Parallele Geschichte?: Italien und Deutschland 1945-2000 [1 ed.] 9783428523009, 9783428123001

Italien und Deutschland stehen sich seit jeher besonders nahe, sie begegnen sich aber auch seit jeher mit gewissen Vorbe

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Parallele Geschichte?: Italien und Deutschland 1945-2000 [1 ed.]
 9783428523009, 9783428123001

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Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 20

Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945 – 2000

Herausgegeben von

Gian Enrico Rusconi Hans Woller

Duncker & Humblot · Berlin

GIAN ENRICO RUSCONI / HANS WOLLER (Hrsg.)

Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945 – 2000

Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 20

Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945 – 2000

Herausgegeben von

Gian Enrico Rusconi Hans Woller

a Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient Italia-Germania, 1945 – 2000. Dal dopoguerra alla costruzione dell’Unione Europea / Italien und Deutschland, 1945 – 2000. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur europäischen Einigung Studienwoche Trient, 16. – 20. September 2002

Leiter der Studienwoche Gian Enrico Rusconi Hans Woller Italienische Ausgabe Italia e Germania 1945 – 2000. La costruzione dell’Europa il Mulino, Bologna 2005

Übersetzungen von Petra Kaiser Stefan Monhardt

Titelfoto Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi (Oktober 1953)

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 3-428-12300-X 978-3-428-12300-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Gian Enrico Rusconi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Italien und Deutschland nach 1945. Vom schwierigen Geschäft des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Die Nachkriegsjahre sind vorbei

.

Hans Woller

Charles S. Maier Italien und Deutschland nach 1945. Von der Notwendigkeit des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Jens Petersen Italiaoisierung Deutschlands? .Germanizzazione dell'Italia"? Das Bild des anderen in der jeweiligen Sdbstperzeption . . . . . . . . . . . . . .

55

Erster Teil Abrechnung mit der Vergangenheit

Norbert Frei Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland

1945-2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Lutz Klinkhammer Die Ahndung von deutschen Kriegsverbrechen in Italien nach 1945

89

Filippo Focardi Die Unsitte des Vergleichs. Die Rezeption von Faschismus und Natio­ nalsozialismus in Italien und die Schwierigkeiten, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

6

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil Akteure und Weltbilder

Francesco Traniello Christliche Kultur - europiüsche Kultur. Entwicklungen und Wand­ lungen einer Idee im italienischen Katholizismus zwischen 1920 und

1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Maddalena Guiotto Der Europagedanke in den christdemokratischen Parteien. CDU/CSU und DC in den fünfziger Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Pietro Scoppola Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer. Ähnlichkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Hermann Gram! Das Erbe Adenauers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Dritter Teil Nach der Katastrophe auf dem Weg nach Europa

Thomas Schlemmer Zwischen Weimar und Bonn. Das westdeutsche Parteiensystem 1945 bis 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Paolo Pombeni Die politische Stabilisierung in Italien und Deutschland (1945-1958)

261

Giovanni Bognetti Die Wiedergeburt zweier Demokratien. Gemeinsamkeiten und Unter· schiede der italienischen und der deutschen Verfassung . . . . . . . . 291

Eckart Conze Wege in die Adantische Gemeinschaft. Amerikanisierung, Westerni­ sierung und Europilisierung in der internationalen Politk der Bundes· republik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

AldoAgosti Die Linke und ihr Verhälrnis zu Europa. Ein deutsch-italienischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Inhaltverzeichnis

7

Vierter Teil Das Wirtschaftswunder

Christoph Buchheim Vom Wirtschaftswunder zur Krise des Wohlfahrtsstaats in (West-) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Giorgio Mori Die italienische Wirtschaft 1948-1963. Von der Aufholjagd bis zum Ende des .Golden Age" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Patrizia Battilani und Francesca Fauri Marshall-Plan und Handelsliberalisierung. Auswirkungen auf das industrielle Wachstum in den italienischen Regionen . . . . . . . . . . 413

Fünfter Teil 1989 und die Folgen

Klaus-Dietmar Henke Die Revolution in Deutschland 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

Wilfried Loth Michail Gorbatschow, Helmut Kohl und die Lösung der deutschen Frage 1989/1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461

Martin Sabrow Nationalgeschichte und historische Europäisierung. Bemerkungen zum Gegenwartswandel der Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . 479

Lucio Caracciolo Angst vor Deutschland. Wie man mit der Germanophobie Geopolitik macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

Joachim Scholtyseck Die Außenpolitik der DDR in den Jahren der Agonie 1989/1990

. . 527

Epilog

Gian Enrico Rusconi Deutschland, Italien, Europa: Die virtuelle .Zivilmacht"?

551

Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575

Einführung

Die Nachkriegsjahre sind vorbei* Von Gian Enrico Rusconi

I. 1945-2000 - Eine abgeschlossene historische Phase Von heute aus betrachtet, erscheint die Periode vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu den ersten Jabren des 21. Jabrbunderts als eine abgeschlos­ sene Phase. Wie auch immer man sie nennen mag (am weitesten akzeptiert und verbreitet ist die Bezeichnung .Kalter Krieg"): Deutschland und Italien haben innerhalb dieses Zeitraums ein wichtiges Stück ihrer Geschichte zutück­ gelegt. Während Beginn und Konsolidierung dieser Periode zu den am meisten und gtündlichsten untersuchten T hemen der Geschichtsschreibung beider Länder zählen (wie sich auch an den Beiträgen dieses Bandes zeigt), werden bei ihrer Schlußphase vornelunlich einige Episoden mit Zäsurcharakter wahrgenommen (deutsche Wiedervereinigung und Krise des Sowjetsystems), die im wesentlichen die ftühen neunziger Jabre kennzeichnen. Die Reflexion über die zweite Hälfte der neunziger Jabre (mit dem blutigen Krieg auf dem Balkan, aber auch der Schaffung der Europäischen Union als positivem Kontrapunkt) konzentriert sich auf Phänomene, die den langsamen, aber tiefgreifenden Wandel der historischen und geopolitischen Koordinaten gegenüber den vorangegangenen Jabtzehnten bestätigen -lange bevor der Schock des 11. September 2001 (zumindest in dem Medien) zur historischen Zäsur schlechthin für den gesamten Westen aufstieg und mit ihm bislang unbekannte Konfliktfaktoren erschienen (die islamistisc:he Bedrohung, der internationale Terrorismus), die nach einer angemessenen Ant­ wort verlangen. Gerade in dieser Frage bricht dann unerwartet eine ernstliche Meinungsverschiedenheit zwischen Amerika und Europa auf, ein Dissens, der sich auch als innere Linie durch den Alten Kontinent zieht und beispielsweise (beim Irakkrieg) zu substantiellen Differenzen zwischen Berlin und Rom führt. Aber damit sind wir bei einer Analyse unserer gegenwärtigen Situation ange­ langt, die an dieser Stelle nicht interessieren soll. Ich wollte mit dem Hinweis auf diese Ereignisse lediglich unterstreichen, daß jene Zeit, die 1945 begann, nun tatsächlich ihren definitiven Abschluß gefunden hat.

*

Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt.

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Daß diese Phase zu Ende ist, soll nicht heißen, daß sie für das Verständnis der folgenden Zeit irrelevant wäre oder dieses nicht beeinflussen würde. Im Gegenteil. Gerade innerhalb der hier betrachteten Periode haben die kollektiven Akteure dieser Geschichte - Deutschland, Italien, Europa - zu ihrer Identität gefunden. Erst, wenn wir diesen historischen Prozeß ganz begriffen haben, erschließt sich uns ihr Verhalten in der Gegenwart.

II. Stereotypen und "Aufarbeitung" der politischen Vergangenheit In seinem Aufsatz •Vom schwierigen Geschäft des Vergleichs" zwischen italienischer und deutscher Geschichte gibt Hans Woller einen hervorragenden Überblick über den Forschungsstand und die noch offenen Probleme. Mein Beitrag versteht sich dagegen als historisch-politischer Exkurs über die Bezie· hungen zwischen Deutschland und Italien, in dem ich einige kritische Punkte schärfer in den Blick nehmen möchte (die freilich auch von anderen Autoren dieses Bandes behandelt und eingehend untersucht werden). Ausgehen möchte ich jedoch von einem Motiv, das sich ebenfalls durch die vorliegenden Studien zieht: Wie Italiener und Deutsche einander wahrnehmen, einschätzen, erleben. Das Thema der wechselseitigen Stereotypen und der Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses. Von einigen vorübergehenden Turbulenzen abgesehen, scheint das Verhältnis zwischen Italienern und Deutschen heute freundlich. Divergenzen in einzelnen Fragen, die (vor allem vielleicht) den unterschiedlichen politischen Ausrichtun· gen der jeweiligen Regierungen zuzuschreiben sind', können anscheinend die soliden ökonomischen Beziehungen und politischen Übereinstimmungen inner­ halb des europäischen Rahmens nicht beeinträchtigen. Doch auch unabhängig von all dem sind Italiener und Deutsche davon überzeugt, daß sie sich sehr gut kennen und es darum nicht nötig haben, einander gründlicher zu analysieren oder ernsthafter über ihre Geschichte nachzudenken. Hier irren sie. Die "besondere Beziehung"' beider Länder ist zwar reich an positiven und negativen Gemeinplätzen, Klischees, guten und bösen Vorurteilen, aber arm 1 Das Manuskript dieses Beitrags wird abgeschlossen, während in Berlin die rot­ grüne Koalition des Kanzlers Gerhard Sehröder und in Rom die Mitte-rechts Koalition von Ministerpräsident Silvio Berlusconi regiert. 2 So der Titel eines Artikels von Angelo Bolaffi aus der .Zeitschrift für Kultur­ austausch", in der mehrere Beiträge einer deutsch-italieulschen Tagung veröffentlicht wurden, vgl. A. Bolaffi, Eine besondere Beziehung, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 50 (2000), 2, S. 20-22; in derselben Zeitschrift schreibt Jens Petersen: Wenn ich in Deutschland über italieulsche Probleme spreche, bin ich fast automatisch ein Verteidiger vieler italieulscher Positionen. Wenn ich in Italien über deutsche Probleme spreche, läuft es genau umgekehrt. Das ist eine Erfahrung, die wahrscheinlich manche schon •

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an wirklichem Wtssen. Insbesondere gilt das für die politische Geschichte der letzten hundertfünfzig Jahre. Auch wenn diese Geschichte schwierig ist und uns oft genug in Verlegenheit bringt, hat sie die politische Identität beider Länder in entscheidender Weise geprägt. Darüber geht man heute nur allzu gerne hinweg, und so öffnet sich allmählich eine Schere zwischen der Geschichts­ wissenschaft, die ihre Arbeit tut, und dem öffentlichen Diskurs, der sich lieber mit literarischen, touristischen oder sportlichen Aspekten beschäftigt als mit politischer oder historischer Analyse. Wo die politische Geschichte aber vernachlässigt oder ausschließlich den Spezialisten überlassen wird, da bildet sich auf dem untersten Grund der wechselseitigen Gefühle ein emotionaler Bodensatz historischer Erfahrungen oder Erzählungen, die niemals kritischer Reflexion unterzogen werden. Es entstehen .Sub-Kulturen", die unkritisch und fast unverändert von Generation zu Generation tradiert werden, unbeeinflußt vom Wandel der Gewohnheiten und Verhaltensweisen. Kaum oder überhaupt nicht verarbeitete kollektive Erinnerungen sind in ihrer Dynamik und Verlaufsform unkontrollierbar. Manche Erfahrungen wirken subkutan fort, auch wenn sie weit zurückliegen. Oder, schlimmer noch, sie werden verdriingt und hinterlassen eine Gedächtnislücke, die unabsehbare Konsequenzen haben kann. gemacht haben. Sie hängt damit zusammen, dass auf beiden Seiten die Kenntnisse über den anderen gering und manchmal falsch sind. Besonders in Krisensituationen steigt die Kollektiverfahrung der Vergangenheit wieder nach oben: der Erste Weltkrieg, Der Zweite Weltkrieg, die Zeit der Besatzung, die Resistenza usw. Hier liegt die große Aufgabe für die zeitgeschichtliche Forschung", vgl. J. Petersen, Italienisches Chaos als Modell für Europa?, ebd., S. 23. Angelo Bolaffi urteilt in seinem Beitrag: "Über die Natur dieses Bündnisses, das von einem ewigen Schwanken zwischen starker Anziehung und übelwollendem Verdacht sowie einer begeisterten Bewunderung und wiederkehrenden Missverständnissen geprägt ist, ist bereits fast alles gesagt worden. Manchmal auch so viel, dass man sagen kann, dass dieser Gerneinplatz der Missverstiindnisse zwischen Italienern und Deutschen zo einem der grüßten Vorurteile geworden ist"; vg). auch A. Bolaffi, Gli stereotipi, I' etemo problema delle relazioni italo-tedesche, in: Villa Vigoni. Comunicazioni/Mitteilungen, 5 (2001), I, S. 13-20, hier S. 14. Bezeichnenderweise gibt es in dem Band M. Isnenghi (Hrsg.), I luoghi della memoria. Personaggi e date dell'Italia unita, Rom I Bati 1997 einen von Enzo Collotti verfaßten Attikel .I tedeschi", S. 6586. Es ist extrem unwahrscheinlich, daß in Deutschland ein Gegenstück in derselben Form und identitätsgeschichtlichen Prägnanz erscheint-trotz der ästhetisch-literari­ schen .Italomanie" des Deutschen. An deutschsprachiges Literatur zom Problem des Stereotypen sei hingewiesen auf E.S. Kuntz, Konstanz und Wandel von Stereotypen. Deutschlandbilder in der italienischen Presse nach dem Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1997; S. Wilking, Das Italienbild in der bundesdeutschen Presse der 70er und 80er Jahre, in: S. Wilking (Hrsg.), Deutsche und italienische Buropapolitik- historische Grundlagen und aktuelle Fragen, Bonn 1992, S. 39-70; vg). zudem im vorliegenden Band den wichtigen Beitrag von Jens Petersen zum .Bild des anderen in der jeweiligen Selbstperzeption" der Deutschen und der Italiener.

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In Momenten der Spannung odet Meinungsverschiedenheit tauchen dann plötzlich Bruchstücke det unreflektienen kollektiven Erinnetung auf. Relikte längst vergangener Ereignisse, die unterschwellig tiefe Spuren hinterlassen haben. Einige gravierendere Mißverständnisse oder Reibungen genügen, um eine Vergangenheit voll häßlicher Bilder des andeten wiedetaufetstehen zu lassen. Da sind die Italienet dann plötzlich wieder .unzuverlässig", die Deutschen werden etneut "anmaßend" und streben insgeheim nach der Vorherrschaft. Geht die Kontrolle übet die eigenen Gedanken und Wone verloren, taucht hinter dem Stereotyp von det Unzuverlässigkeit der Italienet det vid schwerer wiegende Vorwurf einet Neigung zum "Verrat" oder, freundliehet formulien, zum "Machiavdlismus" auf. Und umgekehn folgt auf die Unterstellung, die Deutschen hegten begemonistische Ansprüche, rasch det Vorwurf des Macht· mißbrauchs und einet Rücksichtslosigkeit, die vor ktiminellet Brutalität nicht zurückschreckt. Dann kommt eine vetdrängte Vetgangenheit wiedet zum Vorschein, die von den Traumata des Kriegs und brutalen Auseinandersetzungen geprägt ist. Eine Vergangenheit, die in den fatalen Jahren 1943-1945 kulminierre, einet Zeit, die sich in das kollektive Gedächtnis als Stigma des Verrats und der Präpotenz eingeschrieben hat. Es mag nicht sondetlich fein sein, in wissenschaftlich-akadetnischen Kreisen diese Dinge noch zu etwähnen - abet es ist nun einmal so. Hinterher schämt man sich natürlich dieset rohen Erinnerungsbruchstücke, die im kulturellen Bodensatz latent als Bild des anderen vorhanden sind, abgekoppdt von der Reflexion über ihre Kontexte. In solchen Momenten witd offenkundig, in weich geringem Umfang die Resultate det seriöseren deutschen wie italienischen Geschichtswissenschaft Teil det allgemeinen Kultur geworden sind. Sie haben es nicht vermocht, don zu einet objektiveten Neubewettung det Geschichte der politischen Beziehungen zwischen Italien und Deutschland zu führen oder das kollektive Gedächtnis so umzustrukturieren, daß die geschildetten Deformationen vermieden werden'. Und es witd offenkundig, daß im öffentlichen Diskurs noch kaum darüber reflektiett wird, wo die historischen Wurzein dafür liegen, daß Italiener und Deutsche einander gefühlsmäßig Zuverlässigkeit/Unzuverlässigkeit zuschrei· ben. Diese Feststellung muß um so mehr überraschen, wenn man bedenkt, daß sich im Verlauf des europäischen Einigungsprozesses auch die wechsd· 3 V gl. dazu in diesem Band die Beiträge von Filippo Focardi und Lutz Klinkhammer, außerdem Norbert Preis Untersuchung über die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland von 1945 bis heute.

