betroffene das selbst erkennen und sagen darf bzw. muss, dass ihm solche Einsichten nicht von außen aufgedrängt werden. Depression als Krankheit anerkennen Es ist für Betroffene und ihre Angehörigen von Bedeutung, Depression als Krankheit und schwere Belastung anzuerkennen und sie nicht als Mangel an Energie und Tatkraft abzuwerten. Wer nie eine Depression durchlebt hat, weiß nicht wirklich, wie sich dieser Zustand anfühlt. Außenstehende können sich dem höchstens ahnend annähern – obwohl das auch schon viel ist. Alle Beteuerungen, man sei auch schon mal deprimiert gewesen und könne deswegen den Zustand des anderen Menschen verstehen und nachfühlen, wird von diesem als kränkend und abwertend erlebt, verstärkt insofern die depressive Symptomatik. Wer Depression als Krankheit würdigt, sollte dann auch Betroffene und Angehörige ermutigen, ärztliche, psychiatrische, psychotherapeutische Hilfe zu suchen.



Depression als Ausdruck von Sensibilität würdigen Depression kann auch als Ausdruck von Sensibilität, Feingefühl, und berechtigtem Leiden am Elend der Welt gewürdigt werden. Es stimmt ja, dass depressive Menschen sich von den Umständen der Welt und des Lebens viel tiefer anrühren lassen als der Großteil der Zeitgenossen, die cool über alle düsteren Zukunftsprognosen hinweggehen. Das Leiden depressiver Menschen kann als durchaus angemessene Resonanz auf Ungerechtigkeit, Gewalt und Hoffnungslosigkeit im menschlichen Zusammenleben verstanden werden. Es sähe wahrscheinlich anders aus in unserer Welt, wenn mehr Menschen so von den Umständen betroffen wären.



Depression und Trauer unterscheiden Seelsorgende haben oft mit trauernden Menschen zu tun, da kann es hilfreich sein, das Phänomen der Trauer von Depression abgrenzen zu können:56



56

Zum Folgenden Christoph Morgenthaler, Seelsorge, Gütersloh 2009, 184f.

6. Anregungen für die Seelsorge

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Trauernde beschäftigen sich mit einer verloren gegangenen Person, depressive Menschen mit der eigenen Person. Trauernde kennen den Grund ihres Zustandes, Depressive meistens nicht oder nicht mehr. Depressive haben häufig heftigere Schuldgefühle als Trauernde. Bei depressiven Menschen sind Denken und Handeln verlangsamt; Bei Trauernden lassen sich heftige und wechselnde Gefühle (Schmerz, Wut, Ängste) beobachten, Depressive erscheinen chronisch niedergeschlagen und gefühllos. Da menschliches Leben ständig von Abschieden geprägt ist, bezeichnet Trauer eine notwendige, lebenswichtige Reaktion. Depression kann man dann als vermiedene, nicht gelebte Trauer verstehen.

Depressive Dynamik verstehen Die depressive Dynamik zu verstehen, kann hilfreich sein, weil man Distanz gewinnt und nicht unmittelbar in die depressive Atmosphäre verstrickt wird. Eine der grundlegenden Erkenntnisse der Psychoanalyse heißt: Alles Seelenleben ist ambivalent und konflikthaft strukturiert. Wir sind bewusst und unbewusst immer von spannungsvollen Emotionen bestimmt. Konkret: Der Liebe sind immer auch Anteile von Hass oder Ablehnung beigemengt, Glaube ist von Zweifel durchzogen, Vertrauen dem Misstrauen benachbart, Depression nicht ohne Aggression zu haben. Auf diesen Zusammenhang zu achten, ist auch für die Seelsorge von großer Bedeutung. Der depressive Mensch erscheint auf den ersten Blick völlig aggressionslos: Er löst Mitleid, Schonung und Fürsorge aus. Wer sich darauf einlässt, wird dann bald spüren, wie in der Begegnung Gefühle von Ärger und Zorn entstehen und vielleicht dafür dann auch noch Schuldgefühle. Es kann hilfreich sein, dieses eigene Gefühl gewissermaßen als Spiegel der inneren Befindlichkeit des depressiven Menschen zu sehen, als Spiegel seines verdrängten Ärgers, seiner abgespaltenen Wut, die nicht nach außen dringen darf, sondern nur gegen ihn selbst gerichtet bleibt – so dass der Psychiater Klaus Dörner die Depression charakterisiert hat mit den Worten: »Der sich und andere niederschlagende Mensch«.57 Wenn man das so versteht, vervollständigt sich die Wahrnehmung, man bekommt eine Ahnung davon, wie sich in dem depressiven Menschen gegensätzliche Kräfte bekämpfen und wie er darunter leidet.



Suizidalität offen ansprechen Depressive Menschen sind latent immer suizidgefährdet. Die Stimmung »es hat ja doch alles keinen Zweck«, »alles ist sinnlos«, »ich habe keine



57

Klaus Dörner, Ursula Plog. Irren ist menschlich, Bonn 81994, 193ff.

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Hoffnung mehr« etc. legt es nahe, dass man dem eigenen Leben wenig Wert beimisst und aufgibt. Häufig wollen sich depressive Menschen nicht primär umbringen, sondern einen als unerträglich empfundenen Zustand beenden. In jedem Fall ist es entlastend sie zu fragen, ob sie von suizidalen Gedanken umgetrieben sind. Eine solche Frage wirkt in aller Regel erleichternd, weil etwas, das als so bedrängend erfahren wird, ausgesprochen und geteilt werden kann – statt es für sich behalten zu müssen und ganz allein damit zu kämpfen. Seelsorge heißt Beistand leisten Man kann den Begriff des Beistandes wörtlich nehmen und dann den Akzent auf den Aspekt des Stehen-Bleibens legen: Als Seelsorger bemühe ich mich, bei dem depressiven Menschen stehen zu bleiben – mich also weder in die Tiefen der Depression hinabziehen zu lassen (was bei vielen Helfern eine Gefahr darstellt) noch einfach wegzugehen, wenn es mir zu viel wird. Verlässlich dazubleiben und in regelmäßigen Abständen wieder zu kommen – das sieht auf den ersten Blick nach wenig aus und ist doch sehr viel. Es ist viel vor allem, wenn man sich klar macht, dass die Seelsorgeperson immer auch als Repräsentant Gottes gesehen wird und die Verlässlichkeit und Stetigkeit des Kontakts, die Annahme und Wertschätzung durch die Seelsorgeperson, bei aller Fragmenthaftigkeit, doch durchaus eine symbolische Bedeutung gewinnt, implizit auf die Zuwendung und Verlässlichkeit Gottes verweist.



Nach Anknüpfungspunkten für Sympathie suchen Depressive Menschen sind manchmal für Außenstehende schwer auszuhalten – ich habe schon darauf hingewiesen. Dann kann es für mich als Seelsorger hilfreich sein, nach Seiten oder Eigenschaften oder Erfahrungen in der anderen Person oder ihrer Umgebung zu suchen, die ich wertschätzen oder mögen kann. Es ist leichter, bei einem Menschen stehen zu bleiben und auszuharren, wenn man solche Anknüpfungspunkte für Sympathie entdecken kann.



Zeit und Geduld mitbringen Mit depressiven Menschen ist oft kein Gespräch, in dem Gesprächsbeiträge lebendig hin und her wechseln, möglich. Als Seelsorgeperson braucht es die besondere Fähigkeit, schweigen zu können, Einsilbigkeit auszuhalten – und trotzdem da zu bleiben und darauf zu vertrauen, dass bereits Präsenz als solche wohltuend sein kann – wenn sie denn aus einer inneren Gelassenheit und Geduld heraus entsteht und nicht dem depressiven Gegenüber latent vermittelt, er möge doch endlich einmal aktiv werden.



6. Anregungen für die Seelsorge

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Gemeinde als Netzwerk nutzen Dass Gemeinde ein stützendes Netzwerke sein kann, habe ich schon mehrfach angesprochen: Zu erfahren, dass sich andere um einen kümmern, nachfragen, Anteil nehmen, für einen beten, gelegentlich eine Mahlzeit kochen etc. – all das tut gut, auch wenn depressive Menschen das im Moment nicht artikulieren können. Pfarrerinnen und Pfarrer können solche wechselseitige Anteilnahme und Unterstützung in der Gemeinde initiieren. Zur Vernetzung gehört auch, dass Seelsorgende nach Möglichkeit Kontakte zu niedergelassenen Psychiatern, zu Beratungsstellen, zu sozialpsychiatrischen Diensten haben sollten, um sich im Ernstfall Rat und Hilfe holen bzw. Betroffene an andere Fachleute überweisen zu können.



Geprägte Texte und Rituale anbieten Gerade bei älteren Menschen, denen biblische Texte noch vertraut sind, kann es hilfreich sein, z.B. Verse aus Klagepsalmen zu lesen: Schon die biblischen Zeugen haben quälende Zweifel am Unrecht in der Welt und der Verborgenheit Gottes gekannt. Solche Klagen sind Bestandteil des Glaubens, man muss deswegen nicht zusätzliche Scham- und Schuldgefühle entwickeln, sondern kann darüber mit Gott im Gespräch bleiben. Ein Gebet, ein Segen, Abendmahl/Eucharistie kann die Zuwendung Gottes dann auch in ritualisierter Form besonders intensiv erfahrbar machen.



Stellvertretenden Glauben, stellvertretende Hoffnung leben Depressiven Menschen ist Glaube und Hoffnung meistens abhandengekommen. Wenn sie noch Hoffnung hätten, wären sie nicht in einem depressiven Zustand. Deswegen ist die Stellvertretung durch andere so wichtig, z.B. mit einem Satz wie »Für Sie sieht im Moment alles schwarz aus, aber ich vertraue und hoffe stellvertretend für Sie darauf, dass Ihre Depression wieder vorüber geht« o.ä. Zwar bewirkt so ein Satz im Moment nicht viel, aber es gibt zahllose Beispiele, wo Betroffene, nachdem sie aus dem depressiven Zustand wieder herausgekommen waren, berichtet haben, dass sie einen solchen Satz sehr wohl gehört hätten und er ihnen gut getan habe – auch wenn sie das in dem Moment nicht zum Ausdruck bringen konnten.



Segen statt Vergebung anbieten58 Anfänger in der Seelsorge fallen oft darauf herein, dass sie die Schuldbezichtigungen depressiver Menschen mit der Zusage der göttlichen Vergebung beantworten. Das ist in den meisten Fällen falsch, weil die depressiven Selbstbezichtigungen und Schuldzuweisungen weit übertrieben



58

Vgl. zu dieser Thematik Jörg Bade, Depression und Segen. Zur seelsorgerlichen Begegnung mit depressiven Menschen, Münster 2000, besonders 321ff.

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sind, und weil eine Vergebungszusage die Annahme des depressiven Menschen verstärkt, dass er sich eben doch wirklich und zutiefst schuldig gemacht habe – sonst brauchte man ja keine Vergebung. Der Segen ist demgegenüber eine bedingungslose Zusage des Schutzes, der liebenden Zuwendung Gottes. Der Segen gilt Menschen unabhängig von dem, was sie getan oder gelassen haben, unabhängig davon, ob sie sich als versagend und ohnmächtig oder als tüchtig und lebensfroh erleben. Insofern erscheint es angemessen, sich von depressiven Menschen mit einem Segenswunsch zu verabschieden – sei es in ritualisierter Form mit Handauflegung und den Worten des Aaronitischen Segens – oder als weniger gewichtiger Schlusssatz »Gott segne Sie«. In jedem Fall geht es darum, die an keine Bedingungen geknüpfte Zusage Gottes weiterzugeben. Um eigene depressive Anteile oder Strukturen wissen Wer mit depressiven Menschen als Seelsorger/in zu tun hat, muss immer damit rechnen, dass durch die Begegnung eigene depressive Anteile aktiviert werden. Das kann auf verschiedene Weise geschehen: Manche werden einfach unmittelbar angesteckt von so einer depressiven Atmosphäre, andere kämpfen dagegen an, indem sie sich übermäßig kümmern und bemühen, und dabei in Gefahr geraten, sich selber zu erschöpfen und auszubrennen; wieder andere reagieren schnell ärgerlich und ablehnend, vielleicht auch, weil sie spüren, wie leicht sie sich anstecken lassen könnten. Deswegen erscheint mir ein gutes Maß an Selbsterfahrung wichtig: Um die eigene Verletzlichkeit zu wissen, die eigenen hohen Ansprüche und die damit verbundene Gefahr des Scheiterns und des immer wieder Enttäuscht-werdens zu kennen. Wo eine solche Selbstkenntnis nicht ausreicht, ist Supervision oder eigene Psychotherapie angezeigt. Wer sich um Hilfe von außen bemüht, lebt von der weisen Einsicht, dass niemand sich selbst genug ist, wir alle immer wieder aufeinander angewiesen sind.



7. Schluss Depression ist eine Möglichkeit des menschlichen Erlebens; jede/r von uns kann davon betroffen sein. In der Begegnung mit depressiven Menschen können wir etwas über uns selbst lernen: Über die Abgründigkeit des Lebens, über das unvermeidliche Leiden und Sterben in der Welt, über die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit von Trauer und Angst etc. Die Begleitung depressiver Menschen, so schwer und herausfordernd sie meistens ist, stellt so gesehen auch Lernmöglichkeiten für die nicht unmittelbar Betroffenen dar. Wenn man sich das klar macht, fällt es möglicherweise leichter, sich dieser wichtigen Aufgabe zu stellen.

III Seelsorge auf dem Psychomarkt Wie positionieren wir uns?59

1. Eindrücke zum Stichwort »Psychomarkt« Ich beginne mit einigen zufälligen Eindrücken zu dem inzwischen riesigen, unübersichtlichen Psychomarkt, auf dem sich natürlich auch die Seelsorge der Kirchen bewegt, ob sie will oder nicht, und auf dem sie sich irgendwie zu behaupten hat, auch wenn sie von den anderen Akteuren über weite Strecken gar nicht wahrgenommen wird: – In der Straßenbahn einer Großstadt sah ich ein Werbeplakat mit dem Hinweis auf mindestens zehn telefonische kirchliche wie nichtkirchliche Beratungsangebote: Telefonseelsorge, Sorgentelefon, Nummer gegen Kummer, Telefon bei Essstörungen, Telefonberatung der Aidshilfe, telefonische Erziehungsberatung, telefonische Paarberatung, telefonische Suchtberatung, telefonische Beratung für Schwule und Lesben, für Transsexuelle etc. Ich vermute, dass es sich um seriöse Angebote handelt, teilweise von Ehrenamtlichen ausgeübt, die von Hauptamtlichen geschult und begleitet werden. – Es gibt etwa 200 mehr oder weniger qualifizierte, ausgewiesene Verfahren der Psychotherapie, die, bei aller Variation im Einzelnen, den vier großen Säulen der Psychotherapie zuzuordnen sind: Tiefenpsychologische Therapien, Verhaltenstherapien, Körpertherapien, systemische Therapien. Neuerdings gibt es auch eine Fülle von Kurzzeittherapien im Rahmen dieser etablierten Therapieverfahren. Psychotherapie bezeichnet eine gesetzlich geschützte Berufsqualifikation, die ein medizinisches oder psychologisches akademisches Studium zur Voraussetzung hat. Theologen, die eine psychotherapeutische Ausbildung absolviert haben, dürfen sich nur Psychotherapeuten nennen, sofern sie die Qualifikation zum Heilpraktiker erworben haben. – Daneben gibt es niedergelassene Psychiater und Neurologen, die schwere psychische Störungen mit Krankheitswert behandeln. Psychiatrie und Neurologie sind medizinische Spezialfächer, deren Grenzen zur Psychotherapie fließend sind, da psychiatrische Erkrankungen sowohl medikamentös als auch psychotherapeutisch behandelt werden. – Neben den vielen Psychotherapieformen ist ein großer Beratungsmarkt entstanden: Beratung bezeichnet ein rechtlich nicht definier59

Vortrag vor der Pfarrkonferenz des Kirchenkreises Gladbach-Neuss am 13.4.2015.

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III Seelsorge auf dem Psychomarkt

tes, nicht geschütztes Angebot der Bearbeitung von Lebensproblemen, jede/r kann irgendeine Form von Beratung anbieten. Entsprechend gibt es ein großes Angebot an Beratungsstellen (Lebensberatung, Erziehungsberatung, Schwangerschaftskonfliktberatung, Paarberatung, Schuldnerberatung, Suchtberatung etc.), die von den Kirchen bzw. der Diakonie getragen werden und entsprechender Qualifizierung unterliegen (Berufsverband EKFuL), außerdem Beratungsstellen durch freie Vereine wie pro familia, donum vitae und andere und dann natürlich individuelle Beratungsangebote jeder Art und jeder Couleur. All diese Beratungsangebote gibt es inzwischen auch im Internet, als chat- oder mail-Beratung. Supervision und Coaching stellen weitere große Segmente zur Beratung von beruflichen Problemen dar; Supervision hat sich professionalisiert und zwei Dachverbände gegründet (DGSv und DGfP als kirchlicher Verband), der verbindliche Qualitätsstandards für seine Mitglieder festlegt. Gleichzeitig ist der Titel Supervision nicht gesetzlich geschützt, noch weniger die Bezeichnung Coach/Coaching. Jeder kann sich Coach nennen und entsprechende Beratung für Individuen und/oder Institutionen (z.B. Unternehmensberatung) anbieten. Es gibt eine große Zahl von Krisen- und Rettungsdiensten, Suizidprävention durch Telefon-hotlines, Notfallseelsorge bis hin zu psychiatrischen Krisendiensten. Neben seriösen, fachlich qualifizierten Psychotherapie- und Beratungsangeboten findet sich eine unübersehbare Fülle von esoterisch ausgerichteten Beratungen via Telefon, Fernsehen, Internet und im direkten face-to-face-Kontakt, die keinerlei Kontrolle und Qualitätsprüfung unterliegen und sich nur nach dem richten, was der Markt der Leichtgläubigen und Vertrauensseligen hergibt. TarotKarten legen, Wahrsagen, Geistheilen, Heilung mit Steinen, Farben, Aromen, Blüten, besonderen Ernährungskonzepten, diverse Körperbehandlungen usw. Ich kannte in Bielefeld eine Frau, die ein paar Esoterik-Seminare mitgemacht hatte, sich daraufhin in der Stadt eine Wohnung anmietete und dort Lebensberatung anbot. Glücklicherweise ging ihre Beratung bald wieder ein, der Markt hat dann doch auch eine gewisse regulierende Funktion. Für fast alle Krankheiten und Lebensprobleme gibt es inzwischen Selbsthilfegruppen, also Gruppen von Betroffenen, die mit und ohne fachliche Leitung zusammen kommen und ihre Erfahrungen austauschen und dadurch gegenseitige Unterstützung, zusätzliche Information über ihr Lebensproblem und in alledem Lebenshilfe erfahren. Vorbild für viele Selbsthilfeangebote sind die Anonymen Alkoholiker, aus denen sich weitere Spezialisierungen für Familienangehörige entwickelt haben (Al-Anon, Alateen etc.). Bei den AA’s hat

2. Kontinuierlich zunehmender Beratungsbedarf

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sich ein Konzept bewährt, das für andere Selbsthilfegruppen ebenfalls funktioniert: Trockene Alkoholiker sind oft gute Therapeuten, weil sie alle Schwierigkeiten und Wege der Erkrankung kennen, einerseits auf Grund dieser eigenen Erfahrung empathisch sein können, sich andererseits aber nicht in die Geschichte der Ratsuchenden verwickeln lassen. Diese unüberschaubare Vielfalt an psychologischen Beratungsangeboten spiegelt anschaulich, was Pluralisierung bedeutet: Es gibt immer mehr unterschiedliche Lebensstile, Lebensentwürfe und Lebensprobleme und für jeden Lebensstil / jedes Lebensproblem braucht es ein spezifiziertes sachkundiges Beratungsangebot. Die Differenzierung schreitet immer weiter fort. Die Beratungsangebote organisieren sich marktförmig, d.h. das Angebot richtet sich nach der Nachfrage, die Nachfrage wiederum hängt vom Angebot ab. Es gibt nur wenige gesetzliche Regelungen, nur wenige verbindliche Qualitätsstandards, wer will, kann entsprechende Angebote machen, er wird schon, wenn er es geschickt anstellt, Abnehmer finden. Auf diesem unübersichtlichen Markt bewegt sich auch die Seelsorge der Kirchen. Wie macht sie sich kenntlich? Wie steht sie zu den anderen Angeboten auf dem Psychomarkt? Soll sie strikt bei ihrer Sache bleiben und sich mehr oder weniger abkapseln? Oder öffnen sich Chancen, wenn Seelsorge mit bestimmten anderen Trägern kooperiert? Und wie könnte das aussehen? 2. Kontinuierlich zunehmender Beratungsbedarf Menschen sind auf Rat und Hilfe angewiesen; niemand kommt allein und autark durchs Leben, wir alle brauchen, mal mehr, mal weniger, andere, die unterstützen, zuhören und trösten, mit denen wir Probleme durchsprechen und nach Lösungen suchen können. In jeder Art von Beziehung ist das so: Zwischen Lebenspartnern, Eltern und Kindern, Freunden, Lehrern und Schülern, Arbeitskollegen. In diesem Sinn stellt Beratung eine anthropologische Konstante dar, einen alltäglichen Vorgang, der sich in Psychotherapie und institutionalisierter Beratung professionalisiert hat. In der Vergangenheit war Beratung relativ einfach, weil es klare gesellschaftliche Strukturen und entsprechende Verhaltensmuster gab, in die sich die Leute einfügen konnten und sollten. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich diese Situation tiefgreifend verändert: Der Soziologe Ulrich Beck hat von einem Prozess der Freisetzung gesprochen, Freisetzung aus vorgegebenen Rollen, Traditionen und Normen; Normalbiographie ist zur Wahlbiographie geworden, heißt es bei Beck.

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III Seelsorge auf dem Psychomarkt

Der Sohn ergreift nicht mehr den Beruf des Vaters, die Tochter wird nicht mehr Hausfrau; beide suchen eigenständige, sie befriedigende Berufe, und beide stehen vor der Qual der Wahl unendlich vieler, kaum noch zu überschauender Ausbildungs- und Studiengänge. Deswegen ist auch Ausbildungs- und Studienberatung inzwischen ein wichtiges Beratungssegment geworden. Zu diesem grundlegenden Beratungsbedarf kommt, dass sich in allen Bereichen unseres Lebens die Prozesse beschleunigt haben, Arbeit hat sich verdichtet, Komplexität ist ungeheuer gestiegen (auch Maurer und Bäcker steuern einen Teil ihres Handwerks über den Computer), die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben verschwimmen durch die Möglichkeiten der vernetzten Kommunikation, mit einem Wort: Der Stress, dem sich Menschen ausgesetzt sehen, steigt kontinuierlich an. Je weiter diese Prozesse der Freisetzung, der Pluralisierung, Individualisierung und Flexibilisierung voranschreiten, je stärker der Druck durch zunehmende Komplexität aller Lebensbereiche wird, desto mehr wächst der Beratungsbedarf. Nichts ist mehr selbstverständlich. Man braucht die Hilfestellung von Fachleuten in Sachen Gesundheit, Lebensführung, Kindererziehung, Ausbildung und Beruf, Altwerden, um nur einige Bereiche zu nennen. Der Psychomarkt stellt also eine notwendige und sinnvolle Antwort auf den steigenden Orientierungs- und Beratungsbedarf dar. Das Beratungsangebot macht die Differenzierung und Spezialisierung mit, indem für jedes Lebensthema ein besonderes Beratungsformat entwickelt wird, bei dem man davon ausgehen kann, dass die Beratenden gerade im Blick auf dieses Thema eine spezifische Kompetenz besitzen. Dass es dabei viele unseriöse Angebote gibt, müsste allen Beteiligten klar sein. Seelsorge macht diese immer weiter gehenden Spezialisierungen nur begrenzt mit. Gerade im Gemeindebereich ist Seelsorge für alle Lebensthemen und alle Lebensbereiche offen, das macht die Schwierigkeit und zugleich die Chance der Seelsorge aus. Als Chance sehe ich etwas Doppeltes: Erstens müssen die Menschen mit speziellen Lebensproblemen (Lebenskrisen im Kontext von Kasualien, Erziehungsprobleme, Partnerschaftskrisen etc.) nicht gleich mehr oder weniger offiziell zum Spezialisten, sondern können erst einmal unverbindlich und noch eher diffus eine außenstehende Person ansprechen und vorklären, was sinnvolle nächste Schritte wären. Zweitens kann Seelsorge verdeutlichen, dass Menschen in ihren Teilproblemen nicht aufgehen, nicht dadurch primär definiert sind (sie sind nicht die Diabetikerin oder der Krebspatient), sondern immer mit ihrem ganzen Leben und seinem Sinn und Ziel in Frage stehen. Seelsorge bezeichnet ein Angebot, das den Menschen so sieht, dass in seinen Teilproblemen sein Menschsein als Ganzes immer schon mit angesprochen ist. In diesem doppelten Sinn kann man die Gemeindeseelsorge mit den Hausärzten vergleichen: Sie nimmt die gan-

2. Kontinuierlich zunehmender Beratungsbedarf

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ze Person in den Blick, kann erste Hilfestelllungen leisten und dann ggf. an Spezialisten weiter verweisen. Es sind mehrere Dimensionen, welche die Seelsorge von anderen Beratungsangeboten unterscheiden: – Seelsorge ist eine Form der Beratung im Horizont von Religion; Seelsorge sieht das Leben aus der Perspektive Gottes, aus der Perspektive des Heiligen (auch wenn das oft nicht ausgesprochen wird). Das ist eine fremde Perspektive, die mit einer fremden Anthropologie einhergeht (z.B. der Mensch als Ebenbild Gottes, oder der Mensch als Sünder), die allerdings in einer fremden, für viele kaum mehr verständlichen Sprache daher kommt. Diese Fremdheit kann auch wieder eine Chance sein. Ein Krankenhausseelsorger aus den neuen Bundesländern hat berichtet, dass er als Vertreter der Kirche gerade auch von langjährigen Sozialisten als Gesprächspartner gern akzeptiert wurde, weil er von außen kam, nicht in die Strukturen der Klinik integriert war.60 Zur religiösen Dimension der Seelsorge gehört auch, dass sie selbstverständlich zentrale anthropologische Fragen thematisiert: Sinn des Lebens, Sterben, Tod, Leben nach dem Tod, Schuld und Vergebung usw. Der Seelsorge als religiöse Kommunikation wird von vornherein eine Zuständigkeit für den Umgang mit den Grenzen des Lebens zuerkannt. – Seelsorge bezeichnet vorrangig einen Arbeitszweig der Kirchen (es gibt auch philosophische Seelsorge); für kirchlich sozialisierte Menschen gewinnt Seelsorge damit einen Vertrauensvorschuss; in der Begegnung mit kirchenfremden oder kirchenkritischen Leuten bekommt Seelsorge dann all die Vorurteile ab (Kreuzzüge, Inquisition, Reichtum der Kirchen etc.), die das Stichwort Kirche bei vielen auslöst. – Seelsorge in der Gemeinde ist Bestandteil eines Netzwerkes, das für Betroffene stützende und stärkende soziale Kontakte bereitstellen kann. – Seelsorge ist für viele Leute über die Kasualien an den Knoten- und Krisenpunkten des Lebens präsent und erlebbar. – Seelsorge steht unter dem Beichtgeheimnis; diese absolute Verschwiegenheit ist vor allem in Institutionen wie Krankenhaus oder Gefängnis ein großer Bonus für die Seelsorge. – Seelsorge arbeitet besonders niedrigschwellig; – Seelsorge hat einen aufsuchenden Charakter, eine Gehstruktur.

60

Werner Biskupski, »Vielleicht macht es doch Sinn …« Seelsorge mit nicht kirchlich gebundenen Menschen, PrTh 2005, 276–283.

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III Seelsorge auf dem Psychomarkt

3. Die Besonderheiten der kirchlichen Seelsorge Der Begriff Seelsorge ist nicht geschützt; er klingt etwas altbacken, ist gleichzeitig bekannt und irgendwie akzeptiert, wird aber auch höchst unspezifisch verwendet. Der Papst wird in den Medien öfter als Seelsorger bezeichnet, ebenso die Bischöfe, auch die evangelischen: Seelsorger ist dann eine Art von Amtsbezeichnung, die irgendwie die Zuwendung der hohen Geistlichen zu den Menschen zum Ausdruck bringen soll (so wie ja auch neuerdings Politiker sagen, dass sie nah bei den Menschen sein wollen): Cura animarum generalis nannte man das früher: Alles kirchliche Handeln, Gottesdienst, Kasualien, Seelsorge, Unterricht, Gemeindeaufbau etc. richtet sich aus an der Sorge um die Menschen, deren Glauben, deren Möglichkeiten der Lebensbewältigung. Davon zu unterscheiden ist die cura animarum specialis, die gezielte Sorge um einzelne Menschen, um deren Wohlergehen. Erst im 20. Jahrhundert (wenn man von einigen unsystematischen Vorläufern im Pietismus des 18. und 19. Jahrhunderts absieht) hat sich die cura animarum specialis in einer Weise herausgebildet, wie wir heutzutage den Begriff der Seelsorge verstehen: Als Angebot der Begleitung vorwiegend durch Gespräche und kleine Rituale für einzelne Menschen in den Wechselfällen ihres Lebens im Auftrag der Kirchen bzw. im Namen Gottes, im Namen Jesu. Begleitung heißt mitgehen, präsent sein, sich einfühlen in den Bezugsrahmen des anderen Menschen, aktiv zuhören, erspüren wollen, um was es dem anderen geht, was der noch nicht so genau artikulieren kann, in Kontakt kommen, eine Beziehung gestalten. Bei diesem Angebot spielt eine sensible Wahrnehmung der Emotionen eine besondere Rolle: Aus der Kommunikationstheorie wissen wir, dass in jeder Kommunikation Gefühle wichtiger sind als die Inhalte: Durch die jeweilige Gefühlstönung kann ein und derselbe Inhalt geradezu Gegensätzliches bedeuten: »mir geht es gut«, freundlich und zugewandt und mit Augenkontakt gesagt, klingt überzeugend positiv. Dasselbe mit gedrückter Stimme, abgewandt, ohne Augenkontakt bedeutet: »Es geht mir nicht gut, frag nicht weiter«. Zur Begleitung gehört also die Fähigkeit, auf die emotionalen Zwischentöne im Gespräch zu achten, sie wahrzunehmen und anzusprechen. Dann wird nämlich deutlicher, um was es dem Anderen wirklich gerade geht. Neben die Begleitung – so mein Ansatz61 – tritt die Begegnung, also dem anderen ein Gegenüber sein, als individuelle Person erkennbar werden, und aus dieser anderen, fremden Position heraus Beobachtungen mitteilen, konfrontieren, Anstoß geben. Wir alle brauchen den An61

Vgl. mein Buch »Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens«, Neukirchen-Vluyn 52015.

3. Die Besonderheiten der kirchlichen Seelsorge

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stoß, das Feedback von außen, auch wenn es schmerzt, an dem wir uns dann reiben, weil wir sonst viel zu sehr im eigenen Saft schmoren, von eingefahrenen Verhaltensmustern bestimmt sind und nicht allein aus unseren blinden Flecken herausfinden. In dieser Form der begleitenden und begegnenden Beziehungsgestaltung versucht die Seelsorgeperson, Lebensdeutung anzuregen und zu geben: Dass die andere Person ihr Leben, ihr Lebensproblem in einem anderen, neuen Licht sehen kann, in einem Licht, wie es der Glaube formuliert: Dass der Mensch als Ebenbild Gottes unter allen Umständen, selbst bei Demenz oder schwerer geistiger Behinderung, unbedingten Respekt verdient und eine unverlierbare Würde besitzt, dass Leiden keine Strafe ist, dass Zufall als Bewahrung verstanden werden kann, dass wir eine Hoffnung haben, die über das Leiden und den Tod hinaus geht usw. Häufig sitzen Menschen gleichsam fest mit einem bestimmten Lebensproblem, alte Muster, alte Verletzungen bestimmen immer wieder gegenwärtige Verhaltensweisen und verhindern auf dieses Weise, dass Neues entstehen kann. Deswegen brauchen wir alle die Sicht von außen, und speziell die religiöse Sicht, weil sie das Leben als Ganzes, mit seiner Sinnhaftigkeit und Zielrichtung, in den Blick nimmt. Die Ziele von Seelsorge: Seelsorge möchte Entlastung anbieten, Vergewisserung im Leben und im Glauben stärken, Klärung ermöglichen und Hoffnung geben. Seelsorge ist keine Psychotherapie, d.h. auch, Menschen müssen sich nicht ändern, sie müssen nicht bestimmte Lebensprobleme lösen, sie können so bleiben wie sie sind und eben darin Annahme und Wertschätzung durch die Seelsorgeperson und darin wiederum durch Gott erfahren. Im Vergleich zu den unendlich vielen Angeboten auf dem Psychomarkt hat Seelsorge den Vorzug, dass eine jahrhundertealte Institution, die insgesamt viel Vertrauen genießt, im Hintergrund steht. Beim Seelsorgebesuch kommt eben nicht nur der nette Pfarrer, die freundliche Pfarrerin, sondern mit und durch sie kommt die Institution Kirche und die wiederum steht für Gott, das Göttliche, das Heilige. Die Seelsorgeperson bringt soz. Gott mit. Aus den genannten Besonderheiten der Seelsorge, die ich oben angeführt habe, will ich einige Punkte noch einmal eigens ausführen, weil sie mir im Blick auf die Frage des Untertitels »Wie positionieren wir uns auf dem Psychomarkt?« besonders relevant erscheinen: 1. Die Stärke der Seelsorge liegt in ihrer Niedrigschwelligkeit – dieses Stichwort bedeutet Mehreres: Die Leute selber können die Pfarrerin oder ein Mitglied des Besuchsdienstes nach dem Gottesdienst, beim Einkaufen oder sonst wo auf der Straße mal eben kurz ansprechen, man muss keinen Gesprächstermin ausmachen und ein klares An-

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III Seelsorge auf dem Psychomarkt

liegen formulieren können; man kann die Telefonseelsorge zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen, wenn einem irgendwie danach ist, man kriegt keine Diagnose und keinen Behandlungsplan gestellt, es kostet nichts und man kann das Gespräch jederzeit wieder beenden. Niedrigschwelligkeit heißt, dass Sie in der Seelsorge auch auf Menschen treffen, die nie und nimmer zur Beratungsstelle oder zum Psychotherapeuten gehen würden, die aber eher zufällig und beiläufig gern von ihrer Lebenssituation, von einem Problem oder einem freudigen Ereignis berichten. Sie wollen sich einfach nur jemandem mitteilen – Seelsorge macht das möglich. Niedrigschwelligkeit heißt auch: Ich muss als Seelsorger nichts erreichen, ich muss die andere Person nicht verändern. Es reicht, wenn ich einen begrenzten Kontakt ermöglicht habe, der bei der anderen Person als wohltuend in guter Erinnerung bleibt. Seelsorge hat keinen Erfolgs- und Effizienzdruck! Umgekehrt heißt das für die Ratsuchenden, dass sie klagen können, ohne unter den Druck zu geraten, sich verändern zu müssen; sie müssen nicht die Motivation und Bereitschaft mitbringen, an sich zu arbeiten. Gerade bei den Daueranrufern, die die TS anrufen, begegnen wir diesem Sachverhalt: Viele rufen regelmäßig an, um zu klagen, sich zu beschweren, zu schimpfen; sie schaffen es nicht, aus welchen Gründen auch immer, zur Beratungsstelle oder zum Therapeuten zu gehen, sie schaffen es nicht, etwas zu ändern in ihrem Leben. Für sie ist die Seelsorge, die anonyme Stimme eines anderen Menschen, unverzichtbare, notwendige Krücke, die ihnen das Weiterleben ermöglicht. Für die Seelsorgenden stellt es oftmals eine große Last dar, diese Ausweglosigkeit zu ertragen, für die Seelsorge Suchenden ist es vielleicht die einzige Hilfe, die sie in Anspruch nehmen können. Im Bereich der Psychotherapie gelten viele dieser Daueranrufer (oder auch bestimmte Menschen in der Gemeinde, die Sie regelmäßig treffen) als chronifiziert und austherapiert, sie würden in keine Psychotherapie mehr aufgenommen werden. Vielleicht haben Sie in der Gemeinde ähnliche Menschen, die einfach gelegentlich mal Ihre Aufmerksamkeit und Anteilnahme brauchen – das reicht ihnen. Zur Niedrigschwelligkeit rechne ich auch die relativ leichte und fast ständige Erreichbarkeit von Pfarrerinnen und Pfarrern: Bei Notfällen und Krisen wie Unfällen, plötzlichen schweren Erkrankungen, Sterben und Tod stehen Geistliche zur Verfügung mit einem seelsorglichen und liturgischen Angebot. (N.B.: Es müsste in jedem Kirchenkreis eine gut funktionierende Vertretungsregelung geben, um wenigstens die freien Tage und Wochenenden der Pfarrerinnen und Pfarrer von dieser Erreichbarkeit auszunehmen.)

3. Die Besonderheiten der kirchlichen Seelsorge

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2. Seelsorge in der Gemeinde ist eingebunden in ein soziales Netzwerk. Ein Netzwerk bietet, so wird es in der Netzwerkforschung beschrieben, verschiedene Formen an sozialem und emotionalem Rückhalt durch Kontakte wie Nachbarschaftshilfe, durch Gruppenangebote, durch Selbsthilfegruppen, gelegentlich auch durch materielle Unterstützung:62 D.h. eine seelsorgliche Begegnung mit einer einzelnen Person kann einmünden und übergehen in soziale Kontakte im Rahmen der bestehenden Gemeinde; Kontakte, die unterstützenden und stärkenden Charakter haben. Einer meiner Kollegen hat mal erzählt, wie ein Psychiater zu ihm gesagt hat: Ihr Netzwerk möchte ich haben, das würde vielen meiner Patienten sehr gut tun. 3. Trotz der Niedrigschwelligkeit ist Seelsorge ein professionelles Angebot, das sich durch entsprechend ethische Standards auszeichnet: Verschwiegenheit und Abstinenz. 3.1 Die Verschwiegenheit, das Beichtgeheimnis der Seelsorge ist ein besonders hohes Gut; Menschen können sicher sein, dass ihre Themen nicht weitergegeben und auch nicht im Rahmen eines Behandlungsplans mit anderen diskutiert werden. Für die Zusammenarbeit der Seelsorge mit anderen Diensten etwa im Krankenhaus ist das ein Problem; im Zweifelsfall muss man hier die Zustimmung der Betroffenen einholen. Im Vergleich zu irgendwelchen dubiosen Angeboten auf dem Psychomarkt ist diese Verpflichtung zur Verschwiegenheit ein wichtiges Qualitätsmerkmal. 3.2 Abstinenz bedeutet: der ratsuchende Mensch wird um seiner selbst willen – und nicht wegen eines anderen verborgenen Zwecks – gehört, ernst genommen, wert geschätzt und gelten gelassen. Die Seelsorgeperson verfolgt keine geheimen bewussten oder unbewussten Absichten, drängt nicht dazu, öfter zum Gottesdienst zu kommen oder sich ehrenamtlich in der Gemeinde zu engagieren, oder einen Organspendeausweis auszufüllen etc. Und: alles kann besprochen werden, ohne dass es in Handeln umgesetzt wird; man kann über die Sehnsucht nach Liebe, über eine gescheiterte Beziehung, über Sexualität reden, ohne dass in dieser Seelsorge-Beziehung etwas davon ausagiert wird. Da müssen Ratsuchende sicher sein, dass ihre Offenheit und Bedürftigkeit nicht missbraucht wird. In der Psychotherapie bedeutet Abstinenz auch, dass man über die therapeutische Situation hinaus keine privaten Kontakte pflegt; das ist im Pfarramt in der Gemeinde häufig nicht möglich, weil man Menschen in anderen Zusammenhängen (Gottesdienst, Gemeindefest, beim Einkaufen) wieder trifft. Und zusätzlich ergibt sich die 62

Vgl. Rolf Theobold, Zwischen Smalltalk und Therapie. Kurzzeitseelsorge in der Gemeinde, Neukirchen-Vluyn 2013, 201ff.

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III Seelsorge auf dem Psychomarkt

manchmal prekäre Situation, dass die »Klienten« des Pfarrers / der Pfarrerin gleichzeitig zu denjenigen zählen, aus denen sich die sozialen Kontakte der Pfarrerinnen und Pfarrer ergeben. Das ist kaum zu vermeiden – aber umso mehr ist darauf zu achten, dass private Bedürfnisse (nach Nähe, Freundschaft, Vertrautheit) sich nicht mit professionellen Anforderungen (nach Distanz, nach Neutralität) vermischen. (Deswegen ist Seelsorge mit Angehörigen und Freunden nicht möglich: Man hat zu wenig Abstand, man ist parteiisch!) Seit den Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche und der Odenwaldschule sind wir sensibilisiert dafür, welche Macht – und damit welche Verführungsmöglichkeiten – in helfenden Beziehungen stecken und wie bewusst und verantwortlich damit umzugehen ist. Helfende Beziehungen fördern Übertragungen, fördern eine Haltung, in der die helfende Person idealisiert und dafür geliebt wird, in der alte Sehnsüchte (z.B. nach Geborgenheit bei einer mütterlichen Person) wieder belebt werden. Wenn die helfende Person diesen Zusammenhang übersieht (bzw. aus eigener Bedürftigkeit nicht sehen will) und entsprechend auf die entgegen gebrachte Zuneigung antwortet, entsteht Missbrauch. 4. Eine weitere Besonderheit und Stärke der Seelsorge liegt darin, dass sie Menschen aufsucht, eine Gehstruktur hat. Wir gehen zu den Leuten hin (und werden in erstaunlich hohem Maß akzeptiert!), zeigen unser Interesse, unsere Wertschätzung im Namen Gottes. Zu allen anderen Diensten müssen die Leute selbst hingehen, zu Behörden, Ärzten, Therapeuten, überall herrscht die Komm-Struktur vor. Seelsorge hat eine Geh-Struktur, durch die sich Menschen geehrt und gewürdigt fühlen. Gerade neulich las ich ein Gesprächsprotokoll, in dem ein Pfarrer aufgeschrieben hatte, wie er eine alte Dame, die er aus der Gemeinde flüchtig kannte, zu Hause besucht. Sie gerät ganz aus dem Häuschen, als sie ihn an der Tür erkennt, freut sich riesig und sagt dann fast beschämt »aber ich bin doch gar nicht so wichtig«. Sie spürt, dass sie in diesem Besuch wichtig genommen wird, dass es um sie geht – und nichts anderes. Also: Hausbesuche, Krankenbesuche, Geburtstagsbesuche, Besuche im Kontext von Kasualien, Besuche bei Kindergarten- und Konfirmandeneltern – es gibt so viele Anlässe, die uns als Vertretung der Kirche die Türen der Menschen immer noch mit einem erstaunlichen Vertrauensvorschuss öffnen. 5. Das Stichwort »Türen öffnen« gilt in besonderer Weise für die Kasualien und damit für Knotenpunkte und Krisen des Lebens, die alle Menschen irgendwie und irgendwann erleben. Kasualien werden an Übergängen des Lebens vollzogen, Übergänge bringen Veränderun-

4. Stufen der Seelsorge

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gen mit sich, die wiederum mit Verunsicherung und Angst einhergehen können und entsprechenden Beratungs- und Orientierungsbedarf auslösen (auch wenn die Übergänge heutzutage oft nicht mehr so klar erkennbar sind, sondern sich über einen längeren Zeitraum erstrecken). Wer eine kirchliche Kasualie in Anspruch nimmt, nimmt die Seelsorge immer gleich mit in Anspruch. Oder umgekehrt: Überall da, wo es um die zentralen Lebensthemen geht, ist Seelsorge über die Kasualien immer schon da, wenn wir denn Kasualien wirklich mit einem seelsorglichen Angebot verknüpfen! Die Seelsorge der Kirche hat über die Kasualien einen selbstverständlichen Zugang zu vielen Menschen, die sich einem für sie sehr wichtigen Lebensereignis gegenüber sehen – welch eine Chance für kompetente Lebensbegleitung! Natürlich überfordern diese vielen Anlässe die Besuchsmöglichkeiten, die Zeit der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Gemeinde; trotzdem ist es wichtig, sich erst einmal klar zu machen, welche Möglichkeiten und Gelegenheiten vorhanden sind, um dann im Rahmen eines Gemeinde- und Pfarramtskonzepts zu entscheiden, ob und wie sie wahrgenommen werden können. Zeit ist nie nur etwas objektiv Gegebenes, sondern immer auch Ergebnis von gesetzten Prioritäten. In diesem Sinn können und müssen Pfarrerinnen und Pfarrer entscheiden, welchen Stellenwert Seelsorge in ihrer Pfarramtsführung haben kann und haben soll, und was sie an Ehrenamtliche delegieren können. 4. Stufen der Seelsorge Seelsorge gehört klassisch zu den zentralen Aufgaben des Pfarramtes. In der Ordinationsverpflichtung und in Stellenbeschreibungen wird immer die Aufgabe der Seelsorge als wesentlicher Teil des Pfarramts genannt. De facto sind die Pfarrerinnen und Pfarrer jedoch bei weitem nicht die einzigen, die Seelsorge betreiben, vielmehr ist Seelsorge Aufgabe der Gemeinde als ganzer, im theologischen wie im empirischen Sinn. Im theologischen Sinn kann man sagen: Gemeinde ist Subjekt der Seelsorge insofern sie zum Gottesdienst zusammen kommt, Gott bittet, lobt und dankt – bereits dieses Zusammenkommen ist eine Form der Seelsorge, der Stärkung, der Ermutigung untereinander.63 Auf der empirischen Ebene möchte ich verschiedene Stufen der Seelsorge unterscheiden und konkretisieren. Da ist zunächst die Nachbarschaftsseelsorge: Gemeindeglieder haben in einem ganz alltäglichen Sinn Interesse aneinander, erkundigen sich, 63

Diesen Aspekt hat z.B. Rudolf Bohren besonders betont.

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III Seelsorge auf dem Psychomarkt

wie es geht, sind fürsorglich, leisten im Notfall Nachbarschaftshilfe (eine Mahlzeit vorbeibringen, die Kinder einen Nachmittag lang hüten etc.), kümmern sich, so wie es sich spontan nahe legt, und ohne dass sie das an die große Glocke hängen. Manche tun so etwas ausdrücklich aus christlicher Motivation, andere einfach so. Natürlich geht da auch Manches schief, weil viele Leute nicht zuhören können und/oder ihr Gegenüber als Stichwortgeber missbrauchen. Trotzdem können Hauptamtliche diese Form der Nachbarschaftsseelsorge fördern, indem sie immer wieder mal darauf hinweisen, Einzelne dazu anregen, fragen, wer sich um die kranke Frau XY kümmert etc. Auf dieser alltäglichen Stufe der Nachbarschaftshilfe, der Nachbarschaftsseelsorge wird empirisch sichtbar, dass Gemeinde das Subjekt von Seelsorge ist, und nicht die Pfarrerinnen und Pfarrer. Eine erste Stufe der Qualifizierung sehe ich dann in seelsorglichen Besuchsdienstgruppen, wie es sie in Gemeinden und Krankenhäusern gibt und zunehmend geben sollte. Freiwillige werden angeworben, die bereit sind, Zeit und Engagement im Dienst anderer Menschen zur Verfügung zu stellen. Der Grad der Qualifizierung dieser Gruppen ist recht unterschiedlich: Es gibt Gruppen, die machen vorwiegend Geburtstagbesuche und treten in diesem Rahmen quasi in ihrem alltäglichen Verhalten auf (so wie die »Grünen Damen« im Krankenhaus, die in sehr geringem Maß qualifiziert werden); es gibt andere Ehrenamtliche, Besuchsdienstgruppen in der Hospizhilfe, in der Krankenhausseelsorge, in der Telefonseelsorge, da wird bereits nach persönlicher Eignung ausgewählt (Motivation, Kommunikationsfähigkeit etc.); sie werden ziemlich gründlich im Blick auf ihre seelsorglichen Kompetenzen und bestimmte Sachfragen geschult und bringen insofern ein erstaunliches Maß an LaienKompetenz mit. Die nächste Stufe bilden die Hauptamtlichen, Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakone, Religionspädagoginnen, bei denen Seelsorge zum Dienstauftrag gehört. Aus meiner Sicht ist die Qualifizierung der Hauptamtlichen in deren Ausbildung lange nicht so gründlich, wie sie sein müsste: Bei den Pfarrerinnen und Pfarrern sind es drei Wochen (manchmal auch fünf oder sechs Wochen), die in der Regel im Predigerseminar für Seelsorge und Seelsorgeausbildung zur Verfügung stehen. Das machen alle mit. Für Religionspädagogik und Homiletik wird jedoch sowohl im Studium wie auch im Vikariat deutlich mehr Zeit und Aufmerksamkeit aufgewendet. Man kann ein Theologiestudium abschließen, ohne eine Lehrveranstaltung in Seelsorge belegt zu haben; in Religionspädagogik oder Homiletik geht das nicht. Daran zeigt sich, dass Seelsorge in der kirchlich-theologischen Öffentlichkeit nur eine relativ geringe Lobby hat – was sich auch darin spiegelt, dass z.B. im Reformpapier der EKD »Kirche der Freiheit« aus dem Jahr 2007 Seelsorge außerhalb von Kasualien überhaupt nicht vorkommt. Im Hintergrund steht das verbreitete Kli-

5. Qualitätssicherung in der Seelsorge

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schee, dass ja jeder Mensch ein Gespräch führen kann, dass man also im Grunde gar keine gesonderte Seelsorgeausbildung braucht. Die Anforderungen, die eine qualifizierte Seelsorge stellt, werden einfach übersehen. Seelsorge der Hauptamtlichen bezeichnet einerseits ein gesondertes Arbeitsfeld der Kirche, andererseits meint sie eine Art von Querschnittskompetenz: Das ganze Pfarramt, alles pastorale Handeln sollte seelsorglich geprägt sein, also geprägt sein von einer freundlichen, interessierten Zuwendung zu den Menschen und darin etwas von der Zuwendung und Sorge Gottes um die Menschen spiegeln. Als vierte Stufe sehe ich die schwerpunktmäßige und spezialisierte Seelsorge in Krankenhäusern, Gefängnissen, Altenheimen und kirchlichen Beratungsstellen; Personen, die hier arbeiten, brauchen eine besondere Qualifikation (eine längere pastoralpsychologische Seelsorgeausbildung, eine Beratungsausbildung, eine psychotherapeutische Zusatzausbildung) und können insofern auch wiederum Anleiter und Begleiterinnen z.B. für Laienseelsorgende sein. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich die verbreitete Neigung der Landeskirchen, Krankenhausseelsorge wieder an die Parochie anzubinden, für eine Fehlentwicklung halte. Man kann im Gemeindepfarramt einzelne Patienten aus der Gemeinde besuchen, aber man kann nicht als Repräsentant von Kirche das Krankenhaus als Ganzes in den Blick nehmen. Kirche gibt damit einen wichtigen Bereich des gesellschaftlichen Lebens aus der Hand. 5. Qualitätssicherung in der Seelsorge Seelsorge ist keine Psychotherapie, auch keine professionelle Beratung, und dementsprechend nicht an den Qualitätsstandards von Psychotherapie und Beratung zu messen. Aber Seelsorge arbeitet, zumindest auf der Ebene der Hauptamtlichen, doch auch mit Einsichten und Methoden aus der Psychotherapie und der Kommunikationstheorie; seit der Seelsorgebewegung der 70er und 80er Jahre ist unbestritten, dass Seelsorge in diesem Sinn lehr- und lernbar und damit auch überprüfbar ist. Die Vermittlung der Grundlagen der personzentrierten Psychotherapie nach Carl Rogers steht an erster Stelle: Eine annehmende, empathische, auf die Gefühle des anderen Menschen achtende Grundhaltung soll eingeübt werden; dazu Einsichten aus der Psychoanalyse wie Übertragung und Gegenübertragung und Anregungen aus der ressourcenorientierten systemischen Therapie. Noch einmal: Solche Ansätze sind lehrbar, können in der Seelsorgeausbildung eingeübt und dann auch überprüft werden.

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III Seelsorge auf dem Psychomarkt

In der Qualitätsdiskussion wird zwischen verschiedenen Aspekten von Qualität unterschieden. Am Anfang steht in der Regel die Frage nach der Strukturqualität, also die Frage, welche Strukturen vorhanden sind oder bereit gestellt werden, um eine bestimmte Tätigkeit sinnvoll ausüben zu können. Damit ist in unserem Kontext gemeint: Welche Ausbildung im Bereich Seelsorge bringt jemand mit? Wie ist es mit der Erreichbarkeit in Notsituationen bestellt? Gibt es Vertretungsregelungen, auf die man zurückgreifen kann? Hat er oder sie einen geeigneten einladenden und zugleich schallisolierten Raum, um seelsorgliche Gespräche zu führen? Nimmt er/sie regelmäßig an Weiterbildungen oder Supervisionen teil (die m.E. sowieso im Pfarramt verpflichtend gemacht werden sollte, wie in anderen psychosozialen Berufen auch). All das kann man relativ leicht überprüfen. Konzeptqualität meint: Welches Verständnis von Seelsorge hat jemand? Welche Bedeutung misst er/sie der Seelsorge im Gesamt der pfarramtlichen Tätigkeiten bei? Wie ist Seelsorge im Gemeinde- und Pfarramtskonzept verankert? Macht sich der Kirchenvorstand dafür stark, dass Seelsorge von Haupt- und Ehrenamtlichen ausgeübt wird? Welche Priorität gibt jemand seelsorglichen Gesprächen in der Arbeitsstruktur? Gibt es so etwas wie eine Systematik, mit der jemand an die Seelsorge heran geht (also sich z.B. vornimmt, in einem Jahr vorrangig Konfi-Eltern zu besuchen oder eine Besuchsdienstgruppe aufzubauen, die die Geburtstagsbesuche machen soll)? Welche Art von Dokumentation der stattgefundenen Seelsorgegespräche nimmt jemand wahr? Schließlich gibt es die Prozess- und die Ergebnis-Qualität, also die Frage, wie der Prozess eines seelsorglichen Gesprächs abgelaufen ist und zu welchen Ergebnissen er geführt hat. Diese Fragen sind natürlich in der Seelsorge schwierig zu beantworten, aber sie sind wiederum nicht eo ipso abwegig. Erstens hat man selber einen Eindruck von einem Gespräch; wenn man sich anschließend für kurze Zeit hinsetzt und den Prozess überdenkt, kann man vielleicht schon das eine oder andere feststellen, was gut gelaufen ist oder schwierig war. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, Seelsorgegespräche in einer Supervisions- oder Intervisionsgruppe regelmäßig zu überprüfen. Außenstehenden fällt Anderes auf als einem selbst, d.h. man kann durch die Einschätzung von anderen ein realistischeres Bild der eigenen Seelsorgetätigkeit bekommen. Wer das in regelmäßigen Abständen tut, kriegt einen Eindruck von der Qualität seiner Seelsorge, was gut läuft und wo Nachbesserungsbedarf, also Fortbildungsbedarf besteht. Die Überprüfung der methodischen Qualität von Seelsorge steht m.E. nicht im Widerspruch zu der theologischen Grundeinsicht, dass all unser Handeln unter dem Vorbehalt des »ubi et quando visum est deo« („wo und wann es Gott gefällt“) zu sehen ist. Kompetenz in der Ge-

6. Vernetzung statt Konkurrenz

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sprächsführung ist eine wünschenswerte, im Grunde notwendige Grundlage für Seelsorge, aber sie garantiert keinesfalls den »Erfolg«; da bleiben genug Unwägbarkeiten, in denen wir den hl. Geist am Werk sehen können. 6. Vernetzung statt Konkurrenz Seelsorge als kirchliches Angebot verstehe ich nicht als Konkurrenz zu beraterischen oder therapeutischen Angeboten auf dem Psychomarkt, sondern als ein Modul, das von der Vernetzung mit anderen seriösen Handlungsfeldern lebt (und sich von unseriösen entsprechend abgrenzen sollte) und in einer solchen Vernetzung ihre Spezifika zur Geltung bringen kann. Seelsorge als kirchliches Beratungsangebot ist für die anderen professionellen Akteure auf dem Psychomarkt in der Regel nicht im Blick (mit Ausnahme der Notfallseelsorge, die sich großer Bekanntheit und Beliebtheit erfreut); wir müssen auf andere zugehen, wenn und weil wir davon überzeugt sind, dass Seelsorge ein wichtiger Baustein in einem Netz psychosozialer Hilfe sein kann; wir müssen auf andere zugehen, uns bekannt machen, unsere Stärken und Besonderheiten verdeutlichen und für Zusammenarbeit werben. Noch mal die Spezifika: ein besonders niedrigschwelliges Angebot, das zugleich ein aufsuchendes ist, (so dass Menschen erreicht werden, die nicht von sich aus Hilfe suchen würden), und eins, das an den Wendepunkten des Lebens unaufdringlich präsent ist und in ein Netzwerk von sozialen Kontakten eingebunden ist. Schließlich ein religiös geprägtes Beratungsangebot (Es kann inzwischen als erwiesen gelten, dass eine religiöse oder spirituelle Orientierung positive Wirkungen auf Gesundheit oder Prozesse der Krankheitsbewältigung hat). Diese Punkte müssten für die anderen Akteure interessant sein und entsprechende Zusammenarbeit in Gang setzen, wenn wir nur die Initiative ergreifen. Ein Beispiel: Am Rande eines Gemeindefestes erzählt eine Frau dem Pfarrer, dass sie im Moment große Probleme mit ihrem 13jährigen Sohn hat; der Pfarrer kennt den Jungen aus dem ersten Jahr des KU, er kann bestätigen, dass er ihn im Moment auch schwierig findet und sagt dann quasi beiläufig: Wir könnten einen Termin für ein ausführlicheres Gespräch ausmachen; Sie könnten sich aber auch Hilfe bei der evangelischen Erziehungsberatungsstelle holen. Ich kenne die BeraterInnen dort, die sind sehr kompetent und freundlich, da kriegen Sie erste Hinweise für Ihre Erziehungsprobleme und vielleicht entlastet Sie das auch, wenn sie das mal ausführlicher durchsprechen können.

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III Seelsorge auf dem Psychomarkt

Etwa sechs Wochen später trifft die Frau den Pfarrer zufällig auf der Straße und sagt: Das war ein guter Tipp von Ihnen, ich war letzte Woche bei der Beratungsstelle und die haben mir richtig weiter geholfen. Bei diesem Beispiel scheinen mir drei Dinge wichtig: – Der angesprochene Pfarrer bietet eine Gesprächsmöglichkeit an und macht zugleich klar, dass er nicht alles selber machen will und muss, sondern grundsätzlich bereit und in der Lage ist, Anfragen abzugeben, weil er darum weiß, dass andere spezifische Sachkompetenzen haben, die er nicht hat; – Ein solches weiter verweisen bedeutet, die Grenzen der eigenen Kompetenz nicht als Defizit zu verstehen. Es ist ein Zeichen von Professionalität, wenn man um die beruflichen und persönlichen Grenzen weiß und entsprechend handelt; – Er kennt die Akteure in der Beratungsstelle und kann sie deswegen guten Gewissens empfehlen. Dieser letzte Punkt scheint mir besonders wichtig: Dass Sie im Umfeld Ihrer Gemeinde Einrichtungen wie Beratungsstellen (Erziehungs- und Lebensberatung, Suchtberatung, Schuldnerberatung, Krisendienste, kommunale Sozialarbeit etc.) und niedergelassene Psychotherapeuten und Psychiater kennen oder aus fundierter Quelle über sie gehört haben, um mit ihnen zusammen arbeiten zu können, um sie weiter empfehlen zu können. Bei diesem letzten Punkt können übrigens die TS-Stellen hilfreich sein; die sammeln ja systematisch Hinweise und Adressen von Hilfeeinrichtungen, um Anrufenden entsprechende Empfehlungen geben zu können. In diesem Sinn können Seelsorgende mit gutem Selbstbewusstsein auf dem Psychomarkt auftreten: In der Vernetzung mit anderen Beratungsangeboten hat Seelsorge eine große, bislang unterschätzte Bedeutung; man kann sie mit gutem Gewissen als solche vertreten. Die entscheidende Frage scheint mir dann eher zu sein, ob sich Pfarrerinnen und Pfarrer in der Lage sehen, die vielen Möglichkeiten, die sich in der Seelsorge anbieten, allein oder in Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen auch tatsächlich zu nutzen. Das ist zunächst eine konzeptionelle Frage: Ob Sie ein Interesse daran haben, Seelsorge in der von mir beschriebenen Art und Weise aufzuwerten und zu vernetzen. M.E. liegt da noch ein großes Potential.

IV Schuld und Gewissen Seelsorgliche Perspektiven64

1. Einleitung: Gewissen und Schuld als Themen der Seelsorge Friedrich Nietzsche hat dem Christentum vorgeworfen, es repräsentiere eine Sünden- und Schuldkultur, die Menschen klein und abhängig mache und kein positives Selbstbewusstsein aufkommen lasse. Wenn man das schon aus der alten Kirche bekannte Sündenbekenntnis hört, das stellenweise heute noch in Gottesdiensten gebetet wird, mag man Nietzsches Vorwurf zustimmen. Da heißt es: »So lasset uns zuvor gedenken unserer Unwürdigkeit und vor Gott bekennen, dass wir gesündigt haben mit Gedanken, Worten und Werken, auch aus eigener Kraft uns von unserem sündigen Wesen nicht erlösen können. Meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld.« Kann man diese Worte anders als moralisch, moralisierend hören? Es ist dann kein Wunder, wenn es Menschen gibt, die behaupten, Schuldgefühle seien eine destruktive Form der religiösen Selbstbestrafung, die man besser loslassen sollte. Wo stehen wir Pfarrerinnen und Pfarrer, die als Vertreter der Kirche traditionellerweise besonders mit dem Thema Schuld in Verbindung gebracht werden, in dieser Debatte? Ich beginne mit drei kurzen Fallbeispielen, die die Breite des Themas andeuten: Eine Frau von Mitte 40 erzählt ihrem Gemeindepfarrer sichtlich bewegt davon, dass sie vor 14 Jahren einen Schwangerschaftsabbruch hat machen lassen. Sie hatte damals bereits ein dreijähriges Kind, ihr Partner hatte sich gerade von ihr getrennt, sie konnte sich nicht vorstellen, jetzt noch ein zweites Kind zu bekommen und allein die beiden Kinder groß zu ziehen. Sie lebte damals in einer Großstadt, ihr soziales Netz, von dem sie sich hätte Hilfe versprechen können, war dünn, ihre Eltern wohnten ziemlich weit weg. In dieser Situation entschloss sie sich schweren Herzens zu dem Abbruch. Seither plagen sie immer wieder Schuldgefühle. Ein junger Mann erzählt von einem ihn quälenden Schuldgefühl: Sein Vater war schwer herzkrank, die Mutter schärfte der Familie ein, 64

Leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags vor der Frühjahrstagung der Polizeiseelsorge am 25.2.2015 in Wuppertal.

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IV Schuld und Gewissen

sich möglichst ruhig zu betragen, um den Vater nicht aufzuregen und seinem Herzen nicht zu schaden. Eines Tages – er war ungefähr fünf Jahre alt – hatte er mit Freunden im Garten herumgetollt: Er war mit dem Kopf gegen einen Zaunpfosten geprallt, es gab eine stark blutende Platzwunde und er schrie heftig, z.T weil es weh tat, z.T. weil ihn das viele Blut erschreckte. Schreiend wurde er ins Haus getragen. Ein paar Tage später starb der Vater an Herzversagen. Nach der Bestattung des Vaters sagte die Mutter zu ihm: Wenn du nicht so getobt und geschrieen hättest, wäre der Papa nicht gestorben. Dieser Satz habe sich ihm tief eingegraben, und verursache ihm immer wieder heftige Schuldgefühle.65 Eine Frau von 76 Jahren hat ihren nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmten Mann über Jahre hin treu und aufopfernd gepflegt und versorgt. Manchmal hat sie geseufzt angesichts der Last und dass sie gar nicht mehr von zu Hause weg konnte. Reisen zu einem der beiden Kinder unternahm sie nur noch sehr selten, um ihren Mann nicht allein zu lassen. Als sie eines Tages zur Nachbarin hinüber ging, um sich etwas zu leihen und auch noch ein kleines Schwätzchen zu halten, erlitt ihr Mann einen erneuten Schlaganfall. Als sie zurück in die Wohnung kam, war er tot. Die Frau machte sich heftige Vorwürfe: Wenn sie doch bloß da geblieben wäre! Vielleicht hätte sie ja noch rechtzeitig den Notarzt alarmieren und auf diese Weise seinen Tod verhindern können; und selbst wenn das nicht mehr möglich gewesen wäre, so hätte er doch wenigstens in ihren Armen sterben können. Sie fühlte sich elend und wie eine Verräterin an ihrem Mann. Wie können Pfarrerinnen und Pfarrer Menschen, die sich in solche Problemlagen verstrickt erleben, hilfreich begleiten? Pfarrerinnen und Pfarrer sind keine Psychotherapeuten, können also Schuldgefühle nicht im therapeutischen Sinne durcharbeiten. Wo erscheint ein Ritual der Vergebung angemessen bzw. nicht angemessen und wo ist Therapie angesagt? Was sind die spezifischen Möglichkeiten der Seelsorge? Dazu ist es zunächst notwendig, genauer zu wissen, um was es bei diesem Thema geht. 2. Gewissensentwicklung und Schuldempfinden Das Gewissen gilt als etwas Unbedingtes im Menschen; die Gewissensfreiheit gehört nach dem Grundgesetz66 zu den uneingeschränkten Grundrechten eines jeden Menschen.

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Dieser Fall wird ausführlicher berichtet von Joachim Scharfenberg. Art. 4.1 »Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich«.

2. Gewissensentwicklung und Schuldempfinden

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Gewissen, syn-eidesis, conscientia meint ein Mit-Wissen mit sich selbst.67 Ich bin mein eigener Mit-Wisser. Dabei sagt das Gewissen nicht direkt, ob eine Handlung gut oder schlecht ist, sondern das Gewissen prüft oder vergleicht, ob ein Handeln (oder manchmal schon ein Gedanke) den für einen selbst als gültig erachteten Normen entspricht oder nicht. Ein gutes Gewissen bemerken wir in der Regel nicht, es gibt sich nicht zu erkennen. Anders das schlechte Gewissen, das einen Widerspruch, einen Zwiespalt zwischen eigenem Handeln und eigenem Normbewusstsein anzeigt. Das schlechte Gewissen äußert sich als Angst, Beunruhigung bis hin zu körperlichen Symptomen wie Herzklopfen, Erröten, Schweißausbruch, Schlaflosigkeit etc. Das schlechte Gewissen meldet sich als Schuldgefühl, ohne dass damit – das ist für die folgenden Überlegungen von Bedeutung – etwas über eine tatsächlich zugrunde liegende Schuld ausgesagt wäre. Das Gewissen ist ein Warnsignal, eine Überprüfungsinstanz. Lange hat man das Gewissen als ein apriorisches Urteil im Menschen verstanden, als feststehende, unveränderbare Stimme Gottes, die höchstens verdunkelt, aber nicht ausgelöscht werden kann. Spätestens die Psychoanalyse hat diese Auffassung korrigiert und dargelegt, wie sich das Gewissen im Lauf der Sozialisation eines Menschen entwickelt und damit kultur-, milieu- und personabhängig – und eben keineswegs objektiv gegeben – ist. Gerade bei interkulturellen Begegnungen ist dieser Aspekt besonders zu berücksichtigen. Zwei Aspekte sind zu unterscheiden: 1. Man kann so etwas wie eine Grundgestalt des Gewissens annehmen, Reinhold Mokrosch hat sie in seiner großen systematischen und empirischen Untersuchung von Jugendlichen eine »vorempirischapriorische Gestalt«68 genannt im Sinne eines »noch unbestimmten, ungerichteten, allgemeinen ›Hang[es] zum Guten‹«. Noch vor aller kulturellen und individuellen Ausdifferenzierung ist eine solche Grundgestalt des Gewissens wahrscheinlich zu machen: Der ältere Bruder fühlt sich spontan herausgefordert, seine kleine Schwester vor den Angriffen anderer Jungen zu beschützen; ein spät abends spazierend gehendes Paar läuft auf eine Frau zu, die um Hilfe geschrien hat, um ihr beizustehen; ein Mann, der Zeuge wird, wie zwei Jugendliche in der Straßenbahn einen dunkelhäutigen Mann anpöbeln, geht dort hin und ruft die anderen Mitfahrenden auf, den Mann zu schützen. Diese Vorstellung entspricht etwa dem, was C.G. Jung als das unbewusste Archetyp-Gewissen bezeichnet hat.69 67 68 69

Vgl. Wilfried Härle, Ethik, Berlin / New York 2012, 113ff. Reinhold Mokrosch, Gewissen und Adoleszenz, Weinheim 1996, 396. Vgl. ausführlicher Mokrosch 1996, 370ff.

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IV Schuld und Gewissen

2. Dieses »Urgewissen« entwickelt sich im Lebenslauf einer Person. Den Anfang bildet nicht, wie Sigmund Freud postuliert hat, die relativ späte Über-Ich-Bildung in der ödipalen Phase (also im Alter von 4–6 Jahren) als Identifikation mit dem Aggressor, dem Vater; viel früher setzt eine Liebesidentifikation ein, in dem das Kind so sein will wie die Mutter oder der Vater. »Identifikation ist … zugleich die einfachste Form von Liebe, wobei das Kind auch die moralischen Forderungen des anderen liebt.«70 Das Kind übernimmt die Werthaltungen und Normen der Eltern und der umgebenden Gesellschaft, zunächst durch deren Verhalten, später dann durch deren explizite Ge- und Verbote. Kindern bleibt in diesem Stadium keine Wahl, sie wollen geliebt und anerkannt werden, also müssen sie die Haltungen und Urteile der Eltern internalisieren – das zweite Beispiel des Jungen, der wegen des Todes des herzkranken Vaters Schuldgefühle entwickelt, zeigt das deutlich. Erst Jugendliche kommen in die Lage, die Werte und Normen der Eltern kritisch zu hinterfragen, es zustimmend genauso zu machen oder in kritischer Abgrenzung eigene Positionen zu entwickeln. Viele Gewissenstheorien unterstellen einen solchen Entwicklungsprozess: Freud postuliert die Entwicklung von einem Über-Ich-gesteuerten hin zu einem vom Ich gelenkten, erwachsenen Gewissen, was ungefähr der von Erich Fromm getroffenen Unterscheidung eines heteronomen von einem autonomen Gewissen entspricht.71 Jean Piaget und Lawrence Kohlberg formulieren Moralphasen: Kinder beginnen mit einer präkonventionellen Moral, die sich weitgehend an der Angst vor dem Entdeckt-werden und vor Strafe orientiert; darauf folgt eine konventionelle Stufe, in der zum Maßstab wird, was »man« in der umgebenden Kultur tut oder lässt; diese Entwicklung sollte einmünden in eine »postkonventionelle Moral«, die eine selbstständige und kritische Urteils- bzw. Gewissensbildung beinhaltet.72 Vor allem die vermeintliche Gradlinigkeit einer solchen Moralentwicklung ist, sicher zu Recht, kritisiert worden. Mokrosch schreibt denn auch: Der Gewissensentwicklungsprozess »entspricht nach meinen Umfrageergebnissen eher der oft chaotischen Entwicklung der Psyche und Persönlichkeit im Lebenslauf eines Menschen …«.73 Wie immer man diese Entwicklung im Detail konzeptualisiert: Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang erscheint mir die Tatsache, dass es eine solche Entwicklung des Gewissens überhaupt gibt. 70 71 72

Hans-Jürgen Fraas, Die Religiosität des Menschen, Göttingen ²1993, 186. Vgl. Mathias Hirsch, Schuld und Schuldgefühl, Göttingen 2007, 34ff. Dazu ausführlicher Michael Klessmann, Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 52014, 503ff. 73 Mokrosch 1996, 407.

2. Gewissensentwicklung und Schuldempfinden

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D.h. das »normbezogene Selbstbewusstsein« ist in seiner Urteilsfunktion nicht zeitlos gültig und feststehend, geschweige denn göttlich eingegeben, sondern formbar, veränderbar, beeinflussbar – und dies wiederum in einem mehrfachen Sinn. 1. Die Werte und Normen, an denen sich Menschen orientieren, ändern sich kulturell-kollektiv wie individuell im Verlauf einer Biographie. Gerade die Generation derer, die die 68er Studentenbewegung und ihre Folgen bewusst miterlebt haben, können ein Lied davon singen, wie tiefgreifend sich die Normen im Lauf von wenigen Jahren verändert haben, vielleicht besonders folgenreich im Bereich der Sexualmoral. Mit der Veränderung der gesellschaftlichen Sexualmoral verändern sich aber auch die Beurteilungskategorien für das individuelle Gewissen und mithin die Wahrnehmung von Schuld und Schuldgefühlen. Nur ein Beispiel für viele: Masturbation hat noch in der Generation meiner Eltern bei Jungen und Mädchen schwerste Schuldgefühle verursacht, nicht zuletzt auf Grund religiöser Setzungen; heute löst sie glücklicherweise keine entsprechenden Selbstvorwürfe mehr aus. Ähnliches kann man für die gesellschaftliche Wertung von Homosexualität sagen. 2. Auch das Selbstbewusstsein ändert sich im Lauf einer Biographie. (Den sehr strittigen Begriff des »Selbst« verstehe ich hier als Gesamtheit der Person, wie sie sich in den Selbstbildern und Selbstgefühlen eines Menschen spiegelt. Über den so verstandenen Begriff des Selbst wird deutlich, dass das Gewissen nicht eine rein kognitive Instanz bezeichnet, sondern immer auch mit Emotionen verknüpft ist). In dem zunächst ganz unselbstständigen und abhängigen Baby entwickelt sich im Lauf der Jahre durch vielfältige Interaktionsprozesse mit den Bezugspersonen ein zunehmend selbstständiges, wahrnehmendes, fühlendes, steuerndes und urteilendes Selbst. Die Normen der Eltern (und Großeltern), die in der Kindheit prägend und dominierend sind, werden langsam ersetzt durch Normen, die man mehr oder weniger eigenständig verantworten kann – obwohl sicher der größte Teil auch der Erwachsenen auf der Stufe einer konventionellen Moral stehen bleibt, wie es Kohlberg beschrieben hat; außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass es in Krisensituation zu Durchbrüchen quasi archaischer, längst überholt geglaubter Normen und Bewertungen kommen kann. 3. Das bedeutet drittens, dass Menschen ihren eigenen Normen und Werten meistens ambivalent gegenüber stehen. Nur selten ist eine Gewissensentscheidung eine ganz klare und eindeutige Angelegenheit; in der Mehrzahl der ethischen Dilemmata werden die eigenen Normen als zwiespältig, uneindeutig und mehrschichtig wahrgenommen, so dass es schwer ist, zu einem klaren Urteil zu kommen. »Das Ende der Eindeutigkeit«, das Zygmunt Bauman für die mo-

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IV Schuld und Gewissen

derne Gesellschaft insgesamt konstatiert hat,74 gilt natürlich auch für Gewissensbildung und Gewissensentscheidungen. Vor diesem Hintergrund ist es Aufgabe von Pädagogik und Seelsorge, so etwas wie kritische Gewissenserziehung zu betreiben, also mit Jugendlichen und Erwachsenen die Normen zu reflektieren, die sie in ihrem Leben leiten. Dietrich Stollberg hat diesen Prozess für die Seelsorge so beschrieben: »Die Aufgabe des Seelsorgers bestünde also darin, dem Klienten zu helfen, Maßstäbe christlicher Ethik nicht zur Verstärkung seines gesetzlichen Über-Ich zu verwenden, sondern zur Befreiung des Ich, das situationsgerecht entscheiden und handeln möchte. Seelsorge wäre dann in diesem Sinn Hilfe zur biographisch-personalen Integration von überindividueller Norm und individueller Notwendigkeit im Interesse größerer Mündigkeit und Entscheidungsfähigkeit des Klienten.«75 In solchen Prozessen von Gewissensbildung und Gewissenserziehung kann Religion/Glaube/Kirche eine wichtige Rolle spielen. In der Vergangenheit hat eine »schwarze Pädagogik« rigide und autoritäre Normen extrem verschärft und religiös legitimiert, so dass sie als gottgewollt gar nicht mehr hinterfragbar waren. Bekannt gewordene Beispiele dafür sind das eindrückliche Buch von Tilman Moser »Gottesvergiftung« oder der Film »das weiße Band«. Dabei sollte die Rolle von Religion, speziell in Gestalt des protestantischen Glaubens, gerade nicht darin bestehen, eine solche Gewissensbelastung hervorzurufen oder gar zu verschärfen, sondern im Gegenteil zu einer Befreiung von »normativer Überlastung« beizutragen.76 Autoritäre Erziehungspraktiken, die meistens zu einer überstrengen Gewissensbildung führen, sind heute selten geworden, vorwiegend vielleicht noch in fundamentalistisch-pietistischen Gruppierungen anzutreffen. Gegenwärtig sind wir eher mit dem anderen Extrem konfrontiert, nämlich mit einer mangelnden oder einer unklaren Gewissensbildung, einem ratlosen Gewissen. Normen und Maßstäbe verschwimmen in der pluralisierten und individualisierten Welt immer stärker, so dass es notwendig wird, mit Kindern und Jugendlichen an ihrem Normbewusstsein und damit an ihrem Gewissen zu arbeiten, um sie »zu einem aufmerksamen, verantwortlichen Umgang mit den eigenen ethischen Überzeugungen anzuleiten«.77 74

Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005. 75 Dietrich Stollberg, Das Gewissen, in: ders., Wenn Gott menschlich wäre, Stuttgart 1978, 179. 76 Reinhold Mokrosch, Art. Gewissen/Gewissensbildung. LexRP Bd. 1, NeukirchenVluyn 2001, 712. 77 Wilfried Härle, Ethik, Berlin 2011, 117.

3. Notwendige Unterscheidungen im Schuldbegriff

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3. Notwendige Unterscheidungen im Schuldbegriff Schuldwahrnehmung hängt häufig – aber durchaus nicht immer – mit dem Gewissen zusammen. Einige Differenzierungen zum Thema Schuld, die häufig übersehen werden, sind an dieser Stelle wichtig:78 3.1 Existentialschuld und Tatschuld sind zu unterscheiden. Der Begriff der Schuld kommt vom Althochdeutschen Skulda = das Gesollte. In sozialen Zusammenhängen kennen wir den Vorgang, dass ein Mensch einem Anderen etwas Gesolltes schuldig geblieben ist (debitum), der Andere wirft es ihm vor, so dass der Akteur sich nun schuldig fühlt.79 Diese Bedeutung hat sich von Geld und Sachwerten gelöst und eine existentielle Dimension angenommen. Schuld bezeichnet das, was man einem anderen oder auch sich selbst schuldig ist und bleibt. Einer solchen existentiellen Schuld entkommt man nie: Die Möglichkeiten zu wählen, sind prinzipiell unendlich, unsere Fähigkeiten dagegen begrenzt. Wir können immer nur einen kleinen Ausschnitt aus ungezählten Wahlmöglichkeiten realisieren. Schul- und Berufsausbildung, Partnerwahl, Kindererziehung sind naheliegende Beispiele für diesen Sachverhalt. Wer wählt, wird schuldig, hat Sartre gesagt, weil man eben nur das eine, und nicht zugleich das Andere realisieren kann. Diese existentielle Dimension der Schuld lässt sich als Übersetzung der theologischen Aussage verstehen, dass die Beziehung des Menschen zum Grund des Lebens, zu Gott, grundlegend durch immer wiederkehrende Schuld, durch Sünde, gestört ist.80 Gegenüber dem Leben und den Möglichkeiten, die es für uns bereit hält, bleiben wir immer etwas schuldig, weil wir unsere eigentliche Bestimmung, die Bestimmung zum Leben und zur Liebe, verfehlen. Tatschuld im Sinn des lat. culpa meint demgegenüber ein begangenes Unrecht, das man durch Zahlung einer realen oder symbolischen Buße wieder gutmachen bzw. das einem vergeben werden kann. Eine so verstandene Schuld entsteht durch aktives Tun oder Lassen und bemisst sich an vorgegebenen, anerkannten kulturellen und individuellen Normen. Im Gewissen wird sich der Mensch der Diskrepanz zwischen der für ihn gültigen Norm und seinem tatsächlichen Handeln bewusst. Auf diese wahrgenommene Diskrepanz reagieren Menschen mit Schuldgefühlen. 78

Dazu ausführlicher Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens, Neukirchen-Vluyn 52015. 79 Eckard Frick, Psychosomatische Anthropologie, Stuttgart 2009, 181. 80 Vgl. Peter Zimmerling, ›Gott ist einsam geworden: Es gibt keine Sünder mehr‹. Ist die theologische Rede von Sünde und Schuld noch zeitgemäß?, in: ders., Studienbuch Beichte, Göttingen 2009, 246–264. Zimmerling spricht hier von einem vierfachen Beziehungszerfall zu Gott, zum Mitmenschen, zur Mitwelt und zu sich selbst (249).

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IV Schuld und Gewissen

Tatschuld kann bereut und vergeben werden, mit Existentialschuld muss man leben lernen, man kann sie im Grunde nur betrauern. 3.2 Erfahrungen von Schuld gehen meistens einher mit dem Empfinden eines Schuldgefühls, das man als eine Form der Verarbeitung von Schulderfahrung verstehen kann. Schuldgefühle äußern sich als quälende Unzufriedenheit mit sich selbst, Gewissensbisse, Reue, Schmerz, Trauer, aber auch als Ärger und Bitterkeit. Schuldgefühle können bewusst und unbewusst sein; unbewusste Schuldgefühle kann man nur vermuten oder erschließen (z.B. wenn jemand immer wieder gravierende Fehler macht, und sich damit ständig quasi selbst bestraft). Fehlende Schuldgefühle kann man bei sog. dissozialen Menschen beobachten, die in chaotischen Familienverhältnissen aufgewachsen sind und in diesen Zusammenhängen kaum ein reifes Gewissen mit einem ausgebildeten Normbewusstsein entwickeln konnten. Schuldgefühle bzw. das sie auslösende Gewissen stellen ein notwendiges soziales Regulativ dar, sie zeigen einem an, wo und wie man sich von kollektiven und/oder individuellen Normen entfernt hat; weil Schuldgefühle als unangenehm und quälend empfunden werden, sucht man alles, was sie verursachen könnte, zu meiden. Heutzutage wird uns allerdings des Öfteren suggeriert, man müsse eigentlich keine Schuldgefühle mehr haben, das sei doch eher eine neurotische Angelegenheit; damit wird aber deren mögliche sozial sinnvolle Funktion übersehen. 3.3 Es ist sinnvoll, zwischen adäquaten/realistischen und neurotischen/ unrealistischen Schuldgefühlen zu unterscheiden: Adäquat bedeutet: Es gibt eine reale Schulderfahrung; die emotionale Reaktion (Trauer, Reue) darauf steht in einem nachvollziehbaren Zusammenhang zum auslösenden Anlass. Das Gewissen stellt eine mehr oder weniger große Diskrepanz zwischen Handlung und Normbewusstsein fest und löst entsprechende Gefühle aus. Dass die Frau im ersten Beispiel mit Schuldgefühlen auf den Schwangerschaftsabbruch reagiert, erscheint nachvollziehbar. Sie hat durch eine Entscheidung die Lebensmöglichkeiten eines werdenden Kindes beendet. Der Ausdruck »neurotische oder unrealistische Schuldgefühle« meint dagegen zweierlei: Es gibt Schuldgefühle, die mit keiner realen Schuld verknüpft sind; diese Schuldgefühle haben auch nicht wirklich mit einem Gewissensurteil zu tun, sondern entstammen anderen psychodynamischen, biographischen Zusammenhängen; in der Psychoanalyse hat sich, Freud folgend, der Begriff der »entlehnten Schuld« durchgesetzt.81 Es gibt mehrere Hypothesen für ein solches entlehntes oder auch falsches Schuldge81

Vgl. Hirsch 2007 (Anm. 71), 94ff.