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seitigen deutsch-italienischen Identitäten positiv hätten umstrukturieren und erneuern müssen; schließlich wird dieser Prozeß seit Jahrzehnten von den Regierungen beider Länder in solidarischer und effizienter Zusammenarbeit vorangetrieben. Die Europäische Gemeinschaft/Union hat die zentralen geopolitischen Probleme gelöst, die zwei historische Grundhaltungen determiniert hatten: zum einen Deutschlands obsessives Insistieren auf seiner Position als bedrohte und bedrohliche .Mittelmacht", das in zwei katastrophale Versuche zur Erringung der Hegemonie mündete; und zum anderen Italiens Komplex wegen seiner geopolirischen Marginalität und der Unbestimmtheit seiner nationalen Interes­ sen, ein Komplex, der zu Orientierungslosigkeit in der internationalen Politik und dantit zu Oppornmismus führte. Von Bismarck bis 1945 entsprangen die polirischen Gegensätze in den Beziehungen zwischen Deutschland und Italien zu einem Großteil dieser fundamentalen Asynunetrie. Die Einigung Europas hat die Fesseln der traditionellen Geopolitik beseitigt. Europa hat die Idee und die Ausübung staatlicher Souveränität grundlegend verwandelt und das Modell einer von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft/Union gemeinsam getragenen Souveränität geschaffen. Diese Transformationen hatten jedoch fast keine Auswirkungen auf den Kosmos der (Vor-)Urteile. Allenfalls fand ein Recycling statt, bei dem man aus alten Klischees neue, vielleicht etwas liebenswertere machte: aus "unzuverlässigen und treulosen" Italienern wurden sympathischere .Meister des Chaos", "per­ fekte Organisatoren des Zusammenbruchs und des Überlebens", während man die .stttten und strengen Deutschen" zu •Weltmeistern in Disziplin und Effizienz" beförderte. Früher oder später stellt sich dann heraus, daß auch diese Stereotypen nicht stimmen, doch einstweilen werden sie auf die Wertung der politischen Systeme übertragen. So hat sich die Melttheit der Deutschen seit Jahrzelmten daran gewöhnt, das italienische System als unverbesserliches Muster an Instabilität und Ineffizienz zu betrachten - um sich dann über den krisenhaften Umwandlungsprozeß der frühen neunziger Jahren zu wundem, die angebliche .demokratische Revolution" zu bestaunen und sich vom .Phä­ nomen Berlusconi" von neuem irritiert zu zeigen. Umgekehrt schwanken die Italiener in ihrer Einschätzung des politischen Systems in Deutschland bestän­ dig zwischen Bewunderung für seine Stabilität und dem Verdacht, es könnten sich in seinem Inneren schwere Mängel verbergen und sogar manche typisch italienische Untugend Wurzel schlagen lassen. Sprach man vor etlichen Jahren von einer Germanisierung Italiens, so ist inzwischen schon die Rede von der Italianisierung Deutschlands. Mit dem Übergang ins neue Jahrtausend erfährt das Bild Deutschlands in Italien und Europa bedeutsame Wandlungen. Charakteristisch för sie ist eine merkwürdige Umkelttung von Tendenz und Mischung der Motive gegenüber

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der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Die Angst vor der Entstehung eioes möglicherweise bedrohlichen •Vierten Reichs" ist umgeschlagen in das Stau­ nen über eio Deutschland, das als .Schlußlicht" Europas die wirtschaftlieben Schwierigkeiten nicht zu bewältigen vermag, die zu eioer Zuspitzung seioer innenpolitischen Konflikte führen. Mehr noch: Nachdem jahrzehntelang (beson­ ders von der Linken) vor den Gefahren eioes erneuten .Pangermanismus" und seioer impliziten militaristischen Neigungen gewarnt wurde, nehmen die Kommentatoren erstaunt zur Kenntnis, daß sich die deutsche Regierung gegen eio militärisches Eingreifen in internationale Konflikte sträubt und auf Beschränkungen und Bedingungen für die Anwendung von Gewalt beharrt. Und es fehlt nicht an Stimmen, die diese Formen von Disengagement mit neuem Argwohn betrachten.

III. Schlüsselmomente der deutsch-italienischen Be•dehungen aus europäischer Perspektive Doch zurück zur Geschichte und zur Geschichtswissenschaft. Dem Histori­ ker bleibt gar keioe andere Wahl, als die Entwicklung Deutschlands und Italiens und ihrer Beziehung zueioander in der Zeitspanne 1945-2000 im Zusammen­ hang des europäischen Integrationsprozesses zu sehen. Beide Länder haben nicht nur in bedeutendem Maß und solidarisch zur politischen Entwicklung Europas beigetragen, sie konnten mit seioer Hilfe auch einige ihrer historischen Probleme der Souveränität und politischen Identität lösen. leb beschränke mich darauf, knapp zwei entscheidende Phasen der poli­ tischen Einigung Europas aus deutscher und italienischer Perspektive zu skizzieren; idealerweise handelt es sich um Momente am Anfang und auf dem Höhepunkt dieses Prozesses. Die Phase am Beginn wird markiert durch die Schaffung der Europäischen GerneiDschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und durch die (gescheiterte) Gründung der Europäischen VerteidigungsgerneiD­ schaft in den frühen fünfziger Jahren, die Europa zur Europäischen Politischen GerneiDschaft hätte führen sollen. In dieser Zeit kommt es zu einer engen Kooperation zwischen Rom und Bonn, wie sie sieb später nie mehr wiederho­ len sollte (ausgenommen vielleicht das Einvernehmen zwischen Genseber und Colombo Mitte der achtziger Jahre). Die andere Phase ist die der Wiedervereinigung Deutschlands im Kon­ text seioer vollen europäischen Integration und damit seioer internationalen Anerkennung. Italien spielt bei diesen Ereignissen, ganz im Gegensatz zu den Entwicklungen vierzig Jahre zuvor, eioe im Grunde marginale Rolle, und es kommt zu maneben Reibungen zwischen beiden Ländern. Doch es handelt sieb um eioe für unsere Fragestellung wichtige Phase. Denn wenn die deutsche Wiedervereinigung einerseits auch die Europäische GerneiDschaft politisch

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vorantreibt (indem sie zum Vertrag von Moastricht führt), folgt ihr andererseits die schlecht bestandene Bewährungsprobe Europas bei der Bewältigung der blutigen Krise inJugoslawien (ausgelöst durch die Unabhängigkeitserklärungen Kroatiens und Sloweniens). Was die anfänglichen Probleme mit den heutigen verbindet, ist nichts anderes als die Herausbildung und Entfaltung jener politischen Souveränität, die mühsam und nur teilweise von den traditionellen Nationalstaaten auf den einzigartigen Staatenverbund der Europäischen Union übertragen wird.

IY. Am Beginn des europäischen Einigungsprozesses Italien und Deutschland sind wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses und dieses politischen Gebildes. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist ihre Souveräni· tät beschädigt, eingeschränkt oder aufgehoben, jedenfalls nach traditionellen Maßstäben nicht mehr herzustellen. Aus dieser Situation heraus tragen die beiden Länder dazu bei, auf europäischer Ebene ein neues Modell geteilter Souveränität zu schaffen. Doch der Weg dorthin ist lang und kompliziert und gekennzeichnet durch zahlreiche Asymmetrien in den Motiven und nationalen Interessen der Akteure. Denn von Anfang an bis zur Wende von den vierziger zu den fünfzi· ger Jabren haben beide Länder unterschiedliche ökonomische Bedingungen und politische Prioritäten. Für die 1949 entstandene Bundesrepublik ist die schrittweise Überwindung ihrer .eingeschränkten Souveränität" und die Wie· dererlangung der rechtlichen Gleichstellung mit den anderen europäischen Nationen vorrangig. Von großer Wichtigkeit ist auch die Frage der Sicherheit vor der wirklichen oder vermeintlichen sowjetischen Bedrohung, durch die das kontroverse Thema der deutschen Wiederbewaffnung auf die Tagesordnung kommt. Italien hat andere Prioritäten: das Heraustreten aus der internationalen Marginalisierung, die notwendige wirtschaftliche Erholung und die Bändigung der inneren sozialen und politischen Konflikte, die in den Augen der führenden Christdemokraten von einer starken sozialistisch·kommunistischen Bewegung geschürt werden'. Die Unterschiede in der sozio.ökonomischen Situation und die Asymmetrie bei den politischen Prioritäten zwischen beiden Ländern (deren Regierungschefs die Christdemokraten Konrad Adenauer bzw. Alcide De Gasperl sind) ver· hindem indessen nicht die Konvergenz in der Ausrichtung der internationalen

4 Zur Entwicklung der politischen Systeme in Deutschland und Italien vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Thomas Schlemmer und Paolo Pombeni; Giovanni Bogneni bietet eine vergleichende Untersuchung der Verfassungssysteme.

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Politik, die durch die drei Begriffe "Westorientierung", .Adantizismus" und .Europäismus" gekennzeichnet ist '. Westorientierung meint die Anerkennung einer Gesamtheit ideeller Werte, die häufig als christlich bezeichnet werden (.christlich-abendländisch" ist ein zu dieser Zeit sehr häufig gebrauchtes Adjektiv) und den Gegensatz zu einetn "Osten" bilden, der de facto ein Synonym für den Sowjetkommunismus ist. Adantizismus bedeutet deswegen Beitritt zum Adantischen Verteidigungs­ bündnis, das als das einzige zuverlässige anti-sowjetische militärische Sicherheits­ systetn betrachtet wird. Damit wird ausdrücklich jeder Form von Neutralismus oder allen Versuchen zur Etablierung einer .Dritten Kraft" zwischen Ost und West eine Absage erteilt. Trotz mancher Rhetorik zugunsten einer europäischen Zivilgesellschaft, die sich heute auch bei der ex-kommunistischen Linken großer Beliebtheit erfreut (die einst intransigent anti-adantisch und anti-europäisch war), kann man nicht übersehen, wdch unersetzliche Funktion einst detn NATO-Beitritt bei der Stabilisierung Europas zukam. Europäismus schließlich bedeutet die institutionelle Definition der Bin­ dungen zwischen den Staaten, die den verschiedenen europäischen Getuein­ schaften angehören: konkret also die EGKS (Europäische Getneinschaft für Kohle und Stahl), die EVG (Europäische Verteidigungsgetneinschaft), später die Römischen Verträge usw. Doch der Europäismus beinhaltet auch eine umfassendere Vision, eine Verheißung, eine politische Erwartung, die allgetuein-unbestimmt auf .Föde­ ralismus" zidt und bei jeder Gdegenheit mehr oder minder emphatisch bekräftigt wird. In dieser Phase sprechen alle an Europa interessierten Politiker von Föderation oder Union, ohne daß diese Aussagen sich in Vorschlägen für Verlinderungen auf der institutionellen Ebene konkretisieren würden. Eine Ausnahme bildet De Gasperis Vorschlag (1951)6, das militärische E!etnent (EVG) mit detn ökonomischen (EGKS) zu verbinden, um zur Europä­ ischen Politischen Getneinschaft zu gdangen- ein nicht zufällig von Adenauer nachdrücklich unterstützter Vorschlag. Doch das Projekt des italienischen Staatsmanns, .der auf detnokratische Verfassungsinstitute gegründete Verband nationaler Souveränitäten", sollte nicht verwirklicht werden. ' '

Vgl. zu diesen Fragen die Aufsätze von Eckart Conze und Aldo Agosti.

Niemand sieht Europa deutlieber als De Gasperl als eine ganze Architektur vor sich, die von der wirtschaftlichen Ebene ausgeht, die ntilitätische einbezieht und von einem umfassenden politischen Projekt abgeschlossen wird, das der Sicherung der inne­ ren Stabilität dient. Durch die Reinigung der neuen Institutionen von jeglichen Formen indirekter politischer Kontrolle eines Staates über den anderen soll der Buropapolitik eine vollständige und transparente Ausübung supranationaler Souveränität ermöglicht werden.

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Das Einvernehmen zwischen italienischer und deutscher Regierung wäh­ rend dieser Jahre basiert darauf, daß beide Deutschland als gleichberechtigten Partner und nicht als untergeordnetes Mitglied in das Europa der GerneiD­ schaft integrieren möchten. Ein Umstand, der in diesem Zusammenhang eio keioeswegs zweitrangigesDetail bedeutet. De Gasperi und seio Außenminister Carlo Sforza arbeiten ernsthaft an diesem Vorhaben, während die Franzosen an eioe in gewisser Weise untergeordnete Integration Deutschlands denken. Die Italiener sind dagegen davon überzeugt, daß nur eio vollständig autono­ mes Deutschland eio unersetzbarer Teil von Europa seio kann, das nicht nur wirtschaftlich durch die EGKS geeiot ist, sondern auch militärisch durch die Europäische Verteidigungsgemeioschaft, die dann auch zur Europäischen Politischen GerneiDschaft führen soll. Deutschland und Italien haben also Probleme verschiedener Natur, doch beide versuchen diese Probleme gleichermaßen durch die Verankerung im Westen (insbesondere durch die Anhindung an die Vereinigten Staaten) und durch die Einigung Europas zu lösen. Daraus erklärt sich die enge Zusammen­ arbeit zwischen beiden Ländern, die in den Jahren 1951152 ihren Höhepunkt erreicht. Adenauer und seioe engsten Mitarbeiter siod sich dessen bewußt, daß der Handlungsspielraum Italiens begrenzt ist. Dennoch bitten sie Italien um Unter­ stützung und eventuell Vermitdung gegenüber Frankreich, das den Deutschen noch lange Zeit mißtraut. Die italienische Regierung spielt diese Rolle mit bereitwilliger Vorsicht und behandelt eioen Teil des deutschen diplomatischen Corps, der von Roms Vermittlerqualitäten nicht sonderlich überzeugt ist, mit eioiger Ironie. Dieser Zusammenhang muß hervorgehoben werden, weil heute eioe bestimmte wohlwollende Europa-Geschichtsschreibung angesichts des Erfolgs der wirtschaftlichen Integration der GerneiDschaft für Kohle und Stahl dazu neigt, die politische Absicht hinter diesem Projekt zu verschweigen: die Kon­ trolle Deutschlands. Die Bundesrepublik, die sich dieser Absicht bewußt ist, akzeptiert zwar die EGKS, sucht aber weiterhin auf anderen Wegen nach der Wiedererlangung größerer stoadieher Autonomie (Souveränität). Der Königsweg hätte eioe transparente übernationale politische Struktur seio können, wie sieDe Gasperis Plan vorgesehen hatte. Aber daför war die Zeit noch nicht reif. Ein weiterer Punkt verdient Aufmerksamkeit. Die historische Lesart, die das Scheitern der Gtündung eioes europäischen Heeres (EVG) als kleioen Zwischenfall betrachtet, der im Verhälmis zu den ökonomischen Erfolgen der GerneiDschaft insgesamt nur bedingt von Bedeutung sei, kann nicht überzeugen. Gerade, wenn man die Entwicklung der deutsch-italienischen Beziehungen

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während jener Jahre nachvollzieht, wird man sich dessen bewußt, wie zentral für die Einigung Europas die militärische Frage war- also die Frage nach der Schaffung einer politischen Gemeinschaft Europas, zu der eine der Atlantischen Allianz vergleichbare europäische Streitmacht gehört hätte. Warum scheitert dieses politisch-militärische Projekt? Weil die Franzosen weder bereit noch willens sind, sich auf eine nicht in erster Linie ökonomi­ sche Integration einzulassen; weil die Deutschen, die schon die EGKS nur vorsichtig akzeptiert haben und mit dem Modell der EVG unzufrieden sind, ihre Souveränität auf anderen Wegen zurückzuerlangen suchen und als gerade eben geduldete Mitglieder der westlichen Gemeinschaft jedenfalls nur geringe Einflußmöglichkeiten besitzen; und schließlich deswegen, weil die Italiener, die das europäische Projekt offen dazu benutzen, um Innenpolitik zu machen, von ihren inneren Kouflikten völlig in Anspruch genommen werden. Das Scheitern des EVG/EPG-Projekts (das, durch tausend Schwierigkei­ ten verzögert, schließlich vom französischen Parlament abgelehnt und dem italienischen Parlament gar nicht erst vorgelegt wird) betrübt De Gasperi am Vorabend seines Todes tief. Auch Adenauer zeigt sich persönlich von diesem Ausgang betroffen. Weil sein Hauptziel aber, wie gesagt, darin besteht, die Bande zwischen der Bundesrepublik und dem Westen enger zu schnüren, um .politischen Gleichberechtigung" mit den anderen europäischen Staaten zu erlangen, wird seine Politik durch diese Unterbrechung nicht aufgehalten. Sie kommt durch den NATO-Beitritt Westdeutschlands und die direkten Verhandlungen mit den drei westlichen Siegermächten sogar noch rascher voran. Fassen wir zusammen: Adenauer und De Gasperi beschreiten europapo­ litisch denselben Weg, angetrieben von unterschiedlichen innenpolitischen Situationen und Konstellationen'. Westdeutschland ist höchst sensibel in Fragen der eigenen Sicherheit und möchte soviel Souveränität zurückerlangen, wie dies in der Situation einer besiegten, geteilten und noch auf einen Friedensvertrag wartenden Nation möglich ist. Adenauer verfolgt entschlossen den Kurs einer Anhindung an den Westen (besonders an die Vereinigten Staaten von Amerika) und ist bereit, dafür auch die Wiederherstellung der territorialen Einheit des Landes sine die zu verschieben oder zu beeinträchtigen. Italien dagegen, das formell wieder über seine Souveränität verfügt (obwohl es mit den Bedingungen des Friedensvertrags nach wie vor unzufrieden ist), hat vor allem Probleme mit der wirtschaftlichen Erholung, der politischen Stabilität und der Bändigung des inneren politisch-ideologischen Konflikts. 7 Zu den beiden Staatsmännern und ihrem politisch-ideellen Hintergrund vgl. in diesem Band die wichtigen Beiträge von Hermann Gram!, Pietro Scoppola, Francesco Traniello und Maddalena Guiorro.

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Der indirekte Effekt größerer Möglichkeiten bei der Bewältigung der sozialen und politischen Konflikte im Inneren, den De Gasperi sieb vom europäischen Einigungsprozeß versproeben hatte, stellte sieb jedoch nicht ein (die Verbindung zum Deutschland Adenauers ist De Gaspetis Bild psychologisch ansebeinend sogar nicht zuträglich). So scheiden sieb die persönlichen politischen Wege Adenauers und De Gaspetis: Während der deutsche Staatsmann im eigenen Land und international den Gipfel der Anerkennung erreicht, zieht sieb der italienische Staatsmann verbittert und von seiner Pattei praktisch an den Rand gedrängt aus dem politischen Leben zurück. Die Schwierigkeiten beim Versuch der Gründung der EVG und die man­ gelnde Zustimmung zu diesem Projekt zeigen, daß der europäische Einigungs­ prozeß doch stets Kriterien der Nützlichkeit und lnstrumentalisierbarkeit für nationale Interessen gehorcht. Die Abtretung der Souveränität an übernationale Institute und Behörden erfolgt jedenfalls unter direkter Kontrolle der Natio­ nalstaaten. Doch im Lauf der Jahre wird die ökonomische Interdependenz' immer enger und irreversibler. Abgesehen von Existenz oder Nichtexistenz formell supranationaler Behörden fühtt die allmähliche Entwicklung der gemeinschaftlichen Institutionen (Parlament und Kommission) dazu, daß alle Mitglieder die Souveränität und deren Ausübung immer stärker miteinander teilen. Zunehmend drängt sieb die Zweckmäßigkeit, ja Notwendigkeit einer institutionellen/konstitutionellen Weiterentwicklung der Gemeinschaft auf.