3. Notwendige Unterscheidungen im Schuldbegriff

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fühl, das vor allem im Zusammenhang mit Traumatisierungen auftaucht: – Es kann sich um die Übernahme von realer Schuld und Schuldgefühlen eines vertrauten oder geliebten Menschen im Sinn eines Introjekts82 handeln, mit dem unbewussten Ziel, diese Person nicht zu verlieren. Das Kind, das beispielsweise vom Vater missbraucht worden ist, versucht, »die für es lebensnotwendige Beziehung zu erhalten …, indem es sich selbst die Ursache der Gewalt, des Bösen und die Schuld dafür zuschreibt«.83 – Das Schuldgefühl kann Ausdruck eines starkes Ambivalenzkonflikts sein: Das Kind liebt den Täter und hasst ihn zugleich – aber es darf ihn eigentlich nicht hassen, weil es ihn doch liebt und braucht. Die Aggression auf den Täter wird unterdrückt und wendet sich gegen das eigene Selbst. Das Opfer nimmt dem Täter die Schuld gleichsam ab. – Eine weitere Deutung sagt, dass Schuldgefühle im Fall von Traumatisierungen der Abwehr von Ohnmacht dienen können. Besser schuldig als ohnmächtig,84 denn Schuld suggeriert immer noch Handlungsmöglichkeiten: Man kann es beim nächsten Mal anders machen, man kann begangene Schuld bereuen und büßen – all das ist besser als sich völlig ohnmächtig ausgeliefert zu fühlen. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass es bei allen Hypothesen der in Frage stehenden Schuldgefühle nur in einem ganz indirekten Sinn um Gewissensurteile geht. Hier werden Menschen Schuldgefühle von außen gleichsam eingepflanzt, obwohl sie keine Schuld auf sich geladen haben. Es handelt sich um »falsche« bzw. »entlehnte« Schuldgefühle, die nicht vergeben werden können (ein solches Angebot würde ja gerade suggerieren, dass eine reale Schuld zugrunde liegt), sondern durchgearbeitet und aufgelöst werden müssen. Mathias Hirsch hat mehrere Arten von Schuldgefühlen, die auf keiner realen Schuld beruhen, sondern das Ergebnis subtiler innerfamiliärer Traumatisierungen darstellen, differenziert beschrieben:85 Ein Basisschuldgefühl entsteht auf Grund des Gefühls, als Kind von Anfang nicht gewollt zu sein; ein Kind spürt ja bald, ob es grundsätzlich gewollt ist oder nicht. Ein Schuldgefühl aus Vitalität kann sich bilden, weil alle lebendigen und expansiven Bestrebungen des Kindes von Eltern 82 »Das Introjekt ist ein Gebilde, das als Fremdkörper wirkt und vom Ich-Erleben, vom Denken, Phantasieren und Sprechen weitgehend abgetrennt ist.« Hirsch 2007, 99. 83 Hirsch 2007, 104. 84 Luise Reddemann, Imagination als heilsame Kraft, Stuttgart 152010, 171. 85 Hirsch 2007.

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mit Einschränkungen, Vorhaltungen und Trauer beantwortet werden (wie im 2. Beispiel). Im Trennungsschuldgefühl entmutigen und unterbinden Eltern alle Loslösungs- und Selbstständigkeitsbestrebungen des Kindes. Ein traumatisches Schuldgefühl entsteht aus der Erfahrung von physischer und psychischer Gewalt. Das Opfer nimmt die Schuld in Gestalt von Schuldgefühlen auf sich, um den Täter als Liebesobjekt nicht aufgeben zu müssen. In solchen Fällen geht es vorrangig darum, diese Schuldgefühle psychotherapeutisch durchzuarbeiten; trotzdem kann zugleich auch Seelsorge sinnvoll sein – in guter Abstimmung mit dem Therapeuten, der Therapeutin: Um Betroffene auf ihrem schwierigen Weg zu begleiten und die religiöse Dimension dieser Erfahrung zum Thema machen zu können. 3.4 Es gibt andere Schuldgefühle, in denen die emotionale Reaktion den schuldhaften Anlass so dramatisiert, wie etwa im dritten Beispiel, dass man hier eine skrupulöse Gewissens- und Normentwicklung annehmen muss oder verdrängte Aggressionen, die sich nun gegen die Person selbst Ausdruck verschaffen. Eltern, die harte, u.U. noch religiös fundierte Normen aufrichten, setzen eine strenge Gewissenserziehung in Gang; dadurch kommt es bei Betroffenen schnell zu entsprechenden scharfen Gewissensbissen: Nicht erst eine tatsächliche Normverletzung, sondern bereits ein Gedanke an eine Normverletzung löst Schuldgefühle aus. Im alten Sündenbekenntnis heißt es: »dass ich gesündigt habe mit Gedanken, Worten und Werken …« Hier wird eine ausgeprägte Skrupulosität gefördert, Tilman Moser hat sie in seiner »Gottesvergiftung« eindrücklich beschrieben. »›Was wird der liebe Gott dazu sagen?‹ Durch diesen Satz war ich früh meiner eigenen inneren Gerichtsbarkeit überlassen worden.«86 Die Differenzierung von Gedanken als Probehandeln und tatsächlichen Taten, die die Psychoanalyse so hilfreich eingeführt hat, wird hier rückgängig gemacht. Die Aufgabe von Therapie oder Seelsorge besteht in einem solchen Fall in der Anregung dazu, die scharfe Selbstverurteilung zu ermäßigen und zu einem »gnädigen« Gewissen anzuleiten. 3.5 Auslöser für Schulderfahrung und Schuldgefühl ist klassischerweise die Übertretung einer Norm, also ein identifizierbares Tun oder Lassen im Kontext bestimmbarer Normen und Werte. Die zehn Gebote, das Doppelgebot der Liebe und dann natürlich die staatlichen Gesetze bilden die Grundlagen für solche Normen. Ein Mord oder eine Lüge sind an Hand dieser Maßstäbe identifizierbar; sofern ein Mensch zurechnungsfähig ist, wird er dann als schuldig identifiziert. 86

Tilman Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt a.M. 1976, 17.

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In spätmodernen Gesellschaften verschwimmen jedoch die Unterscheidungen für gut und böse, richtig und falsch in zunehmendem Maß. Durch globalisierte Zusammenhänge und ein Denken in zirkulären Kausalitäten wird es in vielen Fällen schwer, eindeutige Verantwortlichkeiten fest zu machen. Dazu kommt: Ideale Wertvorstellungen wie Selbstverwirklichung, Offenheit, Flexibilität und Authentizität werden wichtig. Schuld und Schuldgefühle, die in diesem Kontext entstehen, haben eine ganz andere Färbung: Schuld wird nicht mehr nur als Normübertretung erlebt, sondern stärker als Problem des Selbstbewusstseins. Schuldgefühle entstehen jetzt angesichts eines idealen Selbstbildes, das in unserer Gesellschaft an vielen Stellen als gewünschtes Lebensziel entworfen wird: Man soll sich selbst entwickeln und verwirklichen, seine Ressourcen entfalten und optimieren, möglichst viel aus sich machen. Schuldgefühle entstehen angesichts solcher Ideale: Man hat nie genug getan. Man hat nichts falsch gemacht, sondern »nur« die eigenen Potentiale nicht genügend entwickelt. An die Stelle des durch eine Normübertretung schuldigen Menschen tritt der tragische, das erschrockene Gewissen wird eher zu einem gekränkten, das normbezogene Gewissen wandelt sich zu einem selbstbezogenen Gewissen. Was heißt das für das Verständnis und die Funktion des Gewissens? Schuldgefühle sind in diesem Zusammenhang kaum von Scham zu unterscheiden. Ein Beispiel: Ein junger Mann kommt in die Beratungsstelle und erzählt der Beraterin, dass er neben seiner Ehefrau eine Geliebte hat und sich nun unschlüssig ist, für welche der beiden Frauen er sich entscheiden soll. Sein Problem ist nicht, dass er sein Verhalten gegenüber seiner Ehefrau als schuldhaft, als verwerflichen Ehebruch, ansähe, sondern dass er die Sorge hat, er könnte durch eine falsche Entscheidung seine eigenen Möglichkeiten nicht genügend entwickeln. Seine Frau, so sagt er, gibt ihm Sicherheit und Geborgenheit, bei der Geliebten fühlt er sich herausgefordert und angeregt – und er möchte in der Beratung abwägen, welche Beziehung für ihn die bessere, die förderlichere darstellt. Er empfindet ein wenig Scham angesichts seiner Unsicherheit, aber keine Schuld gegenüber seiner Frau.87 In einem solchen Fall wäre besonders und zunächst die wertschätzende Annahme dieses Mannes und seiner Gefühle von Bedeutung: Scham kann nur ausgesprochen und angeschaut werden in einem Raum unbedingter und uneingeschränkter Wertschätzung. Vielleicht ist es im weiteren Verlauf dann auch möglich, den Mann zur Identifikation mit seiner Frau anzuregen, um ihm eine Ahnung davon zu vermitteln, was 87

Hans van der Geest, Die Ablösung der Schuldfrage durch das Problem des Selbstbewusstseins, Theologia Practica (19) 1984, 314–330.

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IV Schuld und Gewissen

er seiner Frau antut. So könnte dann vielleicht ein Schuldbewusstsein entstehen. 4. Seelsorgliche Möglichkeiten: Schuld benennen, mit Schuld leben lernen, Vergebung empfangen 4.1 Wahrnehmen und Annehmen Ein Mann ruft bei der TS an und sagt mit stockender Stimme, er sei Soldat bei der Bundeswehr gewesen und habe vor einigen Jahren in Afghanistan ein Kind erschossen. Das Bild davon tauche immer wieder in seinem Kopf auf, was er denn tun könne, um das quälende Schuldgefühl loszuwerden. Die ehrenamtliche Mitarbeiterin der TS bittet ihn genauer darzustellen, was denn damals geschehen sei. Er beginnt zögernd zu erzählen, wie er mit einem Erkundungstrupp am Rande eines kleinen Ortes plötzlich in einen Hinterhalt geriet, sie hätten auf alles geschossen, was sich bewegte, um sich aus dem Hinterhalt zu befreien, plötzlich sei da dieses Kind gewesen, er weiß nicht, wie es dahin gekommen ist, aber er sieht noch, wie es nach einem Schuss aus seiner Maschinenpistole hinfiel und sich nicht mehr bewegte. Er werde dieses Bild nicht los, es quäle ihn sehr – und, das betont er mehrfach, er habe die Geschichte noch niemandem erzählt. Es tue sehr gut, es jetzt einmal erzählen zu können. Einem ratsuchenden Menschen in der Seelsorge zu begegnen, heißt, ihn ernst zu nehmen, sein gegenwärtiges Empfinden anzunehmen und als auf irgendeine Weise begründet und sinnvoll zu akzeptieren und zu würdigen. Es hat mich in meiner langjährigen Tätigkeit als Seelsorger immer wieder überrascht, wie wohltuend es Menschen finden, wenn das, was sie erlebt haben, erst einmal als solches gewürdigt und ihnen nicht ausgeredet oder bagatellisiert wird. »Wahrnehmen und Annehmen« lautet der Titel eines Seelsorgebuchs von Dietrich Stollberg.88 Darin besteht ein grundlegender Auftrag jeder Seelsorge. Zu dem Wahrnehmen und Annehmen gehört, die Schuld oder die Schuldgefühle klar beim Namen zu nennen und die Umstände so konkret wie möglich zu machen, also nicht drum herum zu reden, nicht zu verschleiern, nicht zu bagatellisieren oder vorschnell zu vertrösten. Bei jenem Anrufer hätte es ja nahe gelegen zu sagen, dass er doch gar nicht sicher sein könne, dass er das Kind erschossen habe, vielleicht oder sogar wahrscheinlich hätte es auch der Schuss eines seiner Kameraden gewesen 88

Gütersloh 1978.

4. Seelsorgliche Möglichkeiten: Schuld benennen ...

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sein können. Das wäre falsch gewesen, weil es das deutliche Gefühl des Anrufers nicht ernst nähme. 4.2 Befragen und Differenzieren In einem zweiten Schritt legt es sich nahe, die Entstehungsbedingungen der in Frage stehenden Schuld bzw. des Schuldgefühls genauer zu erfragen. »Erzählen Sie doch ausführlicher, wie es zu dem Ereignis gekommen ist und was Sie als Ihren Anteil daran sehen«. Besonders hilfreich und weiterführend ist folgende Frage: Wofür sind Sie im Zusammenhang dieses Ereignisses verantwortlich und (und dieser zweite Teil der Frage ist noch wichtiger) wofür sind Sie nicht verantwortlich. Hintergrund der Frage ist die Erfahrung, dass vor allem skrupulöse Menschen, die eine strenge Gewissenserziehung durchgemacht haben, dazu neigen, ihre Schuld und entsprechend ihre Schuldgefühle unabgegrenzt zu vergrößern. Die Frau, die ihren Mann jahrelang verantwortungsvoll gepflegt hat, fühlt sich nun auch noch schuldig, dass sie seinen Tod nicht hat verhindern können. Es wird eine Art von negativem Größenwahn sichtbar, der sich für alles und jedes verantwortlich sieht. Auch bei depressiv gestimmten Menschen ist diese Neigung zu beobachten, die eigene Schuld gleichsam ständig aufzublähen. Die Frage, wofür jemand nicht verantwortlich ist, kann hier eine hilfreiche Differenzierung in Gang setzen. »Falsche«, »entlehnte«, von außen zugeschriebene Schuldzuweisungen können erkannt, und dann »berechtigte« Schuld umso eher anerkannt werden. Damit werden auch manche Gewissensurteile hinterfragt; gerade weil wir wissen, auf welchen Wegen Gewissensurteile zustande kommen können, wie »falsche« Zuschreibungen übernommen (wie im 2. Beispiel) und überstrenge Maßstäbe internalisiert worden sind, ist es wichtig, diese Möglichkeit immer mit im Blick zu haben. Im Blick auf das genannte dritte Beispiel heißt das: Die Frau ist natürlich nicht verantwortlich für den Tod ihres Mannes, der ist Gott anheimgestellt. Ihre Verantwortung erstreckt sich auf ihre Präsenz und auf die Qualität ihrer Pflege und Fürsorge. Insofern ist es angemessen, dass sie ihre Abwesenheit im Moment seines Todes sehr bedauert und betrauert. Was darüber hinausgeht, sind Schuldgefühle, die sich aus anderen Quellen als dem Gewissensurteil speisen. (So könnte man bei der Frau eine Aggression vermuten, die sich ursprünglich gegen ihren Mann richtet, weil sie jahrelang durch seine Krankheit gleichsam angebunden war; sie hat es aber nicht gewagt, diese Aggression bewusst gegen ihn zu richten, da er ja schwer krank ist; so richtet sich die Aggression gegen sie selbst und ruft scharfe, für Außenstehende übertriebene Gewissensbisse hervor.). Natürlich kann man ihr das überstrenge Gewissensurteil nicht einfach ausreden, aber man kann mit ihr durch die Frage nach der Verantwortung an einer Erlebensdifferenzierung arbeiten. Das

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IV Schuld und Gewissen

erscheint mir nicht als Bagatellisierung der Schuld, sondern als sinnvolle und notwendige Begrenzung von Schuld und Schuldgefühlen – nicht zuletzt auf Grund der theologischen Einsicht, dass wir als Christen glauben, dass Gott gnädiger ist als das verklagende Gewissen.89 Ein weiteres Beispiel: Eine Frau von etwa 50 Jahren ist vor ca. 10 Jahren nach langjährigen Konflikten in ihrer Ehe aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen; ihr Mann hat sie daraufhin – z.T. vor dem gemeinsamen Kind – als die Schuldige an der Zerrüttung der Ehe und der Trennung hingestellt. Sie hat diese Zuschreibung für sich übernommen dergestalt, dass sie beim Gedanken an ihre Ehe und Familie auch heute noch deutliche Schuldgefühle spürt. Auf meine Frage, wofür sie im Rahmen dieses Prozesses nicht verantwortlich ist, nennt sie, dass z.B. ihr Mann ihren Wunsch nach einer gemeinsamen Paarberatung abgelehnt und auch sonst nicht bereit gewesen sei, seinen Anteil an den Ehekonflikten genauer anzuschauen. Sie merkt, wie sie sich Schuldgefühle hat zuschreiben lassen (in ihrer Herkunftsfamilie waren alle Familienmitglieder schnell bereit, Schuld auf sich zu nehmen) und wie sie sich durch diesen Reflexionsgang in angemessener Weise relativieren. 4.3 Vergebung gewähren bzw. empfangen Das Wort Vergeben bedeutet, einem Menschen eine schuldhaft begangene Tat nicht länger vorzuhalten; sie zwar nicht zu vergessen, aber die damit verbundene Anklage innerlich loszulassen. Vorwürfe und Aggression gegen den Täter sind zunächst völlig normal und gesund, wenn sie jedoch sehr lange anhalten, wirken sie wie ein »Klebstoff« (Reddemann), durch den das Opfer an den Täter gebunden bleibt. Konrad Stauss spricht davon, dass sich eine »Verbitterungsstörung« einstellen kann.90 Vergebung zu gewähren bedeutet dann u.U. eine Befreiung des Opfers, es kann sich lösen aus den Fesseln des Hasses und der quälenden Wünsche nach Rache. Umgekehrt kann der Täter durch die Vergebung des Opfers – oder durch die Vergebung Gottes – frei werden von seinen Schuldgefühlen; d.h. die Schuld bleibt, wie eine Narbe, aber sie muss ihn nicht mehr anklagen. Vergebung braucht in der Regel gewisse Voraussetzungen: Die scholastische Theologie hat den psychologisch klugen Viererschritt entwickelt: confessio oris, contritio cordis, absolutio, satisfactio operis. Der schuldig gewordene Mensch muss die Schuld bzw. seine Schuldanteile als seine anerkennen und dafür die Verantwortung über89 90

So Christoph Morgenthaler, Seelsorge, Gütersloh 2009, 109. Konrad Stauss, Die heilende Kraft der Vergebung, München 2010.

4. Seelsorgliche Möglichkeiten: Schuld benennen ...

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nehmen. Er muss Reue zeigen, das Geschehen muss ihm leid tun; erst dann kann er die Zusage der Vergebung durch Gott bekommen und sich dann neu auch wieder selber annehmen. Die Annahme der Vergebung zeigt sich in der Bereitschaft, eine Art von Satisfaktion zu leisten. So sinnvoll und nachvollziehbar dieses klassische Modell ist: Das Opfer einer schuldhaften Tat bleibt in dieser Abfolge abhängig von der Bereitschaft des Täters, Reue zu zeigen. Für den Fall, dass ein Täter nicht mehr lebt, nicht mehr erreichbar ist, oder sich uneinsichtig zeigt, bleibt das Opfer auf seinen Schuldvorwürfen, auf seinem Hass auf den Täter sitzen, es bleibt innerlich gefangen. Der schon erwähnte Psychotherapeut Konrad Stauss hat ein differenziertes Modell des Vergebungsprozesses entwickelt, das vorrangig darauf abzielt, dass das Opfer vergeben kann und damit von der unbewussten Bindung an das Täterintrojekt frei wird.91 Die Dynamik des Täterintrojekts beschreibt der Autor so: Das Opfer behandelt sich selbst so, wie es zuvor vom Täter behandelt worden ist: Wie du mir damals, so ich mir heute – verletzend, aggressiv, abwertend, feindselig, vernachlässigend.92 Um davon frei zu werden und dem Täter vergeben zu können, braucht es, so Stauss, einen wiederholten Perspektivenwechsel, wie man ihn methodisch in der Gestalttherapie durch den Stuhlwechsel kennt. Kernstück des Vergebungsprozesses ist die Fähigkeit des Opfers, sich empathisch in den Täter einzufühlen, ihn gleichsam mit den Augen Gottes zu betrachten. Das kann geschehen, indem das Opfer vier verschiedene Briefe aus der Identifikation mit dem Täter heraus an sich selbst schreibt.93 Der Prozess endet damit, dass das Opfer ein »Vergebungszertifikat« ausstellt, dieses in einem Ritual unter Anwesenheit von Zeugen vorliest – religiös eingestellte Menschen rufen dabei auch Gott zum Zeugen an und vergewissern sich seiner Vergebung. Die Vergebungsbitte aus dem »Vater Unser« »wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« hängt in diesem Modell also nicht mehr von der Reue und Zerknirschung des Schuldners ab, sondern allein von der Bereitschaft und Fähigkeit des Opfers, Vergebung zu gewähren. Dass dieses nicht erzwungen werden kann, sondern sich die Bereitschaft dazu als Geschenk einstellt, sollte betont werden. Vergebung zu gewähren und zu empfangen kann oftmals durch kleine rituelle Elemente unterstützt werden: Die Wahl des Ortes ist von Bedeutung, ein feierlicher Rahmen, Anwesenheit von Zeugen, vorher festgelegte, kurze und klare Formulierungen – durch solche Elemente be91 92 93

Stauss, ebd., 128ff. Stauss, ebd., 136ff. Stauss, ebd., 150ff.

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IV Schuld und Gewissen

kommt der Prozess des Vergebens Gewicht und es fällt den Beteiligten leichter, darauf zu vertrauen, dass hier etwas Wesentliches geschehen ist. Pfarrerinnen und Pfarrer mit ihrer reichen Erfahrung aus der Gestaltung von Kasualien sollten diese Erfahrungen nutzen und den Mut haben, auch neue Formen zu entwickeln. 4.4 Beichten Die klassische, liturgische Beichte mit ihrer Vergebungszusage durch Gott bekräftigt die zwischenmenschliche Vergebung. Nach Mt 6,14f ist die zwischenmenschliche Vergebung die Voraussetzung für Gottes Vergebung; letztlich ist es jedoch immer Gott, der vergibt, da Sünde und Schuld gegenüber Menschen zugleich Verfehlungen gegenüber Gott und dem von ihm bestimmten Leben darstellen. Dahinter steht auch die Vorstellung, dass es nur möglich ist, eigene Schuld einzugestehen, wenn man darauf vertrauen darf, dass dieses Schuldeingeständnis nicht das letzte Wort bleibt, sondern dass man auch mit seiner Schuld bei Gott angenommen ist. Nun wird die Beichte selbst in der katholischen Kirche immer seltener in Anspruch genommen; gleichwohl ist sie nicht überflüssig geworden. Aber sie ist, wie es im Neuen Evangelischen Pastorale formuliert wird, »aus der Form gegangen«.94 D.h. die Beichte, die neuerdings stellenweise doch auch wieder verstärkt gefragt und praktiziert wird,95 sollte aus einer seelsorglichen Gesprächssituation erwachsen und in einer dem jeweiligen Gegenüber und seiner Situation angemessenen Weise Gestalt gewinnen. So werden inzwischen meditative Formen der Beichte, die mit kreativen Elementen arbeiten, vorgeschlagen.96 Entscheidend bei der wie auch immer gestalteten liturgischen Form der Beichte ist und bleibt jedoch der Zuspruch der Vergebung von Gott her. Ein Berliner Pfarrer hat erzählt, dass mehrfach Frauen nach einer Abtreibung zu ihm gekommen seien, sie hätten mit Freundinnen und Freunden gesprochen, einige sich auch einer Therapie unterzogen, um ihre Schuldgefühle zu bearbeiten, aber es sei ein Rest geblieben. Sie möchten einen anderen Schlusspunkt setzen, in dem Gott als Herr über Leben und Tod, als letztgültige Instanz angerufen werde. Die Unverbrüchlichkeit des Beichtgeheimnisses sowie die Zusage der Vergebung von Gott her und die damit verbundene Befreiung des Gewissens sind 94

Neues Evangelisches Pastorale, hg. von der Liturgischen Konferenz, Gütersloh 2005, 152. 95 Vgl. Peter Zimmerling, Studienbuch Beichte, Göttingen 2009. 96 Reiner Braun, Impulse zur Erneuerung der Beichte durch meditative Formen, in: Zimmerling 2009, 314–328. In Kleingruppengottesdiensten werden kurze Rituale praktiziert, z.B. die Meditation eines Steins als Symbol für die Schuld, der Stein kann dann abgelegt, weggeworfen oder vergraben werden etc.

4. Seelsorgliche Möglichkeiten: Schuld benennen ...

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die besonderen Möglichkeiten, die Pfarrerinnen und Pfarrern offenstehen. Auch für den genannten Soldaten, der in Afghanistan ein Kind erschossen hat, wird man an eine solche Beichte denken können. 4.5 Mit Schuld leben lernen Viele Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, erfahren keine Vergebung, entweder weil es die äußeren Umstände nicht erlauben, oder weil die verletzte Person nicht dazu bereit ist. Auch existentielle Schuld kann nur begrenzt vergeben werden: Man muss lernen, ihre Unvermeidlichkeit anzunehmen und mit der Schuld zu leben. In diesem Sinn sollten Menschen schuldfähig werden. Schuld zu empfinden und sich mit ihr auseinanderzusetzen ist eine spezifisch menschliche Fähigkeit, Max Frisch hat sie als spezifische Differenz zwischen Mensch und Tier bezeichnet. Mit Schuld leben zu lernen heißt, sich mit dem eigenen Schatten auseinanderzusetzen und mit ihm auszusöhnen.97 Der Schatten repräsentiert nach C.G. Jung die ungeliebten, verachteten, nicht akzeptablen Wünsche, Gedanken und Impulse bei sich selbst, Schwächen und Fehler, aber auch destruktive Impulse, Gier, Neid, Eifersucht, Hass – all das, was man bei sich selbst nicht leiden kann und was schwer mit einem guten Gewissen zu vereinbaren ist. An dieser Stelle kommt die theologische Dimension des Gewissensbegriffs ins Spiel: Ich bin der, der ich bin; ich sehe und spüre schmerzlich die Diskrepanz zwischen meiner Bestimmung als Mensch Gottes und der Realität meines Lebens. Und trotzdem, oder gerade deswegen, darf ich mich in meinem Gewissen, im Kern meiner Identität, als von Gott angenommen und getragen wissen – und deshalb auch in der Lage sein, mit der Schuld zu leben. Auch so kann man den Prozess der Vergebung beschreiben, nämlich als Annahme meines Soseins. Albrecht Grözinger, Praktischer Theologe aus Basel, hat einmal geschrieben, Evangelium realisiere sich als Verwandlung mentaler Bilder. Also: Mit welchem Bild von sich selbst geht jemand durchs Leben? Als jemand, der von unvermeidlichen Schulderfahrungen gebeugt und deprimiert ist (und damit den Vorhaltungen von Nietzsche und anderen entspricht) oder als jemand, der zwar Schuld zu tragen hat, aber trotzdem im Licht des Evangeliums aufrechten Gangs und getrost sein Leben führen darf? Zu Letzterem können wir in der Seelsorge beitragen.

97

Vgl. ausführlicher Michael Klessmann, Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 52014, 166ff.

V Abschied und Neubeginn – als Themen in der Rehabilitation98

1. Einleitung Wer in eine Rehabilitationsklinik kommt, hat meistens einen tiefen Lebenseinschnitt hinter sich: Auch unter Ihnen, die Sie heute morgen hierher gekommen sind, sitzen sicherlich einige, die durch Krankheit oder Unfall gezwungen sind, sich neu zu orientieren – in beruflicher wie in privater Hinsicht. Zwar heißt Rehabilitation Wiederherstellung, und doch ist es bei vielen so, dass es nach der Rehabilitationsphase nicht mehr so weitergeht wie früher, sondern dass sich das Leben verändert: Man muss Abschied nehmen vom bisher gewohnten Lebens- und Arbeitsstil, man muss sein Leben, seine Berufstätigkeit neu ausrichten – was, wie die meisten von Ihnen wissen, nicht einfach ist. Drei Beispiele sollen andeuten, um was es geht: Ein junger Mann bleibt nach einem schweren Sportunfall querschnittsgelähmt zurück. In der Reha-Klinik ist er voller Wut und Groll: Obwohl er mit dem Rollstuhl langsam immer besser zurecht kommt und in seiner beruflichen Rehabilitation gute Fortschritte macht, verflucht er wiederholt sein Schicksal, er schreit und weint zwischendurch und denkt immer wieder daran sich umzubringen. Sein Halt sind ein langjähriger Freund, der ihn regelmäßig und verlässlich besucht, und seine Eltern, die ihr Haus behindertengerecht umbauen lassen und ihn selbstverständlich wieder bei sich aufnehmen. Nach seiner Entlassung aus der Reha beginnt er in einem neuen Beruf. Dann geschieht das von ihm zunächst gar nicht für möglich Gehaltene, er lernt eine ungefähr gleichaltrige Frau kennen und lieben, sie ziehen zusammen, sie bekommen ein Kind – und bei allen bleibenden Schwierigkeiten wirkt er jetzt manchmal geradezu glücklich. Abschied und Neubeginn. Bei einem leitenden Ingenieur einer mittelständischen Firma im Alter von 58 Jahren wird Diabetes festgestellt. Er fühlt sich von dieser Diagnose wie vor den Kopf geschlagen. Er hat es immer genossen, auf Grund seiner Position viel reisen zu müssen, es hat ihm große Freude gemacht, fremde Länder kennen zu lernen, Speisen und Getränke fremder Kulturen auszuprobieren: All das geht plötzlich nicht mehr so locker und selbstverständlich. Er muss seine Zuckerwerte regelmäßig kontrollieren, er muss seine Nahrungsaufnahme bewusst regulieren, kann nicht mehr, wie früher, mal hier auf der Straße, mal da auf einem Basar, mal 98

Vortrag im Rahmen der Rehafachtagung am 13.3.2010 in Bad Kissingen.

2. Zur Psychologie von Abschied und Neubeginn

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dort in einem vornehmen Restaurant zu sich nehmen, was ihm gerade verlockend erscheint. Die Veränderung macht ihm heftig zu schaffen. »Früher hatte ich ein freies Leben, jetzt muss ich mich ständig selbst kontrollieren, das macht nur noch den halben Spaß«, sagt er. Abschied und Neubeginn. Eine Frau von Anfang dreißig hat nach einem tragischen Unfall ihren Mann verloren, mit dem sie fünf Jahre verheiratet war und mit dem sie einen Sohn hat. Ihre Trauer ist tief und grenzenlos: Sie erledigt zwar ihre täglichen Aufgaben, aber ohne Schwung, verlangsamt, wie ein lästiges Pflichtprogramm. Wie erstarrt bewegt sie sich im Haus oder im Garten. Das geht schon beinahe zwei Jahre lang so, auch der Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik hat daran auf den ersten Blick wenig geändert. Eines Tages sitzt sie an einem schönen Sonnentag im Garten, da sagt ihr inzwischen 4jähriger Sohn: Mama, guck mal, die Sonne scheint! Sie hat später erzählt, dass dieser Satz ihres Sohnes sie richtig erschüttert und gewissermaßen ins Leben zurück gebracht hat: Sie hatte die Sonne nicht mehr gesehen vor lauter Trauer. Sie war nicht mehr fähig gewesen, auf Menschen zuzugehen, hatte ihren Sohn emotional vernachlässigt und auch sich selbst verkümmern lassen. Der Satz des kleinen Sohnes war für sie wie ein Weckruf gewesen, der sie aus der Erstarrung zurückgeholt und ihr die Kraft gegeben hatte, sich langsam wieder dem Leben zuzuwenden. Abschied und Neubeginn. Rehabilitation bedeutet, wie gesagt, Wiederherstellung, aber eben auch Neuorientierung. Neuorientierung wiederum heißt, von alten Mustern, Gewohnheiten und Vorlieben, von manchen Ideen, Wünschen und Zukunftsplanungen Abschied nehmen zu müssen und Neues zu entwickeln und zu gestalten. Was das im Einzelnen beinhalten kann, möchte ich aus psychologischer und theologischer Sicht beleuchten. 2. Zur Psychologie von Abschied und Neubeginn Abschied – man könnte auch sagen: Trennung oder Verlust – gehört zu den ständigen und notwendigen Erfahrungen eines jeden Lebens, von Beginn an. Mit der Geburt verabschiedet sich ein Säugling aus der Geborgenheit des Mutterleibes (wir sprechen nicht zufällig von »Entbindung«). Jeder weitere Entwicklungsschritt bedeutet, Altes hinter sich zu lassen, sich mit Fremdem vertraut zu machen und Neues zu wagen: Der erste Tag in der Kinderkrippe oder im Kindergarten heißt, sich wenigstens für Stunden vom Rockzipfel der Mutter oder des Vaters zu verabschieden und mit Gleichaltrigen neue Erfahrungen zu machen. Der erste Schultag beendet das bisherige völlig freie Spielen und bringt

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V Abschied und Neubeginn – als Themen in der Rehabilitation

systematisch Elemente von Beurteilung und Leistungsbewertung in das kindliche Leben. Zum ersten Mal nicht mehr mit den Eltern, sondern mit Freunden in Urlaub fahren, mit der ersten Liebe verliert die Familie für Jugendliche plötzlich ihre bis dahin herausragende Bedeutung, Ausbildungsbeginn, Partnerschaft, eigene Kinder, runde Geburtstage, die einem vor Augen führen, dass man nicht mehr zu den Jungen gehört, Abschied von ungebrochener Gesundheit, der Tod der Eltern, Abschied von der eigenen Wohnung beim Übergang ins Seniorenheim usw. usw. Wer sich nicht verabschiedet, bleibt in der Entwicklung gewissermaßen stecken, kommt nicht voran. Abschied, sich Lösen von der Familie, von der Vergangenheit – so schmerzlich das jeweils sein mag – ist die Voraussetzung für eigenständige Entwicklung. Individuation nennen es die Psychologen: Individuation gelingt nur um den Preis der Trennung und des Abschieds. Wenn man aus Angst vor dem Neuen versucht, Abschiede zu vermeiden und zu verleugnen, bleibt man in der Vergangenheit gefangen, man erstarrt innerlich – und es sind meistens Außenstehende, denen es auffällt, dass da jemand nicht wirklich in der Gegenwart und offen für Neues lebt. Es gibt gleitende Abschiede – man merkt die kleinen, schrittweisen Veränderungen, z.B. im Prozess des Älterwerdens, kaum – und solche, die plötzliche und tiefe, beinahe traumatische, gewaltsame Einschnitte darstellen. Es gibt notwendige Abschiede, z.B. sich aus dem Elternhaus zu lösen. Loriot hat witzig dargestellt, wie unselbstständig ein Mann bleibt, der noch im Erwachsenenalter von seiner Mutter versorgt wird. Er hängt sein Leben lang fest in der Rolle des Sohnes, des mehr oder weniger hilflosen großen Jungen. Es gibt freiwillige Abschiede, beispielsweise wenn jemand für eine Ausbildung oder ein Studium in eine andere Stadt wechselt oder ins Ausland geht. Und erzwungene Abschiede: Der betriebsbedingte Verlust des Arbeitsplatzes gehört dazu, vor allem aber natürlich Krankheit oder Unfall, die u.U. das bisherige Leben auf den Kopf stellen und einem keine Wahl lassen, als sich irgendwie mit der veränderten Situation abzufinden. Solche erzwungenen Abschiede sind sicherlich die schwersten. Es gibt die voraussehbaren Abschiede, die man an den Lebensaltern festmachen kann: Schulbeginn, Schulende, Berufsbeginn, Berufsende, die Übergänge vom Jugendlichen zum Erwachsenen, vom Single zum Paar usw. Jeder weiß, dass solche Einschnitte auf ihn/sie zukommen und kann sich darauf einstellen. Und es gibt die nicht vorhersehbaren Abschiede, die einen überfallen und zu etwas zwingen, was man nie und nimmer gewollt hätte. Auf voraussehbare Abschiede kann man sich vorbereiten: Man kann Bilanz ziehen: Was haben die Schule oder der Beruf mir gebracht, was ist gelungen, was war bereichernd, und was ist miss-

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lungen? Und wo stehe ich jetzt? Wie soll es weiter gehen? Und es gibt Rituale, um den Übergang von der einen Lebensphase in die andere feierlich zu begehen: Die Konfirmation stand früher am Übergang von der Schulzeit zur Ausbildung, die Hochzeit am Übergang vom Single zum Paar. Auf die nicht vorhersehbaren Abschiede kann man sich nicht vorbereiten. Da kommt etwas über einen, blitzartig ist man mit einer neuen Situation konfrontiert, wie soll man noch Bilanz ziehen, wie soll man sich noch von dem Vorhergehenden verabschieden? Es gibt die dankbaren Abschiede – da blickt jemand voller Dankbarkeit auf ein erfülltes Berufsleben zurück – und die verbitterten Abschiede: Die Beziehung ist im heftigen Streit auseinander gegangen, die Gesundheit ist dahin oder man hat den Arbeitsplatz verloren: Wut und ohnmächtiger Hass erfüllen häufig die Betroffenen. Es gibt hoffnungsvolle Abschiede: Mit der Ausbildung etwa beginnt eine neue Lebensphase, da verabschiedet man sich relativ leicht vom Elternhaus, weil man hoffnungsvoll nach vorne schaut. Daneben stehen (anscheinend) aussichtslose Abschiede: Ein Unfall, eine chronische Krankheit: Der Betroffene kann nicht erkennen, was daraus noch Gutes oder Angenehmes erwachsen könnte, es bleibt bloß Bitterkeit, Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Schließlich gibt es die konsequenten Abschiede – da verabschiedet sich jemand tatsächlich und ernsthaft vom Alkohol, vom Rauchen, von einer Partnerin – und es gibt die halbherzigen Abschiede, die im Grunde keine Abschiede sind, weil sich der Betroffene immer noch ein Hintertürchen offen hält, »wenn und aber« vorschiebt und sich innerlich nicht wirklich löst. Solche halbherzigen Abschiede stellen ein ernsthaftes Hindernis für einen Neubeginn dar: Partnerschaften, von denen der eine Teil noch mit halbem Herzen an der alten Beziehung hängt, haben keine guten Chancen. Abschied heißt: Die Betroffenen müssen die Veränderung, die da passiert, wirklich wahrnehmen und in sich aufnehmen, sie müssen sie annehmen: Der junge Mann, von dem ich im Anfang erzählt habe, muss realisieren, dass er nicht mehr wie früher Sport treiben kann – aber er kann, wenn auch mühsam, andere Sportmöglichkeiten für sich entwickeln; der Diabetiker muss lernen, dass er nicht mehr alles essen sollte – aber auch eine Ernährungsumstellung kann reizvoll sein; die junge Frau muss akzeptieren, dass ihr Mann nicht mehr bei ihr ist – aber sie kann lernen, dass sie trotzdem und auf neue Art und Weise liebenswert ist. Erst einmal steht in jedem dieser Fälle der Verlust, die Trennung, der Abschied im Vordergrund. Abschied ist meistens mit intensiven Gefühlen verbunden: Trauer, Angst, Wut, Schuldgefühle auf der einen Seite, aber möglicherweise auch Erleichterung, Neugier und Hoffnung auf der anderen. Wer nach

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V Abschied und Neubeginn – als Themen in der Rehabilitation

Jahren einen Partner, eine Partnerin verloren hat, ist unendlich traurig, aber manchmal auch wütend darüber, so verlassen worden zu sein – und zwischendurch vielleicht auch mal erleichtert, dass eine lange Leidenszeit nun endlich ein Ende hat und sich vielleicht wieder ein leichteres Leben abzeichnet. Solche Gefühlsambivalenzen – also das beinahe gleichzeitige Empfinden zweier gegensätzlicher Gefühle – sind manchmal schwer zu ertragen, aber sie gehören dazu. Wenn ich im folgenden Abschnitt viel vom Bewältigen des Abschieds spreche, dann ist damit gerade nicht gemeint, dass man sich an solchen intensiven Gefühlen vorbei mogeln könnte oder sollte, sondern dass man es schaffen muss, mitten durch sie hindurch zu gehen – so schmerzhaft das auch ist. Wenn es jemandem gelingt, diese schmerzhaften Gefühle wirklich zu durchleben, sie durchzuarbeiten, sind die Chancen gut, dass er/sie am Ende aus diesem Prozess verändert und auch irgendwie erneuert herauskommt. Man könnte auch sagen: Ein solches Durcharbeiten der Schmerzen bedeutet, dass man nicht nur passives Opfer der Veränderung bleibt, sondern daran geht, sie auch aktiv zu gestalten. Schuldgefühle stellen sich bei Abschieden häufig ein: Jetzt erst, wenn ein Lebensabschnitt zu Ende geht, fällt einem auf, was man vielleicht hätte anders oder besser machen können, wo man anderen gegenüber liebevoller hätte sein können, wo man sich mehr hätte engagieren müssen, was man versäumt hat. Abschied bedeutet häufig eine Zeit der Rechenschaft: Man blickt zurück und erkennt, was war. Jetzt ist nichts mehr zu ändern, jetzt kann man sich entweder freuen, über das was war, oder betrauern, was man versäumt hat oder was schwierig und belastend war. Grundsätzlich gilt: Starke Gefühle im Zusammenhang mit Abschied dürfen und müssen sein: Zu weinen, zu klagen, vor Wut zu schäumen, von Schuldgefühlen umgetrieben zu sein, aber auch erleichtert und hoffnungsvoll zu lachen – all das ist Bestandteil des Abschied Nehmens, der Trennung. Abschied nehmen heißt ja, ich muss mich lösen, mich losreißen von jemand, der mir wichtig war, aber vielleicht auch von körperlicher Unversehrtheit, von vertrauter Berufstätigkeit, von lieb gewordenen Beschäftigungen oder Dingen. Solches Losreißen ist schmerzlich, es ist, als ob da eine Wunde aufreißt, da kann und darf es schon zu starken Gefühlen, zu Weinen und Schreien, kommen. Angehörige und Freunde sollten einem nicht einreden, dass man sich doch zusammennehmen möge. Im Gegenteil: Diejenigen Menschen, die ihre Gefühle immer unter Kontrolle haben, und dann von Außenstehenden als »tapfer« bezeichnet werden, sind erfahrungsgemäß gefährdet: Wer meint, den Deckel auf dem Topf seiner Gefühle ständig geschlossen halten zu müssen (bzw. wer aus Angst nicht anders kann!), riskiert, dass der untergründige Druck die eigene Lebendigkeit einschränkt. Man spricht dann auch von verschleppter oder verdrängter Trauer und die kann Lebendigkeit blockieren und bremsen. Depressionen oder depres-

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sive Stimmungen, unter denen so viele Menschen leiden, können auch mit unterdrückter Trauer, mit vermiedenen Abschieden zu tun haben. Der Mensch oder der Lebensentwurf, von dem man sich nie richtig verabschiedet hat, legt sich dann wie ein Nebel über alle Versuche eines Neuanfangs. Es gibt Verleugnungs- oder Vermeidungsmechanismen im Blick auf die Notwendigkeit des Abschieds: Zu den individuellen Vermeidungsmechanismen gehört: Jemand will den notwendigen Abschied nicht wahrhaben, er bringt es mit seinem Selbstbild als tüchtiger und leistungsstarker Mensch nicht zusammen, dass er bestimmte Dinge nicht mehr tun kann und hält, wider besseres Wissen, trotzig am vermeintlich Bewährten fest. Solche Vermeidungsmechanismen können aber natürlich auch unbewusster Natur sein: Die Angst, sich auf eine Veränderung einzulassen, ist unbewusst so groß, dass jemand nicht anders kann, als am Vergangenen festzuhalten. Für das Umfeld bleibt dann nur, das auszuhalten, in dem Bewusstsein: Dass jemand sich so verhält, wird seine Gründe haben. Wenn die Angst zurückgeht, z.B. in einer sicheren und Geborgenheit bietenden Beziehung, kann jemand auch leichter loslassen – aber das braucht Zeit. Und es gibt gesellschaftliche Verleugnungs- und Vermeidungsmechanismen: Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, soll heißen: Menschen werden nach dem beurteilt, was sie zu leisten in der Lage sind. Da passt es schlecht, wenn jemand auf Grund einer Krankheit oder Behinderung schwach erscheint, nicht mehr wie gewohnt leistungsfähig ist. Da kriegt einer nicht mehr die gewohnte Anerkennung, Außenstehende reagieren verlegen und peinlich berührt, die Krankheit oder Behinderung, die zurück bleibt, wird zum Tabu-Thema, Bekannte oder Freunde bleiben weg – auch da ist schmerzlicher Abschied und Neuorientierung angesagt. Außerdem: Es gibt die Möglichkeit, sich ständig durch Geschäftigkeit abzulenken, auch durch Konsum, so dass kaum Zeit und Gelegenheit bleibt, sich mit sich selbst und dem was wirklich ansteht, auseinanderzusetzen und zu beschäftigen. Der Mensch oder der Lebensentwurf, von dem man sich verabschiedet, verschwindet mit dem Abschied nicht einfach – das befürchten manche. Der verabschiedete Mensch bekommt einen wichtigen Platz im Gedächtnis – aber eben, im Gedächtnis, so dass im realen Leben Platz entsteht für neue Begegnungen und Erfahrungen. Und der Platz im Gedächtnis bleibt, den kann einem niemand nehmen. Gelingt ein Abschied – Abschied von den Eltern, Abschied vom Beruf, Abschied von uneingeschränkter Gesundheit – dann erreicht jemand vielleicht eine neue Stufe der Reifung, der Selbstwerdung. Wer

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V Abschied und Neubeginn – als Themen in der Rehabilitation

sich mit schweren Belastungen oder traurigen Abschieden auseinander gesetzt hat, hat Lebenserfahrung gewonnen, kennt sich selbst besser, weiß genauer um die eigenen Stärken und Schwachstellen und versteht mehr vom Leben und was es auf sich hat. In der Zeit eines Abschieds können Verwandte und Freunde hilfreich sein: Aber nicht, um die Betroffenen abzulenken und ihre Schmerzen zu verharmlosen. Das geschieht leider viel zu oft: Die Außenstehenden fühlen sich selber hilflos und lenken dann von ihrer Hilflosigkeit ab, indem sie banale Sprüche machen wie »das wird schon wieder«, »Kopf hoch«, »die Zeit heilt alle Wunden« etc. Vielleicht prüfen Sie mal für sich, ob Sie gelegentlich auch zu solchen Sprüchen greifen. Wie gesagt, meistens spiegeln solche Redensarten nur die eigene Hilflosigkeit. Freunde und Verwandte können den Betroffenen Rückhalt geben, indem sie da sind und zuhören – statt selber zu reden. Wer Traurigkeit, Wut und Schmerzen erlebt, braucht jemanden, der einem beisteht, der den Rücken stärkt. Im Amerikanischen gibt es den Ausdruck, wenn jemand von starken Gefühlen überwältigt wird: He or she is falling apart. Jemand fällt auseinander. Da ist es hilfreich, wenn jemand da ist, der einen festhält, der einen vor diesem buchstäblichen Auseinanderfallen schützt. Die Psychotherapeutin Verena Kast hat die Wendung »abschiedlich leben« geprägt. Sie meint damit: Wir täten gut daran, uns auf die unvermeidlichen kleineren und größeren Abschiede im Leben und auf den einen großen und letzten Abschied vom Leben einzustellen, mit ihnen zu rechnen und sie da, wo wir sie erleben, bei uns selbst oder bei nahestehenden Menschen, intensiv und angemessen zu bedenken und zu betrauern. Sie schreibt: »Wir nehmen nicht nur von Lebensabschnitten Abschied, von Elternfiguren, von Aspekten unserer Persönlichkeit; wir nehmen auch Abschied von Ich-Idealen und Lebensentwürfen … Der Tod ragt immer ins Leben hinein. Ständig verlieren wir etwas, müssen wir loslassen, verzichten, uns voneinander trennen, etwas aufgeben. Immer wieder ist das Leben verändert, müssen wir Vertrautes verlassen, uns den Veränderungen stellen. Aber wir verlieren nicht nur, wir gewinnen auch …«99 Das klingt anstrengend und mühsam – aber es ist doch so: Dass wir immer wieder vor der Notwendigkeit stehen uns zu verabschieden. Wer damit rechnet, praktiziert eine Haltung der Abschiedlichkeit, der lebt »abschiedlich«, wie V. Kast es nennt, der bezieht das Abschiednehmen gewissermaßen in sein Leben ein. Mir ist die Bedeutung dessen, was mit »abschiedlich leben« gemeint sein kann, aufgegangen, als meine Kinder jung waren und immer wieder kleine Haustiere (Hamster, Mäuse, Vögel) hatten, die dann 99

Verena Kast, Trauern, Stuttgart 1982, 152f.

3. Ressourcen, um Abschied und Neubeginn zu bewältigen

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natürlich auch irgendwann starben. Wir Eltern haben nicht versucht, die Kinder in ihrer Trauer abzulenken, wenn so ein Tier gestorben war, sondern wir haben jedes Mal ein kleines Begräbnis im Garten veranstaltet, die Kinder haben ein Kreuz gebastelt und etwas darauf geschrieben usw. Ich denke, sie haben auf diese Weise gelernt: Abschiednehmen gehört zum Leben, ist Bestandteil des Lebens. Es ist zunächst eine traurige Angelegenheit – aber dann öffnen sich auch wieder neue Perspektiven. Um daraus nicht ein neues Ideal und einen neuen Leistungsdruck werden zu lassen, muss man hinzufügen, dass es natürlich nicht immer gelingt, abschiedlich zu leben und loszulassen, wovon man sich verabschieden sollte und müsste. Auch das gelingt uns immer nur bruchstückhaft – weil wir so sind, wie wir sind! 3. Ressourcen, um Abschied und Neubeginn zu bewältigen (coping und Resilienz) Was hilft Menschen, schmerzhafte Abschiede durchzustehen und sich neu zu orientieren? Wodurch bekommen sie die nötige Stabilität, um sich von Vertrautem zu lösen und neue Lebensmöglichkeiten in den Blick zu nehmen? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die sogenannte coping-Forschung (to cope heißt bewältigen) und die Resilienzforschung (Resilienz meint die Widerstandskräfte eines Menschen): Die coping-Forschung fragt nach den Ressourcen, nach den Stärken, nach den Potentialen, die Menschen zur Lebensbewältigung mitbringen oder auch später noch erwerben können. Man unterscheidet dabei zwischen personalen und sozialen Ressourcen. Zu den personalen bzw. individuellen Ressourcen zählen vor allem biographische Vorerfahrungen: Wer das Glück gehabt hat, in einer sicheren Bindung an seine Eltern und Freunde aufzuwachsen, bringt bessere Fähigkeiten zur Krisenbewältigung mit als jemand, der von früh an in unsicheren und schwierigen Umständen groß geworden ist. Eine sichere Bindung, so sagt es die Bindungsforschung, bildet sich ab in so etwas wie innerer Stabilität und gutem Selbstvertrauen, während starke Belastungen und Verletzungen in Kindheit und Jugend die Bewältigung späterer Krisen und Abschiede erschweren. Aber man ist mit solchen frühen Belastungen nicht ein für alle Mal fest gelegt. Erfreuliche Lebenserfahrungen und gelingende Beziehungen in späteren Jahren bilden auch Ressourcen, die einem helfen, schwere Abschiede besser durchzustehen. Zu den individuellen Ressourcen zählen weiterhin die Wahrnehmungs- und Denkmuster, die Bewertungsmaßstäbe, die wir im Lauf unserer Biografie gelernt und von Eltern und Lehrern übernommen

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V Abschied und Neubeginn – als Themen in der Rehabilitation

haben. Ein Modell, das ich Ihnen in diesem Zusammenhang vorstellen möchte, unterscheidet vier Bewertungsformen:100 Wenn wir mit einer krisenhaften Situation konfrontiert sind, besteht die erste und spontane Reaktion für die allermeisten darin, am Alten und Bewährten festzuhalten. Ein bestimmter Lebensstil und die Denkformen, die wir uns einmal angeeignet haben, haben sich doch bewährt, da geht man selbstverständlich erst einmal davon aus, dass sie auch in einer veränderten Situation tauglich sein werden. Der Diabetiker, von dem ich anfangs erzählte, denkt natürlich erst einmal, dass er nur ein wenig seine Ernährung umstellen muss, vielleicht weniger Kuchen essen, öfter mal den Wein weglassen – aber grundsätzlich wird es doch in etwa so weitergehen wie bisher. Erst wenn sich im Lauf der Zeit herausstellt, dass die alten Gewohnheiten und Strategien wirklich nicht mehr zur veränderten Situation passen, öffnen wir uns langsam für eine Neubewertung (2. Schritt): Allmählich gesteht sich der/die Betroffene die bleibende Einschränkung oder Behinderung ein, redet nicht länger um den heißen Brei herum, spielt nicht mehr Verstecken mit sich selbst und anderen Außenstehenden: »Ich habe Diabetes und muss mich entsprechend darauf einstellen«. Aus der Neubewertung der Situation kann als drittes eine Neukonstruktion des eigenen Selbstbildes und dessen, wie man leben kann und möchte, erwachsen: Wenn es so ist, dass ich diese Krankheit oder Behinderung habe, welche Folgen hat das für mich? Wie sehe ich mich selbst? Schäme ich mich für ein vermeintliches Versagen oder bin ich in der Lage, auch mit dieser Einschränkung wieder Selbstvertrauen zu fassen und das Leben neu anzugehen und zu gestalten? Daraus wiederum kann viertens eine entsprechende Veränderung des Lebens- und Arbeitsstils entstehen, ganz konkrete einzelne Schritte, um ein in mancher Hinsicht verändertes Leben führen zu können. Mit sozialen Ressourcen sind Familie, Freunde, Klima am Arbeitsplatz, kurz, die Netzwerke gemeint, in denen jemand lebt. Es macht natürlich einen großen Unterschied, ob jemand bei einer schweren Erkrankung über einen Freundeskreis verfügt, der sich kümmert und Anteil nimmt, oder ob jemand eine solche Krise weitgehend allein und isoliert durchstehen muss. Außenstehende können einem kranken oder behinderten Menschen nicht nur aktuell den Rücken stärken, sondern ihm auch Würde und Ansehen (zurück-)geben: Du bist mit deinen Einschränkungen ein liebenswerter und Respekt verdienender Mensch. Damit erscheinen auch personale Ressourcen nicht als rein individuelle Angelegenheiten, sondern als eingebettet in ein Wechselspiel mit anderen.

100

Kenneth Pargament, The Psychology of Religion and Coping, New York / London 1997, 110ff.

4. Biblische Perspektiven

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Das Konzept der Resilienz bezieht sich auf ähnliche Vorgänge wie das coping.101 Das Konzept hat sich entwickelt angesichts der vielfachen Beobachtung, dass manche einen Schicksalsschlag, einen großen Abschied erstaunlich gut bewältigen, während andere nicht damit zurechtkommen und zerbrechen. Woran liegt es, dass die einen offenbar über Widerstandskräfte verfügen, die andere nicht haben? Das ist die Frage der Resilienzforschung. Sie versucht also im Nachhinein zu verstehen, was passiert, wenn Menschen sich mit einer Krise auseinandersetzen und einen Abschied bewältigen müssen, und daraus Einsichten für die Prävention abzuleiten. Die Erfahrung lehrt, dass es so etwas wie Widerstandskräfte gibt, Schutzfaktoren, innere und äußere Stärken und soziale Ressourcen, die es Menschen ermöglichen »zu gedeihen trotz widriger Umstände« – wie es der Titel eines Buches zum Thema formuliert. Gedeihen trotz widriger Umstände: Man weiß es nicht im Voraus, ob einem das möglich ist oder nicht. Man weiß nicht im Voraus, wie hoch die Toleranzgrenze für das Ertragen von Schmerzen, Leiden und Abschieden ist. Man kann nur im Nachhinein sagen: Ich habe diesen Abschied bewältigt – und wahrscheinlich hat das Selbstvertrauen, das ich aus der Beziehung zu meinen Eltern oder meinem Partner gewonnen habe, dazu beigetragen, dass ich es so relativ gut durchstehen konnte; wahrscheinlich haben gute Freundesbeziehungen das ihre dazu getan, die Last besser zu tragen usw. Zu den Faktoren, die Menschen helfen, einen schweren Abschied, Leid und Schmerzen durchzustehen und zu bewältigen, gehört auch die religiöse bzw. spirituelle Orientierung, der Glaube, die Weltanschauung. Darauf haben in neuerer Zeit zahlreiche Forschungen zum Zusammenhang von Religiosität und Gesundheit hingewiesen.102 4. Biblische Perspektiven In den Zeiten der Bibel, im alten wie im neuen Testament, spielen Erfahrungen von Abschied und Neubeginn eine wichtige Rolle, immer wieder taucht das Thema auf. Ich erinnere Sie an bekannte Zusammenhänge; dabei werden noch ein paar neue Aspekte unseres Themas deutlich:103 101

Rosemarie Welter-Enderlin / Bruno Hildenbrand (Hg.), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Heidelberg 2006, 13. 102 Als Einführung in dieses Thema vgl. Michael Klessmann, Heilsamer Glaube?! Über den Zusammenhang von Religiosität, Seelsorge und Heilung, in: Berliner Theologische Zeitschrift, Beiheft 2007, 130–148. 103 Auf weitere Texte verweist das Buch von Heribert Arens und Martino Machowiak, Sei allem Abschied voran. Gedanken zu Abschied und Neubeginn, Kevelaer 2004.

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V Abschied und Neubeginn – als Themen in der Rehabilitation

Am Anfang der Bibel wird von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies erzählt. Adam und Eva müssen das Paradies verlassen, weil sie sein wollten wie Gott. Für sie ist es ein erzwungener Abschied, der in der Bibel als Strafe für ihren Ungehorsam gedeutet wird. So erleben es ja viele Menschen: Abschied als Strafe, als Sanktion für etwas, das sie nicht hätten tun sollen. Zugleich jedoch – und das ist ein wichtiger Aspekt der Geschichte – bildet dieser Abschied die Voraussetzung dafür, dass die Menschen selbstständig werden und ihr Leben selbstverantwortlich in die Hand nehmen. Erst seit sie sich aus der sorglosen Geborgenheit des Paradieses verabschiedet haben, können sie sich als endliche, begrenzte Wesen wahrnehmen und ihr Leben selber gestalten, wenn auch unter Schmerzen. Eine andere Art von Abschied und Aufbruch wird von Abraham (Gen 12) berichtet: Auf einen Befehl Gottes hin bricht er auf zu einem ihm unbekannten Ziel. Auch wenn es für einen Nomaden normal war, Weidegründe zu verlassen und weiterzuziehen, wird Abraham in der Bibel doch so dargestellt, dass er diesen Aufbruch bewältigen konnte, weil er sich von einem tiefen Vertrauen zu Gott getragen wusste. Deshalb ist Jahrhunderte später Abraham für die Christen zum Urbild des Glaubens erklärt worden: Sich verabschieden, sich lösen, Neues wagen wie Abraham im Vertrauen auf einen Gott, der einen bei einem solchen Abschied nicht allein lässt – ein schönes Bild, an dem wir uns orientieren können, auch wenn es den meisten wahrscheinlich schwer fällt, so zu vertrauen wie es von Abraham erzählt wird. Wieder eine andere Art von Abschied wird in den Geschichten vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten erzählt: Aufbruch und Abschied aus der Sklaverei bedeutet Kampf gegen den Widerstand des Pharao, der das Volk nicht ziehen lassen will. Der Aufbruch setzt also ein erhebliches Aggressionspotential voraus und zielt auf Befreiung aus unerträglichen Verhältnissen. Ein solcher Abschied ist nicht nur traurig, sondern auch mit Freude, Erleichterung und hohen positiven Erwartungen auf den Neuanfang verbunden – und, noch mal, mit einer großen Portion Aggression. Allerdings hat der Exodus der Israeliten aus Ägypten auch eine interessante Kehrseite: Als sich nämlich der Weg ins versprochene neue und gute Land als lang und mühsam erweist, sich das Neue eben nicht schnell und einfach einstellt, wird die unerträgliche Situation in Ägypten plötzlich von den Wüstenwanderern mit dem Stichwort »Fleischtöpfe Ägyptens« nachträglich positiv umgedeutet (Ex 16,3). Da wird die Vergangenheit idealisiert, innerlich kehren die Betroffenen zurück in die alte Situation. Die Geschichte zeigt, wie schwer sich Menschen trennen, selbst aus kaum erträglichen Situationen. Man weiß, was man hatte, so problematisch es auch war – während die Zukunft ungewiss erscheint und es ja sein könnte, dass sie sogar schlimmer wird als die gegenwärtige

4. Biblische Perspektiven

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Unerträglichkeit. Mit einer solchen Idealisierung der Vergangenheit wird wirkliche Trauer vermieden. Vom ständigen Aufbruch als Lebensform kann man bei dem Wanderprediger Jesus von Nazareth sprechen: Ihm nachzufolgen heißt nichts anderes, als sich von bisherigen Lebensformen und etablierten Lebensstilen zu verabschieden und mit ungewissem Ziel und im Vertrauen auf Gott aufzubrechen. Jesus bildet die Nachfolge in seinem Lebensstil buchstäblich ab: er ist mit seinen Jüngern ständig unterwegs, hat keinen festen Wohnsitz, keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegt (Mt 8,20). Wer in seine Nachfolge tritt, muss sich um des nahe bevorstehenden Reiches Gottes willen von Beruf und Familie trennen: »Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder und Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein« (Lk 14,26). Das klingt hart: Abschied wird hier radikal auf Dauer gestellt: Jede Bindung lenkt ab und verschließt vor dem Neuen, das von Gott kommen soll. Bestandteil der Nachfolge ist der Aufruf zur Buße, zur Umkehr, zur Änderung des Denkens und Verhaltens (meta-noia). Man soll sich also nicht nur von Menschen und Lebensformen verabschieden, sondern auch von lieb gewordenen Denkmustern. Man soll sich lösen von den vermeintlichen alltäglichen Sicherheiten und Bindungen und sich ganz auf die Zukunft des Reiches Gottes ausrichten. Von Jesus wird der Satz überliefert: »Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes« (Lk. 9,62) – ein Satz, der eine sinnenfällige Abbildung findet in der Geschichte von Lots Frau, die beim Abschied aus Sodom und Gomorrha zurückblickt und darüber zur Salzsäule erstarrt. Leben in der Nachfolge Jesu wird damit als ständiges Sich-Verabschieden aus den Bindungen des weltlichen Lebens und als immer Neuanfangen im Dienst Jesu, im Dienst des Nächsten dargestellt. Mit solchen Bildern wird ein Ideal gezeichnet, eine Utopie, von der wir alle wissen, dass sie zur Realität der Christen, der Kirche in deutlichem Widerspruch steht. Die meisten, die sich Christinnen und Christen nennen, leben offenkundig nicht so, wie es Jesus fordert; und die Kirche ist seit Jahrhunderten eine große, etablierte Organisation geworden. Umso mehr brauchen wir diesen Widerspruch, den die Bibel formuliert: Immer wieder weist sie eindringlich auf die Brüchigkeit und Ungesichertheit unseres Lebens hin. Wir sind und bleiben bedroht von Krankheit und Tod, von Schmerzen, Scheitern und Vergeblichkeit. Wir müssen uns immer wieder verabschieden von der Illusion, wir hätten das Leben in der Hand; wir müssen uns verabschieden vom Traum immer währender Gesundheit und eines garantierten langen Lebens. Leben und Gesundheit sind für uns nur bruchstückhaft zu haben.

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V Abschied und Neubeginn – als Themen in der Rehabilitation

Die Religionen – nicht nur das Christentum – thematisieren diese Einsicht immer wieder. Sie behaupten, dass die Anerkennung der Endlichkeit und Bruchstückhaftigkeit des Lebens wichtiger Bestandteil einer Lebensweisheit sei: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden« (Ps. 90). Darin ist die Annahme enthalten, dass diejenigen, die diese Begrenztheit des Lebens aus den Augen verlieren, irgendwie dumm sind, dass sie etwas Wesentliches nicht verstanden haben. Der französische Schriftsteller Andre Gide hat einmal gesagt, dass ihm Menschen, die nie krank waren, etwas beschränkt vorkommen, wie solche, »die nie gereist sind«. Vielleicht brauchen wir Erfahrungen von Abschieden und Einschränkungen, um abschiedlich leben zu lernen und in diesem Sinn klug zu werden. Angesichts dieser Brüchigkeit unseres Lebens kann man die Verkündigung Jesu verstehen als Versuch, unsere Lebensorientierung zu hinterfragen: Worauf verlasse ich mich? Auf materiellen Besitz und Konsum? Auf Gesundheit? Auf Leistungsfähigkeit? Was trägt mich, was stabilisiert mich, wenn ich mich von Menschen, von Werten, von Dingen verabschieden muss, die für mich große Bedeutungen hatten und haben? Kann ich mich verabschieden von falschen und flüchtigen Werten und stattdessen auf den vertrauen, der die Quelle des Lebens ist? Oder bleibt mir nur Trauer und Verzweiflung? Wahrscheinlich findet man die Antwort auf diese Fragen nicht ein für alle Mal, sondern muss sich immer neu – im Gespräch mit anderen – vergewissern und um Lebensmut ringen. Außerdem wissen Sie, dass man Vertrauen und Glauben nicht per Willensentscheidung herstellen kann, sie müssen einem geschenkt werden, sie müssen sich einstellen und wachsen. 5. Neues beginnen Wer sich von Altem verabschiedet, beginnt etwas Neues. Das klingt einfach und selbstverständlich. Trotzdem macht es einen großen Unterschied, ob jemand sich zu diesem Schritt gezwungen sieht, weil er keine andere Wahl hatte, oder ob jemand von sich aus den Entschluss fasst: Ich will mein Leben verändern, ich will neue Schritte machen, ich will mein Leben gestalten, ich will andere Ziele in meinem Leben erreichen als bisher. Sie wissen alle, dass solche guten Absichten – wie die am Jahreswechsel versprochenen – nicht viel wert sind, wenn sie nicht wirklich von Herzen kommen, wenn sie nicht aus einem tatsächlichen Leidensdruck erwachsen, und wenn man nicht den ersten konkreten Schritt auf diesem neuen Weg ins Auge fasst. Aus einem langen Katalog von Möglichkeiten will ich auf einige Punkte hinweisen.104 104

Vgl. zum Folgenden Luise Reddemann, Eine Reise von 1.000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt, Freiburg/Basel 2007.

5. Neues beginnen











105

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Am Anfang eines jeden Weges steht: Dinge, die nicht zu ändern sind, als notwendig, und damit vielleicht die Not wendend, annehmen zu lernen. Das ist sicher ein längerer Lernprozess, ein Weg, den man immer wieder gehen muss, aber er ist unumgänglich. Sie kennen vielleicht den Spruch des schwäbischen Pfarrers Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782): »Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden«. Das sagt sich leicht – umso wichtiger ist es, sich immer mal wieder dieser Bitte zu erinnern und sie im Blick auf das eigene Leben zu bedenken. Gelegentlich Bilanz ziehen: Was habe ich in meinem Leben geschafft? Welche Schwierigkeiten habe ich schon einmal durchgestanden und bewältigt? Wo hatte ich Mut und Ausdauer? Welche Stärken und Ressourcen hatte ich da? Also: Sich Gelungenes merken und daraus Kraft für das anstehende Neue schöpfen. Mit sich selbst achtsam umgehen. Das Konzept der Achtsamkeit stammt aus dem Buddhismus und ist von da in viele Psychotherapieformen eingewandert. Es bezeichnet ein sensibles und akzeptierendes Achtgeben auf körperliche Impulse, auf Gefühle und Gedanken. Achtsam mit sich selbst umgehen, bedeutet, mich nicht von mir fremden und irgendwie übergestülpten Anforderungen leiten zu lassen, sondern immer neu herauszufinden, was mir gut tut, was ich wirklich brauche und was ich nicht brauche. Dazu gehört auch: »Tun Sie Dinge, die Ihnen wohl tun, oft, und meiden Sie Dinge, die ihnen nicht wohl tun«.105 Bei welchen Menschen in meinem Umfeld kann ich Unterstützung finden? Bei wem fühle ich mich gut aufgehoben? Wer hört mir wirklich zu bzw. wer speist mich mit Sprüchen und Vertröstungen ab? Wer Unterstützung sucht, muss allerdings auch bereit sein, um Hilfe zu bitten und sich helfen zu lassen. Bin ich dafür offen, Schwächen einzugestehen und mir helfen zu lassen, oder meine ich, alles selbst und allein bewältigen zu müssen? In unserer Gesellschaft erscheint es leicht als Makel, Hilfe in Anspruch zu nehmen, obwohl es eher Ausdruck einer Weisheit ist, die mit den eigenen Grenzen rechnet. Selbsthilfegruppen werden für viele Menschen zu einer Kraftquelle; es ist eine Wohltat und Erleichterung, wenn man erlebt, dass es anderen ähnlich ergeht und wie diese anderen mit ihrem Schicksal zurechtkommen. Vielleicht empfiehlt es sich auch, Seelsorge oder Beratung oder Psychotherapie in Anspruch zu nehmen: In einer Lebenskrise, angesichts eines tiefgehenden Abschieds ist es immer gut, Reddemann, ebd., 53.

90

– –





V Abschied und Neubeginn – als Themen in der Rehabilitation

wenn eine außenstehende Person, die nicht in die gleichen Gefühle verstrickt ist wie ich selbst, sondern einen guten inneren Abstand dazu hat, zum klärenden Gespräch zur Verfügung steht. Gibt es Geschichten, die Sie trösten, Ihnen Kraft geben, so dass es sich lohnt, sie wiederholt zu lesen und zu bedenken? Gibt es Musik, die Sie gerne hören, die Sie beruhigt und entspannt? Es lohnt sich, hilfreiche Rituale zu entwickeln und zu praktizieren: Z.B. regelmäßige Zeiten der Stille für sich selbst zu nehmen, wo man eine Kerze anzündet und die Ruhe findet, das zu bedenken, was einem wichtig ist. Solche kleinen Rituale können dem Alltag eine Form geben, und auf diese Weise entlasten. Es lohnt sich, gute Regelmäßigkeiten zu schaffen. Damit rechnen, dass es Stolpersteine auf dem neuen Weg geben wird, dass natürlich nicht alles so glatt laufen wird, wie man es sich wünscht. Wer solche Stolpersteine von vornherein einkalkuliert, ist von Rückschlägen nicht gleich völlig entmutigt. Um Segen bitten – denn segnen können wir uns nicht selbst. Um Segen zu bitten bedeutet anzuerkennen, dass wir unser Leben nicht selber garantieren und schützen können, sondern dazu des Schutzes und des Wohlwollens eines Größeren bedürfen.

Ich hoffe, dass es uns gelingt, in einer solchen Haltung notwendige Abschiede zu vollziehen und Neuanfänge zu wagen.

VI Seelsorge und Ritual bei Abschied, Sterben, Tod und Trauer106

1. Einleitung Ich beginne mit einer Situationsschilderung, die den Zusammenhang von Seelsorge und Ritual im Umgang mit Abschied, Sterben, Tod und Trauer exemplarisch verdeutlicht. Ein junges Paar, von ihrem ungewöhnlichen Aussehen her der Gothic-Szene zuzuordnen, kommt in eine großstädtische Beratungsstelle: Die Frau ist im 3. Monat schwanger – und beide sind sich unsicher, ob sie das Kind haben wollen oder nicht. Als die Beraterin ihnen finanzielle Unterstützung aus der »Mutter-Kind-Stiftung« zusagen kann, scheint sich die Frau für das Austragen der Schwangerschaft zu entscheiden – aber es bleibt, als sie weggehen, offen. Ca. sechs Monate später alarmiert die Sekretärin der Beratungsstelle die Beraterin, jenes auffällige Pärchen sei wieder da. Die Beraterin kommt kurz ins Wartezimmer, um die beiden zu begrüßen und evtl. einen Termin auszumachen, und sieht sofort, dass etwas Schlimmes passiert ist. Sie verlegt einen anderen Termin und bittet die beiden in ihr Büro. Die junge Frau legt ein kleines Bild von einem Neugeborenen auf den Tisch und sagt tonlos »Es ist tot«. Durch wiederholtes Nachfragen erfährt die Beraterin, dass sich die beiden entschieden hatten, das Kind haben zu wollen, die Schwangerschaft war auch gut gegangen – plötzlich, ein paar Tage vor dem errechneten Geburtstermin, wurde bei eine ärztlichen Untersuchung festgestellt, dass das Kind tot war, eine Totgeburt wurde eingeleitet. Die Beraterin ist geschockt und zutiefst angerührt vom Leid dieses nach außen eher schrill aussehenden Paares. Aber sie fühlt sich auch von der Situation überfordert: Sie sagt ein paar anteilnehmende Worte, wie traurig es für das Paar sein muss, schaut das Foto an, sagt zu, dass die beiden das schon erhaltene Stiftungsgeld nicht zurückzahlen müssen und entlässt sie dann mit dem unguten Gefühl, ihnen nicht wirklich gerecht geworden zu sein. Was ist hier passiert? Ich hebe ein paar Aspekte hervor: – Die Beraterin ist persönlich von dieser Situation überfordert; das ist verständlich, denn es handelt sich um eine extreme und völlig un106

Vortrag auf einem Wochenendseminar »Mitten im Tod das Leben« im geistlichen Zentrum Schwanberg am 18.2.2006.

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VI Seelsorge und Ritual bei Abschied, Sterben, Tod und Trauer

erwartete Krisensituation, auf die eine Schwangerschaftskonfliktberaterin in der Regel nicht vorbereitet ist. Die traditionellen Methoden von Seelsorge und Beratung kommen hier an ihre Grenzen. Die Krise des so plötzlichen Todes ihres Kindes verschlägt dem Paar und der Beraterin die Sprache: Was gibt es angesichts dieser furchtbaren Realität noch zu reden? Könnte die Beraterin noch irgendetwas »Tröstliches« sagen, ohne dass es hohl und leer klingt? Außerdem sind die beiden offenbar nicht gewöhnt, viel zu sprechen. Es besteht also auch kaum die Möglichkeit, dass sie ihre eigene Trauer und Verzweiflung in Worte fassen können. Es gibt allem Anschein nach keine Familie, keinen Freundeskreis, der in dieser schweren Situation erreichbar wäre und hilfreich sein könnte. Die beiden haben isoliert gelebt, in einer schrägen, aber für sie offenbar stimmigen und notwendigen Welt, einsam zu zweit, ausgeschlossen aus jeder Sozialität, hochgradig individualisiert. Und schließlich versagen hier auch die traditionellen christlichen Rituale: Ein Gebet sprechen? Ziemlich undenkbar. Eine kirchliche Bestattung, wenn sie denn die beiden überhaupt wollten, fände erst in ein paar Tagen statt. Entscheidend ist die Frage: Was ist jetzt möglich und nötig? Was könnte für das Paar jetzt hilfreich und entlastend sein? Sie sind doch wohl in die Beratungsstelle gekommen, weil sie irgendetwas erwarten. Aber was ist möglich und sinnvoll?

In der Fortbildung probieren wir Verschiedenes im Rollenspiel aus – und dabei stehen Ansätze von kleinen rituellen Handlungen im Vordergrund: Die Beraterin hätte als Erstes eine Kerze anzünden können – vielleicht verbunden mit einfachen Worten wie »zum Gedenken an Ihr Kind zünde ich diese Kerze an«. Sie hätte das Bild stehend an die Kerze lehnen können, so dass das Kind eine andere Präsenz im Raum bekommt und zu einem Gegenüber wird; sie hätte die beiden fragen können, ob sie schon einen Namen für das Kind ausgesucht hatten – dadurch wird das Kind als konkrete Person gegenwärtig, von dem sich die Eltern dann auch verabschieden könnten. Denn das wäre ein nächster wichtiger Schritt: Zu fragen, ob sie sich von ihrem Kind verabschieden möchten (die Beraterin müsste dabei sicherlich aktive Hilfestellung leisten): Die beiden hätten ein paar Sätze zum Abschied an ihr Kind richten können und auf diese Weise ihren Verlust benennen können. Zum Schluss hätte sie die junge Frau in den Arm nehmen oder wenigstens am Arm berühren, mit ihnen mit Blick auf das Bild am Tisch stehen und etwas sagen können wie »Lassen Sie uns Ihres Kindes gedenken und es dem Schutz Gottes befehlen.« Wie gesagt, wir haben solche möglichen Schritte in der Fortbildung im Rollenspiel ausprobiert – alle Beteiligten waren beeindruckt, dass

2. Trauer und die Aufgaben der Trauerbewältigung

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sich auf diese Weise ganz andere Möglichkeiten auftun, eine unabgeschlossene Situation zu beenden, eine, wie es die Gestalttherapie sagen würde, offene Gestalt zu schließen, als das sonst mit den traditionellen Mitteln der Seelsorge oder Beratung möglich wäre. Denn das ist wohl in vielen Abschiedssituationen das entscheidende Problem: Eine Situation, eine Beziehung bleibt unabgeschlossen, bricht ab – und wird gerade durch diese Offenheit so besonders belastend. In einer so belasteten Situation lässt sich mit Worten nicht viel ausrichten; Worte klingen da eher abgedroschen oder hohl, verbale Trauerbewältigung stößt an ihre Grenzen. Kleine ritualähnliche Handlungselemente dagegen, eingebettet in einen seelsorglichen Gesprächszusammenhang, das deutet meine Eingangsgeschichte an, können einen wichtigen Beitrag leisten, um solche unabgeschlossenen Situationen abzuschließen. Ehe ich darauf konkreter eingehe, will ich einige grundsätzliche Bemerkungen zum Verständnis von Trauer sowie zu den Aufgaben der Trauerbewältigung und zur Bedeutung von Ritualen voranstellen. 2. Trauer und die Aufgaben der Trauerbewältigung Trauer, so hat es schon Sigmund Freud formuliert, ist »regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person« oder auch eines Tieres oder eines Gegenstandes. Trauer dient der Bewältigung des Verlustes, insofern ist sie ein völlig normales Geschehen, ein grundlegender Lebensprozess, der allerdings, wie der Freud’sche Terminus Trauerarbeit anzeigt, Arbeit macht, Anstrengung verursacht – ohne diese Anstrengung geht es nicht. Wer der emotionalen Belastung aus dem Weg zu gehen sucht, begibt sich einer Chance zur persönlichen Reifung. Denn, das zeigt die Entwicklungspsychologie sehr deutlich, Personwerdung überhaupt ist unumgänglich mit Loslösungsprozessen verbunden. Identitätsfindung gibt es nur um den Preis der Trennung aus der Ursprungseinheit mit der Mutter – und damit auch nur um den Preis der Trauer! »Lebendig zu werden, zur Autonomie des eigenen Selbst zu finden und als Person weiter zu wachsen, ist immer an den Grundvorgang von Trennung und Loslösung gebunden. Wer diese Separation vermeidet und die sie begleitenden Emotionen wie Trauer, Zorn und Angst, fällt allzu schnell in einen depressiven Stillstand.«107 Die Psychotherapeutin Verena Kast hat deswegen schon vor vielen Jahren die These aufgestellt, es sei hilfreich und notwendig, »abschiedlich« leben zu lernen, d.h. die kleinen und großen Abschiede des täglichen Lebens (der erste Gang zum Kindergarten, zur Schule, der Tod eines Tieres, das Sterben der Großeltern, der Auszug aus dem Elternhaus, die erste Trennung von einem 107

Dieter Funke, Im Glauben erwachsen werden, München 1986, 72.

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VI Seelsorge und Ritual bei Abschied, Sterben, Tod und Trauer

Freund, einer Freundin etc.) bewusst wahrzunehmen und auszuleben – statt sie zu übergehen und zu vermeiden, wie viele das tun.108 Wie kann es gelingen, den großen Abschied des Todes eines nahe stehenden Menschen zu durchleben und zu bewältigen? Neuere Trauerforschung spricht von den Aufgaben, die ein trauernder Mensch bewältigen muss; wie und wann er/sie das tut, ist zweitrangig, die traditionelle Phaseneinteilung des Trauerprozesses scheint da eher hinderlich zu sein; die Hauptsache ist, dass diese Aufgaben angegangen und »gelöst« werden:109 – Die Realität des Verlustes anerkennen – Den Schmerz der Trauer durcharbeiten – Sich in der Wirklichkeit zurechtfinden, in der der/die Verstorbene fehlt. – Den Verstorbenen, die Verstorbene innerlich neu verorten, ihn/sie aus der Realität in die Erinnerung überführen, und sich dem Leben wieder zuwenden. Aus diesen Aufgaben erwächst unmittelbar ein Anforderungsprofil für die Trauerbegleitung: – Den Tod realisieren helfen durch Ansehen und Berühren der toten Person, durch Erzählen des Sterbehergangs, durch eine direkte, nicht verschleiernde Sprache. – Den Verlust validieren, d.h. die Hinterbliebenen anerkennen als Menschen, die einen schweren Verlust erlitten haben. – Trauerreaktionen auslösen helfen etwa durch die Aufforderung, von dem/der Verstorbenen zu erzählen, vor allem auch durch die Frage nach ambivalenten Erfahrungen mit dem verstorbenen Menschen. Nicht gelöste Konflikte mit dem Verstorbenen, Wut, Enttäuschung, Neid sind manchmal sehr starke Hindernisse für offene Trauer und können zu verzögerter und verdrängter Trauer führen. – Die Lebens- und Beziehungsgeschichte von Verstorbenen und Hinterbliebenen rekonstruieren helfen. – Den Abschied gestalten helfen und zur Hinwendung zum Leben ermutigen. Ein wesentlicher Teil des Abschiedsprozesses ist das Ritual der Bestattung; eine sensible Gestaltung, die die Betroffenen und ihre Wünsche einbezieht, hat diesbezüglich einen hohen Stellenwert. – Bewältigungsressourcen und Risikofaktoren evaluieren.

108 109

Verena Kast, Trauern, Stuttgart 1982, 139ff. Kerstin Lammer, Den Tod begreifen, Neukirchen-Vluyn 2003, 213 und 228.