V. Von der deutseben Wiedervereinigung bis Moastricht und zur Jugoslawienkrise Unerwartet platzt das Ereignis der deutschen Wiedervereinigung (1989-

1990) in diesen mühsamen Prozeß und beschleunigt ihn erheblich'. Nun geht es darum, die .deutsche Frage" endgültig abzuschließen bzw. definitiv die Souvetiinität des geeinten Deutschland wiederherzustellen und es von den letzten Fesseln aus dem Zweiten Weltkrieg zu befreien. Es geht darum, die Situation zu revidieren, in der sich das besiegte Deutsche Reich nach dem Zweiten Weltkrieg befindet: de facto geteilt, ohne Friedensvettrag, mit formell vorläufigen Grenzen und einer eingeschränkten Souveränität auf­ grund der Beibehaltung einiger .Besatzungsvorbehalte" in bezug auf Berlin und "Deutschland als Ganzes" durch die vier Siegermächte (USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich). 8 Zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und Italien und ihren Proble­ men vgl. die Beiträge von Christoph Buchheim, Giorgio Mori, Patrizia Battilani und Francesca Fauri.

'

Vgl. die Aufsätze von Klaus-Dietmar Henke und Joachim Scholtyseck.

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Die internationale Anerkennung der deutschen Wiedervereinigung löste Souveränitätsprobleme, die obsolet geworden schienen. Man hat ihre Lösung als ein Meisterwerk der Diplomatie bezeichoet, das aus dem Herzen Europas für immer die Gefahr einer unruhigen", bedrohten und bedrohlichen" .Mit· telmacht" Deutschland verbannt hat, indem sie auch das Kapitel einer geteilten und in vielerlei Hinsicht ihren Siegern im Zweiten Weltkrieg untergeordneten Nation abschloß. •



Wrr wollen hier nicht die Kontakte zwischen Washington-Bonn-Moskau rekapitulieren, die zur Lösung führten und rechtlich und diplomatisch von der ad hocgeschaffenen .Zwei-plus-Vier"-Arbeitsgruppe formell festgeschrie­ ben wurden - einem Organ, dem die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte angehörten. Die Konferenz für die Sicherheit und Zusammenar­ beit in Europa (KSZE) ist die gesamteuropäische (auch die USA und Kanada einbeziehende) Institution, die diese Vereinbarungen definitiv sanktioniert. Auch die Europäische Gemeinschaft spielt (wenn auch mit manchem Vorbe­ halt) eine wichtige Rolle als Unterstützetin Deutschlands, das, nach einigen anfänglichen Unsicherheiten, mit Kanzler Kohl entschlossen eine vorbehaldose Aufnahme der DDR in die Bundesrepublik anstrebt. Entschlossen werden die Voraussetzungen för den späteren Vertrag von Maastricht, die Griindung der Europäischen Zentralbank und die Einführung der gemeinsamen Währung geschaffen. Eine doppelte Gefahr soll abgewendet werden: ein zu mächtiges Deutschland, das die bestehenden Gleichgewichte verändern könnte, oder umgekehrt ein Deutschland, das versucht sein könnte, sich von seinen Bin­ dungen an die Gemeinschaft in irgendeiner Weise zu lösen.

Die zuletzt genannte Beförchtung erscheint heute aus dem Rückblick unge­ rechtfertigt oder übertrieben". Doch 1990-1993, in einem kulturellen Klima der Wiederentdeckung der .deutschen nationalen Identität", der .zentralen geopolitischen Position" Deutschlands und der Visionen eines deutschen .Sonderwegs", gab es in den Medien auch eine Hochblüte der Angst vor einem "europäischen Superstaat". Jedenfalls hat die fest europatreue Position der Regierung Kohl und der politischen Klasse Deutschlands jeglichen anti­ europäischen Rückfall in der Politik verhindert. Auch in dieser Situation kommt der vorbehaldosen Zustimmung von ganz Deutschland zur NATO bedeutendes Gewicht zu. Wie schon in den 50er Jahren ist die NATO­ Mitgliedschaft ein Faktor, der objektiv Deutschlands europäische Integration unterstützt. In diesem Rahmen bleibt Italien angesichts der neuen Protagonistenrolle Deutschlands nichts anderes als der bescheidene Part des befreundeten und, 1o Vgl. dazu die entsprechenden Passagen im Beitrag von Lucio Caracciolo, wäh­ rend Martin Sabrow allgemeiner den "Abschied von der Nation" untersucht.

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wenn auch mit einigen Vorbehalten, zustinunenden Staates. Tatsächlich sind die italienischen Politiker (besonders Giulio Andreotti, der damalige Minister­ präsident) besorgt über die mögliche Destabilisierung, die eine überstürzte deutsche Wiedervereinigung bei den Iabileren Gleichgewichtsverhältnissen der osteuropäischen Länder bewirken könnte, die sich gerade vorsichtig von der Sowjetunion zu lösen beginnen (die ihrerseits von einer Krise ungeahnter Dimensionen erschüttert wird). Die italienischen Politiker besitzen zwar gute Argumente, aber keine Möglichkeiten oder alternativen Strategien, um den Lauf der Dinge zu beeinflussen, und so entsteht der Eindruck, sie unterstützen die Deutschen nicht mit Überzeugung. Dafür müssen sie sich ins Gesiebt sagen lassen, sie seien .not part of the game" -kein Partner in dem internationalen Spiel, das von der Wiedervereinigung in Gang gesetzt worden war". Das wendet sich nicht zum Besseren, als der italienische Außenminister Gianni De Michelis .Ia Quadrangolare", .Ia Pentagonale" und .l'Esagonale" erfindet, also geopolitische Formen/Formeln für eine politische Kooperation, die es Italien in Mitteleuropa und dem Donauraum ermöglichen soll, der befürchteten deutschen Hegemonie autonom entgegenzutreten und mit ihr zu konkurrieren. Die italienische Regierung reagiert auf das, was ihr als objektive, wenn auch europäisierte Wiederkehr der deutschen Vorherrschaft in Osteuropa erscheint, indem sie ein kompliziertes Netz von Kontakten mit Österreich, Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und Jugoslawien knüpft. Sie versucht, in Mitteleuropa ein Kooperationsmodell zu lancieren, das eine Alternative zum bloßen EU-Beitritt darstellen soll, den sie als faktische Einverleibung in den deutschen Einflußbereich begreift. 11 Der Ausdruck fallt am Rand der Konferenz in Ottawa vom Februar 1990, bei der die erwähnte .Zwei-plus-Vier"-Gruppe gesebaffen wird Die Unruhe des italieni­ schen Außenministers", so berichten zwei deutsche Diplomaten, die Augenzeuge des Vorgangs waren- .Reflektierte ein überJahrzehnte währendes Unbehagen der rümiseben Regierong, von exklusiven Beratungen der Deutseben mit Amerikaoern, Briten und Franzosen-wie den traditionellen Deutschland-Frühstücken von NATO-Räten-aus­ geschlossen zu sein. In Rom herrsehre die Vorsrellung vor, die gesamte NATO an den Verhandlungen über die deutsche Frage zu beteiligen. Das westliebe Bündnis-so die Befürebtungen der Regierung Andreotti- könnte seine Natur ändern, wenn Regelungen über die Präsenz sowjetiseber Truppen und den militärischen Status der DDR getroffen würden Doeb dann erhält das Bild eine heftig ironisebe Färbung Die Atmosphäre im Konferenzrawn war aufgeladen. De Miebelis stand in seiner beträebtlieben Leibesfülle erregt gestikulierend an seinem Delegationsplatz. Hinter ilun wirbelten seine beflissenen Berater - alle von ungleich kleinerer Statur. Es war wie eine Szene aus der commedia dell' atte". Tatsäeblieb gelingt es dem deutseben Außenminister Hans-Dietrieb Genseber nicht, seine Gesprächspartner davon zu überzeugen, daß hier nur die Grenzen zwischen Deutschland und Polen auf dem Spiel stehen und das Problem also allein von den direkt Beteiligten gelöst werden muß. Schließlieb entfuhr es ibm, wie Diplomaten genüßlieb kolportierten: ,You are not patt of the game'". Vgl. R. Kiesster I F. Eibe, Ein runder T!seb mit sebarfen Ecken, Baden-Baden 1993, S. 103-104, 107. .

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Ein zum Scheitern verurteilter Versuch, aber symptomatisch für die Rück­ kehr von Italiens Interesse an Mitteleuropa, die alte historische Aspirationen heraufbeschwört. Doch bei der Verfolgung dieses Interesses berücksichtigt man nicht, daß die Entstehung der Europäischen GerneiDschaft inzwischen die geopolirischen Koordinaten der Vergangenheit irreversibel verändert hat. Für die osteuropäischen Länder besteht die einzige realistische Perspektive eioer Kooperation mit Westeuropa schlicht und einfach in der Osterweiterung der Europäischen Union, und dieser geht bezeichnenderweise die Aufnahme dieser Länder in die NATO voraus. Es wiederholt sich hier der Prozeß der Verwest­ lichung und Europäisierung, wie er beim eiostigen Kern Europas funktioniert hatte. Jedes alternative Modell .konzentrischer" und variabler Kreise (vom Typus .Hexagon") ist objektiv zum Scheitern verurteilt. Wtr kommen so zur letzten Episode der hier betrachteten Periode: dem gescheiterten oder untauglichen Versuch Europas (und Deutschlands) zur Bewältigung der Jugoslawienkrise - angefangen bei der Unabhängigkeitser­ klärung Kroatiens und Sloweniens, durch die sie ausgelöst wurde. Diese Krise trifft die Europäische Union unvorbereitet und macht auch die Ohnmacht der KSZE offenkundig, die sich unter dem Druck Deutschlands selbst zum Organ für die Lösung der Krisen in Europa ernannt hatte. Für Italien wie Deutsch­ land sind die Jugoslawienkriege, die mit Unterbrechungen die neunziger Jahre prägen (Bosnien, Kosovo), über ihre Entwicklung und ihren Ausgang hinaus eio wichtiger Test für den Einsatz militärischer Gewalt.

VI. Das Profil der "Zivihnaeht" Als roten Faden für die Problematik der neunziger Jahre könnte man- aus europäischer Perspektive - den Begriff der .Zivilmacht" aufnehmen, der in diesen Jahren in Deutschland entwickelt wird". Unter .Zivilmacht" versteht man die Politik eines demokratischen Staates, der, ausgehend von seiner supranationalen Integration (auf europäischer Ebene), seine Energien und Ressourcen auf internationaler Ebene vor allem in die Förderung des koope­ rativen Multilateralismus steckt. Angesichts der Explosion der internationalen Konflikte weist er ihrer politischen Schlichtung Priorität zu und beschränkt drastisch den Einsatz von Gewalt, der auf jeden Fall der Autorisierung durch internationale Organisationen (vor allem die UNO) bedarf. Dieses Verhaltensmodell, das in Deutschland während der neunziger Jahre heraufbeschworen und entwickelt wird, gerät im Kontext der Explosion des 12 Eine systematische Aufarbeitung dieser Problematik auf der Grundlage einer Rekonstruktion der deutsch-italienischen Beziehungen der letzten hundertfünfzigJalue versuche ich in meiner Studie: Germania, Italia, Europa. Dallo stato di poterua alla "potenzs civile", Turin 2003.

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internationalen Terrorismus und der Strategien zu seiner Bekämpfung in Schwie­ rigkeiten. Nicht zufällig kommt es zu Mißhelligkeiten zwischen der deutschen .Zivilmacht" und der amerikanischen Supermacht, die bei ihrem Kampf gegen den Terrorismus (gegen die .Schurkenstaaten") bisweilen Verhaltensweisen an den Tage legt, die an Züge des klassischen Machtstaates erinnern". In Wahrheit bestätigt diese scheinbar kontingente Problematik, daß die klassischen politischen Kategorien .Souveränität", .Geopolitik" und .Krieg" eine tiefgreifende Veriinderung erfahren haben. Es stellt sich zwischen ihnen gerade ein neues Gleichgewicht her, das noch einer angemessenen wissen­ schaftlichen Reflexion harrt.

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Exemplarisch der Aufsatz von R. Kagan, Power and Weakness, in: Policy Review,

113 (Mai-Juni 2002).

Italien und Deutschland nach 1945 Vom schwierigen Geschäft des Vergleichs Von Hans Wollet

Italien und Deutschland zählten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den unruhigsten und angriffslustigsten Staaten in Europa. Die beiden .Achsen"-Mächte bildeten eine ständige Herausforderung für das System der kollektiven Sicherheit, das nach 1918 etabliert worden war und 1939 endgültig in die Brüche ging, als Hider-Deutschland den Zweiten Weltkrieg auslöste und damit die Welt in eine beispiellose Katastrophe srürzte. Nach 1945 kamen die beiden hochgradig ideologisierten und von sich selbst berauschten V ölker im Innem zur Ruhe. Sie fanden außerdem die Kraft zur Wiederannäherung und Aussöhnung, die nach der Erfahrung deutscher Besatzungsherrschaft in Italien kaum mehr vorstellbar schien, und sie entwickelten sich schließlich auch zu stabilen Faktoren der internationalen Kooperation, wobei ihre Rolle als Motoren der europäischen Einigung besonders zu betonen ist. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Gaben kollektive Lernprozesse den Ausschlag? Spielte das Wlrtschaftswunder der fünfziger und sechziger Jahre die entscheidende Rolle? Oder ließen Zwänge der internationalen Politik gar keine andere Wahl: Mußten Deutsche und Italiener vernünftig werden, weil sonst die ametikanische Führungsmacht der westlichen Allianz- dem beide Staaten (die DDR bleibt hier ganz ausgespart) ja auf Gedeih und Verderb verbunden waren - die Gratifikationen gestrichen und ntit Sanktionen gedroht hätte? Das waren die Hauptfragen, die amerikanische, deutsche und italienische Historiker auf der 45. Studienwoche in Trient zu beantworten suchten. Daß dabei vor allem auch die vergleichende Perspektive zu ihrem Recht kommen sollte, muß nicht umständlich erläutert werden. Allerdings dürfen auch die Hemmnisse nicht übersehen werden, die einem solch ambitionierten Vorhaben entgegenstehen. Sie lassen sich in drei Punkten zusammeufassen: Dies- und jenseits der Alpen gibt es-und das wäre der erste Punkt-kaum eine Handvoll Fachleute, die in beiden Nationalgeschichten so bewandert sind, daß sie die Aufgabe eines Vergleichs auf sich nehmen können- Paolo Pombeni, Giovanni Bognetti, Brunello Mantelli und Gustavo Corni sind solche Ausnahmen, denen von deutscher SeiteJens Petersen, Wolfgang Schiedet, Lutz Klinkhammer und Rudolf Lill an die Seite zu stellen wären.

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Der zweite Punkt, der einen Vergleich erschwert, hängt mit dem Forschungs­ stand zusanunen, der in beiden Ländern mittlerweile erreicht worden ist. Die Zeitgeschichte nach 1945 oder die "jüngere Zeitgeschichte", wie Kar! Dietrich Brachet sie genannt hat, hat zunächst in beiden Ländern ein Schattendasein gefristet - aus verständlichen Griinden: Die Zeithistoriker hatten Wichtigeres zu tun. Sie mußten im deutschen Falle die Etappen der Machtergreifung Hiders analysieren, das Wesen und die Funktionsweisen der NS-Diktatur bestimmen und schließlich die Verbrechen bilanzieren, die von deutschen Händen überall in Europa verübt worden sind; dieser Riesenaufgabe hat sich in den fünfziger und sechziger Jahren fast die gesamte Zunft der Zeithistoriker verschrieben. Die deutsche Zeitgeschichte ist ja, wie Hans Günter Hockerts treffend bemerkt hat, aus dem Geist der Vergangenheitsbewältigung entstanden. Im Falle Italiens lagen die Dinge von Beginn an anders. Hier ist die moderne Zeitgeschichte aus dem Geist der Resistenza hervorgegangen, die sich selbst zum Hauptgegenstand der historischen Forschung erhoben hat und diese Position fast unangefochten bis in die siebziger/achtziger Jahre behaupten konnte, weil sie die Hauptquelle der nationalen Selbstrepräsentation und der nationalen Selbstbeschreibung war.