3. Bedeutung und Funktion von Ritualen

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In dieser Aufgabenstellung deutet sich an, dass eine Mischung von Seelsorge und Ritualen in der Trauerbegleitung hilfreich ist. Verbale und verhaltensbezogene Auseinandersetzung mit dem Verlust versprechen eine tiefere und umfassendere Wirkung auszulösen, während der Versuch einer Bewältigung nur durch Sprache oder nur durch Rituale eher als eingeschränkt bezeichnet werden muss. Hinderlich ist natürlich auch, wenn Ärzte im Trauerfall den Angehörigen sogleich Sedativa verschreiben, und auch die Tatsache, dass Trauerrituale (wie das Tragen schwarzer Kleidung) und Trauerzeiten in unserer Kultur weitgehend keinen Platz mehr haben. Damit wird das Durchleben und Durcharbeiten von Trauer extrem individualisiert und privatisiert und d.h. erschwert. Denn Trauer ist leichter zu bewältigen, wenn sie als Gemeinschaftsaufgabe begriffen und gelebt wird.110 3. Bedeutung und Funktion von Ritualen Die Diskussion um das, was ein Ritual ist und welche Funktion es erfüllt, ist außerordentlich komplex.111 Ich beschränke mich auf eine Kerndefinition und bezeichne ein Ritual als eine festgelegte, wiederholbare Symbolhandlung. Drei Elemente dieser Definition sind von Bedeutung. Erstens: Das Ritual erfordert und ermöglicht eine ganzheitliche Beteiligung der Betroffenen; sie sind nicht nur mit dem Geist oder Verstand engagiert, sondern mit dem ganzen Körper – durch Gehen, Stehen, sich verbeugen und damit verbundenes Spüren und Fühlen. Während Worte sich vorrangig an den Verstand richten – Kommunikation zielt auf Verständigung – spricht das Ritual den ganzen Menschen an. Rituale wirken präverbal, wirken auf einer tieferen körperlich-emotionalen Ebene. Zweitens: Die Handlung ist festgelegt, damit wiederholbar, damit unabhängig von der subjektiven Gestimmtheit derer, die sie vollziehen. Die festgelegte Handlungsabfolge z.B. einer Liturgie stellt einen Rahmen, damit verbunden eine Sprache bereit, in die sich die am Ritual Beteiligten einfügen können. Man muss in der schmerzhaften Situation 110

Dieter Forte erzählt in seinem Roman »Der Junge mit dem blutigen Schuh«, wie eine junge Frau namens Maria während der Kriegsjahre in Düsseldorf ein Kind verliert und in ihrer Trauer wie erstarrt in der Küche sitzt. Einige ihrer Familienmitglieder aus Polen kommen zu ihr und sitzen einfach mit ihr tagelang in der Küche. Sie kochen zwischendurch schweigend und sitzen zusammen; und ganz langsam, nach einer Reihe von Tagen, löst sich die Trauerstarre. 111 Vgl. dazu das von Andrea Belliger und David J. Krieger herausgegebene Handbuch Ritualtheorien, Opladen ²2003, sowie Kursbuch Nr. 160, Die neuen Rituale, Berlin Juni 2005.

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VI Seelsorge und Ritual bei Abschied, Sterben, Tod und Trauer

einer Bestattung nicht spontan nach eigenen Worten und Verhaltensmöglichkeiten suchen, sondern kann sich in einen vorgegebenen Ablauf hineinstellen; der festgelegte Ablauf als solcher gewährt Vertrautheit und Sicherheit, entsprechend lösen Variationen eher Unsicherheit und Verwirrung aus. Damit ist ein Problem bezeichnet: Ein Ritual gewährt Sicherheit, solange es bekannt und vertraut ist. Das war in früheren Zeiten sicherlich dadurch gewährleistet, dass die Bevölkerung eines Dorfes mehr oder weniger regelmäßig an Bestattungen teilnahm, den Ablauf des Rituals kannte und seine stabilisierende Wirkung von daher zur Entfaltung kommen konnte. Für Menschen, die jedoch zum ersten Mal oder höchst selten an einem solchen Ritual teilnehmen, stellt sich diese Wirkung hingegen kaum ein. Man sieht das auch daran, dass inzwischen ein wichtiger Teil des vorbereitenden Kasualgesprächs darin besteht, den Beteiligten den Ablauf des Rituals zu erklären, um die Fremdheit zu reduzieren. Das war in früheren Zeiten kaum notwendig. Zur Wiederholbarkeit des Rituals gehört eine besondere Zeit, ein festgelegter, möglichst regelmäßiger Zeitpunkt und eine konzentrierte, ungestörte Zeitspanne, in der der Ablauf vollzogen werden kann. Außerdem ein besonderer Ort, der den Vollzug des Rituals von alltäglichen Abläufen abgrenzt (früher im ländlichen Bereich z.B. der »Herrgottswinkel«, in dem das Kruzifix hing). Besondere Zeit und besonderer Ort geben dem Ritual eine hilfreiche Struktur, unterbrechen die Routinen des Alltags und verleihen dem Ritual damit ein besonderes Gewicht. Drittens: Die festgelegte Handlungsfolge hat einen symbolischen Sinn, einen symbolischen Mehrwert. Sie verweist auf etwas, das außerhalb seines Vollzugs liegt. Das Absenken des Sarges ins Grab und der anschließende Erdwurf verweisen sinnenfällig auf die Endgültigkeit des Todes; gleichzeitig stellt die gesamte kirchliche Handlung das Geschehen in einen religiösen Kontext, der zum Ausdruck bringt, dass Christen mit Gottes Anwesenheit auch im Tod und über den Tod hinaus rechnen. Dieser symbolische Überschuss ist zentral, er gibt dem Ritual seinen speziellen Wert, auch seine Feierlichkeit, und unterscheidet ein Ritual von den alltäglichen Routinen wie dem Zähneputzen oder dem Tischdecken. In der evangelischen Theologie und Kirche war die Einschätzung von Ritualen lange Zeit hindurch eine sehr negative. Im Ritual, so hat es als letzter Rudolf Bohren – im Gefolge der dialektischen Theologie – scharf formuliert, verwandele sich »Christus unmerklich zum Baal, zu dem Gott, der das kreatürliche Leben segnet, zum Gott der Fruchtbarkeit, zum Garanten von Eheglück und gelungener Erziehung.« Gottes Ehre werde in den Ritualen von Taufe, Trauung und Beerdigung geschändet,

3. Bedeutung und Funktion von Ritualen

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sein Name entheiligt und Christus zum Baal gemacht.112 Entsprechend wurden in den 60er Jahren die volkskirchlichen Kasualien abgewertet, die Pfarrer sahen sich zu Zeremonienmeistern degradiert. Diese scharfe Verurteilung des Rituals traf zusammen mit einer allerdings schon mehr als 50 Jahre früher erfolgten Einschätzung des Rituals durch Sigmund Freud als Ausdruck einer Zwangsneurose. Die Elemente einer bis ins Detail gewissenhaften Ausführung, die Isolierung dieser Handlung von alltäglichen Zusammenhängen und die Angst, die entsteht, wenn man im Ablauf etwas falsch macht oder auslässt, sah Freud als Charakteristika sowohl der Zwangsneurose als auch der Religionsausübung. Zu einer Neubewertung der Funktion von Ritualen in den Humanwissenschaften und dann auch in Theologie und Kirche ist es im Lauf der 70er Jahre gekommen, vor allem durch die Wiederentdeckung und Weiterführung ethnologischer Forschungen.113 Paul van Gennep hatte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinen ethnologischen Studien festgestellt, dass eigentlich alle Religionen mit Ritualen operieren und dass fast alle Rituale ein dreigliedriges Schema aufweisen: Auf eine Phase der Vorbereitung (dazu gehören eine Zeit der Askese [man ging früher nüchtern zum Abendmahl!], Absonderung von anderen, Formen der Meditation, Anziehen besonderer Kleidung etc.) folgt die eigentliche Schwellen- oder Umwandlungsphase (der Vollzug des Rituals), an die sich wiederum eine Eingliederungsphase anschließt (in der sich der/die Betroffene in seinem veränderten Status der neuen Gemeinschaft anschließt). Der englische Anthropologe Victor Turner hat Ablauf und Bedeutung der mittleren Schwellenphase genauer untersucht und herausgestellt, dass in dieser Phase die gesellschaftlichen Rang- und Statusunterschiede, auch die Unterschiede von Mann und Frau, alt und jung, aufgehoben sind: Im Vollzug des Rituals sind alle gleich. Darin steckt ein revolutionäres Potential: Wir könnten im Abendmahl etwa durchaus deutlicher herausstellen, dass wir im Vollzug des Abendmahls vor Gott alle gleich sind – und dies könnte und müsste dann auch Konsequenzen für den Umgang miteinander in der Gemeinde haben. Der Psychoanalytiker Erik Erikson hat die Beobachtung hinzugefügt, dass die Mutter-Kind-Interaktion hochgradig ritualisiert ist: Zwar bei jeder Mutter anders, aber in diesem individuellen Kontext doch beständig. Und der Soziologe Erving Goffman hat beschrieben, wie auch unsere Alltagskommunikation von rituellen Vollzügen geprägt ist: Unsere wechselseitigen Begrüßungen sind hochgradig stereotyp; diese Stereoty112

Rudolf Bohren, Unsere Kasualpraxis – eine missionarische Gelegenheit?, ThExh 147, München (1960) 51979, 19f. 113 Vgl. zum folgenden die zusammenfassende Darstellung bei Michael Klessmann, Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 52014, 280ff.

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VI Seelsorge und Ritual bei Abschied, Sterben, Tod und Trauer

pie erzeugt ein vorhersehbares, erwartbares Verhalten im Umgang miteinander, schafft also Sicherheit: So lange mein Nachbar mich freundlich und in der erwartbaren Weise grüßt, kann ich mich darauf verlassen, dass er mir freundlich gesinnt ist. Und, so fügt Goffman hinzu, sein Grüßen stabilisiert mein Ansehen, meine Identität und vice versa. Damit erfüllen die Rituale der Begrüßung eine zentrale gesellschaftliche und individuelle Funktion. Diese anthropologische Wiederentdeckung der zentralen Bedeutung von Ritualen hat dann auch die Theologie angeregt, neu über ihre Bedeutung nachzudenken. Werner Jetter hat Rituale in seinem wichtigen Buch »Symbol und Ritual« von 1986 als »religiöses Ausdrucksverhalten« gewürdigt, mit dessen Hilfe Menschen versuchen, das Chaos des Lebens zu ordnen und begehbar zu machen.114 Walter Neidhardt hat Rituale als Zeichen der »erhaltenden Güte Gottes« interpretiert.115 Wilhelm Gräb sieht in ihnen das Rechtfertigungshandeln Gottes abgebildet: Hier werden Lebensgeschichten gerechtfertigt – gerade nicht um ihrer Lebensleistung willen, sondern allein aus der Zuwendung Gottes zu jedem Menschen heraus.116 Ulrike Wagner-Rau versteht das Ritual von der zentralen Bedeutung des Segens her.117 Seither erfreuen sich Rituale einer neuen Wertschätzung im Bereich von Theologie und Kirche; die Hochschätzung des Wortes als zentralem Medium der Verkündigung wird dadurch relativiert. Der Mensch lebt nicht nur vom Wort allein, sondern auch von den rituellen Vollzügen, die seinem Leben Struktur und Halt geben, vor allem in Krisensituationen des Lebens. Aber bei aller Wertschätzung, deren sich Rituale seit einigen Jahren in der Praktischen Theologie erfreuen, sind doch auch kritische Bemerkungen zu ihrer Funktion nötig: Rituale verschleiern Konflikte, sowohl gesellschaftliche wie individuelle, schweigen zu den Ursachen von Missständen und lebensfeindlichen Umständen. Die Bestattung eines jungen Menschen, der Opfer eines Verkehrsunfalls geworden ist, sieht nicht anders aus als die eines Menschen, der in hohem Alter und »lebenssatt« in seinem Bett gestorben ist. Und weiter: Unabhängig davon, ob es eine christliche Bestattung ist oder eine mit einem weltlichen Redner, das Ritual als solches vermittelt den Anschein von Ordnung und Heil, der oftmals nicht wirklich gedeckt ist. Der Vollzug des Rituals enthält implizit die Botschaft: Das 114 115

Göttingen 1986, 93 u.ö. Walter Neidhardt, Die Rolle des Pfarrers beim Begräbnis (1968), in: ders., Aporien aushalten – dennoch handeln, Stuttgart/Berlin 1997, 218–230. 116 Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen, Gütersloh 1998, 172ff. 117 Ulrike Wagner-Rau, Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft, Stuttgart/Berlin/Köln 2000.

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Leben geht weiter, das Leben kommt in Ordnung – eine durchaus problematische Aussage. Deswegen wird in der christlichen Bestattung neben der Auferstehungsbotschaft auch immer von Sünde und Schuld und der Notwendigkeit der Vergebung gesprochen. Und deswegen legen wir in der protestantischen Kirche großen Wert auf eine Ansprache im Rahmen der Kasualie, weil nur in der Ansprache der Einzelfall wirklich gewürdigt werden kann. Zusammenfassend kann man von drei übergreifenden Funktionen des Rituals sprechen: – Soziale Funktion: Ein Ritual bietet Ordnung in einer Krise an, stellt eine Rolle (z.B. als Hinterbliebene/r) und Sprache für das sonst Unaussprechliche zur Verfügung; das Ritual strukturiert Zeit und Raum, macht einen Statuswechsel öffentlich (z.B. von der Ehefrau zur Witwe), verbindet mit der Gemeinschaft (Familie, Nachbarschaft) und wirkt auf diese Weise sowohl gemeinschaftsbildend als auch identitätsbildend. – Psychologische Funktion: Ein Ritual ermutigt zum Ausdruck von Gefühlen, ermöglicht auch den Ausdruck von Ambivalenzen (bei der Nachfeier darf schon wieder gelacht werden). Das Ritual verfolgt das Ziel, die Anwesenheit eines anderen Menschen in eine Erinnerung, in ein inneres Bild zu überführen. Die Würdigung des/der Verstorbenen, die Anregung, von ihm oder ihr zu erzählen, trägt dazu Entscheidendes bei. – Religiöse Funktion: Ein Ritual stellt das aktuelle Lebensereignis in einen umfassenden Horizont, schreibt dem Widerfahrnis einen Sinn zu, verbindet mit Transzendenz und mit der Tradition der eigenen Religion und Kultur. Rituale erinnern daran, dass wir nicht aus uns selber leben, sondern uns einem größeren Ganzen verdanken. 4. Alte und neue Trauerrituale Sterben und Tod waren bis ins 18. Jahrhundert öffentliche Ereignisse; der Tod war allgegenwärtig und jedermann vertraut, auch den Kindern. Noch um 1890 lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland von Frauen bei 40, von Männern bei 37 Jahren.118 Wie sollte man der Tatsache des Sterbens damals also nicht ständig begegnen? Die seitherige Verdoppelung der Lebenserwartung hat den Tod weit hinausgeschoben, er gehört im allgemeinen Bewusstsein nur noch ans Ende des Lebens und damit auch ganz an den Rand des öffentlichen Geschehens. 118

Vgl. Hans-Martin Gutmann, Mit den Toten leben – eine evangelische Perspektive, Gütersloh 2002, 22.

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Sterben und Tod sind zu höchst intimen Geschehnissen geworden, ausgegrenzt und delegiert an Institutionen wie Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime (etwa drei Viertel der Menschen sterben in einer Institution); nur noch die unmittelbaren Angehörigen sind beteiligt. Schon die Nachbarschaft weiß oft nichts davon. Die allgegenwärtige Individualisierung des Lebens zieht eine Individualisierung des Sterbens und des Todes zwangsläufig nach sich. Wer Zeit seines Lebens vereinzelt gelebt hat, stirbt auch so – und, so ist hinzuzufügen, trauert auch so. Die Reduktion der Trauerrituale, die wir momentan beobachten können, ist ein Spiegel dieser Individualisierung – dabei lassen sich theologische und soziologische Aspekte unterscheiden. Mit der Reformation hat sich in Deutschland eine tief greifende Veränderung im Verständnis der Bestattung vollzogen: Der Bestattungsgottesdienst gilt in reformatorischer Sicht den Hinterbliebenen, nicht den Toten. Deren Schicksal kann und muss man nicht mehr beeinflussen, sie sind bei Gott aufgehoben. Deswegen muss man sich mit ihnen nicht weiter befassen und kann die Trauer zügeln. Aber die Hinterbliebenen sollen erinnert werden an die Endlichkeit ihres Lebens und sich auf den Trost des Glaubens an die Auferstehung der Toten verlassen. Beide Zielsetzungen verfolgen so etwas wie Bewusstseinsbildung, für sie steht das Wort der Verkündigung im Zentrum, die Bedeutung der Rituale schwächt sich demgegenüber deutlich ab. Im 20. Jahrhundert hat sich diese Tendenz mit der dialektischen Theologie, deren Betonung der verbalen Verkündigung und ihrer Abwertung der Rituale, noch einmal deutlich verstärkt (s.o.) – verbunden, noch einmal, mit einer Abkehr von der Beschäftigung mit dem Schicksal der Toten. Auch bestimmte gesellschaftliche Tendenzen zielen in dieselbe Richtung. So hat der Soziologe Norbert Elias beschrieben, wie seit dem 16. Jahrhundert im Prozess der Zivilisation äußere Anordnungen zu internen Kontrollmechanismen, gesellschaftlicher Zwang zu Selbstzwang geworden sind.119 Bestandteil dieser Entwicklung ist eine Reduktion der Triebhaftigkeit, der Emotionalität des Menschen, auch der Art und Weise seiner Expression von Trauer. Was man gelegentlich noch in südlichen Ländern findet, der vehemente und zugleich ritualisierte Ausdruck von Trauer, ist in unseren Breiten nicht mehr anzutreffen: Trauernde sind nicht mehr an Trauerkleidung erkennbar, damit entfallen auch Trauerzeiten, in denen den Betroffenen und ihrer Umgebung ein Ausleben ihrer Trauer zugestanden würde. Auch Trauerorte verlieren im Zeitalter hoher Mobilität ihre Bedeutung: Die Kinder wohnen doch ganz woanders als die Eltern, warum dann nicht gleich eine anonyme Bestattung irgendwo, am besten im Meer. Die noch bekannten Trauerrituale wirken befremdlich, weil ihre religiöse Grundierung nur von 119

Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. I + II, Frankfurt a.M. ²1977.

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wenigen geteilt wird (in Ostdeutschland werden nur noch höchstens 20 % der Bestattungen kirchlich vollzogen); außerdem finden sie nur noch in einer sehr begrenzten Öffentlichkeit statt (»die Bestattung hat im engsten Familienkreis stattgefunden!«), können also auch kaum noch ihre ursprünglich sozialintegrative Funktion haben. Trauer und Trauerbewältigung haben sich genau so individualisiert wie Sterben und Tod. Wie ist dieser Befund zu interpretieren? Individualisierung ist immer ambivalent einzuschätzen, bedeutet Freiheitsgewinn einerseits und Überforderung andererseits, ungeahnte Möglichkeiten einerseits, haltlose Beliebigkeit andererseits. Beides wird man auch im Zusammenhang mit Trauer konstatieren müssen: Keine/r muss mehr trauern, weil es die Sitte so vorschreibt, jede/r kann so trauern, wie es wirklich persönlich angemessen erscheint. Ehrlichkeit könnte wachsen angesichts dieser Freiheit. Aber die Kehrseite stimmt genauso: Individuelle Problemlösungsfähigkeiten stoßen in unvorhergesehenen Krisensituationen schnell an ihre Grenzen, Menschen fühlen sich überfordert – und wer überfordert ist, bricht entweder zusammen oder greift zu Abwehrmechanismen, um der Überforderung zu wehren. So bilden sich, in einer Atmosphäre weitgehender Beliebigkeit, neue Symbolhandlungen, deren Zwiespältigkeit mit Händen zu greifen ist: Da werden Särge bzw. Urnen bemalt, individuell oder in den Farben des Fußballvereins, man gibt ihnen ausgefallene Formen, man bestattet sie anonym, statt der Gebete eines Pfarrers wird aus den Tagebüchern des Verstorbenen gelesen, Luftballons steigen auf, Jazz- oder Popmusik wird gespielt, statt Erde auf den Sarg zu werfen tut es auch schon mal eine Flasche Rotwein, die der Verstorbene über alles geliebt habe: The party must go on.120 Der Symbolwert solcher neuen Inszenierungen und Vollzüge ist einerseits sicherlich unter die kollektiven Beschwichtigungsstrategien einzuordnen, unter die Maßnahmen zur Abwehr und Verdrängung von Sterben und Tod, von Endgültigkeit und Schmerz. Zwar konfrontieren uns die Medien in bisher ungeahnter Häufigkeit und Dichte mit Sterben und Tod, aber eben medial verfremdet und distanziert. Es sind immer nur die anderen, die in den Medien sterben. Das eigene Sterben, der eigene Tod erscheint irreal, wird in eine ferne Zukunft verlegt und mit Mitteln der Pop-Musik und -Kunst verharmlost. Andererseits gilt auch hier, dass eine Verunglimpfung solcher Tendenzen kontraproduktiv wirkt. Es kehren doch in den neuen Tendenzen im Zusammenhang mit der Bestattung nur alte Bekannte wieder: Be120

Vgl. Jörg Zirfas, Vom Zauber der Rituale, Leipzig 2004, 133; Michael Nüchtern, Der neue Markt um Tod und Trauer, Materialdienst der EZW 11/98, 322–331.

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stattung als gottesdienstliche Feier war bis ins 19. Jahrhundert nicht fest etabliert, Bestattungen ohne Priester und anonym in einem Massengrab waren (auf jeden Fall für die Armen) eher die Regel als die Ausnahme, ausschweifende Festlichkeiten im Rahmen von Bestattungen nicht selten, bei der Leichenwache konnte es vorkommen, dass getanzt, gelacht und gescherzt wurde,121 Friedhöfe waren Orte von Handel und Wandel und durchaus nicht von Ernst und Feierlichkeit,122 und die bis ins Spätmittelalter verbreitete Gattung der Totentänze zeigt sehr deutlich die unvermeidliche Ambivalenz gegenüber dem Tod: Die tanzenden Totengerippe sollen den Ernst des Todes einschärfen – zugleich dient die Form des Tanzes dazu, eben diesen Ernst zu überspielen und zu vergessen. Vielleicht kann man mit dem Schrecken des Todes nur leben, indem man ihn situativ abwehrt, ausblendet oder übertönt? Die vermeintliche Glaubenssicherheit mancher Verkündigung am Grab hat wahrscheinlich schon immer viele Menschen überfordert. Für die Beurteilung neuer Trauer- und Bestattungsrituale scheinen mir drei Gesichtspunkte von besonderer Bedeutung: – Es sollte ein würdiger Umgang mit dem/der Toten gewährleistet sein. – Es sollte angemessene Gelegenheit bestehen (kurzfristig und längerfristig), Trauer zum Ausdruck zu bringen. Bestattung ist ein wichtiger Auslöser und Bestandteil des Trauerprozesses. Die damit verbundenen psychohygienischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten sind nicht gering zu schätzen. – Es sollte Raum und Gelegenheit für eine religiöse Deutung des Todes bestehen. Natürlich wünsche ich mir als christlicher Theologe, dass die Ressourcen der christlichen Auferstehungshoffnung zur Sprache kommen können. Davon ist aber nicht mehr selbstverständlich auszugehen. Dann sollte es wenigstens möglich sein, Verstorbene nicht einfach wie eine Sache zu entsorgen, sondern die Herausforderung des Todes an das Leben – in welcher Weise auch immer – zu thematisieren. 5. Seelsorge und Ritual – integrale Sterbe- und Trauerbegleitung Im Umfeld von Sterben, Tod und Trauer sind nun seit Jahren auch andere Formen von Beteiligung und Engagement entstanden, die zeigen, dass Menschen sich nicht mit den zerstörerischen Tendenzen der Individualisierung und Privatisierung abfinden wollen. 121 122

Vgl. Norbert Ohler, Sterben und Tod im Mittelalter, Düsseldorf 1990, 84. Vgl. dazu Philippe Aries, Geschichte des Todes, München 71995.

5. Seelsorge und Ritual – integrale Sterbe- und Trauerbegleitung

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Der Wunsch, sich ehrenamtlich in der Hospizarbeit zu engagieren und Sterbende zu begleiten, ebenso wie die Bereitschaft, in Trauergruppen und Trauercafes mitzuarbeiten, ist erstaunlich häufig. Konfessionelle Krankenhäuser und Altenheime kommen mehr und mehr dahin, Räume vorzuhalten, in denen Menschen in Würde und Ruhe sterben können und Angehörige Gelegenheit haben, sich zu verabschieden. Auch Bestattungsunternehmen stellen – anders als früher – Abschiedsräume und psychologisch geschultes Personal (z.B. arbeitslose Theologen!) zur Verfügung. Kirchen und Gemeinden entdecken die Bestattung und alles was damit zusammen hängt, neu als ihre ureigene Aufgabe (z.B. Bestattungsinstitute in kirchlicher Regie). Pfarrerinnen und Pfarrer sind sensibler geworden für die Aufgabe der Gestaltung von Bestattungen, das Stichwort von der Inszenierung hat seinen schlechten Geruch verloren: Der unlösliche Zusammenhang von Inhalt und Form verlangt eine sorgfältige Inszenierung, in denen auch die Wünsche der Beteiligten angemessen Berücksichtigung finden. Hier liegt ein entscheidender Punkt: Die Hinterbliebenen wollen das Ritual mitgestalten, sie wollen ihre Wünsche ernst genommen sehen im Blick auf den Ablauf, die Auswahl der Texte wie der Musik etc. Dieses Anliegen ist erst einmal grundsätzlich positiv zu werten: Abschied nehmen heißt immer auch Abschied geben,123 bezeichnet einen aktiven Prozess (In Analogie zum Begriff Trauerarbeit könnte man auch von Abschiedsarbeit sprechen). Es ist deswegen zu begrüßen und von der Trauerdynamik her zu fördern, wenn Angehörige sich an der Gestaltung einer Bestattung beteiligen wollen. Gleichzeitig ergeben sich daraus Konflikte, die nicht nur theologischer Natur sind, sondern auch die Milieudifferenz zwischen Pfarrer und Gemeindegliedern spiegeln können. E. Hauschildt hat am Beispiel der Musik den Grundsatz aufgestellt: »Interpretation statt Konfrontation«.124 Das heißt, man sollte fragen: Kann die gewünschte Musik öffnen für die Aussagen des Glaubens über den Tod und das Leben bei Gott? Lässt sich die Musik in der Ansprache interpretierend aufgreifen? Steht sie in Verbindung zum Verstorbenen? Ist sie der Situation angemessen oder überfordert sie u.U. die Angehörigen, wenn man z.B. das Lieblingslied des Verstorbenen spielt? Mit diesen Erwägungen sind wir bereits bei dem Zusammenhang von Seelsorge und Ritual angekommen: Das Besondere eines christlichen Rituals sehe ich darin, dass es in einen seelsorglichen Gesprächszusammenhang eingebunden ist, der wiederum in einen umfassenderen Lebenszusammenhang hinein gehört.

123 124

Vgl. Kristian Fechtner, Kirche von Fall zu Fall, Gütersloh 2003, 64ff. Eberhard Hauschildt, Der Streit am Sarg um die Musik, MuK 69 (1999), 305–322.

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Schon vor 30 Jahren hat der Religionssoziologe Joachim Matthes von der Notwendigkeit einer integralen Amtshandlungspraxis gesprochen. Das Adjektiv »integral« bezeichnet dabei Mehreres: 1. Es geht zum einen um den Zusammenhang von Seelsorge und Ritual. Das Ritual kommt ohne Seelsorge nicht aus. Denn, darauf habe ich oben schon hingewiesen, erst die Seelsorge gibt dem Ritual, das für alle mehr oder weniger gleichförmig abläuft, die notwendige individuelle Ausrichtung. Erst durch die Seelsorge – die dann Auswirkungen hat auf die Gestaltung der Liturgie und der Predigt – wird deutlich, dass es in einem Ritual um diesen konkreten Menschen geht, und nicht um irgendeinen. Durch die seelsorgliche Vorbereitung und Nachbegleitung wird sinnlich erfahrbar bezeugt, dass Gott, dass der Kirche, dass den Repräsentanten der Kirche an diesem unverwechselbaren Menschen liegt. Die für alle gültige Signatur des Rituals gewinnt durch die seelsorgliche Einbettung ihren individuellen, unverwechselbaren Fokus. 2. Es geht um eine Integration der Sprache des Rituals und der Sprache der Seelsorge. Seelsorge neigt manchmal dazu, redselig zu werden, sie wird dann, wie es Hiob seinen Freunden vorwirft, zu einem »leidigen Tröster« (Hi 16,2). Ritualisierte Sprache ist gemessene und symbolische Sprache, die gerade in Grenzsituationen angemessener erscheint als die freie Rede. 3. Es geht gleichzeitig um eine Integration des Rituals in den Lebenszusammenhang der Beteiligten. Die Kasualie der Bestattung gewinnt erst ihre Kraft, wenn sie sorgfältig und differenziert die Lebenswelt des Verstorbenen und der Hinterbliebenen in den Blick und in ihre Inszenierung integriert. Nur so fühlen sich die Beteiligten wahr- und ernst genommen und nicht lieblos routiniert abgefertigt. Auch diese Integration bedarf der Seelsorge; denn nur im seelsorglichen Gespräch kann die Lebenssituation der Betroffenen in hilfreicher und tröstlicher Weise zur Sprache kommen. Daraus können sich dann auch kleine rituelle Handlungen für den häuslichen Bereich entwickeln, z.B. die Übung, jeden Morgen und Abend eine Kerze für den gerade verstorbenen Menschen anzuzünden und damit eine kleine Zeit des Gedenkens einzuhalten. Wie soll sonst in der Hektik des Alltags Trauer Platz finden? 4. Es geht auch um den Zusammenhang der Generationen, der sich gerade bei der Kasualie der Bestattung in besonderer Weise zeigt. Bei einer Bestattung kommt eine Familie zusammen und muss ihr inneres Gleichgewicht, das durch den Verlust eines Familienmitglieds empfindlich gestört ist, wieder neu finden und austarieren. Häufig sind drei oder sogar vier Generationen anwesend – und es kann eine wichtige und sinnvolle Zielsetzung sein, die Familie in ihrer Generationenfolge angesichts der Krise, in die sie durch einen Todesfall geraten ist, beizustehen und zu einer Rekonstruktion familiärer Strukturen beizutragen.

5. Seelsorge und Ritual – integrale Sterbe- und Trauerbegleitung

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Was Matthes nicht anführt, was mir aber als Theologen wichtig erscheint, ist, dass die Verkündigung des Evangeliums im mancher Hinsicht eindrücklicher und sachgerechter durch Seelsorge möglich ist als durch das Ritual. Da ist bereits der aufsuchende Charakter der Seelsorge von Bedeutung: Dass eine Pfarrerin / ein Pfarrer zu den Leuten ins Haus kommt – und zwar nicht nur zur Vorbereitung der Bestattung, sondern vor allem einige Wochen später, um seine Begleitung anzubieten – hat einen nicht zu unterschätzenden symbolischen Stellenwert. Darüber hinaus ermöglicht das seelsorgliche Gespräch mit den Betroffenen, die ganz persönliche Trauer, Angst und Verzweiflung zur Sprache zu bringen, aber auch die individuellen Fragen nach Sinn und Ziel eines Lebens und Sterbens, nach möglicher Hoffnung über den Tod hinaus, nach dem, was in dieser Krise trägt, anzusprechen. Die Ansprache bei der Bestattung ist im günstigsten Fall eine kurze Zusammenfassung des Seelsorge-Gesprächs, häufiger geht sie an den Betroffenen vorbei, weil die in dieser Situation sowieso nicht wirklich zuhören können. Im Gespräch über das, was möglicherweise durch Trauer und Verzweiflung hindurch trägt, spielen die Bilder vom Leben, die Menschen haben, eine besondere Rolle. In seinem Sermon von der Bereitung zum Sterben von 1519 hat Luther auf die Bedeutung der Bilder für das Verhalten auf der letzten Strecke des Lebens eindringlich hingewiesen.125 Da gibt es auf der einen Seite die erschreckenden Bilder von Tod, Sünde und Hölle – für uns heute sind das vielleicht die Bilder vom einsamen, mit maximaler Intensivtherapie qualvoll verlängerten Sterben oder auch vom Fallen ins Nichts und die absolute Bedeutungslosigkeit. Für Luther muss es dann zu einem Kampf der Bilder kommen, man muss Gegenbilder aufrufen, um der Bedrohung der ersten Bilder nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Solche Gegenbilder sind für Luther Christus selbst, die Heiligen und die Sakramente. Wie ist das für die Gegenwart zu übersetzen? »Denn Christus ist nichts als lauter Leben«, sagt Luther in diesem Zusammenhang. Es geht also um Bilder des Lebens, Bilder von der Fülle des Lebens. Das können Bilder aus der biblischen Tradition (Ps 23 oder 121, Regenbogen, Engel) sein, Bilder aus der Natur (Licht, Sonne, Sterne), Bilder und Träume aus dem Leben eines Menschen. D.h. es geht um Bilder, die etwas zum Ausdruck bringen von der Güte des Lebens, die trotz aller Schmerzen und furchtbaren Gewalttaten immer wieder durchscheint, Bilder, die den Zusammenhang des Ganzen, in den die Einzelnen eingebunden sind, wiedergeben, Bilder von der Hoffnung auf ein Reich, in dem alle Tränen abgewischt werden und 125 Martin Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519), abgedruckt in: Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Bd. 2, Frankfurt a.M. ²1983, 15ff.

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kein Leid und Geschrei mehr sein wird und in dem wir nach dem Tod aufgehoben sein werden – das und viele mehr sind Hoffnungsbilder, vielleicht auch Gottes- oder Christusbilder, die wir mit Menschen meditieren können, so dass sie Kraft und Trost entfalten.126 Aber – und das scheint mir für die Gegenwart ganz wichtig – Schreckensbilder und Hoffnungsbilder stehen nicht säuberlich getrennt einander gegenüber, sondern sie durchdringen sich ständig, bestreiten sich gegenseitig das Existenzrecht, es ist ein dauernder Kampf – und man weiß vorher nicht, wie er ausgeht. Ich nehme zum Schluss die Geschichte vom Anfang wieder auf: Die Beraterin, so meinten einige Teilnehmende an der Fortbildung, hätte durchaus als eine Art Schlusssatz sagen sollen und können: »Lassen Sie uns schweigend Ihres Kindes gedenken und es der Gnade Gottes empfehlen.« Oder: »Ich bete um Gottes Schutz – in dieser schweren Situation – für Sie und ihr totes Kind.« Ein solcher Satz ist persönlich und ritualisiert zugleich; er verspricht – weil er Gott in Anspruch nimmt – mehr als die Beraterin persönlich verbürgen und einlösen kann. Die Seelsorge hätte das Ritual verdeutlicht, das Ritual die Seelsorge verleiblicht – und beides brauchen wir.

126

Anregungen dazu finden sich auch bei Karin Kiworr, Bilder der Hoffnung im Angesicht des Todes, Mainz 2005, und bei Waldemar Pisarski, Auch am Abend wird es Licht sein, München 2005, 169ff.

VII Belastet – Eingeschränkt – Krank – Gezeichnet – Ausgeschlossen Herausforderungen und Chancen von Seelsorge in Psychiatrie und Geriatrie127 1. Die Herausforderungen des Kontextes Zwei Szenen zu Beginn: – Ich erinnere mich an einen jungen Mann in der psychiatrischen Aufnahmestation, der auf mich einen recht hektischen Eindruck machte. Er kam auf mich zu, wollte mich unbedingt sprechen. Kaum hatten wir uns in eine Ecke auf der Station gesetzt, wo wir ungestört hätten sprechen können, sprang er eilig schon wieder auf und musste irgendetwas holen – das wiederholte sich dreimal, bis ich begriff und sagte, wir würden ein anderes Mal weiter sprechen; er schien damit einverstanden. Es kam ihm offenbar auf meine Bereitschaft an, mich auf ihn einzustellen – ein Gespräch konnte er wegen seiner inneren Unruhe gar nicht führen. – Auf einer gerontopsychiatrischen Station schaut mich ein alter Mann anscheinend aufmerksam und freundlich an, ich fühle mich eingeladen, setzte mich zu ihm, er öffnet seinen Mund und bringt dann nichts als ein paar stotternde Laute heraus. Er fängt an sich aufzuregen, wedelt mit den Armen, sein Stottern wird immer wilder – ich interpretiere es als Ausdruck seiner Frustration, dass er sich nicht mitteilen kann. Ich lege meine Hand kurz auf seine Schulter und sage ihm, dass ich gerne ein Weilchen bei ihm sitzen bleiben möchte – langsam beruhigt er sich wieder. Natürlich verlaufen die meisten Begegnungen auf der Psychiatrie, auf der Geriatrie, speziell der Gerontopsychiatrie, nicht so ab – aber die Beispiele sollen die kommunikativen Schwierigkeiten verdeutlichen, mit denen wir es in diesen Bereichen zu tun bekommen (wobei beide Bereiche und die Krankheiten, unter denen Menschen hier leiden, sehr unterschiedlich sind – das macht die Problematik des mir gestellten Themas meines Vortrags aus). Diese Schwierigkeit will ich einleitend verdeutlichen: Das Wort Seelsorge ist für die meisten von uns mit einem bestimmten inneren Bild verknüpft: Da sitzen sich zwei Menschen gegenüber und führen ein Gespräch. Eine Person erzählt mehr oder weniger aus127

Vortrag im Lukas-Krankenhaus in Gronau am 11.3.2009.

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VII Belastet – Eingeschränkt – Krank – Gezeichnet – Ausgeschlossen

führlich, die Seelsorgeperson hört vorwiegend zu und trägt durch gelegentliche Kommentare, Rückfragen und eine im Ganzen annehmende Haltung dazu bei, dass die ratsuchende Person in einer schwierigen Lebenssituation mehr Ruhe und Gewissheit findet, sich selbst, trotz eines belastenden Themas, wertgeschätzt und angenommen fühlt, ein von ihr angesprochenes Problem ein wenig klarer zu sehen lernt, Entscheidungsmöglichkeiten deutlicher in den Blick bekommt. Manchmal beenden Gebet und Segen das Gespräch. Dieses Modell von Seelsorge als Gespräch zwischen mehr oder weniger vernünftigen und selbstverantwortlichen Erwachsenen kommt in der Begegnung mit Menschen in der Psychiatrie und der Geriatrie (bzw. in der Gerontopsychiatrie) an deutliche Grenzen. Die beiden medizinischen Spezialgebiete wenden sich Menschen zu, deren Lebenswelt durch welche Belastungen auch immer im buchstäblichen Sinn ver-rückt worden ist, deren Koordinaten für Denken und Fühlen andere sind als die der Mehrheit der Bevölkerung. Dadurch wirken sie zunächst fremd und befremdlich, ängstigend, u.U. auch lästig und störend – und die Mehrheitsgesellschaft ging in der Vergangenheit mit dieser Herausforderung so um, wie man das immer getan hat: Man stellte sich nicht den Fremden und Befremdlichen, sondern sperrte sie weg, brachte sie in großen Krankenhauskomplexen am Rand der Städte unter, bis dahin, dass man ihnen das Existenzrecht absprach. Diese Entwicklung ist glücklicherweise an ihr Ende gekommen, es hat sich Vieles im Umgang mit psychiatrisch und geriatrisch erkrankten Menschen zum Besseren verändert, nicht zuletzt durch die sog. Sozialpsychiatrie der 70er Jahre: Sozialpsychiatrie hat darauf aufmerksam gemacht, dass psychiatrische Erkrankungen nicht ohne das jeweilige gesellschaftliche Umfeld gesehen werden dürfen, dass die Interaktion zwischen einem kranken Menschen und seinem sozialen Umfeld eine große Rolle spielt sowohl bei der Entstehung bestimmter Krankheiten wie bei allen Versuchen der Heilung und Besserung bzw. Linderung. Entsprechend hat sich die gesellschaftliche Einstellung gegenüber psychiatrisch erkrankten Menschen verändert, die Behandlungsformen sind andere geworden, man hat erkannt, wie wichtig Arbeit und selbstbestimmtes Wohnen für diese Menschen sind (wie für alle anderen auch). Trotz solcher positiver Entwicklungen: Es bleibt zunächst dabei, dass die Gesprächspartner und -partnerinnen, mit denen wir es in der Seelsorge in Psychiatrie und Gerontopsychiatrie zu tun haben, auf spezifische Weise vom Leben belastet und in ihren Kommunikationsfähigkeiten eingeschränkt sind, so dass sie auf andere erst einmal fremd und befremdlich wirken – in dieser Fremdheit liegt die besondere Herausforderung, der sich die Seelsorge zu stellen hat, der sich Angehörige zu stellen haben, der sich die pflegerisch-medizinischen Dienste zu stellen haben.

1. Die Herausforderungen des Kontextes

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Die Herausforderung sehe ich als eine dreifache: 1. Die Menschen, auf die wir in Psychiatrie und Gerontopsychiatrie treffen, sind – sehr pauschal gesagt – in ihrem Kommunikationsverhalten eingeschränkt, gestört, anders, als wir es aus dem Alltag kennen. Mit schwer depressiven Menschen ins Gespräch zu kommen, ist häufig unmöglich, als schizophren diagnostizierte Menschen erscheinen manchmal ziemlich sprunghaft und wir verstehen ihre Symbolsprache nicht, demente Menschen leben in einer eigenen Welt, zu der andere oft kaum Zugang finden. Gelingt es den Seelsorgenden, sich auf diese anderen, fremden Sprach- und Vorstellungswelten einzulassen? Können sie, trotz der Kommunikationsschwierigkeiten, mit ihnen in Kontakt kommen? 2. Die zweite Herausforderung ist damit schon angedeutet: Wir, die wir Seelsorge oder pflegerisch-ärztliche Hilfe anbieten, stoßen in diesem Kontext mit unseren etablierten Rollen, mit unseren professionellen Fähigkeiten, mit unseren therapeutischen Kommunikationsstrategien an Grenzen, die für uns selbst schwer zu überwinden sind. Ich erinnere mich lebhaft an folgende Szene: Ein junger, als schizophren diagnostizierter Mann begrüßte den Chefarzt, der in der Visite immer etwas gespreizt und gravitätisch daher kam, fröhlich lachend mit »hallo Margarete«, so dass die umstehenden Assistenzärzte und Pfleger sich nur mühsam das Lachen verkneifen konnten. Wir Umstehenden waren nicht sicher, ob sich darin seine Erkrankung spiegelte oder ob er es bewusst – und d.h. mit dem Bewusstsein: Ich gelte ja als verrückt, deswegen kann ich mir das leisten – getan hatte. In jedem Fall hatte er das ganze Getue der traditionellen medizinischen Hierarchie auf diese Weise wundervoll ad absurdum geführt – und der Chef war erst einmal ein paar Augenblicke sprachlos. Anders gesagt: Die Vorstellungen von Heilung, von Entwicklung und Wachstum, von zunehmender Integration der Persönlichkeit – Vorstellungen, die wir auch in der Seelsorge von der humanistischen Psychologie übernommen haben – werden in der Begegnung mit psychiatrischen und gerontopsychiatrischen Menschen in vielen Fällen als unrealistische Ideale entlarvt. Und dann sind die Professionellen am Ende mit ihrem Latein, werden vorübergehend sprachlos – und erleben das als kränkend und frustrierend. 3. Drittens sollten wir uns klar machen, wie tief der Einschnitt für die Patienten und Patientinnen mit einer Einweisung in eine psychiatrische oder geriatrische Klinik ist: Ihre vertraute Umgebung, die damit verbundenen persönlichen Gewohnheiten müssen sie aufgeben, das Zimmer mit einem oder mehreren völlig fremden Menschen teilen, ihre bisherigen bürgerlichen und beruflichen Rollen spielen keine Rolle mehr, was ihnen bislang Halt und Orientierung gegeben

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hat, dass sie Installateur, Rechtsanwaltsgehilfin, Lehrer oder Postbeamtin waren und sind, bricht weg und hat nur noch eine nebensächliche Bedeutung. Vorrangig sind sie jetzt nur noch psychiatrische Patienten, ein Status, der in der Öffentlichkeit immer noch mit sehr abwertenden Bezeichnungen belegt wird, der für die Angehörigen leider immer noch beschämend ist, wenn sie anderen sagen müssen »mein Mann oder meine Frau ist in der psychiatrischen Klinik«. Die Patienten leben auf einer Station mit etwa 20 anderen Menschen, denen es ebenfalls schlecht geht, die selber unruhig sind, so dass sie sich noch zusätzlich gegenseitig belasten; u.U. ist auch noch die Tür abgeschlossen, was den inneren Druck, Gefühle von Angst, Hilflosigkeit und Verwirrung erheblich erhöht. In diesem Kontext ist Seelsorge angesiedelt. Die Herausforderung besteht darin, den Kontext genau wahrzunehmen, dann tun sich vielleicht auch Chancen auf. 2. Was ist Seelsorge und welche Möglichkeiten hat sie in diesen Kontexten? Seelsorge verstehe ich als Angebot der Kirche, einzelne Menschen im Horizont des christlichen Glaubens zu begleiten, ihnen auf Augenhöhe von Mensch zu Mensch begegnen und ihnen beim Verstehen und Deuten ihres Lebens behilflich zu sein. Im Unterschied zu anderen Berufsgruppen, die in der Regel klar definierte Ziele für ihre Berufstätigkeit haben, geschieht Seelsorge erst einmal ziemlich absichtslos: Der Seelsorger muss nicht wie der Arzt eine psychiatrische Diagnose erheben, die Seelsorgerin muss nicht wie die Sozialarbeiterin das soziale Umfeld erfragen, sie kann einfach da sein und sehen, ob Menschen ihre Person, ihre Gegenwart gebrauchen können. Diese schwierige, auf den ersten Blick unklare Rolle, die für die Seelsorgenden nicht immer leicht auszuhalten ist, stellt zugleich die besondere Chance der Seelsorge dar: Die Patienten und Patientinnen treffen auf eine Person, die keine schon festgelegte Funktion hat, sondern für Vieles offen ist, sie können über Alltägliches plaudern, gemeinsam spazieren gehen oder Karten spielen, sie können aber auch schnell auf zentrale Lebensfragen zu sprechen kommen – ohne dass daraus gleich medizinische Konsequenzen erwachsen würden. Während es im Kontakt mit den Professionellen in diesen Arbeitsfeldern tendenziell so ist, dass die das Thema und die Richtung des Gesprächs bestimmen, können im Kontakt mit der Seelsorge die Patienten vorgeben, worüber sie sprechen möchten und worüber nicht. Zusätzlich wissen sie, dass Seelsorge einer besonderen, über die normale Teamschweigepflicht hinausgehenden Schweigepflicht unterliegt, das ermöglicht oftmals einen erstaunlichen

2. Was ist Seelsorge und welche Möglichkeiten hat sie in diesen Kontexten?

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Vertrauensvorschuss und große Offenheit. (Wie die Seelsorgenden mit dieser Schweigepflicht umgehen, wenn sie in einem Stationsteam mitarbeiten wollen, ist dann ein gesondertes Thema, das viel Fingerspitzengefühl erfordert.) Diese Offenheit der Seelsorge hat nun aber doch eine bestimmte inhaltliche Ausrichtung, die ich gern mit dem Stichwort vom »Horizont des christlichen Glaubens« kennzeichne. Eine Seelsorgeperson bringt diesen Horizont des Glaubens in jedem Fall mit: Wenn sich einer vorstellt und sagt »Ich bin Pfarrer XY« oder »Ich komme von der evangelischen Kirche« dann ist klar, dass diese Person Religion repräsentiert, sozusagen Gott mitbringt, dass die Fragen nach dem Sinn und der Bestimmung des Lebens, was man glauben und hoffen kann, ihr besonders am Herzen liegen und bei ihr gut aufgehoben sind. Seelsorge will niemanden zum Glauben überreden, geschweige denn dahin manipulieren, aber sie will in besonderer Weise offen sein für das Suchen und Fragen, das Menschen beschäftigt, und ihrerseits Angebote machen, von denen sie vermutet, dass sie hilfreich für die Krankheits- und Lebensbewältigung sein könnten. Mit dieser besonderen Aufmerksamkeit auf religiöse oder spirituelle Themen des Lebens unterscheidet sich Seelsorge von anderen Diensten in der Klinik. Ein Beispiel: Eine Schwester sagte über einen Patienten »Jetzt fängt er wieder an zu spinnen, er liest in der Bibel«. Sie kannte ihn lange und es stimmte, dass sich psychotische Episoden bei ihm meistens einstellten, wenn er begann, in der Bibel zu lesen. Die Schwester aber hatte keine Ahnung, was der Mann las, warum ihm das gerade jetzt wichtig wurde – und da ihr selber die Bibel völlig fremd war, wäre sie auch gar nicht in der Lage gewesen, mit ihm darüber ins Gespräch zu kommen. Ich bin dann zu dem Mann hingegangen und habe ihn auf seine Bibellektüre angesprochen. Er las in der Apokalypse des Johannes, fühlte sich durch diesen Text in seinen wahnhaften Ängsten vor einem Weltuntergang bestätigt und bestärkt, zugleich schien er erfreut, dass jemand Interesse für diese Seite seines gegenwärtigen Lebens zeigte, und es nicht einfach als verrückt abqualifizierte. Ich habe versucht ihn darauf hinzuweisen, dass es neben den z.T. schrecklichen Gerichtsszenen in der Apokalypse auch ganz andere Geschichten in der Bibel gibt; das wusste er, aber es erreichte ihn nicht wirklich. Wichtig war in dieser Situation, dass ihn überhaupt jemand ernst nahm in seinem Bemühen, die Bibel und sein Leben in einen Zusammenhang zu bringen. Damit ist angedeutet, dass Seelsorge bei aller Absichtslosigkeit natürlich auch Ziele verfolgt, nämlich das Ziel, die Lebens- und Glaubensgewissheit von Menschen zu stärken. Im Anschluss an 1Kor 13 könnte man auch sagen: Seelsorge will dazu beitragen, dass Menschen (wieder) glau-

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VII Belastet – Eingeschränkt – Krank – Gezeichnet – Ausgeschlossen

ben, lieben und hoffen können, dass sie ihren Glauben bzw. ihre Suche nach Orientierung zum Thema machen können, darin gestärkt werden und zugleich weiterführende Anstöße erhalten; dass sie Zuwendung, Liebe erfahren und zugleich ihre eigene Liebesfähigkeit und Beziehungsfähigkeit gestärkt wird; und dass ihre Hoffnung unterstützt wird: Ihre Hoffnung auf Besserung ihres Zustandes oder wenigstens auf Linderung, vielleicht aber auch die Hoffnung auf ein »seliges Ende«. An den Grenzen des Lebens – und das sind häufig Krankheitssituationen – brechen zentrale Lebensfragen auf: Wer bin ich ohne meine bürgerliche, berufliche Rolle? Wer bin ich, wenn andere mich als verrückt bezeichnen? Was hat es mit meinem Leben auf sich? Worauf kann ich mich noch verlassen, wenn alle Stützen des Alltags brüchig geworden sind? Was kann ich glauben und hoffen? Solche Fragen sind unausgesprochen meistens auch religiöse Fragen, wenn man Religion versteht als den Versuch, das Leben zu sehen unter dem Aspekt seiner letztgültigen Herkunft und Bestimmung. Wenn nun aber solche Fragen in der psychiatrischen oder gerontopsychiatrischen Situation nicht unbedingt in einem längeren Gespräch verhandelt und erörtert werden können, wie eingangs gesagt, welche Möglichkeiten, welche Formen bleiben der Seelsorge dann? Einige Stichworte wähle ich aus: Präsenz, Rituale, Validation und spirituelle Begleitung 1. Präsenz meint schlicht und ergreifend, dass die Seelsorgeperson regelmäßig und verlässlich anwesend ist, ansprechbar, zugänglich und berührbar (im äußeren wie im übertragenen Sinn) ist. Das Stationspersonal wechselt von Schicht zu Schicht, manche Patienten tun sich mit diesem ständigen Wechsel schwer – die Seelsorgeperson bleibt dieselbe, diese Kontinuität ist gerade im Blick auf alte Menschen, auch demente Menschen, nicht zu unterschätzen. Die Präsenz der Seelsorge hat außerdem eine symbolische Dimension: Seelsorge bringt gewissermaßen Gott mit, repräsentiert Transzendenz – wenn die Seelsorgerin als zugewandt und verlässlich erlebt wird, wird das auch auf Gott, für den sie steht, übertragen. Wenn man das so feststellt, erweist es sich natürlich als ein Problem, dass nur relativ wenige Personen in der Krankenhaus- und Altenheimseelsorge tätig sind. Wie soll jemand verlässliche Präsenz zeigen, wenn er formal für 300 oder 500 oder sogar noch mehr Menschen zuständig ist? Das ist ein strukturelles Problem, für das es keine Lösung gibt und das die grundsätzliche Bedeutung einer verlässlichen Präsenz nicht schmälert. Ehrenamtliche in die Seelsorgearbeit einzubeziehen, ist zumindest ein Schritt, der das angedeutete Problem reduziert.

2. Was ist Seelsorge und welche Möglichkeiten hat sie in diesen Kontexten?

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2. Die Bedeutung von Ritualen haben wir erst in der letzten Zeit wieder entdeckt, nachdem im Zuge der 68er Bewegung beinahe nur Spontaneität und Originalität zählten und alles Altehrwürdige und Feststehende abgewertet wurde (was damals eine notwendige und heilsame Wirkung hatte!). Rituale kann man definieren als im Ablauf festgelegte, wiederholbare Symbolhandlungen. Der symbolische Überschuss der Handlung ist wichtig, er unterscheidet das Ritual von der reinen Gewohnheit: Das Zähneputzen stellt eine Gewohnheit dar, bei einer Mahlzeit eine Kerze anzuzünden, kann ein Ritual sein, das auf den besonderen Moment im Tagesablauf aufmerksam macht. Der besondere Vorteil von Ritualen liegt darin, dass sie sich nicht über das kognitive Verstehen erschließen, sondern über den Mitvollzug. Deswegen haben Rituale für Kinder und verwirrte alte Menschen eine so große Bedeutung. Wenn man sich vom Vollzug eines Rituals tragen lässt, spürt man u.U. etwas von seiner Wirkung, auch wenn man nicht wirklich versteht, was da passiert. Wenn in einer Familie regelmäßig eine Kerze angezündet und ein Moment der Stille eingehalten wird, bevor man mit dem Essen beginnt, verstehen auch kleine Kinder, dass damit etwas Besonderes ausgedrückt werden soll, auch wenn sie das noch nicht in Worte fassen können. So haben auch viele Seelsorgende die zunächst überraschende Erfahrung gemacht, dass demente Menschen, mit denen man kaum ein Gespräch führen kann, laut und deutlich einen Choral mitsingen oder ein Vaterunser mitbeten können. Auch wenn der Inhalt eines Gebets wahrscheinlich an Vielen von ihnen vorbei geht, die damit verbundene Körperhaltung, den Kopf zu senken, die Hände zu falten, können sie mit vollziehen und auf diese Weise etwas spüren von dem, was ein Gebet bedeutet. 3. Das Konzept der Validation, von der Amerikanerin Naomi Feil entwickelt, verfolgt das Ziel, desorientierte, geängstigte Menschen nicht in eine wie auch immer vorgestellte Normalität zurückführen zu wollen, sondern den Versuch zu machen, in die innere Erlebenswelt, in die Gefühlswelt des anderen Menschen hineinzugehen. »Statt einer Verunsicherung durch die Konfrontation mit der Realität erfährt der alte Mensch … eine Annahme, Akzeptanz und Wertschätzung (= Validation) seiner Person im aktuellen Zustand.«128 Die Nähe zur Annahme und Wertschätzung, wie sie in der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie praktiziert wird, ist offensichtlich. Ein kleines Beispiel:129 Ein Vikar besucht eine alte Dame im Altenheim. Als er eintritt sagt sie zu ihm: »Gut, dass du kommst …, du glaubst gar nicht, was sich diese Schwestern alles erlauben«. 128 Ruben Zimmermann, Seelsorge bei altersverwirrten Menschen, Berliner Hefte für evangelische Krankenhausseelsorge Nr. 66, Berlin 1999, 12. 129 Aus Zimmermann, ebd., 22.

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Darauf der Vikar (mit etwas erhobener Stimme): »Frau G. ich heiße Zimmermann und bin Vikar der ev. Kirchengemeinde.« Die alte Dame reagiert erschreckt und verwirrt. Der Vikar konfrontiert in bester Absicht die Frau mit der Realität, er widerspricht ihrer Wahrnehmung und verwirrt sie damit zusätzlich. In einem Alltagsgespräch wäre eine solche Richtigstellung sicher notwendig und angemessen, bei gerontopsychiatrischen Patienten löst sie Verwirrung aus. Eine validierende Reaktion wäre gewesen, zunächst auf die Empörung der Frau über die Schwestern einzugehen, und dann im weiteren Gespräch darauf zu achten, ob er seine Rolle verdeutlichen kann. Aber selbst, wenn ihm das nicht gelingt: Wäre es so schlimm, wenn die Frau keine Ahnung hat, dass sie es mit einem Vikar zu tun hat, dafür aber das Gefühl bekommt, dass er ihr Gefühl der Empörung teilt? Hinter dem Konzept der Validation steht die Vorstellung, dass das auf den ersten Blick verrückte Verhalten der dementen Menschen eine für die Außenstehenden verborgene Sinnhaftigkeit enthält: Vielleicht haben die Schwestern etwas getan – aus der Logik der Pflege tun müssen – was der Frau fremd und befremdlich war, dann ist ihre Empörung erst einmal verständlich. Oder Menschen ziehen sich aus einer für sie schmerzhaften, weil verwirrenden Gegenwart zurück in eine Vergangenheit, die von angenehmeren Gefühlen geprägt war. Wenn man es so sieht, bekommt die Verrücktheit gleich einen anderen Stellenwert. 4. Seelsorge kann eine Form der spirituellen Begleitung praktizieren, die über traditionelle christlich-kirchliche Formen der Glaubensgestaltung hinausgeht. Mit Spiritualität bezeichne ich eine Grundeinstellung, die jedes einzelne Leben in einem Zusammenhang mit allem anderen und mit dem Geheimnis des Lebens, mit Gott sieht. Eine spirituelle Haltung ist darauf aus, im anderen Menschen wie in alltäglichen Ereignissen das Göttliche zu entdecken und ihm staunend oder dankend oder nachdenklich zu begegnen. Aus dieser Haltung wächst Respekt und Wertschätzung des anderen Menschen, gerade auch des eingeschränkten und behinderten Menschen. Eine spirituelle Haltung kann explizite Gestalt gewinnen in einem Gebet, einem Segen, einem Lied, dem Zitieren eines Bibelverses. Sie kann aber auch implizit, sozusagen inkognito daher kommen in der Art und Weise, wie die Seelsorgenden oder die Pflegenden mit den kranken Menschen umgehen. In einer beeindruckenden Broschüre aus der Schweiz für den Umgang mit demenzkranken Menschen unter dem bezeichnenden Titel »Das Leben heiligen«130 trägt das 130

Anemone Eglin u.a., Das Leben heiligen. Spirituelle Begleitung von Menschen mit Demenz. Ein Leitfaden, Zürich ²2006.

3. Was ist der Mensch? Anthropologische Aspekte

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längste Kapitel die Überschrift »Spirituelle Begleitung im Alltag«: Und dann kommen Hinweise auf viele alltägliche Vollzüge wie Körperpflege, gemeinsames Essen gestalten, zusammen spielen, Ausflüge unternehmen, mit der Lebensgeschichte der Betroffenen arbeiten, Übergänge gestalten – und immer wieder gibt es bei der Beschreibung dieser alltäglichen Dinge kleine Hinweise, wie hier – gewissermaßen nebenbei und ohne Aufhebens – Zuwendung und Wertschätzung gegenüber den dementen Menschen Ausdruck finden kann, die sich letztlich aus der Gewissheit speist, dass auch diese Menschen liebenswerte Geschöpfe Gottes sind. Seelsorge sollte diese Haltung in besonderer Weise praktizieren und vielleicht versuchen, sie an andere weiter zu vermitteln. Eine solche spirituelle Haltung ist nicht an kirchliche Beauftragung und Anstellung gebunden, sondern kann von allen übernommen werden, die dem Leben ehrfurchtsvoll begegnen. 3. Was ist der Mensch? Anthropologische Aspekte Wir leben in einer Gesellschaft, in der Jugendlichkeit, Schönheit und Leistungsfähigkeit zu den zentralen Werten zählen, durch die Menschen Anerkennung finden. »Du bist ja toll fit«, »Du siehst gut aus« und die Selbstauskunft, dass man wahnsinnig viel zu tun habe, sind so eine Art von Qualitätsmarken, die andere uns verleihen oder die wir uns selbst geben. Zentral dabei ist die unausgesprochene Annahme, dass man es selbst in der Hand hat, wie es einem geht, wie man aussieht, wie man anderen gegenüber tritt. Alles erscheint machbar. Der Philosoph Odo Marquard hat es ironisch so formuliert: »Wir leben im Zeitalter der Machbarkeit. Erst wurde nichts gemacht, dann wurde einiges gemacht, heute wird alles gemacht … Der Weg führt … vom Schicksal zum Machsal«.131 Stichworte wie »gelingendes Leben«, »erfolgreiches Altern« oder »produktives Altern« oder das dümmliche Wort vom »Unruhestand« spiegeln ein Verständnis, demzufolge Leben als Ganzes und Altern insbesondere nur einen Wert hat, wenn man ständig produktiv ist, wenn es immer weitergehende Entwicklung und nicht Stillstand gibt, wenn es nach außen hin stimmig und überzeugend wirkt, und dass es weitestgehend an den Subjekten selbst liegt, ob sie diese Ziele erreichen.132 131

Odo Marquard, Ende des Schicksals?, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1987, 67–90, 67. 132 Vgl. G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2004; Wolfgang Drechsel, Das Schweigen der Hirten? Altenseelsorge als (kein) Thema poimenischer Theoriebildung, in: Seelsorge im Alter, hg. von S. Kobler-von Komorowski und H. Schmidt, Heidelberg ²2006, 45–63.

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Alte, verwirrte und psychische belastete Menschen können da oft nicht mithalten: sie gehören dann schnell zu den Randgruppen der Gesellschaft, schauen vom Rand aus zu, machen aber selber nicht (mehr) mit und werden deshalb potentiell als Belastung und Störung gesehen. Christliche Seelsorge kommt mit einem Menschenbild zu denen, die sie begleiten will, das in einem deutlichen Kontrast steht zu dem, was gegenwärtig in postmodernen Zeiten en vogue ist. Dieses Menschenbild gilt es, den Betroffenen erfahrbar zu machen und in der Öffentlichkeit, gerade auch der Öffentlichkeit einer Klinik, zu vertreten. Einige Akzente dieses Menschenbildes will ich im Folgenden skizzieren: 1. Leben ist Gabe Leben wird uns gegeben – und zwar nicht nur im einmaligen Akt der Geburt, sondern immer wieder: Kinder gedeihen nur, wenn sie von ihren Eltern und Bezugspersonen liebevoll und wertschätzend angesehen und behandelt werden; eine flexible Identität kann sich nur entwickeln, wenn Menschen erleben, dass ihnen Vertrauen entgegen gebracht wird, lieben kann man nur, wenn man geliebt worden ist. Von Martin Buber stammt der Satz: Leben heißt angesprochen werden. D.h. wir sind zutiefst abhängig und angewiesen, das Entscheidende im Leben wird uns entgegen gebracht, wir stellen es nicht selbst her. Deswegen heißt es in der christlichen Tradition, dass Gott, der Grund des Lebens, Liebe ist und mit dieser Liebe auf uns zukommt. Im Rahmen dessen, was uns vorgegeben ist, müssen und dürfen wir natürlich unser Leben gestalten, es in die Hand nehmen, seine Ressourcen entdecken und entfalten. Gelingt es uns, diese Spannung von Angewiesenheit und Gestaltungsfreiheit in der Balance zu halten? Unsere Gesellschaft verleugnet die Abhängigkeit weitgehend und setzt ganz auf die Machbarkeit, die christlichen Kirchen betonen manchmal die Abhängigkeit zu stark und ausschließlich. Auch in psychiatrischen Krankheitsbildern kann man die Spannung wiederfinden: Depressive Menschen verzweifeln vor der Herausforderung und Verantwortung selbstständiger Lebensgestaltung; manisch Erkrankte verleugnen die Abhängigkeit in grandioser Selbstüberschätzung. Seelsorge hat die Aufgabe, zu einer guten Balance beider Pole beizutragen: Leben ist Gabe – und mit dieser Gabe kann und soll man etwas anfangen (denken Sie an das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden, Lk 19,11–27). 2. Leben und Gesundheit sind immer Fragment Die Vorstellung, dass etwas perfekt sei, vollkommen und fehlerfrei, stammt aus den Naturwissenschaften, aus der Technik; dem menschlichen Leben ist sie fremd, dort ist sie nicht vorgesehen. Leben ist immer endlich, vorläufig, brüchig. Krankheit und Sterben führen uns besonders

3. Was ist der Mensch? Anthropologische Aspekte

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drastisch die Fragmenthaftigkeit des Lebens vor Augen: Der Tod, das Absterben von Zellen, beginnt bereits mit der Geburt! Die Religionen thematisieren diese Einsicht immer wieder. Sie behaupten, dass die Anerkennung der Fragmenthaftigkeit des Lebens ein wichtiger Bestandteil einer Lebensweisheit sei: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden« (Ps 90). Darin ist die Annahme enthalten, dass diejenigen, die diese Begrenztheit des Lebens aus den Augen verlieren, irgendwie dumm sind, dass sie etwas Wesentliches nicht sehen. Der französische Schriftsteller Andre Gide hat einmal gesagt, dass ihm Menschen, die nie krank waren, etwas beschränkt vorkommen, wie solche, »die nie gereist sind«. Zur Fragmenthaftigkeit des Lebens gehört dann auch, dass es Gesundheit nur als bedingte, momentane und bruchstückhafte gibt. Sie ist Teil des Lebens und nicht dieses selbst. Krankheit und Gesundheit sind keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern stellen ein fließendes Kontinuum dar. Irgendwo auf der Linie zwischen sehr krank und sehr gesund bewegt sich jeder Mensch: Schon ein Schnupfen kann das Gefühl, gesund zu sein deutlich einschränken, wie umgekehrt jemand, der medizinisch gesehen schwer krank ist, durch eine gute Einbindung in eine Familie oder ein Netz von Freunden sich gar nicht so krank fühlen mag. In der Psychiatrie und Geriatrie begegnen uns die Fragmenthaftigkeit des Lebens, auch die Begrenztheit der Hilfsmöglichkeiten besonders eindringlich: Bei psychiatrischen Krankheiten sind schon die Diagnosen häufig umstritten, entsprechend ist die Frage der Medikamentierung ein oft unsicherer Prozess, man kann nichts operieren, die Möglichkeiten von Psychotherapie sind begrenzt. Und in der Geriatrie zeigt sich, dass die in der Literatur häufig erhobene Forderung, im Alter müsse es zu einer abschließenden Integration der Lebensphasen kommen, ein lebensfremdes Ideal bleibt, dem viele Menschen nicht entsprechen können. Einsicht in die Fragmenthaftigkeit des Lebens und auch aller therapeutischer Bemühungen könnte dazu beitragen, bescheidener zu werden in den eigenen Ansprüchen, keinen neuen Leistungsdruck aufzubauen im Blick auf Erwartungen an Heilung und Gesundheit – ich bin überzeugt, dass dies zu größerer Gelassenheit führen kann, die wiederum dem Kontakt zwischen Patienten und Pflegenden zugute kommt. 3. Leiden ist Bestandteil des Lebens – und nicht sein Gegenteil Dieser Satz ist im Vorherigen im Grunde schon enthalten; ich nenne ihn gesondert, weil er in einer »Kultur des Narzißmus« (Chr. Lasch) wie der unsrigen in den Hintergrund gedrängt wird. Der Psychoanalytiker H.E.Richter hat gesagt, diese Gesellschaft leide an der Krankheit, nicht leiden zu können.133 »Die totale Auslöschung des Leidens wurde ... zu 133

H.E. Richter, Der Gotteskomplex. Reinbek 1979, 129ff.

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einem vorrangigen gesellschaftlichen Ziel als Kehrseite des Dranges nach narzißtischer Omnipotenz. Die absolute Selbstsicherheit als Rettung vor der verzweifelten Verlorenheit verlangt eine beständige Abwehr der Brüchigkeit, der Versehrbarkeit, des Sterbenmüssens.« (129) Leiden, Schmerzen, Einschränkungen werden von Vielen als Gegenteil des Lebens begriffen, als etwas, das das Leben bedroht, einschränkt und nicht mehr lebenswert macht. Eine Gesundheitsdefinition wie die der WHO, wonach Gesundheit einen »Zustand vollständigen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens« bezeichnet, hat dazu beigetragen, dass man in unserer Gesellschaft meint, einen Anspruch auf eine solche Leidfreiheit zu haben. Wenn dagegen die Begrenztheit und Brüchigkeit des Lebens anerkannt wird, dann wird auch das Leiden zu einem Bestandteil des Lebens; es muss dann nicht in jedem Fall ein Feind des Lebens sein, muss nicht in jedem Fall eine Minderung von Lebensqualität bedeuten, sondern kann vielleicht sogar zur Vertiefung des Lebens, zur Bereicherung von Beziehungen beitragen. Sicher muss man das als Außenstehender mit großer Vorsicht sagen, um nicht einer sadistisch-masochistischen Leidensverherrlichung das Wort zu reden; das ist leider in der Geschichte der Kirchen viel zu häufig geschehen. Dem steht aber gegenüber, dass es psychoseerfahrene Menschen gibt, die sagen, dass sie durch die Erfahrung der Psychose auf neue Weise sich selbst gefunden haben, zu neuen Einsichten über sich selbst und die Welt gekommen sind. Eine junge Frau spricht von ihrer Psychose als einer »neuen Geburt«, durch die sie selbstkritischer und realistischer geworden sei.134 Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang an alle richtet, die psychiatrisch oder geriatrisch erkrankte Menschen behandeln und begleiten, scheint mir zu sein, wie wir zu Krankheit und Leiden stehen, ob sie uns so verunsichern, dass wir sie durch ein Höchstmaß an Aktivität möglichst schnell »wegmachen« wollen, oder ob wir auch mal warten, auch einmal nichts tun können, ob wir unsere eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht in vielen Situationen wahrnehmen und annehmen können. Eine solche Ehrfurcht vor dem kranken Menschen und der Krankheit könnte Ausdruck einer seelsorglich-spirituellen Haltung sein, von der ich oben gesprochen habe. Christliche Seelsorge arbeitet auf der Basis solcher anthropologischer Einsichten; damit ist sie zunächst ein Fremdkörper in der Klinik, vielleicht können sich daraus auch Chancen ergeben.

134

Zitiert bei Renate Schernus, Verrückt – subjektives Erleben und Bewältigung schizophrener Psychosen, in: Sozialpsychiatrische Informationen 1992, H. 3, 22ff.

4. Ort und Funktion der Seelsorge in der Institution Krankenhaus

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4. Ort und Funktion der Seelsorge in der Institution Krankenhaus Im System Krankenhaus mit seiner naturwissenschaftlich-medizinischen Logik ist Seelsorge als eine Form kirchlichen Handelns nicht vorgesehen; im Stellenplan der Klinik erscheint Seelsorge in aller Regel nicht, sie ist strukturell gesehen überflüssig. Aus verschiedenen Gründen könnte es jedoch eine Chance für ein Krankenhaus sein, einen seelsorglichen Dienst zu haben: 1. Seelsorge hat eine Außenseiterposition – und eine solche Position kann wichtig sein, um die kaum vermeidbare Systemblindheit derer, die ständig hier arbeiten, zu korrigieren oder aufzulockern. Die Leiterin einer psychiatrischen Klinik in Bethel pflegte zu sagen: »Die wichtigsten Leute unter den Mitarbeitenden bei uns sind die Praktikanten. Wir Professionellen werden nach einer Weile routiniert und systemblind, den Praktikanten fallen die Merkwürdigkeiten unseres Betriebs noch auf – das müssen wir nutzen.« Etwas Ähnliches gilt für die Seelsorge: Sie kommt von außen mit einem fremden, nicht schon psychiatrisch vorgebildeten Blick und sieht manches anders, als die, die hier ständig ihre Arbeit tun. So ist Seelsorge z.B. nicht so sehr an den spezifischen Krankheiten, die die Patienten haben, interessiert, sondern an der Person als ganzer: Was ist das für ein Mensch? Was treibt ihn um? Was beschäftigt ihn zentral? Was glaubt und hofft er/sie? Was macht ihm Angst? Wie sehen seine Beziehungen und sein Umfeld aus? Usw. Diese relativ zweckfreie Sichtweise kann eine Bereicherung eines klinischen Blicks sein, der manchmal Gefahr läuft, zu verengt zu sein.135 2. Zu dem weiten Blick der Seelsorge gehört zu sehen, dass viele Menschen religiöse oder spirituelle Fragen mit sich herumtragen und es deswegen wichtig ist – gerade in einer psychiatrischen Klinik – einfühlsam darauf einzugehen. Wichtige Lebensthemen bzw. -fragen können belasten, wenn man sie nicht aussprechen kann, und sie können zur Entspannung und inneren Gelassenheit beitragen, wenn sie ernst genommen werden. In den letzten Jahren ist der Zusammenhang von Religion oder Spiritualität und Gesundheit bzw. Heilung wieder neu in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Die Hinweise mehren sich, dass eine religiöse oder spirituelle Einstellung oder mindestens die Auseinandersetzung mit religiösen Fragen für das sog. Coping, für die Bewältigung von Krankheit durchaus von Bedeutung ist. In einem amerikanischen Text zu diesem Thema heißt es, dass Kliniken nicht nur Reparaturwerkstätten für bestimmte Krankheiten sein dürfen, sondern sich dem ganzen Menschen zuwenden müssen. Das gilt gerade bei psychiatri135

Vgl. Klaus Dörner, Brief an einen Anfänger in der Psychiatrie, in: ders., Kieselsteine. Ausgewählte Schriften, Gütersloh 1996, 165–175.

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schen Erkrankungen, die man früher ja auch als Geisteskrankheiten bezeichnet hat, man könnte sagen, als Krankheiten, in denen die Lebensorientierung von Menschen durcheinandergerät oder abhandenkommt. Menschen bei der Suche nach einer tragfähigen Lebensorientierung zu begleiten, ist eine Aufgabe der Seelsorge, die dann auch für die Klinik als Ganze bedeutsam sein kann. 3. Seelsorge kann einen Beitrag zur Atmosphäre auf einer Station leisten, der nicht zu unterschätzen ist. Menschen, deren kognitive Fähigkeiten mehr oder weniger stark eingeschränkt sind, spüren häufig deutlicher, als uns das bewusst ist, die Atmosphäre, in der sie leben: Ob es liebevoll, aufmerksam und gelassen zugeht, oder hektisch, latent aggressiv und angestrengt, ob es hilfreiche Strukturen gibt, die Orientierung geben oder planloses Chaos oder eine strenge Hierarchie, die alle Spontaneität erstickt. Aus einer Klinik kenne ich folgende Struktur: Morgens gibt es eine fachlich orientierte Morgenrunde: Sie ist sinnvoll, damit die Patienten und das Personal einander sehen, miteinander in Kontakt kommen, Anliegen und Wünsche präsentieren können, und die Beteiligten einen ersten Überblick bekommen. Meistens geht es unruhig zu, es braucht immer eine Zeit, bis alle einander zuhören. Abends wird ein kurzes, ca. 8minütiges Abendgebet angeboten: Im Tagesraum brennt eine Kerze, die Patienten wissen, dass hier Schweigen erwünscht ist, man kann zur Ruhe kommen (auch wenn das nicht immer gelingt), der Ablauf ist der immer gleiche, man kann sich geborgen fühlen und damit den Tag beschließen. Ein kleines Ritual und ein nicht unwichtiger Beitrag zur Atmosphäre auf einer Station. 4. Seelsorge kann einen Beitrag dazu leisten, psychiatrisch bzw. gerontopsychiatrisch erkrankte Menschen sowie die Kliniken, in denen sie behandelt werden, besser an die Gesellschaft anzuschließen. Das Stichwort Psychiatrie und alles was damit zusammenhängt, ist immer noch mit vielen Ängsten und Vorurteilen behaftet, so dass sich psychiatrisch Erkrankte häufig als ausgestoßen und stigmatisiert erleben. Eine Vernetzung der klinischen Arbeit mit den Ortsgemeinden der Kirchen durch Informationsangebote, wechselseitige Besuche und gemeinsame Veranstaltungen könnte Ängste und Vorurteile abbauen helfen und diese Arbeitszweige der Medizin im Bewusstsein der Bevölkerung als weniger problembehaftet darstellen. Wenn man die Bedeutung der Seelsorge in der Institution Krankenhaus so einschätzt, wie ich das hier anspreche, wäre die Folge, sie auch strukturell besser zu integrieren, indem sie z.B. auf ein oder zwei Stationen intensiver in ein Team von Mitarbeitenden eingebunden wird als das sonst möglich ist. Da könnte dann exemplarisch praktiziert werden, wie die Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen möglich ist und was die verschiedenen Perspektiven voneinander haben. Auch die Möglich-

5. Schluss

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keiten einer Refinanzierung der Seelsorge durch die Klinik bzw. ihre Träger müsste dann erörtert werden. 5. Schluss Der schwer körperbehinderte Fredie Saal schreibt in einem langen Brief an den damaligen Direktor des Landeskrankenhauses Gütersloh Prof. Dr. Klaus Dörner: »Als wirklich schwerbehinderter Mensch, der nur mit allergrößten Schwierigkeiten ohne die Hilfe anderer den Alltag überstehen könnte, habe ich das Recht, ja die Pflicht, mich meiner Umwelt zuzumuten. Ich bin ein Teil des Ganzen im menschlichen Kosmos. Ich trage dazu bei, dass niemand vergisst, dieses Ganze zu sehen, wie ich auch von anderen mit ihrer eigenen Individualität darauf gestoßen werde, in ihnen einen Teil des Ganzen zu sehen, ohne den es den Menschen nicht gibt in seiner Totalität.«136 Psychiatrisch oder gerontopsychiatrisch erkrankte Menschen könnten etwas Ähnliches sagen: Sie haben das Recht und die Pflicht, sich den anderen zuzumuten und sie daran zu erinnern, dass sie Teil des ganzen menschlichen Kosmos sind. Und wir, die auf den ersten Blick weniger belasteten und behinderten, brauchen diese Zumutung offenbar immer wieder. Wir müssen immer neu darauf gestoßen werden, dass Menschsein nicht nur heißt, jung, schön, leistungsfähig, selbstständig und unabhängig zu sein, sondern dass Krank- und Behindertsein, Altern und Vergänglichkeit Bestandteile des Lebens sind. D.h. wir müssen unsere Lebensbilder überprüfen. Die Humanität einer Gesellschaft wie auch der Kirchen hängt entscheidend daran, wie wir mit den Belasteten und Eingeschränkten umgehen, wie wir verhindern, dass sie gezeichnet und ausgeschlossen werden.

136

Abgedruckt in: Klaus Dörner, Tödliches Mitleid. Zur Frage der Unerträglichkeit des Lebens, Gütersloh ²1989, 98–113, 113.

VIII Religion/Glaube und Wahn137 Funktionen, Überschneidungen, Unterschiede

1. Einleitung: Zur Verwandtschaft von Glaube und Wahn Glaube/Religion138 und Wahn sind Geschwister; man könnte den Wahn, religionsgeschichtlich gesehen, als den älteren Bruder des Glaubens bezeichnen.139 Beide, Wahn wie Glaube, beschreiben nicht phänomenologisch die Realität, sondern deuten sie, interpretieren sie mit z.T. alltäglichen, z.T. mit kühnen, dramatischen und visionären Bildern und Metaphern. Beispielsweise wird das menschliche Leben in den Religionen nicht einfach als biologische Gegebenheit mit Höhen und Tiefen, Freuden und Schmerzen gesehen, sondern als Kampfplatz zwischen Gott und Teufel, Engel und Dämonen, zwischen inneren und äußeren Mächten, zwischen Begierden und Tugenden – kein harmloser Streit, sondern einer, in dem es um Leben und Tod geht. Dabei sind beide Phänomene, Glaube und Wahn, in der Zusammensetzung ihrer Bilder subjektiv gefärbt und in ihrer spezifischen Ausprägung für neutrale Außenstehende schwer nachvollziehbar, vor allem dann, wenn man religiöse Sprache nicht metaphorisch, sondern wortwörtlich versteht. Entsprechend wurde und wird Glaube bzw. Religion insgesamt von religionskritischen Atheisten als Wahn, als Illusion, als Verkennung der Realität, als Mittel der Vertröstung und Verdummung, als Opium fürs Volk denunziert. Umgekehrt kommt manchmal ein Wahn im religiösen Sprachgewand daher, benutzt religiöse Symbole und ist schwer von bestimmten Zeugnissen aus der christlichen Tradition zu unterscheiden. Wahnkranke leben in zwei Welten, ihrer persönlichen Wahnwelt und der Wirklichkeit, die wir alle teilen. Sie haben eine doppelte Buchführung, wie Psychiater sagen. Aber tun das religiöse Eiferer, Fundamentalisten, Evangelikale, tendenziell nicht auch? Wahn ist, formal betrachtet, eine Denkstörung, ein pathologisch verfälschtes Urteil, eine überwertige Idee, ein gestörter Weltbezug; aber 137

Vortrag im Rahmen der Tagung der Psychiatrieseelsorgenden der ELKB am 27.1.2015 in Neuendettelsau. 138 Ich verwende die Begriffe Religion und Glaube hier gleichsinnig. Religion bezeichnet ein System von auf Transzendenz bezogenen Lehren und Ritualen, Glaube (oder Religiosität oder Spiritualität) meint gleichsam die subjektive Innenseite, die individuelle Überzeugung im Kontext eines solchen Systems. 139 Arnhild Köpke schreibt in der Schilderung ihrer Psychose: »So zieht der Wahn zu seinem Bruder, dem Glauben …«, in: Hartwig Hansen (Hg.), Der Sinn meiner Psychose, Neumünster ²2014, 155.

1. Einleitung: Zur Verwandtschaft von Glaube und Wahn

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noch mal, das gilt für religiöse Überzeugungen in ganz ähnlicher Weise, sagen Kritiker – und ihre Kritik ist schwer zu entkräften.140 Denn die Tatsache, dass eine religiöse Überzeugung von einer großen Menge von Menschen geteilt wird, spricht noch nicht für ihren Wahrheitsgehalt. Ein Blick in die Geschichte der Religionen und ihre z.T. schrecklichen Verirrungen zeigt das überdeutlich. Zunächst ein paar Beispiele zu einigen Ausdrucksformen des Wahns: Ein junger Mann trägt eine Scheibe in der Größe einer CD um den Hals, sie ist sehr sorgfältig und detailliert bemalt. Auf meine Frage hin, was er da trägt, sagt er: »Das ist die Welt und ich bin ihr Schöpfer«. Die Wortwahl dieses Satzes ist genau zu beachten: Er ist nicht nur der Schöpfer dieser Scheibe, sondern der Schöpfer der Welt. Die Scheibe bildet die Welt nicht ab, sie ist nicht wie die Welt, sondern sie ist die Welt, genauso wie er der Schöpfer ist. Er gibt seine Antwort in einem ernsten und gewichtigen Tonfall und geht irgendwie bedeutungsschwer über den Stationsflur. Eine junge Frau auf der geschlossenen Station einer psychiatrischen Klinik in den USA bittet mich, sie zu einem Spaziergang in den Park des Krankenhauses zu begleiten – nur mit einer Begleitperson dürfen die Patienten nach draußen. In das große Buch am Ausgang trägt sie ihren Namen ein und in die Spalte »Begleitperson« schreibt sie »Jesus«. Ich muss lachen, merke aber schnell, dass es ihr ganz ernst ist, da ist kein humorvolles Zwinkern auf ihrem Gesicht. Ich bin offenbar nicht als konkrete Person gemeint, sondern in meiner Funktion als Pfarrer. Wenn der als »Jesus« sie begleitet, ist sie besonders geschützt und ihre Person bekommt ein entsprechendes Gewicht. Ein depressiv gestimmter Mann sagt mit leiser und nieder gedrückter Stimme, er sei ganz und gar verloren; auf meine Frage hin, wie er zu dieser Überzeugung gekommen sei, sagt er, er habe die Sünde wider den hl. Geist begangen, die bekanntlich nicht vergeben werden könne (Mk 3,28f parr.). Er kann nicht sagen, worin seiner Meinung nach diese Sünde bestanden hat. Darum geht es auch nicht. Ich verstehe seinen Satz so: In seiner Selbstwahrnehmung ist sein Elend offenbar so riesengroß und so überwältigend, dass es nur in dieser religiösen Kategorie aussagbar ist. Das sind ein paar Beispiele von psychiatrischen Patienten, die sich in ihrem psychotischen Wahn religiöser Bilder und Symbole bedienen und damit auf den ersten Blick religiöse und psychotische Phänomene, oder Glaube und Wahn, schwer unterscheidbar machen. 140

Vgl. Peter Kaiser, Religion in der Psychiatrie, Göttingen 2007, 254ff.

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VIII Religion/Glaube und Wahn

Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von biblischen und christlichen Zeugnissen, bei denen man sich fragen kann, ob da nicht wahnhafte Prozesse im Hintergrund gestanden haben. In der Apokalypse des Johannes etwa die Idee der Auserwählten im Meer der Verlorenen, die absolute Spaltung zwischen Guten und Bösen, die dramatischen Bilder von den endzeitlichen Tieren und der großen Hure Babylon usw. Franz von Assisi hörte Stimmen von einem Kruzifix,141 er redete mit den Tieren, er hatte die Neigung, nackt herum zu laufen und sich den sozialen Konventionen seiner Zeit völlig zu entziehen. Adolf Holl schreibt in seiner Biographie von Franz von Assisi, dass der aus heutiger Sicht gute Chancen gehabt hätte, in einen Nervenanstalt eingewiesen und ruhig gestellt worden zu sein.142 Auch gegenwärtige religiöse Fundamentalisten interpretieren die ganze Welt und ihr persönliches Leben von einer dominanten religiösen Idee her: Gesellschaftliche Entwicklungen wie Feminismus oder Homosexualität oder lokale Kriege werden als Strafe Gottes, als Vorzeichen des Weltendes, als Anzeichen für eine bevorstehende letzte Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse bei Armaggedon gelesen. Und wer die Weltgeschichte so versteht, richtet dann natürlich auch sein Verhalten danach aus. Wenn also diese beiden Phänomene einander manchmal ähnlich sehen, erscheint es umso wichtiger, den Versuch zu unternehmen, Glaube und Wahn sowohl in ihrer Zusammengehörigkeit als auch in ihrer Unterschiedlichkeit genauer zu beschreiben. An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass die üblichen klinischen Unterscheidungen zwischen normalem, neurotischem und psychotischem Verhalten relativ und fließend sind. Schon Freud hat angemerkt: »Jeder Normale ist eben nur durchschnittlich normal, sein Ich nähert sich dem des Psychotikers in dem oder jenem Stück, in größerem oder geringeren Ausmaß …«143 Soll heißen, zum einen, dass psychotische und/oder wahnhafte Phänomene ansatzweise durchaus von Menschen mit »normaler« Befindlichkeit nachvollzogen werden können (im Gegensatz zu der bis ins 20. Jahrhundert vertretenen These, dass schizophrene Wahnbildungen nicht einfühlbar seien); zum anderen, dass in extremen Krisen (Trauer, Unfall, Trauma) Betroffene durchaus psychotische Bewältigungsmechanismen einsetzen, um mit der Krise fertig zu werden.144 141 142 143

In der Religionspsychologie nennt man das dann etwas vornehmer »Auditionen«. Adolf Holl, Der letzte Christ. Franz von Assisi, Berlin 1982, 71. S. Freud, Die endliche und die unendliche Analyse. St.A. Ergänzungsband, Frankfurt a.M. 1975, 375. 144 Vgl. Wolfgang Wiedemann, Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, Göttingen 1996.

2. Glaube und Wahn als sinnerschließende Erfahrungen

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2. Glaube und Wahn als sinnerschließende Erfahrungen Erfahrung bedeutet, eine Reise gemacht und etwas erlebt, etwas erfahren zu haben; einen Gegenstand, eine Person, ein Ereignis auf dieser Reise wahrzunehmen und es deutend und produktiv subjektiv anzueignen. Als ich zum ersten Mal in Indien einen Sadhu sah, dachte ich eher an einen Verrückten als an einen heiligen Mann. Das lag aber natürlich an meinen beschränkten Deutungskategorien, an dem, was ich bis dahin für ein Bild von einem hl. Mann hatte. Dies ist ein weiterer Grund, weswegen Selbsterfahrung wichtig ist: Um klar zu kriegen, mit welchen Kategorien jemand die Welt und die Menschen um sich herum deutet und dabei zu merken, dass auch ganze andere Deutungen möglich sind. Erfahrung steht immer in dieser Dialektik von Wahrnehmung und deutender Aneignung, von Wahrnehmung und Wahrgebung.145 Dabei erwächst die Deutung aus einem vorgegebenen Interpretationsrahmen, der einerseits Ergebnis der individuellen Biografie, andererseits des kulturellen und religiösen Milieus darstellt, in dem jemand lebt. Das gilt auch für religiöse Erfahrungen. Peter Biehl beschreibt den Charakter speziell von religiöser Erfahrung durch fünf Merkmale: 1. Religiöse Erfahrung ist Grenzerfahrung, d.h. sie tritt an den Grenzen der vertrauten Welt auf, in großem Leiden oder überschwänglicher Freude, in überwältigenden Natur- oder Kunsterfahrungen; da Psychosen meistens auch mit extremen Grenzerfahrungen zu tun haben, ist die Nähe zur religiösen Deutung nahe liegend. 2. Religiöse Erfahrung hat Erschließungscharakter: Da geht uns plötzlich ein Licht auf, da sehen wir auf neue Weise, da verändert sich unser Koordinatensystem. Insofern ist religiöse Erfahrung immer auch Neudeutung oder Umdeutung (vgl. das Beispiel des Paulus: »Was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet …, Phil 3,7). 3. Sie hat Widerfahrnischarakter. Sie kommt auf uns zu, ist und bleibt unverfügbar, man kann sich ihr nicht entziehen. 4. Sie ist vorwärts- und rückwärtsgewandt: Es geht um Ursprungsvergewisserung und um messianische Perspektiven nach vorn. 145

Vgl. Peter Biehl, Art. Erfahrung, LexRP I, Neukirchen-Vluyn 2001, 421–426; vgl. auch Thomas Feld, Religion und Psychose. Religiöse Erfahrung im Kontext der Psychiatrie, in: ders., Zwischen Psychiatrieseelsorge und diakonischem Management, Oldenburg 2014, 71–87.

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VIII Religion/Glaube und Wahn

5. Religiöse Erfahrung drückt sich in Symbolen und Metaphern aus. Es geht ja um Unaussprechliches und Geheimnisvolles – erst mit Hilfe von Symbolen wird dies Unaussprechliche annäherungsweise kommunikabel. Sonst könnte man nur schweigen, wie es ja einige Mystiker auch getan haben. Glaube oder religiöse bzw. spirituelle Orientierung ist also Erfahrung mit diesen Merkmalen. Glaube verleiht dem Leben einen Sinn, evtl. einen neuen Sinn, und bietet Kontingenzbewältigung an, indem auf den ersten Blick rätselhafte oder unerträgliche Ereignisse eine sinnhafte Zuordnung erfahren. Im Glauben an Gott den Schöpfer beispielsweise bin ich nicht irgendein Zufallsprodukt, das wahllos und wie von ungefähr in diese Welt geworfen wurde, sondern ein von Gott, vom Grund des Lebens selbst unbedingt gewollter und wert geschätzter Mensch, der eine unverlierbare Würde besitzt, egal wie sich die weiteren Lebensumstände entwickeln. In Luthers Erklärung zum Apostolikum heißt es: »Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat …; dass Jesus Christus … sei mein Herr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat …; dass der hl. Geist durchs Evangelium mich berufen hat, mit seinen Gaben erleuchtet …« etc. Glaube ist ein Vertrauen in die Sinnhaftigkeit meines individuellen Lebens jenseits dessen, was ich selber leisten und machen kann – im Angesicht dessen, was tagtäglich gegen einen solchen Sinn spricht. Dieser Sinnhaftigkeit muss man vertrauen, man kann sie nicht beweisen. Besonders deutlich wird dies in Vorgängen von Konversion, wo sich den Betroffenen eine grundsätzlich neue Sicht der Wirklichkeit erschließt oder bei Gesprächen über Sterben und Tod, wo die meisten Menschen verstehen möchten, was ihnen da widerfährt.146 In diesem Sinn ist Glaube eine wichtige Ressource für die Lebensbewältigung. Mit der Psychose, so sagen es viele Psychoseerfahrene, ist es grundsätzlich nicht viel anders. Auch eine Psychose kann die Funktion haben, den Sinn des eigenen Lebens, oder Sinn im eigenen Leben oder den Sinn bestimmter Erlebnisse zu finden; auf eine Spur zu kommen, die zu neuen und vertieften Einsichten führt. Das ver-rückte innere System eröffnet Erklärungen und Sichtweisen, die den Betroffenen vorher nicht präsent waren. Damit wird auch eine Psychose möglicherweise zu einer Ressource. Auch hier wieder ein paar Beispiele: – der ehemalige Psychiatriepatient Reinhard Wojke (Jg. 1957) schreibt über die Begegnung mit einer Shintomeisterin in Japan: In dieser 146

Vgl. die Beispiele von kirchlichen Gruppengesprächen zum Thema Tod und Jenseitsvorstellungen in der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung »Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge«, Gütersloh 2006, 355ff.

2. Glaube und Wahn als sinnerschließende Erfahrungen





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Begegnung hatte ich das Gefühl, »dass alles zuvor Erlebte [er hatte eine schwer gestörte Beziehung zu einem gewalttätigen Vater und schlimme Erfahrungen in psychiatrischen Kliniken] seinen Sinn hatte und ich nun etwas Neues beginnen konnte. Und ich spürte, dass ich nun auf meinem Weg des Herzens angekommen war. Meine besonderen Erlebnisse und Erfahrungen hatten ihn mir gewiesen. Darin sehe ich heute den Sinn meiner Psychose. Sie ließ mich ausbrechen, sie ließ mich aufbrechen, sie wies mir den Weg zu dem, was wirklich zu mir passt.«147 Anja Hesse (Jg. 1974) schreibt: »Ich habe durch meine Psychosen eine Kraft kennen gelernt, die unendlich viel stärker ist als mein Wille. Eine Kraft, die Grenzen verschwinden lassen kann. Ich lerne noch immer, mit dieser Kraft umzugehen. Ich lerne zu bitten, ich lerne zu warten und ich lerne zu vertrauen. Ich lerne, mich in dieser endlosen Weite, durch die sie mich führt, nicht zu verlieren.«148 Stephan Eberle, ein evangelischer Theologie, Jg. 1965: »Heute bin ich dankbar für die Psychose, weil sie mich zu diesem spirituellen Weg geführt hat [er hatte sich in Behandlung bei einer Psychotherapeutin und Zen-Meisterin begeben].« Er sagt: »Die Weltuntergangs- und Höllenerfahrungen [in meiner Psychose] waren nichts anderes als symbolische Darstellungen des … Egos – des Wahngedankens der eigenen Autorenschaft bzw. der eingebildeten Trennung von Gott – und des ihm innewohnenden Schuld-AngstMangel-Minderwertigkeits-Selbsthass-Komplexes, den wir (beinahe) alle unbewusst in uns tragen …«149

Man mag die Deutungen, vor allem diese letzte, inhaltlich problematisch finden; darauf kommt es hier nicht an. Entscheidend ist, dass die Betroffenen sagen, wie sie durch ein Verstehen, eine Entschlüsselung ihrer Psychose, sich selbst neu verstanden haben, einen neuen Weg ihres Lebens gefunden haben (und deswegen, nota bene, nicht wollen, dass die Psychoseinhalte durch Medikamente unterdrückt werden!). Alle sagen in sehr ähnlicher Weise, dass eine psychiatrische Erklärung der Psychose als »Stoffwechselstörung des Gehirns«, wie ein Teil der Psychiatrie als medizinischer Wissenschaft behauptet, für sie völlig unbefriedigend ist und bleibt. Der schon zitierte Stephan Eberle gebraucht einen eindrücklichen Vergleich und schreibt: »Psychosen rein als ›Hirnstoffwechselstörungen‹ zu betrachten und zu behandeln, ist in etwa das Gleiche, wie wenn jemand den miserablen Inhalt einer Fernsehsendung

147 148 149

Reinhard Wojke, Der Weg des Herzens, in: Hansen ²2014 (Anm. 139), 30. Anja Hesse, in: Hansen 2014, 39. Ebd., 77.

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dadurch zu verbessern sucht, dass er den Fehler dafür in den Transistoren und Lötstellen des Fernsehgeräts sucht.«150 Natürlich können Psychosen für die Betroffenen schrecklich und zerstörerisch sein, so dass sie sie nicht sinnvoll in ihre Lebensgeschichte integrieren können; aber zumindest für manche eröffnen sie einen neue Perspektive – darin haben sie eine Funktion, die durchaus vergleichbar ist mit einer religiösen Bekehrung und dem daraus erwachsenden Glauben. Wenn man sich diese Analogien zwischen psychotischen und religiösen Phänomenen klar macht – es geht um Erschließung von Sinn im Leben – könnte es leichter sein, psychotische Produktionen zu respektieren, sie ernst zu nehmen und mit den Betroffenen darüber ins Gespräch zu kommen, so wie es die Psychoseerfahrenen selber immer wieder fordern. 3. Warum »wählt« der Wahn eine religiöse Symbolik? Der Schweizer Psychiater Christian Scharfetter schätzt, dass unter mehr als eintausend Wahneinfällen 20 % religiöse Inhalte haben, davon 2/3 mit Bezug auf Berufung und Größe, 1/3 mit Bezug auf Schuld und Sünde.151 Das ist nicht sehr viel, ich hätte aus der subjektiven Erinnerung meiner Arbeit in der Psychiatrie in Bethel diese Zahl wesentlich höher eingeschätzt. Aber vielleicht liegt das daran, dass in den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel als einer bekanntermaßen christlichen Anstalt der Anteil religiös orientierter Menschen höher war als beispielsweise in einem Landeskrankenhaus oder Bezirkskrankenhaus. Die frühere Leiterin einer psychiatrischen Reha-Klinik in Bethel, Renate Schernus, schreibt: »Nachdem ich in letzter Zeit geradezu verblüfft festgestellt habe, dass diejenigen Psychoseerfahrenen, die Distanz zu ihren Erlebnissen entwickelt haben und die an Gesprächen interessiert sind, fast ausschließlich von esoterischen, mystischen und religiösen Inhalten berichten, treibt mich der Gedanke um, ob es überhaupt einen prinzipiellen Unterschied zwischen mystisch-religiösen und psychotischen Erfahrungen gibt.«152 Zu diesem Zitat möchte ich anmerken, dass die Autorin von mystisch-religiösen Erfahrungen spricht, nicht von soz. »normalen« kirchlich vermittelten Glaubenserfahrungen: Kirchlich vermittelter Glaube scheint mir einen stärker lehrhaften Charakter zu haben (et150 151

Ebd., 73. Einen umfassenderen Zugang und damit höhere Zahlen nennt Thomas Feld 2014, 84: Danach spielen für etwa 2/3 der Psychoseerkrankten Religion eine wichtige Rolle in ihrem Leben und im Umgang mit der Erkrankung. 152 Renate Schernus, »Verrückt« – subjektives Erleben und Bewältigung schizophrener Psychosen«, in: Sozialpsychiatrische Informationen 1992, H. 3, 22ff.

3. Warum »wählt« der Wahn eine religiöse Symbolik?

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wa am Glaubensbekenntnis orientiert), während mystischer Glaube keine differenzierte inhaltliche Bindung kennt, sondern sich durch Erlebnisse von Verschmelzung und Einheit mit dem Göttlichen auszeichnet. Dieses mystische Element, darin sind sich viele Theologen einig, stellt aber den »Glutkern«, das Zentrum jeden Glaubens dar. Auf dieser Ebene ist dann die Nähe zum psychotischen Wahn ziemlich groß! Trotzdem bleibt die Frage: Warum »wählen« Menschen, und eben auch solche, die nicht religiös sozialisiert sind, eine religiöse Symbolik für ihren Wahn?153 Ich stelle verschiedene Deutungsmöglichkeiten vor: 1. Gaetano Benedetti (1920–2013, ein bedeutender Vertreter einer verstehenden Psychiatrie) gibt dazu eine Deutung, die ich ziemlich schlüssig finde: Er versteht Wahnbildungen als Ersatz für eine ausgefallene, nicht funktionierende Abwehr. Wir wissen ja, dass manche Psychiatriepatienten eine hohe Vulnerabilität, eine besondere Sensibilität gegenüber Phänomenen der Außen- und Innenwelt mitbringen (meistens verursacht durch vorangegangene traumatisierende Erfahrungen).154 Die Außenwelt, so Benedetti, stürzt weitgehend ungefiltert, ungebremst, unzensiert auf so einen Menschen ein, alles, so spürt er, hat mit ihm/ihr zu tun, alles meint ihn und sein Leben. Die klassischen Ich-Funktionen – Sichten, Ordnen, auf Distanz bringen, Deuten, und eben auch die Abwehrfunktionen des Ich Verleugnen, Verdrängen, Projizieren – funktionieren nicht, salopp gesagt. Ein solcher Mensch fühlt sich der Welt schutzlos preisgegeben, er ist ein Nichts, dem alles zur Gefahr und zur Bedrohung wird.155 In dieser Situation erscheint manchmal der Wahn – sei es ein paranoider Wahn, der ja auch eine paradoxe Form eines Allmachtswahns darstellt, oder ein religiöser Wahn – als die einzige Rettung. Der Wahn 153

Zum Folgenden vgl. Michael Klessmann, Seelsorge in der Psychiatrie – eine andere Sicht vom Menschen?, WzM 48 (1996), 25–35. 154 Luc Ciompi, Affektlogik, Stuttgart 41994, 260, spricht von einer »charakteristischen ›Ichschwäche‹ und damit eine[r] erhöhten Empfindlichkeit und reduzierten Verarbeitungsfähigkeit für Umweltbelastungen«. Dörner/Plog schreiben: »Einerseits genetischorganisch-biochemische und andererseits psycho- und soziogene Faktorenbündel führen in wechselnder Kombination zu verletzlichen, prämorbiden Persönlichkeiten, welche dazu neigen, auf Belastungen überdurchschnittlich stark mit Spannung, Angst, Verwirrung, Denkstörungen, Derealisations- und Depersonalisationserfahrungen bis zu Wahn und Halluzinationen zu reagieren.« Klaus Dörner / Ursula Plog, Irren ist menschlich, Bonn 81994, 152. 155 Ein eindrückliches Beispiel liefert Katharina Coblenz-Arfken, Worte finden statt Pillen, in: Hansen 2014, 145. Vgl. im Übrigen die ähnliche Beschreibung bei Ciompi 1994, 272.

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kompensiert die bedrohliche Leere, der Wahn stellt wieder eine gewisse Kohärenz und Ordnung in der umgebenden Welt und der eigenen Innenwelt her. »Versuchen wir uns einmal in die Lage des Patienten zu versetzen, der die Gabe besitzt, die abgründige Leere, in die er täglich und jeden Augenblick zu stürzen droht, mit dem irisierenden Schleier des ekstatischen Wahns zu überdecken: Ein wahres Wunder im Grunde genommen! Was für den Außenstehenden als Fanal für das Einsetzen der Krankheit gilt, ist für den Patienten rettungsverheißender Aufbruch in eine Superexistenz, die so lange dauern wird, wie eben die Ekstase währt. Unauslotbar tief und gefährlich ist der im Kranken sich öffnende Abgrund; entsprechend maßlos müssen auch die Geschehnisse sein, die ihn aufzufüllen haben: Nur der Erlöser selbst ist dazu imstande – oder allenfalls ein von ihm auserkorener bizarr-schizophrener Abkömmling.«156 Die Größe der Bedrohung, die Tiefe der Verzweiflung spiegelt sich in der Grenzenlosigkeit des (religiösen) Wahns. Wenn sich im eigenen Erleben buchstäblich ein Kampf auf Leben und Tod vollzieht, wenn es um Sein oder Nicht-Sein geht, um ein Ringen zwischen bösen und guten Mächten, dann liegt es sehr nahe, dies in Vorstellungen von Gott und Teufel, von Jesus, dem Erlöser, und Satan, dem Versucher, dem Antichristen, in Symbolen von Erlösung und Verdammnis, von Himmel und Hölle, von Erwählt- oder Verworfensein, von der unvergebbaren Sünde wider den hl. Geist zum Ausdruck zu bringen. Die religiöse Sprache ist dann die Möglichkeit, das, was einen unbedingt und absolut angeht, auszudrücken. Der Wahn spiegelt sowohl die Tiefe der Bedrohung und als auch die Möglichkeit einer Lösung durch eine neue wahnhafte Abwehr in Gestalt einer »Ich-Mythisierung«.157 Bernhard Grom berichtet von einem Mann, der davon überzeugt war, die Welt sei verloren, ihre letzten Tage seien angebrochen. Er allein sei als Prophet Christi vom Jüngsten Gericht ausgenommen und werde lebend direkt in den Himmel aufgenommen. In ängstlicher Unruhe ging er mitten im Winter nach draußen, Gott entgegen. Ein Licht sei ihm entgegen gekommen und habe ihm die Kraft gegeben, trotz großer Kälte auszuharren und auf Gott zu warten.158 Das entsetzliche Gefühl, ganz und gar verloren zu sein, wird kompensiert und erträglich durch die gegenteilige Gewissheit, von Gott besonders erwählt zu sein. 156 157 158

Gaetano Benedetti, Todeslandschaften der Seele, Göttingen 1983, 115f. Rainer Tölle, Wahn, Stuttgart 2008, 207. Bernhard Grom, Religionspsychologie, München/Göttingen 1992, 288.

3. Warum »wählt« der Wahn eine religiöse Symbolik?

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Eine Frau erzählt von einem Wahn, der ausbrach, als sich ein von ihr geliebter Mann von ihr trennte und sie große seelische Schmerzen litt. Sie entwickelte einen Liebeswahn, dem zufolge dieser Mann sie eigentlich immer noch liebte, und dazu einen religiösen Wahn, wonach sie Eva und Maria sei. Sie schreibt: »Es war so, wie wenn Gott sich meiner angenommen hätte, weil er nicht mit ansehen konnte, wie ich mich abquälte.«159 2. Eine zweite Deutungsmöglichkeit geht von der wissenssoziologischen Einsicht aus, dass Menschen Sinnwelten konstruieren, um ihre Alltagswelt zu bewältigen. Regeln für das Zusammenleben, Rollenannahmen (was es bedeutet, als Mann oder als Frau zu leben, welche Verpflichtungen sich daraus ergeben, wenn man einen Beruf ausübt etc.), welchen Stellenwert Arbeit und Freizeit für den Alltag haben etc. All diese TeilSinnwelten werden fundiert und zusammengehalten von einer »symbolischen Sinnwelt«, die ein »allumfassendes Bezugssystem« darstellt. »Die symbolische Sinnwelt ist als die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeiten zu verstehen.«160 In der symbolischen Sinnwelt wird »jedes Ding an seinen rechten Platz [ge]rückt«;161 gerade auch die dunklen und bedrohlichen Seiten der Wirklichkeit erhalten ihren Ort. Es sind jetzt eben nicht mehr nur zufällige Bedrohlichkeiten, sondern die gehören beispielsweise in den dauernden Kampf zwischen guten und bösen Mächten, wie er schon in der Apokalypse beschrieben und bis heute von einigen Menschen immer wieder erlebt wird. Die plötzliche Krankheit ist kein blöder Zufall, sondern entspringt letztlich dem Willen Gottes; deswegen ist es möglich und hilfreich, Gott um Beistand in dieser Krise zu bitten. Die symbolische Sinnwelt stellt gleichsam archetypische Kategorien zur Verfügung, mit der man ein bestimmtes Erleben einordnen kann: Sünde und Gnade, Verdammnis und Errettung etc. helfen, das Erleben sinnhaft zu strukturieren. Damit leistet auch der Wahn, strukturell ganz ähnlich wie der Glaube, die Aufgabe der Kontingenzbewältigung. Die »Nachtseite des Lebens« (Berger/ Luckmann 105) wird eingebunden und sinnhaft zugeordnet. 3. Thomas Feld sieht eine spezifisch strukturelle Verwandtschaft zwischen Glaube und Wahn:162 Religiöse Erfahrung entsteht an der Begegnung mit einer letztlich nicht erfahrbaren Wirklichkeit, die sich für die Glaubenden in ihrem Leben manifestiert. Immer wieder beschreiben religiöse Menschen, wie Gott, der prinzipiell unerkennbar ist und bleibt, 159 160

Tölle 2008, 208. Peter Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1992, 103. 161 Ebd., 105. 162 Thomas Feld, Religion und Psychose, in: ders., 2014, 71–87.

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doch in ihr Leben eingreift, ihr Leben verändert. Psychoseerfahrene beschreiben durchaus ähnlich ihre Erfahrungen so, als ob in der Psychose eine fremde, undurchschaubare Macht in ihr Leben eindringt, sie gleichsam überwältigt, dass sie sich nicht gegen diesen »Überfall« wehren können. Und in beiden Fällen, im Glauben wie in der Psychose bzw. im Wahn kann nur eine symbolische Sprache annähernd zum Ausdruck bringen, was dieser Mensch gerade erlebt. Archetypen bieten sich hier besonders an: Die Stimme Gottes gibt eine neue Identität oder erteilt einen Auftrag; Errettung bringt der Sohn Gottes im Kampf gegen Teufel und Dämonen etc. 4. Zu den Unterschieden zwischen Glaube/Religiosität und Wahn Im Volksmund nennt man psychisch kranke Menschen »verrückt«: Der spinnt, der ist verrückt. Der Psychiater Luc Ciompi nimmt diesen Ausdruck ernst und spricht im Fall einer psychiatrischen Erkrankung von einer »Ver-rückung«, in der die affektlogischen Bezugssysteme, also Denk-, Fühl- und Verhaltensprogramme, im buchstäblichen Sinn verrückt, also verschoben, verworren, reduziert, gestört, aus dem Gleichgewicht geraten sind.163 Eine solche Verrückung ist allerdings nicht auf krankheitswertige Vorkommnisse beschränkt; es gibt auch Alltagsphänomene wie Verliebtheit, Jähzorn oder Extremismus jedweder Art (Ciompi nennt u.a. Sammler, Forscher, Extremsportler), in denen das gesamte Wertgefüge, das Denken, Fühlen und Handeln im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung wie auf den Kopf gestellt erscheint.164 Alles konzentriert sich auf dieses eine Objekt der Begierde! Bei Verliebten kennen wir das alle mehr oder weniger: Da wird die geliebte Person überwertig erlebt, als ziemlich wunderbare Lichtgestalt, ohne Fehl und Tadel, ohne Schattenseiten; und die Aufmerksamkeit der liebenden Person ist ganz und gar von der eigenen Liebe in Beschlag genommen, alles andere wird nebensächlich. Und, das ist besonders interessant, alle Verhaltensweisen der anderen Person werden in Beziehung zu der liebenden Person selbst gesetzt. Der Verliebte »hört« die Stimme der Geliebten zu sich sprechen und antwortet ihr; das gesamte Verhalten der Geliebten interpretiert der Verliebte so, dass es ihm etwas sagen soll. Mit einem Wort: Verliebtsein ist ein begrenzter wahnhafter Zustand. Im religiösen Extremismus kennen wir vergleichbare Zustände. Worin bestehen dann die Unterschiede? Ist es überhaupt notwendig, klare Unterscheidungen zu treffen? Kann man nicht, wie es ein Autor 163 164

Ciompi 1994, 259ff. Erstaunlicherweise erwähnt Ciompi das Phänomen der Trauer mit seinen stellenweise psychotischen Bewältigungsmechanismen in diesem Zusammenhang nicht.

4. Zu den Unterschieden zwischen Glaube/Religiosität und Wahn

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einmal gesagt hat, Heiliger und Psychotiker zugleich sein?165 Muss man unbedingt zwischen psychotischem und mystischem Erleben unterscheiden? Spirituelle Erfahrungen werden nicht dadurch ungültig, dass sie im Kontext einer Psychose stattfinden. Und manchmal scheinen, wie schon gesagt, die Unterschiede eher gradueller und nicht prinzipieller Natur.166 Das ist die eine Seite. Die andere ist aber genauso wichtig: Es ist nicht legitim, Verliebte oder religiöse Extremisten als psychisch krank und damit als nicht zurechnungsfähig zu denunzieren.167 Das heißt aber in der Konsequenz, dass man den Unterschied zwischen Glaube/Religion und Wahn nicht am Inhalt einer Überzeugung festmachen kann.168 Es gibt so viele Ausdrucksformen eines Wahns (Beziehungswahn, Beeinträchtigungswahn, Verfolgungswahn, Liebeswahn, Eifersuchtswahn, hypochondrischer Wahn, Größenwahn, Verschuldungswahn, Verarmungswahn etc.169), dass man sagen muss: Vieles kann Gegenstand eines Wahns werden, was wir in weniger ausgeprägter Form natürlich auch aus unserem Alltagserleben kennen. Hypochondrie, Eifersucht, Größenvorstellungen, Angst, mit dem Geld nicht auszukommen etc., das kennen wir alle mehr oder weniger. Aber eben, in diesem »mehr oder weniger« steckt eins der entscheidenden Kriterien für die Unterscheidung einer »normalen« Überzeugung von einer wahnhaften: 1. Wahn ist unkorrigierbar. »Für den Wahnkranken ist charakteristisch, dass er die Möglichkeit des Irrtums ausschließt, dass er seine Vorstellungen überhaupt nicht für beweispflichtig hält, ja dass er gar kein Bedürfnis hat, seinen Wahn zu begründen oder wenigstens zu erklären.«170 Jede Art der vernünftigen Argumentation über den Inhalt eines Wahns erübrigt sich damit; für den Betroffenen steht der Wahn unerschütterlich und felsenfest. 165

Bernward Büchler, zitiert bei Sibylle Prins, Religiöse Erfahrungen in Psychosen – krank oder heilig?, in: Jörg Armbruster u.a. (Hg.), Spiritualität und seelische Gesundheit, Köln 2013, 64–74, 71. 166 Peter Kaiser schreibt in seinem voluminösen Werk »Religion in der Psychiatrie« (Göttingen 2007) im Vorwort: »Die Trennung zwischen psychisch gesund und psychisch krank beziehungsweise gestört ist noch immer ungenau« (15). Ich störe mich an dem »noch immer« in diesem Satz. Ich hoffe eher, diese Ungenauigkeit wird immer so bleiben! 167 In einem Interview sagt der forensische Psychiater Norbert Nedopil, dass seiner Meinung nach Dschihadisten und islamistische Selbstmordattentäter nicht psychisch krank sind. SZ 10.10.2014: »Unverständliche, irrationale Überzeugungen … sind kein Krankheitssymptom.« 168 Tölle 2008, 142. 169 Vgl Tölle 2008, 9ff. 170 Tölle 2008, 141. Vgl. auch Kaiser 2007, 97.

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2. Wahnhafte Religiosität neigt dazu, extrem fundamentalistisch und dualistisch in Erscheinung zu treten.171 Schwarz-Weiß-Denken, radikale Unterscheidung von Guten und Bösen und die Verurteilung all jener, die nicht »richtig« glauben und denken. Offenbar sind Zwischentöne und Ambivalenzen ängstigend, müssen durch solche unverrückbaren Polaritäten abgewehrt werden. 3. Wahn zeigt eine extreme Ich-Bezogenheit, eine äußerste narzisstische Egozentrizität: Alles dreht sich nur um den Betroffenen, die ganze Welt existiert gewissermaßen nur mit Bezug auf ihn oder sie.172 Entsprechend ist der Wahn im Grunde nicht kommunikabel: Während religiöse Menschen eigentlich immer in Bezug zur Tradition und der Gemeinschaft der Glaubenden leben, und daraus Prägung und Stärkung ihres Glaubens erfahren, haben Wahnkranke den Anschluss an die allgemeine Kommunikation verloren. Der Wahn ist egozentrisch und privatistisch. Sibylle Prinz nennt sich selbst deshalb im Zustand ihrer Psychose anschaulich eine »Einpersonensekte«.173 4. Der Wahnkranke ist nicht zum »Überstieg« fähig, zum Wechsel von einem Bezugssystem zum anderen.174 Im »normalen« Leben können wir eine Rolle einnehmen und uns davon auch wieder distanzieren, sie gleichsam von außen reflektieren und eine andere einnehmen. Das können Wahnkranke nicht: Die »Rolle«, die sie im Wahn einnehmen – Gott, Maria, Jesus, Napoleon etc. – ist unverrückbar. Entweder ist ihr ganzes Leben davon bestimmt (z.B. bei paranoidem Wahn) oder sie betreiben eine »doppelte Buchführung«, indem sie beispielsweise bestimmte Alltagsaufgaben ganz selbstverständlich und gut ausführen, aber daneben unverändert in ihrer Wahnvorstellung gefangen sind. Tölle beschreibt das so, dass Wahnkranke zu Gefangenen ihrer wahnhaften Nebenrealität werden.175 5. Etwas Ähnliches bezeichnet Thomas Feld als den Verlust der symbolischen Differenz.176 Der Bedeutungsüberschuss – Paul Ricœur hat formuliert: Das Symbol gibt zu denken – ist für den Wahnkranken verloren gegangen, die Differenz zwischen erster und zweiter

171 172

Vgl. Prins, in Armbruster 2013, 66. Vgl. Heike Korthals, Ich weiß nicht, wohin Gott mir führt, in: Armbruster 2013, 80: Sie beschreibt, wie sie im Wahn meinte, dass bestimmte Kleinanzeigen in der Zeitung sich auf sie bezogen und nur ihr galten. 173 Prins, in Armbruster 2013, 72. 174 Tölle 2008, 130f; vgl. Thomas Feld, Seelsorge in der Psychiatrie, in: ders., 2014, 35ff. 175 Tölle 2008, ebd.; Ciompi 1994, 289 formuliert ähnlich: »Der Gesunde kann seinen ›verrückten‹ Zustand zumindest vorübergehend verlassen, der Psychotiker dagegen ist darin eingemauert wie in ein Gefängnis.« 176 Feld 2014, 77f.

5. Konsequenzen für die Seelsorge

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Bedeutungsebene ist ihnen nicht im Bewusstsein. Da fühlt sich nicht einer wie der Gekreuzigte, sondern er ist es in seinem Erleben. 6. Oftmals sind Wahn und Wahninhalte von einer brennenden Lebendigkeit erfüllt: Sehnsucht nach dem Himmel und Angst vor der Hölle, Beschäftigung mit den grausigen Bildern der Apokalypse werden zu lebendigen Anliegen, die den Betroffenen erfüllen – und in deutlichem Gegensatz stehen zu volkskirchlich-moderater Frömmigkeit oder reflektierter, vernünftiger Theologie. Sie sehen aus dieser Aufzählung noch einmal, dass es fast immer um ein »mehr oder weniger« geht. Die Übergänge sind fließend, glasklare Unterscheidungen manchmal schwer zu treffen. 5. Konsequenzen für die Seelsorge 1. An erster Stelle soll genannt werden: Respekt und Bewunderung für die Vielfalt der Ausdrucksformen des Glaubens. Die Betroffenen haben das Recht, zu erzählen und zum Ausdruck zu bringen, was sie gerade bewegt und dabei auf ernsthafte und einfühlsame Reaktionen zu stoßen. Ich habe es am Anfang schon genannt: In biblischen und kirchengeschichtlichen Zusammenhängen tauchen viele zumindest psychoseähnliche oder wahnähnliche Phänomene auf, die im Kontext sonntäglicher Predigten und in der Dogmatik nur ganz am Rand, wenn überhaupt, thematisiert werden. Insofern können uns religiöse Wahnvorstellungen daran erinnern, dass aufgeklärte mitteleuropäische religiöse Gedanken und Verhaltensweisen nicht die Norm darstellen für das, was Glaube und Spiritualität ausmachen. Dörner/Plog sprechen von der Notwendigkeit, die eigene Wahrnehmung zu vervollständigen – dazu können religiöse Wahnvorstellungen einen Beitrag leisten. 2. Wenn ein Mensch in einem akuten Wahn lebt, geht es darum, als Seelsorgeperson präsent zu sein, Begleitung anzubieten und das Chaos mit auszuhalten. Feld spricht von der Kunst der mittleren Distanz:177 Im Kontakt bleiben, sich nicht vereinnahmen lassen, aber auch nicht mit meiner Wahrnehmung der Wirklichkeit zu konfrontieren. 3. Es geht aus theologischer Sicht darum, dass wir uns stark machen dafür, dass psychisch kranke Menschen nicht offen oder heimlich abgewertet werden. Psychisch kranke Menschen werden in unserer Gesellschaft immer noch in relativ hohem Maß stigmatisiert; das gilt besonders für Langzeit-Kranke, die manchmal dann auch noch 177

Feld 2014, 82.

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als austherapiert bezeichnet werden. In dieser Hinsicht kommt der Seelsorge eine prophetische Aufgabe zu, sich gegen solche Stigmatisierungen zu wenden (z.B. durch Öffentlichkeitsarbeit in Gemeinden) und sich für die Würde dieser Menschen als geachteter Geschöpfe Gottes einzusetzen. Seelsorge hat die Chance, einen Menschen jenseits seiner Diagnose wahrzunehmen, als den Menschen, wie er gedacht war und wie er hätte werden können. Die Heiligkeit des Lebens, auch des gestörten, belasteten und kranken Lebens, steht in der Seelsorge im Vordergrund und kann so eine sinnvolle Ergänzung, manchmal auch eine Korrektur der medizinischen Psychiatrie mit ihrem Fokus auf der Leitunterscheidung von krank/gesund darstellen. Damit vollzieht Seelsorge – mit Thurneysen gesprochen – ein neues Sehen.178 Im Licht des Evangeliums wird eine neue, eine andere als die psychiatrisch bestimmte Identität zugesprochen bzw. erfahrbar gemacht (durch Rituale, durch die Art der Präsenz der Seelsorgeperson). 4. If you talk to God, it’s prayer, if God talks to you, it’s schizophrenia. Dieser Satz hört sich frivol an, trifft aber eine gut protestantische Unterscheidung: Gott spricht zu uns ausschließlich durch die hl. Schriften, und nicht direkt und unmittelbar. Niemand kann direkte übernatürliche Offenbarungen und damit Macht und Prestige beanspruchen, weil er angeblich Gottes Stimme unmittelbar hört; wir hören Gott nur durch die Schriften. Die wiederum müssen ausgelegt werden und unterliegen damit dem quasi demokratischen Gespräch aller Getauften. Diese protestantische Grundeinsicht ändert nicht die Wahnvorstellungen eines Menschen in der Psychose; sie eignet sich auch nicht zur Bestreitung eines religiösen Wahns; aber es ist für uns Seelsorgende ein wichtiger Anker, um kranke von gesunder Religion zu unterscheiden. Und wenn die akuten Wahnsymptome abklingen, kehrt die symbolische Differenz zurück und es wird möglich, einen verstehenden Umgang mit den Symptomen zu versuchen.179 5. Was heißt das alles für den methodischen Zugang und Umgang mit Menschen, die von einem religiösen Wahn bestimmt werden? In einem Artikel stellt Sibylle Prins, eine Psychoseerfahrene, selber die Frage, welche Art von Reaktion und Begleitung sie sich in der Krise ihrer religiös gefärbten Psychose gewünscht hätte und gibt nach ver178

Dazu ausführlicher Isabelle Noth, Seelsorge auf der psychiatrischen Akutstation, in: Nachdenkliche Seelsorge – seelsorgliches Nachdenken. FS für Christoph Morgenthaler, hg. von Isabelle Noth und Ralph Kunz, Göttingen 2012, 139ff, hier 147f. 179 Feld 2014, 82 berichtet von einer Frau, die sich im Wahn als Braut Christi erlebte und nach dem Abklingen ihrer Symptome erkennen konnte, dass dieser Wahn dazu diente, eine tiefe Enttäuschung durch einen Mann zu kompensieren.

5. Konsequenzen für die Seelsorge

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schiedenen Erwägungen die Antwort: Es »wäre mir daran gelegen, dass solche Phänomene und Erfahrungen überhaupt thematisiert werden können und ernsthafte Antworten erhalten, die geeignet sind, die Betroffenen wirklich zu erreichen«. Und weiter: Ich würde mir »mehr Mut wünschen und die gezielte Erarbeitung von Kompetenzen, (auch ungewöhnliche) religiöse Themen aufzugreifen«.180 Eine andere Psychoseerfahrene überschreibt ihren Artikel so »Worte finden statt Pillen, aufdecken statt zudecken«.181 D.h.: Nachfragen, was die Bilder bedeuten, wie die Betroffenen sie erleben – dabei aber auch darauf achten, dass sie nicht wieder in eine akute psychotische Traumatisierung abrutschen; statt dessen auf das Hier und Jetzt fokussieren, was hier gerade im Kontakt hilfreich erscheint usw. An manchen Stellen kann es sinnvoll sein, sich mit der eigenen Position von den wahnhaften Überzeugungen und Bildern abzugrenzen – ohne der anderen Person die eigenen Bilder streitig machen zu wollen. Es geht nicht darum, etwas »dagegen« zu setzen, da ist sowieso zwecklos und erhöht die Angst des anderen. Sibylle Prins schlägt z.B. konkret vor, mit Betroffenen über biblische Texte zu sprechen und auf die häufigen Widersprüche in der Bibel einzugehen, (z.B. Isaaks Opferung durch Abraham). Die in der Bibel erzählten Erfahrungen können für Betroffene hoch bedeutsam und zugleich sehr verstörend sein – darauf sollten Seelsorgende sensibel eingehen können. In einem Seelsorgekurs in Bethel fragte vor Jahren ein Kursteilnehmer den referierenden Psychiater, er hätte Angst, dass er die Psychose mancher Patienten verschlimmern könnte, wenn er darauf einginge. Der Psychiater antwortete, dass er nicht glaube, dass die Psychose »schlimmer« würde, dass vielmehr der Seelsorger darauf achten müsse, wie viel Handlungsspielraum ihm seine Angst ließe. Er solle das Ausmaß seiner Angst zum Maßstab seines Handelns machen. Wenn ich den Wahn des anderen Menschen in Frage stelle, tue ich das vielleicht aus eigener Angst und zugleich vergrößere ich damit die Angst des anderen; wenn ich keine oder nur geringe Angst angesichts des manchmal skurrilen oder gar verstörenden Wahnsystems habe und interessiert und einfühlsam nachfrage und mitgehe, reduziert das die Angst des anderen und zugleich meine eigene. Dörner spricht in dem Zusammenhang von dem Ziel, die Beziehung zu normalisieren, indem ich die kranken und die gesunden Anteile des Anderen gleichermaßen ernst nehme.182 Sich so 180 181 182

Prins, in Armbruster 2013, 69f. Katharina Coblenz-Arfken, in: Hansen 2014, 139. Dörner/Plog 1994, 161f.

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VIII Religion/Glaube und Wahn

normal wie möglich zu verhalten, wäre gerade für die Seelsorge sinnvoll und wünschenswert und möglicherweise eine gute Ergänzung zum Psychiatriesystem. Hilfreich erscheint mir die Analogie von Traum und Wahn: Psychologisch interessierte Menschen qualifizieren einen unverständlichen, chaotisch, verrückt oder skurril anmutenden Traum nicht einfach ab, sondern versuchen ihn zu verstehen, eine mögliche Bedeutung im Kontext der Biografie und aktuellen Lebenssituation zu erschließen. Ähnliche Bereitschaft und ähnliche Bemühungen hat ein Wahn allemal verdient. Und es tut den Betroffenen gut, wenn sie dieses Bemühen spüren können.

IX Das Wort soll Fleisch werden … Zur Bedeutung der Leiblichkeit in der seelsorglichen Begegnung183

1. Einleitung »Wer das Geheimnis des Menschen kennen lernen will, der sollte sich nicht mit einer isolierten Psychologie befassen, sondern sollte aufmerksam werden für Vorgänge und Signale des Leibes.«184 Der Leib ist unsere primäre Welt, bei Neugeborenen stehen die leiblichen Vorgänge ganz und gar im Vordergrund, bei sehr alten oder sterbenden Menschen werden sie wieder vorrangig. Dazwischen lernen wir in unserer westlichen Zivilisation, den Leib gering zu schätzen bzw. zu funktionalisieren (was auf dasselbe hinausläuft); jahrzehntelang schulen wir den Intellekt und vergessen darüber, dass wir nicht nur einen Körper haben, sondern Leib sind, ganz und gar. Wahrnehmen, Denken und Fühlen, Sprechen und Singen, Lieben und Hassen sind nur möglich durch die Sinnesorgane, die dafür da sind, und durch das Gehirn, das Sinnesreize aufnimmt, verarbeitet und dann Ausdruck ermöglicht. Wilhelm Reich, der Begründer der Körpertherapie, hat die These vertreten, dass der Charakter eines Menschen dessen »erstarrte Lebensgeschichte« abbildet – »erstarrt« deswegen, weil sich nach Reich die Lebenserfahrungen in den muskulären Verspannungen und Verhärtungen niederschlagen und dort gewissermaßen ablesbar sind. Otto Betz sagt es so: »Der Leib wird zum anschaulichen ›Tagebuch‹ dessen, was uns widerfahren ist. An den Augen, der Stirn mit ihren Falten, an der Mundpartie, an unserer Haltung, am Spiel der Hände usw. lässt sich ablesen, wie uns das Leben gezeichnet hat, ob wir aufgerichtet wurden oder mürbe gemacht und zerbrochen sind.«185 Im Körpergedächtnis ist die Biographie manchmal genauer aufbewahrt als in der immer interessegeleiteten Erinnerung. Angesichts dieser unbestreitbaren Ausgangslage ist es verwunderlich, dass uns das Bewusstsein um den zentralen Zusammenhang von Leib und Leben in der neueren Geschichte anscheinend verloren gegangen ist;186 erst vor etwa 30 Jahren begann man, in Philosophie, Psychologie und Theologie über eine »Wiederentdeckung des Leibes« zu 183 Vortrag auf der Jahrestagung der Konferenz für Gefängnisseelsorge in Plön am 13.5.2009. 184 Otto Betz, Der Leib und seine Sprache, Kevelaer 2003, 12. 185 Betz 2003, 16. 186 Der altgermanische Wortstamm »lib« bedeutet sowohl Leib wie Leben.

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IX Das Wort soll Fleisch werden …

reden.187 Seither wird dieser Zusammenhang wieder zunehmend thematisiert, neuerdings auch auf Grund von Erkenntnissen der Neurowissenschaften. Wenn ich diesen Vorgang aus der Wissenschaftsgeschichte symbolisch verstehe, heißt das: Wir neigen individuell und kollektiv dazu, unsere Leiblichkeit zu vergessen, sie zu ignorieren, sie zu funktionalisieren. Solange man gesund und fit ist, nimmt man den Körper nicht wahr, benutzt ihn ganz selbstverständlich und gewissermaßen unbewusst; sobald man sich jedoch irgendwo stößt, verletzt, den Anflug einer Krankheit bekommt – plötzlich tritt die Leiblichkeit in den Vordergrund und macht sich unangenehm und störend bemerkbar, und wir versuchen alles, um diese Störung möglichst rasch aus der Welt zu schaffen. In der Gestalt- und Körpertherapie gibt es lange Kataloge von möglichen Übungen zur Körperwahrnehmung188 – was nur Sinn macht unter der Voraussetzung, dass wir unseren Körper über weite Strecken eben nicht wahrnehmen, eben nicht spüren und bewusst damit umgehen. In der Seelsorge scheint mir die Versuchung, die Leiblichkeit der Beteiligten zu übersehen, besonders groß: Seelsorge ist Gespräch zwischen zwei Menschen, so das klassische Bild, Austausch von Worten, sprachliche Kommunikation. Darüber gerät in Vergessenheit, dass verbale Kommunikation ohne Körpersprache kaum möglich ist oder extrem eingeschränkt wäre.189 »Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen« hat schon Sigmund Freud geschrieben.190 Wobei auch noch zu berücksichtigen wäre, dass Männer und Frauen natürlich körpersprachlich unterschiedlich schwätzen: Diesen gender-bezogenen Aspekt lasse ich im Folgenden allerdings außen vor, weil er das Thema so kompliziert, dass ich nicht alles in einem Vortrag abhandeln kann.191 Warum wir dazu neigen, die Bedeutung der Leiblichkeit auch in der Seelsorge zu vergessen, darüber kann man nur spekulieren. Unsere Leiblichkeit ist ein schwieriges Phänomen, sie ist rational und emotional nicht in den Griff zu kriegen, sie hat gewissermaßen ihren Eigensinn, lässt sich nur begrenzt durch unseren Willen steuern und bekommt deswegen leicht etwas Störendes und Beunruhigendes. Also ist es einfacher, sie auszublenden und so zu tun, als ob wir vorrangig vernünftige 187

Vgl. den Titel einer Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie von 1979 »Die Wiederentdeckung des Leibes«, hg. von Michael Pflüger, Fellbach 1981, und D. Kamper / Ch. Wulf, Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M. 1982. 188 Der diesbezügliche Klassiker ist der von F. Perls / R. Hefferline / P. Goodman herausgegebene Band »Gestalt Therapy«, New York 1951. 189 Vgl. Elisabeth Naurath, Seelsorge als Leibsorge, Stuttgart/Berlin 2000, vor allem 170ff. 190 Zitiert bei Naurath 2000, 171. 191 Andeutungen zum Thema finden sich bei Naurath, 199ff; vgl. auch Isolde Karle, »Da ist nicht mehr Mann noch Frau«. Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz, Gütersloh 2006.

2. Leib und Seele im Kontext der totalen Institution Gefängnis

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Wesen seien. Insofern stellt das Thema dieser Tagung auch den Versuch dar, vertraute und eingefahrene Kreise in der Seelsorge zu stören. Ich hoffe, ich kann ein wenig dazu beitragen. 2. Leib und Seele im Kontext der totalen Institution Gefängnis Leib bedeutet »gleichzeitig wahrnehmbares Äußeres und wahrnehmendes Inneres«.192 Jede seelische Empfindung wirkt sich nicht nur auf den Körper aus, sondern ist zugleich eine körperliche. Wer sich freut, dessen Blick und Körperhaltung wirkt offen und entspannt, die Muskulatur locker; wer sich ärgert, erscheint sichtbar angespannt, die Pulsfrequenz erhöht sich usw. Alle Stimmungen und Emotionen spiegeln sich in der Körperhaltung; manches davon nehmen wir bewusst wahr, anderes nicht. Untersuchungen der mimischen Muskulatur zeigen, dass hier feinste Veränderungen vor sich gehen, lange bevor man sie bewusst registriert.193 Besonders interessant ist dabei, dass inneres Erleben und motorischer Ausdruck einen Regelkreis bilden, sich also gegenseitig verstärken:194 Der körperlich-muskuläre Ausdruck eines Gefühls spiegelt die innere Erregung, wirkt aber gleichzeitig intensivierend auf die Erregung zurück. Umgekehrt muss man dann auch sagen: Wenn auf Grund kultureller und institutioneller Regeln der Ausdruck von Gefühlen unterdrückt wird, wird auch das innere Erleben solcher Gefühle erschwert bis unmöglich gemacht. Schon Sigmund Freud hat die These aufgestellt, dass unser Ich wesentlich ein Körper-Ich ist, d.h. die körperlichen Empfindungen, wie sie sich aus der Interaktion mit anderen und der Wahrnehmung der Außenwelt bilden, stellen die körperliche Grundlage unseres Selbstbewusstseins dar. Der unlösliche Zusammenhang von Leib und Seele bildet sich in unseren Emotionen ab: Emotionen kann man als leib-seelische, automatische Bewertungsreaktionen verstehen; sie laufen in Millisekunden ab, unterscheiden relevante von irrelevanten Reizen und steuern damit unser Verhalten.195 Manchmal stellen Emotionen Reaktionen auf akute 192

Kurt Mosetter / Reiner Mosetter, Kraft in der Dehnung. Ein Praxisbuch bei Stress, Dauerbelastung und Trauma, Düsseldorf 72009, 14. 193 Vgl. Mosetter/Mosetter, a.a.O., 15. 194 Hans Peter Dreitzel, Der Körper als Medium der Kommunikation, in: Arthur E. Imhof (Hg.), Der Mensch und sein Körper, München 1983, 179–196, 193f. 195 Paul Ekman, Gefühle lesen, Heidelberg 2007, 29 u.ö. In der Literatur hat sich im Anschluss an den Neurobiologen Antonio Damasio, Der Spinoza-Effekt, Berlin 52009, die Unterscheidung von Emotionen und Gefühlen eingebürgert. Danach stellen Emotionen die nicht bewussten, stark von körperlichen Bedürfnissen gesteuerten Grundlagen des Erlebens dar, während Gefühle jene Reaktionen bezeichnen, die bewusst und mit einem gewissen kognitiven Gehalt erlebt werden.

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IX Das Wort soll Fleisch werden …

Ereignisse dar (ein Stuhl fällt krachend um, ich zucke zusammen und empfinde einen Moment lang Angst), manchmal werden sie aber auch durch alte, früh gelernte Muster ausgelöst, die ihre Bedeutung beibehalten haben, obwohl sie gegenwärtig nicht mehr wirklich angemessen sind. Beispiel: Ein Gefangener macht eine harmlose, aber leicht abwertende Bemerkung über einen Mithäftling; sofort wird dessen aus Kindheit und Jugend tief sitzendes Gefühl eigener Wertlosigkeit aktiviert, er bekommt einen Wutanfall und greift den anderen heftig an. Emotionen haben die Eigenart, dass sie unsere Weltsicht bestimmen und den Zugriff auf neue Informationen erschweren oder gar verhindern.196 Wer beispielsweise mit dem Lebensgefühl groß geworden ist »ich werde dauernd benachteiligt«, aktiviert diese Emotion auch da, wo Außenstehende keine Benachteiligung erkennen können und nimmt Situationen, die Anlass zu einer veränderten Bewertung böten, nicht wahr. Das erklärt, warum Menschen trotz bester bewusster Absichten immer wieder ähnlich reagieren und ihr Verhalten so schwer verändern können (was Freud den Wiederholungszwang genannt hat). Konsequenzen solcher Erkenntnisse für Menschen, die in der totalen Institution Gefängnis leben müssen, zeichnen sich relativ deutlich ab – ein paar Hinweise: Ein Gefängnisaufenthalt stellt eine Form von Dauerbelastung oder »permanenter Krisensituation« dar, die dazu führt, so beschreibt es Otto Schäfer, dass Kontaktstörungen, Misstrauen und Argwohn wachsen, Vereinsamung, Minderwertigkeitsgefühle, Affektlabilität, Aggressionsgelüste und vor allem Angst stark zunehmen.197 Diese seelische Befindlichkeit spiegelt sich im körperlichen Ausdruck: Anmut und Leichtigkeit, die manche körperlichen Bewegungen im Zustand der Entspannung und Freude auszeichnen, sind verloren gegangen.198 Der langsame, manchmal schlurfende, in sich gekehrte Gang vieler Gefangener oder ein unruhiges, verspanntes Auftreten oder eine deutlich angespannte mimische Muskulatur sind Spiegel eines deprimierten, verunsicherten oder aggressionsgeladenen seelischen Zustandes, und gleichzeitig intensiviert und verstärkt die Körperhaltung das innere Befinden: Jemand duckt sich, weil er verängstigt ist, jemand spürt Angst, weil er sich duckt.199 Wenn sich die Körperhaltung dann noch habitualisiert und chronifiziert, verhindert sie seelische Entspannung – ein Teufelskreis 196 197

Ekman 2007, 55ff. Otto Schäfer, Das bestimmende Grundgefühl bei Strafgefangenen, in: Seelsorger eingeschlossen, hg. von Peter Rassow, Stuttgart 1987, 96. 198 Vgl. Angela Klopstech, Anmut, Gnade und bioenergetische Therapie, in: Michael Klessmann / Irmhild Liebau (Hg.), Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes, Göttingen 1997, 136–150. 199 Vgl. Mosetter 2009, 27.

2. Leib und Seele im Kontext der totalen Institution Gefängnis

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entsteht. Das Körpergedächtnis bewahrt als Haltung oder bestimmte Anspannung auf, was als szenische Erinnerung vielleicht schon abgespalten und verdrängt, also dem Bewusstsein und der Sprache nicht mehr zugänglich ist.200 Die spezifische Kultur der totalen Institution unterdrückt tendenziell den Ausdruck von Emotionen, weil man sich dadurch sowohl gegenüber Mitgefangenen wie Bediensteten angreifbar und verletzbar macht. Die Unterdrückung der großen Bandbreite und Variabilität von Emotionen bildet sich auch körperlich ab nicht nur in der schon erwähnten Körperhaltung, sondern auch in einer Verringerung des Sprachschatzes, einem »sprachlichen Einrosten«201, und einer Reduktion von Selbstwahrnehmung und Kommunikationsmöglichkeiten. Diesen Vorgang kann man wiederum neurobiologisch erklären: Die sog. Spiegelneuronen lösen Resonanzvorgänge und damit Verstehen, Empathie und Intuition, zusammengefasst: gelingende Wechselseitigkeit aus.202 Wenn solche Resonanzphänomene systematisch durch die Art der Unterbringung eingeschränkt und verhindert werden, leidet die Resonanz- und Spiegelungsfähigkeit eines Menschen überhaupt. Die Folgen für ein Leben außerhalb der Institution sind gravierend und erklären z.T. die hohe Rückfallquote. Die strukturelle Dynamik wird durch eine persönlichkeitsspezifische verstärkt: Viele Inhaftierte haben in ihrer Biographie schwere Traumata, tiefgreifende Verlust- und Mangelerfahrungen erleben müssen; das kann zur Bildung einer Persönlichkeitsstruktur führen, die Udo Rauchfleisch »dissozial« genannt hat.203 Eine Grundemotion wie »mir wird hier Unrecht getan« verhindert weitgehend die Wahrnehmung abweichender Erfahrungen, die Betroffenen nehmen nur das wahr, was sie in ihrer Einstellung bestätigt. Das wiederum trägt dazu bei, dass ihre emotionale Schwingungsfähigkeit langsam, aber sicher zurückgeht, dass sie sich selbst fremd werden, ihre eigenen Gefühle nicht mehr spüren und »gefühlsmäßig versteinern«.204 D.h. Die Dynamik der Institution und die Persönlichkeitsdynamik verstärken sich in destruktiver Weise wechselseitig. 200

Vgl. Dorothea Rahm u.a., Einführung in die Integrative Therapie, Paderborn 1993, 110f. 201 So formuliert es Otto Schäfer, Das bestimmende Grundgefühl bei Strafgefangenen, a.a.O., 96. 202 Vgl. dazu Joachim Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Hamburg ²2005; Sibylle Huerta Krefft, Sinn und Sinnlichkeit in der Supervision, in: Supervision. Mensch – Arbeit – Organisation, 1/2009, 37–41. 203 Udo Rauchfleisch, Begleitung und Therapie straffälliger Menschen, Göttingen ²2008, 119ff. 204 Rauchfleisch 2008, 9.

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IX Das Wort soll Fleisch werden …

Man kann auch vom Begriff und Phänomen des Stress zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen: Stress bezeichnet eine körperliche Alarmreaktion auf wahrgenommene Gefahren oder Belastungen: In der Stressreaktion werden körperliche Abwehrkräfte (u.a. durch erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol u.a.) mobilisiert, insofern sind sie zunächst sinnvoll.205 Wenn die Belastungen jedoch chronisch werden, weil positive, entspannende Sozialkontakte kaum möglich sind, weil grundlegende Bedürfnisse nach Wertschätzung und Anerkennung nicht erfüllt werden können, weil man ständig in Unsicherheit und Angst lebt, entsteht entsprechend eine chronisch-muskuläre Anspannung, die sowohl die Krankheitsanfälligkeit erhöht als auch die Gehirnentwicklung beeinträchtigt. Letzteres erscheint mir besonders verhängnisvoll. Der Neurobiologe Gerald Hüther hat in einem Interview gesagt: »Die Strukturierung des Gehirns hängt davon ab, wie wir es benutzen. Damit es den Anforderungen im wirklichen Leben gewachsen ist, muss ein möglichst großes Netzwerk entstehen. Dafür muss man sich in einer komplexen Lebenswelt bewegen.«206 Die neuronalen Netze im Gehirn verändern sich ständig, man spricht von Neuroplastizität. D.h. Erleben und Verhalten werden in den neuronalen Schaltkreisen niedergelegt und verkörpert – und hier ist eine ständige Weiterentwicklung möglich, aber eben auch Stillstand oder Rückentwicklung. Neuronenverbindungen, die nicht genutzt werden, werden geschwächt oder sterben ab. Es gilt das Prinzip »use it or loose it«, wie es ein Neurologe formuliert hat.207 Ein amerikanischer Forscher hat sogar von der »sozialen Konstruktion des menschlichen Gehirns« gesprochen.208 Das Gefängnis stellt eine stark komplexitätsreduzierte und einseitige Umwelt dar, so dass entsprechend negative Folgen für die Gesundheit insgesamt wie im Besonderen für die Gehirnentwicklung der Inhaftierten zu befürchten sind. 3. Ambivalenzen der Leiblichkeit Das Stichwort Leiblichkeit wird von vielen hoch geschätzt, weil es Ganzheitlichkeit verspricht – und das Stichwort »ganzheitlich« erscheint 205 206

Vgl. Heiko Waller, Gesundheitswissenschaft, Stuttgart ²1996, 45ff. www.brainobic.at/downloads/interviewmitprofhuethergerhildloechli.pdf (Sperrung von MK). 207 Zitiert nach Christian Gottwald, Bewusstseinszentrierte Körperpsychotherapie – angewandte Neurobiologie?, in: Serge Sulz / Leonhard Schrenker / Christoph Schricker (Hg.), Die Psychotherapie entdeckt den Körper oder: Keine Psychotherapie ohne Körperarbeit?, München 2005, 105–198, 112. 208 Zitiert bei Joachim Bauer, Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, München/Zürich 132008, 10.

3. Ambivalenzen der Leiblichkeit

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heutzutage immer irgendwie gut. Angesichts der Zersplitterung unserer Lebenswelten, angesichts der Funktionalisierung unserer Körper in der Medizin, angesichts des jahrhundertealten Leib-Seele Dualismus mit seinen unglücklichen Folgen wirkt Ganzheitlichkeit wie das Versprechen einer besseren Welt. Allerdings wird dabei die Ambivalenz der Leiblichkeit leicht übersehen: – Leib, Körper ist nichts Natürliches oder Naturgegebenes, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, sondern durch und durch kulturell und sozial bestimmt. Das soziale Milieu, in das ein Kind hineingeboren wird, die Art der Ernährung, Bewegung, körperliche und geistige Anregungen, die einem angeboten oder vorenthalten werden – dies alles bildet sich auf die eine oder andere Weise im Körper ab und formt ihn mit. In der Gegenwart erscheint der Körper als Projekt, als »Bio-Aktie«, in die man investiert, um sich jung und schön und fit zu halten – Eigenschaften, die zu Garanten gesellschaftlichen Erfolgs gehören. Gleichzeitig ist es gerade der Körper, der uns besonders eindringlich auf die Begrenztheit und Brüchigkeit des Lebens hinweist: Jede Verletzung, jede Krankheit führt uns vor Augen, dass wir endlich sind und, mit Martin Luthers drastischer Ausdrucksweise gesprochen: ein Madensack! – Eine besondere Form der kulturellen Vermittlung bilden die kollektiven und individuellen Körperbilder oder Körperschemata, mit deren Hilfe wir uns selbst und andere wahrnehmen.209 Man kann sich das am Beispiels des Blicks in den Spiegel klar machen: Was wir da sehen, ist nie ein objektives Bild von uns selbst (abgesehen davon, dass es seitenverkehrt ist!), sondern nur das, was wir sehen wollen, also Projektion. Die an einem bestimmten Schönheitsideal orientierte Frau sieht vorrangig die Falten und Pickel, die ihre Schönheit beeinträchtigen; der auf Muskelpakete trainierende Mann sieht vor allem die Stellen, wo es noch nicht reicht. Lebendig wird ein Gesicht erst im Kontakt mit anderen – und da können wir uns selber nicht sehen. Körperbilder (und die dazugehörigen Gefühle) werden im Lauf der Sozialisation erlernt. Die Art und Weise, wie Eltern und Bezugspersonen mit unserem Körper umgegangen sind, später dann Vorbilder und Peers in der Pubertät, und natürlich die Medien tragen wesentlich dazu bei, welches Körperbild und welche Einstellung jemand zu seinem Körper gewinnt. D.h., das, was uns einerseits als leicht feststellbares und scheinbar objektiv gegebenes Objekt zuhanden ist, gibt es doch immer nur in unserer mehr oder

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Vgl. dazu ausführlicher Michael Klessmann, Zur Ethik des Leibes – am Beispiel des Körperschemas, in: Michael Klessmann / Irmhild Liebau (Hg.), Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes. Körper – Leib – Praktische Theologie, Göttingen 1997, 80–90.

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IX Das Wort soll Fleisch werden …

weniger schematisierten, kulturell bedingten und individuell gewachsenen Selbstwahrnehmung.210 Kommunikation vollzieht sich zu großen Teilen nonverbal: Mimik, Gestik, Tonfall und Tonhöhe, Sprechgeschwindigkeit, Nähe und Distanz der Sprechenden haben in jeder Kommunikation Priorität (sie läuft also nicht nur mit!). In der Kommunikationswissenschaft geht man davon aus, dass etwa zwei Drittel der Bedeutungsvermittlung nonverbal geschieht und nur etwa ein Drittel durch Sprache.211 Paul Watzlawick hat das in das berühmt gewordene Kommunikationsaxiom gekleidet, dass jede Kommunikation eine Inhalts- und eine Beziehungs- oder Gefühlsdimension besitzt und dass die Beziehungsdimension die Inhaltsdimension steuert! Das bildet sich auch darin ab, dass wir den non- oder paraverbalen Aspekten mehr als den verbalen vertrauen: Wenn Inhalts- und Beziehungsebene nicht übereinstimmen, lassen wir uns von dem leiten, was der Körper sagt (etwa indem jemand rot wird, oder wegschaut oder plötzlich stottert etc.) und nicht von den Worten. Das hat damit zu tun, dass viele körpersprachlichen Signale unbewusst ablaufen und sich nur schwer oder gar nicht kontrollieren lassen (Erröten, ein spontanes Zögern in der Sprache etc.). Gleichzeitig jedoch ist dieser körpersprachliche Teil der Kommunikation merkwürdig uneindeutig und lädt noch mehr als Worte zu Projektionen ein: Bedeutet ein Lächeln Freude und Entspannung oder macht sich jemand insgeheim über mich lustig? Ist die Umarmung wirklich Ausdruck der Zuneigung oder nur gesellschaftliche Konvention? Ist die Wut echt oder gespielt? Anders gesagt: Man kann Gestik und Mimik in Maßen unterdrücken, kann sie in Grenzen trainieren, kann lernen, sie zu verstärken oder zu reduzieren. Zwar gibt es den Satz »der Körper lügt nicht«, das gilt aber nur für überraschende oder extreme Situationen. In einer vorhersehbaren Begegnung kann man dem Körper seine Ehrlichkeit durchaus in Grenzen abgewöhnen. (Verkaufspersonal z.B. wird darauf trainiert, bei einer schwierigen Interaktion mit Kunden an etwas Schönes zu denken, damit sie auch den muffeligen Kunden mit freundlichem Lächeln begegnen können!). Was ist also noch echt in der Kommunikation? Dazu kommt, dass die verbale Kommunikation in der Regel deutlich differenzierter ausfällt als die nonverbale. Aber: Die körperlichen Anteile können die differenzierteren verbalen völlig überlagern: Der Faustschlag erübrigt erst einmal jede weitere Beziehungsklärung, in der Umarmung werden mögliche Ambivalenzen erst einmal erdrückt.

Vgl. dazu ausführlicher Isolde Karle 2006, 81ff. Vgl. Axel Hübler, Das Konzept ›Körper‹ in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften, Tübingen/Basel 2001, 11; vgl. auch Andrea Bieler, Das bewegte Wort, PTh 95 (2006), 272.

3. Ambivalenzen der Leiblichkeit







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(Wir müssten in einem workshop die verschiedenen Funktionen der nonverbalen Kommunikation durchspielen und ausprobieren.212) Genuss, die Lust an Sinnlichkeit und Zärtlichkeit, erleben wir durch den Leib: Wer einen anderen Menschen liebt, möchte ihn berühren und spüren; wer einen anderen hasst, möchte ihm eins reinhauen. Die Wahrnehmung unserer selbst und unserer Umwelt, Essen und Trinken sowie unsere Ausscheidungen spüren wir zuerst körperlich. Zugleich kann uns das Begehren des Leibes Angst machen, weil es dazu neigt, ethisch-moralische Regeln und Kontrollbedürfnisse in den Wind zu schlagen. Wenn die Liebe, von der wir in den Kirchen so viel reden, leibhaftig und spürbar würde, würde die geschätzte Ordnung in den Kirchen schnell in Gefahr geraten. Nicht umsonst heißt das Buch von U. Beck über die Liebe »das ganz normale Chaos der Liebe«. Leibliches Begehren ist amoralisch und möchte das aus dem Weg räumen, was seiner Befriedigung im Weg steht. Leiblichkeit mit ihren Bedürfnissen gefährdet etablierte Strukturen – in einer totalen Institution erscheint das besonders gefährlich. Der Leib wird zum Objekt – und zugleich zum Symbol. Als Objekt ist der Körper so und so beschaffen, Gegenstand der Pflege oder der ärztlichen Aufmerksamkeit; als Symbol wird er zur Bühne der Selbstdarstellung, zur Inszenierung der Person. Solche Inszenierungen sind einerseits individuell, andererseits unvermeidlich sozial und schichtspezifisch geprägt. Menschen aus niedrigen sozio-kulturellen Milieus inszenieren sich anders als solche aus einem Bildungsmilieu.213 So dienen Tätowierungen sowohl als In-Group-Erkennungszeichen wie auch als Out-Group-Stigmata. Bräune oder Blässe der Haut werden unterschiedlich gewichtet, ebenso ein muskulöser oder eher schmächtiger Körper usw. Deswegen ist mit der Wahrnehmung der Körperlichkeit des anderen Menschen häufig auch die Wahrnehmung von dessen sozialer Zuordnung verbunden. Der Leib ist eine der wesentlichen Säulen menschlicher Identität.214 Störungen oder Einschränkungen der Leiblichkeit haben immer Folgen für das Identitätsgefühl. In ihrer Leiblichkeit sind Menschen miteinander verbunden, denn in seinen Grundstrukturen ist der Körper für alle gleich, ausgestattet mit denselben Organen und Funktionen. Zugleich ist der Körper dasjenige, was uns absolut einzigartig erscheinen lässt und voneinander trennt. Die Einzigartigkeit des Fingerabdrucks verdeutlicht nur, was für den Körper als Ganzen gilt: Hier wird äußerlich sichtbar, wer wir sind. Aber selbst dieses

Vgl. Karl Delhees, Soziale Kommunikation, Opladen 1994, 133ff. Vgl. Gunter Gebauer, Ausdruck und Einbildung. Zur symbolischen Funktion des Körpers, in: Kamper/Wulf 1982, 313–329. 214 Vgl. das Modell der fünf Säulen der Identität von Hilarion Petzold, knapp dargestellt bei D. Rahm u.a. 1993 (Anm. 199), 155f.

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IX Das Wort soll Fleisch werden …

scheinbar objektiv Gegebene ist heutzutage nicht unverrückbare Form, sondern Gegenstand der Gestaltung, »work in progress«,215 wie ein Identitätsforscher formuliert und damit wissenschaftlich ausdrückt, was ein Buchtitel für die Gegenwart salopp als »Baustelle Body« bezeichnet.216 Damit gerät alles zur Aufgabe: Körperarbeit, Identitätsarbeit, Trauerarbeit etc., für manche eine reizvolle Herausforderung, für viele, die nicht über die notwendigen sozialen und emotionalen Ressourcen verfügen, eine anstrengende Überforderung. Leiblichkeit – ihre Wahrnehmung, noch mehr ihre Berührung bedeutet Nähe zwischen Menschen. Nähe zwischen Menschen, die sich vertraut sind, kann Freude und Genuss auslösen; zwischen denen, die sich fremd sind, aber auch Unbehagen und Angst. (Achten Sie mal darauf, wie Sie reagieren, wenn im Kino oder im Zug ihr fremder Sitznachbar plötzlich ihren Arm mit seinem berührt oder mit seinem Knie an ihres stößt.) Deswegen ist es mit dem Anfassen oder einem Friedensgruß im Gottesdienst so schwierig: Die einen wünschen sich das sehr, für andere ist das bereits viel zu nah. Manche haben ein Körperempfinden, das solche Begegnungen nur schwer zulässt – dass muss man respektieren. Diese Ambivalenz gilt besonders bei Menschen, denen man dissoziale Persönlichkeitsmerkmale zuschreibt: Auf der einen Seite haben sie eine tiefe Sehnsucht nach Nähe und zugleich panische Angst, die ersehnte Nähe könnte Wirklichkeit werden.217

4. Leiblichkeit in der seelsorglichen Kommunikation im Gefängnis Seelsorge besteht in den meisten Fällen aus Kommunikation unter Anwesenden, d.h. die Beteiligten sehen, hören und spüren sich direkt, ohne Vermittlung eines Mediums. Dieses direkte Sehen, Hören und Spüren bedeutet, dass wir eine große Fülle von Informationen austauschen, die weit über die begrenzten sprachlichen Inhalte hinausgehen. Die Fülle der Informationen entsteht dadurch, dass unsere Körper an der Kommunikation beteiligt sind, und zwar so, dass sie sowohl Resonanzboden als auch Darstellungsbühne der Kommunikation bilden.218 Fast jede Begegnung zwischen zwei Menschen beginnt damit, dass man sich wechselseitig ansieht – selbst, wenn man sich nicht ansieht, ist es unmöglich, in Gegenwart eines anderen nicht zu kommunizieren. Paul Watzlawick hat dementsprechend einen sehr weiten Kommunika215

Zitiert in Heiner Keupp u.a. (Hg.), Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 22002, 88. 216 Sonya Kraus, Baustelle Body 2009. 217 Vgl. Rauchfleisch 2008, 15, 120. 218 Dreitzel 1983, 180.

4. Leiblichkeit in der seelsorglichen Kommunikation im Gefängnis

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tionsbegriff eingeführt und formuliert: Man kann nicht nicht kommunizieren. Zwei Menschen stehen sich in ihrer Leiblichkeit gegenüber und gewinnen in Bruchteilen von Sekunden einen ersten visuellen Eindruck, auf doppelte Weise: 1. Wie sieht die andere Person aus? In welcher Haltung und in welchem Abstand steht oder sitzt sie mir gegenüber? Welche Gedanken und Gefühle verbinde ich mit dem Aussehen, sowohl mit der Körperlichkeit als auch mit der Kleidung? (Jemand spricht mich bereits vom Äußeren her an, ein anderer lässt mich gleichgültig, ein dritter stößt mich ab, ein vierter erscheint mir unheimlich). Dasselbe gilt natürlich für den Seelsorger, die Seelsorgerin: Welchen ersten Eindruck vermittle ich durch mein Aussehen, meine Kleidung, mein Verhalten? Bringe ich durch mein Auftreten zum Ausdruck, dass mir das Gegenüber wichtig ist, ich Zeit habe oder dass ich eigentlich mit Anderem beschäftigt bin? Etc. 2. Besonders wichtig ist der Blick der anderen Person: Wie guckt jemand? Offen, neugierig, an einer Begegnung interessiert, so dass ich mich angesehen fühle? Oder blickt er abweisend, verschlossen? Oder abwesend? Oder aggressiv herausfordernd? Die dadurch ausgelösten eigenen Reaktionen (Gefühle wie Gedanken) stellen vorrangig Projektionen dar: Man erinnert sich an Vertrautes oder Befremdliches, man phantasiert angenehme oder bedrohliche Konstellationen, man fühlt seine ästhetischen Standards bestätigt oder in Frage gestellt. Insofern ist es für professionelle Kommunikatoren unbedingt wichtig, diesen ersten Eindruck bewusst zu registrieren und zu überprüfen (statt ihm unbewusst zu erliegen und ihn dann zu agieren!). In Deutschland (im Unterschied etwa zu den USA) setzen sich die meisten Begegnungen so fort, dass man sich die Hand gibt – und auch dabei wird intensiv kommuniziert: trockene oder feuchte Hände, warme oder kalte, weiche oder harte, ein fester Händedruck oder ein schlaffer. Der erste visuelle Eindruck wird auf diese Weise bekräftigt oder erweitert oder korrigiert. Bevor zwei Menschen Worte ausgetauscht haben, haben sie bereits viele körpersprachliche Signale ausgetauscht. Zusammen mit der expliziten Begrüßung und den ersten Präliminarien nennt Elisabeth Naurath diesen Gesprächsbeginn die Zutritts-, Begrüßungsund Etablierungsphase.219 Daran schließt sich die eigentliche Gesprächsphase an, auf die gegen Ende noch eine Ritualphase folgen kann, um dann mit Aufbruchs- und Abschiedsphase zum Ende zu kommen. Für die eigentliche Gesprächsphase kann man mit dem amerikanischen Anthropologen Paul Ekman vier Typen von körpersprachlichen Ausdrucksformen unterscheiden:220 219 220

Elisabeth Naurath 2000, 180ff. Nach Dreitzel 1983, 182ff.

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IX Das Wort soll Fleisch werden …

1. Die sog. Illustratoren meinen gestische, mimische und stimmliche Bewegungen, die das Gesagte unterstreichen, betonen oder auch abmildern. Die Stimme, die Art des Sprechens (Tonfall etc.), aber auch Mimik und Gestik signalisieren dem Gegenüber, wie das Gesagte gemeint ist. Häufig sind solche Illustratoren der redenden Person unbewusst. 2. Regulatoren kommentieren den Stand der Beziehung: Durch Lächeln oder Kopfnicken signalisiere ich mein Interesse, meine Bereitschaft zuzuhören, Stirnrunzeln oder Wegschauen zeigen an, dass ich anderer Meinung bin. Auch die gesamte Körperhaltung – aufmerksame Hinwendung oder gelangweilte Abwendung, das Maß an Nähe oder Distanz – sagt etwas über den gegenwärtigen Beziehungsstatus aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass solche Verhaltensweisen häufig nicht gezielt eingesetzt werden, sondern eher unbewusst von statten gehen. Umso größer ist ihre Auswirkung auf die laufende Kommunikation. 3. Als Embleme bezeichnet Ekman vorwiegend Handgesten, die oft als Sprachersatz verwendet werden: Denken Sie beispielsweise an den Stinkefinger oder den erhobenen bzw. gesenkten Daumen. Solche Embleme sind häufig kulturspezifisch, was zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Kulturen leicht zu Missverständnissen führen kann. 4. Emotionale Expressionen beziehen sich auf mehr oder weniger autonome Körperreaktionen wie Beschleunigung des Atems, Schwitzen, Erbleichen oder Erröten, in Tränen ausbrechen. Sie lassen sich am wenigstens steuern und sagen sehr viel über den emotionalen Zustand des Gegenübers aus. Diese grobe Typisierung vermittelt einen ersten Eindruck von der Bedeutung und der Komplexität der Körpersprache und wie wichtig ihre aufmerksame Wahrnehmung ist. Die schon erwähnten Forschungen in den Neurowissenschaften zu den sog. Spiegelneuronen haben die Differenziertheit des Kommunikationsprozesses noch einmal bestätigt.221 Spiegelnervenzellen im Gehirn bilden die physiologische Basis für Resonanz, für Intuition und Empathie. Es handelt sich um Nervenzellen, dank derer die Beobachtung von Handlungen dieselben emotionalen Reaktionen auslöst, als wenn wir die Handlung selbst vollzögen. Wer sieht, wie ein Kind hinfällt, empfindet selber Schmerz; wer mitbekommt, wie sich zwei freudestrahlend in die Arme fallen, empfindet selber Freude. Intuition bezieht sich darüber hinaus aber auch auf viel feinere Phänomene: Bereits die innere, nicht ausgesprochene oder gezeigte Einstellung der Seelsorgerin etwa löst eine korrespondierende Resonanz beim Gefangenen aus und umgekehrt.222 Manchmal zeigt sich 221 222

Joachim Bauer ²2005 (Anm. 208). Bauer 2005, 129ff.

4. Leiblichkeit in der seelsorglichen Kommunikation im Gefängnis

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die jeweilige Einstellung recht offenkundig in der Art des Auftretens (ob beispielsweise jemand aggressiv gestimmt ist oder sich langweilt, ob jemand im Grunde keine Lust auf ein Gespräch hat), manchmal lässt sie sich nicht direkt beobachten und wird doch auf Grund feinster Körpersignale vom Gegenüber wahrgenommen. Wenn es stimmt, dass Menschen im Gefängnis in ihren emotionalen Reaktionen verarmen, dann ist es von größter Wichtigkeit, explizit über die Wahrnehmung von Resonanzen zu kommunizieren, um auf diese Weise dazu beizutragen, dass die Spiegelungsfähigkeit des Gegenübers nachreifen kann.223 Vor dem Hintergrund dieser Andeutungen formuliere ich einige Anregungen für die Seelsorge im Gefängnis, die über die allgemeine Aufforderung, Körpersprache aufmerksam wahrzunehmen, hinaus gehen; vielen von Ihnen sage ich damit nichts Neues, andere werden skeptisch sein. Diese Zwiespältigkeit ist dem Thema angemessen, denn im Umgang mit der Leiblichkeit berühren wir gewissermaßen das Zentrum der Person – und das ist außergewöhnlich empfindlich und verletzlich. Deswegen ist ein vorsichtiges, sensibles Vorgehen hier besonders angezeigt.

– Wer verstärkt auf die Körpersprache in der Kommunikation achten





223 224

will, sollte zunächst die eigene Körperwahrnehmung sensibilisieren. Selbst- und Fremdwahrnehmung hängen unmittelbar zusammen, man wird sensibel für das, was bei anderen vor sich geht, wenn man es von sich selbst kennt und zulässt bzw. man übersieht und überhört, was einem selbst fremd ist oder Angst macht. Die eigene Glaubwürdigkeit als Seelsorger/Seelsorgerin hängt in hohem Maß an der Übereinstimmung von verbaler und nonverbaler Kommunikation ab, darauf gilt es zu achten, dazu braucht man immer wieder Rückmeldungen von anderen, weil man Diskrepanzen zwischen beiden Kommunikationsebenen u.U. selber nicht wahrnimmt. Teilnahme an Supervisions- oder Intervisionsgruppen, in denen Raum für solche Rückmeldungen ist, scheint mir deswegen unerlässlich. Wir müssen und können nicht alle körpertherapeutisch ausgebildet sein, aber die Beschäftigung mit einigen Übungen zur Körperwahrnehmung etwa aus der Gestalttherapie (z.B. in einem entspannten Zustand die eigene Aufmerksamkeit durch den ganzen Körper wandern lassen), aus dem Focusing,224 oder aus der konzentrativen Bewegungstherapie tun uns selbst gut und sind dann auch in der Seelsorge mit Gefangenen brauchbar. Solche Ansätze sollte man also mal erfahren haben.