Konkret heißt das: Die westdeutsche Zeitgeschichte überwand in den sieb­ ziger Jahren das Schwellenjahr 1945, konzentrierte sich dann zuerst auf die Besatzungszeit, um schließlich die fiinfziger und sechziger Jahre zu entdecken, die zumal in der letzten Dekade in den Mittelpunkt der Forschung gerückt worden sind; mittlerweile sind selbst die siebziger Jahre keine terra incognita mehr. Vor allem über das politische System der zweiten deutschen Demokratie, die Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft und ihre Ausgestaltung, die Geschichte und Struktur der wichtigsten Parteien, die Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, die außenpolitischen Weichenstellungen und die politische Klasse liegen so viele einschlägige Monographien, Sanundbände und Quellen­ editionen vor, daß sie selbst von den Experten kaum mehr zu überblicken, geschweige denn zu rezipieren sind. Für das Feld der Sozial-, Wu-tschafts-, Erfahrungs- und Kulturgeschichte fällt die Bilanz zwar bescheidener aus, doch auch hier sind in den letzten Jahren beträchtliche Fortschritte erzielt worden - man denke nur an das Amerikanisierungs-Projekt, das in Tübingen durchgeführt worden ist, an die sozial- und politikgeschichdichen Untersuchungen, die ein Forscherteam in Münster gestartet hat, oder an das Forschungsvorhaben des Instituts für Zeitgeschichte in München, das den Titel "Gesellschaft und Politik in Bayern 1949 bis 1973" trägt und auf eine Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik zielt. Im ganzen, so wird man zusammenfassend sagen können, ist die deut­ sche Zeitgeschichtsforschung der 30-Jahres-Sperrftist bei der Regelung des Aktenzugangs dicht auf den Fersen - was vor 1972 liegt, ist gut erforscht; für

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die Zeit danach sind wir auf Memoiren, Reportagen, Statistiken oder andere offene Quellen angewiesen, die allerdings so reichlich fließen, daß wir uns eigentlich nicht beklagen können. Wir müßten diese Quellen nur viel häufiger nutzen und uns überhaupt mehr um die neueste, der Gegenwart am nächsten liegende Zeitgeschichte kümmern, anstatt sie den Politikern und Journalisten, den Politologen und Soziologen zu überlassen. Läßt sich für Italien ähnliches über den Forschungsstand konstatieren? Nicht ganz- die italienische Zeitgeschichte hat nach 1945 Grandioses geleistet, allerdings vor allem bei der Erforschung der Resistenza, die ja in der Tat zu den ganz großen Kapiteln der italienischen Nationalgeschichte zu zählen ist; hier sind zahlreiche Institute ins Leben gerufen und oft bis heute am Leben erhalten worden, die in puncto Produktivität kaum zu übertreffen sind. Wer sich selbst ein Bild davon machen will, der werfe einen Blick in den großar­ tigen, von Luca Baldissara herausgegebenen .Adante storico della Resistenza italiana", der im Jalir 2000 bei Mondadori erschienen ist. Allerdings hat diese einseitige Konzentration auch illre Schattenseiten: Die italienische Zeitgeschichte hat lange gebraucht, den Faschismus zu erforschen, und sie hat noch länger - fast bis in die achtziger Jahre - gebraucht, bis sie in die Zeit nach 1945 vorzudringen begann - allerdings auch dann nur ntit geringem Einsatz von Personal und finanziellen Ressourcen. Nichts zeigt dies deutlicher als die Analyse der beiden führenden Fachzeitschriften, der .Storia Contemporanea" und von .Italia Contemporanea", die bis 1974 .n Movimento di liberazione in Italia" hieß: In der .Storia Contemporanea" sind zwischen 1970 und 1996 - also in der gesamten Zeit ilires Bestehens-rund 430 Aufsätze und Dokumentationen erschienen; nur 58(= 13%) davon bezogen sich auf die Zeit nach 1945, und von diesen 58 wiederum 42 auf die unntittelbare Nachkriegszeit. Lediglich 16 waren den fünfziger, sechziger, siebziger und achtziger Jahren gewidmet. Bei .Italia Contemporanea" sieht die Bilanz etwas besser aus, ohne daß sich am Gesamtbefund einer bis heute geltenden eklatanten Vernachlässi­ gung der Zeitgeschichte nach 1945 etwas grundlegend ändern würde. Diese beiden Zeitschriften sind nur zwei beliebige Beispiele. Zu erwähnen wäre ferner: Bei den .Documenti Diplomatici Italiani" ist der Sprung in die fünfziger Jahre noch immer nicht gelungen; der letzte Band bezieht sich auf das Jahr 1948. Ähnliches gilt für die Kabinettsprotokolle, die auch über das Jahr 1948 noch nicht hinausgekommen sind, ganz zu schweigen von den internen Protokollen der großen italienischen Parteien, die fast noch ganz im Dunkel der Geschichte liegen, oder von großen Nachlässen, die vielfach noch immer in Privathand sind. Noch mehr wird eine breite Erforschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dadurch erschwert, daß auch die staatlichen Archive ihre Bestände hüten wie ihre Augäpfel und nur widerstrebend zugänglich machen: Im Archiv des Außenntinisteriums sind die Bestände nur bis 1949

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beziehungsweise 1957 einsehbar, im Archivio Centtale dello Stato gilt die 40Jabres-Regel, die freilieh häufig mißachtet oder einfach dadurch außer Kraft gesetzt wird, daß bestimmte Bestände nicht auffindbar sind, und der Vatikan, eine der zentralen Instanzen der italienischen Innen- undAußenpolitik, hält seine Dokumente aus der Zeit nach 1945 wohl sogar noch in fünfzig Jahren unter Verschluß. Daß die deutsche Zeitgeschichte in dieser Hinsicht ungleich bessere Voraus­ setzungen hat, liegt im übrigen nicht daran, daß die Deutschen die gleichsam angeborene Neigung hätten, die Zeitgeschichte als die geistige Form zu begrei­ fen, in der eine Gesellschaft Rechenschaft über die eigene Vergangenheit ablegt, und daß sie deshalb die Zeitgeschichte so reich ausstatten und mit öffentlicher Zuwendung belohnen. Wenn im deutschen Fall die Archivgesetze liberaler und die zeitgeschichtlichen Großprojekte besser ausgestattet sind, so hat das viel mit dem Erwartungsdruck zu tun, der seit 1945 von der internationalen Öffentlichkeit ausgegangen ist. Deutsche Zeitgeschichte war ja nie eine Sache der Deutschen allein, sie war immer - gottlob muß man sagen - dem scharfen Konkurrenzdruck und auch der Kontrolle vor allem ametikanischer, britischer und jüdischer Historiker ausgesetzt, und man konnte es sich deshalb schlechter­ dings nicht leisten, Archive zuzusperren oder ganze Partien der Vergangenheit auszublenden, ohne größere Skandale zu riskieren. Die Italiener wurden mit ihrer Zeitgeschichte zwar nicht allein gelassen, vor allem die Briten haben sich hier ausgezeichnet. Insgesamt blieb die Observation durch die internationale Öffentlichkeit aber doch deutlich geringer als in Deutschland, so daß die italienische Regierung auch nicht befürchten mußte, in die Schlagzeilen zu geraten und von New York, London und TelAviv der Vergangenheitsflucht geziehen zu werden, wenn sie sich in puncto Zeitgeschichtsförderung nicht überanstrengte. Wie immer man die Dinge aber bewerten will. Fest steht: Für den Zeitraum

1945 bis 1972 ist der Forschungsstand höchst unterschiedlich, für die Zeit danach bewegen wir uns in beiden Ländern auf weniger gesichertem Gelände, das aber - wie schon gesagt - durchaus beschritten werden könnte, wenn die Historiker nur wollten und ihre Gegenwartsscheu ablegen würden. Was hier möglich ist - auf dem Zwischenbereich von Essayistik und Geschichtsfor­ schung - hat niemand eindrucksvoller demonstriert als Lucio Caracciolo mit seinem sehr anregenden Beitrag "Italien auf der Suche nach sich selbst", der in der großen Geschichte Italiens bei Laterza erschienen ist. Der dritte Punkt, der das Geschäft des Vergleiches so schwierig macht, resultiert aus der Verschiedenartigkeit der beiden Länder. Vergleichen heißt bekanntlich nicht Gleichsetzen, sondern Herausarbeiten von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, wobei aber ein Minimum an Vergleichbarkeit bestehen muß. Dieses Minimum ist im Falle Italiens und Deutschlands gewiß erfüllt, wie hier nur mit einigen Stichworten angedeutet werden kann: Verfassung und

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politisches System sind westlich-pluralistischen Kriterien von Demokratie und Parlamentarismus verpflichtet. Die beiden Gesellschaften haben ihre agrarische Vergangenheit längst hinter sich und sind auf dem Ffad der Industrialisierung und Tertiärisierung weit fortgeschritten. Auch im Hinblick auf Werte, All­ tagsverhalten und Zukunftserwartungen haben sich - nach langen Jahren des bilateralen Austausches und der nivellierenden Einwirkung von amerikanischen Vorbildern - so vide Gemeinsamkeiten ergeben, daß man fast sagen möchte, kein Volk steht dem deutschen näher, keines ist ihm auch ähnlicher- jedenfalls geworden- als das italienische. Besonders starke Impulse hat dieser Konver­ genzprozeß natürlich von der europäischen Einigung empfangen, die beide Staaten von Beginn an nach Kräften vorangetrieben haben. Dieses Minimum an Vergleichbarkeit ist aber doch gefährdet, weil ihm eklatante Unterschiede entgegenstehen, die jede Vergleichsarbeit erschüttern; auch hier sollen nur Stichworte genannt werden, die das Problem umreißen können: 1. Deutschland war nach 1945 erst viergeteilt und in seinen Viertdn jeder Souveränität beraubt. Danach bestand es aus zwei Staaten, die- eingebunden in antagonistische Bündnissysteme- unterschiedlicher kaum sein konnten und sich, der Logik des Kalten Kriegs folgend, als Feinde betrachteten. Erst 1989/90 wuchs zusammen, wie Willy Brandt sagte, was bis 1945 zusammengehört hatte. Italien dagegen ist - wenigstens staatsrechtlich und geographisch - ein Land aus einem Guß, dessen Souveränität seit dem Friedensvertrag von 1947 wiederhergestellt war, auch wenn die Souveränität von Staaten im Zeichen von Nato und EU heute anders zu definieren ist als in früheren Zeiten. 2. Italien ist lange ein fast idealtypischer Zentralstaat geblieben; die Kom­ munen, Provinzen und Regionen führten eine politische Kümmerexistenz, während in der Bundesrepublik die von den Nazis unterlaufene kommunale Sdbstverwaltung und die von den Nazis ausgehebdte Hoheit der Länder nach 1945 nicht nur wiederhergestellt, sondern sogar beträchtlich ausgeweitet wurden- mit beträchtlichen Folgen für das politisch-administrative System, das seinen Gravitationspunkt in einem föderativen System nicht in einer Kapitale, sondern auch in München, Düssddorf und den Hauptstädten der anderen Bundesländer hat, in denen nicht sdten sogar andere Parteien regierten und regieren als in der Zenttale Bonn und jetzt Berlin. Erst in den letzten Jahren erlebt auch Italien so etwas wie eine Vitalisierung des föderativen Systems; zahlreiche Kompetenzen wurden auf die unteren staatlichen und kommunalen Ebenen verlagert, was auch - so will es scheinen- einer Regierung Berlusconi enge Grenzen setzt, weil im Zweifdsfall häufig doch nicht die Parteilinie den Ausschlag gibt, sondern lokale und regionale Interessen dominieren. 3. Das politische System Italiens ist aber nicht nur wegen seines zentrali­ stischen Zuschnitts starrer und weniger flexibd als sein deutsches Pendant.

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Hinzu kommt, daß es zwar die größte kommunistische Partei Westeuropas, aber keine demokratische linke Volkspartei hervorgebracht hat, die in der Lage gewesen wäre, der Democrazia Ctistiana die Führungsrolle in Staat und Gesellschaft streitig zu machen und für einen Machtwechsel zu sorgen; das politische System und mit ihm die DC mußte Anfang der neunziger Jabre erst implodieren, ehe die Linke in Gestalt der vielfach gehäuteten Linksdemokraten eine Chance erhielt, die sie freilich dann wieder nicht zu nutzen verstand. Eine solche Chance hatte es vielleicht schon unmittelbar nach 1945 für die Sozia­ listen unter der Führung von Pietro Nenni gegeben, die damals noch stärker waren als die Kommunisten. Doch Nennis Partei vermochte sich weder von ihrem revolutionären Maximalismus noch aus ihrer Einheitsfront-Politik mit den Kommunisten zu lösen und verspielte so ihr Erstgeburtsrecht im linken Lager an den Partito Comunista, der viel zu lange am Gängelband Moskaus blieb, als daß er die Democrazia Cristiana hätte gefahrden und sich selbst aus den Fesseln der negativen Integration in den Staat hätte befreien können. Die Folge davon war ein politischer Inunobilismus, eine blockierte Demokratie, wie auch gesagt worden ist, der es nicht gelang, reformerische Impulse aus der Gesellschaft in genügendem Maße aufzunehmen und in Zukunftspro­ jekte umzusetzen-wie das 1969 von der SPD Willy Brandts erreicht worden ist. Die italienischen Sozialisten wagten ihr Bad Godesberg erst, als sie nach ewigen Spaltungen und Vereinigungen zu einer besseren Splitterpartei ohne Wachstumspotential herabgesunken waren. 4. Bliebe als viertes Problem, das unsere Vergleichsarbeit belastet, der Mezzo­ giorno oder anders formuliert: die offenkundig unheilbare sozio-ökonomische Strukturschwäche eines Drittels Italiens, die um so stärker ins Auge fällt, als in fast allen übrigen Regionen des Landes ein Produktivitäts- und Wohlstandsni­ veau erreicht wurde, das den Vergleich mit den führenden Prosperitätszonen Westeuropas nicht zu scheuen braucht. Auch in der Bundesrepublik gab es von der Natur benachteiligte, gottverlassene Landstriche, die von der Moderne allenfalls in Gestalt von Fernsehen und Automobilen beriihrt worden waren, während Arbeitsplätze ebenso fehlten wie Schulen und Krankenhäuser, ganz zu schweigen von Institutionen, die so etwas wie Kultur verbreiten könnten. Diese Landstriche sind in den letzten vierzig]abren systematisch erschlossen worden, was freilich auch keine allzu große Kunst war, handelte es sich doch-jedenfalls im Vergleich mit Süditalien- um strukturschwache Rückständigkeitsinseln in einer Umgebung, die intakt war und florierte. Im Mezzogiorno war es genau umgekehrt - und daran vermochten auch die gewaltigen Anstrengungen nichts zu ändern, die bis in die achtziger Jabre von den Regierungen in Rom unternommen wurden, um die schreiende sozio-ökonomische Heterogenität des Landes zu beheben; die Unterschiede zwischen Nord und Süd sind in mancher Hinsicht sogar noch größer geworden, was nicht zuletzt daran liegen mag, daß vor allem die Jüngeren und Aktiveren ihrer Heimat Kalabrien oder

Italien und Deutschland nach 1945

Sizilien den Rücken kehrten und ihr Heil in Norditalien oder im Ausland suchten. Noch niemals, so hat Jens Petersen treffend geschrieben, sei der Süden so allein gewesen, habe er sich so verlassen gefühlt, wie in den letzten Jahren des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in denen offenbar geworden ist, daß die große Politik kapituliert hat und kein Mittel mehr sieht, das geeignet wäre, die innere Einheit von Nord- und Süditalien herzustellen. Im übrigen dürfte ein systematischer Vergleich natürlich nicht bei den Themen stehen bleiben, die in den einzelnen Sektionen dieses Bandes explizit behandelt worden sind- also bei der Ausgangslage nach 1945, der europä­ ischen Einigung und der Einbindung in das atlantische Bündnis, beim Erbe Adenauers und De Gasperis, bei der Last der Vergangenheit und beim Ende des Kalten Krieges. Weitere Themen müßten hinzukommen, wobei vor allem zu denken wäre an: ,68", Terrorismus, Korruption, Umweltpolitik, Staatsver­ schuldung oder an die Gefährdungen für die Demokratie, die in beiden Ländern immer wieder am Horizont aufzogen und gerade in den letzten Jahren viel Diskussionsstoff lieferten. Es gibt viele überzeugende Griinde, die für diese Themen sprechen; ebenso viele sprachen freilich für die Schwerpunkte, denen die beiden Herausgeber in Absprache mit der Leitung und dem wissenschafeli­ ehen Beirats des Instituts in Trient schließlich den Vorzug gaben- nicht selten übrigens, weil für andere Themen die Referenten fehlten oder weil der dürftige Forschungsstand dagegen sprach.

Italien und Deutschland nach 1945 Von der Notwendigkeit des Vergleichs* Von Charles S. Maier

I. Zwei parallele Geschichten Thema dieser Tagung ist eio Vergleich der deutschen und italienischen Ent­ wicklung seit dem Zweiten Weltkrieg. Daher ist es sinnvoll, zunächst der Frage nachzugehen, was eioe komparative Herangchensweise auszeichnet. Obwohl ich mich io meioer gesamten Laufbahn stets bemüht habe, die europäische Geschichte unter komparativen Gesichtspunkten zu betrachten, stehe ich doch iouner wieder erneut vor der Frage: Was ist vergleichende Geschichtsschreibung und was kann sie leisten? Wie bei vielen scheiobar eiofachen Fragen, wird die Antwort um so schwieriger, je eiDgehender man sich damit befaßt. Dennoch will ich auf die allgemeioe Fragestellung eiDgehen und zugleich konkrete Gesichtspunkte benennen, die sich aus eioem komparativen Ansatz für die Nachkriegsentwicklung io Italien und Deutschland ergeben. Eigentlich sollte jede Methode, jeder Ansatz io den Geschichts- und Sozial­ wissenschaften neue Fragestellungen aufwerfen, an die wir bis dahio gar nicht gedacht haben. Wenn wir plötzlich eioen grundlegenden Zusammenbang oder eioe Reibe von Kausalbeziehungen erkennen, die uns zuvor entgangen waren, dann ist es, als würden wir damit Neuland betreten. Deshalb verfolgt dieser Beitrag eio doppeltes Ziel: Erstens soll allgemeio geklärt werden, welche wis­ senschaftlichen Erkenntnisse durch den historischen Vergleich im Normalfall gewonnen werden können, und zweitens, bei welchen spezifischen Elementen der Vergleich im konkreten Fall- der Entwicklung io Italien und Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges - ansetzen sollte. Begionen möchte ich mit der Aufzählung von zehn Gemeiosamkeiten zwischen Italien und Deutschland. Denn schließlich ist es keio Zufall, daß die Veranstalter gerade diese beiden Länder zusammengespannt haben. In beiden Ländern schlossen sich Regionalstaaten mit langer eigenständiger Geschichte erst Mitte des 19. Jahrhunderts zu eioem Nationalstaat zusammen. *

Aus dem Englischen von Petra Kaiser.