Bauer 2005, 139. Eine gute Einführung in das Focusing stellt das Buch von Ann Weiser Cornell dar, Focusing – Der Stimme des Körpers folgen, Reinbek 92008.

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IX Das Wort soll Fleisch werden …

– Wer mit anderen in Kontakt treten will, sollte die Möglichkeiten



225

von Berührung ausprobieren. Je tiefer jemand gestört oder regrediert ist, desto wichtiger ist die Berührung über die Haut.225 Aus der Traumatherapie wissen wir, dass leichte Berührungen in der Regel als wohltuend und entspannend empfunden werden.226 Auch Entspannungsübungen können in bestimmten Situationen sinnvoll sein. Allerdings gilt u.U. auch das Gegenteil: Berührungen beleben möglicherweise alte Sehnsüchte und tiefe Schmerzen, können deswegen leicht als übergriffig erlebt werden, deswegen sollten sie besonders vorsichtig und in genauer Wahrnehmung dessen, was dem Gegenüber und einem selbst verträglich erscheint, geschehen. Männer in der Institution Gefängnis tun sich besonders schwer mit körperlicher Berührung, weil sie sie leicht mit unmännlicher Weichheit und Homosexualität in Verbindung bringen. Gleichwohl sollte man sich von solchen Schwierigkeiten nicht grundsätzlich abschrecken lassen. Nicht umsonst bezeichnet der Begriff der Berührung sowohl wörtlich die körperliche als auch im übertragenen Sinn die seelische Dimension. Der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott hat auf die große Bedeutung des Haltens für die Entwicklung eines Kindes hingewiesen.227 Das primäre Halten der Mutter antwortet auf das tiefe Bedürfnis des Kindes, sicher gehalten zu werden. Beim Kind ist dieses Halten zunächst ein ganz wörtlich gemeintes, physisches Halten, im späteren Leben brauchen wir alle immer wieder Beziehungen, in denen wir im wörtlichen und übertragenen Sinn das Gefühl bekommen, dass wir gehalten und ausgehalten werden. Man kann diesen Ansatz leicht auf Psychotherapie und Seelsorge übertragen: Vermittelt eine seelsorgliche Beziehung dem Gegenüber den Eindruck, dass er hier gehalten wird, ohne festgehalten zu werden? Eine solche Halt gebende Einstellung muss sich verkörpern, meistens durch die Art intensiver Zugewandtheit und Aufmerksamkeit des Seelsorgers / der Seelsorgerin, manchmal aber auch durch leichte Gesten (eine Hand auf der Schulter, Berühren des Armes der anderen Person etc.), schließlich in einem haltgebenden Milieu als Ganzem: In einem regelmäßig und verlässlich wiederkehrenden Gesprächssetting, das durch seine ritualisierte Form ein Stück Sicherheit anbietet. Diese verschiedenen Dimensionen können zusammen wirken und die Botschaft vermitteln: »Ich halte Sie aus (auf Grund

Vgl. Dorothea Rahm ²1993 (s. Anm. 199), 167f; Erving und Mirjam Polster, Gestalttherapie, München ²1975: Berührung ist der Prototyp des Kontakts, 127. 226 Vgl. Gottfried Fischer, Neue Wege aus dem Trauma, Darmstadt 2005, 42ff. 227 Zum Folgenden vgl. Thomas Auchter, Das Halten und seine Bedeutung in der allgemeinen und der psychotherapeutischen Entwicklung, WzM 52 (2000), 464–476.

5. Leiblichkeit und Wort



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meines Auftrags), so schmerzlich und schlimm ihre Biographie auch sein mag …« Erfahrungen zeigen, dass es sehr lohnend sein kann, Gefangenen Programme zur Körperwahrnehmung anzubieten. Im Internet bin ich auf einen Kurs »Stressbewältigung durch Achtsamkeit« an der JVA Brandenburg gestoßen, im letzten Mitteilungsblatt hat Dirk Harms über ein Projekt »Der seelsorgerliche Tanz« berichtet, immer wieder wird von erfolgreichen Theaterprojekten erzählt. Oder denken Sie an die Trommel-Darbietung zu Beginn dieser Konferenz. Solche Projekte stellen nicht nur eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung dar, sondern dienen eben auch einer Auflockerung der Leiblichkeit und damit einer Flexibilisierung der seelischen Welt der Gefangenen.

Leib und Seele gehen miteinander um, hat Viktor von Weizsäcker, einer der Begründer der psychosomatischen Medizin, prägnant formuliert: Wir sind in der Seelsorge gewohnt, etwas für die Seele zu tun; dass wir auch etwas für den Leib tun können und das wiederum Auswirkungen auf die Seele, auf die Gesamtbefindlichkeit eines Menschen haben kann, daran müssen wir uns wieder erinnern. 5. Leiblichkeit und Wort Körpererfahrung verspricht Ursprünglichkeit; im Körper, in achtsamer Wahrnehmung und aufmerksamem Umgang mit ihm stoßen wir anscheinend ohne Umwege und mediale Vermittlung auf die Grundlage des Lebens. Nicht umsonst erlebt das Stichwort »wellness« einen solchen Boom: In körperlicher Berührung, im Verwöhnt- und Gepflegt-werden erleben Menschen Lebensfreude, Geborgenheit, ja sogar Sinnstiftung. Entsprechend scheint der Weg vom Körper zur Spiritualität, zur Religiosität sehr kurz zu sein: Spirituelle Wege, so formuliert Willigis Jäger, setzen im Körper an, oder anders: Der Weg ins Sein führt über den Körper.228 Es entspricht jahrhundertealter Erfahrung aus fast allen Religionen: In den meisten Meditationspraktiken geht es um körperliche Übungen, die einem helfen sollen loszulassen, sich selbst loszulassen, die alltäglichen Wünsche und Begierden, Verkrampfungen und Zwänge loszulassen, um offen zu werden für das Geheimnis des Seins, für Gott. Und letztlich ist sicher auch Gotteserfahrung ein zutiefst leibliches Geschehen: Da ergreift uns etwas, da geht uns etwas unbedingt an – sicher nicht nur im Verstand. Deswegen sind rituelle Vollzüge von so großer Bedeutung: Sie beziehen den Körper ein, sie bauen darauf auf, dass die 228

Willigis Jäger und Beatrice Grimm, Der Himmel in dir. Einübung ins Körpergebet, München 42004, 11ff.

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IX Das Wort soll Fleisch werden …

Wiederholung und Wiederholbarkeit bestimmter Handlungen den ganzen Menschen erfasst und prägt. So sehr ich mit diesen Vorstellungen sympathisiere und auch die These vertrete, dass die Kirchen viel stärker mystische Elemente anregen müssten, also Räume bereitstellen sollten, in denen man wirklich etwas er-fahren kann,229 in denen also auch der Leib angesprochen wird, so sollten wir gleichzeitig nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Wenn ich beispielsweise das genannte Buch von Willigis Jäger mit dem Titel »Der Himmel in dir. Einübung ins Körpergebet« anschaue, dann scheint es nur noch um eine allgemeine Religiosität zu gehen, wie sie angeblich in allen von uns steckt und darauf wartet, sich entfalten zu können. Kommentarlos stehen in diesem Buch jüdische, christliche, buddhistische und hinduistische Texte nebeneinander, es gibt anscheinend nur noch einen einzigen religiösen Strom, dem wir uns alle anvertrauen sollten. Das erscheint mir problematisch – aus einem doppelten Grund: Zum einen gehen die spezifischen Traditionen der verschiedenen Religionen verloren, gehen auf in einem großen Einerlei. Zum anderen ist die Sprache des Körpers immer vieldeutig und bedarf, um eindeutig und präzise zu werden, der deutenden Worte. Nehmen Sie das Beispiel der Rituale: Wir haben seit einigen Jahren die Bedeutung von Ritualen im Alltag wie im religiösen Leben neu entdeckt, gerade weil sie eine unverzichtbare leibliche Dimension einschließen. Ein Ritual kann man definieren als eine festgelegte, wiederholbare Symbolhandlung. Das Handlungselement – beim Segen die Handauflegung, beim Gebet eine bestimmte Körperhaltung, beim Abendmahl das Schmecken – macht das Ritual nachvollziehbar auch für solche Menschen, die etwa einer Predigt nicht (mehr) folgen können oder wollen. Gleichzeitig braucht dieser leibliche Handlungsvollzug jedoch das deutende Wort, weil nur so die vieldeutige Handlung Eindeutigkeit gewinnt. Am Beispiel des Segens: Erst der Segensspruch – Gott segne dich o.ä. – macht klar, dass es im Segen nicht um die nett gemeinte Berührung durch den Pfarrer geht, sondern dass er in seiner Rolle als Mittler des göttlichen Segens auftritt. Die Vieldeutigkeit des Leibes und der Körpersprache bedarf des vereindeutigenden Wortes so wie das abstrakte, digitale Wort die Verdeutlichung durch analoge Körpersprache braucht. Beides gehört zusammen – wir sollten uns durch die Themenstellung nicht verleiten lassen, diesen dialektischen Zusammenhang einseitig aufzulösen.

229

Vgl. Michael Klessmann, Aufbrechen oder Bewahren? Praktisch-theologische Anmerkungen zum gegenwärtigen Stand der Volkskirche, PTh 98 (2009), 1–19.

X Ärger, Aggression und Gewalt Schwierige Themen in Seelsorge und Beratung230

1. Einleitung Ärger, Aggression und Gewalt sind »alte« Themen, die seit langem und immer wieder Aufmerksamkeit fordern. Zu allen Zeiten und in allen Beziehungsformen gibt es Streit und Auseinandersetzungen, die mit entsprechenden Gefühlen und Verhaltensweisen einhergehen. In den 70er Jahren stand für viele von uns im Vordergrund, die konstruktiven Aspekte von Aggression neu zu entdecken und sie nicht, wie das in bürgerlich-christlichen Milieus weitgehend der Fall war, als ausschließlich negativ und destruktiv zu charakterisieren. Diesbezüglich hat sich, glaube ich, eine ganze Menge positiv verändert. Seit gut 20 Jahren ist jedoch ein neues Phänomen zu beobachten: Aggression und Gewalt (wie ich die beiden Begriffe unterscheide, erläutere ich später) haben vor allem unter Kindern und Jugendlichen zugenommen; Gewalt »von rechts« spielt eine nicht mehr zu übersehende Rolle. Auch wenn statistisch gesehen die Zahlen derer, die aktiv zu Gewalt greifen, immer noch relativ gering sind, so reicht es aus, die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese Phänomene zu richten. Eben dies ist ein positiver Vorgang, der, so sagen Kenner der Situation, zu einem Einstellungswandel und damit zu realen Veränderungen von Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit führen könnte.231 Ärger, Aggression und Gewalt sind darüber hinaus nicht nur Themen, die uns bei anderen begegnen; sie bezeichnen eine Dimension des Menschlichen, an der wir alle partizipieren. Jede und jeder von uns ärgert sich mehr oder weniger, neigt in bestimmten Situationen mindestens zu verbal aggressivem Auftreten (schimpfen Sie im Auto über andere Verkehrsteilnehmer?) und hat durchaus Impulse zu gewaltförmigem Verhalten in sich (z.B. wenn Sie Wut auf ein Kind kriegen und dem am liebsten eine Ohrfeige verpassen möchten) – aber es gibt natürlich auch das Gegenteil: manche haben eine ausgeprägte Scheu vor dem Thema, nehmen Aggression bei sich und anderen kaum wahr, können schwer damit umgehen, erleben Schuld- und Schamgefühle im Zusammenhang mit aggressiven Regungen. Insofern ist dies ein Thema, das sich kaum in 230

Vortrag beim 2. Seelsorge- und Beratertag Mecklenburg-Vorpommern am 9.4.2008 in Güstrow. 231 Vgl. Manfred Cierpka (Hg.), Möglichkeiten der Gewaltprävention, Göttingen 2005, 13ff.

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X Ärger, Aggression und Gewalt

vornehm-neutraler Distanz behandeln lässt – wir sind selber immer mit dabei mit unseren eigenen biographischen Erfahrungen, mit unseren Stärken und Schwächen und mit der je spezifischen gesellschaftlichen Situation, in der wir leben, die mal mehr, mal weniger Aggressions- und Gewaltfördernd ist. In Fortbildungen und Supervisionen fällt mir auf, wie viele von uns sich mit dem Thema nach wie vor schwer tun. Von daher ist es immer wieder sinnvoll und wichtig, sich mit dem Thema zu befassen. Ich erzähle Ihnen kurz drei Szenen, die mir in der letzten Zeit begegnet sind: – Pfarrerin S. bringt in der Lehrsupervision einen Supervisionsfall ein: Ihre Supervisandin erzählt weitschweifig von ihrer gegenwärtigen beruflichen Situation. Frau S. kann nicht wirklich erkennen, was das Thema der Supervisandin ist, sie spürt, wie sie ungeduldig und langsam auch ärgerlich wird – aber sie bringt davon nichts zum Ausdruck. Freundlich bittet sie die Supervisandin, genauer zu sagen, um was es ihr geht – worauf die Antwort der Supervisandin wieder relativ weitschweifig und unpräzise ausfällt. Gefragt, warum sie ihre Ungeduld und ihren wachsenden Ärger nicht ausspricht und die Supervisandin konfrontiert, sagt Frau S., sie hätte Angst, die Supervisandin zu verletzten. – Eine Mutter stellt ihren 3 1/2-jährigen Sohn wegen schwerer Sprachstörungen in der Erziehungsberatung vor. Während des Gesprächs zwischen Mutter und Psychologin wirbelt der kleine Junge durch das Behandlungszimmer und droht in wenigen Augenblicken ein Chaos anzurichten. Die halbherzig-klagenden Ermahnungen der Mutter gehen völlig an dem Jungen vorbei. Schließlich wartet die Psychologin nicht länger, greift sich den Jungen beherzt, klemmt ihn zwischen ihre Knie, schlingt ihre Arme um seinen Oberkörper und sagt: »Ich halte dich jetzt einen Moment lang fest, damit deine Mutter und ich in Ruhe reden können«. Der Junge lässt es sich ohne großen Widerstand gefallen, ist etwa 5 Minuten in den Armen der Psychologin ruhig, bevor sie sich ihm dann gezielt zuwendet. – In einer Gesprächsgruppe im Gefängnis zwischen Theologiestudierenden und Gefangenen wählen wir in einer Sitzung das Thema »Was bedeutet Schuld für mich?« Ein Gefangener, der wegen Raubüberfalls mehrere Jahre im Knast zubringen muss, legt ziemlich bald los und erzählt anschaulich, in welchen asozialen Verhältnissen er groß geworden ist. Der implizite Tenor der Erzählung ist, dass er nichts dafür kann, dass er an Drogen geraten und im Zusammenhang damit gewalttätig geworden ist. Der Gefängnisseelsorger sagt zu ihm: »Ihre Erzählung klingt so, als ob viele andere Menschen Ihr Leben bestimmt haben; ich glaube das – aber mich interessiert auch:

2. Formen und Funktionen von Ärger, Aggression, Gewalt

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Wofür sind Sie selbst verantwortlich gewesen? Sie ganz allein?« Der Gefangene guckt überrascht und schweigt – im Nachgespräch haben wir den Eindruck, dass es – immerhin – ein nachdenkliches Schweigen war. Drei Variationen des Themas: Mangelnde Fähigkeit, entschieden und klar und zugleich verbindlich im Ton zu konfrontieren; deutliches Auftreten und Grenzen setzen – wobei in diesem zweiten Beispiel die Grenze zur Gewalt wiederum fließend ist; Gewaltverhalten – und kein Bewusstsein für eigene Verantwortung und Schuld. 2. Formen und Funktionen von Ärger, Aggression, Gewalt An einige grundlegende Einsichten zu unserem sehr umfassenden Thema möchte ich Sie am Anfang erinnern: Aggression stellt ein Grundelement des Lebens dar: Die Eltern, die ihrem Kind in bestimmten Situationen ein eindeutiges »Schluss jetzt« mitteilen und dieses dann auch durchsetzen; die Verkäuferin, die einen Ladendieb zu stellen sucht, indem sie laut schreit »haltet den Dieb«; die Lehrerin, die mit energischen Worten die Klasse zur Ruhe ruft; das zweijährige Kind, das sich durch ein trotziges »nein« von der Mutter abgrenzt; der Jugendliche, der sich gegen einen übergriffigen Mitschüler zur Wehr setzt; die Frau, die nach einer langen Zeit der Funkstille in ihrer Partnerschaft den Mann anschreit »nun sag endlich mal, was mit dir los ist«; der Berater, der einen Klienten mit einer schmerzlichen Beobachtung konfrontiert; jemand, der sich traut, die Wahrheit zu sagen, auch wenn das unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen kann – all diese Verhaltensweisen leben von einem Schuss Aggression im Sinne von: auf etwas oder jemanden entschieden zugehen, zupacken, der eigenen Kraft und Lebendigkeit energisch Ausdruck geben, sich behaupten, Grenzen setzen, sich wehren, ein Problem, ein Thema oder einen Konflikt angehen und damit Kontakt (wieder-)herstellen. Ärger und Aggression bilden dann nicht, wie man es oft hört, das Gegenteil von Liebe, sondern können durchaus Ausdrucksformen von Zuneigung, Interesse und Engagement sein. Der amerikanische Psychoanalytiker Rollo May hat Aggression in diesem Sinn als »power to be«, als Lebenskraft bezeichnet: Sich durchzusetzen, sich zu behaupten, Widerstände beiseite zu schaffen ist eine biologisch notwendige Fähigkeit, die wir brauchen, damit Leben sich in der ständigen Auseinandersetzung mit anderen Lebewesen und mit der Umwelt entfalten kann. Für die Selbstwerdung, für die Individuation ist Aggression in diesem Sinn eine unverzichtbare und lebensdienliche Kraft. Wer sie gar nicht leben kann, weil sie nicht vorgelebt wurde und

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X Ärger, Aggression und Gewalt

sich nicht entfalten durfte, geht leicht unter. Es ist also zu kurz gegriffen, wenn Lexika und Handbücher immer nur destruktive, schädigende Verhaltensweisen als Aggression definieren. Ihre konstruktive Dimension dürfen wir auf keinen Fall übersehen. Aber – und das scheint mir entscheidend – diese Lebenskraft muss immer neu kultiviert und kanalisiert werden. Kultivierung und Kanalisierung aggressiver Lebenskraft misslingen leider häufig und entgleisen dann zu destruktiver Aggression, zu gewaltförmigem Verhalten. Sie misslingen vor allem dann, wenn Menschen in ihrer frühen Biographie eine Häufung von Bindungsstörungen, von verletzenden Beziehungserfahrungen gemacht haben, wenn sie selber Opfer von persönlicher und/oder struktureller Gewalt geworden sind. Der Erziehungswissenschaftler Peter Struck bringt es so auf den Punkt: »Niemand wird Gewalttäter, wenn er nicht zuvor selbst Opfer von Gewalt war.«232 Familien spielen hier eine besonders wichtige Rolle: Gewalt in der Familie (als direkte Gewaltausübung, aber auch in Form von Vernachlässigung) stellt die am meisten verbreitete Form der Gewaltausübung dar.233 Gewalt (oder destruktive Aggression) ist in psychische, physische und strukturelle Gewalt zu differenzieren. Von psychischer Gewalt ist da zu sprechen, wo Menschen durch Sprache und Gesten gedemütigt, erniedrigt und beschämt werden, durch kränkende, entwertende Anspielungen, Andeutungen, Lügen und herabsetzende, gewalthaltige Wörter.234 Die Sprache von Kindern und Jugendlichen ist in unserer Gesellschaft außerordentlich gewaltförmig geworden; sie wird beispielsweise von den viel gehörten Rappern extrem verstärkt.235 Wie immer man diese Texte beurteilt, es scheint mir unabweisbar, dass sie zu einer Gewöhnung an gewalthaltige Vorstellungen und Sprachformen beitragen. Auch das seit Jahren viel diskutierte Mobbing stellt eine Art von Psychoterror dar, der andere verächtlich machen, bloß stellen oder in der beruflichen Konkurrenz benachteiligen und zugrunde richten will. Physische Gewalt bedient sich der Überlegenheit körperlicher Kraft, die durch Waffen aller Art ihr tödliches Potenzial erhält. Angst vor Rechtsradikalen nährt sich in hohem Maß von deren Bereitschaft zuzuschlagen; martialisches Aussehen (Glatzen, Springerstiefel etc.) und eine 232

Peter Struck, Gegen Gewalt. Über den Umgang junger Menschen mit sich und anderen, Darmstadt 2007, 58. 233 Vgl. Cierpka 2005, 19. 234 Vgl. ausführlicher Claudia Stein, Seelische Gewalt in Paarbeziehungen. Interventionsformen und Bewältigungsstrategien, Marburg 2006. 235 In dem Lied des Rappers Bushido »Das Leben ist hart« lautet z.B. eine Zeile: »Ich gehe hin und schlag jeden deiner dämlichen Stars, keiner von euch hat sich je in meine Gegend gewagt, versuch es und du liegst bald ohne deinen Schädel im Grab ...«.

2. Formen und Funktionen von Ärger, Aggression, Gewalt

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entsprechende menschenverachtende Sprache sollen natürlich Angst auslösen und stellen insofern eine Mischung aus physischer und psychischer Gewalt dar. Eine besondere Spielart physischer Gewalt bildet sexualisierte Gewalt. Strukturelle Gewalt oder Systemgewalt bezeichnet, »die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse«, so hat es Johan Galtung 1972 sehr umfassend definiert.236 Dazu zählt beispielsweise, dass Menschen in die Arbeitslosigkeit und Verarmung entlassen werden, weil ein Konzern die Renditeerwartungen steigern möchte; dass bestimmte Familien- und Wohnverhältnisse dazu beitragen, dass Kinder vernachlässigt werden und in gewaltförmige Lebensverhältnisse hineinwachsen; dass Menschen in bestimmten Branchen so schlecht entlohnt werden, dass sie davon nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten können; dass Migrantenkinder überdurchschnittlich häufig keinen Schulabschluss machen; dass in städtischen Quartieren mit preisgünstigen Mieten die Lärm- und Schmutzbelastung besonders hoch ist usw. Bertolt Brecht schreibt in »Me-Ti. Buch der Wendungen«: «Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.«237 Die Verdecktheit dieser Formen struktureller Gewalt und die Allgegenwart von Gewalt in den Medien tragen entscheidend dazu bei, dass wir sie oft gar nicht mehr als solche wahrnehmen, nicht mehr über sie erschrecken und deswegen wenig zu ihrer Reduzierung oder Abschaffung tun. Hier stellt sich die Frage, ob nicht die Kirchen (zusammen mit Gewerkschaften) deutlicher die Empörung über solche Zustände artikulieren müssten: Empörung über unhaltbare Lebens- und Arbeitsbedingungen scheint mir eine ausgesprochen konstruktive Form von Aggression zu sein. Sie resigniert nicht vor dem status quo, sondern hält an der Vorstellung, an der Utopie von der Veränderbarkeit der Zustände fest – auch Seelsorgende und Beratende sollten die Kraft dieser Empörung bewahren, indem sie beispielsweise enge Verbindung mit Diakonie und Sozialarbeit pflegen. Strukturelle Gewalt löst bei den Betroffenen Anspannung, Resignation und depressive Zustände aus, oder auch direkte Wut, die sich dann wiederum in Racheaktionen entlädt. Der Familientherapeut Manfred Cierpka benutzt in diesem Zusammenhang die Metaphern von Hintergrund und Vordergrund:238 Der gestörte Hintergrund versetzt Men236 237 238

Artikel »Strukturelle Gewalt« aus Wikipedia vom 15.2.2008. Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 12, Frankfurt a.M. 1967, 466. Cierpka 2005, 24.

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X Ärger, Aggression und Gewalt

schen in solche Spannungszustände, dass z.B. eine einfühlsame Beziehung zwischen Kindern und Eltern (in der Bindungsforschung »attunement« genannt) immer häufiger misslingt. Am Anfang der Kette aggressiven Verhaltens steht oft, dass einzelne oder eine Gruppe sich ohnmächtig, zurückgesetzt, verletzt, übersehen fühlen, daraufhin Ärger, Zorn, Wut, Hass empfinden, woraus u.U. gewalthaltiges Verhalten folgt. Das »unter Umständen« weist daraufhin, dass Ärger/Zorn häufig keine »blinden« Gefühle darstellen, die zwangsläufig ausagiert werden müssen, sondern dass sie meistens mit einer kognitiven Einschätzung der Situation verknüpft sind und damit, wie jemand gelernt hat, auf bestimmte Kränkungserfahrungen zu reagieren: Eine Gruppe von Jugendlichen steht zusammen und wirft sich locker gegenseitig einen Ball zu. Einer von ihnen wird plötzlich am Kopf getroffen. Er muss jetzt blitzschnell entscheiden, ob er das für einen unglücklichen Zufall hält, den er dann besser ignorieren sollte, oder ob der Werfer ihn nicht leiden kann und ihm mit böser Absicht einen Schmerz zufügen wollte. Wenn der Getroffene aus einem Milieu kommt, in dem man auf Gewalt wiederum mit Gewalt reagiert, wird er entsprechend antworten; andernfalls wird er sich eher verbal verteidigen oder gar sich zurückziehen. Die Interpretation der Situation und die jeweilige Lerngeschichte bestimmen also entscheidend darüber mit, welches Gefühl ausgelöst wird. Bei Anti-AggressionsTrainings spielt dieser Zusammenhang von Einschätzung der Situation und ausgelösten Emotionen bzw. Verhalten eine wichtige Rolle. Angemessene Differenzierung und Zuordnung von Emotionen kann gelernt werden. Ärger, Zorn, Wut können allerdings auch Gefühle sein, die andere, tiefer liegende Gefühle verdecken oder kompensieren sollen: Vor allem Männer tun sich in unserer Gesellschaft schwer, »weiche« Gefühle wie Traurigkeit, Angst, Scham oder Hilflosigkeit zu spüren und anzuerkennen. Wenn einer sich im Kreis seiner Kumpel der eigenen Schwäche schämt, schlägt er lieber zu, um sein Ansehen wiederherzustellen und die schwer erträgliche Scham nicht aushalten zu müssen. Aggressives Verhalten gilt in bestimmten Gruppierungen als männlich, verschafft den Protagonisten Anerkennung – und ein Erziehungswissenschaftler merkt an, dass eine im Gefolge der 68er Jahre propagierte weichere Männlichkeit und emotionalere Väterlichkeit seit Jahren wieder deutlich auf dem Rückzug ist.239

239

Struck 2007, 81f.

2. Formen und Funktionen von Ärger, Aggression, Gewalt

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Auch Abschied und Verlust können mit Aggression beantwortet und kompensiert werden: Wer sich zum Abschied noch kräftig streitet, muss den Schmerz der Trauer nicht ertragen. Narzisstische Wut gilt als besonders schwer kalkulierbar: Im Hintergrund steht ein durch wenig kontinuierliche Empathieerfahrungen schwach ausgebildetes Selbstgefühl und eine entsprechend hohe Kränkbarkeit, die zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und grandioser Selbstüberschätzung hin und her schwankt. Eine durch körperliche oder seelische Verletzungen ausgelöste Wut kann dann grenzenlos sein, schlägt in Hass um, bedient sich der frühen Abwehrmechanismen Spaltung und Projektion, so dass es besonders schwer ist, diese Wut, diesen Hass einer vernünftigen Bearbeitung zugänglich zu machen. In bürgerlichen, speziell in christlich-kirchlichen Milieus begegnet uns allerdings auch die Kehrseite des Themas: Hier gelten Ärger und Aggression unverändert vorwiegend als verpönt; Aggression wird zu verschwiegener und heimlicher Aggression,240 die sich ganz subtil kommuniziert: Der beschämende Blick der Eltern, der vorwurfsvolle Gestus des Partners, die quälende Zwanghaftigkeit eines Menschen, mit der er seine Umgebung tyrannisiert, die ironisch-zynische Haltung, die andere geistreich und scheinbar witzig verletzt und herabsetzt, aber auch das übermäßig ängstlich-besorgte Verhalten einer anderen Person. Destruktive Aggression ist hier maskiert oder, wie in den verbreiteten Abwehrmechanismen, zur Unkenntlichkeit verzerrt: – Bei der Projektion sind es nur die anderen, die ärgerlich-aggressiv sind; die eigene Aggressivität wird nicht wahrgenommen. Die Entstehung von Feindbildern verdankt sich solchen Projektionsmechanismen. Mit Hilfe von Feindbildern werden gezielt Menschen aus einer Gruppe ausgestoßen – Ausgestoßene werden dann leicht zu Opfern individueller und kollektiver Gewalt. – Verkehrung ins Gegenteil könnte man mit H. Böll als »fürsorgliche Belagerung« umschreiben. Sie kennen vermutlich solche Mütter, die ihre Kinder nicht loslassen, sie durch Überfürsorglichkeit unselbstständig machen oder halten. Loriot hat das glänzend filmisch dargestellt. – Wendung gegen die eigene Person äußert sich vor allem in psychosomatischen Symptomen, depressiven Stimmungen, Kopf- und Magenschmerzen; auch Müdigkeit, Langeweile und übertriebene Distanziertheit in einer Beziehung können Anzeichen abgewehrter Aggression sein.

240

Vgl. den Titel der Jahrestagung der EKFuL »Verschwiegene Gewalt«. Abgedruckt in Fokus Beratung, Nov. 2004.

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X Ärger, Aggression und Gewalt

Ein 42jähriger Ehemann und Vater von 2 kleinen Kindern erzählt in der Paartherapie, wie ihn am Ende eines Arbeitstages schlagartig die Müdigkeit überfällt, wenn er nach Hause kommt. Wolfgang Schmidbauer, der diesen Fall berichtet,241 interpretiert die Müdigkeit als unterdrückte Wut darauf, dass die Kinder die Aufmerksamkeit der Eltern völlig in Beschlag nehmen, so dass kaum noch Zeit und Energie für Gemeinsamkeit, Zärtlichkeit und Erotik bleibt. Nur wenn die Wut zum Thema wird zwischen Mann und Frau, haben die beiden eine Chance, die Beziehung zu retten. Gegenüber struktureller Gewalt bleibt oft nur Depression: Was soll man auch machen, wenn eine Firma dicht macht und die Arbeitenden in die Arbeitslosigkeit entlässt? Wie soll eine Frau sich verhalten, wenn ihr arbeitsloser Mann häufig zu viel trinkt und sie dann immer wieder bedroht und schlägt? Was soll ein Jugendlicher machen, wenn er auf ′zig Bewerbungen hin keine Lehrstelle kriegt? Seelsorge und Beratung können in solchen Situationen stützend und den Selbstwert stärkend arbeiten; gleichzeitig scheint es notwendig, dass sie von diakonischen Maßnahmen flankiert werden. Ein Wuppertaler Pastor hat einmal in einem meiner Seminare erzählt: Als er den sozialen Brennpunkt, der zum Bezirk seiner Gemeinde gehört, besser kennen gelernt hatte, wurde ihm schnell klar, dass er hier nicht nur Seelsorge im traditionellen Stil anbieten konnte. Mit benachbarten Industriebetrieben zusammen hat er eine Werkstatt für Jugendliche aufgebaut und Schulaufgabenhilfe für Migrantenkinder, deren Eltern von dieser Aufgabe überfordert waren, organisiert: Zeichenhafte Aktionen gegen die strukturelle Gewalt eines Stadtteils. Zur Entstehung von Aggression und Gewalt gibt es eine Unzahl von Theorien, auf die ich hier nicht eingehen will. Hilfreich erscheint mir ein Prozessmodell, das die Vielzahl der beteiligten Faktoren zu berücksichtigen sucht:

241

Wolfgang Schmidbauer, Und so was von Müde. Warum es so schwierig ist, in einer individualisierten Gesellschaft Kinder großzuziehen, ZZ 2/2008, 8–10.

3. Aggressions- und Konfliktberatung

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Abb. 1242 3. Aggressions- und Konfliktberatung In Seelsorge und Beratung erzählen Menschen von den Konflikten ihres Lebens. Meistens sind es die Opfer, die erzählen, wie sie als Kinder und Jugendliche autoritär behandelt, geschlagen oder missbraucht worden sind und noch heute darunter leiden, oder wie sie gegenwärtig in Partnerschaft und Familie Gewalt ausgesetzt sind, oder wie sie es nicht schaffen, in familiären oder beruflichen Konflikten klar und deutlich aufzutreten, Grenzen zu setzen und Ziele bestimmt zu vertreten. Selten sehen wir die Täter, die von Aggression und Gewalt berichten. Gelegentlich kommt es auch vor, dass in der Beratungssituation Spannungen zwischen ratsuchender und beratender Person entstehen und Ärger/Aggression spürbar wird.

242

Abgedruckt in Hans Werner Bierhoff / Ulrich Wagner (Hg.), Aggression und Gewalt. Phänomene, Ursachen und Interventionen, Stuttgart/Berlin 1998, 16.

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X Ärger, Aggression und Gewalt

Wer mit Ratsuchenden in Seelsorge und Beratung am Thema Aggression arbeiten will – in welcher Form auch immer – muss zunächst die eigene Selbstwahrnehmung in diesem Bereich sensibilisieren, muss die eigenen Ängste kennen, die blinden Flecke und Abwehrformen und muss in der Lage sein, Schritte zur Konfliktlösung unternehmen zu können. In den 70er Jahren haben wir mit Hilfe gestalttherapeutischer Methoden relativ undifferenziert an einem Rauslassen der Wut gearbeitet: Gruppensitzungen galten als erfolgreich, wenn jemand gebrüllt und geschrien und dabei auf ein Kissen alias Mutter oder Vater eingedroschen hatte. Das war als Aufbruch und Ausbruch aus einer autoritärkonformistischen Lebenshaltung vieler Vertreter unserer Elterngeneration verständlich und insofern sinnvoll und notwendig. Solche Gruppenerfahrungen bedeuteten für viele von uns nachhaltige Befreiung. Inzwischen hat sich die gesellschaftliche Situation tiefgreifend gewandelt, angesichts der Pluralisierung der Lebensstile und eines verbreiteten laissez-fair Erziehungsstils reicht ein einfaches die Wut-Rauslassen nicht mehr, um komplexe Konfliktkonstellationen zu lösen. Jetzt gilt es, differenzierter den Ärger und seine Auslöser wahrzunehmen und nach sozialverträglichen Wegen einer Konfliktlösung zu suchen, vor allem auch die strukturellen Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, zu berücksichtigen. Konfliktfähigkeit ist zu einer für Kinder und Erwachsene gleichermaßen zentralen Kompetenz geworden; für Beratende, die andere bei diesem Thema begleiten sollen, ist diese Fähigkeit besonders wichtig – und ich stelle in Supervisionen häufig fest, wie Pfarrer und Pfarrerinnen und angehende Supervisoren und Supervisorinnen in Sachen Aggression erstaunlich gehemmt und ungeübt sind. Ich will im Folgenden nur einige Aspekte nennen und Modelle vorstellen, die zu einem konstruktiven Umgang mit Ärger und Aggression anleiten können und damit der Entstehung von Gewalt vorbeugen. Das können nur Hinweise sein; wer in diesem Bereich spezielle Kompetenz erwerben will, muss entsprechende Fortbildungsmaßnahmen besuchen:243 – Für alle Seelsorgenden und Beratenden scheint es mir unabdingbar, dass sie ihre eigene Ärger- und Aggressionsgeschichte rekonstruieren: Wie ging man in Ihrer Herkunftsfamilie mit Ärger und Aggression um? Gab es Gewalt? Und wenn ja, in welcher Form? (Es fällt Menschen aus meiner Generation in der Regel schwer anzuerkennen, dass die körperlichen Züchtigungen, Ohrfeigen und Stockhiebe, die wir von Müttern und Vätern bekommen haben, natürlich Formen von Gewaltausübung darstellen!) Welche Reaktionen haben Sie gelernt? Wie haben Sie Ihrer Angst Ausdruck geben können? Haben 243

Hilfreiche Literatur speziell zum Umgang mit aggressiven Kindern und Jugendlichen: Cecilia Essau / Judith Conradt, Aggression bei Kindern und Jugendlichen, München/Basel 2004, 143ff.

3. Aggressions- und Konfliktberatung



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Sie Kränkung und Ärger heruntergeschluckt oder mit Wut und Racheimpulsen reagiert? Welche eigenen Formen haben Sie sich in der Auseinandersetzung mit Geschwistern und Schulkameraden angeeignet? Was hat sich seither in der beruflichen Sozialisation, in bewusster Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, geändert? Was ist gleich geblieben? Welche Rolle haben im Verständnis und im Umgang mit Ärger und Aggression christlich-kirchliche Traditionselemente gespielt? Was gelingt Ihnen in Ihrem gegenwärtigen Leben in Konfliktkonstellationen z.B. mit eigenen Kindern oder mit Partner/Partnerin gut? Womit sind Sie unzufrieden? Nur wer die eigenen Erlebnis- und Reaktionsweisen in diesem Bereich einigermaßen kennt und leicht nachspüren kann, wird in der Lage sein, mit anderen an dem Thema zu arbeiten. Wichtiger Bestandteil der Auseinandersetzung mit der eigenen Aggressionsgeschichte ist es, Konfliktfähigkeit zu lernen bzw. zu stärken.244 Konfliktfähigkeit im Sinne einer guten Selbstbehauptung steht zwischen Konfliktscheu auf der einen Seite und ständiger Streitlust auf der anderen Seite; Konfliktfähigkeit äußert sich als Fähigkeit zu »rücksichtsvollem Konfrontieren«245 – rücksichtsvoll bedeutet in diesem Fall, dass die konfrontierende Person die Situation ihres Gegenüber im Blick behält und nicht gewissermaßen blind losschlägt. Gleichwohl ist hier die entscheidende Voraussetzung, dass die Betroffenen ihre Aggression wahrnehmen (gerade auch die körperliche Korrelate wie erhöhte Anspannung) und nicht die verbreiteten Abwehrmechanismen von Aggression: depressive Stimmung, Langeweile, Lustlosigkeit (s.o.) für das Eigentliche halten. Das Stichwort »Expression statt Depression« ist in diesem Zusammenhang unverändert aktuell, wie folgendes Beispiel zeigt: Eine Frau von Mitte 40 berichtet in der Beratung wiederholt in deprimiertem Ton von der verbalen Übergriffigkeit ihres Mannes: Er beschimpft sie bei vielen Gelegenheiten, setzt sie herab, kränkt sie, manchmal sogar vor anderen Menschen. Sie zieht jedes Mal innerlich und äußerlich den Kopf ein, fühlt sich wehrlos und schlecht – und bringt dieses Gefühl in die Beratung. Die Beraterin beginnt, die Klientin immer wieder nach ihrem Ärger, ihrer Wut in Reaktion auf das Verhalten des Mannes zu fragen. Langsam entwickelt die Frau Aufmerksamkeit für diese verschüttete Dimension ihres Empfindens, sie ist in der Lage, sich in Rollenspielen in der Beratung zunehmend besser gegen seine Verbalinjurien zu wehren – bis sie sich zutraut, das Gelernte zu Hause umzusetzen. Als ihr Mann sie wieder einmal beschimpft, Vgl. Friedrich Glasl, Selbsthilfe in Konflikten, Bern/Stuttgart ³2002, 11ff. Glasl 2002, 20.

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X Ärger, Aggression und Gewalt

knallt sie mit einer zusammengefalteten Zeitung laut auf den Tisch und schreit den Mann laut an, was er sich eigentlich einbilde, so mit ihr umzugehen. Der Mann ist so erschrocken und überrumpelt, dass er sich zurückzieht und sie für den Moment in Ruhe lässt. Die Beziehungsproblematik der beiden ist damit nicht gelöst, zumal der Mann eine Teilnahme an der Beratung verweigert. Aber die Frau hat nun deutlich an Selbstbewusstsein gewonnen und auch den Mut gefasst, Trennung und Scheidung von dem Mann einzuleiten. Zur Konfliktfähigkeit gehört auch die Fähigkeit zu wissen, was einen Konflikt einerseits verschärfen oder andererseits reduzieren kann.246 Wenn es zu einer Meinungsdifferenz und anschließender Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehr Personen kommt, entstehen Spannungen, die sich in Gefühlen von Ärger und Kränkung bemerkbar machen. Die manchmal sehr rasch wachsende Ungeduld und Gereiztheit löst wiederum erneute Verärgerung aus, steigert die Spannung und das Konfliktpotential. Der Konflikt bekommt in kürzester Zeit eine Eigendynamik, es entsteht ein Teufelskreis von Selbstverstärkung und Selbstansteckung. Hier ist es wichtig zu wissen (und das im Idealfall dann auch zu praktizieren), dass sich schon in einer solchen Anfangssituation die Wahrnehmung selektiv verengt: Die Beteiligten sehen vorrangig die problematischen Seiten des Gegenüber, sie erinnern sich unwillkürlich an ähnliche Auseinandersetzungen, in denen die andere Seite auch schon negativ in Erscheinung trat. Es kommt zu entsprechenden Verallgemeinerungen (»schon wieder ...« und »immer ...«). Sie neigen dazu, die Argumente des Gegenüber zu simplifizieren und mögliche situativ-strukturelle Faktoren auszublenden: Es ist immer einfacher, wenn nur der andere an den Schwierigkeiten schuld ist. Mit dieser Verengung und Verhärtung der Wahrnehmung entsteht ein negativer Kreislauf, der genau das in Gang setzt, was man eigentlich vermeiden möchte. In der Beratung ist es möglich, Menschen auf eben diese Prozesse aufmerksam zu machen, so dass sie in einer Streitsituation bewusster damit umgehen können: Sie müssen nicht sofort zu jenen Verallgemeinerungen und Simplifizierungen greifen, sie können gezielter entscheiden, was eigentlich ihr Anliegen in der konkreten Streitsituation ist. Es kann dann durchaus sinnvoll sein, den Streit um ein paar Stunden aufzuschieben, um vernünftiger und differenzierter mit dem Anliegen umgehen zu können. Das setzt Selbstbewusstsein und innere Stärke voraus – während die Position, die meint, sich das nicht leisten zu können, aus einer Haltung der Schwäche heraus agiert. Zum Folgenden Glasl 2002, 80ff.

3. Aggressions- und Konfliktberatung

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– Wer Opfer von Gewalt in welcher Form auch immer geworden ist,





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braucht erstens, dass die erlittene Gewalt beim Namen genannt und nicht, wie es häufig geschieht, verharmlost und bagatellisiert wird; und zweitens Stärkung und Kräftigung des Selbstbewusstseins. Es gehört zu den teuflischen Mechanismen von Gewalt, dass sich ihre Opfer häufig selbst bezichtigen, darunter leiden, dass sie nicht in der Lage waren, sich zu wehren oder sich sonst wie der Gewalt zu entziehen. Klare Sätze wie »Sie hatten keine Chance, sich gegen den viel kräftigeren Mann zur Wehr zu setzen« u.Ä., und alles, was hilft, Selbstbewusstsein neu aufzubauen, sind dann angezeigt. Mit Gewalttätern haben wir es in Seelsorge und Beratung eher selten zu tun. Auch hier geht es zunächst darum, ausgeübte Gewalt als solche klar zu benennen. Die vielen Anti-Gewalt-Trainings, die es inzwischen gibt, arbeiten fast alle mit zwei Prinzipien: Der Täter (es sind ja zu 90 % Männer!) soll dazu gebracht werden, die Lage seines Opfers nachzufühlen. Das geschieht z.B. dadurch, dass er auf den »heißen Stuhl« gesetzt und ihm von der Gruppe ständig und wiederholt die Hinterhältigkeit und Feigheit seines Verhaltens vorgehalten wird. Der Täter gerät auf dem heißen Stuhl in die Rolle des Opfers und lernt ansatzweise nachzufühlen, wie es seinem Opfer gegangen sein mag. Zweitens versucht man, den Automatismus von Kränkung und Gewaltreaktion zu unterbrechen. Tiefes Durchatmen und kurzes Überlegen sollen es ermöglichen, der Wut und der ersten impulsiven Reaktion nachzuspüren. Auch in dem an vielen Schulen bereits durchgeführten Präventionsprogramm FAUSTLOS geht es darum zu lernen, den emotionalen Zustand eines anderen Menschen angemessen einzuschätzen und dann eben das automatische impulsive Verhalten zu unterbrechen (z.B. durch lautes Denken) und spielerisch neue Verhaltensweisen einzuüben.247 Der israelische Psychologieprofessor Haim Omer und der Systemiker Arist von Schlippe haben ein Modell des gewaltlosen Widerstands für gravierende Erziehungsprobleme entwickelt:248 Eltern, die angesichts des gewalttätigen Verhaltens ihrer jugendlichen Kinder resigniert haben oder sich immer wieder in fruchtlose Streitereien verstricken lassen, sollen (und können) lernen, wie sie der Eskalation des Streits und der Gewalt entgehen können. Dabei geht es grundlegend darum, eine Haltung der Gewaltlosigkeit zu gewinnen im Sinn von: Ich werde mich mit allen möglichen Mitteln verteidigen,

Dazu im Details Andreas Schick / Manfred Cierpka, Prävention gegen Gewaltbereitschaft an Schulen: Das FAUSTLOS-Curriculum, in: Cierpka 2005, 230ff. 248 Haim Omer / Arist von Schlippe, Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung, Göttingen 2005.

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X Ärger, Aggression und Gewalt

aber ich werde nicht zurückschlagen.249 Eine solche Haltung sieht davon ab, das Gegenüber verändern zu wollen, sie gibt Versuche, den anderen dominieren und kontrollieren zu wollen, auf, konzentriert sich auf den Selbstschutz und die Möglichkeiten, nicht zur Gewalteskalation beizutragen. Bekannt geworden ist die Methode des Sit-in: Eltern, die die Provokationen des Kindes nicht mehr ertragen wollen und können, betreten zu einem für sie passenden Zeitpunkt und geraume Zeit nach einem aktuellen Konflikt das Zimmer des Kindes, setzen sich vor die Tür und sagen in Ruhe »Wir können es nicht länger hinnehmen, dass du deine Schwester schlägst. Wir sind hereingekommen, um eine Lösung für das Problem zu finden. Wir bleiben hier sitzen und warten auf deinen Vorschlag, wie du dein Verhalten ändern willst.«250 Sie lassen sich nicht in neue Streitereien und Verhandlungen hineinziehen; Schweigen und Warten spielen eine große Rolle, außerdem die Veröffentlichung von Gewalt durch das Einbeziehen Dritter. Gleichzeitig deuten sie immer wieder an, dass sie an einer guten Beziehung zu dem Kind interessiert sind; sie geben dem durch Gesten der Wertschätzung Ausdruck. Ich vermute, dass sich Elemente dieses gewaltlosen Widerstands auch auf Gewalt zwischen Paaren übertragen ließe. Stärkung eigenen Selbstbewusstseins, eigener konstruktiver Aggression, um sich besser gegen fremde Aggression zur Wehr setzen zu können, ist das eine. Die andere Seite ist mindestens genauso wichtig: Schmerzen und Trauer über erlittene Aggression und Gewalt wahrnehmen und ernst nehmen – auch so lässt sich die Kettenreaktion der Gewalt durchbrechen. »Wer als Kind psychisch geschädigt wurde, schädigt später zwangsläufig sich selbst und andere ein Leben lang.«251 Kindern, die häufig psychisch und physisch verletzt worden sind, fehlt ein Gefühl für die eigene und fremde Schutzbedürftigkeit. Sie sehen das z.B. an Menschen, die einerseits erzählen, dass sie sehr autoritär erzogen worden seien, zugleich aber fest davon überzeugt sind, eine rundherum glückliche Kindheit gehabt zu haben. D.h. das Bedürfnis, die Eltern zu verteidigen, sich mit ihnen zu identifizieren und sie in Schutz zu nehmen, überlagert die Wahrnehmung der eigenen Schmerzen. Sie müssen sich gewissermaßen anästhesieren – mit allen Folgen wiederum für ihren Erziehungsstil (in dem es dann z.B. heißt, »ein Klaps hat mir auch nicht geschadet«). Damit wiederholen sie nur, was ihnen selbst angetan worden ist. Hier kommt es also darauf an zu lernen, die eigenen Schmerzen

Haim Omer / Nahi Alon / Arist von Schlippe, Feindbilder. Psychologie der Dämonisierung, Göttingen 2007, 153ff. 250 Omer / von Schlippe 2005, 238. 251 Thea Bauriedl, Wege aus der Gewalt. Analyse von Beziehungen, Freiburg ³1992, 116.

4. Theologische Aspekte zu Ärger, Aggression und Gewalt



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und Trauer über erlittene Gewalt wieder neu wahrzunehmen, die Konsequenzen für die eigene Persönlichkeitsentwicklung ernst zu nehmen und damit aus dem unbewussten Gewaltzirkel auszusteigen. Ein letzter Punkt zum Thema Gewalt-Prävention: Der Psychiater Michael Winterhoff hat in einem neuen Buch die These vertreten, dass Eltern Kinder zu »respektlosen Tyrannen« erziehen, weil sie sich als Erwachsene nicht abgegrenzt und klar strukturiert ihnen gegenüber verhalten, sondern Kinder viel zu früh partnerschaftlich oder gar symbiotisch vereinnahmen. Daraus erwächst gerade auch in ökonomisch und bildungsmäßig gut gestellten Schichten Respektlosigkeit und Frechheit, die schnell in Gewalt umschlagen kann.252

4. Theologische Aspekte zu Ärger, Aggression und Gewalt Als Seelsorgende und Beratende in kirchlicher Verantwortung sind wir gehalten, uns über die Aussagen der christlichen Tradition zu unserem Thema Rechenschaft abzugeben. Bestimmte christlich-kirchliche Deutungen von Ärger und Aggression haben viele von uns Theologinnen und Theologen geprägt, das wissen Sie alle aus eigener Anschauung. In den 80er und 90er Jahren haben sich eine Reihe von Autoren damit befasst, wie die Tabuisierung von Ärger und Aggression vor allem in den neutestamentlichen Schriften zu einer Unterdrückung eben dieser Gefühle und Verhaltensweisen und damit zu indirekten und verzerrten Ausdrucksformen beiträgt.253 Die Tatsache, dass es in der Kirche bis heute so viel uneindeutige, verquere, abgewehrte und damit Unklarheiten, Konflikte und Leiden produzierende Kommunikationsformen gibt, hat mit dieser nach wie vor wirkungsmächtigen Traditionslinie zu tun. Trotzdem scheinen mir inzwischen aber doch auch Differenzierungen notwendig.254 Die Bibel ist ein Buch, dass vielfältig von destruktiver Aggression erzählt: von Gewalt im Nahbereich, denken Sie an den Totschlag Abels durch Kain, oder an die Vergewaltigung Tamars durch ihren Bruder Amnon (2Sam 13,1–22); von kriegerischer Gewalt in den Feldzügen Israels (z.B. Jos 1–12), vom Wunsch nach Rache an den Feinden (vgl. die drastischen Formulierungen in Ps 68,22ff) bis hin zu der lobenden Erwähnung alttestamentlicher Krieger als Glaubensvorbilder im Hebräerbrief (Heb 11,32–34). Gott selbst wird vielfach als strafender, grausamer und gewalttätiger Gott beschrieben (z.B. in der Sintflutgeschichte, 252

Vgl. das Interview mit Michael Winterhoff »Kinder an der Macht« in: SZ Kinderleben. Das Familienmagazin 1/2008, 11ff. 253 Vgl. Michael Klessmann, Ärger und Aggression in der Kirche, Göttingen 1992. 254 Vgl. zum Folgenden Walter Dietrich / Moises Mayordomo, Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005.

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X Ärger, Aggression und Gewalt

oder im Exodus des Volkes Israel aus Ägypten) – all das sind Erzählungen, die sich nicht von Gewalt distanzieren, sondern von dem impliziten Unterton getragen sind: So war es und so musste es sein!255 Man kann das als eine realistische Beschreibung menschlicher Erfahrung werten, man kann es auch kritisch sehen und sagen: Offenbar enthält der Glaube an Jahwe bzw. Jesus Christus auch gewalthaltige Elemente, ächtet also nicht grundsätzlich Gewaltanwendung und schützt nicht prinzipiell vor Gewaltausübung. Im Gegenteil, die kulturell-gesellschaftlichen Prägungen erwiesen sich in den allermeisten Fällen als stärker gegenüber den religiösen. Das kann man gut an der weisheitlichen Ermahnung ablesen »wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten« (Spr 13,24) und seiner schlimmen Wirkungsgeschichte (vgl. Hebr 12,6 und Offb 3,19). Autoritäre Erziehungsprinzipien haben sich leider in solcher auch christlich motivierten schwarzen Pädagogik gegen die Achtung der Würde des Menschen als Ebenbild Gottes durchgesetzt.256 Daneben finden sich jedoch unvermittelt viele Bilder und Utopien vom Ende jeder Aggression und Gewalt in der Bibel: Sie kennen die messianischen Weissagungen, in denen Friede und Gerechtigkeit (Gerechtigkeit bedeutet immer auch die Überwindung struktureller Gewalt) zwischen Menschen, zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Gott beschworen wird. Die Gastmahlsgleichnisse des NT bilden diesen Zustand des umfassenden Wohlergehens aller Menschen ab. Die Sehnsucht nach einem Leben ohne destruktive Aggression findet hier überwältigend Ausdruck und spornt dazu an, auf einen solchen Zustand jetzt schon hinzuarbeiten. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt die Bibel eine Fülle von Hinweisen – von denen ich nur einige wenige nenne, die in kirchlichen Zusammenhängen, auch in Seelsorge und Beratung, eine Rolle spielen könnten:257 – Die Aufforderung, gastfreundlich zu sein (Rm 12,13) bedeutet, dass man versuchen soll, die Angst, die das Eintreten eines Fremden auslösen mag, nicht in Aggression umschlagen zu lassen, sondern den Fremden gewissermaßen als Hausgenossen anzusehen.258 – Geduld zu üben bezeichnet nicht nur die passive, widerstandslose Hinnahme von Leid und Unrecht, sondern auch die »sanfte Beharrlichkeit«, die sich nicht von der Verlockung schneller Lösungen ver255 256

Vgl. Dietrich/Mayordomo 2005, 81. Zu den auch christlichen Wurzeln einer schwarzen Pädagogik, die als wichtigste Haltung Gehorsam fordert und zu diesem Zweck mit körperlicher Züchtigung, Angst und Beschämung arbeitet vgl. Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt a.M. 1980, 22ff. 257 Ausführlich dazu ebd., 134ff. 258 Ebd., 135f.

4. Theologische Aspekte zu Ärger, Aggression und Gewalt

– –



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führen lässt – eine Haltung, die im gewaltlosen Widerstand eine wichtige Rolle spielt. Demut meint nicht nur Unterwürfigkeit und Selbsterniedrigung, sondern schützt auch vor Stolz und Selbstüberheblichkeit, die so oft Quelle von Gewalt darstellen. Wiederholte Aufforderungen zum Schutz der Fremden und zur Feindesliebe sollen Gewalt begrenzen – wobei die Aufforderung bereits die Anerkennung der Realität von Feindschaft voraussetzt.259 Eine genaue Wahrnehmung von Feindschaft stellt jedoch einen ersten Schritt zur Unterbrechung eines Gewaltzyklus dar, weil dadurch möglicherweise blindes Ausagieren von Wut und Rache unterbunden wird. Es werden in der Bibel eine Reihe von Versöhnungs- und Vergebungsgeschichten erzählt, z.B. zwischen Jakob und Esau, zwischen Josef und seinen Brüdern, die schöne Geschichte von Abigail, Nabal und David (1Sam 25), das Gleichnis vom verlorenen Sohn u.a.m. Auch mit solchen Geschichten kann man u.U. in der Seelsorge arbeiten.260

Schließlich finden sich in der Bibel viele Texte, die sich mit den Opfern von Gewalt identifizieren und sie zur Klage und Anklage vor Gott und den Menschen ermutigen (z.B. Ps 6 oder 102 u.a.). Menschen werden mit diesen Texten eingeladen, ihr Leiden nicht stumm zu tragen, sondern es vor Gott und anderen Betroffenen auszusprechen und in diesem Prozess des Aussprechens Solidarität und eine Stärkung ihres Subjektseins zu erfahren. Wenn man auf diese unterschiedlichen Textgattungen zu unserem Thema blickt, finde ich es insgesamt ernüchternd zu realisieren, dass im Strom der christlichen Tradition nur wenige pazifistische, grundsätzlich der Gewalt abschwörende Ansätze anzutreffen sind. Der Glaube an den Gott des Friedens und der Gerechtigkeit bringt die Glaubenden offenbar nicht grundsätzlich dazu, nun selber entsprechend gewaltlos zu leben. Die pazifistischen Traditionslinien der Bibel brauchen, so scheint es, Verstärkung durch entsprechende psychologische und soziologische Einsichten, um wirksam werden zu können. Aggression bezeichnet ein zweischneidiges Phänomen: Ihr konstruktives Potential zu stärken und ihre destruktiven Auswirkungen zu verhindern oder einzuschränken – darum geht es. Psychologische und theologische Einsichten können sich in diesem Ziel gegenseitig stärken. 259

So Wolfgang Huber, Feindschaft und Feindesliebe. Notizen zum Problem des »Feindes« in der Theologie, ZEE 26 (1982), 128–158. 260 Vgl. das Beispiel von Abraham und Lot, das P. Bukowski, Die Bibel ins Gespräch bringen, Neukirchen-Vluyn ³1996, 56f bringt.

XI Auf der Grenze Das Pfarramt zwischen Tradition, Säkularität und neuer Spiritualität261

1. Ausgangslage: Pfarrerinnen und Pfarrer sind zu Grenzgängern geworden Pfarrerinnen und Pfarrer sind zu Grenzgängern geworden, so wie es frühere Generationen sicher nicht waren – und ich glaube, dass sich die Metapher der Grenze auch für die Pastoraltheologie, für die Pfarramtstheorie, als fruchtbar erweisen kann.262 Paul Tillich erläutert seinen bekannten Satz »Die Grenze ist der für die Erkenntnis fruchtbare Ort«, folgendermaßen: Nur im Prozess der Grenzüberschreitung, indem man sich aus dem bekannten Terrain ins Fremde und Neue herauswagt, erkennt man wirklich, was das Eigene ist.263 Es bedarf immer wieder der Außenperspektive, um genauer und präziser die eigene Position wahrzunehmen, um herauszufinden, was bleiben kann und was der Veränderung bedarf. In diesem Sinn fungieren Säkularität auf der einen Seite und moderne Spiritualität auf der anderen als besonders herausfordernde Grenzbereiche gegenüber den Traditionen unserer evangelischen Volkskirche – und es erscheint mir produktiv für Pfarrerinnen und Pfarrer, wenn sie sich mit diesen und anderen Grenzbereichen beschäftigen, um herauszufinden, welche Grenzen ihnen sinnvoll und hilfreich erscheinen, welche sie für überholt halten, welche verschoben oder flexibel gehandhabt werden sollten. Verschiedene Grenzen begegnen im Pfarramt: – Wir stoßen immer stärker an die Grenzen der Volkskirchlichkeit, an die Grenzen traditioneller Kirchen- und Gemeindestrukturen: Sowohl Mitgliederzahlen als auch die Zahlen des kirchlichen Personals gehen kontinuierlich zurück, klassische Angebote sind, vor allem in 261

Leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags vor Lehrpfarrerinnen und Lehrpfarrern der badischen Landeskirche in Bad Herrenalb am 16.3.2015. Vgl. zum Thema insgesamt Michael Klessmann, Das Pfarramt. Einführung in Grundfragen der Pastoraltheologie, Neukirchen-Vluyn 2012. 262 Vgl. Paul Tillich, Auf der Grenze, München/Hamburg 1962. Tillich schreibt hier an Hand dieser Metapher einen autobiografischen Abriss. Vgl. auch Henning Luther, »Grenze« als Thema und Problem der Praktischen Theologie, in: ders., Religion und Alltag, Stuttgart 1992, 45–60; Jürgen Ziemer, Seelsorge als Grenzerfahrung, in: Anja Kramer u.a. (Hg.), Seelsorgliche Kirche im 21. Jahrhundert, Neukirchen-Vluyn 2005, 35–51. Ulrike Wagner-Rau benutzt mit ähnlicher Intention die Metapher der Schwelle in ihrer Pastoraltheologie »Auf der Schwelle. Das Pfarramt im Prozess kirchlichen Wandels«, Neukirchen-Vluyn 2009. 263 Paul Tillich, Religiöse Verwirklichung, Berlin 1930, 11f.

1. Ausgangslage: Pfarrerinnen und Pfarrer sind zu Grenzgängern geworden











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ländlichen Gebieten, schwer aufrecht zu halten; neue kirchliche Formen (z.B. bei Gottesdiensten oder KU) und regionale Vernetzungen werden seit einiger Zeit entwickelt und müssen weiter intensiviert werden. Wir haben mit sozialen Grenzen zu tun, mit den Grenzen zwischen Reichen und Armen, Gebildeten und weniger Gebildeten, Jungen und Alten, Familien und Singles, Einheimischen und Zugewanderten etc. Traditionell arbeiten wir in der Kirche stark familienbezogen; in dem Maß, in dem sich die Lebensformen ändern, müssen wir auch hier Grenzen überschreiten. Religiöse Grenzen begegnen uns immer häufiger: Zwischen Konfessionen und Religionen, zwischen denen, die eher bewahren, und solchen, die eher erneuern wollen, zwischen Kerngemeinde und Randsiedlern, zwischen sich spirituell Verstehenden, interessierten Atheisten und Gewohnheitsatheisten, zwischen den Erwartungen der verschiedenen religiösen Milieus, wie sie die Milieuforschung beschrieben hat:264 Daraus erwachsen kommunikative Grenzen: Können wir uns verständlich machen mit unserem Auftreten und Reden, mit unseren Ritualen gegenüber denen, die am Rand von Kirche leben oder auch gegenüber denen, die außerhalb dieser Grenze leben? Können wir uns verständlich machen mit dem, was uns wichtig ist, uns im Leben Halt und Orientierung gibt, aber erst einmal in der Sprache Kanaans daher kommt gegenüber denen, die in ganz anderen Kategorien denken und empfinden und vielleicht von uns erwarten, dass wir die Grenze zu ihnen hin überschreiten? Wir haben mit innerkirchlichen Grenzen zu tun: Der Streit um die Bedeutung des parochialen Pfarramts im Gegenüber zu den verschiedenen Funktionspfarrämtern ist in manchen Landeskirchen entbrannt; es geht auch um das Verhältnis von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen, von dogmatischer und eher erfahrungsbezogener theologischer Ausrichtung unter den Kolleginnen und Kollegen, um Abgrenzungen zwischen Pfarrern und Kirchenleitungen etc. Ständig haben wir mit existentiellen Grenzen zu tun: Krankheit, Sterben und Tod, Schwäche und Versagen, aber auch Glück, Freude und Erfüllung. In den Kasualien und in der Seelsorge ist es unsere Aufgabe, solche Grenzerfahrungen, in denen das Alltagsleben überschritten wird, im Horizont von Religion zu verstehen und zu gestalten.

Vgl. Claudia Schulz / Eberhard Hauschildt / Eike Kohler, Milieus praktisch, Göttingen 2008: Die Hochkulturellen, die Bodenständigen, die Mobilen, die Kritischen, die Geselligen und die Zurückgezogenen.

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XI Auf der Grenze

Wir haben schließlich mit Grenzen in der eigenen Lebenserfahrung und Berufsausübung zu tun: Grenzen unserer pastoralen Kompetenz und Professionalität, Grenzen der persönlichen Kraft und des Glaubens, Grenzen des Stehvermögens und der Flexibilität.

Wenn man sich klar macht, mit welchen Grenzen Pfarrerinnen und Pfarrer tagtäglich umzugehen haben, wie vielfältig und wie unklar viele dieser Grenzziehungen ausfallen, muss man erst einmal Respekt haben vor den enormen Anforderungen, die dieser Beruf mit sich bringt. Die Aufgabe besteht darin, die verschiedenen Grenzen wahrzunehmen und sich mit einem gewissen Maß an Flexibilität auf beiden Seiten der Grenze bewegen zu können, hin und her gehen zu können, sich intellektuell und emotional in Menschen diesseits und jenseits der jeweiligen Grenze wenigstens vorübergehend und ansatzweise einfühlen zu können – ohne dabei die eigene Position aufzugeben. Sich selber theologisch und spirituell zu verankern und gleichzeitig die Fähigkeit besitzen, die eigenen Grenzen immer wieder zu überschreiten, darum geht es. Vor dem Hintergrund dieser Grenz-Skizze möchte ich auf einige wichtige Veränderungen in Pfarramt und Kirche hinweisen und Andeutungen zu aus meiner Sicht wünschenswerten Grenzverschiebungen machen. 2. Das Pfarramt im gesellschaftlichen Wandel Erlebnisrationalität und Entdogmatisierung Zum gesellschaftlichen Wandel, wie er durch Begriffe wie Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung gekennzeichnet ist, muss ich nichts sagen, das kennen Sie alle. Weniger bedacht sind zwei Stichworte, die gerade auch für das Handeln der Pfarrerinnen und Pfarrer von Belang sind. Der Soziologe Gerhard Schulze hat Ende der 90Jahre den Begriff »Erlebnisrationalität« geprägt. Wer erlebnisrational handelt, sucht für sich erfüllende, bereichernde Erlebnisse. Erlebe dein Leben! Mach was draus! Sorge dafür, dass du ein interessantes, lohnendes Leben führst, dass du dich und deine Potentiale verwirklichst. Erlebnisrationalität äußert sich in der Frage: Was bringt es mir, wenn ich an dieser oder jener Veranstaltung teilnehme? Was habe ich davon? Gottesdienst oder Fußballspiel – was macht mehr Spaß? Kirchenchor oder Yoga? Der Gedanke einer selbstverständlich zu erfüllenden religiösen Pflicht hat sich weitgehend aufgelöst.

2. Das Pfarramt im gesellschaftlichen Wandel

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Dabei gilt: »Erlebnisse werden nicht vom Subjekt empfangen, sondern von ihm gemacht.«265 Deswegen ist die Möglichkeit sich zu beteiligen so wichtig: Wer sich beteiligen und engagieren kann, hat eher das Gefühl, etwas Wichtiges erlebt zu haben. Sie kennen das von den Kasualien: Was sich ursprünglich durch eine wiederholbare, gleichförmige Struktur auszeichnete, soll nun, durch aktive Beteiligung der Betroffenen, einen einmaligen und unverwechselbaren Charakter bekommen. Das Immer-Gleiche des Gottesdienstes bzw. der Kasualien und die aufgezwungene Passivität haben wenig Erlebniswert und erscheinen deswegen vielen nicht als attraktiv. Zur Erlebnisrationalität gehört auch, dass Menschen kaum noch stabile, lebenslange Bindungen eingehen, auch in der Kirche immer weniger. Die Leute suchen Veränderung, das Neue, das An- und Aufregende. Eng verknüpft mit der Erlebnisrationalität ist ein Prozess, den der Praktische Theologe Klaus-Peter Jörns vor Jahren Entdogmatisierung genannt hat:266 Große Komplexe christlicher Dogmatik – Gotteslehre, speziell Trinitätslehre, Sünden- und Erlösungslehre, Eschatologie – sind Gemeindegliedern kaum noch bekannt, werden nicht mehr verstanden, werden nicht mehr mit der Alltagswelt in Zusammenhang gebracht. Lebensweltliche Erfahrungszusammenhänge ersetzen die dogmatisch bestimmten Begriffe. Ein Beispiel aus der IV. EKD-Mitgliedschaftsstudie: In einer Frauenhilfsgruppe einer westdeutschen Großstadt, die sich das Thema »was kommt nach dem Tod?« vorgenommen hat, ist man sich schnell darüber einig, dass man in den Kindern weiter lebt.267 Elemente christlicher Eschatologie werden nicht angesprochen, spielen keine Rolle in den Überlegungen der Frauen. Und Jörns hat in seiner Umfrage festgestellt, dass auch viele Pfarrerinnen und Pfarrer an dieser Tendenz zur Entdogmatisierung der christlichen Tradition und zur Immanentisierung der Transzendenz partizipieren – sie sagen es nur selten öffentlich. In Supervisionen und kleinen Fortbildungsgruppen höre ich oft davon. Ich glaube, wir haben kaum eine andere Wahl als diese Grenzverschiebung nachzuvollziehen; die Popularität sog. »anderer« Gottesdienste zeigt das überdeutlich. Und es erscheint mir fragwürdig, ob es sinnvoll ist, wie es Martin Nicol und Klaus Raschzok vorschlagen, den traditionellen, den »traditionsoffenen« Sonntagsgottesdienst zum Identitäts265 266

Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a.M. 51995, 44. Klaus Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes, München 1997, 210ff. Obwohl die Untersuchung 20 Jahre alt ist, habe ich den Eindruck, dass die dort beschriebenen Tendenzen sich noch weiter zugespitzt haben. 267 Zitiert in der Analyse von Gruppendiskussionen in der IV. EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung »Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge«, Gütersloh 2006, 369.

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merkmal des Protestantismus zu erheben;268 m.E. ist protestantische Identität gerade in der Vielfalt der Gottesdienstformen zu finden. 3. Das Pfarramt im Kontext der Transformationskrise der Kirchen Nach meinem Eindruck haben viele Pfarrerinnen und Pfarrer noch nicht verstanden, wie tief die Veränderung der religiösen Landschaft in Deutschland geht und welche Grenzüberschreitungen diesbezüglich von ihnen verlangt werden. Die stellenweise zu beobachtende Tendenz, in dieser Krise verstärkt bewahrendes Profil zu zeigen, führt m.E. in eine Sackgasse. Zunächst ist mir der Begriff der Transformation von Kirche wichtig: Es geht nicht nur um Abbruch und Niedergang, sondern um einen Prozess des Wandels, der Veränderung, dessen Ende, dessen Ziel noch nicht absehbar ist. Am Ende könnte eine ziemlich andere Gestalt von Kirche stehen, als die, die wir in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert kennen. Der internationale ökumenische Vergleich zeigt uns, in welch unterschiedlichen Gestalten Kirche in Erscheinung treten kann. Vier unterschiedliche Teilaspekte dieser Transformation (es gäbe noch andere) will ich hier hervorheben: 1. Wir halten nach wie vor fest am Modell der flächendeckend arbeitenden Volkskirche – ich sehe wenig Bemühungen, die Grenze dieses Konzepts zu überschreiten und andere Modelle ernsthaft durchzudenken und zu planen (die steigenden Steuern haben den Kirche eine Atempause verschafft, die ich letztlich für kontraproduktiv halte, weil sie die Reformbemühungen verlangsamen). Deutlich zeichnet sich ab, dass sich die überkommene Struktur der Volkskirche (flächendeckende religiöse »Versorgung«) auf die Länge nicht wird halten lassen. Wir müssten den Mut haben, Arbeitsfelder situativ aufzugeben und stärker exemplarisch zu arbeiten. 2. Wir brauchen eine größere Wertschätzung religiöser, spiritueller Erfahrung; Kritiker sind sich schon lange einig, dass unsere Gottesdienste bei weitem zu wortlastig und zu lehrhaft ausfallen;269 da könnte es hilfreich sein, von gegenwärtiger spiritueller Orientierung zu lernen. Ich sehe drei 268 So Klaus Raschzok, Das Problem ist der Gottesdienst am Sonntagvormittag, Nachrichten der ELKB 7/2013, 210ff. 269 Vgl. Martin Nicol in einem Vortag vor der bayrischen Landessynode »Warum wir Gottesdienst feiern. Erwartungen am Sonntagmorgen«, Nürnberg 2013. Manuskript S. 10.

3. Das Pfarramt im Kontext der Transformationskrise der Kirchen

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Elemente, die dabei besondere Bedeutung haben: Das Element der Erfahrung, der Suche und eines a-personalen Gottesbegriffs. Erfahrung soll hier zunächst einfach bedeuten, etwas durch die Sinne zu er-fahren, zu spüren und ganzheitlich zu erleben;270 beispielsweise können wir durch Einübung in Stille oder Anleitung zum meditativen Gebet bzw. zu meditativen Übungen Hilfestellung geben, dass Menschen leichter religiöse Erfahrungen machen. Moderne Spiritualität besteht in der Suche nach einer den Alltag überschreitenden Erfahrung; in der unübersehbaren Vielfalt spiritueller Inhalte und Praktiken bildet die Sehnsucht nach Einheit, nach Verbundenheit mit dem Leben als Ganzen, mit anderen Menschen, mit der Natur, »mit einem den Menschen übersteigenden, umgreifenden Letztgültigen, Geistigen, Heiligen ...«.271 den gemeinsamen Nenner. Diese Art der spirituellen Suche ist längst auch in die Kirchen eingewandert: Eine Presbyterin erzählt, dass sie wichtige Entscheidungen mit dem Pendel trifft; ein Pfarrer berichtet etwas verschämt, dass er Tarot-Karten legt. Die Gottesbilder moderner Spiritualität sind eher a-personaler Natur, weil es immer schwerer fällt, einen die Welt regierenden, personal vorgestellten Gott hinter unserem chaotischen Weltgeschehen zu glauben:272 Gott als Energie, Kraft oder Macht, die uns unbedingt angeht – Vorstellungen, die biblisch begründet sind (vgl. 1Kön 8,27 u.ö.) und zugleich gegenwärtiger Lebenserfahrung nahe stehen. Mit allen drei Elementen – Erfahrung, Suche und ein a-personales Gottesbild – tun wir uns schwer im Protestantismus, und doch glaube ich, dass wir auf diesem Weg Menschen neu erreichen können mit der Kommunikation des Evangeliums. Sind wir in der Lage als christliche Theologinnen und Theologen mit diesen z.T. diffusen Spiritualitäten ins Gespräch zu kommen oder grenzen wir uns lieber ab? In welchem Maß sind Pfarrerinnen und Pfarrer mit Spiritualität und Mystik vertraut? Ich höre in Supervisionen und Fortbildungen nicht selten, dass Pfarrerinnen und Pfarrer beklagen, keine Zeit für ihre eigene praxis pietatis zu haben. Im Gespräch darüber stellt sich dann meistens heraus, dass es natürlich nicht um eine reine Zeitfrage geht, sondern dass sie 270 Ausführlicher zum Begriff der Erfahrung und speziell der religiösen Erfahrung Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens, Neukirchen-Vluyn 52015, 181ff. 271 Anton Bucher, Psychologie der Spiritualität, Weinheim/Basel 2007, 56. 272 Erinnert sei nur an Bonhoeffers Diktum »Einen Gott, den es ›gibt‹, gibt es nicht.« Mathias Kroeger, der diesen Satz in seinem Buch »Vom religiösen Umbruch der Welt: Der fällige Ruck in den Köpfen der Kirche, Stuttgart 22005, 75ff zitiert, schreibt, dass die traditionelle kirchliche Rede von Gott und Christus zu »einer Art hochrangiger Verschlussformel« geworden sind, die erheblich zur Entfremdung von Kirche beitrage.

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nach neuen Formen jenseits der traditionellen wie Losung und Bibellese suchen, aber sie noch nicht zur Verfügung haben. 3. Nach meinem Eindruck machen wir in theologischer Hinsicht immer noch zu wenige Anstrengungen, die Relevanz der christlichen Botschaft tief greifenden hermeneutischen Bemühungen auszusetzen, um sie auf neue Weise anschlussfähig zu machen, und sie zugleich doch auch als Kontrasthorizont deutlich werden zu lassen. Viele Modernisierungen erscheinen mir halbherzig und apologetisch geprägt. Ich will das verdeutlichen durch Hinweis auf zwei Bücher, die ich repräsentativ für zwei gegenwärtige Tendenzen halte: Wolfgang Huber, Der christliche Glaube, und Gerd Theißen, Glaubenssätze, Ein kritischer Katechismus. Wolfgang Huber geht in seinem Buch »Der christliche Glaube« (2008) deduktiv von den Lehrsätzen des Credo aus und sucht sie in apologetischer Absicht verständlicher zu machen, indem er z.B. beim Thema Schöpfung theologische und naturwissenschaftliche Perspektiven miteinander ins Gespräch bringt. Huber wendet sich, so sagt er selber, an Zweifelnde und Suchende.273 Aber dann spricht er durchgehend und selbstverständlich vorwiegend thetisch von Gott als einem personal zu denken Wesen, von Gottes Schöpfung, von Gottes Allmacht und Freiheit, von Gottes Absichten etc. Oder beim Thema »Sünde und Schuld« wiederholt er die Konfirmandenweisheit, dass Sünde Trennung des Menschen von Gott bedeute.274 usw. Was sollen christentumsskeptische Menschen mit solchen Auskünften anfangen? Theißen dagegen geht induktiv vor,275 setzt beim Begriff der Erfahrung ein und fragt danach, wie man heute Gott erfahren kann (Wenn man wirklich ernst nimmt, dass wir Gott zur Welterklärung nicht mehr brauchen): In Grenzerfahrungen, in Kreaturerfahrungen, in Sinnerfahrungen und in Gewissenserfahrungen machen wir Begegnungen mit einem Unbedingten, mit einem Geheimnis des Seins, das wir Gott nennen bzw. nennen können, das wir personal und a-personal vorstellen können, das uns aber letztlich immer entzogen bleibt. Öffnen Pfarrerinnen und Pfarrer für religiöse Erfahrung, für Spuren der Transzendenz im Alltag (Peter Berger), für religiös gedeutete Wahrnehmung, die es in anderen Religionen und Spiritualitäten und auch jenseits von Kirche gibt? Oder werten wir religiöse/spirituelle Erfahrung offen oder latent ab, weil sie nicht mit einer wortorientierten Theologie kompatibel zu sein scheint? 273 274 275

Wolfgang Huber, Der christliche Glaube, Gütersloh ²2008, 12f. Ebd., 69. Gerd Theißen, Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus, Gütersloh ²2012, 33ff.

4. Von der Berufung zum Beruf

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4. Ob es angesichts der sich abzeichnenden Wandlungsprozesse klug und weiterführend ist, den Pfarrberuf »Schlüsselberuf« der Kirche zu nennen, wie es die V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD noch einmal besonders nahe legt, erscheint mir fraglich. Es ist voraussehbar, dass Kirche in zunehmendem Maß auf ehrenamtliche Arbeit angewiesen sein wird; ehrenamtliche Arbeit ist vom Gedanken des Priestertums aller Gläubigen theologisch grundlegend legitimiert: Warum schlagen wir dann noch mal restaurative Pflöcke ein, die man berufspolitisch sicher verstehen kann, die mir aber nicht als besonders zukunftsweisend für die Kirche insgesamt erscheinen. Müssten wir nicht viel deutlicher die Notwendigkeit gelingender Zusammenarbeit zwischen Pfarrerinnen und Pfarrern einerseits und nicht-theologischen Berufen sowie Ehrenamtlichen andererseits in den Vordergrund stellen und in der Ausbildung entsprechend auf Team- und Kooperationsfähigkeit großen Wert legen? Die Aufgabe der Pfarrerinnen und Pfarrer verschiebt sich dann dahingehend, dass sie mehr zu theologischen Anleitenden und Begleitenden der Ehrenamtlichen werden. Ich sehe im Konzept der EKiR vom Gemeinsamen Amt einen wichtigen Ansatzpunkt zu einer anderen Gestaltung von Kirche und Pfarramt. Das Konzept des gemeinsamen Amtes will die pastoralen Aufgaben auf verschiedene kirchliche Berufe verteilen: Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch Gemeindepädagogen und Diakoninnen können (weil sie eine theologische Ausbildung durchlaufen haben) ordiniert und dann mit pastoralen Aufgaben für einen bestimmten Bezirk betraut werden. An diesen genannten Punkten müssten wir es m.E. wagen, die bisherigen Grenzen zu überschreiten und Neuland zu betreten. Protestantisches Profil liegt in der kreativen Vielfalt unserer Traditionen, die auf unterschiedliche Erwartungen und Bedürfnisse der Menschen antworten. 4. Von der Berufung zum Beruf Soziologen bezeichnen den Pfarrberuf als eine Totalrolle, d.h. diese Rolle umfasst das ganze Leben, man kann sich von ihr nicht distanzieren, auch in der Freizeit nicht; man bleibt in den Augen der Außenstehenden immer der Pfarrer oder die Pfarrerin, die Pfarramtsrolle überlagert alle anderen Rollen. Diese von früheren Pfarrergenerationen selbstverständlich und mit hoher Zustimmung total gelebte Berufung ist ins Wanken geraten und entwickelt sich bei jüngeren Pfarrerinnen und Pfarrern in Richtung auf berufliche Strukturen, wie wir sie von anderen Professionen kennen.

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Diese Grenzverschiebung begann mit der zunehmenden Zahl von Frauen im Pfarramt und durch den »Theologenberg« der 80er Jahre. Um für möglichst Viele die pfarramtliche Arbeit zu öffnen, wurde in den Landeskirchen Teilzeit-Arbeit eingeführt; der das ganze Leben umfassende Auftrag erschien in kurzer Zeit, mit nur wenigen theologischen Rückzugsgefechten, begrenzbar und teilbar. Wer eine halbe Stelle inne hatte, wollte und musste eine wenigstens ungefähre Bezugsgröße kennen. So kamen die, wie ich finde, unseligen 54 Wochenstunden für das Pfarramt ins Gespräch (in Schweizer Kirchen geht man von 42 Wochenstunden aus!). Entscheidend war jedoch, dass damit überhaupt die Frage nach Arbeitszeiten im Pfarramt grundsätzlich auf den Tisch kam, eine Frage, die bis dato durch den Dienstgedanken und Beamtenstatus der Pfarrerinnen und Pfarrer als undiskutabel galt. Bei jüngeren Pfarrerinnen und Pfarrer zeigen sich in Umfragen nun deutliche Tendenzen, das Amt stärker berufsförmig zu gestalten (womit nichts über die Qualität einer inneren Berufung ausgesagt ist!): Vertretungsregelungen zu schaffen, die es ermöglichen, selbstverständlich mindestens einen freien Tag pro Woche und ein Wochenende im Monat zu nehmen, Privatsphäre und Beruf deutlicher zu unterscheiden etc. Die mittlere Leitungsebene ist hier gefragt, ob sie zu solchen strukturellen Entlastungsmöglichkeiten ermutigt oder nicht. Auch die Residenz- und Präsenzpflicht im Pfarrhaus bröckelt – zum einen angesichts von Teilzeitstellen, zum anderen, weil Gemeinden kein Geld haben, um ein großes Pfarrhaus zu unterhalten. Plötzlich geht das, was bis dahin theologisch undenkbar war, aus finanziell-pragmatischen Gründen doch! Das traditionelle Pfarrhaus verliert in manchen Gemeinden seine Zentralstellung neben der Kirche; das muss kein Niedergang sein, es kann andere Kommunikationsknotenpunkte in der Gemeinde geben. Zu den schon lange geforderten, aber noch nicht sehr verbreiteten Entlastungen im Pfarrberuf gehört, Laien aus dem Kirchenvorstand mit der Geschäftsführung der Gemeindeangelegenheiten zu beauftragen, um mehr Kapazitäten für die pastoralen Kernaufgaben frei zu haben. Dies ist in den meisten Kirchen schon jetzt machbar, wenn die Pfarrerinnen und Pfarrer bereit sind, bestimmte Leitungsfunktionen und damit Macht abzugeben! Viele scheuen sich jedoch, diese Grenze zu übertreten. Solche strukturellen Entlastungen sind wichtig, weil die Gefahr der Überforderung und des Burn-out im Pfarramt hoch ist. Die unklaren und diffusen Strukturen in diesem Beruf fördern Überforderung. »In schlechten Strukturen können selbst fähigste Personen in Kürze kaputt gehen.«276 276

Alfred Jäger, zitiert bei Klessmann, Das Pfarramt 2012, 111.

5. Zum Verhältnis von Amt und Person

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5. Zum Verhältnis von Amt und Person Pastorale Arbeit ist Beziehungsarbeit! Fast alles, was Pfarrerinnen und Pfarrer tun, ist an Kommunikation und Beziehungsgestaltung gebunden. Wir sind nicht mehr die selbstverständlich autorisierten Amtsträger und Zeugen, die quasi objektiv und überpersönlich das Wort Gottes verkündigen; die Grenze verschiebt sich immer mehr dahin, dass wir Kommunikatoren sind bzw. sein müssen, die durch die Art ihres Auftretens und Redens, durch ihre Präsenz die Relevanz des Evangeliums zu erweisen haben. Die Worte der Pfarrerinnen und Pfarrer werden gehört, so hat es Fulbert Steffensky gesagt, nicht weil sie aus dem Mund des Pfarrers oder der Pfarrerin kommen, sondern weil sie gut sind, lebendig, anschaulich und persönlich, weil sie die Lebenssituation der Leute treffen und Deutungen anbieten, die bei der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen hilfreich sind. Form und Inhalt gehören untrennbar zusammen, das wissen wir schon lange, aber wir tun m.E. viel zu wenig dafür, um diese Einsicht umzusetzen. »Am Pfarrer predigt alles«,277 hat Klaus Harms schon vor über einhundert Jahren geschrieben. Aus dieser Erkenntnis erwächst die Notwendigkeit, die Pfarrperson mit ihren Stärken und Schwächen genau in den Blick zu nehmen und deutlich stärker als bisher Persönlichkeitsentwicklung zu betreiben, personale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit zu fördern. Das Amt garantiert auch nicht mehr den Selbstwert der Pfarrerinnen und Pfarrer, sie müssen stärker daran arbeiten, ihren Selbstwert durch die Wertschätzung der Gemeinde, in ihrem Glauben und durch ihre sozialen Kontakte immer neu zu finden und zu stabilisieren. Isolde Karle hat in ihrem Buch »Das Pfarramt als Profession« dem pastoralpsychologischen Ansatz unterstellt, die Pfarrerinnen und Pfarrer sollten in diesem Verständnis die Quellen ihres Auftrags in sich selbst entdecken. Nein, so ist es nicht gemeint. Die biblischen und kirchengeschichtlichen Quellen unseres Glaubens und unserer Amtsführung sind und bleiben uns vorgegeben, aber sie gehen durch unsere Person hindurch, gewinnen dadurch ihr unverwechselbares Gepräge und ihre persönliche Glaubwürdigkeit. Eine flexible pastorale Identität erwächst nicht allein aus dem Rahmen, den die Profession zur Verfügung stellt, sondern vor allem durch die aktive Auseinandersetzung mit den kollektiven und individuellen Ressourcen im jeweils gegebenen Kontext. Je bunter und vielfältiger sich die religiösen Welten der Leute ausbilden, desto mehr muss es Aufgabe der Pfarrerinnen und Pfarrer sein, diese Welten miteinander und mit der christlichen Tradition ins Gespräch zu bringen, also die traditionellen Grenzen der kirchlichen Arbeit zu überschreiten (wie das 277

Zitiert bei Michael Klessmann, Das Pfarramt 2012, 121.

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etwa in der pastoralen Arbeit in Institutionen wie Krankenhaus oder Gefängnis schon lange geschieht). Auch die hermeneutischen Bemühungen der Pfarrerinnen und Pfarrer müssen persönlich durchdrungen sein, es muss so etwas wie ein »persönlichkeitsspezifisches Credo« (Klaus Winkler) erkennbar werden, in dem spürbar wird, dass sich Glaube und Lebenserfahrung durchdringen. Da mag einer ein kluger und hoch differenzierter Theologe sein, wenn er das, was er vermitteln möchte, nicht elementarisiert, nicht konkret, erfahrungsbezogen und persönlich glaubwürdig zum Ausdruck bringen kann, kommt es kaum bei den Adressaten an. Zur Kommunikationsfähigkeit gehört auch die Fähigkeit, die Adressaten der Arbeit in ihrer jeweiligen Lebenssituation wahrzunehmen und sich in ihre Lage ansatzweise einzufühlen, um Situation und Botschaft, wie Ernst Lange das genannt hat, miteinander zu versprechen. Als Negativbeispiel habe ich noch in Erinnerung, wie kürzlich bei der Beerdigung eines Mannes, der mit 21 Jahren an einem Hirntumor gestorben war, der Pfarrer einen kurzen Lebenslauf verlas und dann – ganz traditionell – den Konfirmationsspruch des Mannes auslegte, ohne überhaupt darauf einzugehen, dass der Tod eines so jungen Mannes für die Eltern besonders schrecklich ist, und auch für die große Gruppe der Angehörigen und Freunde gewissermaßen die Welt auf den Kopf stellt. Die individuell-emotionale Dimension des Kasus war einfach verfehlt. Und schließlich sind die Pfarrerinnen und Pfarrer als Personen die Repräsentanten der Institution Kirche. Der englische Soziologe Anthony Giddens hat beschrieben, wie abstrakte Systeme – auch Kirche als Institution ist ein solches abstraktes System – personale, »gesichtsabhängige« Zugangspunkte brauchen, damit man zu ihnen Vertrauen fassen kann. Systemvertrauen kann nur über personalen Kontakt entstehen.278 Wenn dergestalt die Kommunikationsfähigkeit, die Fähigkeit, mit Menschen in Beziehung zu treten und die Kommunikation des Evangeliums »in mit und unter« diesem Kontakt zu vermitteln, so zentral sind, was tun wir für die Ausbildung dieser Fähigkeiten? Meiner Meinung nach tun wir zu wenig dafür. Die verbreitete Rede von den Kernkompetenzen im Pfarramt kann und darf nicht losgelöst betrachtet werden von der Querschnittskompetenz der Vermittlung eben dieser Inhalte. Kommunikation und Ästhetik (die Lehre von der »schönen« Gestaltung) sind neben der theologischen Wissenschaft zu zentralen Anforderungen geworden. Ein wesentlicher Teil der Attraktivität des Pfarramts beruht auf den Möglichkeiten der freien, persönlichen Gestaltung der vielen Aufgaben 278

Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 1995, 102ff.

6. Welche Orientierung vermitteln gegenwärtige Pfarrbilder?

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dieses Amtes; neben den fachlichen auch die persönlich-kommunikativen Voraussetzungen zu fördern ist keine neue, aber eine dringliche Forderung. 6. Welche Orientierung vermitteln gegenwärtige Pfarrbilder? Pfarrerinnen und Pfarrer haben Bilder davon, wer und wie sie sein möchten, wie sie ihren Auftrag sehen und verstehen, was sie mit ihrer Arbeit und ihrer Person erreichen möchten, und welchen Status sie in der kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit einnehmen möchten. Solche Bilder fungieren als Visionen, als Leitlinien, an denen man sich ausrichten kann, die einem helfen, Schwerpunkte und Zielsetzungen für das eigene Selbstverständnis und die Arbeit zu finden bzw. sie dem Kirchenvorstand oder der Gemeinde zu vermitteln. Sie skizzieren die Grenzen, innerhalb derer man tätig sein möchte, aber hoffentlich auch Möglichkeiten, diese Grenzen kreativ zu überschreiten. Pfarrbilder stellen häufig eine Antwort auf wahrgenommene Defizite in der jeweiligen Gegenwart der Kirche dar: Das, was der Kirche jetzt fehlt, was sie vermeintlich jetzt braucht, bzw. was die Zeitgenossen von ihr und ihren Repräsentanten erwarten, wird dann in einem Bild verdichtet und im Lauf der Zeit zu einer neuen Orientierungsmarke. Wir sind alle geprägt vom Pfarrbild des Zeugen, das bei Paulus und in der Reformation eine wichtige Rolle spielt und durch die dialektische Theologie noch einmal zugespitzt worden ist. In diesem Bild bündeln sich alle Tätigkeiten des Pfarrers im Auftrag zur Verkündigung. Er soll das Wort von Gericht und Gnade ausrichten. Die Person des Pfarrers, seine Subjektivität und Kommunikationsfähigkeit, gilt gegenüber seinem Auftrag als unbedeutend und sogar als hinderlich. Dietrich Bonhoeffer gebraucht in seiner Finkenwalder Homiletik folgendes Bild für das Predigen: »Es ist, wie wenn ich einen Brief vorlese, den ein anderer schreibt. Ich richte aus in Sachlichkeit, was ein anderer sagt. Es ist ein höheres Maß an Beteiligung, das so die eigene Subjektivität in den Tod gibt.«279 Im Amt des Zeugen gewinnt das Pfarramt eine kaum noch zu hinterfragende Autorität – in einer Zeit, in der sich in Gestalt der deutsch-nationalen Ideologie des Nationalsozialismus im großen Stil Entchristlichung und Entkirchlichung in der Bevölkerung ausbreiteten, war das nachvollziehbar. Wenn der Pfarrer gleichsam direktes Sprachrohr Gottes ist, können weder die Zeitläufte noch die individuellen Besonderheiten seiner Person diesem Amt etwas anhaben. Der Preis besteht allerdings auch in einer deutlichen Verkirchlichung und Veren279

Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, Bd. IV, München 1961, 251.

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gung des Pfarramtes.280 Diese Traditionslinie hat die deutsche Pastoraltheologie bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts bestimmt und in ihren Wirkungsmöglichkeiten zunehmend eingeschränkt. Reste davon sehe ich nach wie vor im Selbstverständnis mancher Pfarrerinnen und Pfarrer. Im Kontext der empirischen Wende in der Praktischen Theologie, also der Rezeption humanwissenschaftlicher Erkenntnisse in Theologie und Kirche in den ausgehenden 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, ist es Ernst Lange, der als erster den Auftrag der Kirche als Kommunikation des Evangeliums bezeichnet; Predigt soll eine »Verständigungsbemühung« sein, deren Relevanz nicht von vornherein feststeht, sondern sich im Prozess der Kommunikation erweisen muss. Pfarrbilder in diesem Zusammenhang sind kommunikativ und diakonisch bestimmt: Seelsorgerin, Helfer, Beraterin, Kommunikator, Anwältin der Schwachen etc. Empirische Umfragen jener Zeit zeigen, dass die Menschen vorrangig Seelsorge und Beratung von den PfarrerInnen erwarteten (funktionale Kirchentheorie). Zugleich stellte man in diesen Jahren fest: Die Institution Kirche wird für die Menschen immer stärker fremd und unanschaulich, sie wird repräsentiert durch die Personen, die sie vertreten. Der Pfarrer wirkt glaubwürdig und überzeugungskräftig durch seine kommunikative Kompetenz – und das ist etwas, was man sich erarbeiten kann und ständig erneuern muss. Folglich hat man in den 70ger Jahren in der theologischen Ausbildung begonnen, sich mit den persönlichen Voraussetzungen für dieses Amt zu befassen und an der Verbesserung kommunikativer Kompetenz (durch Kommunikationsübungen und Selbsterfahrung) zu arbeiten. Der Pfarrer als Helfer oder Beraterin versteht sich als jemand, der sich spezialisiert, der – je nach Neigung und situativen Gegebenheiten – Prioritäten setzt. Spezialisierung erfordert Zusammenarbeit mit anderen, die andere Schwerpunkte setzen, nur so kann ein Ganzes daraus werden. Insofern ist es nicht zufällig, dass das Team- oder Gruppenpfarramt in den 70er Jahren seine Blütezeit hatte: Wer seine kommunikativen Stärken ausbildet, weiß auch um seine Grenzen und ist von daher eher willens, mit anderen auf Augenhöhe zu kooperieren und die jeweils eigenen Einseitigkeiten durch die Fähigkeiten anderer auszugleichen und zu erweitern. Einerseits ist in diesem Bild die Glaubwürdigkeitsanforderung gestiegen, andererseits hat man diese Anforderung zum ersten Mal nicht mehr total verstanden: Beruf und Privatleben werden deutlicher unter-

280

Vgl. Falk Wagner, Religion und Theologie zwischen Vieldeutigkeit und Zweideutigkeit, in: Peter Koslowski / Richard Schenk (Hg.), Ambivalenz – Ambiguität – Postmodernität, Stuttgart 2004, 229–271, 239.

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schieden; eine solche Unterscheidung erlaubt dann auch mehr Freiräume. Das Teampfarramt hat sich nicht wirklich gehalten (obwohl es immer noch von vielen gewünscht wird!, s.u.), das Leitbild des Pfarrers / der Pfarrerin als Helfer oder Beraterin ist deutlich in den Hintergrund getreten. Besonders markant ist die Pastoraltheologie von Manfred Josuttis in den 80er Jahren hervorgetreten, in der er ein Bild von der Andersartigkeit des Pfarrers entwirft und damit das Pfarramt wieder vorrangig theologisch legitimiert: Als Repräsentant Gottes ist der Pfarrer notwendig anders als andere vergleichbare Professionelle. Seine soziologisch und psychologisch beschreibbare Andersartigkeit wurzelt letztlich darin, dass er Menschen von Gott als dem ganz Anderen erzählt und die Andersartigkeit Gottes auf Erden gleichsam vertritt. Dieses Bild hat Josuttis dann in den Folgejahren zugespitzt zu der Formel, dass der Pfarrer und die Pfarrerin die Menschen in den Bereich des Heiligen führen.281 Sie führen als Mystagogen in eine transrationale, transsubjektive Wirklichkeit, sie führen zu dem Geheimnis Gottes, sie regen mystische Erfahrungen an. Pfarrerinnen und Pfarrer müssen selber ein Leben führen, »das von der Heilsmacht Gottes geprägt ist«;282 sie müssen sich heiligen und Kontrolle über die Kräfte von Sexualität, Aggression und Narzissmus gewinnen. Gerade an diesen Punkten sollen Pfarrerinnen und Pfarrer aus der Gottesbegegnung »Freiheit von der Weltverhaftung«283 erreichen. Pfarrerinnen und Pfarrer sollen dezidiert Geistliche sein, die in der Lage sind, Menschen für die göttlichen Energien, für das Fließen der göttlichen Segenskräfte zu öffnen.284 Josuttis hat mit seiner Pastoraltheologie auf den Eindruck reagiert, dass das geistliche Profil des Pfarramtes verloren zu gehen drohe. Nicht zufällig hat geistliche Begleitung seither große Aufmerksamkeit gefunden, wird das Thema Spiritualität auch in der Kirche mit neuer Wertschätzung bedacht. Allerdings sollte im Bewusstsein bleiben, dass ein wesentliches Merkmal moderner Spiritualität die Suche, die Unvollendetheit und die Bereitschaft zum Synkretismus ist. Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich auf die Spiritualität der Zeitgenossen einlassen wollen, müssen diese Merkmal selber kennen und sie auch schätzen können, sonst können sie kaum die Grenzen, die hier in Frage stehen, überschreiten.

281 282 283 284

Manfred Josuttis, Die Einführung in das Leben, Gütersloh 1996, 18ff. Ebd., 152. Ebd., 169. Manfred Josuttis, Segenkräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge, Gütersloh 2000, 47ff.

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Einen anderen Akzent haben Albrecht Grözinger und Christian Grethlein gesetzt, indem sie das Pfarramt neu als theologischen Beruf stark machen. Ihnen geht es nicht um die Vermittlung religiöser Erfahrungen, sondern um die kritisch-konstruktive Auslegung der christlichen Tradition, um den Menschen bei ihrer Suche nach Orientierung beistehen zu können. »Die Menschen der Postmoderne suchen im Pfarrer, in der Pfarrerin nicht den großen Kommunikator, sondern den Interpreten, die Interpretin der biblisch-christlichen Tradition in jeweils bestimmten lebensgeschichtlichen Kontexten.«285 Grethlein286 meint, Anzeichen dafür zu sehen, dass die wissenschaftliche Theologie an Bedeutung verliert, sogar innerhalb der Kirche. Deshalb will er das Pfarramt als dezidiert theologischen Beruf verstanden wissen. Allerdings soll die theologische Kompetenz mit spiritueller und mit persönlichkeitsbezogener Bildung verknüpft sein. Wilhelm Gräb spricht von Pfarrerinnen und Pfarrern als Religionshermeneuten: Er nimmt unsere multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft als Ausgangspunkt und sieht die Aufgabe des Pfarramts darin, in den vielschichtigen und wechselnden Kontexten sprach- und übersetzungsfähig zu sein. Diffuse spirituelle Sehnsüchte der Zeitgenossen sollen mit den Erfahrungen der christlichen Tradition ins Gespräch gebracht werden; ästhetische Kategorien (bildende Kunst, Musik, Poesie etc.) werden immer wichtiger, um an gegenwärtige Welt- und Gotteserfahrung anzuknüpfen. In Gräbs eigenen Worten klingt das so: »Er [der Pfarrer] muss das Amt in eigene Regie nehmen. Er muss es so wahrnehmen, dass er den objektiven – durch Lehre und Bekenntnis definierten – kirchlichen Auftrag, der ihm in Gestalt seines Amtes vorgegeben ist, im Modus persönlicher Anverwandlung repräsentiert, fähig somit zur Reflexion persönlich auch anders gelebter Frömmigkeit, deutungskompetent im Übersetzen der christlichen Botschaft, in die vielfach anders symbolisierten Erfahrungen der nach Orientierungsgewißheit suchenden Zeitgenossen.«287 Ulrike Wagner-Rau schließlich verwendet die Metapher der Schwelle – vergleichbar der von mir verwendeten Grenz-Metapher:288 Pfarrerinnen und Pfarrer sind »auf der Schwelle« tätig, auf der Schwelle von Säkularität einerseits und spiritueller Sehnsucht andererseits, auf der Schwelle von binnenkirchlicher Kommunikation mit den Menschen der Kerngemeinde und den kirchendistanzierten Randsiedlern, auf der Schwelle 285

Albrecht Grözinger, Das Amt der Erinnerung, in: ders., Die Kirche – ist sie noch zu retten?, Gütersloh 1998, 139. 286 Christian Grethlein, Pfarrer – ein theologischer Beruf!, Frankfurt a.M. 2009. 287 Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine Praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 325f. 288 Ulrike Wagner-Rau, Auf der Schwelle. Das Pfarramt im Prozess kirchlichen Wandels, Stuttgart 2009.

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des Wunsches nach religiöser Erfahrung und den eher lehrhaft ausgeprägten Profilen unserer konfessionellen Traditionen. Wer auf der Schwelle arbeitet, muss beweglich sein, muss wechseln können zwischen drinnen und draußen, muss kommunikations- und interpretationsfähig sein, und, besonders wichtig, Unsicherheit und Ambivalenz ertragen und schätzen können. Die Schwelle, die Grenze als der Ort, an dem sich Sicherheiten auflösen, aber auch wieder ein deutlicheres Fragen nach Gott einsetzt. Ich selber habe aus pastoralpsychologischer Sicht die Spannung zwischen personaler Kompetenz und Fragment im Pfarramt in den Vordergrund gestellt:289 Alles, was Pfarrerinnen und Pfarrer tun, geht durch ihre Person hindurch, wird durch ihr Auftreten, ihre spezifische Art zu kommunizieren und Beziehungen aufzunehmen, geprägt. Deswegen ist die Arbeit an der eigenen Person, wie sie in pastoralpsychologisch orientierten Seelsorgeausbildungen geschieht, so wichtig. Meine These: Wer genauer und vertiefter um die eigene Person weiß, wer die eigenen Stärken und Grenzen, die persönlichen Ressourcen und Verletzlichkeiten kennt, ist auch besser in der Lage, achtsamer und einfühlsamer mit anderen Menschen umzugehen und den Auftrag zur Kommunikation des Evangeliums einfühlsam und adressatenorientiert zu gestalten. In diesem Sinn stellt »personale Kompetenz« eine Querschnittsressource dar, die allem pastoralen Handeln zu Gute kommt. Aber sie sollte immer begleitet sein von einem Wissen um die Fragmenthaftigkeit und Brüchigkeit all unseres Handelns. Im besten Fall sind wir »verwundete Heiler« – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Quer zu diesen von ihren Aufgaben her bestimmten Pfarrbildern liegt der Ansatz von Isolde Karle, die das Pfarramt dezidiert als Profession versteht und seine Gestaltung von daher ableitet.290 Nicht subjektive Ressourcen des Glaubens, der Kommunikationsfähigkeit und der Lebenserfahrung bilden die Grundlagen des Pfarramtes, sondern der professionelle Auftrag. In einer Profession geht es um die Vermittlung einer Sachthematik, in unserem Fall der biblisch-christlichen Tradition, in einer face-to-face Relation zwischen Professionellen und Professionslaien. Dazu ist der Erwerb eines berufstypischen Wissens notwendig, vor allem dann der Aufbau von Vertrauen zu den Menschen, an die sich die Vermittlung der Sachthematik richtet. Eine Profession unterliegt erhöhten ethischen Anforderungen (Präsenz- und Residenzpflicht, unabgegrenzte Arbeitszeiten), dafür genießt sie hohes öffentliches Ansehen und finanzielle Sicherheit. Diesen »package deal« sieht Karle zu Recht durch neuere Entwicklungen in der Gehaltsstruktur für Pfarrerinnen und Pfar289 290

Michael Klessmann, Das Pfarramt, Neukirchen-Vluyn 2012, 179ff. Isolde Karle, Der Pfarrberuf als Profession, Gütersloh 2001.

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rer gefährdet oder schon aus dem Gleichgewicht geraten. Die Rolle des Generalisten in religiösen Angelegenheiten ist für Karle unverzichtbar, Reformprogramme kommen bei ihr nicht wirklich in den Blick. Wenig bedacht in der Pastoraltheologie und nicht im eigentlichen Sinn ein Pfarrbild ist der Sachverhalt, dass Pfarrerinnen und Pfarrer Leitungspersonen sind; viele Gemeinden ähneln einem kleinen oder mittelgroßen mittelständischen Betrieb; entsprechend komplex und anspruchsvoll ist hier die Funktion der Leitung. Der theologisch aufgeladene Terminus der Leitung durch das Wort (»sine vi, sed verbo«) bildet den Hintergrund, ersetzt aber nicht konkrete Leitungsentscheidungen und -strategien. Nun kann Leitung heutzutage nicht mehr autoritativ, geschweige denn autoritär von oben nach unten geschehen, Leitung braucht den systemischen Blick auf das Ganze der Gemeinde und die kommunikative Fähigkeit, Notwendigkeiten und Ressourcen so miteinander zu koppeln, dass daraus produktive Schritte erwachsen. Leitung braucht die Fähigkeit zu kommunizieren, zu motivieren und zu delegieren; und sie sollte neben dem Planen und Entscheiden das Kontrollieren der Ergebnisse nicht vergessen. Man kann in den genannten pastoraltheologischen Konzeptionen zwei Grundoptionen erkennen: Sie betonen entweder die Notwendigkeit, dass Pfarrerinnen und Pfarrer (wieder) deutlicher als »Geistliche« oder als »Theologen« (Josuttis, Grözinger, Grethlein) auftreten und sich stärker an der Bewahrung der christlichen Tradition orientieren oder dass sie sich öffnen für gegenwärtige Spiritualität und Sinnsuche (Gräb), und »auf der Schwelle« (Wagner-Rau) Übersetzungsarbeit leisten zwischen christlicher Tradition und spirituellen Sehnsüchten. Wenn ich die Grenz-Metapher wieder aufgreife, würde ich sagen: Die einen betonen die Notwendigkeit, vorrangig innerhalb der Grenzen von Kirche, Gemeinde und christlicher Tradition erkennbar, wieder erkennbar tätig zu sein; die anderen möchten die gegebenen Grenzen überschreiten oder auflockern und dazu die notwendigen Anstrengungen hermeneutischer, seelsorglicher und persönlicher Art und Weise auf sich zu nehmen. Wo siedeln Sie sich mit Ihrem Verständnis des Pfarramtes an? Für die Frage nach der Ausbildung erscheint es unverzichtbar, diesbezüglich Klarheit über die Ziele zu gewinnen. 7. Welche Ziele sollte die theologische Ausbildung verfolgen? Für die theologische Ausbildung bedeutet das aus meiner Sicht eine notwendige Verknüpfung von drei Kompetenzen: wissenschaftlich-theologische Kompetenz, personal-kommunikative Kompetenz und spiri-

7. Welche Ziele sollte die theologische Ausbildung verfolgen?

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tuelle Kompetenz; alle drei verbinden sich zu dem, was man pastorale Identität oder Kompetenz nennen könnte, die wiederum eine ganze Reihe von Teilkompetenzen enthalten. Wie diese Kompetenzen im Einzelnen vermittelt und gelehrt werden können, mag umstritten sein; mir kommt es darauf an, ihre Verknüpfung von Anfang an in den Vordergrund zu stellen. Die klassische Struktur des Theologiestudiums steht dem entgegen. Da lernen die Studierenden angesichts der hergebrachten Trennung von Theorie und Praxis im Bereich universitären Lernens zunächst die wissenschaftlich-historische Herangehensweise und dann kommt später, im Vikariat und in den ersten Amtsjahren, die spirituelle Entwicklung dazu, die personale bleibt nach meinem Eindruck sowieso meistens auf der Strecke. So etabliert sich eine Traditionshermeneutik, der gegenüber so etwas wie eine Situations- oder Lebenshermeneutik, die aus einem Verstehen der gesellschaftlichen Großwetterlage, der jeweiligen Adressaten und der eigenen Person und ihrer Ressourcen besteht, immer benachteiligt bleibt. Die alten Grenzen zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Erfahrung bleiben mehr oder weniger fest bestehen; es ist dann kein Wunder, wenn Theologie eigentümlich lebensfremd erscheint. Aus dieser Situation ist erwachsen, dass die einzelnen Landeskirchen von sich aus meinen, das wissenschaftliche Studium um persönlichkeitsbildende und spirituelle Angebote erweitern zu müssen (in Bayern z.B. in Gestalt einer kirchlichen Studienbegleitung), mit der Folge, dass jede Landeskirche ihren eigenen Weg geht, und die theologische Ausbildung noch stärker verkirchlicht wird. In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hat es viele gruppendynamisch orientierte Angebote gegeben, um etwas für die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmenden zu tun. Solche Strukturen könnten leicht aktualisiert und um den Bereich einer Förderung und Bearbeitung einer persönlichen Spiritualität bzw. Religiosität erweitert werden. Bestandteil dieser persönlichen Spiritualität muss die Offenheit sein, die Suche, das Fragmenthafte auszuhalten und zu schätzen. Ziel sollte die Integration wissenschaftlich-theologischer Einsichten mit der Förderung von Persönlichkeitsentwicklung und der reflektierten Stärkung einer religiös-spirituellen Haltung sein. Nur so wird es m.E. möglich sein, die Grenzen zwischen christlicher Tradition und gegenwärtigen Herausforderungen so aufzulockern, dass eine gegenseitige Bereicherung der verschiedenen Suchbewegungen stattfinden kann.

XII Seelsorge im Pfarramt Welche Bedeutung hat sie (noch) in Gemeinde und Krankenhaus angesichts der gegenwärtigen kirchlichen Umstrukturierungsprozesse?291 1. Die Ausgangssituation an Hand zweier Eindrücke (a) Ein junger Gemeindepfarrer bearbeitet in der Supervision die Frage, wie er die ihm vom Landeskirchenamt verordnete Kürzung seiner vollen Stelle auf eine halbe bewerkstelligen kann. Er ist ärgerlich und frustriert über die Aufgabe – aber er sieht auch, dass er keine Wahl hat. Proteste der Gemeinde und Gespräche mit dem Dekan haben die Entscheidung des Landeskirchenamtes nicht ändern können. Nun sitzt er da und arbeitet widerwillig an einem von der Gemeindeberatung in Bayern herausgebrachten Plakat mit dem Bild einer Kirche, die in 54 kleine Quadrate aufgeteilt ist. Die 54 Kästchen bilden die 54 Stunden ab, die man durchschnittlich im Pfarramt arbeitet bzw. arbeiten soll – woher diese Zahl kommt, weiß niemand so recht, aber sie ist nun einmal als Richtgröße da (Gemeinden in der Schweiz arbeiten interessanterweise mit 42 Stunden als Richtgröße!). Zu den 54 Quadraten gibt es 54 Kärtchen, auf die man stundenweise die durchschnittlichen Aufgaben pro Woche schreiben kann. So füllt der Pfarrer diese Kirche, das braucht etwas Nachdenken, ist aber im Prinzip nicht schwer. Viel schwerer ist es, diese Aufgaben nun um die Hälfte zu kürzen. Hier und da mal ein Kärtchen wegzunehmen, die wöchentliche Gottesdienstvorbereitung von acht auf sieben Stunden zu reduzieren, im Seniorenkreis statt monatlich nur alle zwei Monate aufzutauchen etc. – all’ das reicht bei weitem nicht aus. Im Lauf dieses mühsamen Prozesses rutscht ihm der Satz raus: »Dann mach ich eben keine Seelsorge mehr, das merkt man am wenigsten.« Er nimmt die Äußerung gleich wieder zurück, nein, das würde er nie tun, Seelsorge läge ihm doch sehr am Herzen. Trotzdem, er hat da etwas ausgesprochen, was ihm spontan in den Sinn kam und mir im Blick auf unser heutiges Thema charakteristisch erscheint: Ob jemand intensiv Seelsorge betreibt oder nur mäßig oder fast gar nicht – das merken die Gemeindeöffentlichkeit und die kirchlichen Vorgesetzten zunächst einmal nicht. Ob man diese Aufgabe wirklich ernst nimmt oder sie eher locker handhabt, fällt nicht besonders auf. Seelsorge hat auch in der kirchlichen Öffentlichkeit keine wirkliche Lobby, das zeigt das EKD-Papier »Kirche der Freiheit«, in dem Seelsorge als gesonderter Arbeitsbereich überhaupt nicht vorkommt. Insofern spiegelt der Einfall des Pfarrers kirchliche 291

Vortrag vor einem Pfarrkonvent in Stuttgart am 17.10.2012.

1. Die Ausgangssituation an Hand zweier Eindrücke

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Realität. Seelsorge wird immer hoch gelobt, aber strukturell hat sie wenig Platz und keine wirkliche Unterstützung. (b) In empirischen Umfragen zum Pfarrberuf steht die Selbstbezeichnung der Pfarrerinnen und Pfarrer als Seelsorgerin und Seelsorger an erster Stelle: In der Umfrage aus der hannoverschen Kirche aus dem Jahr 2005 etwa sehen sich 61,3 % an erster Stelle als Seelsorger/in, 55,5 % als Verkündiger/in und dann folgen weit abgeschlagen Repräsentant von Kirche mit 23,4 % etc. In der Beschreibung der pfarramtlichen Realität rangiert dann aber die Praxis der Seelsorge durchaus nicht mehr an erster Stelle, sondern an dritter. Und wenn ich meine persönlichen Erfahrungen aus Supervision und Fortbildung hinzunehme, fällt Seelsorge oft sogar noch viel weiter zurück, so dass manche Supervisanden, wenn sie mal vierzehn Tage ihre Tätigkeiten genau protokollieren, über diesen Befund geradezu erschrecken. Wie lässt sich die Diskrepanz erklären? Ich sehe eine Reihe von Gründen: Zunächst einmal ist die Selbstbezeichnung als Seelsorger/Seelsorgerin eine erwünschte: Sie signalisiert Nähe zu den Menschen, Freundlichkeit und Wärme – wer möchte nicht als einfühlsam und an den Schicksalen der Menschen Anteil nehmend gelten? So gesehen stellt Seelsorge eine grundlegend geschätzte Haltung, weniger einen separaten Arbeitsbereich im Pfarramt dar. Gegenüber diesem Ideal muss die Realität zwangsläufig abfallen. – Seelsorge stellt eine verborgene Arbeit dar, entsprechend hat sie nur eine geringe Lobby. Auch ihre Resultate sind schwer messbar: Menschen fühlen sich gestärkt und getröstet – aber sind ihre Lebensprobleme gelöst? Hat sich ihr Leiden gemindert? Und insgesamt: Trägt Seelsorge zum Gemeindeaufbau bei? Zu besserem Gottesdienstbesuch? Wohl kaum. – Im gegenwärtigen Strukturwandel sind viele Pfarrerinnen und Pfarrer innerlich stark mit den anstehenden Veränderungen besetzt: Fusionen, Stellenkürzungen, Vertretungen und die damit einhergehende Arbeitsverdichtung sind ja nicht nur organisatorische Probleme, sondern lösen viel widersprüchliche Emotionen aus: Anspannung, Frust, Ärger, Traurigkeit, Deprimiertheit usw. Da ist man innerlich oft nicht frei, um sich anderen zuzuwenden und ihren Geschichten von Freude und Leid offen zuzuhören. Und, wie im Beispiel angedeutet, Seelsorge kann dann als erstes mal wegfallen. – Seelsorge ist eine unplanbare Tätigkeit: Auf Gottesdienst und Unterricht kann man sich vorbereiten, man hat als Pfarrperson weitgehend das Heft in der Hand; in einer seelsorglichen Begegnung aber weiß man nie, was auf einen zukommt, welches Lebensschicksal da vor einem ausgebreitet wird, welche möglicherweise heftigen Emotionen ausbrechen und in welchem Maß man selber Hilflosigkeit



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und Ohnmacht in der Auseinandersetzung damit erlebt. Deswegen: Bei aller grundsätzlichen Erwünschtheit kann Seelsorge diejenigen, die sie betreiben, stark verunsichern – auch das erklärt, warum Vorstellung und Realität auseinanderklaffen. Welchen Stellenwert hat Seelsorge in Ihrer pfarramtlichen Realität? Wo bzw. wie kommt sie bei Ihnen im Zusammenhang mit Kasualien und darüber hinaus vor? 2. Was verstehen wir unter Seelsorge? Ich denke, es ist sinnvoll, zur gemeinsamen Verständigung zwischen parochialen und funktionalen Diensten zunächst an ein paar Eckpunkte zum Verständnis von Seelsorge zu erinnern: 2.1 Seelsorge ist Sorge um die Lebendigkeit des Menschen Seelsorge verstehe ich ganz einfach als Sorge für die Seele eines Menschen. Seele meint dabei im hebräischen Sinn des Wortes die Lebendigkeit und die Beziehungshaftigkeit des Menschen. Es geht um Sorge für alles, was Menschen lebendig macht, was ihre Beziehungen stark und produktiv erhält – bis hinein ins Sterben. Es geht um Anteilnahme an dem, was Menschen freut und worunter sie leiden, um Aufmerksamkeit für ihre Biographie, ihre Familie, Freundschaften und Feindschaften, um Mitgefühl für ihre soziale Lage, ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse und um Interesse an ihrer religiösen oder spirituellen Ausrichtung. All das hat Platz in der Seelsorge, findet wertschätzende Aufmerksamkeit – im Namen Gottes. Im Unterschied zur Psychotherapie oder zur psychotherapeutischen Beratung geht es in dieser Sorge für die Lebendigkeit nicht vorrangig um Problemlösung oder Symptombeseitigung, sondern darum, den anderen Menschen in seiner Eigenart wahrzunehmen, anzunehmen, gelten zu lassen und wert zu schätzen. Diese wertschätzende Aufmerksamkeit äußert sich als empathisches Zuhören, als ein Zuhören, das nicht so sehr an den Fakten, die jemand erzählt, interessiert ist, sondern an den mitschwingenden Gefühlen. Denn es sind die Gefühle, welche die Inhalte qualifizieren. Der einfach Satz »es geht mir gut« kann von jemand mit strahlenden Augen überzeugend ausgesprochen sein oder mit traurigem Tonfall, als ob die Person sagen wollte: Frag bloß nicht weiter. Ein solches empathisches, aktives, wertschätzendes Zuhören tut den meisten Menschen gut, das sollten wir nicht vergessen und das Zuhören nicht, wie ich es öfter erlebe, abwerten als »ich habe ja ›nur‹ zugehört«.

2. Was verstehen wir unter Seelsorge?

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2.2 Seelsorge geschieht im Schutzraum des vier-Augen-Gesprächs Seelsorge bezeichnet in der Regel ein Gespräch unter vier Augen. Ich erwähne diese Selbstverständlichkeit, weil sie weitreichende Konsequenzen hat: In der face-to-face-Begegnung machen wir uns in Sekundenbruchteilen ein Bild der anderen Person durch das, was wir sehen und hören, u.U. auch riechen. D.h. man teilt in der persönlichen Begegnung viel mehr von sich mit, als man vielleicht selber möchte. Mimik, Gestik und Stimme kann man nur begrenzt kontrollieren. Insofern erscheint es nicht zufällig, dass, wie die Telefonseelsorge feststellt, die medial vermittelten Kontakte via Telefon oder Internet zunehmen. Da behalten die »Ratsuchenden« die Kontrolle über das Gespräch; sie teilen sich nur über reduzierte Wahrnehmungskanäle mit und können das Gespräch von sich aus jederzeit abbrechen. Diese Beobachtung schärft also noch mal ein, wie verletzlich Menschen sind, wenn sie Rat und Hilfe brauchen, und wie wichtig deswegen der Schutzraum des Gesprächs ist. Die Seelsorgeperson unterliegt strikter Verschwiegenheit, das ist in einer geschwätzigen Welt, in der Vieles in der Öffentlichkeit abgehandelt wird, eines ihrer größten Potentiale. Zum Schutzraum gehört, dass Seelsorge absichtslos und zweckfrei geschieht: Seelsorgende sollten Menschen nicht verändern wollen, sondern sie annehmen und gelten lassen, wie sie sind (auch wenn das schwer fällt) – mit der paradoxen Absicht einer buddhistischen Weisheit: Nur was du annimmst, kannst du verändern. In der Seelsorge müssen Menschen nicht ihre Lebensprobleme bearbeiten und lösen wollen, sie dürfen klagen und so bleiben wie sie sind – das ist etwa bei den Daueranrufern in der TS ein wichtiger Aspekt und unterscheidet Seelsorge deutlich von Psychotherapie, die zielgerichtet Lebensprobleme angeht und zu verändern sucht. Bei psychiatrischen Langzeitpatienten in Bethel habe ich öfter erlebt, dass ein Psychiater sagte, er könne nichts mehr für Herrn XY tun, der sei »austherapiert«; gerade dann erschien mir Seelsorge besonders wichtig. Sie kennen den Satz, dass es in der Seelsorge keine hoffnungslosen Fälle gibt: Weil in Gottes Augen niemand hoffnungslos erscheint. Seelsorge versucht, diesen Blickwinkel einzunehmen und sich damit von gesellschaftlichen Maßstäben abzuheben. Zur Absichtslosigkeit der Seelsorge gehört dann auch, dass niemand zur Kirchenmitgliedschaft oder zum Glauben überredet werden soll. Seelsorge ist ausschließlich für den anderen Menschen da und stellt alle anderen Absichten zurück. Wenn sich Seelsorge vorrangig im Medium des Gesprächs vollzieht, kann sie eine Menge von Psychotherapie und Kommunikationstheorie lernen, da sollten sich Seelsorgende entsprechend fortbilden und das im Predigerseminar anfangshaft Gelernte vertiefen – ich nenne ein paar Stichworte: eine wertschätzende Atmosphäre herstellen, sich an den

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Gefühlen des Gegenübers orientieren, die nonverbale Dimension des Gesprächs berücksichtigen, theologische Gehalte gesprächsgerecht einbringen, rituelle Vollzüge mit liturgischer Präsenz vollziehen usw. Und damit das nicht nur gute Absichten bleiben, muss es in Abständen durch Supervision überprüft werden. 2.3 Seelsorge ist eine Form religiöser Kommunikation Glaube, Religiosität, Spiritualität stellen Phänomene dar, die dem Wunsch und der Bereitschaft Ausdruck geben, das eigene Leben in der Beziehung zu anderen und zur Welt »vor Gott« zu bedenken, vor dem Horizont dessen, der unendlich größer ist als wir und unser Leben übersteigt. In der Liturgie geschieht religiöse Kommunikation in ritualisierter Form, in der Predigt generalisierend und rezeptiv, in der Seelsorge explizit fokussiert auf einen einzelnen Menschen, auf dessen Biographie und Lebenslage, und in einer Weise, dass die Aktivität des Einzelnen herausgefordert wird. Damit entspricht Seelsorge in besonderer Weise der Individualisierung und Pluralisierung der Lebenslagen in der Postmoderne. Zeitgenossen lassen sich nur noch ungern vereinnahmen, sie wollen in ihrer Einzigartigkeit gesehen und gewürdigt werden. In der Seelsorge erfährt diese Wertschätzung eine unbedingte Qualität, weil der einzelne Mensch als Geschöpf Gottes anerkannt wird und damit eine unverlierbare Würde zugesprochen bekommt. Dieser Horizont von Religion kann, muss aber nicht ausdrücklich werden. Bereits durch die Selbstvorstellung der Seelsorgeperson als Pfarrer oder als Mitglied eines kirchlichen Besuchsdienstes wird dieser Horizont markiert. Die Seelsorgeperson bringt gewissermaßen Gott mit ins Gespräch, erinnert den anderen Menschen implizit an Themen, die mit Religion verknüpft sind: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was ist der Sinn meines Lebens? Was ist mit einem Leben nach dem Tod? Was sind Maßstäbe für ein verantwortliches Handeln? Usw. Solche Themen werden – diffus und vielfach unbewusst – aktiviert, wenn eine Pfarrerin oder eine Frau vom Besuchsdienst der Kirche auftaucht. Ob und wie der Horizont von Religion explizit werden kann und soll, darüber gibt es in der Seelsorgetheorie unterschiedliche Auskünfte. Die kerygmatische Seelsorge hat gefordert, dass eine verbale Bezeugung des Wortes Gottes geschehen müsse. Die Seelsorgebewegung hat sich davon abgegrenzt und die These vertreten, dass es im Seelsorgegespräch primär um die Erfahrung der Annahme gehen soll und die verbale Bezeugung demgegenüber zurücktreten kann. Wenn ein Mensch in der Seelsorge erlebt, dass er dort mit seinen Fehlern und Problemen, für die er sich vielleicht selber schämt oder schuldig fühlt, vorbehaltlos angenommen und wertgeschätzt wird, hat er möglicherweise mehr verstan-

2. Was verstehen wir unter Seelsorge?

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den von dem, was der christliche Glaube die Rechtfertigung des sündigen, des zweifelnden, des schuldig gewordenen Menschen durch Gott nennt, als wenn er diese Worte nur hört. Seelsorge repräsentiert einen Raum der unbedingten Wertschätzung, in dem Menschen sich geschützt und getragen fühlen und diese Erfahrung mit Kirche, mit Gott in Zusammenhang bringen können. Gewiss wird dadurch Seelsorge stellenweise verwechselbar mit säkularer Beratung. Aber was bedeutet denn Inkarnation anderes, als dass Gott sich in menschliche Interaktion begibt und darin verwechselbar wird? Eine Art Kompromiss zwischen den beiden Positionen hat Peter Bukowski vorgelegt mit dem Vorschlag, die Bibel ins Gespräch zu bringen, wenn es sich vom Gesprächszusammenhang her nahe legt. Wenn dem Pfarrer an einer bestimmten Stelle des Gesprächs eine biblische Geschichte oder ein Vers oder ein Bild einfällt, kann er diesen Einfall natürlich einbringen – aber bitte »gesprächsgerecht«, d.h. so, dass dadurch der Gesprächsfaden nicht zerreißt, sondern durch die biblische Assoziation eine Vertiefung und Weiterführung des Themas geschehen kann. Angesichts der Fremdheit biblischer Texte in der Gegenwart liegt darin wieder eine Chance; und gleichzeitig bedeutet es eine hohe Kunst, einen biblischen Inhalt in dieser Weise einzuspielen. Denn wenn man erst eine lange Geschichte erzählen muss, um den biblischen Inhalt überhaupt verständlich zu machen, ist der Gesprächsfaden unterbrochen. Und es ist sorgfältig darauf zu achten, ob ein solches »die Bibel ins Gespräch bringen« dem anderen Menschen wirklich nützt, ihn Neues entdecken lässt, oder ob es eher der Selbstlegitimation der Seelsorgeperson dient. 2.4 Seelsorge arbeitet mit Ritualen Die Seelsorgebewegung der 70er und 80er Jahre war, ähnlich wie die Psychotherapie, stark gesprächsorientiert, rechnete mit erwachsenen Gesprächspartnern, die ein gewisses Maß an Ich-Stärke besitzen und in der Lage sind, Lebensthemen mehr oder minder vernünftig und reflektiert zur Sprache zu bringen. Wer Seelsorge betreibt, merkt schnell, dass eine solche Voraussetzung in einer Reihe von Fällen nicht zutrifft: In akuten Krisensituationen (wie sie in der Notfallseelsorge begegnen), in der Begegnung mit dementen Personen, bei geistig behinderten Menschen, oder bei schwer kranken und sterbenden Menschen: In Situationen, in denen ein Gespräch nicht oder nur ansatzweise geführt werden kann, können jedoch Rituale von großer Bedeutung sein. Und auch darüber hinaus haben wir die Bedeutung von Ritualen zur Lebensbewältigung neu zu schätzen gelernt. Rituale verstehe ich als im Ablauf mehr oder weniger festgelegte und wiederholbare Symbolhandlungen. Im Unterschied zum Gespräch muss man den Vollzug eines Rituals nicht intellektuell verstehen und nachvollziehen, sondern kann sich in einen

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feststehenden, vielleicht sogar vertrauten Ablauf einklinken, sich darin aufgehoben wissen und Gemeinschaft erfahren. Allein durch ihren Vollzug können kleine Rituale – ich denke an Gebet oder Segen – Erfahrungen von Verlässlichkeit, Stabilität und Trost vermitteln; unabhängig vom Inhalt zeigen sie an, dass wir uns der Quelle des Lebens öffnen, uns mit Gott in Beziehung setzen. Gleichzeitig gilt auch: Wir leben in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, insofern sollte man immer das Einverständnis der anderen Person für eine solche religiöse Symbolhandlung einholen. 2.5 Seelsorge ist professionelles Rollenhandeln Seelsorge stellt eine spezifische Art einer professionellen Beziehung dar. Wer Seelsorge betreibt, schlüpft in eine Rolle, d.h. er oder sie entspricht einem Bündel von Erwartungen, die diese Rolle ausmachen. Eine Rolle gibt allen Beteiligten Sicherheit: Man weiß, was man erwarten kann und was nicht. Wer zu seinem Gemeindepfarrer geht oder im Krankenhaus von einer Seelsorgerin besucht wird, kann davon ausgehen, dass die eigenen persönlichen Themen, Gefühle und Bedürfnisse im Vordergrund stehen, dass die Seelsorgeperson Kompetenz und Verlässlichkeit mitbringt, aufmerksam zuhört, den Sinn dessen, was gesagt wird, zu erfassen und zu vertiefen sucht, Distanz wahrt, sich mit eigenen Geschichten und Reaktionen zurückhält, und die Verpflichtung zur Verschwiegenheit einhält. Man muss beispielsweise nicht befürchten, dass einem eine Versicherungspolice aufgeschwatzt wird. Das sind die klassischen Rollenerwartungen, deren Erfüllung entlastet und Sicherheit für alle Beteiligten verspricht. Gleichzeitig gehört zur Rollenübernahme auch ein gewisses Maß an Rollendistanz. Wenigstens ansatzweise erwarten die Menschen, nicht nur einem Rollenträger gegenüber zu treten, sondern auch die Persönlichkeit dahinter oder darin zu erkennen. Zu den wünschenswerten Verhaltensweisen, die Carl Rogers für Psychotherapeuten gefordert hat und wie sie m.E. auch für die Seelsorge gültig sind, gehört das Moment der Echtheit: In professioneller Routine und Kompetenz sollen auch spontane und echte Gefühle der Seelsorgerin (Herzlichkeit und Freude, aber auch Trauer oder Unwille) erkennbar werden. Das trägt entscheidend dazu bei, dass sich jemand persönlich gesehen und nicht nur als Fall wahrgenommen erlebt. Dies stellt jedoch eine sensible Gratwanderung dar: Einerseits professionelle Distanz zu wahren und andererseits als Person erkennbar zu werden erfordert hohe Aufmerksamkeit und innere Zurückhaltung. Seelsorge eignet sich nicht dazu, eigene narzisstische Bedürfnisse auszuagieren! Und: Gerade in der Gemeinde ist es besonders schwierig, diese Balance zwischen Distanz und Nähe zu halten: Man begleitet Menschen über Jahre und Jahrzehnte hinweg, kommt ihnen u.U. sehr nahe – was heißt da professionelle

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Distanz? Und Pfarrerinnen und Pfarrer haben selber natürlich Bedürfnisse nach Freundschaft und vertrauensvollen Beziehungen. Viele der Menschen, die dafür in Frage kommen, sind jedoch gleichzeitig Gemeindemitglieder, sind »Klienten« – Wünsche nach Freundschaft und professionelles Handeln vertragen sich nicht ohne Weiteres. Zur Professionalität der Seelsorge gehört, dass wir die sozialen Kontexte, in denen sie geschieht, aufmerksam wahrnehmen und berücksichtigen: Ob mein Gegenüber einen sicheren und zufriedenstellenden Arbeitsplatz besitzt oder immer wieder von der Angst vor einer Kündigung geplagt wird oder Harz IV-Empfänger ist, macht einen großen Unterschied im Blick auf dessen seelische Lage, auf seine Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten. Ob jemand in gewaltförmigen Lebenszusammenhängen lebt, oder gesichert und zivilisiert existieren kann, ist für jedes Lebensthema wichtig. Die jeweiligen Kontexte gilt es, so weit wie möglich wahrzunehmen, um falschen Personalisierungen vorzubeugen. Seelsorge bekommt dann auch eine prophetische, eine sozialkritische Funktion, indem sie auf Missstände aufmerksam machen und Veränderungen anmahnen kann. 2.6 Das Ziel der Seelsorge besteht darin, Menschen in ihrer Lebens- und Glaubensgewissheit zu stärken Wir leben in unübersichtlichen Zeiten, ständig stehen kleine und große Entscheidungen an (soll das Kind nun die Realschule oder das Gymnasium besuchen? Welches Fach soll ich studieren? Halte ich die Marotten dieses Partners aus oder trenne ich mich?), deren langfristige Konsequenzen man nicht übersehen kann. Entsprechend bringen Menschen viele Unsicherheiten, Ängste und offene Fragen in der Seelsorge zur Sprache. In der Seelsorge als einem Raum unbedingter Wertschätzung können solche Unsicherheiten und Ängste, aber auch Wünsche und Fantasien erst einmal ausgesprochen werden ohne dass jemand sagt »das wird schon wieder«, »da musst du dir keine Sorgen machen« oder »alles wird gut«. Achten Sie einmal darauf, in welch hohem Ausmaß Menschen in ihrer alltäglichen Kommunikation einander nicht zuhören, einander oberflächlich beruhigen oder ablenken oder den anderen nur als Stichwortgeber fürs eigene Erzählen benutzen. Vor diesem Hintergrund tut vielen Menschen allein die Tatsache gut, dass ihnen wirklich zugehört wird. Schon darin liegt Trost und Stärkung. Ängste gehen ja nicht dadurch weg, dass man sie verharmlost, sondern dass sie Raum bekommen und angeschaut werden können. In einer Atmosphäre des Vertrauens und der Wertschätzung lernen Menschen, über das Unabänderliche zu klagen, Leid und Schmerz zu betrauern und es langsam anzunehmen. Dabei verweist Seelsorge implizit und explizit auf den Grund des Lebens, sie sagt Gottes Gegenwart zu im Leiden und in der Freude

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und stärkt dadurch Menschen in ihrem Glauben und in ihren Fähigkeiten, zu lieben und zu hoffen. 2.7 Die Stärke der Seelsorge besteht in ihrer Niedrigschwelligkeit Seelsorge ist eine unstrukturierte und niedrigschwellige Tätigkeit. Man kann die Pfarrerin nach dem Gottesdienst noch kurz ansprechen, man trifft den Pfarrer, wenn er sein Kind zum Kindergarten bringt und kann mal eben erzählen, wie schlecht es der Oma geht oder etwas fragen zur Situation der Kinder. Das geschieht en passant, die Leute behalten die Kontrolle über die Situation, können jederzeit abbrechen. Es erscheint wichtig, auch solche kurzen Begegnungen ernst zu nehmen und zu realisieren, dass Menschen auch auf diesem Weg gesehen und wertgeschätzt werden wollen. Deswegen werden zu Recht in den letzten Jahren Einsichten aus Kurzzeittherapieverfahren für die Seelsorge fruchtbar gemacht.292 Zur Niedrigschwelligkeit zähle ich auch, dass Seelsorge in theologischer oder dogmatischer Hinsicht offen, nicht festgelegt ist. Menschen können ihr Suchen, ihre Ratlosigkeit und Unsicherheit thematisieren, ohne deswegen bewertet zu werden. Damit entspricht Seelsorge dem Status, den Religion oder Spiritualität gegenwärtig für viele Leute hat: Es geht mehr um offene Fragen als um abschließende Antworten – und Menschen fühlen sich angenommen, wenn sie gerade in ihrer Suche und Unsicherheit verstanden werden. Zur Stärke der Seelsorge gehört, ich erwähnte es schon, dass sich Menschen nicht ändern müssen, dass sie reden und klagen können und nicht an sich arbeiten sollen, wie das in der Psychotherapie erwartet wird. Zur Stärke der Seelsorge gehört weiter, dass sie Menschen aufsucht, die sonst wahrscheinlich von sich aus nie Hilfe und Beistand suchen würden, viele kranke und alte Menschen z.B. Diese Stärken der Seelsorge sind zugleich ihre Schwächen: Die Verbindlichkeit der Seelsorge ist gering, die Kompetenz der Seelsorgenden auch, wer Hilfe im Sinn von Problembeseitigung braucht, geht wahrscheinlich besser zum Psychotherapeuten. Diese Schwäche der Seelsorge gilt es zu sehen. Für mich liegt die Konsequenz darin, ein HilfeNetzwerk aufzubauen. In diesem Netzwerk bietet Seelsorge die erste Anlaufstation – bei der Telefonseelsorge etwa funktioniert das bereits so – und kann dann u.U. weiter verweisen an Krisendienste, Beratungsstellen, niedergelassene Psychotherapeuten. Als niedrigschwellige erste Anlaufstation erscheint mir Seelsorge ausgesprochen wichtig. Aber es ist 292 Timm Lohse, Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung, Göttingen 2003; Rolf Theobold, Zwischen Smalltalk und Therapie. Kurzzeitseelsorge in der Gemeinde, Neukirchen-Vluyn 2013.

3. Seelsorge und Gemeinde

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wünschenswert, es nicht nur dabei zu belassen, sondern die weiterführenden Möglichkeiten zu kennen. 3. Seelsorge und Gemeinde Bisher habe ich nur über Seelsorge als Aufgabe des Pfarramts gesprochen. Dabei ist der Auftrag zur Seelsorge – also zur Sorge um und Anteilnahme an der Lebendigkeit des/der Nächsten – allen Getauften gegeben, alle sollen aneinander als den unterschiedlichen Gliedern des Leibes Christi Anteil nehmen. Diese Art der wechselseitigen Sorge umeinander wird man in der Beschreibung der Urgemeinde in Apg 2,42ff voraussetzen dürfen, wenn es heißt: »Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.« Diese zweifellos ideale Schilderung ist im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte nur selten kirchliche Realität geworden. Zwei Tendenzen lassen sich beobachten, die diesen Auftrag zur Seelsorge bei der Gemeinde aufgeweicht haben: a. Wenn Seelsorge vorrangig sakramental verstanden wird, muss sie an das Amt gebunden werden. Nur der Priester kann in der katholischen Tradition eine gültige Beichte abnehmen. Dagegen hat Luther argumentiert und versucht, wieder Seelsorge und Beichte unter allen Getauften stark zu machen: »Laßt uns einer dem andern beichten, raten, helfen und bitten, was nur immer anliegt heimlich, es sei Sünde oder Pein, und gar nicht zweifeln an solch lichter, heller Zusage Gottes …«293 Die viel zitierte Formel aus den Schmalkaldischen Artikeln von dem mutuum colloquium et consolatio fratrum (et sororum) bringt dieses Anliegen auf den Punkt. Trotz dieser starken Worte ist Seelsorge auch in der reformatorischen Tradition vorrangig als Aufgabe des Pfarramts gesehen und praktiziert worden. Das Amt hat die Wechselseitigkeit einer Seelsorge in der Gemeinde weitgehend verdrängt. b. Als zweite Tendenz ist der in der Gegenwart in allen gesellschaftlichen Bereichen zu beobachtende Trend zur Professionalisierung zu nennen: Hilfehandeln wird immer stärker professionalisiert in dem doppelten Sinn, dass es dafür umschriebene Zuständigkeiten gibt (es gibt Beratungsstellen oder Krisendienste für alle möglichen Anlässe) und notwendige Fachkompetenzen (dafür muss man sich entsprechend qualifizieren). Einerseits ist dieser Trend zur Professionalisierung zu begrüßen, andererseits untergräbt er spontanes, wechselseitiges Hilfehandeln, eben auch Seelsorge der Gemeindeglieder untereinander. Eine Kirche, die sich dem Priestertum aller Getauften verpflichtet weiß, darf sich durch diese beiden Tendenzen – das Übergewicht des 293

Luther, Von der Beicht (1521), WA 8, 184, 21–24.

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geistlichen Amtes und den Trend zur Professionalisierung – nicht schrecken lassen. Wir müssen, um des theologischen Ansatzes willen und natürlich auch aus pragmatischen Gründen, weil hauptamtliches Personal angesichts des Strukturwandels der Kirchen knapper wird, die ehrenamtliche Seelsorge stärken – und damit die Gemeinde stärken. Denn eine Gemeinde, in der Menschen aneinander Anteil nehmen, ist eine lebendige Gemeinde. Das bildet sich wahrscheinlich nicht direkt im Gottesdienstbesuch ab, es ist nicht unmittelbar dem Gemeindeaufbau dienlich, und doch wird man es spüren, ob da ein Klima der gegenseitigen Wertschätzung und Anerkennung, der Anteilnahme und Hilfe untereinander vorhanden ist oder nicht. Um Seelsorge stärker zum Auftrag der Gemeindeglieder zu machen, ist es hilfreich, verschiedene Formen oder Abstufungen von Professionalität und damit auch von Qualifikation im Blick auf Seelsorge zu unterscheiden. Ich nenne vier solcher Abstufungen: – Da ist zunächst die alltägliche Seelsorge, das Alltagsgespräch zwischen Menschen in der Gemeinde, in der Nachbarschaft, im Beruf: Man nimmt selbstverständlich aneinander Anteil, berät und stärkt einander und praktiziert nachbarschaftliche Solidarität. Seelsorge und Diakonie, seelische und materielle Hilfe liegen hier eng beieinander. Und: Diese Gesprächsebene liegt vor aller professionellen Differenzierung, hier kommt es darauf an, dass eine/r dem anderen als anteilnehmender Mitmensch und Christ begegnet. Das Pfarramt hat die Aufgabe, eine solche seelsorgliche Atmosphäre in der Gemeinde anzuregen, Menschen immer wieder darauf aufmerksam zu machen, welche Bedeutung – auch als Ausdruck des Glaubens an einen mitgehenden Gott – einer solchen alltäglichen Anteilnahme aneinander zukommt. Kirche im theologischen Sinn ereignet sich in der Verkündigung und Austeilung der Sakramente, aber auch in der Gemeinschaft der Getauften. – Von der Alltagsdimension zu unterscheiden ist eine erste Stufe der Professionalisierung, die ehrenamtliche Seelsorge (Laienseelsorge) einer Besuchsdienstgruppe: Geeignet erscheinende Freiwillige werden geworben und für ihren Dienst in der Gemeinde, im Krankenhaus, im Altenheim etc. geschult (z.B. mit einer Einführung in Gesprächsführung, in theologische und psychologische Themen) und während ihrer Tätigkeit durch Supervision begleitet. Obwohl es im Bereich der Seelsorge Naturtalente gibt, reicht es in der Regel nicht, sich auf Intuition und naturgegebene Sensibilität der Akteure zu verlassen, Ausbildung und kontinuierliche Begleitung sind angesichts der mit einer solchen Tätigkeit verbundenen Verantwortung unerlässlich. Wer in das Leben anderer Menschen eingreift – und

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das tut man, wenn man ein seelsorgliches Gespräch führt – sollte wissen, was er tut und die Grenzen der eigenen Kompetenz kennen. Am Beispiel der Telefonseelsorge kann man sehen, dass eine solche Seelsorge durch Ehrenamtliche keine Verlegenheitslösung darstellt, sondern von Anfang an so gewollt ist und sehr gute Ergebnisse erzielt. Allein die Tatsache, dass Ehrenamtliche keinen professionellen Nimbus haben wie Pfarrerinnen und Pfarrer erleichtert ihnen manchmal den Kontakt zu anderen Menschen. Das Geheimnis des Erfolgs dieser ehrenamtlichen Arbeit in der TS (oder in der Hospizseelsorge) scheint mir in der guten Ausbildung und Begleitung zu liegen: Ehrenamtliche investieren viel an Energie und Zeit, sie bekommen aber auch viel: Sie werden durch die Ausbildung und Begleitung zu immer neuer Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Leben, mit der eigenen Biographie angeregt; und sie erleben eine tragfähige, vertrauensvolle Gemeinschaft in der Gruppe der Ehrenamtlichen – sie erleben Kirche in einer anderen Gestalt als in der Parochie. Das Verhältnis von Geben und Nehmen ist bei diesen ehrenamtlichen Diensten besser ausgewogen: Es muss uns daran liegen, ein solches Gleichgewicht auch in anderen Bereichen ehrenamtlicher Arbeit herzustellen. Als weitere Dimension nenne ich die pfarramtliche Seelsorge: Hier zählt Seelsorge neben Verkündigung und Unterricht zu den zentralen Aufgaben. Pfarrer und Pfarrerinnen brauchen für diese Aufgabe qualifizierte Aus- und Weiterbildung. Erste und zweite theologische Ausbildungsphase legen Grundlagen für seelsorgliches Handeln, die jedoch in einem langen Berufsleben immer wieder aktualisiert werden sollten. Von der parochialen Seelsorge zu unterscheiden ist die Spezialseelsorge in Funktionspfarrämtern (Krankenhausseelsorge, Altenheimseelsorge, Gefängnisseelsorge, kirchliche Beratungsstellen etc.), die mit entsprechender Qualifizierung, Strukturierung und Supervision einhergeht. Hier spielt auch die Berücksichtigung des speziellen institutionellen Kontextes eine besondere Rolle: Seelsorge auf der Intensivstation eines Krankenhauses oder in der Aufnahmestation einer psychiatrischen Klinik erfordert jeweils recht unterschiedliche Kompetenzen. Neben der Wahrnehmung spezieller Aufgaben sollten diese Seelsorgenden wiederum den Auftrag bekommen, für ehrenamtliche Seelsorge auszubilden und die Ehrenamtlichen supervisorisch zu begleiten.

Diese Art und Weise, die seelsorglichen Aufgaben zu unterscheiden, verdeutlicht die Möglichkeiten, die in einer solchen Differenzierung liegen. Es geht dann nicht um besser oder schlechter, sondern um je unterschiedliche Kontexte und unterschiedliche Gaben und Fähigkeiten.

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XII Seelsorge im Pfarramt

4. Zusammenarbeit von parochialen und funktionalen Diensten Wenn man die Vielfalt seelsorglicher Aufgaben so differenziert, wird auch der notwendige und hilfreiche Zusammenhang von parochialer und funktionaler Seelsorge deutlich. Traditionellerweise gibt es Animositäten zwischen Gemeindepfarrerinnen und -pfarrern und Pfarrerinnen und Pfarrern im Funktionspfarramt. Das hat zunächst historische Gründe: Funktionale Dienste sind aus dem parochialen Pfarramt erwachsen, galten insofern lange als gleichsam abgeleitete Dienste. Im innerkirchlichen Diskurs gilt das Gemeindepfarramt nach wie vor als die Grundform kirchlichen Handelns – obwohl zahlenmäßig inzwischen etwa ein Drittel der Pfarrerinnen und Pfarrer funktionale Dienste wahrnehmen. Und auch von der Situation der Kirche in der pluralisierten Gesellschaft her gedacht, sind funktionale Dienste unverzichtbar, weil viele Menschen von parochialen Angeboten nicht (mehr) erreicht werden. Zwar stellen die Gemeinden nach wie vor die Basis unserer gegenwärtigen Volkskirche dar; gegenüber dem Vorschlag des EKD-Papiers »Kirche der Freiheit«, die Zahl der Parochien deutlich zu verringern,294 haben Kritiker zu Recht auf die theologische und empirische Unverzichtbarkeit der Parochie hingewiesen.295 Das schließt aber nicht aus, dass Kirche den weitergehenden Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung aufmerksam beobachtet und sich in Zahl und Gestaltung von Funktionspfarrämtern (und entsprechenden Gemeindeformen) darauf einstellt. Entscheidend ist, die beiden Pfarramtsformen nicht gegeneinander auszuspielen und abzuwerten, wie das immer noch gelegentlich geschieht, sondern ihren notwendigen inneren Zusammenhang zu begreifen – über die erwähnte gesellschaftliche Differenzierung hinaus: Parochiale Seelsorge ist vorrangig – durch die Kasualien – am Lebenslauf der Menschen orientiert, sie begleitet Menschen »von der Wiege bis zur Bahre«, hilft ihnen, die »normalen« Knotenpunkte und Übergänge des Lebens zu begehen und zu bewältigen. Funktionale Seelsorge hat stärker die unerwarteten Krisen des Lebens im Blick: Krankheit und Sterben in der Krankenhausseelsorge, unvorhergesehene Notfälle in der Notfallseelsorge, aktuelle Lebenskrisen und Beziehungskrisen in der Telefonseelsorge oder in der kirchlichen Beratungsstelle. Gemeindeseelsorge ist auf den alltäglichen Lebensort bezogen, funktionale Seelsorge auf »außerordentliche« Orte und Kontexte, in denen sich Menschen durch Berufstätigkeit, durch ihr Freizeitverhalten oder eben auf Grund von Lebenskrisen aufhalten. Ich denke, es ist einleuchtend, dass es beide Seelsorgefor294 295

Kirche der Freiheit, Hannover 2006, 54ff. Vgl. Günter Thomas, 10 Klippen auf dem Reformkurs der EKD, Evang.Theol. 67 (2007), 363ff.

5. Zur Bedeutung der Seelsorge im Gesundheitswesen

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men geben muss – weil es beide Lebensformen gibt: den mehr oder weniger »normalen«, lokal verankerten Lebensalltag, der mit seinen Übergängen begangen und bearbeitet werden will; dazu dienen die Rituale der Kasualien und die dazugehörige seelsorgliche Begleitung. Daneben und dazwischen die mehr oder weniger plötzlich auftretenden Lebenskrisen, in denen Menschen akut Begleitung und Stabilisierung brauchen, als auch Lebensstile, wie in städtischen Ballungsräumen, die nicht mehr auf lokaler Bindung beruhen. Kirche sollte beiden Lebensformen Aufmerksamkeit schenken. Dann sind Absprachen zwischen parochialer und funktionaler Seelsorge unbedingt wichtig, vieler Orts geschieht das ja auch. Nach meinem Eindruck könnte jedoch die wechselseitige Information noch intensiver sein, und regelmäßiger erfolgen, um die Übergänge vom Alltag zu einer Krisensituation und zurück besser begleiten zu können. Auch für die kirchliche Strukturplanung scheint es mir ausgesprochen wichtig, Stellenkürzungen im Bereich der Pfarrämter, da wo sie notwendig sind, in einem ausgewogenen Verhältnis im Blick auf Gemeinde- und Funktionspfarrämter vorzunehmen. 5. Zur Bedeutung der Seelsorge im Gesundheitswesen Seit einer Reihe von Jahren hat Seelsorge (oder spiritual care) zunehmende Bedeutung im Gesundheitswesen bekommen; diese Entwicklung ist auch für die Kirchen von Interesse, weil hier einerseits der Seelsorge ein neuer Stellenwert zuwächst, andererseits sich der Inhalt von Seelsorge verändert. Beides muss von den Kirchen zur Kenntnis genommen und diskutiert werden. Zwei Bereiche sind hier zu nennen: 1. In der Palliativmedizin und Hospizarbeit gehört Seelsorge konzeptionell zu den Grundpfeilern der Betreuung kranker Menschen. In der WHO-Definition von palliative care heißt es, dass lebensbedrohlich erkrankte Menschen vorbeugend und lindernd behandelt werden sollen im Blick auf Schmerzen und »andere Probleme physischer, psychosozialer und spiritueller Natur«.296 D.h. Palliativmedizin vertritt einen ganzheitlichen und multiprofessionellen Behandlungsansatz: Die spirituellen Bedürfnisse von schwer kranken Menschen werden genauso ernst genommen wie die körperlichen und sozialen; neben Medizin, Pflege und Sozialarbeit bildet Seelsorge / spiritual care einen integralen Bestandteil des Behandlungsansatzes. Da Palliativ care zunehmend in die medizinische Ausbildung integriert wird, hat dies langfristig natürlich Auswirkungen auf die Medizin insgesamt, auf deren Bild von Religiosität oder Spiritualität im Kontext der Lebensbewältigung, aber sicher auch auf die Seelsor296

Zitiert nach Traugott Roser, Spiritual Care, Stuttgart 2007, 244f.

204

XII Seelsorge im Pfarramt

ge.297 Besonders hervorzuheben ist an diesem Punkt, dass in der Palliativmedizin spiritual care soz. systemintern gefordert wird, während Seelsorge bisher systemextern von den Kirchen angeboten wurde und wird.298 Welche Konsequenzen das für Selbstverständnis und Praxis der Seelsorge hat, sollte aufmerksam beobachtet und diskutiert werden. 2. Im Hintergrund dieser Entwicklung steht ein anderes Phänomen, dass nämlich in den USA schon lange der Zusammenhang von Religion und Gesundheit erforscht und mit Emphase positiv beantwortet wird. Auch wenn in analogen deutschen Forschungen stärker die Ambivalenz von Religion herausgestellt wird, so gibt es doch einen weitgehenden Konsens dahingehend, dass Religion nicht länger als eine Einstellung gilt, die Menschen neurotisiert, wie das die psychoanalytische Religionskritik lange vertreten hat, sondern als eine Ressource, die Stabilität und Trost bietet, in eine Gemeinschaft einbinden kann und haltgebende Sinndeutungsperspektiven eröffnet. Damit kann sie einen Beitrag zu Heilung und Gesundung leisten. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Menschen spirituelle Bedürfnisse haben, die auch Krankenhäuser ernst nehmen sollten. Seelsorge wird hier also von einem anthropologischen Ansatz her begründet. Zwei Konsequenzen aus diesen kurz angedeuteten Phänomenen möchte ich nennen: – Die Praxis der Seelsorge gewinnt einen anderen Stellenwert im Gesundheitswesen insgesamt; das sollte das Selbstbewusstsein der Seelsorgenden stärken und auch von den Kirchen für ihre Personalplanungen berücksichtigt werden. – Das Verständnis von Seelsorge muss in Auseinandersetzung mit diesen Tendenzen neu diskutiert werden. Seelsorge geschieht traditionell aus dem kirchlichen Auftrag heraus, der wiederum im Missionsbefehl gründet. Spiritual care dagegen setzt anthropologisch an, ist in den meisten Fällen nicht religiös bzw. konfessionell festgelegt, sondern offen für jede Art Suche nach Ganzheit und Transzendierung. Wie weit kann Seelsorge da mit gehen? Wo muss sie sich abgrenzen?

297

Vgl. G.D. Borasio, Spiritualität in Palliativmedizin / Palliativ Care, in: E. Frick / T. Roser (Hg.), Spiritualität und Medizin. Gemeinsame Sorge für den kranken Menschen, Stuttgart 2009, 109–115. 298 Vgl. Roser 2007, 245.

6. Ist die evangelische Kirche eine seelsorgliche Kirche?

205

6. Ist die evangelische Kirche eine seelsorgliche Kirche? Unter einer seelsorglichen Kirche verstehe ich eine, – in der Gemeindeglieder, nicht nur die Hauptamtlichen, aneinander Anteil nehmen, einander wertschätzend, achtsam und mit Interesse begegnen, in der das bereits zitierte »mutuum colloquium« tatsächlich, in formellen und informellen Strukturen, stattfindet. – in der es Gelegenheiten und Anregungen gibt, dass Menschen ihr eigenes Leben »vor Gott« thematisieren können im Kontext ihrer Mitmenschen und ihrer Umwelt; eine solche Möglichkeit zur Selbstthematisierung zeichnet sich dadurch aus, dass sie konkret, lebensnah und erfahrungsnah ausfällt; sie kann im Gottesdienst geschehen, in Liturgie und Predigt, aber auch in verschiedensten Gruppenprojekten, wie im Zweiergespräch. – in der ein haltgebendes und freilassendes Netzwerk vorhanden ist, in dem sich einzelne, wenn sie es möchten, aufgehoben fühlen können, zu dem sie aber auch Distanz wahren können, ohne dafür schräg angesehen zu werden, in dem also Bindung und Freiheit in einem ausgewogenen Gleichgewicht stehen. – in der die Repräsentanten von Kirche mehr fragen und hören, bevor sie reden. – in der es möglich ist, Differenzen in der Orientierung des Glaubens wahrzunehmen und auszuhalten. – in der man produktiv um die Wahrheit streiten kann. Eine solche seelsorgliche Kultur wächst in manchen Gemeinden, aber auch in funktionalen Seelsorgebereichen: Z.B. ist die Gemeinschaft der Ehrenamtlichen in der TS schon mal mit einem Urbild von Gemeinde verglichen worden, weil hier eine Kultur der wechselseitigen Anteilnahme untereinander entsteht.299 Diese Kultur entwickelt sich im Prozess der vorbereitenden Schulung und der begleitenden Supervision, in denen Elemente von Selbsterfahrung, also von Thematisierung des eigenen Lebens, auch des eigenen religiösen Lebens, Platz haben. Auf diese Weise erfahren die Ehrenamtlichen voneinander: Da entsteht Anteilnahme beinahe von selbst. D.h. aber auch: Eine seelsorgliche Kultur bedarf zunächst und immer wieder der Anregung und Förderung von außen – dafür zu sensibilisieren, dafür Strukturen zu schaffen ist eine wichtige Aufgabe der Hauptamtlichen. Im gegenwärtigen Reformprozess der Kirche scheint es so, als ob die bürokratischen Strukturen der Organisation Kirche wachsen und sich ausbreiten. Ich weiß nicht, wie die Situation in der württembergischen 299

Hermann Steinkamp, zitiert bei M. Klessmann, Seelsorge 52015, 153.

206

XII Seelsorge im Pfarramt

Kirche aussieht, für die EKHN beschreibt ein Insider im Deutschen Pfarrerblatt vom September dieses Jahres, dass der finanzielle Aufwand für die Verwaltung der Kirche auf etwa das Fünffache im Vergleich zu vor 20 Jahren gestiegen sei;300 aus der westfälischen Kirche habe ich es vor nicht langer Zeit von mehreren Pfarrerinnen und Pfarrern gehört, wie sie die zunehmende Bürokratisierung der Kirche gerade im mittleren Verwaltungsbereich, also den Kirchenkreisen, beklagten. Können wir solchen Trends entgegenwirken? Nicht zuletzt dadurch, dass wir uns für die Stärkung einer seelsorglichen, einer menschenfreundlichen Kultur in der Kirche, in Gemeinden, in Krankenhäusern und anderen Institutionen – im Namen eines menschenfreundlichen Gottes – einsetzen?

300

Christoph Bergner, 25 Jahre Reform in der EKHN, DtPfbl 9/2012, 510–513.

XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus301

Sand oder Öl – so haben Sie das Thema des heutigen Tages formuliert. Autofahrer möchten auf keinen Fall Sand im Getriebe haben, dann ist das Getriebe kaputt, so etwas sucht man tunlichst zu vermeiden. Öl andererseits ist unverzichtbar und jeder Fahrer wird darauf achten, dass von dieser Substanz immer reichlich vorhanden ist. Sie merken, wenn man die zunächst reizvolle thematische Alternative ganz wörtlich nimmt, ist sie nicht mehr recht stimmig: Krankenhäuser meiden die Seelsorge nicht wie das Getriebe den Sand; andererseits ist Krankenhausseelsorge auch nicht so unverzichtbar wie das Öl für den Motor. Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo dazwischen – und doch regt das Bild natürlich an, Fragen nach unserer eigenen Funktionsbestimmung, nach dem Selbstverständnis der Seelsorge als Repräsentation von Kirche im System des Krankenhauses zu stellen. Wer wollen wir denn sein? Wie wollen andere uns haben? Und wie gehen wir mit deinen eigenen und den fremden Erwartungen um? Ich will versuchen, diesen Fragen nachzugehen, indem ich zunächst etwas über das Krankenhaus als System sage, um von da aus auf die Frage nach Selbstverständnis und den Erwartungen von außen an die Seelsorge zu kommen. 1. Krankenhaus als System Ein modernes Krankenhaus hat die Aufgaben der Versorgung und Betreuung von Patienten, der Diagnostik und Therapie von Krankheiten, der Aus- und Weiterbildung des ärztlich-pflegerischen Personals, der medizinischen Forschung und der Verwaltung.302 Schon diese knappe Aufzählung lässt ahnen, welche immensen Leistungen aufgebracht werden müssen, damit solche Aufgaben für und durch hunderte von Menschen angemessen erfüllt werden können. Dazu bedarf es einer bürokratischen Organisation, die eine festgefügtes Struktur von Über- und Unterordnungen und exakte Vorgaben für regelgeleitetes Handeln festlegt. 301

Vortrag auf der Herbsttagung des Krankenhausseelsorgekonventes der EKiR am 2.10.2002 in Düsseldorf. 302 Vgl. Johannes Siegrist, Seelsorge im Krankenhaus – aus der Sicht der Krankenhaussoziologie, in: Handbuch der Krankenhausseelsorge, hg. von Michael Klessmann, Göttingen ²2001, 28ff.

208

XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus

Die Zuordnung der Begriffe System und Organisation verstehe ich für den vorliegenden Zusammenhang so:303 Unsere Gesellschaft hat sich funktional ausdifferenziert in mehr oder weniger autonome Funktionsbereiche wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst etc. Innerhalb dieser verschiedenen Funktionsbereiche bilden sich Organisationen aus, die man systemisch betrachten kann, z.B. unter der Fragestellung, wie die Teile und das Ganze interagieren, wie die Grenzen des Systems beschaffen sind, wie sich System und Umwelt zueinander verhalten etc. Eine Organisation ist ein soziales Gebilde, das auf bestimmte Ziele hin ausgerichtet ist, einen angebbaren Mitgliederbestand umfasst, der wiederum auf bestimmte Grundnormen verpflichtet ist. Die festgelegte Zielsetzung erfordert eine entsprechende Rollendifferenzierung sowie ein Regelwerk, in dem fachliche Kompetenzen, Kommunikationsstrukturen und Weisungsbefugnisse festgelegt sind. Auf den ersten Blick erscheinen Organisationen als offene Systeme, denn sie beziehen sich auf ihre Umwelt, haben Kunden, Klienten, Märkte etc. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, in wie hohem Maß Organisationen oftmals geschlossene Systeme darstellen: Sie sind geprägt durch Selbstreferentialität bzw. Autopoiese. Sie beziehen sich auf sich selbst und erhalten sich selbst aufrecht; sie haben ihre eigene Ideenwelt, Betriebs-Philosophie und -sprache, die sich unabhängig von einzelnen Personen durchhält. (Deswegen ist es so schwierig, Organisationen zu verändern!) Entscheidungsprozesse der Organisation bauen auf früheren Entscheidungen auf und reproduzieren sich damit selbst. Impulse von außen wirken nicht direkt, sondern nur, wenn sie vom System »freiwillig« aufgegriffen und dabei den eigenen Zielsetzungen entsprechend umgeformt werden. Es gibt keine einfachen und linearen Ursache-Wirkungszusammenhänge: Man kann soziale Systeme nicht direkt verändern, aber man kann als füreinander bedeutsame Umwelten Anstöße vermitteln; kleine Anstöße können sprunghafte und große Wirkungen zeitigen und umgekehrt. Es kann lohnend sein, neue Sichtweisen, Fragen, Metaphern und Visionen in die eingefahrene Routine einzuspielen. Was allerdings dabei jeweils herauskommt, ist nie vollständig planbar; Systeme reagieren kontingent, d.h. es könnte alles auch ganz anders sein. Auf die Chancen für Seelsorge, die sich aus dieser Sichtweise ergeben, komme ich zurück. 303

Zum folgenden vgl. K. Gabriel, Art. Organisation in: Wörterbuch des Christentums, Gütersloh/Zürich 1988, 917f; E.R. Schmidt / H.G. Berg, Beraten mit Kontakt, Frankfurt a.M. 2002, 16ff; G. Emlein, Seelsorge als systemische Praxis, WzM 53 (2001), 158ff; A. von Schlippe / J. Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, Göttingen 1996.