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In beiden Ländern erhielt die nationale Bewegung wesentliche Impulse durch das revolutionäre Frankreich und die napoleonische Besetzung, die den Prozeß der institutionellen Transfonnation entscheidend beeinflußten. Das heißt, in keinem der beiden Länder fand eine eigenständige Revolution statt, doch beide wurden, wenn auch nur vorübergehend, Schaupläue einer durchgreifenden Säkularisierung und administrativen Modernisierung, wie sie die Französische Revolution in ihrem Mutterland auslöste. In beiden Ländern kam es daraufhin 1848/49 zu revolutionären Unruhen: Obwohl diese Massenbewegungen von Historikern häufig als .gescheitert" bezeichnet wurden, gingen daraus doch nennenswerte Volks- und Elitebewegungen hervor, die den Prozeß der natio­ nalen Einigung sozial und politisch entscheidend vorantrieben. Im preußisch dominierten Deutschland- das erkannten die Architekten des liberalen Staates in Italien sehr wohl- kam zwar eine strengere, eher militärisch orientierte Ver­ fassung zum Zuge, dennoch gingen liberale Überzeugungen der Mittelschichten und der Glaube an ein darwinistisches Staatssystem bei der Griindung beider Nationen eine Verbindung ein. Und während friihere Historikergenerationen vor allem Beschränkungen und Mängel der demokratischen Entwicklung in Deutschland und Italien nach 1870 betonten, weisen neuere Interpretationen verstärkt darauf hin, daß es vor dem Ersten Weltkrieg eine authentische Betei­ ligung sowohl des Volkes als auch liberal-demokratischer bürgerlicher Kräfte gegeben habe'. Zwischen den Weltkriegen brachten beide Länder faschistische Regime mit ähnlichen ideologischen Positionen an die Macht. Sie lehnten die noch junge parlamentarische Demokratie ab, zerschlugen konkurrierende, vor allem marxistisch orientierte Organisationen und erhoben dann zum Teil totalitäre Ansprüche. Von 1940 bis 1943 waren beide Länder militärische Verbiindete, und danach, während der deutschen Besatzung 1943 bis 1945, noch einmal. Natürlich war Nationalsozialismus nicht gleich Faschismus; denn die italie­ nische Gesellschaft brachte eine umfassende Widerstandsbewegung hervor, und die meisten Italiener teilten nicht den offenen Antisemitismus, der für die Nationalsozialisten so wichtig war. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten beide Länder erfolgreiche Demokratien auf. Ehrlich gesagt, blieb ihnen kaum eine andere Wahl, denn der Faschismus war durch seine Niederlage und seine Grausamkeiten endgültig diskreditiert und die Vereinigten Staaten spielten in Westeuropa, insbesondere in Deutschland, 1 Zur italienischen Rezeption einer preußisch dominierten Vereinigung Deutsch­ lands immer noch gültig F. Chabod, Storia della politica estera italiana dal1870 al1896, Bati 1965. Zur neueren positiveren Bewertung der Ergebnisse von 1848 und der libe­ ralen Bewegung in Deutschland siehe D. Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988;]. Sperber, Rhineland Radicals; The Democrarie Movement and the Revolution of1848-1849, Prioceton NJ1991 ; M.L. Anderson, Praticing Dernocracy: Elections and Political Culture in Imperial Germany, Prioceton NJ 2000.

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eine gewichtige Rolle. Dennoch erwies sich die Neugründung der liberaleo Demokratie in beideo Ländern als weit robuster und widerstandsfähiger, als außeostebeode Beobachter jemals vennuter hätteo. Auch wenn es heute modern ist, die Unzulänglichkeiteo der italieoischeo Verfassung zu kritisiereo, hatte das System doch Bestand und konnte nicht mehr wegdiskutiert werdeo, darin durchaus vergleichbar mit dem ersteo liberaleo Staat und seineo Leistungeo im Ersteo Weltkrieg, der seinerseits eine viel autheotischere Lösung darstellte, als fröhere Kritiker glaubeo macheo wollteo. Gleichwohl war die politische Führungsschicht in der unmittelbareo Nachkriegszeit in beideo Länder darauf bedacht, ein neues demokratisches System zu etabliereo, in dem starke Ele­ meote der Kontinuität in der Bürokratie populistische Bewegungeo von unteo in Schach halteo sollteo. Da sie im Unterschied zu Frankreich und Japan aber nicht über eineo machtvolleo öffeotlicheo Dieost verfügteo, eotscheideo sie sich dafür, demParlameotarismus eine große Rolle einzuräumeo. In beideo Länder eorwickelteo sich - ebeoso wie Österreich - spezielle Formeo einer .partitocrazia", bisweileo um deoPreis mangelnder Reform- und Vetände­ rungsbereitschaft. Darüber hinaus trateo die Christdemokrateo in beideo Ländern alsPartei der Mittelschichteo auf und bildeteo so ein Zentrum, das für Kontinuität sorgte. Als neue politische Kraft verfügteo sie damit kulturell und gesellschaftlich über eine Basis, die sich von der fröhereo klasseomäßigeo Einteilung in Rechts und Links grundlegeod unterschied. Dadurch konnteo sie die Werte der Mittel­ schichtfamilieo absorbiereo und eine moralische Grundeinstellung für sich in Ansptuch nehmeo, die als unbelastet galt (allerdings bedeutete das Bekennt­ nis zu chtistlicheo Werteo auch, daß Themeo wie die Kollaboration mit deo Faschisteo, insbesondere jedoch das Verhältnis zu deo Judeo, totgeschwiegeo werdeo mußteo). Außerdem profitierte dasParteieasystern in beideo Ländern von starkeo, moralisch streogeo und durch und durch konservativeo Führungs­ persönlichkeiteo, die wie Konrad Adeoauer und Alcide De Gasperl über echte auctoritas verfügteo und dafür einstandeo, daß es in der Demokratie gemäßigt und geordnet zuging'. Für eineo demokratischeo Neubeginn nach jahrelangem Machtmißbrauch sind ältere konservative Staatsmänner oft unverzichtbar (bis­ weileo ist es durchaus von Vorteil, wenn es sich dabei um Offiziere handelt, was nach dem Krieg jedoch aus naheliegeodeo Gründeo in Italieo und Deutschland ausgeschlosseo war)- Beweis dafür sind solche Führungspersönlichkeiteo wie Charles de Gaulle, Karamanlis und Nelson Mandela. Ähnlich wie die dritte Ex-Achseomacht Japan in Asieo eorwickelteo sich Italieo und Deutschland in deo 50er und 60er zum Motor des wirtschaftlicheo ' U. Corsini I C. Repgen (Hrsg.), Konrad Adenauer e Alcide De Gasperi: due espe­ rienze di rifondazione della democrazia (Annali dell'Istituto storioo italo-germanico in Trento. Quaderni, 15), Bologna 1984. Zur Entstehung dieser Bewegungen vor dem Krieg siehe S.N. Kalyvas, The Rise of Christian Democracy in Europe, Ithaca NY1996.

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Aufschwungs in Europa, so daß man sich angesichts der Wtttschaftsleisrung erstaunt die Augen rieb und von einem echten Wunder sprach: .miracolo ita­ liano" und •Wirtschaftswunder". Vermutlich wird die Leisrung der italienischen Volkswirtschaft die Wirtschaftshistoriker noch mehr beeindruckt haben, weil man in Deutschland nur die früheren Industriekapazitäten wieder aufbauen mußte, während Italien tatsächlich den Sprung von der Rückständigkeit in die Industriegesellschaft vollzog. Dieses Wtttschaftswachstum der Nachkriegszeit ging einher mit einer regionalen Umschiehrung großer Bevölkerungsgruppen, die jedoch in beiden Ländern unterschiedliche Ursachen hatte. In Italien emigrierten Millionen süditalienischer Landarbeiter in den Norden, in Deutschland mußten Millionen Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten Preußen, Schlesien und dem Sudetenland im Westen integriert werden. Zwar stellte die Integration der Vertriebenen eine schwere Belasnmg für den Staatshaushalt dar, rief jedoch keine einschneidende soziale Umwälzung hervor wie in Italien, weil die Flüchtlinge keine großen Entwicklungsunterschiede zu überwinden hatten. Wirtschaftlich und kulturell gab es in beiden Ländern große regionale Unterschiede; allerdings wird man in Deutschland eine Region mit derart gravierenden Problemen wie den italienischen Mezzogiorno vergeblich suchen, auch wenn die ökonomischen Schwierigkeiten der früheren DDR-Gebiete nach 1990 oberflächlich eine gewisse Älmlichkeit aufzuweisen scheinen. Allerdings spielte der Regionalismus in Deutschland wohl eine positive Rolle, weil er das Fundament für ein föderales System legte, das auf Betreiben der Amerikaner im Grundgesetz verankert wurde. In Italien dagegen kam der Regionalismus nur dem gesunden Unternehmergeist des Nordens zugute, während von positiven Effekten auf die ökonomische und politische Entwicklung des ganzen Landes wohl kaum die Rede sein kann. Trotzdem bin ich persönlich der Meinung, daß die politischen und kulturellen Einflüsse aus dem Süden das italienische Nationalbewußtsein insgesamt maßgeblich beeinflußt haben. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges standen beide Länder, wenn auch auf unterschiedliche Weise, an vorderster Front- Deutschland, weil sich dort ein kommunistischer und ein nichtkommunistischer Staat an einer bewaff­ neten Grenze gegenüberstanden; Italien wegen der unversöhnlichen Spalrung zwischen nichtkommunistischer Regierung und kommunistischer Opposition. Für die Bundesrepublik Deutschland blieb die kommunistische Bedrohung im wesentlichen äußerlich, weil sich die Arbeiterbewegung im Westen bald von der marxistischen Ideologie lossagte. Darüber hinaus war eine Volksfront in Deutschland undenkbar, weil Sozialdemokraten und Kommunisten seit 1918 erbitterte Feinde waren. Durch die Präsenz der anglo-amerikanischen Besat­ zungsbehörden und die zunehmend repressive Rolle der SED in Ostdeutsch­ land wurde die traditionell antikommunistische Haltung der westdeutschen Arbeiterbewegung nur noch verstärkt. In dieser Hinsicht herrschten in Italien vollkommen andere Verhältnisse. Nachdem sie bereits in der .Resistenza" eine

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maßgebliche Rolle gespielt hatte, ging die Kommunistische Partei aus den tur­ bulenten Auseinandersetzungen 1947/48 als gefestigte politische Kraft hervor und existierte bis Ende der 1980er Jahre im Grunde hat sie in reduzierter Form als .Rifondazione Comunista" bis heute überlebt. -

Bisher, so könnte man einwenden, ist es beiden Länder noch nicht gelungen, ihre traditionelle Rolle aus dem Kalten Krieg vollständig abzulegen und ein neues politisches Selbstverständnis zu entwickeln, obwohl doch das Projekt der Europäischen Union die besten Voraussetzungen dafür böte. Im Gefolge einer starken Demokratisierungswelle gerieren beide Länder in den späten 60er und frühen 70er Jahren in eine schwere Krise. In Deutschland kam es daraufhin mit den SPD-geführten Regierungen Brandt und Schmidt zu einem politischen Machtwechsel. In Italien blieb ein solcher Regierungswechsel aus, während die von den Christdemokraten zugleich eilig berriebene .apertura a sinistra" zu Frustrationen, die sich stark von den Leidenschaften des .heißen Herbstes" in Deutschland unterschieden. In beiden Gesellschaften brach ein heftiger Generationskonflikt aus: Eine Jugend, die weder die materielle Not der Nachkriegszeit noch die Ära des Stalinismus selbst erlebt hatte, nahm nun für sich das Recht in Anspruch, die selbstauferlegten Einschränkungen der Elterngeneration in Frage zu stellen und eine grundlegende Demokratisierung aller Lebensbereiche zu fordern. Zusätzlich verschärft wurden die Unruhen der späten 60er Jahre durch den Krieg der Amerikaner in Südostasien, der ebenfalls massive Proteste hervorrief. Die Generation der politischen Grün­ derväter war tot oder in Rente. Durch den raschen Ausbau der Universitäten wuchs auch hier die Protestbereitschaft einer jungen Generation, die mit einer bürokratisierten Gesellschaft nichts mehr anzufangen wußte. Eine ähnliche Dynamik entfaltete sich auch in anderen westlichen Ländern. Doch ähnlich wie die Vereinigten Staaten, wo man sich mit den historischen Verstrickungen von Sklaverei und Rassismus auseinandersetzen mußte, trug jedes Land ein spezifisches Element zu dieser explosiven Mischung bei. In Deutschland löste der Umstand, daß die Verstrickung der Elterngeneration mit dem Nationalsozialismus erst sehr spät thematisiert wurde, ein nationales Drama aus Schuld, Verleugnung und Eingeständnis aus. Faktisch erlebte Deutschland eine verspätete .epurazione" der Väter durch die Söhne. Im Gegensatz dazu spielten moralische Erwägungen in diesem Zusammenhang in Italien so gut wie keine Rolle, wobei diese gleichgiUtige Haltung zur Vergan­ genheit durchaus als schwerwiegendes Versäunmis der Nachkriegsgeschichte aufgefaßt werden kann. Auch wenn eine Aufarbeitung mit diesem Teil der Geschichte ausblieb, so führte die massenhafte Migration in den Norden und die Entstehung einer neuen Arbeiterklasse aus vormaligen Landarbeitern zu einer erneuten Radikalisierung der Arbeiterbewegung, wie es sie in Deutschland nicht gegeben hat.

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Darüber hinaus mußten sich beide Gesellschaften in den 70er Jahren mit der Frauenbewegung auseinandersetzen. Zwar hatte die Christdemokratie an der Wiederherstellung liberaldemokratischer Verhälmisse mitgewirkt, zugleich jedoch stets an ihren traditionellen Vorstellungen von Frauen und Familie festgehalten. In Italien kam der Frage der Frauenrechte eine noch größere Bedeutung zu, da der Protestantismus dort nie eine Rolle gespidt hatte und die katholischen Wertvorstellungen nach wie vor tief verwurzdt waren. Daher war die Einführung der Scheidung eine der wichtigsten Forderungen im Kampf um eine Demokrarisierung der Gesellschaft, und vermutlich war das Scheidungs­ referendum- neben der Volksabstimmung über die zukünftige Staatsform im Jahre 1946- die wichtigste Entscheidung der gesamten Nachkriegszeit; zumal damit alle Versuche der Kirche, die alte Ordnung wiederherzustellen, endgültig gescheitert waren. Als weiteres Produkt dieser unruhigen 70er Jahre entstand in beiden Län­ dern eine nicht unerhebliche terroristische Bewegung, die anders als in Nord­ irland und dem Baskenland nicht durch Autonomieforderungen ethnischer Minderheiten motiviert waren. Da in anderen Ländern mit ähnlich radikalen Studenten- und Arbeiterbewegungen keine derartigen Terrorzellen entstanden, wäre eine vergleichende Untersuchung dieser Bewegungen heute noch siunvoll. Jahrdang wurden in beiden Gesellschaften terroristische Morde, in Italien auch weniger schwerwiegende Straftaten verübt. Diese Erfahrung führte zu einer moralischen Verunsicherung, die vid tiefgreifender war, als die Zahl der Straftaten glauben machen könnte. Zum Glück überstanden beide Länder diese Angriffe ohne Wiedereinführung der Todesstrafe, wobei man in Deutschland allerdings zu drastischen Maßnahmen wie dem sogenannten Radikalenerlaß" griff, um alle, die mit terroristischen Gruppen in Verbindung standen, vom öffentlichen Dienst auszuschließen. •

Schließlich wurden in den 90er Jahren in beiden Ländern noch einmal wichtige politische Reformvorhaben in Angriff genommen, die jedoch nur zum Teil erfolgreich abgeschlossen wurden. Deutschland mußte sich den Herausforderungen der Wiedervereinigung stellen, wobei die ostdeutsche Bürgerbewegung eine wichtige Rolle spidte. In Italien bemühte man sich im Gefolge von .tangentopoli" um die Errichtung der sogenannten .Zweiten Republik", was jedoch nur zu einem sehr geringen Teil gdang. Die Zeit der Ersten Republik war eindeutig abgdaufen, doch die Zweite war noch nicht in Sicht: Das erinnert an die Ausführungen des ungarischen Dichters Endre Ady, der sein Land als Fähre beschreibt, die vom einen Ufer abgdegt hat, ohne jemals das andere zu erreichen. Natürlich ist diese Liste beschränkt, weil sie vor allem polirische und insti­ tutionelle Kriterien berücksichtigt. Es gibt jedoch noch andere Themen, die eine vergleichende Analyse verdient hätten; beispidsweise die unterschiedlichen

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Formen politischer Korruption, die Rolle lokaler und regionaler Bindungen, die in beiden Ländern stark ausgeprägt sind, sowie die öffentliche Bedeutung von T heater, Musik und Sport, die in beiden Ländern eine große Rolle spie­ len. Themen wie Medien, Musik, Kunst, Film, Sexualmoral und Familien­ geschichte - alle verlangen ihr Recht, doch nicht alle können berücksichtigt werden. Im wesentlichen werden wir uns auf die Politik beschränken, oder genauer auf die institutionelle Seite. Traditionell ist der Vergleich von Gesellschaften Sache der Soziologen, nicht der Historiker. Ginge es in diesem Aufsatz um die Vereinigten Staaten oder Frankreich, würden wir bei den Schriften von Tocqueville beginnen, dann zu Lonis Hartz, David Riesman und Michel Crozier übergehen und zum Schluß vielleicht noch die Ausführungen von Robert Putnam erörtern. Doch leider sind umfassende soziologische Studien über die neuere Entwicklung in Deutschland und Italien Mangelware. Vorherrschendes Thema der italienischen Soziologie war stets die Frage des Südens, und zwar von den .meridionalisti" des 19. Jahrhunderts bis zu Gramsei und einer Vielzahl anderer Autoren wie Banfield in seinem Gefolge. In Deutschland hingegen konzentrierte sich eine ganze Generation großartiger Sozialhistoriker darauf, den Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Zwar stieß Ralf Dahrendorf mit seiner Studie Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" Anfang der 60er Jahre auf große Resonanz, doch das Thema war zu speziell: Er wollte das deutsche Korporationssystem mit dem Marktliberalismus seiner späteren Wahlheimat Großbritannien vergleichen'. •

Alle genannten Arbeiten basieren auf dem Glauben an eine säkulare Gesell­ schaft, wie er his vor kurzem von allen Intellektuellen geteilt wurde. Doch in einer Zeit, wo fundamentalistisches Denken um sich greift, gewinnt auch die Spaltung in Katholiken und Protestanten scheinbar neue Bedeutung. Nun ist es zwar richtig, daß es vor dem Faschismus in beiden Ländern keine eigenständige soziale Revolution gegeben hat, aber in Deutschland gab es die Reformation, in Italien nicht. Um hier einen zweifellos stark vereinfachenden Unterschied einzuführen, möchte ich folgende Behauptung aufstellen: In Folge der Reformation war der gesellschaftliche Wertekonsens in Deutschland brü­ chig geworden, so daß sich die politischen Eliten, wenn sie die Bevölkerung mobilisieren wollten, kaum noch auf unreflektierte Gemeinsamkeiten stützen 3 A. De Tocqueville, De la dCm.ocratie en Amerique, Paris 1996; L. Hartz, The Liberal Tradition in America, New York 1955; D. Riesman, The Lonely Crowd: A Study of the Changing American Character, New Haven CT 1955; R Putnam, Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, New York 2000; M. Crozier, Le phenomene bureaucratique,Paris 1971; R. Dahrendor/, Gesellschaft und Demok ratie in Deutschland, Müochen 1%5. Inzwischen ist diese Tradition nationaler und k ulturelle r Analyse von der Rationai-Choice-Theorie verdrängt worden, die allgeDJeingültige Regeln für politisches Handeln postuliert. Zu den Grenzen dieser Methode A. Sen, Rationality and Freedom, Cambridge MA 2002.