1. Krankenhaus als System

209

In jedem Krankenhaus gibt es drei Hierarchien, die ärztliche, die pflegerische, die administrative Hierarchie. Die ärztliche Hierarchie bestimmt mit ihrer naturwissenschaftlich-technisch ausgerichteten Grundlegung die Gesamtorientierung der Organisation. Allerdings wird man sagen müssen, dass die wirtschaftlichen Faktoren die Entfaltung der medizinischen Binnenlogik inzwischen entscheidend mit steuern und u.U. auch einschränken. Die genannten Hierarchien bilden spezifische Berufsrollen aus, die zum einen durch ihre fachliche Qualifikation, zum anderen durch ihre Rangfolge innerhalb der Hierarchie ausgezeichnet sind. Jede Berufsrolle hat typische Pflichten und Rechte, die qua Rolle erwartet werden, die die Rolleninhaber auch nur in Grenzen variieren und ausweiten können. Eine Rolle gibt Verhaltenssicherheit sowohl für die Rolleninhaber als auch für die Adressaten ihrer Tätigkeit: Man weiß als Patient, was man von einem Arzt erwarten kann im Unterschied etwa zu einer Schwester oder einer Krankengymnastin. Eine Rolle bietet aber nicht nur Sicherheit und Entlastung, sie engt auch ein; hält man sich nicht an die Vorgaben, »fällt man aus der Rolle« – das kann reizvoll, aber auch irritierend erlebt werden. (Der Seelsorger, der einer Patientin den Nacken massiert, löst bei einer Ärztin, die zufällig ins Zimmer kommt, erst einmal verwunderte Blicke aus!) Damit ist schon angedeutet, dass die Organisation von einer abstrakten Regelhaftigkeit geleitet wird – eine Tatsache, die einerseits um des Funktionierens einer so großen Organisation willen unvermeidlich ist, die andererseits immer wieder für Befremden sorgt, weil Außenstehende mehr »Menschlichkeit«, und das heißt eben, weniger Regelhaftigkeit, weniger rollengebundenes Verhalten erwarten. Regelhaftigkeit findet ihren Ausdruck in den genannten Rollenerwartungen an das Personal: Neben der fachlichen Qualifikation und der Berücksichtigung ihres Status in der Hierarchie ist es vor allem die »affektive Neutralität«, die sich das medizinisch-pflegerische Personal im Lauf der beruflichen Sozialisation aneignet und aneignen muss, um die geforderte Arbeit angemessen tun zu können. »Affektive Neutralität« kann man auch als einen Prozess der Entemotionalisierung bezeichnen: Sie ist notwendig, um sich zu schützen vor übermäßigem Mitleiden und Identifikationen mit Patienten und ihren Krankheiten, um schmerzhafte und für Patienten nicht immer einsichtige Eingriffe durchführen zu können usw. Diese emotionale Distanz des Personals stößt nun – da liegt ein immer wiederkehrender Konfliktpunkt – auf eine besondere gefühlsmäßige Bedürftigkeit der Patientinnen und Patienten: Die sind durch den Krankenhausaufenthalt aus ihrer gewohnten, sie stabilisierenden Umwelt herausgenommen, sie fühlen sich durch die Krankheit in ihrer Identität und Unabhängigkeit bedroht, sie befinden sich in einer ihnen fremden und stellenweise feindlich anmutenden Institution, sie verste-

210

XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus

hen nur zum Teil, was mit ihnen geschieht – all das löst eine besondere Bedürftigkeit aus, die das Krankenhauspersonal mehr oder weniger zwangsläufig frustrieren muss. Die Zumutungen, denen sich Patienten zu unterwerfen haben, kann man mit dem amerikanische Soziologen und Anthropologen Erving Goffman auch als Züge einer »totalen Institution« beschreiben:304 Eine Vielzahl von Bedürfnissen wird bürokratisch-vereinheitlichend organisiert; alle Patienten werden mehr oder weniger gleich behandelt; die Tätigkeiten der Organisation werden von einem übergreifenden Plan geregelt; die »Insassen« der Institution verlieren vorübergehend ihre bürgerlichen Identitätsmerkmale und ihre Entscheidungsfreiheit, der Raum einer geschützten persönlichen Intimität wird stark eingeschränkt. Zwischen Patienten und medizinisch-pflegerischem Personal besteht eine asymmetrische Beziehung: Das Personal, vor allem natürlich die Ärzte, haben die Expertenmacht des großen Informationsvorsprungs und des Rechtes zur Intervention, dem die Patienten folgen müssen und aus eigenem Interesse, wenn auch manchmal widerstrebend, folgen wollen. Die Krankenhaussoziologie hat wiederholt hohe Informationsdefizite bei Patienten festgestellt, Defizite, die naturgemäß Belastung und Stress auslösen, die wiederum einer Heilung abträglich sind. Das Beispiel der Visite zeigt besonders deutlich, wie es zu solchen Defiziten beinahe zwangsläufig kommen muss. Der Soziologe Johannes Siegrist fasst seine Forschungen auf diesem Gebiet folgendermaßen zusammen: »Heute wissen wir, dass die tägliche Arztvisite pro Patient durchschnittlich 3–4 Minuten dauert, dass die meisten Gesprächsinitiativen vom Arzt ausgehen und dass der Patient im Durchschnitt pro Visite lediglich 1–2 Fragen stellt. Über seine Krankheit bringt der Patient während der Visite überwiegend als Dritter etwas in Erfahrung: Mehr als die Hälfte aller Sätze, die Informationen über die Krankheit enthalten, werden zwischen Arzt und Pflegepersonal ausgetauscht, sind also nur ›implizit‹ an den Patienten gerichtet.«305 Die große Studie der FEST in Heidelberg hat Ende der 80er Jahre eine verstärkte Patienten-Orientierung des Krankenhauses eingefordert:306 Diese Forderung ist immer wieder wichtig und notwendig – zwangsläufig gerät sie in Widerspruch zu der Binnenlogik des Systems Krankenhaus. Die Logik der naturwissenschaftlich ausgerichteten Institution ist geprägt vom Kausalprinzip: Physikalisch-chemische Vorgänge werden 304

Erving Goffman, Über die Merkmale totaler Institutionen, in: ders., Asyle, Frankfurt a.M. 1973, 15–123. 305 Siegrist, a.a.O. 32. 306 G. Scharffenorth / A.M. Müller (Hg), Patienten-Orientierung als Aufgabe, Heidelberg ²1991.

1. Krankenhaus als System

211

isoliert und objektiviert und auf die im jeweiligen Zusammenhang relevanten Faktoren reduziert, um sie analysieren und den Ursache-Wirkungszusammenhang erkennen zu können. Tendenziell läuft diese Logik auf eine Trennung von Person und Krankheit, von Person und Körperfunktionen hinaus. Der Befund und seine Konsequenzen stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Patienten möchte als Personen mit ihrer Lebensgeschichte, mit ihrer emotionalen Bedürftigkeit, mit ihrem gegenwärtigen Lebenskontext wahrgenommen werden; das Personal muss beinahe zwangsläufig davon absehen bzw. kann diesen Kontext nur sehr ausschnittweise wahrnehmen. Ein Krankenhaussoziologe spricht geradezu von der Tendenz zur Depersonalisierung im Krankenhaus.307 Es ist wichtig, dies als eine systemimmanente Tendenz zu erkennen und – von Ausnahmen abgesehen – diesbezüglich dem Personal nicht Kaltherzigkeit oder gar bösen Willen zu unterstellen. Seelsorge als ein Subsystem im Gesamtsystem Krankenhaus hat nach meinem Verständnis vorrangig die Aufgabe, Menschen zu begleiten und ihnen bei der (Re-)Konstruktion von Identität im Kontext ihrer gegenwärtigen Lebensumstände behilflich zu sein – im Horizont des christlichen Glaubens. Die Lebensgeschichte der Patienten, ihre Gefühle und Phantasien, ihre Hoffnungen und Ängste, ihr Glaube und ihre Zweifel, mit einem Wort, ihre Befindlichkeit stehen für die Seelsorge im Zentrum der Aufmerksamkeit. Seelsorge arbeitet im Auftrag der Kirche; die jüdisch-christliche Tradition stellt eine ihrer wichtigsten Ressourcen dar: Handlungsleitende Gottes- und Menschenbilder entnimmt sie dieser Tradition. Im Krankenhaus ist eine so verstandene Seelsorge systemfremd. Von der naturwissenschaftlich-technischen Binnenlogik des Krankenhauses her ist Seelsorge nicht vorgesehen, sie ist strukturell überflüssig. Auch die bürokratischen Strukturen sowie der wirtschaftliche Druck, der Krankenhäuser zu höchster ökonomischer Effizienz zwingt, stehen einer systemfremden Tätigkeit wie der Seelsorge nicht günstig gegenüber. Die Systemfremdheit der Seelsorge zeigt sich äußerlich daran, dass es für die Seelsorge häufig keine angemessenen Räumlichkeiten gibt, dass die Seelsorge meistens weichen muss, wenn die Visite kommt, dass SeelsorgerInnen, wenn sie ein Organigramm ihres Krankenhauses zeichnen sollen, oft nicht recht wissen, wo sie die Seelsorge verorten können.

307

Hannes Friedrich, Die Klinikseelsorgerin und der Klinikseelsorger im Dickicht von Zweckrationalität und Krankenhaussubkultur, WzM 48 (1996), 173.

212

XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus

De facto kommt die Seelsorge doch vor – einmal, weil die Kirchen auf der Basis des Grundgesetzes ein verbrieftes Recht haben, in einer öffentlichen Institution mit ihrer Seelsorge präsent zu sein; zum anderen, weil es immer wieder Ärzte und Verwaltungsleiter gibt, die die Bedeutung von Religion kennen und die den Wert einer systemfremden Tätigkeit zu schätzen wissen. Allerdings haben viele leitende Kirchenleute noch lange nicht begriffen, dass sie mit der Krankenhausleitung zusammen den Rahmen für die Krankenhausseelsorge abstecken müssen und dies nicht den einzelnen SeelsorgerInnen überlassen dürfen. Strukturell zu denken und zu agieren ist uns in der Kirche immer noch recht fremd, aber für einen Funktionsbereich wie die Krankenhausseelsorge unerlässlich, wenn sie sowohl im Krankenhaus wie in der Kirche wahrgenommen werden und Einfluss ausüben will. Je offener die Situation, also die Fremderwartung ist, desto mehr ist von Bedeutung, dass die Krankenhausseelsorge selber weiß, wer sie ist, wie sie sich versteht und welche Ziele sie im Gesamtsystem verfolgen will. Denn nur, wenn Sie das einigermaßen klar artikulieren können, können Sie in Gesprächen mit Vertretungen der Ärzteschaft, der Pflege und der Verwaltung ihre Ziele verfolgen. 2. Selbstverständnis der Seelsorge im System Krankenhaus Die Frage nach dem Selbstverständnis, Sie können auch sagen: nach dem Konzept der Seelsorge im Krankenhaus ist eine überpersönliche, überindividuelle Angelegenheit, die (in einem größeren Krankenhaus) das Team derer, die in der Seelsorge tätig sind, beantworten muss.308 Schon die Annahme, dass es ein Team geben sollte, hoffentlich ein ökumenisch arbeitendes, ist eine nicht selbstverständliche konzeptionelle Vorentscheidung. In ein Konzept fließen eine Reihe von Aspekten ein: – Was ist für das Subsystem Krankenhausseelsorge die relevante Umwelt? Oder: In welcher Institution arbeiten wir? (also die Frage nach dem Kontext) – Mit wem haben wir zu tun? Wer sind unsere Zielgruppen? Was wollen bzw. brauchen die von uns? (Als Klienten in der Seelsorge und als Kooperationspartner) – Wer sind wir? Welche Ressourcen, Kompetenzen, Zielvorstellungen und Vorlieben bringen wir mit?

308

Beispiele dafür finden sich in WzM 53 (2001), 399ff.

2. Selbstverständnis der Seelsorge im System Krankenhaus

213

– Was wollen wir erreichen? (im Blick auf PatientInnen, auf das Personal, auf die Institution als ganze)

Neben persönlichen Vorlieben und Zielen, die sich meistens irgendwie aus der Biographie der Beteiligten ableiten lassen, spielt das theologische Verständnis von Seelsorge, damit verbunden die Sicht vom Menschen, von der Institution etc. eine große Rolle. Idealtypisch unterscheide ich vier Modelle eines möglichen Selbstverständnisses der Seelsorge im Krankenhaus – überprüfen Sie bitte, wo Sie sich selber zuordnen würden.

– In der Tradition der dialektischen Theologie nimmt die Seelsorge



309

die Institution nicht wahr, ignoriert sie als unwesentlich, arbeitet neben ihr her. Im Hintergrund steht die klassische Konzeption der Krankenseelsorge, wie sie beispielsweise noch Eduard Thurneysen in seiner »Seelsorge im Vollzug« von 1968 vorgestellt hat: Es geht um seelsorgliche Besuche bei einzelnen kranken Menschen, ihnen »das Zeugnis von Jesus Christus auszurichten« ist das Ziel;309 der Kontext ist hier unwesentlich, er tritt gar nicht oder kaum ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das medizinisch-pflegerische Personal des Krankenhauses kommt vorrangig als Objekt der Seelsorge in den Blick (oder als Teil der Krankenhausgemeinde), nicht aber als Kooperationspartner. Insofern ist eine Beteiligung an Stationsübergaben oder Fallgesprächen nicht im Blick. Dieses Modell wird gelegentlich praktiziert nicht so sehr aus theologischer Überzeugung, sondern weil es in mancher Hinsicht das Einfachere ist: Still und fleißig Patientenbesuche zu machen, ohne sich mit anderen Berufsgruppen abstimmen zu müssen, ohne sich immer wieder auf Station bekannt machen zu müssen, ohne sich um strukturelle Fragen (s.o.) kümmern zu müssen – das erscheint manchmal leichter, fordert weniger persönliche Anstrengung, privatisiert aber auch die Seelsorge. Eine andere Konzeption arbeitet z.T. bewusst, z.T. unbewusst, gegen das System Krankenhaus. Sie nimmt das System vorrangig von seiner naturwissenschaftlich-technischen und ökonomischen Ausrichtung und den damit verbundenen Einseitigkeiten und Defiziten her wahr. Solche Seelsorger und Seelsorgerinnen identifizieren sich stark mit den Patienten und interpretieren die oben genannten strukturellen Defizite der Organisation als Bösartigkeiten und Unzulänglichkeiten der beteiligten Personen; sie denken nicht strukturell, sondern personalisieren. Sie begegnen dem Personal deswegen häufig mit

So E. Thurneysen, Seelsorge im Vollzug, Zürich 1968, § 8 »Seelsorge am Kranken«, 175ff.

214



XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus

Vorwürfen und Anklagen, Konflikte und Spannungen mit Stationsleitungen, Pflegedienstleitung und Ärzten sind an der Tagesordnung. Sie neigen zu einem überzogenen prophetischen Selbstverständnis und sehen sich als Anwalt der Menschlichkeit in einem System, in dem ihrer Meinung nach die Menschlichkeit häufig bedroht ist. Die Seelsorgebewegung hat besonders in ihren Anfängen darum gekämpft, dass Seelsorge als sinnvoller und notwendiger Bestandteil der Heilungsbemühungen des Krankenhauses gesehen wird. Weil es aus theologischer Sicht um den ganzen Menschen geht, erscheint die traditionelle Trennung zwischen Arzt und Seelsorger (den Leib der Medizin, die Seele der Theologie) obsolet: Ausgangspunkt aller Heilungsbemühungen soll ein psychosomatisches Medizinkonzept sein, auf dessen Basis dann Medizin, Pflege, Seelsorge und andere Berufe im Team gleichberechtigt zusammenarbeiten.310 Seelsorge erhebt, von ihrem theologisch begründeten Verständnis des Menschen ausgehend, den Anspruch, einen therapeutisch integrierten Anteil im Gesamtsystem Krankenhaus zu repräsentieren – und nicht nur eine beliebig verzichtbare zusätzliche Dienstleistung zu sein. Seelsorge arbeitet in diesem Konzept gezielt mit dem System, sie versteht sich als partnerschaftlich integriert, und ist darauf aus, sich selbst als einen wirkungsvollen Bestandteil der therapeutischen Bemühungen unter Beweis zu stellen. Kooperation und produktive Konkurrenz sind hier natürliche Dimensionen eines solchen Selbstverständnisses.

So wichtig mir diese Zielrichtung einerseits immer noch erscheint, so sehe ich andererseits doch auch deutlicher die Gefahr der Anpassung, bei der das Eigenständige und das Fremde der Seelsorge und ihrer theologischen Perspektive verloren zu gehen droht. Als eine Variante dieses Ansatzes erscheint mir der Vorschlag, den Alfred Jäger gemacht hat unter der Überschrift »Seelsorge als Funktion diakonischer Unternehmenspolitik«.311 In diakonischen Einrichtungen sollen Seelsorge und Unternehmensführung integriert werden, es soll ein »unternehmenspolitisch brauchbares Seelsorgekonzept« entwickelt werden, das die Funktion »einer konzeptionell durchdachten Hege und Pflege des Soft-Management im Unternehmen« hat. Die Stärke dieses Ansatzes ist darin zu sehen, dass Jäger versucht, das System als Ganzes von seelsorglichen Gesichtspunkten aus zu strukturieren und zu prägen; die Schwäche sehe ich darin, dass Seelsorge in der Unternehmensphilosophie aufzugehen droht, also in ihrer Eigenständigkeit gar nicht mehr in Erscheinung tritt. 310

Vgl. Dietrich Stollberg, Zur Zusammenarbeit von Arzt und Seelsorger im Krankenhaus, in: ders., Wenn Gott menschlich wäre ..., Stuttgart 1978, 61ff. 311 In: Chr. Schneider-Harpprecht, Zukunftsperspektiven für Seelsorge und Beratung, Neukirchen-Vluyn 2000, 136ff.

2. Selbstverständnis der Seelsorge im System Krankenhaus

215

– Diesem letzten Gedanken Rechnung tragend, habe ich im Hand-

buch der Krankenhausseelsorge versucht, Seelsorge im Krankenhaus mit Hilfe der Metapher vom Zwischenraum zu entfalten. Seelsorge versteht sich als Aktivität zwischen Kirche und Krankenhaus, zwischen medizinisch-pflegerischem Personal und Patienten, zwischen Alltagsgespräch und Psychotherapie etc.312 Seelsorge hat eine distanzierte Loyalität zum System, d.h.: Seelsorge akzeptiert einerseits die Dominanz des naturwissenschaftlich-medizinischen Handlungsmodells des Krankenhauses und damit auch die Verantwortung der Ärzte (statt wie im 2. Modell ständig damit zu hadern!); sie nutzt andererseits die Chance, ihre systemfremden Wahrnehmungen und Beobachtungen von Patienten, vom Personal, von der Institution als ganzer kritisch-konstruktiv in die Routine der Organisation einzubringen. Seelsorge sieht mit anderen Augen, sie hat andere Wahrnehmungen und praktiziert andere Kommunikationsformen. Die Metapher vom Zwischenraum eröffnet einen reizvollen Spielraum, innerhalb dessen solche distanzierten Beobachtungen, aber auch naive Fragen oder Visionen Platz haben – aus systemtheoretischer Sicht sind sie wichtig, um das System ansatzweise offen zu halten.

Die Funktion und Zielsetzung der Seelsorge im Krankenhaus verdeutlicht sich noch einmal, wenn man auf das Nebeneinander von Seelsorge und psychoonkologischen Diensten blickt, die in großen Kliniken in zunehmendem Maß eingerichtet werden. Dann stellt sich unvermeidlich die Frage, was die Seelsorge von der Psychoonkologie unterscheidet: Auch dort werden Begleiten, Zeithaben, Rekonstruktion der Lebensgeschichte der Patientin und neue Sinnfindung angesichts der Bedrohung durch die Krankheit als zentrale Aufgabenbereiche angesehen. Das Proprium der Seelsorge besteht darin, dass sie ihr Hören und Reden, ihr Dasein und Begleiten im Horizont des christlichen Glaubens begreift, von dieser Perspektive her eine andere Wirklichkeit konstruiert und dementsprechend auch andere Beobachtungen macht. Der Seelsorge geht es nicht um eine Codierung von Kommunikation mittels der Kategorien krank/gesund, funktionsfähig / nicht funktionsfähig, sondern um Perspektiven wie: Hoffnung/Hoffnungslosigkeit, Geborgenheit/Ungeborgenheit, Sinn/Sinnlosigkeit, Allein sein / Gemeinschaft erleben – und in all dem um die Dimension Transzendenz/Immanenz. Die Metapher des Horizonts erscheint mir aus folgendem Grund besonders geeignet: Der Horizont als der Ausschnitt der Welt, der uns umgibt, ist immer da, auch wenn man ihn nicht wahrnimmt; 312

Vgl. dazu ausführlicher M. Klessmann, Handbuch der Krankenhausseelsorge, Göttingen ²2001, 14ff.

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XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus

er kann aber, wenn man es will und sich darum bemüht, ausdrücklich zum Gegenstand der Wahrnehmung werden. D. h. Seelsorge hat zweifellos ein Proprium, und doch ist sie im konkreten Vollzug immer wieder mit Sozialarbeit oder Psychotherapie verwechselbar. Sie muss sich nicht krampfhaft und aus Gründen der Selbstlegitimierung bemühen, dieses Proprium dauernd sichtbar zu machen; sie wird es dann einbringen, wenn es von der Situation des Patienten her als sinnvoll und weiterführend erscheint. Diese Schlussfolgerung scheint mir einem inkarnatorischen Verständnis von Seelsorge angemessen. 3. Erwartungen an Seelsorge im Kontext von Gesundheit und Krankheit Die Frage nach dem Stellenwert der Seelsorge im Krankenhaus ist nicht nur eine Frage unseres eigenen theologischen oder pastoralpsychologischen Selbstverständnisses, sondern auch eine der Erwartungen, die von außen an uns gerichtet werden. Diesen großen Themenkomplex kann ich nur ganz ausschnitthaft angehen. Zwei Entwicklungen zeichnen sich neuerdings ab, die den Stellenwert der Seelsorge im Krankenhaus verändern: eine hat mit der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gesundheit bzw. Krankheit zu tun; die andere betrifft die Rolle der ethischen Reflexion im Krankenhaus. 3.1 Seelsorge als Antwort auf spirituelle Bedürfnisse In den USA ist 2001 mit großer Auflage eine Broschüre erschienen mit dem Titel »Professional Chaplaincy. It’s Role and Importance in Healthcare«.313 Diese Schrift ist gemeinsam von den evangelischen, katholischen und jüdischen Krankenhausseelsorgern der USA und Kanadas herausgegeben worden. Der Untertitel verrät die veränderte Fragestellung: Es geht hier nicht um theologische Begründung von Seelsorge, sondern um ihre Stellung im System der Gesundheitspflege. Man fragt von den Endverbrauchern, von den Kunden her, von deren Erwartungen bzw. von den Erwartungen der Klinik als Organisation mit bestimmten Zielen. Die Argumentation ist eine doppelte: Menschen haben spirituelle Bedürfnisse, das ist Teil ihrer menschlichen Grundausstattung; vor allem in Zeiten einer Krise, wenn durch Krankheit und Leiden die gewohnten Strukturen des Lebens zerbrechen, wenn vertraute Identitäts- und Kommunikationsmuster abhandenkommen, wenn Fragen aufbrechen, denen man sich sonst nie gestellt hat – dann tauchen besonders stark spirituelle Sehnsüchte auf, der Wunsch 313

Hg. von Larry VandeCreek und Laurel Burton, ohne Ortsangabe 2001.

3. Erwartungen an Seelsorge im Kontext von Gesundheit und Krankheit

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nach tragender Transzendenz, nach Verbindung mit dem Ganzen, nach einem übergreifenden Sinn und dem Gefühl, in einem letzten Sinn vertrauensvoll gehalten zu sein und nicht ins Nichts zu fallen. Diesem Bedürfnis kranker Menschen und ihrer Angehörigen und Freunde haben Institutionen der Gesundheitspflege um eines ganzheitlichen Ansatzes von Heilung und Betreuung willen nachzukommen; tun sie es nicht, müssen sie sich vorhalten lassen, »biologische Reparaturwerkstätten zu sein, in denen dysfunktionale menschliche Teile repariert und ausgetauscht werden«.314 Von den Patienten und ihren Erwartungen aus gesehen – und das ist in einem religiös geprägten Land wie den USA besonders offenkundig – soll es also Seelsorge im Krankenhaus geben; die Institutionen, die in einem scharfen Wettbewerb untereinander stehen, machen sich diese Erwartungen zu eigen. Dazu kommt ein verändertes, ganzheitliches Verständnis von Krankheit und Gesundheit. Man beginnt zunehmend zu erkennen, dass die Heilung des Körpers nicht angemessen verstanden wird, wenn man soziale, psychische und religiöse Faktoren ignoriert. Diese Sichtweise wird bestätigt durch eine inzwischen explosiv anwachsende Forschung zum Zusammenhang von Religion und Gesundheit. Die Religionskritik Freuds war lange Zeit hindurch in der Medizin und Psychologie dominant; danach ist Religion eher Ausdruck einer unreifen, neurotischen Wirklichkeitsbewältigung, Zuflucht und pathologische Verstärkung für diejenigen, die illusionären Trost brauchen, um mit dem Leben zurecht zu kommen. Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass eine religiöse Orientierung gesundheitsfördernde Auswirkungen hat. Obwohl die Forschungen angesichts der Komplexität des Forschungsgegenstandes nicht so eindeutig sind, wie manche es gerne hätten, wird man doch sagen können, dass eine religiöse Einstellung dazu beiträgt, dass Menschen mit krisenhaften Ereignissen in ihrem Leben besser zurecht kommen (coping) im Vergleich zu anderen, die keine religiöse Orientierung angeben. Prominente Forscher wie die Amerikaner Harold Koenig oder Herbert Benson vertreten etwas vollmundig die These »Religiosität geht durchweg mit besserer Gesundheit einher«.315 Deutlich zurückhaltender formuliert der deutsche Religionspsychologe Bernhard Grom: »Fachleute stimmen weitgehend darin überein, dass Gottesdienstbesuch und positive Formen persönlicher Religiosität statistisch in einem positiven Zusammenhang mit subjektivem Wohlbefinden und psychischer Gesundheit stehen. Diese Beziehung ist statis-

314 315

Ebd., 3. Herbert Benson, Heilung durch Glauben, München 1997, 210. Ähnlich Harold G. Koenig, Is Religion Good für your Health?, New York / London 1997.

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XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus

tisch schwach bis moderat, aber signifikant und höchstwahrscheinlich auch kausaler Natur.«316 Diese positive Wirkung wird auf eine Reihe von Faktoren zurückgeführt: Zum einen leben religiös orientierte Menschen häufig in einer sie tragenden Gemeinschaft, in einem stützenden Netzwerk von Gleichgesinnten – und wir wissen, wie wichtig Netzwerke angesichts der Individualisierung und Pluralisierung unserer Welt sind; zum anderen bieten Glaubensinhalte ein Bedeutungssystem an, das in schwierigen Zeiten Sinn und haltgebende Orientierung zur Verfügung stellt; schon E. Erikson hat auf den signifikanten Zusammenhang von Ideologie und Identität verwiesen. Schließlich kann man mit einem Vertrauen auf Gott eine größere Gelassenheit im Leben in Verbindung bringen, die sich wiederum gesundheitlich positiv auswirkt.317 Damit wird Religion oder Spiritualität zu einer Gesundheitsressource, die im salutogenetischen Gesundheitsmodell des israelischen Gesundheitswissenschaftlers A. Antonovsky eine wichtige Rolle spielt: Der Begriff der Salutogenese beschreibt einen Perspektivenwechsel: »Ich hatte mich früher gefragt: Was macht die Leute krank? Aber jetzt unternahm ich einen weiteren entscheidenden Schritt; es ging nicht nur darum, die Frage einfach umzudrehen: Was macht die Leute gesund?, sondern ich schlug vielmehr vor zu fragen: Was rückt die Leute in Richtung auf das gesunde Ende des health-ease/dis-ease Kontinuums? Ich benötigte einen neuen Terminus für diese Denkweise und prägte so den Begriff ›Salutogenese‹.«318 Antonovsky geht von einer alltäglichen Beobachtung aus: Krankheit und Gesundheit sind keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern bilden ein Kontinuum und jeder Mensch befindet sich irgendwo auf diesem Kontinuum. Die sich daraus ergebende Frage lautet: Was rückt Leute in Richtung auf das gesunde Ende dieses Kontinuums? Zur Beantwortung dieser Frage hat Antonovsky das Konzept der Widerstandsressourcen entwickelt: Jeder Mensch wird ständig mit belastenden Lebens- und Umweltsituationen, sog. Stressoren, konfrontiert. Wovon hängt es ab, ob solche Stres316

Grom, a.a.O., 199. Ganz ähnlich formuliert L.B. Brown im Blick auf den strittigen Zusammenhang von Religion und psychischer Gesundheit: »... there is an increasing consensus that religion is more likely to help solve the problems of those who are mentally ill than to have caused their illness or distress.« Laurence B. Brown (Ed.), Religion, Personality, and Mental Health, New York / Berlin 1994, 195. 317 Vgl. Dale A. Matthews, Glaube macht gesund, Freiburg ²2001, der in recht evangelikaler Manier zwölf »Medikamente des Glaubens« aufzählt: Gleichmut, Mäßigkeit, Schönheit, Anbetung, Erneuerung, Gemeinschaft, Einssein, Rituale, Sinn, Vertrauen, Transzendenz und Liebe (58ff). Schon die Disparatheit der Kategorien sollte hier misstrauisch machen! 318 Zitiert bei H. Waller, Gesundheitswissenschaft, Stuttgart/Berlin ²1996, 15.

3. Erwartungen an Seelsorge im Kontext von Gesundheit und Krankheit

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soren krankmachende oder neutrale oder sogar die Gesundheit stärkende Folgen haben? Einerseits hängt es von der Natur, der Stärke und Ausprägung der Stressoren ab, andererseits auch von den Widerstandsressourcen, die ein Mensch von seiner genetischen Ausstattung her hat bzw. die ihm seine Umwelt mitgegeben hat. Antonovsky nennt vier Bereiche solcher Ressourcen: Körperliche Ressourcen – damit ist vor allem die Widerstandsfähigkeit des Immunsystems gemeint. – Psychische Ressourcen sind so etwas wie symbolisches Kapital, psychische Stabilität und zugleich Flexibilität, verknüpft mit Intelligenz und Wissen. (Das Konzept der Ich-Identität steht hier im Hintergrund.) – Materielle Ressourcen: Es ist bekannt, dass Faktoren wie Geld, Arbeit, Wohnung etc. wichtige Ausgangsbedingungen für eine gesunde Lebensführung darstellen. – Psychosoziale Ressourcen: zwischenmenschliche Beziehungen, sozial eingebunden und vernetzt zu sein, die Möglichkeit zur Unterstützung, zu Austausch und Hilfe stellen wichtige Widerstandsressourcen dar.319



Diese unterschiedlichen Ressourcen werden zusammengehalten und aktiviert von einer zentralen subjektiven Kompetenz, die Antonovsky den »Kohärenzsinn« nennt. (Andere Coping-Forscher sprechen von »sense of mastery« oder der Fähigkeit zur Selbstregulation.) Kohärenz meint das Gefühl, dass es Zusammenhang und Sinn im Leben gibt, dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal unterworfen ist. Der Kohärenzsinn beschreibt eine geistige Haltung: – Meine Welt ist im Großen und Ganzen verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang sehen. (So nennt Antonovsky Hiob als ein Beispiel eines Menschen mit einem solchen Kohärenzsinn, weil ihn, selbst in den schwersten Situationen, sein Vertrauen in die Gerechtigkeit Gottes trägt.) – Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich mehr oder weniger zufriedenstellend lösen kann. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung des Lebens, vor allem angesichts von Problemen und Krisen, mobilisieren kann. – Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt.320 319

Das Konzept der Gesundheitsressourcen ist inzwischen vielfältig ausdifferenziert dargestellt worden; als eines seiner wichtigsten Bestandteile werden immer wieder soziale Netze, soziale Bindungen identifiziert. Vgl. Waller, 35ff. 320 Aaron Antonovsky, Health, Stress and Coping, San Francisco 1979, 123ff.

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XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus

Den Gegenpol zum Kohärenzsinn bildet der Zustand der Demoralisierung. Gerade von diesem negativen Gegenpol her wird das Konzept deutlich. So sagte mir einmal eine Patientin in der psychiatrischen Klinik: »Ich habe mein Leben noch nie im Griff gehabt; ich wusste noch nie, wo ich hingehöre.« Bestandteil eines solchen Kohärenzsinns ist natürlich auch die Weltanschauung eines Menschen, die Lebensphilosophie, der Glaube. Wie begegnet mir die Wirklichkeit als ganze? Wie nehme ich das Leben wahr? Als launenhaftes Schicksal, dessen Unberechenbarkeit ich hilflos ausgeliefert bin? Als unbarmherzige Rücksichtslosigkeit, vor der ich nur ohnmächtig resignieren kann? Als strenge Herausforderung, die höchste Leistungen und Anstrengungen von mir fordert? Als letztlich liebevoll tragender Grund, in den hinein ich mich vertrauensvoll bergen kann? Je nachdem, wie meine Lebenseinstellung aussieht: Sie beeinflusst meinen Kohärenzsinn, meine Widerstandsressourcen im Blick auf Krankheit und Gesundheit. Sie hilft oder hindert mich, mich zu öffnen gegenüber dem, was da neu und unerwartet über mich hereinbricht. Mit der Salutogenese liegt also ein Konzept vor, das den positiven Zusammenhang von Religion und Gesundheit theoretisch einigermaßen plausibel erklärt. Wenn man diese Zusammenhänge als gegeben unterstellt (und die Kritik an der rein funktionalistischen Sicht einmal zurückstellt), kommt der Seelsorge im Krankenhaus in der Tat eine große Bedeutung zu, die sich auch konzeptionell und sprachlich auswirken muss: An dem erwähnten amerikanischen Papier zeigt sich das besonders deutlich: Da wird nicht mehr von »pastoral care« gesprochen, sondern von »spiritual care«. Spirituelle Sorge schließt Seelsorge im christlichen Sinn mit ein, sie ist aber umfassender verstanden, sie ist anthropologisch begründet und wird damit überkonfessionell und interreligiös. In einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft wie den USA erscheint dies als eine konsequente Entwicklung, die sich inzwischen auch auf die deutsche Situation auswirkt. Im Qualitätshandbuch der Qualifizierungsgesellschaft proCum Cert taucht der Begriff der Spiritualität als Qualitätskategorie 7 auf und wird ausführlich in den verschiedensten Dimensionen als Kriterium für qualitätsvolle Arbeit im Krankenhaus herangezogen. Entsprechende Fragen lauten beispielsweise: Kommt Spiritualität in der Lebensbegleitung der Patienten vor? In der Sterbebegleitung? In der Begleitung der Mitarbeitenden? Gibt es dazu ein Konzept, das Zielsetzungen und Methoden beschreibt? Wie sehen die personellen Ressourcen aus? Die räumlichen Möglichkeiten? Usw.

3. Erwartungen an Seelsorge im Kontext von Gesundheit und Krankheit

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Das alles klingt gut, denn hier werden offenbar die Bedürfnisse kranker Menschen und des Personals wirklich ernst genommen und als Verpflichtung für den Träger herausgestellt. Ausgangspunkt für kritische Fragen muss dann allerdings die Beobachtung sein, dass die Begriffe Spiritualität und Seelsorge austauschbar verwendet werden. Nachdem anfangs von spiritueller Begleitung die Rede ist, wird plötzlich und ohne weitere Erklärung nach einem Seelsorgekonzept gefragt. Und zum Schluss heißt es: Spiritualität und Seelsorge – Konzept und Durchdringung des Betriebsablaufs mit spirituellen Inhalten. Ich sehe die angedeutete Entwicklung in den USA und bei uns allerdings zwiespältig: Auf der einen Seite ist sie erfreulich und wichtig auch für die christlichen Kirchen und ihre Seelsorge. Endlich wird hier die oft beschworene Ganzheitlichkeit und Patientenorientierung ernst genommen und umgesetzt; endlich wird die Einseitigkeit der naturwissenschaftlich orientieren Medizin korrigiert und ergänzt durch den Blick auf die seelischen und geistigen Dimensionen des Menschen; endlich wird die religiöse Orientierung eines Menschen als wichtiger Bestandteil seines Lebens, als Teil der Widerstandsressourcen und damit als relevant für Krankheit und Gesundheit gewürdigt und nicht als private Spinnerei abgetan. Es kann uns als Seelsorger und Seelsorgerinnen nur freuen, wenn es vom Heilungsauftrag des Krankenhauses her als notwendig erachtet wird, dass es dort Seelsorge gibt, dass dort eine Berufsgruppe tätig ist, die mit den Patienten begleitend an deren Lebensorientierung arbeitet und dies nicht länger als institutionsfremder Religionsimport betrachtet wird. Vielleicht kann man mit dieser Argumentation sogar einsichtige Mediziner und Krankenkassen zur Refinanzierung der Seelsorge gewinnen. Allerdings ist die Seelsorge dann auch herausgefordert, ein klar strukturiertes, konzeptionell transparentes Angebot vorzuhalten, das nicht nur von den zufälligen Vorlieben der Stelleninhaber abhängig sein darf. Auf der anderen Seite hat die funktionale Betrachtungsweise eine auch problematische Seite, die gerade von theologischer Perspektive her aufzudecken ist: Tendenziell wird durch eine solche funktionale Sicht der Gesundheitswahn unserer Gesellschaft, der Anspruch des Einzelnen auf Gesundheit noch mehr gesteigert und die Auseinandersetzung mit Krankheit und Leiden noch weiter an den Rand gedrängt. Das zeigt sich, wenn man die popularwissenschaftliche Umsetzung solcher Konzepte etwa bei dem schon zitierten Herbert Benson verfolgt: »Die von mir präsentierten Forschungsergebnisse zeigen, dass positive Überzeugungen und Erwartungen sehr therapeutisch sind und dass gerade der Glaube an Gott äußerst gesund ist. Auch wenn das tief religiösen Menschen ziemlich kalt und analytisch erscheinen mag, der Glaube ist so oder so gut für unseren Körper. Ob Gott nun wirklich existiert oder lediglich Einbildung eines Gehirns ist, das sich nach ihm sehnt, auf

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XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus

jeden Fall werden die, die an ihn glauben, dadurch gesünder und führen ein erfüllteres Leben.«321 Gott wird hier als Anwalt von Gesundheit und Glück in Anspruch genommen, Benson nennt Gott explizit die »Antithese zur menschlichen Sterblichkeit und Verletzlichkeit«.322 Damit wird deutlich, wie nun auch Gott im Sinn unserer westlichen Gesundheitsideologie funktionalisiert wird – im Sinne jener Gesundheitsdefinition der WHO, wonach jeder Mensch einen Anspruch auf »vollständiges physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden« hat. Gesundheit ist zur Heilserwartung geworden, der man auch Gott noch dienstbar macht oder, wie es E. Beck-Gernsheim formuliert hat: »Das Heil ist entthront worden, an seine Stellung ist die Heilung getreten.«323 Damit wird nun auch noch Religion zur Profitmaximierung der Krankenhäuser herangezogen. Der wirtschaftliche Gewinn der Institution und das Wohl der Einzelnen – unabhängig von der Gemeinschaft – wird zum letzten Maßstab. Auf die Notwendigkeit, dass und wie sich Seelsorge aus theologischer Sicht hier kritisch absetzt, komme ich im letzten Teil zu sprechen. 3.2 Bedeutung ethischer Fragestellungen in der Seelsorge Angesichts der rasanten medizinisch-technischen Fortschritte und der allgemeinen Pluralisierung auch der Werte in unserer Gesellschaft gewinnt die ethische Dimension in der Seelsorge immer stärkeres Gewicht. Ethik lässt sich begreifen als »Theorie menschlichen Handelns, seiner Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen ...«.324 So verstandene Ethik setzt sich vor allem mit den Grenzen menschlichen Handelns auseinander – und die sind in der Institution des Krankenhauses gewissermaßen der Normalfall. Wollen, sollen und dürfen die Mediziner all das tun, was sie prinzipiell tun können? Wie können Patienten und ihre Angehörigen angesichts der verschiedenen medizinischen Interventionsmöglichkeiten und der großen Komplexität der Sachverhalte zu einer verantworteten und verantwortlichen Entscheidung finden? Krankenhäuser und ihre Vertretungen nehmen diese Herausforderungen in zunehmendem Maß wahr, setzen Ethik-Kommissionen ein, zu denen häufig SeelsorgerInnen eingeladen werden, weil man von ihnen kritische und hilfreiche – weil systemfremde – Orientierung er321

H. Benson, Heilung durch Glauben, München 1997, 253. Es ist im Übrigen ärgerlich, dass Benson Erkenntnisse der Religionspsychologie überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt, z.B. die Unterscheidung von extrinsischer und intrinsischer religiöser Motivation (Allport) oder zwischen autoritärer und humanitärer Religion (E. Fromm) etc. 322 H. Benson, a.a.O., 237. 323 E. Beck-Gernsheim, Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: U. Beck / dies., Riskante Freiheiten, Frankfurt a.M. 1994, 319. 324 U.H.J. Körtner, Seelsorge und Ethik, in: C. Schneider-Harpprecht, Zukunftsperspektiven der Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2000, 94f.

4. Seelsorge als systemfremdes Angebot im Krankenhaus – Chancen und Grenzen

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wartet. Allerdings müssen wir selbstkritisch sehen, dass wir in der Seelsorge die Bedeutung ethischer Fragestellungen zu lange vernachlässigt haben. Viele waren der Meinung, dass sich durch annehmendes Begleiten ethische Positionen erübrigen oder dass sie geradezu im Widerspruch zur seelsorglichen Annahme stehen. Das ist natürlich ein Kurzschluss. Es wird in der Seelsorgeausbildung darum gehen, in Zukunft deutlich intensiver als bisher, den Umgang mit ethischen Dilemmata einzuüben (schon die Frage, wie Sie die knappe Ressource Ihrer Zeit aufteilen, enthält eine exemplarische ethische Dimension!), in die Spannung von nichtdirektivem Verhalten einerseits und ethischer Positionalität andererseits einzuführen, Verfahren ethischer Konfliktlösung im Gespräch mit Personal und betroffenen Patienten durchzuspielen und zur Ausbildung eines persönlichkeitsspezifischen Ethos bei Seelsorgerinnen und Seelsorgern beizutragen. 4. Seelsorge als systemfremdes Angebot im Krankenhaus – Chancen und Grenzen Man muss, so meine ich, die Notwendigkeit und Chance von Seelsorge im System des Krankenhauses auf doppelte Weise begründen können: Zum einen sollte sich erweisen, dass die systemfremden Perspektiven der Seelsorge eine sinnvolle Funktion für das Gesamtsystem haben, insofern hier auf Einseitigkeiten und Defizite des Systems verwiesen wird. Zum anderen und zugleich müssen die theologischen Perspektiven der Seelsorge so formuliert sein, dass sie auch Menschen, die sich nicht mit der Kirche oder der christlichen Tradition verbunden wissen, nachvollziehbar und einleuchtend erscheinen. Das ist m.E. am besten möglich, wenn man bestimmte anthropologische Einsichten, die sich aus der jüdischchristlichen Tradition ergeben, entfaltet und ihre möglichen konstruktiven Wirkungen in einem fremden System bedenkt. Matthias Kroeger hat in seinem Buch »Die Notwendigkeit der unakzeptablen Kirche« eindringlich auf die Schattenseiten der Modernisierung aufmerksam gemacht. »Es vollziehen sich Privatisierung und Marginalisierung aller Leitmarken und Werte, auch des Gemeinwohls und des Gemeinsinns: Zynismus statt Solidarität, Entsolidarisierung, Entpolitisierung und ein politisches Klima, das ... Identität, Gewissheit und ein Mindestmaß an Geborgenheit als Mindestbedingung von seelischer Gesundheit, Stabilität und Perspektive kaum bietet und ermöglicht, vielmehr diese bedroht und mindert.«325 Die christliche Tradition repräsentiert ein unersetzliches Wissen um Gebot und Grenze, um Gnade und die Nicht-Machbarkeit des Lebens, 325

M. Kroeger, Die Notwendigkeit der unakzeptablen Kirche, München 1997, 116.

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XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus

ein Wissen um das Geheimnis des Lebens. Dieses Wissen braucht »Orte, Sprache, Bilder, Symbole, Riten, Lieder jeder Art, Psalmen für die Angst und den Dank, für die Feier wichtiger Lebenspunkte ...«.326 Dieses Wissen ist im Krankenhaus systemfremd; es liegt quer zur naturwissenschaftlich-technischen Binnenlogik der Institution. Dessen müssen wir uns bewusst sein; damit hat Seelsorge die Chance – über die Beobachtung von Kommunikationsprozessen in der Institution hinaus – neue Perspektiven zu eröffnen, ungewohnte Ansätze ins Spiel zu bringen, deren Wirkungen zunächst nicht absehbar sind. Seelsorge kann dazu beitragen, beispielhaft bestimmte Lebensdimensionen zu thematisieren und offen zu halten: – Seelsorge hält die Frage nach der pathischen Dimension des Lebens wach. Unsere Gesellschaft ist in vieler Hinsicht eine imperialistische Gesellschaft: Machen, Eingreifen, Verändern heißt die Devise; die Erde beuten wir aus, Menschen beurteilen wir nach ihrer Leistungsfähigkeit. Tugenden des Abwartens, des Ertragens, des Aushaltens lernen wir kaum noch. Leiden, Behinderung, Begrenzt-Sein werden so weit wie möglich ausgeblendet und verleugnet. Schwach-Sein, ohnmächtig und nicht leistungsfähig sein gelten als schambesetzte Erfahrungen. In der naturwissenschaftlich-technisch ausgerichtete Institution des Krankenhauses spitzt sich diese Tendenz noch zu: Alles ist auf das aktive Machen, Verändern und Verfügen ausgerichtet. Mit geradezu militärischer Terminologie werden Krankheit und Sterben bekämpft. Seelsorge erinnert von ihrem christlich-theologischen Hintergrund daran: »Machen« kann nicht das eigentliche Prinzip des Lebens sein.327 Das, wovon wir wirklich leben, können wir nicht selber herstellen, sondern es nur erwarten und uns schenken lassen. Glaube, Liebe, Hoffnung kann man nicht verdienen oder erzeugen, sondern nur erfahren. Der Wert des Menschen hängt nicht an seiner Leistungsfähigkeit, sondern an der Liebe, die ihm entgegen kommt. – Seelsorge stellt die Frage nach den notwendigen Bedingungen für die Menschlichkeit des Menschen. Dazu gehört vor allem, von anderen gesehen, gehört und anerkannt zu werden als unverwechselbares Individuum. Menschen verlieren ihr Selbstwertgefühl, wenn sie nur als Objekte behandelt werden, wenn über sie verfügt wird, wenn sie sich als austauschbar erleben. Sie brauchen gerade in einem Zustand, in dem ihnen als Patienten die Rolle eines selbstverantwortlichen Subjekts teilweise genommen ist, die Möglichkeit, selber entscheiden zu können, gehört und respektiert zu werden. Seelsorge hat Zeit und Engagement für die Einzelnen, für die unverwechsel326 327

Ebd., 120. Vgl. F. Steffensky, Wo der Glaube wohnen kann, Stuttgart 1989, 171.

4. Seelsorge als systemfremdes Angebot im Krankenhaus – Chancen und Grenzen







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baren Akzente ihres Lebens – und sie hat durch ihre Rituale (Segen, Gebet, Abendmahl), durch die Gottesdienste im Krankenhaus die Chance, kranke und sterbende Menschen ihres Menschseins vor Gott, vor dem Ursprung des Lebens, zu vergewissern. Seelsorge erinnert auf dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Tradition an die Dimension der Gerechtigkeit im Zusammenleben der Menschen. Aus theologisch-ethischer Sicht kann Seelsorge nicht schweigend zuschauen, wenn das Solidarprinzip in unserem Gesundheitssystem langsam aber sicher ausgehöhlt wird und sich die zahlungskräftigen und starken Mitglieder der Gesellschaft das größte Stück vom gemeinsamen Kuchen des zur Verfügung stehenden Heilungsangebotes herausschneiden. Werte wie Verteilungsgerechtigkeit, Behandlungsgerechtigkeit, Gemeinschaftsgerechtigkeit sind wichtige ethische Kriterien auch für den Medizinbetrieb, der, wie alle gesellschaftlichen Teilbereiche, anfällig ist dafür, dass Forschungsinteressen, Wissenschaftsprestige, Profitmaximierung und Machtausübung zu handlungsleitenden Maximen werden und damit das hippokratische Ethos unterlaufen. Seelsorge hat diesbezüglich einen prophetischen Auftrag, den sie sensibel und nicht besserwisserischarrogant ausüben sollte. Seelsorge erinnert an die Begrenztheit des Lebens, an die Fragmenthaftigkeit von Gesundheit. Gesundheit gibt es nie als »vollständigen Zustand«, wie die schon erwähnte Gesundheitsdefinition der WHO suggeriert, sondern immer nur als fragile Balance von »mehr oder weniger«. Die medizinischen Möglichkeiten verleiten zu Allmachtsvorstellungen auf Seiten der Ärzte wie zu Riesenerwartungen auf Seiten der Patienten. Die Menschlichkeit des Menschen hängt aber nicht an der Gesundheit als solcher, sondern an der Fähigkeit, sich auf Beziehungen einzulassen, zu geben und zu nehmen, zu lieben und geliebt zu werden. Seelsorge erinnert an die Unausweichlichkeit von Sterben und Tod. Der Satz aus Ps. 90 »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden« beinhaltet die Erkenntnis, dass im Angesicht des Todes eine spezifische Lebensklugheit wachsen kann, während die »Unfähigkeit zu trauern« – auch vorauslaufend die eigene Endlichkeit zu betrauern – Beziehungsfähigkeit und Kreativität einschränkt. Der Tod ragt in Form von Abschieden und Veränderungen überall in unser Leben hinein. »Abschiedlich leben« nennt Verena Kast eine Grundhaltung, die dieser Tatsache gerecht wird. Wo sich eine solche Abschiedlichkeit nicht einstellen kann, drohen Depression oder hektischer Aktivismus.

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XIII Die Rolle der Seelsorge im System Krankenhaus

5. Schluss Ein System wie das Krankenhaus neigt dazu, zum geschlossenen System zu werden; die oben genannte Selbstreferentialität oder Autopoiese verstärkt sich z.B. durch die intern organisierte Fortbildung des ärztlichen und pflegerischen Personals laufend selbst. Geschlossene Systeme stehen immer in der Gefahr, den Kontakt zur relevanten Umwelt zu verlieren. Da könnte es eine Chance sein, wenn Seelsorge ihren Beitrag dazu leistet, dieses System an einigen Stellen offen zu halten, in dem sie systemfremde Gedanken und Einsichten aus der jüdisch-christlichen Tradition ins Spiel bringt. Die Systemfremdheit der Seelsorge hätte dann einen guten Sinn.

XIV Pastorale Identität im Krankenhaus328 1. Identitätskonzepte im gesellschaftlichen Wandel 1.1 Einleitung Eine kleine Szene zu Beginn: Ein junger Pfarrer, Kursteilnehmer an einem KSA-Kurs, nimmt an einem Teamgespräch in der psychiatrischen Klinik teil. Es geht um einen bestimmten Patienten, mit dem die meisten auf der Station Schwierigkeiten haben. Zwischendrin sagt der Pfarrer: »Ich habe einen ganz guten Draht zu Herrn X. Ich könnte mich mehr um ihn kümmern«. Darauf der Stationsarzt: »Der braucht jetzt aber wohl kaum Gebete«. Mal abgesehen von der latent aggressiven Dynamik dieser Interaktion: plötzlich ist die Frage nach der pastoralen Identität im Raum: Wer ist der Pfarrer hier? Ein Spezialist fürs Religiöse – und mehr nicht? Wie sehen die Erwartungen des Arztes oder des Pflegepersonals aus? Und wie gelingt es dem Pfarrer, seine eigenen Vorstellungen von seiner beruflichen Identität in einem strukturell ganz anderen Umfeld, nämlich einer naturwissenschaftlich geprägten Organisation, zur Geltung zu bringen? In dem genannten Beispiel präsentiert sich der Pfarrer als jemand, der sozusagen die Lücken im System ausfüllt: Er hat guten Kontakt zu einem Mann, mit dem die anderen Schwierigkeiten haben. Will er darüber seine pastorale Identität definieren? Wenn er das nicht will: Wie kann es ihm gelingen, sein pastorales Handeln so in die medizinisch-pflegerische Sprache und Vorstellungswelt zu übersetzen, dass die anderen Berufsgruppen wissen, was er tut und wozu er im Krankenhaus tätig ist? Verallgemeinert gefragt: Wie sieht Ihr eigenes Selbstverständnis/Rollenverständnis als Pastor/Pastorin aus im Gegenüber zu den Rollenerwartungen und Vorstellungen derer, die sich in einer naturwissenschaftlich-medizinischen Institution ganz anders definieren? Wollen Sie deren Vorstellungen und Erwartungen entsprechen und sich anpassen? Wo scheint das sinnvoll und um einer gelingenden Verständigung willen sogar notwendig? Wo wollen oder müssen Sie sich abgrenzen, Ihre Andersartigkeit markieren und feststellen? Wo und wie haben sich diese »alten« Fragen auf Grund der Strukturveränderungen des Krankenhauses verschärft und zugespitzt? Identität ist ein Beziehungs- und ein Differenzbegriff: Ein Mensch hat Identität immer nur in Beziehung, d.h. in Übereinstimmung und im Unterschied zu anderen (dazu später mehr). Das trifft nicht nur für 328

Überarbeiteter Text dreier Kurzvorträge vor dem Herbstkonvent der Krankenhausseelsorge in der Ev. Kirche der Pfalz am 21./22.9.2009 in Enkenbach.

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XIV Pastorale Identität im Krankenhaus

Individuen zu, sondern auch für Gruppen, Nationen, Kulturen: Auch die gewinnen oder verlieren Identität in Unterscheidung zu anderen Gruppen, Nationen oder Kulturen. Immer geht es um Unterscheidungen, wenn es um Identität geht – eine reizvolle und zugleich eine anstrengende Aufgabe angesichts der Fülle der uns offen stehenden Möglichkeiten. Der Begriff und das Phänomen der Identität ist ein Produkt der ausgehenden Moderne: In dem Moment, in dem Normalbiographie zur Wahlbiographie wird, wie der Soziologe Ulrich Beck es formuliert hat, stellt sich die Identitätsfrage: Jetzt muss jemand sich nolens volens mit anderen vergleichen, muss Unterschiede und Ähnlichkeiten im Blick auf andere herausarbeiten, um Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Damit klingt bereits an, dass Identität immer ein Konstrukt bildet: Ich entwerfe – und zugleich entwerfen andere – ein Bild von mir selbst. Und je nach Kontext fällt dieses Bild unterschiedlich aus: Zu Hause, in der Familie, kann ich mir ein etwas anderes Bild leisten als gegenüber dem Verwaltungsdirektor der Klinik oder gegenüber einer Patientin. Soll heißen: Es gibt nicht die eine und wahre Identität meiner Person, sondern so etwas wie mehrere Identitäts-Projektionen, mit denen ich in begrenztem Maß spielen kann und muss und die doch einen gemeinsamen Kern besitzen (auch dazu später mehr). Oder, wie es Heinz Abels formuliert: »Identität ist behauptete und geglaubte Identität.«329 1.2 Der Begriff der Identität Der Begriff der Identität ist längst ein inflationär gebrauchter Bestandteil unserer Alltagssprache geworden – und auch in der wissenschaftlichen Diskussion, in Psychologie und Soziologie, ist die Vielfalt kaum noch zu überblicken. In ungezählten Wortkombinationen kommt Identität vor: Nicht nur pastorale Identität, auch nationale oder europäische Identität wird beschworen, männliche oder weibliche, individuelle und kollektive; andere warnen vor dem Mythos Identität oder der Identitätsfalle. D.h. der Begriff ist hoch komplex und eignet sich gerade deswegen für die verschiedensten Verwendungen. Das Wort leitet sich her vom Lateinischen idem = der-, die- oder dasselbe. In der Philosophie gibt es das principium identitatis A = A, d.h. hier wird die Gleichheit bestimmter Phänomene als deren Identität bezeichnet. In diesem Sinn verwenden wir den Begriff umgangssprachlich, etwa wenn die Identität einer Person polizeilich festgestellt wird. Dem Begriff Identität eignet also von seiner Ursprungsbedeutung her etwas Statisches: Identitätsmerkmale werden als unveränderliche äußerliche Kennzeichen verstanden, als das, was einen Menschen, aber auch 329

Heinz Abels, Identität, Wiesbaden 2006, 16.

1. Identitätskonzepte im gesellschaftlichen Wandel

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eine Gruppe oder eine Organisation in besonderer Weise und konstant über einen längeren Zeitraum hin auszeichnet (Alleinstellungsmerkmale). Deswegen werden überall Leitbilder entwickelt: Man beschreibt für eine Organisation eine Identität, man will sie identifizierbar machen, sowohl für die Mitarbeitenden wie für die Kunden. Gleichzeitig stellen dann Kenner der Situation schnell fest, dass zwischen Leitbild und der sog. Realität eine ziemliche Differenz bestehen kann – woraus man sieht, dass es mit der Identität immer eine schwierige Sache ist: Schwierig, weil es hier (Stichwort Beziehungsbegriff) sowohl um Selbst- oder Binnenwahrnehmung als auch um Fremd- oder Außenwahrnehmung geht; und beide sind bekanntlich häufig nicht deckungsgleich. In der Sozialpsychologie wird eine psychische oder Ich-Identität unterschieden von einer sozialen oder Wir-Identität: Ich-Identität bezeichnet das Wissen bzw. das Gefühl dafür, dass ich in verschiedenen Kontexten und unter verschiedenen Bedingungen derselbe bin und bleibe. Wenn ich morgens in den Spiegel schaue, erkenne mich als denselben, der ich vor ein paar Tagen oder vielen Jahren war, auch wenn ich vielleicht noch von der Party in der letzten Nacht verschwollene Augen und einen brummenden Schädel spüre. Soziale Identität meint demgegenüber, dass die Umwelt einen Menschen im Beruf, in der Freizeit, in der Familie als denselben erkennt und anerkennt. Die Umwelt schreibt einer Person ihre Identität gewissermaßen zu. Die Zuschreibungen sind immer auch geprägt von der jeweiligen Schicht oder dem Milieu, aus dem sie stammen (Arbeiter, Akademiker, Kirche, Gesundheitswesen, Fußballfan etc.). Die Entwicklungspsychologie hat gezeigt, dass soziale und psychische Identität unlöslich zusammenhängen: Niemand entwickelt eine Identität im luftleeren Raum. Die Figur des Kaspar Hauser zeigt in der Negativfolie, dass man sich nur in Beziehung zu anderen entwickeln kann. Ich kann mich nur mit mir selbst identifizieren und dadurch eine Identität aufbauen, wenn andere mir Identitätsmerkmale zuschreiben, mich identifizieren: Eltern, Verwandte, Freunde, Lehrer u.a. schreiben einem Kind zu, dass er oder sie hübsch oder weniger hübsch aussieht, körperlich und mental schnell oder langsam erscheint, bestimmte Fähigkeiten besitzt oder eben nicht besitzt. Solche Zuschreibungen übernehmen wir als unsere Identitätsmerkmale – erst im Jugendalter sind wir in der Lage, uns von externen Zuschreibungen in gewissem Maß zu lösen und dem eigenständige Wahrnehmungen und Zuschreibungen entgegen zu setzen (wobei die eigenen Wahrnehmungen immer schon durch kulturelle Maßstäbe und Muster vorgeprägt sind). Anders gesagt: Der Fähigkeit, sich selbst mit bestimmten Merkmalen oder Eigenschaften zu identifizieren, geht immer voraus, dass ich von anderen identifiziert (und damit immer auch fremdbestimmt) werde.

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XIV Pastorale Identität im Krankenhaus

Insofern bezeichnet Identität aus sozialpsychologischer Sicht die Schnittstelle zwischen Subjekt und Gesellschaft, zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und Zuschreibungen einerseits und individueller Auseinandersetzung mit diesen Erwartungen andererseits. Für unser Thema heißt das, dass Sie Ihre pastorale Identität im Krankenhaus natürlich nicht für sich allein entwickeln, sondern in einem lebendigen Wechselspiel zwischen Ihrer persönlichen Motivation zum Pfarrberuf, Ihrem Bild von sich als Person und in dieser besonderen Rolle und Aufgabe als Pfarrer/Pfarrerin einerseits sowie den Zuschreibungen und Erwartungen, die Sie von Patienten, vom pflegerisch-ärztlichen Personal, von der Verwaltung und dem Träger der Klinik bekommen andererseits. 1.3 Entwicklungen des Identitätskonzepts Einer der ersten, der ein umfassendes und populär gewordenes Identitätskonzept entworfen hat, ist der Psychoanalytiker Erik H. Erikson gewesen (1902–1994). Erikson hat mehrere neue Perspektiven in die Identitätsdiskussion eingeführt: 1. Er weitet die psychosexuelle Entwicklungstheorie Freuds zu einer psychosozialen aus. Er zeigt am Beispiel verschiedener Indianerstämme, wie die psychosexuelle Entwicklung von Kindern, die Freud mit den Adjektiven oral, anal, genital charakterisiert hat, mit der jeweiligen sozialen Umwelt korrespondiert und in diesem Wechselspiel von Trieb und Umwelt die spezifische Ausprägung von Identität bestimmt. 2. Erikson hat eine klare Vorstellung von dem, was er eine »gesunde Persönlichkeit« nennt: Seine sog. epigenetische Theorie, also die psychosoziale Entwicklungstheorie des Menschen, beschreibt normativ, welche Krisen, welche Kernkonflikte ein Menschen durchlaufen und wie er sie lösen muss, um zu einer gesunden Persönlichkeit heranzureifen. Vielleicht am häufigsten zitiert wird der früheste grundlegende Konflikt in jedem Menschenleben, nämlich der zwischen Urvertrauen und Urmisstrauen: Der Säugling ist völlig abhängig, er braucht Nahrung, Wärme, Liebe. Wie verlässlich ist diese Zufuhr von außen? So verlässlich und regelmäßig, dass der Säugling ein Grundgefühl entwickeln kann, das sich in die Worte fassen ließe: »Die Welt ist im Großen und Ganzen vertrauensvoll, begegnet mir und meinen Bedürfnissen liebevoll und verlässlich«. Oder bildet sich im Gegenteil ein tiefes Misstrauen in dem Sinn: »Was ich brauche, bekomme ich nur sehr sporadisch, meine frühen Erfahrungen sind voller Schmerzen und Unsicherheiten«? Um die Grundlage für eine gesunde Entwicklung zu legen, muss das Urvertrauen das Urmisstrauen überwiegen, sonst kann sich keine Hoffnung als erste und grundlegende »Tugend«, wie Erikson das nennt, des späteren Erwachsenenlebens bilden.

1. Identitätskonzepte im gesellschaftlichen Wandel

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3. Mit der epigenetischen Theorie formuliert Erikson die These, dass psychosoziale Entwicklung einen lebenslangen Prozess bildet – und nicht, wie es die klassische Psychoanalyse suggeriert, dass mit den frühen Lebensjahren alles Entscheidende grundgelegt und abgeschlossen ist. Die drei Phasen des Erwachsenenalters, die Erikson nennt, sind zwar relativ grob gestrickt, aber entscheidend ist die Implikation, dass sich Entwicklung bis ins Alter hinein vollzieht. 4. Das Ziel des Entwicklungsprozesses nennt Erikson »Ich-Identität«: Sie bezeichnet die »Fähigkeit des Ich, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten« und »die Elastizität, in den Wandlungsprozessen wesentliche Grundformen zu bewahren«.330 Das Moment der Stabilität und Kontinuität steht hier deutlich im Vordergrund. Ungefähr zeitgleich mit Erikson arbeiten Soziologen (George Herbert Mead, der als Begründer des sog. symbolischen Interaktionismus gilt, Erving Goffman, später Lothar Krappmann u.a.) stärker die Notwendigkeit des ständigen Balancierens zwischen Ich-Erwartungen und sozialen Einflüssen heraus. Sie sehen in Eriksons Ansatz die Gefahr, dass ein Mensch angesichts des rasanten, alle Lebensbereiche betreffenden gesellschaftlichen Wandels nicht mehr flexibel genug ist, um da mithalten zu können, um sich am sozialen Prozess angemessen beteiligen zu können. Deshalb definiert Lothar Krappmann deutlich anders akzentuiert als Erikson: »Ich-Identität erreicht das Individuum in dem Ausmaß, als es, die Erwartungen der anderen zugleich akzeptierend und sich von ihnen abstoßend, seine besondere Individualität festhalten und im Medium gemeinsamer Sprache darstellen kann … sie muß sie in jedem Interaktionsprozeß angesichts anderer Erwartungen und einer ständig sich verändernden Lebensgeschichte des Individuums neu formuliert werden.«331 Identität wird also zunehmend als Prozess verstanden, nicht mehr als Ergebnis einer längeren Entwicklung. Identität meint hier die Fähigkeit, dialogisch kooperativ sich an unterschiedliche Sprachspiele und die damit verbundenen Vorstellungswelten anschließen zu können. Angesichts tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungs- und Freisetzungsprozesse in der Postmoderne (Stichworte: Individualisierung und Pluralisierung) kann Identität nicht mehr – im Bild gesprochen – als Fels in der Brandung oder als Gehäuse, in das man sich zurückzieht, konzipiert werden; Vorstellungen von Einheit, Kontinuität und Kohärenz erweisen sich für die in der Gegenwart notwendige Offenheit und Flexibilität eher als 330 Erik Erikson, Einsicht und Verantwortung. Die Rolle des Ethischen in der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1971, 82. 331 Lothar Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart 31973, 208.

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hinderlich. Heiner Keupp hat programmatisch einen »Abschied von Erikson« gefordert.332 Stattdessen muss ein zeitgemäßer Identitätsbegriff die Erfahrungen von Unübersichtlichkeit, Diskontinuität, Fragmentierung, Beschleunigung und »Entbettung« (Anthony Giddens) aus bisher fraglosen Strukturen und Traditionen aufgreifen. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann Identität verstehen als »Passungsarbeit zwischen inneren und äußeren Welten«.333 Eine solche Passung verlangt ständige Identitätsarbeit, um das »Patchwork« an Teil-Identitäten miteinander zu verknüpfen, um Verbindungen zwischen widersprüchlichen Fragmenten zu einer »Identitätscollage« zu schaffen, vergleichbar dem Weben eines Netzes. Die Fragmenthaftigkeit und prinzipielle Unabgeschlossenheit von Identität unter pluralen gesellschaftlichen Bedingungen wird hier betont. Denken Sie nur daran, welche unterschiedlichen Denk- und Sprachfähigkeiten von Ihnen gefordert sind, je nachdem ob Sie mit einer Patientin sprechen, mit einem Arzt im Krankenhaus über diese Patientin reden, ob Sie sich in der Pfarrkonferenz befinden, oder im Gottesdienst oder im Fitnessstudio. Sie müssen diese höchst unterschiedlichen Kontexte und ihre Sprachspiele als ein und dieselbe Person bewältigen. Die Metapher des Netzes und des Netzknüpfens tritt an die Stelle des Felsens in der Brandung. Jetzt wird das Individuum zum »Planungsbüro des eigenen Lebens« (Ulrich Beck), auch zum Planungsbüro seiner Identität: Eine Aufgabe, die einerseits Chancen im Blick auf eine frei gewählte Lebensgestaltung enthält, unter der Voraussetzung, dass die notwendigen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen vorhanden sind; andererseits nehmen die Gefahren der Überforderung und des Scheiterns zu, weil sich bisher haltgebende gesellschaftliche Strukturen (Vollbeschäftigung, selbstverständliche, von allen anerkannte Werte, Autoritäten, Traditionen) auflösen. Daraus erwächst die Versuchung zum Rückzug in Fundamentalismen, zur Entwicklung von Feindbildern, die das eigene Selbst und seine Identität stabilisieren sollen. Identität stellt eine Konstruktionsleistung des Individuums dar; dieser Prozess konkretisiert sich in den Geschichten, die jemand von sich erzählen kann (narrative Identität). Mit Hilfe seiner Geschichten konstruiert ein Mensch Zusammenhang und Bedeutung, setzt sich in Beziehung zur Umwelt, entwirft Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, stellt Kausalverbindungen her, markiert Schwerpunkte und Zielsetzungen seines Lebens. Geschichten sind aber nicht ausschließlich indivi332 333

Zitiert bei Abels 2006, 288. Heiner Keupp u.a., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 22002, 30.

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duelle Kreationen, sondern auch Produkte des sozialen Austausches – und sie fallen immer etwas unterschiedlich aus, je nach dem, in welchem Kontext und wem gegenüber man seine Geschichte erzählt. Hier ist der besondere Anknüpfungspunkt der Seelsorge: Als absichtsloses Angebot ermöglicht sie Menschen, deren Identität durch eine Erkrankung in eine Krise geraten ist, durch Erzählen zu sortieren, was noch gilt, was sich verändert hat, was wichtig und unwichtig ist unter den neuen Umständen. Psychotherapeutisch (und auch seelsorglich) relevant wird ein solches flexibles Identitätskonzept beispielsweise in der Annahme der »fünf Säulen von Identität« in der Integrativen Therapie von Hilarion Petzold: Danach entwickelt sich Identität in den unterschiedlichen Bereichen von »Leiblichkeit«, »Soziales Netzwerk«, »Arbeit und Leistung«, »Materielle Sicherheit« und »Werte und Sinnannahmen«.334 Diese unterschiedlichen Lebensbereiche müssen zu einem mehr oder weniger kohärenten Ganzen finden; umgekehrt haben Störungen und Brüche in einzelnen Bereichen Auswirkungen auf das Gefühl von Identität insgesamt. In jedem Fall wird an dieser Differenzierung des Prozesses der Identität deutlich, wie anfällig, wie brüchig das Konstrukt von Identität für jeden Menschen und jede Gruppe ist. 1.4 Identität und Rolle Identität setzt sich zusammen aus einem Bündel unterschiedlicher Rollen. Wir alle nehmen auf der Bühne des Lebens ganz unterschiedliche Rollen ein: Ehemann oder Ehefrau, Vater/Mutter/Single, Mitglied im Sportverein, Mitglied im Kirchenchor, Pfarrer/Pfarrerin, Elternteil, Patient, Kunde, Arbeitnehmerin/Selbstständige etc. Identität entsteht, wenn es uns gelingt, die Rollen so miteinander zu verbinden, dass für uns selbst und vor allem für die Außenwelt erkennbar ist, dass ein und dieselbe Person die unterschiedlichen Rollen ausführt (Identitätskern). Der Pfarrer im Sportverein soll sicher vor allem als Sportler in Erscheinung treten, aber ein klein wenig soll er doch auch als Pfarrer erkennbar bleiben, sonst sind die Sportskameraden eher irritiert. D.h. ein gewisses Maß an Kontinuität in der Rollenausübung ist notwendig, da hatte Erikson wohl recht. Der Begriff der Rolle bezeichnet aus soziologischer Sicht die Summe der Erwartungen, Verpflichtungen und Vorstellungen, die andere Personen bzw. Institutionen an den Inhaber einer Position herantragen und zugleich die Art und Weise, wie eine Person auf diese Erwartungen reagiert und ihnen zu entsprechen bzw. nicht zu entsprechen sucht. Rollen 334

Vgl. Dorothea Rahm u.a., Einführung in die Integrative Therapie, Paderborn 21993, 155f.

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werden im Lauf der Sozialisation vermittelt – implizit und explizit. Ein Kind lernt, ohne dass das explizit zum Thema wird, was es bedeutet, die Rolle als Vater oder Mutter auszuüben. Berufsrollen werden in der sekundären oder tertiären Sozialisation gelernt. Berufsrollen bilden sich an den Schnittstellen von Institution/Organisation und Person: Die Institutionen definieren die Erwartungen an ihre Rollenträger, sie wollen sie als kompetente und würdige Repräsentanten ihrer Organisation. Ein Mensch sollte zwischen seiner Person und seinen Rollen unterscheiden können. In diesem Zusammenhang begegnen zwei Extreme: – Manche gehen völlig in den Rollenerwartungen auf, passen sich weitgehend an, so dass ihre individuelle Persönlichkeit kaum noch erkennbar wird. – Andere suchen eine Rollenübernahme zu verweigern, sie fühlen sich in der Rolle fremdbestimmt, wollen stattdessen spontan und frei leben und entscheiden können. Dann sind die Personen aber nicht mehr als Rollenträger erkennbar, was wiederum für Außenstehende irritierend sein kann. Wünschenswert ist ein Mittelweg, d.h.: die Betroffenen sind in der Lage, zwischen Person und Rolle zu unterscheiden und situativ, also je nach Gegenüber und Situation, die eine oder die andere Dimension zum Ausdruck zu bringen. In Verhandlungen mit dem ärztlichen Direktor bin ich der Pfarrer, der Vertreter der Institution Kirche, auf dem Betriebsausflug kann ich viel stärker meine persönlichen Seiten zeigen, unterhaltsam sein, Witze erzählen etc. Noch mal: Identität besteht darin, dass für andere und für mich selbst erkennbar wird, dass die verschiedenen Rollen in meiner Person zusammengehalten werden und durch meine Person ihre besondere »persönlichkeitsspezifische« Prägung erhalten. Der Pfarrberuf hat in diesem Zusammenhang eine besondere Akzentuierung: Dieser Beruf wird auch als Gesinnungsberuf bezeichnet, oder als Totalrolle – soll heißen: Die Pfarrer-Rolle kann man nicht, wie andere Arbeitnehmer das tun, ablegen, wenn man um 17 Uhr von der Arbeit nach Hause kommt, und dann gewissermaßen ein anderer, ein Privatier, sein. Der Auftrag zur Kommunikation des Evangeliums betrifft alle Lebensbereiche, ist überall und ständig gegenwärtig. In dem Maß, in dem die Institution Kirche in unserer Gesellschaft ihre selbstverständliche Anerkennung verloren hat, trägt nun nicht mehr das Amt die Person, sondern die Person muss in zunehmendem Maß durch ihre persönliche Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft das Amt, die Rolle, legitimieren und beglaubigen. Ich vermute, dass Sie das aus dem Krankenhaus alle kennen: Kirchendistanzierten Ärzten bei-

2. Identitätsarbeit und Rechtfertigung: Wie geht das zusammen?

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spielsweise bedeutet die Anwesenheit eines Pfarrers erst etwas, wenn sie gespürt haben, dass der im Umgang mit Patienten kompetent erscheint und einen Beitrag zur Krankheitsbewältigung von Patienten leisten kann. Das Pfarramt als solches ist ihm erst einmal gleichgültig oder löst sogar negative Assoziationen aus. Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Wie stark lassen Sie sich in Ihrer pastoralen Identität, in Ihrem Selbstverständnis, in Ihrer Pfarramtsrolle auch von den Erwartungen der Institution Krankenhaus und der verschiedenen Mitarbeitergruppen bestimmen? Wo und wie distanzieren Sie sich von explizit geäußerten oder implizit wahrgenommenen Erwartungen und entwickeln Ihre berufliche Identität eher in Abgrenzung von solchen Erwartungen? Können Sie theologische Vorbehalte oder Kritik an einem bestimmten Identitätsideal zur Geltung bringen? Und: Welche Teilrolle ist in den unterschiedlichen Settings Ihrer Arbeit im Krankenhaus gefragt? Was hilft Ihnen, auf die Vielfalt der Situationen und Begegnungen angemessen eingehen zu können und dabei doch mit sich identisch zu bleiben? 2. Identitätsarbeit und Rechtfertigung: Wie geht das zusammen? Theologische Anfragen 2.1 Identitätsarbeit und Machbarkeit Identitätsarbeit heißt, die verschiedenen Rollen oder Teilidentitäten so zusammenhalten und immer neu verknüpfen zu können, dass Individuen in unterschiedlichen Lebensbereichen einen Kern an innerer Konsistenz und Kontinuität in der eigenen Person empfinden und nach außen hin vermitteln können. »Diese individuelle Verknüpfungsarbeit nennen wir ›Identitätsarbeit‹ …« schreibt einer der führenden sozialwissenschaftlichen Identitätstheoretiker Heiner Keupp.335 Damit wird eine anspruchsvolle Aufgabe beschrieben, die nie an ein Ende kommt und die als Reflex der weit verbreiteten gesellschaftliche Erfolgs- und Leistungsorientierung gelten muss. Auf den ersten Blick klingt das Stichwort »Identitätsarbeit« wertneutral, aber es enthält natürlich hohe normative Implikationen: Arbeit wird getan, um Ziele zu erreichen, in diesem Fall das Ziel, einen stimmigen und überzeugenden Gesamtzusammenhang der disparaten Einzelteile immer neu zu schaffen. Damit fügt sich die Vorstellung von Identitätsarbeit in eine Tendenz spätmoderner Gesellschaften, in denen quasi alles 335

Keupp 2002, 9.

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als Gegenstand menschlicher Arbeit und damit der Machbarkeit unterworfen betrachtet wird. Der Philosoph Odo Marquard hat es in einem Aufsatz mit dem Titel »Ende des Schicksals?« ironisch so formuliert: »Wir leben im Zeitalter der Machbarkeit. Erst wurde nichts gemacht, dann wurde einiges gemacht, heute wird alles gemacht … Der Weg führt … vom Schicksal zum Machsal«.336 Stichworte wie »gelingendes Leben«, oder »paßförmige Identitätskonstruktion« oder »produktives Altern«, spiegeln ein Verständnis, demzufolge Leben und Identitätsfindung nur einen Wert haben, wenn wir, die autonomen Subjekte, ständig daran arbeiten, wenn es immer neu Entwicklung, Veränderung und nicht Stillstand gibt. Dass dieses normative Entwicklungsideal mit der Mehrzahl menschlicher Lebenswege schwerlich in Übereinstimmung zu bringen ist, dürfte deutlich sein. Gleichwohl liegt im Befund der zu leistenden Identitätsarbeit eine große Chance für manche Zeitgenossen der postmodernen Gesellschaft: Man muss sich nicht mehr in vorgegebene traditionale Ordnungen einfügen, um seinen Platz in der Welt und damit Identität zu finden. Wahlbiographie tritt an die Stelle einer Normalbiographie (Ulrich Beck), man kann die stützenden, aber auch einengenden Fesseln von Bildungsschicht und Tradition hinter sich lassen und sein eigenes Lebensprojekt entwickeln. »Aus einer ungebrochenen Lenkung durch Tradition wird ein reflektiertes Verhältnis zur Tradition.«337 Allerdings mehren sich auch besorgte Stimmen, die in der angedeuteten Entwicklung eine kollektive Größenphantasie und damit eine heillose Überforderung der betroffenen Subjekte erkennen. Kann es Menschen gelingen, sich gleichsam selbst zu konstruieren und aus der unüberschaubaren Vielfalt der Angebote sinnvoll und angemessen auszuwählen? Nicht umsonst spricht Keupp in einem Buchtitel von »riskanten Chancen«.338 Um die Chancen nutzen und die Risiken in Grenzen halten zu können, braucht man eine ausreichende materielle Basis, unterstützende soziale Netzwerke sowie eigene emotionale und intellektuelle Ressourcen. Wer über solche Ressourcen nicht verfügt, dessen Identitätsprojekt erscheint von vornherein gefährdet. Was ist aus theologischer Sicht zum Projekt der Identitätsarbeit zu sagen?

336

Odo Marquardt, Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1987, 67. 337 Henning Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 24. 338 Heiner Keupp, Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation, Heidelberg 1988.

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2.2 Religion als Identitätsbestätigung Erikson betont, dass Eltern Urvertrauen nur vermitteln können, wenn sie selber das Gefühl haben, dass das, was sie tun und wie sie leben, sinnvoll ist.339 Ein solches Gefühl wird entscheidend hervorgerufen und stabilisiert durch eine Ideologie im Sinne eines Systems, »das ein überzeugendes Weltbild bietet«.340 Religion repräsentiert für Erikson ein solches ideologisches System. Er beschreibt Religion als eine lebendige psychologische Kraft, die jene Art von Vertrauen und Glauben schafft, mit deren Hilfe Eltern wiederum in der Lage sind, in ihren Kindern Vertrauen zu wecken und zu kräftigen. Erikson sieht in der Religion das Angebot eines unbedingten, gewissermaßen transzendent verankerten Wohlwollens, das sich deutlich von den immer nur begrenzten Angeboten menschlicher Zuwendung unterscheidet, und damit das Grundvertrauen dauerhaft bestätigen kann. In diesem Verständnis bekommt Religion die Funktion, individuelle wie kollektive Identität zu bestätigen und zu stabilisieren. Von der Quelle des Lebens selbst wird dem Menschen bzw. dem Kollektiv Existenzrecht, Wertschätzung und Kontinuität zugesprochen, beispielhaft in dem vom Propheten Jesaja Gott zugeschriebenen Satz (Jes 43,1): »Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein«. Hier ist von keinen zu erfüllenden Bedingungen, von keinen notwendigen Voraussetzungen die Rede, die Zusage unbedingter Zugehörigkeit und Geborgenheit gilt zeitlich und räumlich uneingeschränkt und bedingungslos. Religion wird damit zu einem bedeutenden Faktor der Integration, der Vergewisserung, der Stabilisierung der Persönlichkeit. Ein lebensgeschichtlich orientiertes Verständnis der Kasualien (Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung) orientiert sich an dieser Zielsetzung: Biographische und familiale Übergangssituationen, die Unsicherheit und Angst auslösen und damit Identität gefährden können, sollen durch religiöse Symbolhandlungen bewältigt und integriert werden. Die Kehrseite dieser transzendenten Identitätsbekräftigung besteht darin, dass Religion hier ihre kritisch-prophetische Kraft einbüßt. Christliche Religion ist hier nicht mehr »Option für die Armen«, sondern Zusage von Gottes Liebe für alle, gleichgültig wo und wie sie leben, gleichgültig, wie ungerecht und ungleich die Lebensverhältnisse und -strukturen sind.

339 340

Erik Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 41971, 241ff. Erik Erikson, Jugend und Krise. Zur Psychodynamik im sozialen Wandel, Stuttgart 1970, 27.

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2.3 Identität, Anerkennung und Rechtfertigung Der Prozess der Identität bildet sich in ständiger Konstruktions- und Passungsarbeit zwischen kollektiven Vorgaben und Erwartungen einerseits, individuellen Wünschen und Fähigkeiten andererseits; gleichwohl wird man sagen müssen, dass vorgängige Anerkennung einen zentralen, wenn nicht sogar den primären Anteil in diesem Prozess spielt. Leben bedarf der Anerkennung durch andere, Anerkennung in Form von Liebe, von rechtlicher Anerkennung und sozialer Wertschätzung.341 Die neuere Säuglingsforschung zeigt eindrücklich, wie ein Kind von Beginn des Lebens an in intersubjektiven Austausch verwoben ist. Nicht nur, dass das Kind auf Nahrungszufuhr von außen angewiesen ist, darüber hinaus bedarf es kontinuierlich liebevoller Zuwendung. Die mütterliche Affektspiegelung oder Affektabstimmung342 bestätigt den Säugling in seiner ganzen Existenz, nicht nur in seinen positiven Eigenschaften. Das Verhalten der Mutter als Antwort auf die Existenz des Säuglings kann man als eine Form der spontanen, intuitiven Anerkennung verstehen, bedingungslos und unverdient von Seiten des Säuglings. Wo diese Anerkennung ausbleibt oder auf Grund von psychischen Verletzungen in der Biographie der Mutter nur verzerrt gegeben werden kann, stellen sich entsprechende pathologische Entwicklungsstörungen ein; die Hospitalismusforschung hat diese negativen Zusammenhänge erschreckend deutlich dokumentiert.343 Der entwicklungspsychologisch beschriebene Prozess der vorgängigen Anerkennung zwischen Mutter und Kind berechtigt zu der Schlussfolgerung: »Ur-Heber des Selbst sind andere, und das Subjekt, das zu kennzeichnen ist durch Intentionalität, die Fähigkeit, eine Handlung spontan anfangen zu können, beginnt selbst objekthaft«.344 Diese Beschreibungen der Genese des Selbst oder der Identität sind wiederholt als Analogie für eine zugrunde liegende anthropologische Struktur verstanden worden: Der Mensch ist nicht Urheber seiner selbst, sondern verdankt sich der Anerkennung eines Größeren seiner selbst. Schleiermacher hat von der Erfahrung der »schlechthinnigen Abhängigkeit« des Menschen als dem Ursprungsdatum von Religion gesprochen. Der Mensch, der dieser Abhängigkeit inne wird, realisiert ein Göttliches als transzendentes »Woher« seines Daseins. In der Erfahrung schlechthinniger Abhängigkeit weiß er sich von einem personal gedachten Subjekt gesehen und anerkannt. 341

Vgl. zum Folgenden Friederike Werschkull, Vorgreifende Anerkennung. Zur Subjektbildung in interaktiven Prozessen. Bielefeld 2007. 342 Vgl. Daniel Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 21992, 198ff. 343 Vgl. Phyllis Tyson / Robert L. Tyson, Lehrbuch der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, Stuttgart 22001, 63f. 344 Werschkull 2007, 82.

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Dieser Zusammenhang bildet sich besonders deutlich ab im Ritual des Segens, mit dem jeder christliche Gottesdienst beendet wird. Der sog. Aaronitische Segen belebt eine frühkindliche Urerfahrung, den liebevollen Blick der Mutter, oder den »Glanz in den Augen der Mutter« gegenüber dem Säugling (Heinz Kohut), und gibt diesem Blick unbedingte, uneingeschränkte, gleichsam göttliche Qualität. Der Segen verspricht (oder wünscht), dass Menschen sich von Gott als dem Geheimnis des Lebens als wirklich gesehen und freundlich erkannt fühlen dürfen. »Vielleicht ist der Segen die dichteste Stelle der jüdisch-christlichen Glaubensäußerung, weil dort dramatisiert ist, was Gnade ist: nicht erringen müssen, wovon man wirklich lebt … Wer Gott nennt, braucht nicht selber Gott zu sein. Wer an das Leben glaubt, braucht das Leben nicht selber zu fabrizieren.«345 Die Bruchstückhaftigkeit jeder Identität kann vor diesem Hintergrund leichter wahr- und ernst genommen werden. Wenn für den intersubjektiven Prozess der Identitätsbildung der Satz stimmt »Ich bin, wie ich von dir wahrgenommen werde« (Bürgin), dann gilt er entsprechend auch in religiöser Hinsicht. Die »identitätsverleihende Macht der Augen«, von der Erikson gesprochen hat bekommt hier eine unbedingte Dimension. Der dogmatische Terminus der Rechtfertigung, dem im christlichtheologischen Traditionszusammenhang eine zentrale Bedeutung zukommt, enthält dieses Element der Anerkennung des Menschen durch Gott. Der Begriff bedeutet, dass dem Menschen, dessen Identität immer wieder durch Unversöhntheit, Hoffnungslosigkeit und Lieblosigkeit bestimmt ist und insofern als »sündig«, als entfremdet betrachtet werden muss, unverdient und uneingeschränkt von Gott her ein Lebensrecht zugesprochen wird. 2.4 Religion, Identität und Fragment Religion stärkt und stabilisiert menschliche Identität auf symbolische und rituelle Art und Weise. Diese Aussage ist richtig, aber sie stellt nur die eine Seite der Medaille dar. Denn Religion hat auch eine kritische, prophetische, gegenkulturelle Dimension; und die gewinnt erst Bedeutung, wenn man als Gegenpol den Begriff des Fragments einführt. Bereits im Jahr 1985 hat der Theologe Henning Luther einen wegweisenden Aufsatz zum Thema »Identität und Fragment« veröffentlicht, der seither vielfach rezipiert worden ist.346 Luther setzt sich kritisch mit einem Identitätsbegriff auseinander, dessen Ziel im Gefolge von Erikson 345 346

Fulbert Steffensky, Segnen. Gedanken zu einer Geste, PTh 82 (1993), 4f. Henning Luther, Identität und Fragment, in: ders., Religion und Alltag, Stuttgart 1992, 160–182.

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als vollständige, ganze und integrierte Identität konzipiert worden war. So ein Konzept stellt, H. Luther zufolge, ein idealisierendes Welt- und Menschenbild dar, das mit theologischen Vorstellungen vom Menschen nicht vereinbar ist. Menschliches Leben ist nur als fragmentarisches angemessen zu beschreiben: Nicht nur die Endlichkeit des Lebens angesichts von Krankheit, Sterben und Tod macht das Leben prinzipiell zu einem bruchstückhaften. Darüber hinaus ist auf die grundsätzliche menschliche Fehlbarkeit in allen Wahl- und Entscheidungsprozessen zu verweisen und weiterhin darauf, dass niemand in der Lage ist, die unendliche Fülle der mit der Geburt angelegten Möglichkeiten wirklich auszuschöpfen. Die historischen und geographischen Gegebenheiten, innerhalb derer ein Mensch zufällig geboren ist, der soziale Kontext, in dem er aufwächst und schließlich die unterschiedlichen individuell-genetischen Anlagen führen dazu, dass Menschen immer nur höchst selektiv das leben und umsetzen können, was prinzipiell an Möglichkeiten denkbar und wünschbar wäre. »Wir sind immer zugleich auch gleichsam Ruinen unserer Vergangenheit, Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verronnener Lebenswünsche, verworfener Möglichkeiten, vertaner und verspielter Chancen. Wir sind Ruinen aufgrund unseres Versagens und unserer Schuld ebenso wie aufgrund zugefügter Verletzungen und erlittener und widerfahrener Verluste und Niederlagen. Andererseits ist jede erreichte Stufe unserer Ich-Entwicklung immer nur ein Fragment aus Zukunft …«347 »Das Ganze ist das Unwahre«, so hat es Theodor Adorno formuliert.348 Man könnte auch sagen: Das Ganze ist nur als Utopie denkbar und insofern eine religiöse Kategorie, eine nur Gott zukommende Perspektive. Der Gottesbegriff enthält bereits qua Begriff das Moment der Vollkommenheit, der Ganzheit, der umfassenden Wahrheit; alles andere, was nicht Gott ist, zeichnet sich demgegenüber durch den Mangel solcher Vollständigkeit aus. Identität und Identitätsarbeit sind damit nicht eo ipso als unchristlich deklariert; nur die Vorstellung, es könne vollendete und irgendwann bzw. irgendwie abgeschlossene Identität geben, ist aus der Perspektive der Religion als Hybris zu sehen. Der christliche Begriff der Sünde würde in diesem Zusammenhang gerade so zu lesen sein, dass er der prinzipiellen Fragmenthaftigkeit menschlichen Lebens Ausdruck gibt und alle Versuche, diese Bruchstückhaftigkeit zu überwinden bzw. als überwindbar zu denken, als anmaßenden Versuch des »wie-Gott-Sein-Wollens«. An Gott zu glauben bzw. ihm zu vertrauen hieße dann, sich mit der 347 348

Ebd., 168f. Theodor Adorno, Minimal moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 1984, 57.

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Bruchstückhaftigkeit des Lebens und eben auch der Identität auszusöhnen, sie nicht nur als Verhängnis, sondern als gute Gabe annehmen zu können. Auch der bereits mehrfach erwähnte christliche Gedanke der Rechtfertigung des sündigen Menschen durch Gott allein durch den Glauben und nicht um besonderer Verdienste willen, stellt auf diesen Zusammenhang ab: Wenn Identität angesichts der ständigen Erfahrungen von Nicht-Identität von außen unverdientermaßen zugesprochen wird, wird es möglich, die Fragmentarität von Identität »ohne Schaden und ohne Selbstverlust«349 anzunehmen und mit ihr zu leben. 2.5 Identität und das »extra nos« des Glaubens Der christliche Glaube beharrt auf einem »extra nos« des Glaubens, d.h. der letzte Grund des Lebens und Glaubens liegt nicht in uns selbst, sondern wird uns von außen entgegengebracht und geschenkt. Wer das Leben aufmerksam beobachtet, stellt immer wieder eine grundlegende Struktur der Passivität fest: Wir werden geboren; den für jedes menschliche Leben grundlegenden Prozess des Atmens können wir nicht machen, wir können uns ihm nur überlassen; der Herzschlag hält uns am Leben, entzieht sich aber direkter Steuerung; Liebe, Fürsorge, Barmherzigkeit kann man sich nicht verdienen, sie werden uns von anderen entgegengebracht; Altern, Krankheiten und schließlich den Tod erleiden wir. So wichtig und unverzichtbar Aktivität und Produktivität zur Gestaltung des Lebens sind, die wesentlichen Dinge widerfahren uns. Man kann sich dagegen in Protest und Anklage auflehnen, oder man kann versuchen, das Verhängte oder Geschenkte anzunehmen; in jedem Fall bleibt die Grundstruktur der Passivität. Die Konsequenzen für das Verständnis von Identität liegen auf der Hand: Bei aller notwendigen Identitätsarbeit bleibt Identität immer auch Geschenk und Widerfahrnis. Damit widerspricht christliche Theologie einem menschlichen Selbstverständnis, wie es vielfach in Schriften des Humanismus und Sozialismus formuliert worden ist und wie es in der kapitalistischen Gesellschaft längst Alltagsphilosophie geworden ist: Karl Marx versteht den Menschen als »Resultat seiner eigenen Arbeit«, Jean Paul Sartre schreibt »Unablässig erschaffe ich mich; ich bin der Geber und die Gabe«;350 und im beruflichen (und auch privaten?) Alltag bewerten wir Menschen uns gegenseitig nach dem, was wir zu leisten in der Lage sind. »Nur durch Engagement an eine Sache und durch autonom getroffene Lebensentscheidungen erfährt das Individuum sich selbst als gesicherte Identität.«351 Identität wird hier zur Eigenleistung, Erfolge darf man sich selbst 349 350

Henning Luther 1992, 173. Zitiert nach Gunda Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2002, 59 und 36. 351 Nunner-Winkler, zitiert nach Schneider-Flume, ebd., 56.

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zuschreiben, für Begrenzungen, Fehlerhaftigkeiten und Scheitern trägt man selbst die Schuld. Ein solches Identitäts- und Lebensmodell setzt mit seinem hohen Anspruch Menschen unter Druck, schreibt ihnen selbst die Verantwortung für Gelingen oder Scheitern ihres Lebens zu. Einen »Missklang der Selbstvergottung« nennt der Schriftsteller Botho Strauß diese angestrengte Identitätsarbeit.352 Spätestens in Lebenskrisen, bei Unfällen, Krankheiten und am Lebensende erweist sich die Gnadenlosigkeit dieses Modells. 2.6 Identität und Geheimnis Identitätsarbeit wird zu Recht an wechselseitige Interaktion gebunden. Selbst und Selbstbewusstsein entstehen immer neu im Prozess der Kommunikation, Subjektivität ist nicht ohne Intersubjektivität denkbar. Damit wird suggeriert, dass erfolgreiche Identitätsarbeit möglich ist, wenn intersubjektive Kommunikation gelingt. Aber tut sie das je vollständig? Bleibt nicht in jeder Kommunikation bzw. Interaktion ein Rest an Fremdheit nicht nur gegenüber dem/der Anderen, sondern auch gegenüber dem eigenen Selbst, dessen Motiven und Absichten? Bleibt nicht auch gegenüber dem vertrautesten Menschen ein Rest an Befangenheit und Verschlossenheit, den man diskursiv auch bei bestem Willen nicht einholen kann, weil die Gleichzeitigkeit, Vielfalt und Ambivalenz der Gedanken und Empfindungen sich gar nicht auf den Begriff bringen lässt? Dieser Rest an Fremdheit und Differenz bildet das bleibende Geheimnis der Person, der Identität; es ist kommunikativ nicht auflösbar. »Sie [sc.: die Individualität, M.K.] ist Geheimnis, weil sie weder identisch ist mit der Identität, die wir in der Wechselseitigkeit der sozialen Interaktion gewinnen, noch auch identisch ist mit dem, was wir vorgängig wissen und worauf wir uns in dem Gefühl der Selbstvertrautheit verlassen. Weder wir selbst noch gar andere ›wissen‹, wer wir ›eigentlich‹ sind.«353 Hier liegt ein Anknüpfungspunkt für Religion: Der Begriff Gottes als des »ganz anderen« impliziert die Vorstellung einer transzendenten Quelle des Lebens, die den Menschen vollständig kennt (vgl. Psalm 139), und ihn mit dieser Kenntnis liebt und zur Verantwortung zieht. Ein solches Kennen der Identität durch Gott impliziert, dass diese Kenntnis niemand anderem zukommt. Das Bilderverbot, das im Dekalog im Blick auf Gott formuliert worden ist (Ex 20,4 u.ö), dient dazu, eine Verdinglichung und Funktionalisierung Gottes zu verhindern: Gott ist letztlich immer anders als die Vorstellungen, die sich Menschen von ihm machen. In der jüdischen 352

Zitiert nach Heidi Gidion, Bin ich das? Oder das? Literarische Gestaltungen der Identitätsproblematik, Göttingen 2004, 53. 353 Henning Luther 1992, 71.

2. Identitätsarbeit und Rechtfertigung: Wie geht das zusammen?

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und christlichen Tradition ist dieses Verbot auch auf den Menschen übertragen worden: Der Mensch als Ebenbild Gottes (Gen 1,27) bedarf ebenso des Schutzes vor unangemessener Festlegung und Funktionalisierung. Auch Identität bildet letztlich ein Geheimnis, das dem Subjekt selbst wie auch Außenstehenden in seiner wirklichen Tiefe verschlossen bleibt. Diese Grenze der Selbst- und Fremdwahrnehmung gilt es um der Würde des Menschen willen zu respektieren. Eine vollständig transparente Identität ist nur als utopische, als eschatologische Kategorie denkbar, die, symbolisch gesprochen, dem Reich Gottes vorbehalten bleibt; in unserer Welt wäre sie eine Horrorvorstellung. 2.7 Konsequenzen einer veränderten Identitätsperspektive Wenn Identität vorrangig als Projekt und Gegenstand der Machbarkeit betrachtet wird, hat das Konsequenzen für den gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit zentralen Lebensphänomenen wie Krankheit, Behinderung, Verlusterfahrungen, Scheitern, Alter(n), Sterben und Tod. Angesichts des hohen Leistungsanspruchs, den die Metapher der Identitätsarbeit zweifellos in sich trägt, besteht immer die Gefahr, dass diejenigen, die diesem Anspruch nicht genügen, die nicht in der Lage sind, als vernünftige und selbstverantwortliche Erwachsene flexibel auf die Vielfalt sozialer und kultureller Konstellationen zu antworten, diskriminiert und marginalisiert werden. Die Geschichte der Euthanasie in Deutschland im 20. Jahrhundert und die Neuauflage einer Diskussion um die Thesen zur Euthanasie des australischen Philosophen Peter Singer354 sind dafür extreme Beispiele. Wenn Identität Resultat eigener Arbeit darstellt, geraten diejenigen mit gebrochener oder offenkundig fragmentierter Identität wie z.B. schwerstbehinderte Menschen oder psychiatrische bzw. gerontopsychiatrische Patienten leicht in die Rolle von lästigen Versagern. In einem Bericht über die Lage von behinderten Menschen in der Bundesrepublik Deutschland heißt es im Magazin »Der Spiegel« vom 5.1.2009, 26ff: »Es gibt einen wachsenden Druck zur Optimierung der menschlichen Natur, zur Steigerung körperlicher und geistiger Fähigkeiten. Die Bilder menschlicher Perfektion, die in den Medien transportiert werden, entfalten ihre normative Kraft. In einer Zeit, geprägt von Perfektionssucht, Doping und Schönheitschirurgie, haben Menschen mit Behinderungen keinen Platz. Seit der Radikaleugenik der NS-Zeit spricht in Deutschland zwar so gut wie niemand mehr von ›lebensunwertem Leben‹. Aber die Ansicht, dass Menschen mit Behinderung die Gesellschaft belasten, ist weit verbreitet.« 354

Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1984.

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XIV Pastorale Identität im Krankenhaus

Eine religiöse Perspektive konterkariert eine solche auf Leistung, Machbarkeit und Arbeit und Erfolg bezogene Identitäts- und Lebensvorstellung. Sie geht davon aus, dass Identitätsarbeit immer nur vorläufig und begrenzt sein kann, immer nur einen vorletzten Stellenwert, der über Wert und Würde eines Menschen nichts aussagt, einnehmen kann. Aus religiöser Sicht wird Identität in einem letztgültigen Sinn Menschen von Gott her zugesprochen, gerade auch denen, deren Identitätsarbeit nicht gelingt, deren Leben von Verlusten und Scheitern, von Krankheit oder Behinderung geprägt ist. Die Identitätszusage Gottes verleiht jedem Menschen unverlierbare Würde, die uneingeschränkten Respekt verdient und entsprechende ethische Konsequenzen frei setzt. Diese Perspektive im Krankenhaus zur Geltung zu bringen, vor allem im Blick auf polymorbide, alte und sterbende Menschen, die die Erfolgsbilanzen der Klinik verschlechtern, ist eine bleibende Aufgabe christlicher Seelsorge. Allerdings müssen die Seelsorgenden in der Lage sein, zu diesem Zweck die theologische Sprache in allgemeinverständliche Alltagssprache zu übersetzen. 3. Professionelle (strukturelle) Identität der Seelsorge im Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus: Zwischen Abgrenzung und Anpassung355 Was bedeutet die Ökonomisierung des Krankenhauses für die Seelsorge? Seelsorge im Krankenhaus kann sich heute oftmals nicht mehr so sehr über eine strukturelle Bedeutungslosigkeit beklagen, wie ich das noch vor über 20 Jahren diagnostiziert habe, vielmehr steckt sie in einem Multioptionsdilemma (A. Heller): Wie soll sie sich angesichts der strukturellen Veränderungen des Krankenhauswesens verhalten? Wie kann und soll sie sich selbst verstehen angesichts z.T. tiefgreifend veränderter Erwartungen? Wie soll sie ihre pastorale Identität finden, ausarbeiten und nach außen hin transparent machen in einer naturwissenschaftlichtechnisch und zunehmend ökonomisch geprägten und ausgerichteten Institution? Auf diese Fragen gibt es keine feststehenden und eindeutigen Antworten; aber es ist wichtig, sich die Optionen vor Augen zu führen, entsprechend abzuwägen und zu einer – jeweils nur vorläufigen – Lösung zu kommen, die sowohl den institutionellen Möglichkeiten und Erwartungen einerseits als auch den individuellen Fähigkeiten und Neigungen andererseits gerecht wird. 355

Zum Folgenden vgl. Dorothee Hart, Seelsorge im Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus, Würzburg 2007; dies., Die Rolle der Seelsorge im Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus, in: Michael Klessmann, Handbuch der Krankenhausseelsorge, Göttingen ³2008, 40–55.

3. Professionelle (strukturelle) Identität der Seelsorge

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Grundlegend für alle weiteren Veränderungen ist offensichtlich die seit einer Reihe von Jahren zu beobachtende Ökonomisierung des Krankenhauswesens. Das System der DRG’s (diagnosis related groups) führt dazu, dass sich das Krankenhaus zum kundenorientierten Dienstleistungsunternehmen wandelt, das natürlich die Behandlung von relativ gesunden Menschen bevorzugt gegenüber all denen, deren Krankheitsverlauf schwer kalkulierbar ist, den polymorbiden, chronisch Kranken, den alten und sterbenden oder psychisch auffälligen Menschen. Ökonomisierung heißt also Werteverschiebung: es heißt Arbeitsverdichtung und Flexibilisierung der Klinikabläufe, Verkürzung der Verweildauer, weitergehende Spezialisierung und Privatisierung von Kliniken; vor allem der Pflegeberuf wandelt sich vom Beziehungsberuf zum Dienstleistungsberuf. Muss und will sich die Krankenhausseelsorge diesen Veränderungsprozessen anpassen? »Noch nie hatte die Krankenhausseelsorge in diesem Maße Gelegenheit, Strukturen, Kommunikation und Abläufe im Krankenhaus mitzugestalten.«356 Will sich die Krankenhausseelsorge verstärkt als Betriebsseelsorge verstehen? Welche Chancen öffnen sich da? Welche Gefahren drohen? Krankenhausträger achten in ihren Leitbildern verstärkt darauf, ein von humanistischen Werten getragenes Menschenbild zu entwickeln, sie legen zunehmend Wert auf Patientenund Mitarbeitendenzufriedenheit – da kommt die Seelsorge gerade recht. So bindet etwa das kirchliche Zertifizierungsprogramm proCumCert die Seelsorge selbstverständlich in das System Krankenhaus ein, Seelsorge wird Bestandteil des Dienstleistungsunternehmens Krankenhaus. Diese Entwicklung ist auch zu sehen vor dem Hintergrund einer veränderten Einschätzung und Bedeutung von Religion im öffentlichen Raum. Auch wenn die Ergebnisse im Detail umstritten sind – vor allem zwischen deutschen und amerikanischen Forschern – so gibt es doch kaum noch eine grundsätzliche Infragestellung der These, dass eine religiöse, eine spirituelle Orientierung für Prozesse von Krankheitsbewältigung und Gesundung von Bedeutung ist.357 Darauf kann sich Seelsorge berufen und entsprechend mit einem gestärkten Selbstbewusstsein in interdisziplinäre Dialoge eintreten. D. Haart stellt nun zwei Varianten vor, wie die Zuordnung der Seelsorge zum System des Krankenhauses unter den veränderten Bedingungen vorstellbar ist und stellenweise auch schon praktiziert wird. Diese Varianten sind zu sehen vor dem Hintergrund des klassischen Modells von Krankenhausseelsorge, wonach die Kirchen – grundgesetzlich garan356 357

Haart 2008, 45. Vgl. dazu ausführlicher Michael Klessmann, Heilsamer Glaube?! Über den Zusammenhang von Religiosität, Seelsorge und Heilung, Beiheft 2007 zur BThZ 24, 130–148.

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XIV Pastorale Identität im Krankenhaus

tiert – in den Einrichtungen des Gesundheitswesens Seelsorge anbieten. Eine Verhältnisbestimmung von Kirche und Krankenhaus wird in diesem klassischen Modell nicht gegeben. 1. Seelsorge kann sich stärker dem medizinisch-pflegerischen Behandlungsteam zuordnen. Ausgangspunkt für dieses Modell ist eine anthropologische Begründung: In der Krise einer Krankheit haben Menschen verstärkt religiöse oder spirituelle Bedürfnisse, fragen nach dem Sinn ihre Lebens und Leidens, sie suchen Orientierung und Trost; da gehört es zu einer ganzheitlichen Behandlung, dass die Institution auf diese Bedürfnisse angemessen zu antworten sucht und eben deswegen Seelsorge oder spirituelle Begleitung anbietet. Dieses Angebot muss dann nicht mehr von den Kirchen ins Krankenhaus getragen werden, es kann auch vom Krankenhaus selber gewollt und entsprechend installiert werden. So gesehen wird Seelsorge Teil des Behandlungsteams und arbeitet mit an der Erfolgsorientierung des Hauses. Das kann sich etwa darin konkretisieren, dass die Seelsorgenden Einträge in die Krankenakte vornehmen, regelmäßig an Teamsitzungen teilnehmen, Seelsorgepläne entwerfen, die mit dem medizinisch-pflegerischen Team abgestimmt werden etc. Umgekehrt unterstützt die Leitung des Hauses die Seelsorge und nimmt sie in ihre Werbung auf. Einerseits erscheint mir eine solche Zuordnung der Seelsorge zum medizinisch-pflegerischen Behandlungsteam in hohem Maß sinnvoll und wünschenswert. Das vielbeschworene Ziel einer ganzheitlichen Krankenbehandlung lässt sich angesichts der Spezialisierung der Disziplinen heutzutage nicht mehr durch eine oder einige wenige Personen gewährleisten; Ganzheitlichkeit ist nur im interdisziplinären Team realisierbar. Insofern erscheint es wünschenswert, dass Seelsorge im Krankenhaus ihre Möglichkeiten, Lebensfragen und Sinnfragen zu bearbeiten, und religiöse bzw. spirituelle Angebote zu machen, in ein multidisziplinäres Team regelmäßig und kontinuierlich einbringen kann und nicht, wie das früher häufig der Fall war und gelegentlich immer noch ist, separat und isoliert als Fremdkörper in der Institution ihre Arbeit tut. Aber diese Zuordnung hat natürlich eine Kehrseite, die es unbedingt wahrzunehmen gilt: Es droht, dass Seelsorge funktionalisiert wird, eingeschränkt wird auf die Funktion der religiösen Begleitung, der Sterbebegleitung, vielleicht auch noch der Begleitung derer, mit denen das Personal sonst schwer zurecht kommt. Sie wird vereinnahmt in das erfolgsund leistungsorientierte Denken der Klinik, sie bedient Nachfragen nach spiritueller Wellness, erscheint als solche im Hochglanzprospekt der Klinik – und verliert darüber möglicherweise ihre kritische und eigenständige Ausrichtung, ihre prophetischen Möglichkeiten, die sie auf der Basis der biblisch-christlichen Tradition hat und haben muss.

3. Professionelle (strukturelle) Identität der Seelsorge

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Es gibt angesichts dieses Dilemmas keine einfache Antwort: Um die kritische Stimme der Seelsorge überhaupt zu Gehör bringen zu können, ist ein gewisses Maß an Einbindung und Anpassung an die Logik der naturwissenschaftlich-technischen Institution unabdingbar. Man muss die Betriebsabläufe, ihre Logik und die damit für das Personal verbundenen Zwänge kennen, man muss die Sprache der Institution und ihrer Abteilungen verstehen können, um sich überhaupt sinnvoll an einem interdisziplinären Dialog beteiligen zu können. Wer im Status des Gastes, des Fremdlings bleibt, findet keine Aufmerksamkeit und kann auch nichts anstoßen. 2. Ein zweites Modell, das zunächst von Alfred Jäger propagiert worden ist, ordnet die Seelsorge dem betriebswirtschaftlichen Management zu. Vor allem in kirchlich-diakonischen Häusern wächst wieder die Neigung, Seelsorge in die Klinikleitung einzubinden, sie an Organisationsentwicklungsprogrammen, Qualitätssicherungsmaßnahmen und Ethikkommissionen zu beteiligen. Wo das geschieht, verändert sich – ausgesprochen und unausgesprochen – die Funktion der Seelsorge. Nach Jäger ist das eine geplante, gewollte Veränderung: »Seelsorge ist Hege und Pflege der Seele und des Geistes, der Ethik und der Kultur, der Spiritualität und Religiosität des diakonischen Unternehmens.« Jetzt ist es eindeutig die Klinik selbst, die den Auftrag zur Seelsorge erteilt: Der Seelsorger »handelt … im Auftrag der Geschäftsführung und wird einem passenden Controlling unterstellt«.358 Christoph Schneider-Harpprecht hat dieses Seelsorgekonzept gegenüber Jäger weiterentwickelt. Er möchte eine Seelsorgestruktur aufbauen, die sowohl dem christlichen Auftrag gerecht wird als auch »vom Unternehmen Krankenhaus als notwendiger Dienst, der den Unternehmenszielen entspricht, anerkannt, organisatorisch integriert, entwickelt und finanziert wird«.359 Eine so verstandene Seelsorge kann und soll einen wesentlichen Beitrag zu einer heilenden Kultur im Krankenhaus leisten. Ihr Konzept wird in der Unternehmensverfassung verankert und insofern von der Mitarbeiterschaft mit getragen. Konkret könnte das so aussehen, dass in der Klinik eine Fachgruppe »Krankenhausseelsorge« gegründet wird, eine Art von Fachpresbyterium, in dem Personen aus verschiedenen Bereichen der Klinik, aus Gemeinden und Selbsthilfegruppen vertreten sind. Sie entwickeln mit der Seelsorge zusammen ein Konzept für die seelsorgliche Arbeit in der Klinik. »Die Umsetzung des Konzepts erfolgt stufenweise nach einem Zeitplan auf der Grundlage von situationsbezogenen Zielvereinbarungen (Globalziele, Rahmenziele, 358 359

Alfred Jäger, zitiert nach Haart 2008, 50 und 51. Christoph Schneider-Harpprecht, Das Profil der Seelsorge im Unternehmen Krankenhaus, WzM 54, 2002, 426.

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XIV Pastorale Identität im Krankenhaus

operationale Ziele), aus denen ein fest umrissener Katalog von Aufgaben und Projekten abgeleitet wird, für die Arbeitsgruppen oder einzelne Mitarbeiter die Verantwortung übernehmen. Verfahrensweisen der Evaluation und Qualitätsprüfung werden entwickelt, mit der Geschäftsleitung abgesprochen und in regelmäßigen Abständen realisiert. Die Ergebnisse werden öffentlich zugänglich gemacht.«360 Und man müsste hinzufügen: Die Seelsorgenden müssen ihre tatsächliche Arbeit immer wieder daran messen lassen. Die Stärken dieser beiden Ansätze sind darin zu sehen, dass Seelsorge in die Organisation eingebunden wird, einen relativ hohen Grad an Verbindlichkeit gewinnt und aus ihrer frei flottierenden, häufig beliebigen und von den jeweiligen zufälligen Kompetenzen und Vorlieben der Stelleninhaber abhängigen Stellung im »Zwischenraum« (Klessmann) herauskommt. Es gibt jedoch eine Reihe kritischer Anfragen: Wie ist ein solches Konzept angesichts der realen Personalsituation der Krankenhausseelsorge in deutschen Kliniken überhaupt umzusetzen? Besteht nicht die Gefahr, dass die Seelsorgeperson ihre Arbeitszeit vorwiegend mit Gremiensitzungen verbringt und kaum noch Zeit für Patientenbesuche und Mitarbeitendenseelsorge hat? Konkret: Wenn es in einem Haus in diakonischer Trägerschaft mit etwa 400 Betten, zwei Intensivstationen, zwei onkologischen Stationen und einer Palliativstation eine Stelle für evangelische und eine für katholische Krankenhausseelsorge gibt, erübrigt es sich m.E., die Konzepte von Jäger und Schneider-Harpprecht umzusetzen, weil unter solchen Bedingungen die nach wie vor vorrangige Aufgabe der Patientenbegleitung kaum noch möglich wäre. Andererseits: Wäre an Hand eines bestimmten Konzepts der Krankenhausträger für die Refinanzierung einer halben Stelle zu gewinnen? Sind solche Initiativen schon genügend ausgelotet? – Was geschieht mit der Unabhängigkeit, dem christlichen Profil, der Krankenhausseelsorge, wenn eine Stelle zu 50 oder gar 100 % von einem säkularen Träger refinanziert wird? Wie verhalten sich Bindung an die Kirche (etwa in Gestalt des Ordinationsgelübdes) zur Bindung an den Anstellungsträger? Hat eine Krankenhausverwaltung dieselben Zielvorstellungen von Seelsorge, dieselben Qualitätsmaßstäbe von Seelsorge wie die VertreterInnen der Krankenhausseelsorge? Wer entscheidet bei diesbezüglichen Konflikten? – Wieso sollte die Geschäftsleitung eines Krankenhauses längerfristig ein Interesse daran haben, den christlichen Auftrag zur Krankenhausseelsorge zu wahren und zu unterstützen? Müsste sie nicht –



360

Schneider-Harpprecht, ebd., 433f.

3. Professionelle (strukturelle) Identität der Seelsorge



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angesichts der wachsenden Religionspluralität in unserem Land – vielmehr das Anliegen vertreten, eine Form von Konfessionsübergreifender, vielleicht sogar Religionsübergreifender spiritual care anzubieten? Was macht dann eine christliche Krankenhausseelsorge? Kann sie ein eigenes Profil verdeutlichen und gleichzeitig religionsund konfessionsplural arbeiten? Wie soll Krankenhausseelsorge ihre kritische, ihre prophetische Aufgabe realisieren, wenn sie zugleich Teil der Organisation ist? Es besteht zumindest die Gefahr, dass der Funktionszuwachs, den Seelsorge mit dieser Einbindung in die Organisation bekommt, bezahlt wird mit einem Verlust an inhaltlichem Profil.

Beide Konzepte, die Zuordnung der Seelsorge zum medizinischpflegerischen Behandlungsteam wie die Zuordnung zum betriebswirtschaftlichen Management und die Einbindung in die Organisation und ihre Unternehmensziele haben, wie gesagt, deutliche Stärken, aber eben auch Schwächen. Diejenigen, die Krankenhausseelsorge betreiben, müssen diese Stärken und Schwächen intensiv diskutieren, um zu einer Entscheidung für eine eigenständige Konzeptbildung zu kommen. Dazu trägt natürlich auch ihre eigene theologische Einstellung Entscheidendes bei. Wer Seelsorge stärker als eine Form der Verkündigung begreift, wird weniger an ihrer organisatorischen Einbindung interessiert sein, als jemand, der sie als therapeutisch qualifiziertes, spirituell ausgerichtetes Angebot versteht. Darüber hinaus: Eine solche Konzeptbildung ist natürlich nie nur Sache der einzelnen Betroffenen, sondern immer auch der Systeme, innerhalb derer Krankenhausseelsorge tätig wird. D.h. es ist zu berücksichtigen, was das System Kirche will und zur Verfügung stellt an Stellen und Geldmitteln und analog, was das System Krankenhaus will und via Refinanzierung zur Verfügung zu stellen bereit ist. Innerhalb der Rahmenbedingungen beider Systeme kann und muss dann eine entsprechende Konzeptbildung erfolgen. Insgesamt plädiere ich, ähnlich wie D. Haart, für eine diffizile Gratwanderung: Einerseits muss Seelsorge im System Krankenhaus eingebunden sein, um überhaupt Beachtung zu finden, andererseits muss sie ihre Fremdheit und Andersartigkeit behalten, um nicht vom System aufgesogen und damit letztlich neutralisiert zu werden. Ob diese Gratwanderung zwischen sich Einfügen und sich Abgrenzen, zwischen Anpassung und Fremdheit strukturell zu lösen ist oder letztlich immer von den Personen zu leisten ist, die die Arbeit tun, ist schwer zu sagen. Man wird konzeptionelle Eckpunkte setzen müssen, die dann immer noch persönlich umgesetzt werden müssen. Die Leitlinien für die evangelische

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XIV Pastorale Identität im Krankenhaus

Krankenhausseelsorge zumindest betonen die Notwendigkeit der »institutionellen Eigenständigkeit«,361 die Chancen der Unabhängigkeit. Offenbar kommen wir aus solchen Dilemmata nicht heraus – aber das macht das Leben und Arbeiten auch spannend.

361

Die Kraft zum Menschsein stärken. Leitlinien für die evangelische Krankenhausseelsorge, hg. vom Kirchenamt der EKD, Hannover 2004, 19.

XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?362 Neue Akzente in einem alten Diskurs 1. Einleitung: Die veränderte Diskussionslage Das Thema Religion hat die Psychoanalyse immer beschäftigt, weil sie von Anfang an beansprucht hat, die Kultur des Menschen zu verstehen und zu analysieren. Insofern war Religion als kulturelles Phänomen immer ein wichtiges Thema der Psychoanalyse wie der anderen Therapieschulen. Lange Zeit war die Freud’sche Religionskritik Grundlage der Einstellung vieler Therapeuten, neuerdings zeigen sich deutlich veränderte Akzente, obwohl die psychoanalytische Theorie selbst schon seit Jahrzehnten auch andere Ansatzpunkte bietet. Diese Entwicklungslinie will ich versuchen, in der gebotenen Kürze und natürlich sehr selektiv nachzuzeichnen. Ein paar Eindrücke der veränderten Diskussionslage: In einem Tagungsband zum Thema »Psychoanalyse und Religion« aus dem Jahr 2000 resümiert Otto Kernberg, damals Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung: Neuere psychoanalytische Untersuchungen haben dazu beigetragen, »unser Verständnis von Religiosität mit all ihren Komponenten wie Mitgefühl, Anteilnahme, Schuld, Wiedergutmachung, einem gefestigten System ethischer Grundsätze als Zeichen einer normalen (Sperrung von M.K.) Über-Ich-Entwicklung unter der Vorherrschaft von Liebe und Verpflichtung wesentlich zu erweitern«.363 Angesichts wachsender bösartig-regressiver Tendenzen moderner Gesellschaften sei Religion als universal gültiges ethisches Wertsystem ein wesentliches Gegengewicht. Damit verfehlt Kernberg zwar das Selbstverständnis der meisten Religionen – sie begreifen sich nicht vorrangig als ethische Wertsysteme – trotzdem wird damit gleichsam offiziell eine Kursänderung der Psychoanalyse gegenüber dem Thema Religion annonciert. Wenige Jahre später erschien ein Buch von Tilman Moser mit dem bemerkenswerten Titel: Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott (2003). Nach der heftigen Anklage von 1976 erscheint nun Gott hier wenigstens erträglich, nicht mehr nur als neurotisierende Instanz. In 362 363

Vortrag vor Krankenhausseelsorgenden in Würzburg am 13.1.2010. Otto Kernberg, Einige Überlegungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Religion, in: Markus Basler, Psychoanalyse und Religion. Versuch einer Vermittlung, Stuttgart 2000, 123.

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XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?

einigen Fallschilderungen wird deutlich, dass Moser durchaus produktiv mit den Gottes- oder Glaubensvorstellungen seiner Patienten arbeitet und das Potential zur Lebensbewältigung darin erkennt. Im Editorial eines Sonderheftes der Zeitschrift PSYCHE zum Thema »Religion, Religiosität, Gewalt« von 2009 heißt es, das Thema habe bis in die 1980er Jahre als Relikt einer überholten Zeit gegolten, finde nun aber wieder mehr Aufmerksamkeit und Interesse. Allerdings beschäftigt sich das Heft dann doch wieder fast ausschließlich mit den pathologischen Formen von Religion, eben mit ihrer Tendenz zur Gewalt, mit Fundamentalismus etc. Die veränderte Diskussionslage hat natürlich zu tun mit dem, was man inzwischen »Wiederkehr der Religion« nennt bzw. mit der Wiederentdeckung von Spiritualität. Diese Wiederkehr hat damit zu tun, dass die bisher akzeptierten Säkularisierungsthesen offenkundig falsch waren. Die Säkularisierungsthese behauptete, dass Religion angesichts der zunehmenden wissenschaftlichen Durchdringung der Welt- und Lebenszusammenhänge irgendwann einfach versickern wird, überflüssig sein wird. Man brauche die Hypothese Gott nicht mehr, um die Welt zu erklären. Der Prozess der Säkularisierung ist nach wie vor ein mächtige kultureller Faktor (siehe die Bücher von Dawkins u.a.), aber es ist eben nicht eingetreten, dass Religion bzw. Religiosität verschwinden. Beide Trends bestehen offenbar nebeneinander. Im Weltmaßstab boomt Religion (Islam, christlicher Fundamentalismus in Afrika und Südamerika), aber auch im säkularen Westen (Europa, USA) ist ein neues Interesse an Religion/Spiritualität entstanden, das nicht mehr an der Religionskritik von Marx und Freud orientiert ist. Eine solche Religion/Religiosität – verstanden als eine Weltsicht, die mit der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz operiert, die nach einem Letztgültigen fragt, nach einem Heiligen, das uns trägt und bedroht – geht an den etablierten großen Kirchen vorbei, es ist ein Patchwork aus traditionell christlichen Elementen, aus anderen Religionen, aus Psychotherapie und Esoterik. So gesehen erscheint die sog. »Wiederkehr von Religion« als ein mächtiger kultureller Prozess, der natürlich auch seine Auswirkungen auf die Psychotherapie hat. Ich erinnere kurz an ein paar Entwicklungen im Bereich der Psychoanalyse/Tiefenpsychologie: 2. Freud: Religion als frühkindliche Sehnsucht nach dem Vater Religion ist für Freud eine der hervorragendsten kulturellen Gestaltungen, mit deren Hilfe der Mensch seine Angst vor der eigenen Abhängig-

2. Freud: Religion als frühkindliche Sehnsucht nach dem Vater

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keit und Hilflosigkeit zu kompensieren sucht. So unterschiedliche Ansätze zum Verstehen von Religion Freud im Lauf seines Lebens entwickelt hat – Religion als Zerrbild einer Zwangsneurose, Religion als ritualisierte Sühne für die in Urzeiten begangene Schuld des Vatermordes, Religion als aus Wunschdenken abgeleitete Illusion – sie konvergieren m.E. im Regressionsvorwurf. Angesichts des Schicksals, der Unabwendbarkeit von Leiden und Tod, der Konflikte mit anderen Menschen und der Umwelt und der Entbehrungen, die jede Kultur fordert, erfährt sich der Mensch letztlich als hilflos; diese Hilflosigkeit reaktiviert die frühkindliche Vatersehnsucht. Gott und die Gottesbilder, die wir mit uns herumtragen, sind ein Produkt dieser Sehnsucht: »So wird ein Schatz an Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts. Es ist deutlich, daß dieser Besitz den Menschen nach zwei Richtungen beschützt, gegen die Gefahren der Natur und des Schicksals und gegen die Schädigungen aus der menschlichen Gesellschaft selbst. Im Zusammenhang lautet es: das Leben in dieser Welt dient einem höheren Zweck ... Alles, was in dieser Welt vor sich geht, ist Ausführung der Absichten einer uns überlegenen Intelligenz, die, wenn auch auf schwer zu verfolgenden Wegen und Umwegen, schließlich alles zum Guten, d.h. für uns Erfreulichen lenkt ...«364 Die Vorstellung von Gott als dem übergroßen Vater bewirkt auf der Seite des Menschen: Rückgang in eine kindliche Position, Verhinderung des Erwachsenwerdens, Welt- und Lebensbewältigung auf der Basis der »ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit«,365 Hemmung eines kritischen Denkens. So versteht Freud die Religion; und er sieht ihre Gefahr darin, dass sie die Menschen davon abhält, alle Energien in die Gestaltung ihrer gegenwärtigen Welt zu investieren. In gut Feuerbachscher Manier sagt er: »Es macht schon etwas aus, wenn man weiß, daß man auf seine eigene Kraft angewiesen ist. Man lernt dann, sie richtig zu gebrauchen ... Dadurch, daß er (sc.: der Mensch, M.K.) seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzentriert, wird er wahrscheinlich erreichen können, daß das Leben für alle erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdrückt.«366 Freuds Ziel in der Bearbeitung religiöser Phänomene beschreibt er so: 364

Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), St.A. Bd. IX, Frankfurt a.M. 1974, 152f. 365 Ebd., 164. 366 Ebd., 183.

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XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?

»Ich widerspreche Ihnen also, wenn Sie weiter folgern, daß der Mensch überhaupt den Trost einer religiösen Illusion nicht entbehren kann, daß er ohne sie die Schwere des Lebens, die grausame Wirklichkeit nicht ertragen würde. Ja, der Mensch nicht, dem Sie das süße – oder bittersüße – Gift von Kindheit an eingeflößt haben. Aber der andere, der nüchtern aufgezogen wurde? Vielleicht braucht der, der nicht an der Neurose leidet, auch keine Intoxikation, um sie zu betäuben. Gewiß wird der Mensch sich dann in einer schwierigen Situation befinden, er wird sich seine ganze Hilflosigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingestehen müssen, nicht mehr der Mittelpunkt der Schöpfung, nicht mehr das Objekt zärtlicher Fürsorge einer gütigen Vorsehung. Er wird in derselben Lage sein, wie das Kind, welches das Vaterhaus verlassen hat, in dem es ihm so warm und behaglich war. Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muß endlich hinaus ins »feindliche Leben«. Man darf das »die Erziehung zur Realität« heißen, brauche ich ihnen noch zu verraten, daß es die einzige Absicht meiner Schrift ist, auf die Notwendigkeit dieses Fortschritts aufmerksam zu machen?«367 Dass Religion/Religiosität regressiv-neurotisierende Wirkungen haben kann, ist nicht zu bestreiten. Helmut Hark schreibt: »In meiner therapeutischen Arbeit erlebe ich häufig, dass Menschen mit einer strengen religiösen Sozialisation und einer einengenden kirchlichen Bindung in dem Käfig ihrer Ängste und in dem Netzwerk ihrer Zwänge oder Depressionen so stark gefangen sind, daß sie kaum oder nur sehr schwer Zugang finden zu den heilenden Kräften und positiven Lebensenergien im Gottesbild.«368 Ein Beispiel für die möglichen neurotisierenden Wirkungen eines für pädagogische und moralische Zwecke missbrauchten Gottesbildes gibt Tilman Moser in seinem Buch »Gottesvergiftung«. Er schreibt in direkter Anrede an Gott: »Du warst einst so fürchterlich real, neben Vater und Mutter die wichtigste Figur in meinem Kinderleben ... Ein Teil meines Hasses auf meine Familie rührt daher, dass sie mir die Gotteskrankheit eingegeben hat. Du wurdest mir eingeträufelt, kaum dass die ersten Zeichen der Empfänglichkeit, der Verwundbarkeit sichtbar wurden ... Aber weißt du, was das Schlimmste ist, das sie mir über dich erzählt haben? Es ist 367 368

Ebd., 182f. Helmut Hark, Religiöse Neurosen. Neurotisierung durch angstmachende Gotttesbilder, in: Gunther Klosinski, Religion als Chance und Risiko, Bern/Göttingen 1994, 151. Außerdem Helmut Jaschke, Dunkle Gottesbilder. Therapeutische Wege der Heilung, Freiburg 1992.

3. C.G. Jung: Gott als unmittelbare Erfahrung

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die tückisch ausgestreute Überzeugung, dass du alles hörst und siehst und auch die geheimen Gedanken erkennen kannst. Hier hakte es sehr früh aus mit der Menschenwürde; doch dies ist ein Begriff der Erwachsenenwelt. In der Kinderwelt sieht das dann so aus, dass man sich elend fühlt, weil du einem lauernd und ohne Pausen des Erbarmens zusiehst und zuhörst und mit Gedankenlesen beschäftigt bist. Vorübergehend mag es gelingen, lauter Sachen zu denken oder zu tun, die dich erfreuen, oder die dich zumindest milde stimmen. Ganz wahllos fallen mir ein paar Sachen ein, die dich traurig gemacht haben, und das war ja immer das Schlimmste: dich traurig machen – ja, die ganze Last der Sorge um dein Befinden lag beständig auf mir, du kränkbare, empfindliche Person, die schon depressiv zu werden drohte, wenn ich mir die Zähne nicht geputzt hatte. Also: Hosen zerreißen hat dir nicht gepaßt; im Kindergarten mit den anderen Buben im hohen Bogen an die Wand pinkeln, hat dir nicht gepaßt, obwohl gerade das ohne dich ein eher festliches Gefühl hätte vermitteln können; die Mädchen an den Haaren ziehen, hat dich verstimmt; an den Pimmel fassen hat dich vergrämt; die Mutter anschwindeln, was manchmal lebensnotwendig war, hat dir tagelang Kummer gemacht; den Brüdern ein Bein stellen brachte tiefe Sorgenfalten in dein sogenanntes Antlitz ... Du als Krankheit in mir bist eine Normenkrankheit, eine Krankheit der unerfüllbaren Normen, die Krankheit des Angewiesenseins auf deine Gnade ...«369 Dass aber Gottesbilder auch tröstende, stabilisierende Wirkungen in einem nichtpathologischen Sinn haben können, wird dabei übersehen. Religion erscheint nur noch neurotisierend, ist nichts als Neurose. 3. C.G. Jung: Gott als unmittelbare Erfahrung Interessanterweise war C.G. Jungs Einstellung zur Religion von Anfang an sehr anders. Religion spielt für Jung eine wichtige Rolle im Prozess der Individuation. Jungs Werk ist von großem Interesse und sensibler Offenheit gegenüber allen religiösen Phänomenen durchzogen. In einem Brief von 1952 heißt es: »Ich finde, daß alle meine Gedanken um Gott kreisen wie die Planeten um die Sonne und wie diese von Ihm als der Sonne unwiderstehlich angezogen sind.«370 Seine Träume aus der Kinder- und Jugendzeit sind voll von religionsgeschichtlich hoch interessantem Material, so dass er rückblickend sagt: »Meine ganze Jugend kann unter dem Begriff des Geheimnisses verstanden werden«;371 und wenig 369 370

Tilman Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt a.M. 1976, 9ff. C.G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, hg. von Aniela Jaffe, Zürich/Stuttgart 1963, 6. 371 Ebd., 47.

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XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?

später den Schlüsselsatz: »Damals wurde es mir plötzlich klar, daß Gott, für mich wenigstens, eine der allersichersten, unmittelbaren Erfahrungen war.«372 Es geht Jung um unmittelbare, direkte, emotional anrührende Gotteserfahrungen; in der Theologie seines Vaters und der damaligen Kirche überhaupt sieht er diesen unmittelbaren Zugang gerade verstellt statt eröffnet. Ein solches religiöses Erfahren erscheint ihm nur als »participation mystique« möglich: innerlich, ganz innig, durch Worte nicht ausdrückbar, ein nur spürbares, geheimnisvolles Ergriffensein. Für Jung ist auch klar, dass Gott durchaus nicht nur lieb, sondern auch furchtbar ist. Er schreibt: »Gott allein war wirklich – ein verheerendes Feuer und eine unbeschreibliche Gnade.«373 Jung spricht von einer »Gotteswelt«, die immer wieder in seinen Alltag einbricht: »Der Ausdruck ›Gotteswelt‹, der für gewisse Ohren sentimentalisch klingt, hatte für mich keineswegs diesen Charakter. Zur ›Gotteswelt‹ gehörte alles ›Übermenschliche‹, blendendes Licht, Finsternis des Abgrunds, die kalte Apathie des Grenzenlosen in Zeit und Raum und das unheimlich Groteske der irrationalen Zufallswelt. ›Gott‹ war für mich alles, nur nicht erbaulich.«374 Orte religiöser Erfahrung sind im kollektiven Unbewussten, in den Archetypen zu finden. Das kollektive Unbewusste bringt spontan Bilder religiösen Inhalts hervor. Die Archetypen verweisen darauf – durch ihre Inhalte und durch die Art, wie sie wirken – dass es etwas Numinoses gibt in jedem Leben, eine überwältigende Macht, von der der Mensch ergriffen wird, ob er will oder nicht. Als Psychologe kann Jung wiederum nur sagen, dass den Archetypen »ein bewußtseinstranszendentes Etwas« zugrunde liegt. Die Psychologie will dem Menschen die Kunst des Sehens beibringen, damit er offen wird für die Bilder aus dem Unbewussten und die Botschaften, die sie ihm mitteilen wollen und können, sie will mögliche Hindernisse (z.B. eine vorwiegend rational ausgerichtete Lebenseinstellung) aus dem Weg räumen. Vor diesem Hintergrund ist der häufig zitierte und ebenso häufig missverstandene Satz Jungs zu hören: »Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heißt jenseits der 35, ist nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, daß er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht,

372 373 374

Ebd., 67. Ebd., 61. Ebd., 77.

4. Religion als Erbe des primären Narzissmus

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was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat.«375 Das Ziel der Jungianischen Psychotherapie, die Individuation, die Selbstwerdung ist letztlich auch ein religiöses Ziel, denn in der Begegnung und Auseinandersetzung mit den Symbolen und Archetypen begegnet das Numinose, das Heilige, das Geheimnis, ›Gott‹. Zwar bewahren die Konfessionen mit ihren Dogmen und Ritualen die ursprünglichen Gehalte religiöser Erfahrung in verdichteter Form auf; sie haben jedoch kaum noch Wirksamkeit. Es wird von Gott gesprochen, aber er wird nicht innen erfahren; Christus ist zum ethischen Vorbild geworden, zu einem Kultobjekt, das aber nicht mehr die Tiefen der Seele erreicht. Erst im Prozess der Individuation kommen Äußeres und Inneres wieder zusammen: Seelische Ganzheit zu finden, ist eine religiöse UrErfahrung. Christus ist der Archetyp des wahren Menschen in doppelter Hinsicht: Zum einen ist in seiner historischen Person dieser Archetyp konkret-lebendig geworden, zum anderen zeigt sich in seinem Bild das Bild der ursprünglich mit der Schöpfung angelegten Ganzheit des Menschen. »Das Ziel der psychologischen Entwicklung ist, wie das der biologischen, die Selbstverwirklichung resp. die Individuation. Da der Mensch sich nur als ein Ich kennt, und das Selbst als Totalität unbeschreibbar und ununterscheidbar von einem Gottesbild ist, so bedeutet die Selbstverwirklichung in religiös-metaphysischer Sprache die Inkarnation Gottes.«376 Man könnte mit Jung auch sagen: Der Archetypus Gott oder Christus ist die psychische Entsprechung, der »Abdruck Gottes« in der Seele. 4. Religion als Erbe des primären Narzissmus Mit dem Begriff Narzissmus hatte schon Freud die früheste Beziehungsform zwischen Mutter und Säugling bezeichnet: die Annahme, dass sich das Kind – gewissermaßen in Fortsetzung der intrauterinen Existenz – wenigstens für kurze Zeiten als Teil einer grenzenlosen, beseligenden Einheit mit der Mutter erlebt, und auf diese Weise die Angst und Wut über die immer wieder bedrohlich einbrechende Realität abwehren kann. Die Freud-Schülerin Lou Andreas-Salome hat diesen symbiotischen Zustand als »Urerlebnis der Allteilhaftigkeit«, des Grenzenlosen, der 375

Jung, Die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge, (1932). Abgedruckt in Volker Läpple / Joachim Scharfenberg (Hg.), Psychotherapie und Seelsorge, Darmstadt 1977, 182. 376 Christoph Kolbe, Heilung oder Hindernis. Religion bei Freud, Adler, Fromm, Jung und Frankl, Stuttgart 1986, 189.

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XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?

kosmischen Harmonie bezeichnet.377 Das Kind fantasiert sich als riesig, allmächtig und unverletzlich und vermag dadurch zeitweise die tatsächlich erlebte Ohnmacht und Winzigkeit zu kompensieren. In diesem immer wieder erneuerten Urerlebnis wurzelt die Konstitution des Selbst. Hier entsteht durch den »Glanz in den Augen der Mutter«, in dem sich das Kind spiegelt, »die unverbrüchliche Überzeugung, liebenswert und liebesfähig zu sein«378 – oder, wo jenes empathische Milieu fehlt, die beständige Unsicherheit und Angst um sich selbst, das Gefühl von Leere, Sinnlosigkeit und zielloser Wut. Verschiedene Psychoanalytiker haben die Religion als »Erbe des primären Narzißmus« bezeichnet: »Gottesvorstellung und religiöser Glaube sind somit eine Möglichkeit des Menschen, unabhängig von seinen Beziehungen zu den realen Objekten und ohne diese Beziehungen zu gefährden, die im primären Narzißmus wurzelnde Gewißheit zu bewahren, mit dem Urgrund des Lebens verbunden, trotz Trennung und Individuation ›heil‹ und ganz zu bleiben.«379 Durch die frühkindliche Erfahrung des primären Narzissmus ist eine Erlebnismöglichkeit angelegt, die in der Religion auf doppelte Weise wiederbelebt werden kann: Zum einen ist es die regressive Sehnsucht nach dem Einswerden, nach dem Verschmelzen mit dem Grund des Seins; in allen mystischen Traditionen von Religion kommt diese Sehnsucht zum Tragen. Dadurch erhält mystische Religiosität ihre intensive Gefühlsqualität, dadurch steht sie aber auch immer in der Gefahr, der Auseinandersetzung mit der Realität auszuweichen.380 Zum anderen und zugleich ist eben dies aber auch eine progressive Sehnsucht, die sich mit der dieser Sehnsucht entgegenstehenden Realität gerade nicht abfindet, sondern sie aufzusprengen sucht; die der Realität gerade nicht das letzte Wort einräumt, sondern sich einem größeren Horizont öffnet. Religion beerbt die narzisstische Erlebnismöglichkeit und wendet sie gleichzeitig ins Grundsätzliche und Schrankenlose: Während die Möglichkeiten der Eltern, Liebe, Geborgenheit und Sicherheit anzubieten, notwendig begrenzt und fragmentarisch sind, bekennt der religiöse Glaube die Vollkommenheit und Unbegrenztheit der religiösen Beziehung, die von Gottes Liebe ausgeht. Aus psychoanalytischer Perspektive ist also wichtig für das Entstehen von Religion, dass in der frühen Lebenserfahrung eine narzisstische Erlebnismöglichkeit, ein psychologisch beschreibbarer »Anknüpfungs377

Zitiert bei Heinz Henseler, Religion – Illusion? Eine psychoanalytische Deutung, Göttingen 1995, 131. 378 Ebd., 142. 379 Heinz Müller-Pozzi, Gott – Erbe des verlorenen Paradieses, WzM 33 (1981), 197. 380 Man denke nur an das »ozeanische Gefühl«, von dem Romain Rolland an Freud geschrieben hatte und das Freud in sich nicht entdecken konnte. Vgl. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), St.A. IX, Frankfurt a.M. 1974, 197f.

4. Religion als Erbe des primären Narzissmus

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punkt«, grundgelegt wird. Sozialisatorische und therapeutisch-seelsorgliche Bemühungen können hier ansetzen, indem sie Ansätze zur Nachsozialisation anbieten und darin die Grundstruktur noch einmal erlebbar machen: Das Selbst in seiner Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit konstituiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern wächst aus einer empathisch umgebenden Umwelt. Die narzisstische Perspektive hat noch eine zweite Seite: Heinz Kohut weist darauf hin, dass die Lebensaufgabe eines jeden Menschen darin besteht, jene primärnarzisstischen Illusionen von der eigenen Größe und Unverletzlichkeit langsam zurückzunehmen und umzuwandeln in einen sogenannten gereiften Narzissmus, der sich vor allem in einer stabilen Selbstliebe äußert. Mit dem Wachsen einer solchen Selbstliebe nimmt auch die Fähigkeit zu, andere zu lieben, Liebe zu geben; es nimmt die Fähigkeit zu, Kreativität zu entwickeln und die eigene Person mit einem gewissen Humor in ihrer Endlichkeit und Begrenztheit wahrzunehmen.381 Wo das nicht geschieht, bleibt eine lebenslange hohe Kränkungsanfälligkeit und das dauernde Bestreben, sich über Bestätigung von außen selbst zu stabilisieren. Fritz Meerwein hat in diesem Kontext die Frage gestellt, ob eine solche Zurücknahme und umwandelnde Verinnerlichung narzisstischer Allmachtsvorstellungen überhaupt vollständig möglich ist, ob nicht Externalisierungen des narzisstisch besetzten Ich-Ideals notwendig und hilfreich sind. »Es könnte sich zeigen, dass im Wort ›Gott‹ eben gerade die nichtintrojizierbaren oder sekundär externalisierten Aspekte der Elternimago enthalten sind. Nicht introjizierbar, weil die Verwirklichung eines prometheischen Ideals ... nur um den Preis einer völligen Unterwerfung der psychischen Funktionen unter das Primat des Ich-Ideals denkbar ist. Was wiederum nur möglich wäre ... wenn sekundär narzisstische Prozesse psychotischen Ausmaßes einsetzen würden.«382 Anders gesagt: Der Glaube an Gott, an eine transzendenten Macht extra nos hätte die psychohygienische Funktion, die Menschen vor dem unbarmherzigen Diktat ihrer eigenen Größenvorstellungen und Ich-Ideale zu bewahren. Wo ein gereifter Narzissmus wachsen kann, hat er, theologisch gesehen, eine zweifache Konsequenz: 1. »Je sicherer ein Mensch sich seines eigenen Wertes ist, je gewisser er weiß, wer er ist ... umso mehr wird er mit Selbstvertrauen und Er381 382

Heinz Kohut, Narzißmus, Frankfurt a.M. 1976, 334ff. Fritz Meerwein, Neuere Überlegungen zur psychoanalytischen Religionspsychologie, in: 1977, 343–369, Zitat 352.

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XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?

folg in der Lage sein, Liebe zu geben.«383 Ein hinreichend geliebtes Selbst vermag wiederum zu lieben. Selbstliebe muss nicht abgewertet werden, Gottesliebe und Selbstliebe sind nicht als gegensätzlich und einander ausschließend zu begreifen, wie es gelegentlich in der christlichen Tradition dargestellt worden ist;384 vielmehr: Wer sich von der Liebe Gottes getragen weiß, kann sich in seinem brüchigen Selbst gestärkt und ermutigt erleben und von der empfangenen Liebe weitergeben. 2. Das Bekenntnis zu Gottes Allmacht und Vollkommenheit schließt ein, dass dem Menschen seine Endlichkeit und Begrenztheit vor Augen geführt wird. Die »narzißtische Gesellschaft«, wie sie Christopher Lasch, Horst Eberhard Richter u.a. beschrieben haben,385 vermeidet die Auseinandersetzung mit Endlichkeit und Begrenztheit, vermeidet die direkte Wahrnehmung von Leiden, Krankheit und Tod. Demgegenüber könnte eine Glaubenseinsicht, wie sie paradigmatisch in Pred 5,1 formuliert ist: »Gott ist im Himmel und du bist auf Erden«, dazu beitragen, dass eine Umformung zu einem solchen gereiften Narzissmus leichter geschehen kann – ein Prozess, der eine narzisstische Gesellschaft insgesamt wieder menschlicher werden lassen könnte. 5. Religion als Möglichkeitsraum Die Objekt-Beziehungstheorie hat die These entwickelt, dass jeder Mensch ein unstillbares Bedürfnis nach Beziehungen hat. Die frühen Beziehungen bilden sich als Repräsentanzen, als innere Objekte im Menschen ab und prägen das weitere Erleben und Verhalten. Hier gibt es einen Anknüpfungspunkt für das Gespräch zwischen Religion und Psychologie. Offenbar verbindet die Frage nach der Bedeutung von Beziehungen die psychologische und die religiöse Perspektive. »Religion hat immer die rettende Macht guter Objekt-Beziehungen vertreten«, schreibt Guntrip.386 Und Fairbairn sieht ein gemeinsames Interesse zwischen Religion und Psychoanalyse, wenn sie nach der Qualität von Beziehungen fragen, die gegeben sein muss, damit Menschen leben können. Der Mensch sucht tragfähige und liebevolle Beziehungen; was liegt näher als anzunehmen, dass er sie auch in einem absoluten und unver383 384

Kohut 1976, 335. Vgl. dazu Gunda Schneider-Flume, Narzissmus als theologisches Problem, ZThK 82 (1985), 90f mit Hinweis auf Kierkegaard und Nygren. 385 Christopher Lasch, The Culture of Narcissism, New York 1979; Horst Eberhard Richter, Der Gotteskomplex, Reinbek 1979. 386 Zitiert bei John McDargh, Psychoanalytic Object Relations Theory and the Study of Religion, Lanham / New York 1983, 207.

5. Religion als Möglichkeitsraum

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änderlichen Sinn im Geheimnis und Grund des Lebens sucht? Wie die Dynamik dieses Vorgangs genauer vorstellbar ist, haben seither Donald Winnicott, Ana-Maria Rizzuto und viele andere genauer zu beschreiben gesucht. Winnicott bringt Kunst und Religion mit einem spezifisch verstandenen Begriff der Illusion in Zusammenhang. Illusion bezieht sich auf eine Sicht der Wirklichkeit, die außen und innen zugleich ist, in mir und doch größer als ich, vorgefunden und zugleich erschaffen. Ein intermediärer Bereich, ein Möglichkeitsraum tut sich auf: Er hat die Qualität einer haltenden Umgebung (»holding environment«), bietet Sicherheit, Schutz und Vertrauen an und ermöglicht dadurch die Freiheit zu spielen und das »wahre Selbst« zu sein bzw. es wieder zu finden. Eine Patientin, die sich immer wieder bedeutungslos fühlt, sagt zu Winnicott im Verlauf ihrer Therapie: »Menschen benutzen Gott wie einen Analytiker – jemand der da ist, wenn man spielt.«387 Die Patientin hatte ihre bisherige religiöse Erziehung durch die Eltern als eine erlebt, die sich gegen ihr wahres Selbst richtet, die ihr Anpassung und Unterdrückung ihrer tatsächlichen Gefühle abverlangt; durch die Analyse eröffnet sich ihr eine Vorstellung von Gott, der sich von dieser bisherigen Erfahrung unterscheidet: Eine annehmende Beziehung zum Grund des Lebens, die es ermöglicht, zu spielen, d.h. ihr wahres Selbst kennen zu lernen und auszuprobieren. Religion mit ihren Ritualen und Geschichten ermöglicht ein vorübergehendes Eintauchen in den intermediären Bereich, in den »potential space«, der einerseits frühe Erfahrungen wiederbelebt und andererseits Zukunft und Transformation eröffnet. Auch Ana-Maria Rizzuto ist mit ihrem Buch »The Birth of the Living God«388 in diesem Zusammenhang zu erwähnen; sie hat in der Religions- und Pastoralpsychologie eine große Bedeutung gewonnen.389 Rizzutos Thesen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: – »Gott ist ein besonderer Typus von Objekt-Repräsentanz, die das Kind schafft in jenem psychischen Raum, in dem Übergangsobjekte ... ihr mächtiges, real-illusionäres Leben haben.«390 – Ein Kind findet und erschafft ein ganz persönlich geprägtes Bild Gottes, das sich zusammensetzt aus den bewussten und unbewussten Repräsentanzen des Selbst, der Eltern und signifikanter anderer. 387 388 389

Donald Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart1973, 74. Ana Maria Rizzuto, The Birth of the Living God, Chicago/London 1979. Vgl. Mark Finn / John Gartner (Hg.), Object Relations Theory and Religion, Westport/London 1992; Constanze Thierfelder, Gottes-Repräsentanz. Kritische Interpretation des religionspsychologischen Ansatzes von Ana-Maria Rizzuto, Stuttgart 1998; dies, Gott im Werden, IJPT 5 (2001), 227–248. 390 Rizzuto 1979, 177.

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XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?

»Kein Kind kommt zum ›Haus Gottes‹ ohne seinen ›Spielzeug-Gott‹ (›pet God‹) unter dem Arm.«391 Das Gottesbild ist zu Beginn und auch später teilweise bewusst und teilweise unbewusst. Veränderungen der Selbst- und Objektrepräsentanzen auf Grund von Entwicklungs-, Anpassungs- und Abwehrprozessen im Verlauf des Lebens verändern auch das Gottesbild. Gottesbilder sind also in der Regel nicht unveränderlich gegeben und statisch. Das so verstandene Gottesbild trägt seinerseits zum psychischen Funktionieren, zum psychischen Gleichgewicht bei. Das Gottesbild enthält körperlich-sensorische, emotionale und kognitive Dimensionen. Die körperlich-sensorische Dimension ist besonders wichtig; sie lässt sich mit E. Gendlin auch umschreiben als »felt sense«, als vorsprachliche, empfundene Bedeutung, die darauf drängt, sich in Metapher oder Symbol zu artikulieren.392 Im Unterschied zu anderen Übergangsobjekten verschwindet die Gottesrepräsentanz mit zunehmendem Alter nicht einfach; sie kann unterdrückt, transformiert oder auch genutzt werden, positiv wie negativ. Es liegen inzwischen viele Fallstudien vor, an Hand derer sich zeigen lässt, wie Gottesbilder konstruktiv-heilsame oder destruktive Wirkungen auf die Entwicklung des Selbstbildes eines Menschen haben,393 je nachdem, welche Elemente aus den Selbstund Objektrepräsentanzen sie bevorzugt aufnehmen. Wenn sich das Gottesbild mit der sonstigen Entwicklung der Person nicht verändert, wird es in der Regel irrelevant. Vor allem in Zeiten von Stress oder an Lebensübergängen tauchen verdrängte Teile eines Gottesbildes wieder auf; dann wird es wichtig, sich mit ihnen gezielt auseinander zu setzen.

Manche theologische Fragestellungen erscheinen aus der Sicht der Objekt-Beziehungs-Theorie in neuem Licht: Gott begegnet dem Menschen von außerhalb seiner selbst und zugleich wird er vom Menschen geschaffen durch die Bilder und Symbole, die wir uns notwendigerweise von ihm machen. Gott offenbart sich und zugleich ist unsere Annäherung an die Offenbarung immer und unvermeidlich zugleich unsere Projektion. Die Erfahrung von Gehalten- und Gegründet-Sein in einem Sein, das größer ist als man selbst, wird subjektiv wahrgenommen und höchst individuell zur Sprache gebracht. Insofern ist Gott beides zugleich, außen und innen, und die Kontroverse etwa zwischen dialektischer Theo391 392 393

Rizzuto 1979, 8. Dazu vgl. McDargh 1992, 1–19. Neben den Fallstudien von Rizzuto vgl. weitere Beispiele in dem Band von Finn/ Gartner 1992.

6. Konstruktivistisch-systemische Perspektiven: Gotteskonstrukte im sozialen System

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logie, die das extra nos Gottes betont, und der Mystik, die von der Erfahrung des »in nobis« spricht, könnte hier ihre Synthese finden. Ähnliches kann man vom Glauben sagen: Glaube wird theologisch verstanden als Geschenk Gottes, er kommt aus einer Quelle außerhalb unserer selbst (extra nos) und ist doch zugleich eigene Einstellung, Aktivität und Konstruktion (in nobis). Das, was dem Menschen aus der Offenbarung, aus der religiösen Tradition entgegenkommt und zum Glauben und Vertrauen einlädt, wird zugleich in höchst persönlichindividueller Weise angeeignet und umgeformt. Bilder und Symbole der Tradition werden sowohl gefunden als auch als »meine« Symbole, mit einer unverwechselbaren Gefühls- und Beziehungsqualität, neu geschaffen. Glaube verändert sich im Lebenslauf, im Zusammenhang mit wechselnden Beziehungs- und Umweltkonstellationen. Kommt es nicht zu solchen Veränderungen, wird Glaube zu einem bedeutungslosen Relikt. 6. Konstruktivistisch-systemische Perspektiven: Gotteskonstrukte im sozialen System Der Konstruktivismus eröffnet neue Perspektiven auf das Thema Religion. Menschen konstruieren ihre Wirklichkeit, auch ihre religiöse Wirklichkeit. Sie entwickeln im Lauf ihrer Sozialisation Gotteskonstrukte, die im individuellen und familiären System wirksam werden, man könnte auch sagen, Sinnannahmen über das, was unbedingt angeht, über eine letzte Wirklichkeit. Ob es hinter dem Konstrukt eine davon unabhängige Wirklichkeit gibt, wissen wir nicht. Ein moderater Konstruktivismus betont, dass wir über eine Wirklichkeit hinter unseren Konstrukten nichts wissen, radikale Konstruktivisten bestreiten eine solche Wirklichkeit – geraten damit aber in Konflikt mit ihren eigenen Grundannahmen. So wenig wie man die Existenz einer transzendenten Wirklichkeit grundsätzlich bestreiten kann, so wenig kann man sie grundsätzlich behaupten. Wir haben nur die Landkarten von unserer Welt, nicht die Landschaft selbst. (Das zu betonen ist so wichtig, weil natürlich auch die psychologischen Theorien von Religion im Bereich der Psychologie bleiben, qua Definition nichts über Transzendenz, Gott etc. als solche aussagen können und wollen. Aber auch eine psychologische Wertung kann abwertend oder aufwertend sein.) Von diesem Verständnis ausgehend kann man die Funktion von Religion in sozialen Systemen in den Blick nehmen – und hier ist die Ähnlichkeit zur Objektbeziehungstheorie relativ groß. Gotteskonstrukte entwickeln sich in tiefen emotionalen und vorsprachlichen Schichten der frühen Lebensjahre394 und auch später wandeln sich die Gotteskon394

Vgl. Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge, Stuttgart/Berlin 1999, 84.

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XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?

strukte im Zusammenspiel mit dem übrigen Beziehungsgeflecht eines Menschen. Anders gesagt: Gotteskonstrukte oder die Wahrnehmung einer Beziehung zu etwas Letztgültigem sind in typische Beziehungsund Konfliktmuster eingelagert, eins beeinflusst das andere mit (alles, was Teil des Systems ist, wirkt im System). Christoph Morgenthaler berichtet von der Beratung einer Theologiestudentin, die aus einer freikirchlichen Gemeinde kommt und unter einem strengen, Gehorsam fordernden Gottesbild leidet. Es stellt sich dann heraus, dass sie aus einem autoritären Elternhaus kommt und auch einen evangelikalen Freund hat, der ein traditionelles Frauenbild vertritt und von ihr Anpassung an diese Frauenrolle fordert. Interessanterweise beginnt der Beratungsprozess bei der Gottesbeziehung, sie entdeckt, was dieses Gottesbild mit ihr macht – und entdeckt dann eben auch, wie Gottesbild und Familienstruktur bzw. die Struktur ihrer Freundschaft korrespondieren und sich gegenseitig verstärken. Sie lernt im Gespräch mit dem Theologen, dass es auch ganz andere Gottesbilder gibt als das, was sie in der Freikirche verinnerlicht hat, sie trennt sich von dem Freund, tritt aus der evangelikalen Gemeinde aus und entwickelt ein freieres Leben. 7. Forschungen zum Zusammenhang von Religion und Gesundheit Andere Anstöße zum Thema Religion kommen aus den USA – und inzwischen auch aus Deutschland: Forschungen zum Zusammenhang von Religion und Gesundheit. »Über 1200 amerikanische Studien belegen, dass zwischen körperlicher Gesundheit und einem persönlichen Glauben ein positiver statistischer Zusammenhang besteht, den man kausal interpretieren kann. Das heißt: wer glaubt, ist gesünder, verfügt über mehr Bewältigungsstrategien und genießt eine höhere Lebenszufriedenheit und sogar eine höhere Lebenserwartung.«395 Prominente amerikanische Forscher wie Harold Koenig oder Herbert Benson vertreten vollmundig die These »Religiosität geht durchweg mit besserer Gesundheit einher«.396 So ist es nicht verwunderlich, wenn auch die Zeitschrift »Psychologie heute« auf den Trend aufspringt und 2005 ein Heft herausbringt unter der Überschrift »Glaube und Gesundheit. Warum Hoffnung heilen kann«.397 In diesem Artikel heißt es als Zusammenfassung einer großen Zahl von amerikani395

S. Ehm / M. Utsch, Glaube und Gesundheit, in: Kann Glaube gesund machen? Spiritualität in der modernen Medizin, EZW-Texte 181, 7. 396 H. Benson, Heilung durch Glauben, München 1997, 210. Ähnlich H.G. Koenig, Is Religion Good for your Health?, New York / London 1997. 397 Psychologie Heute, 32 (2005), H. 3.

7. Forschungen zum Zusammenhang von Religion und Gesundheit

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schen Studien zum Thema: »Religiöse Menschen sind weniger oft im Krankenhaus, haben einen niedrigeren Blutdruck und scheinen besser gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschützt zu sein«.398 Die Kritik an diesen Ergebnissen ist vielfältig: Der kulturelle Hintergrund amerikanischer Religiosität ist so grundlegend anders als der europäische, dass man solche Ergebnisse nicht einfach auf unseren westeuropäischen Kontext übertragen kann. – Aus einer religionspsychologischen Forschungsperspektive wird oft darauf hingewiesen, dass die Konstrukte Religiosität und Gesundheit so schwer zu operationalisieren sind, weil sie hochgradig multifaktoriell zu verstehen sind, dass die Forschungsergebnisse häufig der Komplexität ihres Gegenstandes nicht gerecht werden.399 Beispielsweise wird in manchen Untersuchungen nicht einmal die von Gordon Allport eingeführte grundlegende Unterscheidung von extrinsischer und intrinsischer Religiosität nachvollzogen. Die offenkundige Ambivalenz von Religion kommt auf diese Weise gar nicht in den Blick.400 – Und schließlich wird aus theologischer Sicht die berechtigte Kritik vorgebracht, dass sich Glaube nicht funktionalisieren lässt. Jedes Kalkulieren mit den möglichen heilsamen Wirkungen des Glaubens hat ihn schon pervertiert. Glaube an Gott will nichts bewirken, sondern, traditionell gesprochen, Gott die Ehre geben und den Menschen als Geschöpf des Schöpfers verorten – aber nicht, um damit irgendetwas zu erreichen.



Deutlich zurückhaltender fasst denn auch der deutsche Religionspsychologe Bernhard Grom die Debatte um den Zusammenhang von Religion und Gesundheit zusammen: »Fachleute stimmen weitgehend darin überein, dass Gottesdienstbesuch und positive Formen persönlicher Religiosität statistisch in einem positiven Zusammenhang mit subjektivem Wohlbefinden und psychischer Gesundheit stehen. Diese Beziehung ist statistisch schwach bis moderat, aber signifikant und höchstwahrscheinlich auch kausaler Natur.«401

398 399

Ebd., 21f. Vgl. M. Schowalter / S. Murken, Religion und psychische Gesundheit – empirische Zusammenhänge komplexer Konstrukte, in: C. Henning / S. Murken / E. Nestler (Hg.), Einführung in die Religionspsychologie, Paderborn 2003, 138–162. 400 Vgl. B. Grom, Religionspsychologie, München/Göttingen 1992, 374ff. 401 B. Grom, Wie froh macht die Frohbotschaft? Religiosität, subjektives Wohlbefinden und psychische Gesundheit, in: WzM 54 (2002), 196–204, 199.

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XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?

Die positive Wirkung, die eine religiöse Einstellung auf Gesundheit bzw. Krankheitsbewältigung ausübt, wird auf eine Reihe von Faktoren zurückgeführt, die als Hypothesen die Forschung leiten:402 – Die Verhaltenshypothese geht davon aus, dass eine bestimmte Religionszugehörigkeit durch ihre Verhaltensvorschriften im Blick auf Ernährung oder Sexualität etc. unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann (z.B. das Alkohol- und Rauchverbot bei Mormonen oder Zeugen Jehovas). – Die Kohäsionshypothese stellt den förderlichen Stellenwert von vertrauensvollen Beziehungen und einem unterstützenden Netzwerk in einer religiösen Gemeinschaft heraus; gerade in pietistischen Kreisen ist der soziale Zusammenhang oft sehr eng, allerdings ebenso die soziale Kontrolle. Soziale Unterstützung wird auch als Stresspuffer bezeichnet.403 – Die Kohärenzhypothese unterstellt, dass religiöse Erklärungen für kritische Lebensereignisse einen psychischen Gewinn darstellen, weil sich die Betroffenen nicht hilflos ausgeliefert fühlen, sondern die Ereignisse als sinnhaft verarbeiten können. Sinngebung, verstanden als kognitive Strukturierung einer unüberschaubaren Welt, ermöglicht Vertrauen und damit u.U. mehr Gelassenheit, was sich wiederum positiv auf Gesundung bzw. Krankheitsbewältigung auswirken kann. – Ganz ähnlich bezieht sich die Copinghypothese auf die verbesserte Fähigkeit, Krisensituationen bewältigen zu können: Glaube bietet Sicherheit und Geborgenheit; Gebet und Meditation als Formen, sich selbst und die eigenen Sorgen Gott anzuvertrauen, also sich loszulassen und sich darin geborgen zu fühlen, können in ähnlicher Weise Hoffnung und Gelassenheit aktivieren. Speziell im Blick auf Gebet und Meditation kann man sogar hirnphysiologische Veränderungen feststellen, die Angst und Stress abbauen helfen und sie konstruktiv zu regulieren scheinen.404 – Die Selbstwerthypothese besagt, dass der Glaube, von Gott angenommen, gerechtfertigt und geliebt zu sein, das Selbstwertgefühl stärkt, was wiederum zu verbesserter Gesundheit beiträgt. – Schließlich könnte man eine Beziehungshypothese formulieren: Man weiß, dass es bei Paaren positive Korrelationen zwischen einer posi-

402

Zum folgenden vgl. S. Murken, Ungesunde Religiosität – Entscheidungen der Psychologie?, in: G.M. Klinkhammer / S. Rink / T. Frick, Kritik an Religionen, Marburg 1997, 157ff. 403 Vgl. S. Allwinn, Krankheitsbewältigung als individueller, interaktiver und sozialer Prozess, in: C. Schneider-Harpprecht / S. Allwinn (Hg.), Psychosoziale Dienste und Seelsorge im Krankenhaus, Göttingen 2005, 42. 404 Vgl. H. Walach, Spiritualität als Ressource. Chancen und Probleme eines neues Forschungsfeldes, in: S. Ehm / M. Utsch, a.a.O. (Anm. 4), 17–40, speziell 27ff.

8. Fazit

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tiv erlebten Beziehungsqualität und Gesundheit gibt.405 Zur guten Beziehungsqualität wiederum kann durchaus die spirituelle Ausrichtung eines Paares beitragen: Die Fähigkeit zur Hingabe ist nicht auf Sexualität begrenzt, sondern bezeichnet eine Lebenshaltung, die von Paartherapeuten in spirituell-mystischer Terminologie (Paar-Aura, dritter Leib etc.) beschrieben wird.406 Zwei Anmerkungen: 1. Entscheidend ist bei all diesen Hypothesen, dass Religiosität/Spiritualität als eigenständiger psychischer Faktor verstanden wird, der nicht auf etwas anderes reduziert werden kann. Z.B. wer sich mit einer Krankheit schwer tut und Gott darüber Vorwürfe macht, hat nicht ein unbearbeitetes Vaterproblem etc. Religiosität erscheint als Ressource, die von den Betroffenen als hilfreich wahrgenommen wird. 2. Es müssen auch die Schattenseiten von Religion genannt werden. Wenn man Religion und Religiosität nicht nur funktional sieht, sondern auch einen substantiellen Religionsbegriff verwendet (also die Inhalte eines Religionssystems betrachtet), dann muss leider festgestellt werden, dass eine Fülle von negativen Korrelationen zwischen Religion und Verhalten zu konstatieren sind: Z.B. besteht ein erschreckender Zusammenhang zwischen Religiosität und Vorurteil;407 darüber hinaus kann man in religiösen Gemeinschaften Ausgrenzung und Intoleranz gegenüber fremden Minderheiten, kognitive Rigidität und die Zunahme von negativen Emotionen wie Strafängste oder Selbstverurteilungen beobachten, so dass bestimmte Ausprägungen von Religiosität geradezu zu einem Risiko, einem Vulnerabilitätsfaktor werden können.408 8. Fazit Die Diskussion um das Phänomen Religion ist in den letzten Jahren neu in Gang gekommen und man beginnt – abweichend von Freuds Thesen – den Zusammenhang differenzierter zu sehen. Religion muss als Chance wie als Risiko für die Lebensbewältigung von Menschen gesehen werden. Entsprechend ist es auch in Beratung und Therapie notwendig, 405 406 407

Vgl. D. Hein, Spiritualität in Partnerschaft, Stuttgart 2005, 166f. Ebd., 146ff. Vgl. B. Küpper / A. Zick, Riskanter Glaube. Religiosität und Abwertung, in: W. Heitmeyer, Deutsche Zustände Bd. 4, Frankfurt a.M. 2006, 179–188. 408 Vgl. G. Klosinksi (Hg.), Religion als Chance oder Risiko, Bern 1994; S. Murken, Gottesbeziehung und psychische Gesundheit, Münster / New York 1998. Murken weist als Zusammenfassung seiner Untersuchung darauf hin, dass die negative Korrelation zwischen Religiosität und psychischer Gesundheit viel eindeutiger zu erheben ist als die positive!

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XV Religion: Quelle von Neurosen oder Hilfe zur Lebensbewältigung?

nach den möglichen Ressourcen und auch den destruktiven Anteilen von Religion im Leben von Patienten zu fragen und solche Themen entsprechend zu bearbeiten. Eine Konsequenz dieser veränderten Einstellung ist dann auch, dass die Therapeuten sich mit diesem Thema beschäftigen müssen. Wolfgang Drechsel hat einmal erzählt, dass ein Therapeut gesagt habe, vom Thema Religion verstünde er nichts. Drechsel fragt daraufhin, wie wir wohl reagieren würden, wenn ein Therapeut sagte, er verstünde nichts von Sexualität oder Aggression. Religion ist ein Lebensthema – und wer Menschen begleitet, berät, therapiert, muss bereit und in der Lage sein, darauf angemessen einzugehen.

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