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konnten, sondern mit dem Eifer politischer und religiöser Organisationen rechnen mußten. Im Gegensatz dazu ließ die ausgeprägte Bindung an Familie und Kirchengemeinde (oder der Lokalpatriotismus der politischen Eliten) in Italien wenig Spidraum für ein umfassendes Nationalbewußtsein. Allerdings kann dieser Unterschied auch leicht überstrapaziert werden: denn zweifellos trieb die Staatsgründung die politischen Eliten in Deutschland und Italien zu große Leistungen in politischer Sdbstorganisation an. Wozu sich da noch mit der "Verspätung" aufhalten, wo es doch von überschäumender Begeisterung zu berichten gilt? Natürlich haben Historiker ein anderes Temperament als Soziologen: Der Historiker versucht, langfristige Veränderungen zu erfassen, indem er Strukturen und Mentalitäten zeitlich zuordnet, während sich die traditionelle Erforschung nationaler Charaktereigenschaften eher auf zeidos fortbestehende Eigenschaf­ ten konzentriert. Dabei wollen wir hier nicht genuin Deutsches oder genuin Italienisches herauspicken, sondern über vergleichbare Problemlagen und Umbruchsituationen nachdenken. Neuerdings beschäftigen mich als Historiker die gleichen Fragestellungen wie die Soziologen: Auf wdchen Prinzipien beruht die gesellschaftliche Sdbstorganisation in den beiden Ländern, wie entstehen communities und Organisationen, d.h. worauf beruht Solidarität. Dabei gehe ich von Ereignissen aus, nicht von Strukturen, eher von Übergängen als von Unveränderlichem.

II. Auf dem Weg zu einer "Moralgesehiehte" Die genannte Checkliste kann nur ein erster Schritt zu einem historischen Verständnis sein. An und für sich liefert sie keine großen Erkenntnisse. Weshalb also eine komparative Geschichtswissenschaft? Mare Bloch hat darauf aufmerk­ sam gemacht, daß bei einem Vergleich das Besondere einer gesellschaftlichen Entwicklung ebenso deutlich wird wie das Normale. Der Vergleich erlaubt sozusagen einen Erkennmisgewinn. Doch methodisch können wir noch genauer sein als Bloch. Vor allem versetzt die vergleichende Geschichtswissenschaft den Historiker in die Lage, sowohl die "Funktion" als auch die "Struktur" von Institutionen zu analysieren und die Rolle herauszuarbeiten, die einzdne Faktoren- politische Institutionen, ökonomische Arrangements, kulturelle Ver­ mächtnisse- in der jeweiligen Gesellschaft spiden. Komparative Historiographie darf sich nicht darauf beschränken, formale Ähnlichkeiten zu identifizieren, sondern muß danach fragen, ob ähnliche Elemente in verschiedenen Gesell­ schaften dem gleichen Zweck dienen und die gleiche Wichtigkeit haben. Darüber hinaus ist die vergleichende Perspektive als Forschungsmethode nur sinnvoll, wenn sie auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzt. Dann erhal­ ten wir nicht nur Aufschluß über die unterschiedlichen Funktionen ähnlicher

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Phänomene, sondern auch über den Stellenwert von Ideologien, Werten und sozialen Absprachen. Vergleiche ermöglichen dem Historiker nicht nur, die Besonderheiten einer gesellschaftlichen Entwicklung herauszuarbeiten, son­ dern führen zu weniger offenkundigen, abstrakteren Fragestellungen. Wie bei einer Computertomographie durchleuchtet der historische Vergleich die gesellschaftlichen Verhältnisse und erkennt sofort die offenkundigen Paralle­ len, wie die neun oder zehn Punkte, die ich vorher aufgelistet habe. In einem zweiten Schritt müssen wir dann die Geschichte jeder Gesellschaft erneut überdenken, um wichtige Elemente auszumachen, die auf den ersten Blick nicht sichtbar waren. Wie Ehe oder Familie basieren auch Gesellschaften auf einer Reihe impliziter oder latenter Transaktionen/Interaktionen materieller oder moralischer Art- und diese lmplikationen können wir durch den kom­ parativen Ansatz explizit machen. Folglich stehen bei historischen Vergleichen .Entdeckung" und .Enthüllung" ebenso auf dem Programm wie Erklärung und N arration. Zu den T hemenbereichen, über die der historische Vergleich Aufschluß gibt, gehören auch Projekte, die gewöhnlich zum Bereich der politischen Ökonomie gezählt werden und wenigstens bis zum Zusammenbruch des Kommunismus als überaus wichtig galten. Schwerpunktmäßig geht es dabei um das Verhältnis von sozialen Gruppen und Klassen, inklusive Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Sozialleistungen. Darüber hinaus erschließt der komparative Ansatz auch unterschwellige Transaktionen, die zur Herausbildung dessen führen, was ich als Moralgeschich­ te bezeichnen würde oder als Geschichte der Zivilgesellschaft bzw. Staatsbür­ gerschaft - mithin eine Geschichte ideologischer und intellektueller Kompro­ misse zwischen Gruppen, die sich aufgrund ihres religiösen und kulturellen Backgrounds sowie ihrer ideologischen Präferenzen eigentlich unversöhnlich gegenüberstehen. Ideologische Überzeugungen erwachsen natürlich aus öko­ nomischen Interessen, so daß Polirik und Wirtschaft untrennbar miteinander verbunden sind. Dennoch können sie auch als unabhängige kulturelle Produkte betrachtet werden, und der Vergleich macht es möglich, auf die untergrün­ digen staatsbürgerlichen Überzeugungen zu schließen. Die Unterschiede zu anderen Gesellschaften weisen den Weg zu einer Geschichte gesellschaftlicher Selbstorganisation, d.h. es läßt sich leichter erkennen, nach welchen Prinzi­ pien eine Gesellschaft ihr Gemeinschaftsleben organisiert. Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag nach: Welche Organisationsprinzipien wurden im Nachkriegsdeutschland und in Italien nach 1945 geschaffen, weiter entwickelt oder abgeschafft? Wie haben sie sich in den sechzig Jabren seit Kriegsende entwickelt? Welche haben sie gemeinsam und was unterscheidet sie? Da beide Länder mit dem Problem des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie konfrontiert waren, muß ein historischer Vergleich logischerweise

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über eine Auflistung von Ereignissen hinausgeben und analysieren, welche Gefühle, Loyalitäten und Überzeugungen die Entscheidung für ein demokrati­ sches Staatswesen herbeigeführt haben.Diese Grundlagen hat RalfDahrendorf in Anlehnung an Friedrich Hayek als .the constitution of liberty" bezeichnet'. Ich möchte dieses Thema leicht abändern: Uns gebt es nicht um eine bloße Geschichte der Freiheit, sondern um die Geschichte gesellschaftlicher Selbst­ organisation, um die Herausbildung einer Bürgergesellschaft. Mir ist durchaus bewußt, daß sich ein solches Vorhaben fast anachronistisch anhört. Ähnliches schwebte auch Croce vor, als er 1915 seine Geschichte des geeinigten Italien ver­ faßte. Heute jedoch weiß jeder Student, daß dieser Ansatz vieles ausließ und politisch vollkommen einseitig war. Gerade weil sich seither viel verändert hat, marxistische Ansätze in Schwierigkeiten sind, Historiker und politische Akreure gleichermaßen darum ringen, die Rolle von Werten im Gemeinschaftsleben einer Nation zu bestimmen, und der liberale Staat vor allem in italienischen Historikerkreisen inzwischen als Errungenschaft gilt, scheint es mir um so lohnender, die deutsche und italienische Nachkriegsgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Herausbildung nationaler communities zu vergleichen.Dies ist um so wichtiger, als die Grundlagen nationaler Souveränität von 1943 bis 1949 in beiden Ländern zeitweise bedroht waren. Natiirlich können wir die Zeit nicht zurückdrehen. Eine italienische Nach­ kriegsgeschichte im Stile Croces ist ebenso unmöglich wie eine deutsche Nachkriegsgeschichte im Stile von Friedrich Meinecke. Darum gebt es auch gar nicht. Meine eher paradox anmutende These lautet vielmehr, daß sich der Erfolg der Bürgergesellschaft in Italien und Deutschland weniger durch die guten Absichten einer liberalen Elite erklären läßt, als durch die Handicaps, die sie zu überwinden hatte.

IIL Das Vermächtnis von Faschismus und Antifaschismus Gemeinsamer Ausgangspunkt ist die Faschismuserfahrung.Daher stellt sich die Frage, wie hängt der Erfolg der Nachkriegsdemokratie mit der Erfahrung von Krieg und Diktatur zusammen? Ließ die demokratische Nachkriegsgesell­ schaft die Faschismuserfahrung einfach hinter sich wie einen mißlungenen und schließlich abgebrochenen Versuch, die Probleme aus dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise zu lösen? Beruhte die Durchsetzungskraft der Nachkriegsdemokratie auf der Entschlossenheit, alles zu tun, damit ein derart schreckliches System nie wieder Fuß fassen konnte? Oder könnte es vielleicht sein, daß sie ein Teil ihrer Lebenskraft direkt aus dem Faschismus bezog? 4 R Dahrendor/, The Modern Social Conflict: AnEssay on the Politics of Liberty, New York 1988, ninunt Bezug auf FA. von Hayek, The Constitution ufLiberty, Chicago IL 1960.

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Diese Fragen scheinen um so relevanter, als sich Regierungsparteien zumin­ dest in Italien heute nicht mehr auf die antifaschistische Tradition berufen, sondern vielmehr die Auffassung vertreten, daß die ganze italienische Gesell­ schaft bis zu einem gewissen Grad faschistisch war. Tatsächlich wird versucht, die Geschichte zu normalisieren und die gesamte nationale Vergangenheit zu rehabilitieren, indem man entweder behauptet, es sei alles nicht so schlimm gewesen (Berlusconi), oder die Verantwortung für die beschämendsten Aspekte, die Rassengesetze und die Verfolgung der italienischen Juden, übernimmt (Gianfranco Fini). In Deutschland wurden nationale Ambitionen, denen zuvor stets etwas Anstößiges angehaftet hatte, erst nach der Wiedervereinigung offi­ ziell formuliert. Trotz großer Bedenken der Linken stellte sich die deutsche Wiedervereinigung, auch nach Auschwitz, als machbar und sogar als positiver Schritt heraus. Obwohl beide Länder sich in der Nachkriegszeit vom Faschis­ mus abwandten, werden wir doch unaufhörlich daran erinnert, daß er den Ausgangspunkt für ihre neuere Geschichte bildete. Das Erbe des Faschismus, das gebe ich zu bedenken, bestand nicht allein aus den Residuen autoritärer Verhaltensmuster; eigentlich gehört dazu auch, daß man sich Rechenschaft ablegte über die eigenen Verstrickungen. Doch wichen viele einer solchen Gewissenserforschung aus: Wer dem Faschismus wider­ standen hatte, meinte das nicht nötig zu haben und schob es auf die anderen; begeisterte Anhänger hingegen sahen oft keinen Anlaß, ihre alten Überzeugun­ gen aufzugeben. Allerdings gehörten die meisten Italiener und Deutschen zu der großen Gruppe der Midäufer, die stillschweigend zugestimmt hatte und denen es zumeist unangenehm war, sich mit dieser passiven Komplizenschaft auseinanderzusetzen. Zum Thema Mittäterschaft ist im vergangenen J ahrzelmt viel gesagt und geschrieben worden. Über die Erfahrungen unter dem Kommu­ nismus gibt es zahlreiche exzellente Veröffentlichungen wie etwa Verführtes Denken" von Czeslaw Milosz oder •Versuch in der Wahrheit zu leben: von der Macht der Ohnmächtigen" von Vaclav Havel sowie zahllose Arbeiten über die Kollaboration mit der Stasi in der Deutschen Demokratischen Republik. Auch über den Nationalsozialismus liegen zahlreiche exzellente Erörterungen zu diesem Thema vor. Das Thema Mittäterschaft ist heikel, gleichgiiltig ob es sich nun um offenes Denunziantenturn oder die eher passive Rolle unbe­ teiligter Zuschauer handelt; denn dabei geht es um eine Geschichte von Nichteingreifen, Abwarten, Hinnehmen und passivem Einwilligen'. Doch für viele Deutsche und Italiener war es gerade dieses Nichteingreifen, Abwarten, Hinnehmen und passive Einwilligen, was zumindest während des Krieges •

' Dazu u.a. R. Gellately, The Gestapo and German Society: Enforcing Racial Policy, New York 1990; ders., Backing Hitler: Consent and Coercionin Nazi Germany, New York 2001; G.f. Horwitz, In the Shadow nf Death: Living outside the Gates nf Mauthausen, New York 1990; I. Kershaw, Popular Opinion and Political Dissentin the Third Reich: Bavaria, 1933-1945, New York 2002.

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ihre grundlegende moralische Einstellung zu Faschismus und Nationalsozia­ lismus ausmachte. Die Schlüsselfrage in dieser Geschichte ist nicht, ob der Faschismus ein autoritäres Erbe hinterlassen hat oder nicht. Das Thema lautet vielmehr, welche Auswirkungen hatte das Nachdenken - oder in vielen Fällen das mangelnde Nachdenken- über den Faschismus auf die demokratische Praxis. Wie konnte ein Volk, das sich massenhaft weigerte, seine frühere Begeisterung für die Dikta­ tur in Frage zu stellen, zugleich lautstark die Einführung eines demokratischen Regimes fordern? In beiden Ländern hat keine massenhafte Abrechnung mit dem Faschismus stattgefunden. Sicher, in Italien gab es die Resistenza und das, was Historiker inzwischen als Bürgerkrieg bezeichnen. Außerdem wissen wir dank einer Vergleichsstudie inzwischen auch über die politischen Säuberungen in ganz Europa Bescheid, aber wir kennen auch die Grenzen dieser epurazione; und es stellt sich die Frage, ob durch politische Säuberungsprozesse tatsächlich ein neuer moralischer Konsens in der Gesellschaft geschaffen werden kann'. Zumal der Justizapparat in Italien, in Osteuropa und in geringerem Ausmaß auch in Frankreich bald zum Schauplatz des beginnenden Kampfes zwischen Kommunismus und Antikommunismus wurde, und damit die moralische Wtt­ kung der Säuberung verpuffte. Die Prozesse wurden ihrer besonderen Bedeu­ tung beraubt und unterschieden sich durch nichts mehr von jeder beliebigen politischen Praxis. Und außerdem, warum sollte sich ein Durchschnittsbürger ernsthaft mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, wenn bekannte Kollaborateure eine Sonderbehandlung erhielten? In Italien spielte der antifaschistische Widerstand, vor allem die Partisa­ nenbewegung, eine entscheidende Rolle. Die Linke, insbesondere die Kom­ munistische Partei, wurde zum Wächter und Interpreten eines antifaschisti­ schen Geschichtsnarrativs, welches sie sowohl publizistisch wie institutionell abzusichern versuchte. Einerseits entstand so ein zentrales Leitbild der ersten Republik, andererseits wurde damit bekanntermaßen eine Gegenreaktion heraufbeschworen, die bereits 1946 in der Bewegung des .Uomo Qualunque" ihren Ausdruck fand; eine ähnliche Reaktion erfolgte erst kürzlich durch weit illustrere Fürsprecher wie Renzo De Felice und Roberto Vivarelli. Gemeinsam mit vielen anderen Autoren ist es ihnen gelungen, den Antifaschismus in die Defensive zu drängen. In Deutschland lag die Säuberung anfangs in der Verantwortung der Alli­ ierten, die, um das noch einmal zu betonen, weitreichende Entnazifizierungs­ maßnahmen durchführten. Während konservative Historiker behaupteten, trotz des öffentlichen Schweigens hätten die Deutschen ihre Zustimmung zum

' H. Woller, Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, München 19%; K.-D. Henke I H. Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa, München 1991.

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Nationalsozialismus (der natürlich viel grausamer und blutrünstiger war als der italienische Faschismus) innerlich bereut, haben Kritiker wie Norben Frei gezeigt, daß die Regierung Adenauer sich aktiv dafür einsetzte, eine umfassende Aufarbeinmg der Kollaboration mit dem Nazismus zu verhindern'. An diesem Punkt geht es nicht um eine Erklärung für das Schweigen, denn es gab kein wirkliches Schweigen'. Das eigentliche Problern ist vielmehr, daß wir bis heute keine befriedigende historische Antwon auf die Frage haben, welches Erbe dafür verantwonlich war, daß eine eingehende Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit hannäckig verweigert wurde. Was hatte das faschistische Regime den Bürgern hinterlassen? Da war einmal der auf perverse Weise übersteigene Nationalismus. Dann das Bild einer überlegenen Nation, für die man sich bereitwillig aufopfene, wie es einer ganzen Generation junger Menschen eingeimpft wurde. Und schließlich eine Organisation der Wirtschaft (IRI, öffentliche Wiederaufbau- und Investitionsprogramme, Formen korpo­ rativer Arbeitsorganisation), die für die Nachkriegswinschaft eine große Rolle spielten - insbesondere für das rasante Wachstum der italienischen, deutschen und japanischen Wirtschaft, deren Untersuchung noch aussteht'. Datüber hinaus haben Kriegszerstörungen und damit verbundene Einschränkungen womöglich eine Disziplin gefördert, ohne die Kapitalakkumulation und Wirt­ schaftswachsturn undenkbar gewesen wären. Welche Vorstellungen von Moral und nationaler Gerneinschaft wurden vererbt? Als liberal-dernoktatische Historiker würden wir gerne glauben, daß die bürgerlichen Ideale durch den Faschismus nur pervertien wurden; aber ich bin nicht sicher, ob die Antwon so simpel ist. Es ist klar, daß dem Antifaschis­ mus don enge Grenzen gesetzt waren, wo es nach dem Faschismus zu einem Bürgerkrieg kam (in Spanien nach Franeo ebenso wie in Italien). Doch könnte es nicht sein, daß die faschistische Vorgeschichte zwar nicht zur Entscheidung für ein dernoktatisches System beitrug, wohl aber dazu, daß sich die derno­ ktatischen Institutionen nach ihrer Einführung durch die Siegermächte als äußerst stabil erwiesen? Hat die Faschismuserfahrung dafür gesorgt, daß anglo­ amerikanische (oder russische) Vorstellungen leichter akzeptien wurden? Eine schmerzliche Frage. Und ebenso: Hatte die relativ begrenzte Vergeltung seitens der Antifaschisten nicht auch eine stabilisierende Funktion? In dieser Hinsicht ist die Diskussion unter Juristen von Interesse, die in Ruanda oder Südafrika 7 N. Frei, Vergangenheitspolitik: Die Anfange der Bundesrepublik und die NS­ Vergaugenheit, Müuchen 19%. 8 J. Her/, Divided Memory: The NaziPast in the Two Germanies, Cambridge MA 1997, dokumentiert die Diskussion über den Holocaust in Westdeutschland, stützt sich dabei jedoch nur auf offizielle Reden. 9 Sehr eindrucksvoll zu diesem Thema ist die Studie über die Autoindustrie von S. Reich, The Fruits uf Fascistn: Postwar Prospetity in Historical Perspective, Ithaca NY 1990.

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an der Arbeit von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen teilgenommen haben; dort wird diskutiert, inwieweit es bei massenhaft verübten Greueltaten überhaupt möglich ist, eine individuelle Schuld festzustellen. Wenn sich die Akzeptanz von Apartheid und Völkermord erst einmal zum Massenphänomen entwickelt hat, ist es schwierig, von Einzelnen ein tiefgehendes Schuldgefühl zu erwarten. Statt dessen empfinden die Beteiligten anscheinend eher ein Gefühl der .Scham", womöglich eine stabilere Basis, so wird argumentiert, um das politische Leben eines Landes wieder in Gang zu bringen. Denn im Interesse der Gesamtgesellschaft geht es weniger um Bestrafung, als vielmehr darum, die Gegensätze zu überwinden und voranzukommen".

1\T. Die Dynamik von 1968 und die Unterminierung der Privatsphäre Die zweite entscheidende Phase für eine vergleichende Geschichte der Zivilgesellschaft ist die Dekade von Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre. In dieser Zeit kam es in beiden Gesellschaften zu einer Massenmobilisierung in Universitäten, Fabriken (wenigstens in Italien), Kirchen und der Gesell­ schaft im allgemeinen. Bekanntlich führte dies in beiden Ländern zu einer größeren Politisierung der Gesellschaft. Vermutlich waren die Auswirkungen in Deutschland noch tiefgreifender als in Italien. Zu diesem Zeitpuukt hatte Italien - ausgelöst durch wirtschaftliche Veränderungen und massenhafte Migration von Arbeitskräften- bereits eine Phase rasanten Wandels hinter sich. In Deutschland brachte die Massenmobilisierung Ende der 60er Jahre endlich die überfällige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Während der Generationskonflikt in Deutschland hierbei eine entscheidende Rolle spielte, gilt dies für Italien in weit geringerem Maße. Dort stellte sich die Linke dem Problem der vorfaschistischen Traditionen und der bürgerlichen, oft katholischen Hierarchien. Bis zu welchem Grad sie in der Lage war, diese dauerhaft zu verändern, ist bis heute ein Diskussionsthema. Gleichwohl machten die Unruhen der späten 60er Jahre deutlich, daß die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie in beiden Gesellschaften stark zurliekgegangen war, weil sich die junge Generation durch sie nicht mehr ange­ messen vertreten fühlte. Mit dem Anspruch, das politische System müsse auf persönliche Bedürfnisse eingehen", stellten sie das liberale Ideal der Trennung 10 Die Bedeutung vonProzessen unterstreicht M. Osiel, Mass Atrocity, Collective Memory, and the Law, New Brunswick NJ 1997; eher auf Scham denn auf Schuld setzt M.A. Drumbl, .Punishment, Postgenocide: From Guilt to Shame to Civis in Rwanda" in: New York University Law Review, 75 (2000), 5, S. 1221-1326. 11 I. Gilcher-Ho/tey (Hrsg.), 1968: Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichts­ wissenschaft, Göttingen 1998; L. Baldissara (Hrsg.), Le radice della crisi. I:Italia tra gli anni sessanta e settanta, Rom 2001; R. Lum/ey, States ofEmergency: Cultures ofRevolt in Italy from 1968 to 1978, London 1990.

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von öffentlicher und privater Sphäre grundlegend in Frage. Obwohl es sich dabei um eine allgemeine Tendenz handelte, wie sie in den meisten westlichen Gesellschaften zu beobachten war, tat man sich in ehemals faschistischen Ländern wie Deutschland und Italien (sowie Spanien und Portugal) damit besonders schwer. Schließlich basierte die Reflexion über den Faschismus- die urspriinglichen .conti con il fascismo", wie sie zwanzig Jahre früher stattge­ funden hatte - auf einer strengen Trennung von öffentlichen und privaten Belangen, damit Bürger, die früher das faschistische System toleriert hatten, sich nicht persönlich angegriffen fühlen mußten. Denn die Erbschaft von Faschismus und Antifaschismus konkretisierte sich in der Einsicht, selbst in einem Land mit guten Menschen (.i buoni italiani") könne sich ein schlechtes Regime etablieren. Individuelle Wertvorstellungen und politisches Regime, so die Devise, gehörten zwei unterschiedlichen Sphären an. Die Tumulte der 60er Jahre wollten derartige Ausweichmanöver nicht meltt zulassen und bargen daher eine Menge Zündstoff für sozialen Aufruhr. In den Vereinigten Staaten gab es ähnliche Konflikte, die sich jedoch um das Erbe der Rassentrennung drehten und ebenso schmerzliche Konfrontationen auslösten. Da die politische Mobi­ lisierung lange genug andauerte, war es mit der großen Verdrängung in den 60er Jahren endgültig vorbei. Allerdings hätte sie ohne die Hinterlassenschaft aus Faschismus, Antifaschismus und der Reaktion auf den Antifaschismus nie diese Wirkung erzielt.

V. Lehren aus dem Terrorismus Als nächsten Schritt in dieser Geschichte der moralischen Einstellung müssen wir die Erfahrung des Terrorismus unter die Lupe nehmen; und dabei lautet die Fragestellung wieder, in welchem Verhältnis stand der Terrorismus zum faschistischen Erbe. Niemand wird bezweifeln, daß Fälle von Gewalt­ anwendung mitunter ihre politische Wttkung erst seltt viel später entfalten. Das gilt, wie Claudio Pavone gezeigt hat12, für die Linke wie die Rechte gleichermaßen. Allerdings liefert der Verweis auf historische Vorläufer keine hinreichende Erklärung dafür, warum drei Johrzehnte später eine derart aus­ geprägte Gewaltbereitschaft auftrat. Vielmehr war der Terrorismus von links wie von rechts Ausdruck der Überzeugung, liberal-demokratische Ordnung und Kapitalismus seien an sich unmoralisch und daher ungerecht. Lassen sich solche voreiligen Schlüsse womöglich durch ein besonderes psychologisches Profil der betreffenden Personen erklären? Wurden junge Menschen zu Ter­ roristen, weil sie sich gesellschaftlich ausgegrenzt fühlten und sich deshalb in einen Fanatismus hineinsteigerten, wie die fünfzehn Jahre später von Nicola

12 C. Pavone, Una guerra civile. Saggio storico sulla moralita nellaResistenza, Turin 1991.

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Tranfaglia und Diego Novelli geführten Interviews nahelegen?". Erteilte der Terrorismus nicht auf seine Art dem gesellschaftliche Gleichgewicht ein Absage, das den postfaschistischen Kompromiß erst möglich gemacht harte? Diese Fragen werden relevant, wenn wir den ganz anders gearteten Terrorismus im Gefolge des 11. September betrachten. In komparativer Hinsicht besonders aufschlußreich ist das Ende der ter­ roristischen Bewegungen, weil sich daran einige grundlegende Unterschiede zwischen beiden Gesellschaften aufzeigen lassen. Grundvoraussetzung jeder terroristischen Bewegung ist die bedingungslose Solidarität der Aktivisten. Wären sie nicht durch ein intensives Gruppengefühl bestärkt worden, wie hätten junge Leute dann die normalen Moralvorstellungen derart radikal auslegen und jedes Mitgefühl über Bord werfen können? Bis zu einem gewissen Grad war ihre radikale .Umwertung der Werte" nur möglich, weil diese Ideen bei einem größeren Kreis auf .Sympathie" stießen. Damit meine ich nicht die aktiven Unterstützet, sondern die sogenannten .Sympathisanten". Sie weigerten sich, ihr Insiderwissen an die Polizei weiter zu geben, und hielten die Empörung der Terroristen für berechtigt, die .das Übel an der Wurzel packen" wollten und vor Polizeiaktionen offenbar keine Angst hatten. Am Schluß jedoch verpuffte diese .Sympathie", und die Terroristen waren auf die psychischen Ressourcen ihrer eigenen Zellen zurückgeworfen. An diesem kritischen Punkt kam meines Erachtens der Unterschied zwischen protestantischer und katholischer Tradition zum Tragen. Zum Typus des katholischen Überläufers, wenn ich ihn einmal so nennen darf, gehören Reue und Beichte (inkl. der Benennung von Kompli­ zen), und eine katholische Gesellschaft belohnte dieses Verhalten durch die Einführung einer Kronzeugenregelung. Die protestantische Variante hingegen war viel radikaler: sie endete mit dem völligen Zusammenbruch individueller Gewißheiten und der Zuflucht zu spektakulären Selbstmorden im Gefängnis von Stammbeim. Aus dieser Geschichte können wir einige interessante Lehren ziehen. Eine ist besonders bedeutsam und wird heute gewöhnlich übersehen: die Tatsache nämlich, daß Terrorismuswellen mit der Zeit abflauen. Die Skala moralischer Werte, die der Terrorismus verherrlicht, verlangt nach intensiver Gruppenun­ terstützung, und wenn diese entzogen wird, erfolgt eine völlige Demoralisie­ rung. Das läßt uns heute hoffen. (Ich wage die These, daß dies auch för den aktuellen islamischen Terrorismus, inkl. Selbstmordattentäter gilt- was jedoch nicht bedeutet, daß wir die Gefahr in der Zwischenzeit auf die leichte Schulter nehmen dürfen, sondern eher daß auch ein .Krieg gegen den Terror" irgend­ wann zu Ende geht.) Die zweite Lehre ist allerdings eher entmutigend: denn ebenso wie sie verebben, können Terrorwellen jederzeit wieder anschwellen,

" D. Novelli IN. Tran/aglia (Hrsg.), Vite sospese: le generazioni del terrorismo, Mailand 1980.

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und werden wohl niemals endgültig vorbei seio. Damit eioe Gesellschaft frühere Spaltungen überwinden oder wenigsten vergessen kann, braucht sie - und das gilt für die Nachkriegsgesellschaften in Deutschland und Italien in besonderem Maße - eioe Art moralischer Abrüstung im öffentlichen Bereich. Gleichwohl wird eioe derartige moralische Abrüstung für eioen Teil der heranwachsen­ den Generation stets inakzeptabel bleiben. Deshalb zeigt der Terrorismus die moralischen Grenzen eioer Zivilgesellschaft auf, die für eioe stabile Demokratie unerläßlich sind.

VI. Öffentlicher Raum und demokratisches Potential Abschließend möchte ich auf die Moralgeschichte der postkommunistischen Ära zu sprechen kommen. Denn hier haben wir es meioes Erachtens mit eioer ganz anderen Geschichte zu tun: nämlich mit der potentiellen Mobilisierung von Bürgersinn, wie sie sich in den Protestbewegungen der 1980er Jahre in Ostdeutschland und Osteuropa äußerte. Viele, vor allem junge Menschen nahmen daran teil; gleichwohl war es schwierig, den moralischen Enthusiasmus in dauerhafte Wahlerfolge umzumünzen. Nicht zufällig erzielte das Bündnis 90 mit 2% bei den ersten Wahlen nach der Wiedervereinigung den gleichen Stimmenanteil wie die Partito D'Azione im Jahre 1946. Dennoch machte das Beispiel der ostdeutschen Bürgerprotestevon 1989/90 einige Jahre später auch in Westdeutschland Schule, als sich nach den ausländerfeiodlichen Übergriffen von Mölln und Hoyerswerda eioe Antigewaltbewegung formierte und mit Lichterketten die Straße für sich beanspruchte. Ich neige zu der Ansicht, daß der lange Kampf um die endgültige Überwindung des faschistischen Erbes mit diesen Protesten seio Ziel erreicht hat. Gibt es dazu eio Äquivalent in Italien? Können die machrvollen politi­ sehen Demonstrationen auf der piaw, deren Geschichte von Mario Isnen­ ghi" dokumentiert wurde und die heute als karnevalsähnliche Aufzüge der .Girotondo-Bewegung" auftreten, als Äquivalent herhalten? Es ist meines Erachtens angemessen, diese skizzenartigen Überlegungen zu eioer Geschichte der Solidarität mit der T hese zu beenden, daß die öffentliche Demonstration inzwischen als politisches Mittel allgemeio anerkannt ist. Denn in eioer Epoche, in der Demokratie zunelunend über das Fernsehen vermittelt wird, und zumal in zwei Ländern, wo die politische Meioungsbildung maßgeblich durch die Parteien bestimmt wird, bilden Demonstrationen auf Piazza oder Straße - von den tumultartigen Protesten 1944/45 in Italien, über die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre bis hin zu den Protesten ostdeutscher Dissidenten und aktueller Demonstranten - vielleicht die einzig wirksame Art, im Rahmen

" M. Isnenghi, I:Italia in Piazza. I luoghi della vita pubblica dal!848 ai giomi nostri, Mailand 1994.

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demokratischer Solidarität Alternativen zu formulieren. Natürlich stößt die Wiederbelebung der Demonstrationskultur bei der Masse der Gesellschaft auf Unbehagen und wird leicht als Unordnung etikettiert. Wer mit der offiziellen Politik nicht einverstanden ist, besetzt den öffentlichen Raum, um gegen eine Regierung zu protestieren, die nach den liberalen Prinzipien die Mehrheit vertritt und damit die institutionellen Machtpositionen inne hat. Was den Umgang mit Störungen der öffentlichen Ordnung betrifft, weichen die beiden Länder voneinander ab: In Italien vertrug man schon immer mehr Unordnung als in Deutschland, wo öffentliche Demonstrationen stets als Ausdruck einer instirutionellen Krise aufgefaßt wurden. In Italien ist die Piazza eine Institu­ tion, und die Nutzung städtischer Plätze hat eine lange Tradition. Auch der Faschismus verstand es, die Piazza zu nutzen, um seine Aufmärsche- man denke nur an die theaterreifen Auftritte auf der Piazza Venezia- effektvoll in Szene zu setzen. In beiden Ländern hat man- wie in den 1980er Jahren u.a. auch in Polen und der Tschechoslowakei- gelernt, den öffentlichen Raum zu nutzen, um die Macht der Etablierten herauszufordern"'. In dieser Hinsicht markiert die politische Vereinnahmung des öffentlichen Raumes, wie sie 1989 in Leipzig und anderen Orten praktiziert wurde, viel­ leicht das Schlußkapitel der Konstiruierung eines neuen Typus von Zivilgesell­ schaft nach dem Krieg. Damit wird eine Entwicklung vollendet, die mit dem faschistischen System begonnen hatte: vielleicht war dieses stumme, betretene Nachgeben unmittelbar nach 1945 notwendig, damit der Übergang geordnet verlaufen und die Demokratie sich stabilisieren konnte. Die selbstverständliche Teilnahme an öffentlichen Demonstrationen vollendet den Übergang, nicht weil die Ziele immer wünschenswert oder einsichtig sind, sondern weil sie ein Zei­ chen dafür ist, daß die Demokratie aus dem langen Schatten der faschistischen Vergangenheit herausgetreten ist und alles Hemmende hinter sich gelassen hat. Damit wir uns recht verstehen, dieses Heraustreten, dieses coming out politischer Demokratie kann durchaus neue Gefahren mit sich bringen. Es ist keine Garantie für eine tolerante Gesellschaft, denn auch nach dem Ende des Kalten Krieges können Intoleranz, Rassismus und ethnische Konflikte, wie sie dem Faschismus inhärent waren, erneut aufbrechen und das Gemeinwesen heimsuchen. Bisweilen kann dies sogar geradezu erschreckende Formen anneh­ men. Doch an diesem Punkt sind Italien und Deutschland angelangt. Er steht für ein kollektives Leben, das aus der Geschichte hervorgegangen ist, indem es die eigene Geschichte anerkannt hat. Was haben wir also gelernt? Erstens, komparative Historiographie leistet einen Beitrag, aber nur wenn sie über die Kategorisierung oberflächlicher Ähn-

"' M.S. Stone, The Patron State. Culture and Politics in Fascist Italy, Ptinceton NJ 1998. Siehe aueh P. Kenney, A Cantival ofRevolution: Central Europe 1989, Ptinceton NJ 2002.

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lichkeiten hinausgeht. Sie darf sich nicht auf die Darstellung expliziter Parallelen beschränken, sondern muß nach impliziten Bedeutungen fragen. Zweitens, von besonderer Relevanz ist die Nachgeschichte der faschistischen Regime und hier vor allem Ausflüchte und Verdrängungsleistungen, auf deren Grundlage die politischen Komprontisse der Nachkriegszeit erst möglich wurden. Drittens ermöglicht der Vergleich neue Erkenntnisse über .1968" -einschließlich der Ursachen und Folgen; gerade weil sie das Prinzip der Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, wie es für Liberale von Benjamin Constant bis Isaiah Berlin sakrosankt war, radikal in Frage stellte, trug die 68er Bewegung dazu bei, einen Rückfall in den traumatisierten Quietismus der 1950er Jahre zu ver­ hindern. Dies bedeutete jedoch auch, daß die 68er ihrerseits ein ambivalentes Vermächtnis hinterließen: Auf der einen Seite ein linker Dogmatismus, der von den meisten Akademikern abgelehnt wurde, auf der anderen eine sehr viel stärkere Öffnung der Gesellschaft, als dies viele Demokraten gewiinscht hatten. Und nicht zuletzt zeigt die vergleichende Perspektive, daß Massenbewegungen potentiell immer wieder aufrauchen können. Obwohl es öffentlichen Protesten kaum je gelingt, das Parteiensystem nach­ haltig zu beeinflussen, beflügeln sie doch den Glauben an die Veränderbar­ keit von Geschichte. Wer die Zukunft für offen hält, der vertraut darauf, daß Webers stählernes Gehäuse vielleicht doch nicht ganz so stählern ist und daß selbst bürokratische Regime - im Westen, wo die Studenten den liberalen Kapitalismus als ebenso lähmend empfanden wie den Faschismus, und im Osten, wo der Staatssozialismus tatsächlich repressiv war - verändert werden können. Oft erweisen sich derartige Hoffnungen als utopisch und die Desil­ lusionierung folgt auf dem Fuß. Bisweilen jedoch werden dadurch politische Erneuerungen eingeleitet: zwischen den beiden Weltkriegen von rechts, 1945, in den 1960er Jahren und 1989 von links. Diese Erkenntnisse sind, glaube ich, einige der Lehren, die man aus der Geschichte der deutschen und italienischen Nachkriegszeit ziehen kann. Einzeln betrachtet mögen beide Geschichten die gleichen Ereignisse aufweisen, allerdings wären wir durch Einzelbetrachtungen nie zu neuen Interpretationen gelangt. Nur im Vergleich kommen unterschwel­ lige Muster und Bedeutungen zum Vorschein, die zweifellos diskutiert werden müssen, worauf wir aber ohne den Vergleich nie gekommen wären.

Italianisierung Deutschlands? "Germanizzazione dell'Italia"? Das Bild des anderen in der jeweiligen Selbstperzeption Von Jens Petersen

I. Klischees, Stereotypen und Feindbilder Am Sonntag, den 21. Juli 2002 gewann Michael Schumacher mit großem Vorsprung zum dritten Mal die Weltmeisterschaft in der Formell. Wenige Tage später ließ die Werbeabteilung der Fiat-Werke in allen großen Tageszeitungen Italiens in Rot gehaltene ganzseitige Anzeigen mit dem Konterfei des Siegers veröffentlichen, die den Text trugen: .Deutsche Phantasie, italienische Technologie. Und zum dritten Mal. Michael Sehnmacher wird zum dritten Mal in direkter Folge und zum fünften Mal in seinem Leben zum Welttueister in der Formel Eins, aufFerrari. Das ist ein Erfolg, der erneut einen Gemeinplatz widerlegt. Den Sieg verdankt man nämlich der unbändigen Leidenschaft eines Deutschen und einer ganz italienischen Technologie eines der größten Automobilkonzerne der Welt, der Gruppe Fiat. Mit großem Stolz sagen wir dem ganzen Team und unserem Weltmeister ein einziges Wort: dankeschön!" Diese Anzeige zeigt einmal mehr die Aktualität und Kraft von Stereotypen, ihre Konstanz und gleichzeitig ihre Wandelbarkeit. Die T hese von der Konstanz von Vorurteilen ist selbst zu einem Gemeinplatz geworden'. Uneile über den anderen bezeugen nicht nur die eigenen Wahrnehmungsmuster und Erfah­ rungshorizonte, sondern erweisen sich vielfach als Projektionen des eigenen nationalen Selbstverständnisses, sind Gegenentwürfe zu den Klischees von sich selbst. Vor-Wissen, Vor-Stellungen, Vor-Uneile beeinflussen oder bestimmen die Perspektive, aus der der jeweils andere gesehen wird. Fremdbilder sind mit nationalem Selbstbildwissen eng verbunden, ja sie bedingen sich geradezu. Spezifische Eigenschaften, die die eigene Nation auszeichnen oder vermissen lassen, werden nämlich dem Nachbarn abgesprochen oder zugebilligt. Dieser Zusammenhang von Selbst- und Fremdperzeption läßt sich an vielen Texten und Beobachtungen nachweisen und bildet die Grundlage für manche Bon­ mots. Zum Beispiel: .Io England ist alles erlaubt, was nicht verboten ist; in Deutschlaod ist alles verboten, was nicht erlaubt ist; in Rußland ist alles verboten, 1 Für die ganze Thematik von Interesse das Sonderheft der Zeitschrift: Kultur­ austausch, 50 (2000), 2: .Italien-Deutschland. Die Kraft der Klischees".

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auch was erlaubt ist; in Italien ist alles erlaubt, auch was verboten ist". Oder in einem zweiten Bonmot (der Würze wegen auf Englisch zitiert): "Heaven is where the police are British, the cooks are French, the mechanics are German, the Iovers are Italian, and everything is organized by the Swiss. Hell is where the police are German, the cooks are British, the mechanics are French, the Iovers are Swiss and everything is organized by the Italians".

Iu beiden Bonmots befinden sich Deutsche und Italiener auf der jeweils entgegengesetzten Seite einer hypothetischen volkscharakterologischen Skala. Ordnung und Disziplin im Zeichen der Kollektivität gegen Freiheit und Anarchie im Zeichen des Individuums, Effizienz und Leistung gegen Desorga­ nisation und Kreativität. Solche Gegensatzpaare lassen sich leicht vermehren: Norden und Süden, Germanenturn und Romanentum, Barbarei und Kultur, romantische Tiefe gegen klassische Klarheit, Wald gegen Tempel, moralischer Rigorismus gegen das Bewußtsein von Maß und Relativität, Daseinsvorsorge gegen Lebensgenuß, nordische Kühle und Strenge gegen südliche Wärme und Heiterkeit. Solche Perzeptionen des anderen, in denen inuner auch Wunsch­ bilder der eigenen Identität mitschwingen, können in Krisenzeiten auch bis zu extremen Verachtungs-, Haß- und Feindbildern aufgeladen werden. Diese Mechanismen lassen sich in unserem Fall leicht in den Jahren 1856-1863, 1870fi1, 1914-18 oder schließlich 1943-1945 aufzeigen'. Michae!Jeismann hat diese Interaktionsvorgänge in einem vorzüglichen, leider 1918 endenden Buch über die deutsch-französische .Erbfeindschaft" dargestellt'. Eine ähnliche Studie hätte liingst für die italienisch-österreichisch-habsburgische .Erbfeindschaft" vorliegen können und müssen. Adam Wandruszka, Silvio Furlani und Claus Gatterer haben zu diesem T hemengebiet wertvolle Anregungen gegeben'. Aber insgesamt handelt es sich um ein noch weitgehend unbeackertes Feld. Iu dem dreibäudigen, von Mario Isnenghi herausgegebenen Werk .Erin­ nerungsorte"5, die Stätten der Erinnerung, Personen, Orte, Mythen, Daten, Tabus, finden sich 75 Stichworte und Begriffe ausgewählt. Davon sind knapp zwei Dutzend negativ besetzt, wie z.B. "Mussolini" oder "otto settembre". Nur zwei Stichworte beziehen sich auf Phänomene außerhalb des italienischen Kulturraums. Das eine behandelt den weitgehend positiv besetzten, eng mit der Auswanderung von 30 Millionen Italienern verbundenen Mythos .Ame2

Einige Beispiele zitiert in:]. Petersen, Italieobilder-Deutschlandbilder, Köln 1999,

passim. ' Vgl. M. ]eismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbild und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Sturtgart 1992. ' V gl. S. Furlani IA. Wandruszka, Österreich und Italien. Ein bilaterales Geschichts­ buch, Wien I München 1973; C. Gatterer, Erbfeindschaft Italien-Österreich, Wien I Müncheo 1972.

5

M. Isnenghi (Hrsg.), I luoghi della memoria, 3 Bde., Bari I Roma, 1996/97.

!talianisierung Deutschlands? .Germanizzazione dell'Italia"?

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rica". Das zweite Stichwort untersucht, weitgehend negativ akzentuiert, "i tedeschi", die Deutschen. Det von dem Florentiner Historiker Emo Collotti stammende Aufsatz' beschreibt das Stereotyp des Deutschen in det italienischen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Er stellt leitmotivisch die Zeile aus der Garibaldi-Hymne .bastone tedesco, l'Italia non doma"- .det deutsche Knüppel wird Italien nicht zähmen" - an den Anfang. Dabei muß man wissen, daß in Italien untet .tedesco" bis weit übet die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus det Österreicher verstanden wurde. Collotti spricht von einet .aus Anziehung und Abstoßung geformten Dauetbeziehung" des Durchschnittsitalienets, die vom Risorgimento bis in die Gegenwatt reicht. Seiner Ansicht nach haben zwei Weltkriege im Kollektivbewußtsein der Italiener beim Blick auf Deutschland das Stereotyp des .Kriegers" geschaffen, der "je nachdem als Unterdrücker, als Schlächtet, als Barbar tout coutt" erscheint. Indem Collotti die .Erbfeindschaft" Österreich!Habsburg·ltalien auf Deutschland übetträgt (und das ist meiner Ansicht nach eine historiographisch unzulässige, ja falsche Operation), kann er so die Kontinuität eines Negativ·Steteotyps konsttuieren. Vielfach werden hier Erfahrungen und Interpretationen des 20. Jahrhundetts auf das vorhergehende Saeculum projiziett. Mit Blick auf den Abschluß des Dreibundvettrages 1882 schreibt Collotti, .wenn für den Irredentismus Österreich.Ungarn als Völket· ketket der immer gegenwärtige Feind blieb, den es endgültig zu zerstören galt, so erfuhr doch das Bild des Deutschen als der Erbfeind keine substantiellen Veränderungen"'. Collotti gilt als det bedeutendste unter den zeitgeschichtlichen Interpreten Deutschlands in der italienischen Kultur. In den letzten drei Jahrzehnten hat er in unzähligen Aufsätzen, Vorträgen, Lexikonbeittägen, Rezensionen und einer ganzen Reibe gewichtiger Büchet die italienische Deutschland·Perzeption- vor allem auf der politischen Linken - in entscheidender Weise mitgeprägt8• In seinen Arbeiten zeichnete er ein Bild der Bundesrepublik und der deutschen Gesellschaft, in dem die autoritären, militaristischen, nationalistischen und impetialistischen Züge überwogen. Collotti sah in vielen Bereichen starke Linien det Kontinuität zwischen dem Deutschland Hitlets und dem det Nachkriegs· zeit. Collotti ist so ein wichtiger Repräsentant einet in Italien auch heute noch lebendigen Kultur des Verdachts, die sich teilweise aus meta·histotischen und charakterologischen Vorannahmen speist (in den Wotten von Enzo Bettiza: .das Bild eines metaphysischen Deutschlands, das unbeweglich in seinet auf Ewigkeit angelegten Verdammung vethartt"'). Enzo Bettiza kritisiette schon 6 Vgl. E. Collotti, I tedeschi, in: M. Isnenghi (Hrsg.), I luoghi della memoria, Bd. 3: Personaggi e date dell'Iralia unira, S. 65·86.

'

Ebd., S. 71.

s

Vgl. G. Corni, lntroduzione alla storia della Gennania contemporanea, Mailand

1995. '

E.

Bettiza, La nuova eultura tedesca, Mailand 1%5.

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1965 in seinem Buch .Die neue deutsche Kultur" diese einseitige Sichtweise: .Häufig suggeriert man bis heute dank einer einseitigen Information ein has­ senswertes Bild Deutschlands, indem die Schatten der Vergangenheit die vielen positiven Seiten der Gegenwart verdunkeln. Dies ist ein parteiisches Verhalten, das sich nur durch Unkenntnis oder Böswilligkeit erklären läßt"10• Rosario Romeo sprach Ende der siebziger Jahre von einem .fast rassisti­ schen Antigermanismus" und von einem .unaufhörlichen ideologischen und propagandistischen Krieg", welche die Perzeption Deutschlands nach 1945 begleitet hätten". Die Ereignisse nach 1989 haben gezeigt, daß dieses Urteil auch jetzt noch teilweise gültig ist. Der Fall der Berliner Mauer und die sich daran anschließenden weltpolitischen Ereignisse haben im deutsch-italienischen Verhältnis nochmals die Tiefenschichten der beiderseitigen Kollektivwahrneh­ mung freigelegt. Für manche Beobachter auf der italienischen Linken erwies sich der Fall der Mauer als ein existenzveränderndes Ereignis. Das gilt z.B. für Angelo Bolaffi, der 1993 in einer autobiographischen Skizze schrieb: .Der Mauerfall ... bildet in meiner geistigen und politischen Biographie einen tiefen, schmerzhaften und zugleich befreienden Einschnitt, ein Trauma. Es handelt sich um eine Krise, die mich zu einer grundlegenden Revision meiner Art, Geschichte zu analysieren, gezwungen hat"12• Bolaffi schrieb 1993 zudem ein Buch .Die schrecklichen Deutschen. Eine merkwürdige Liebeserklärung"". Bolaffi wollte seinen Landsleuten helfen, Deutschland besser zu verstehen: "Ich wollte reagieren auf eine verbreitete und schlecht informierte Deutschland­ publizistik, die in ihrer begrifflichen Nachlässigkeit nur immer wieder die gleichen interpretatorischen Stereotypen wiederholte. [Ich habe] nicht nur ein Buch über Deutschland [geschrieben], sondern auch ein Buch für Deutschland".

Bolaffi sprach dann in Bezug auf die italienische Berichterstattung nach

1990 von einem "provozierenden Mangel an solider Information" und von .vorgefaßter Feindseligkeit"". EinJahr später publizierte der Deutschlandkorrespondent von .La Nazione" und .ll Resto del Carlino" Roberto Giardina ein Buch, betitelt .Anleitung, die Deutschen zu lieben. Wie man die Mauer der Vorurteile niederreißen und die Wahrheit über ein Volk entdecken kann, dem sympathischerweise vieles zur 10 Ebd., S. 14 f. 11 ll Giornale Nuovo, 17. Dezember 1978. 12 A. Bolaffi, Sotto le macerie del muro, in: M. Freschi (Hrsg.), La mia Gernumia, Mailand 1993, S. 13-26, S. 15. 13

1993. "

A.

Bola/fi, ll sogno

Ebd., S. VII, S. 19.

tedesco. La nuova Gennania e Ia coscierua europea, Rom

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Vollkommenheit fehlt"". Auch Giardina kritisierte die Deutschlandberichter­ stattung der italienischen Medien:

.Die in Italien veröffentlichten Nachrichten treffen zu, aber sie werden mit Vorbe­ dacht so ausgewählt, daß sie ein Deutschland repräsentieren, das von seiner Ver­ gangenheit eingeholt wird. Sie geben so am Ende ein völlig verzerrtes Bild der Bundesrepublik"16•

ß. Italienische Ängste vor einer "Kolonisierung"

19% publizierte der für die Zeitung .La Repubblica" schreibende Journalist Fedetico Rampini ein Buch zur Lage Italiens im Vorfeld der Währungsunion mit dem Titel.Germanisierung. Wie sich Italien verlindern wird"". Seine These lautete, Moastricht mit seinen Folgen werde immer stärker auf die wirtschafdi­ che, soziale und politische Verfassung Italiens einwirken . • Germanizzazione" war in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ein vor allem auf der Linken verbreiteter Schreck- und Angstbegriff, der auf die drohende gesellschafdich­ politische Umwandlung Italiens nach dem .Modell Deutschland" abzielte (der autoritäre Staat, Notstandsgesetze, Radikalenerlaß usw.). Von diesem Schreckensbegriff ist in dem Buch Rampinis wenig zu spüren. Rampini sah Moastricht geprägt von deutschen Stabilitätsvorstellungen. Die Europäische Zentralbank und der Euro würden weitgehend nach den Vorstellungen der deutschen Wirtschafts- und Finanzeliten gestaltet sein. zum ersten Mal in seiner Geschichte ... erringt Deutschland in Europa die Hege­ monie auf friedliche Weise, indem es die Waffen der Industrie, des Handels, der Finanz und der Politik einsetzt. Und das mit dem Einverständnis der ,eroberten' Länder". •

Rampini warnte davor, daß Moastricht ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang sei. Andererseits handle es sich um ein höchst nützliches Erziehungs­ instrument. Moastricht diene der italienischen Politik dazu, unpopuläre Entschei­ dungen in Sachen Inflarionsbekämpfung, Staatsschuldenabbau, Steuererhebung, Verwaltungsreform usw. durchzusetzen, zu denen die entscheidungsschwachen Regierungen in Rom sonst nicht in der Lage gewesen wären.

In Wrrklichkeit dient Europa dazu, Italien unter Kuratel zu stellen. Hier findet sich eine von außen kommende Bindung, die sich als notwendig erweist, um uns zur Modernisierung zu zwingen. Denn ohne diese Hilfe von außen schaffen unsere Führungseliten es nicht". •

u: R Giardina, Guida per amare gli tedeschi. Come abbattere il muro di pregiudizi e scoprire la verit3 su un popolo simpaticamente imperfetto, Mailand 1994. " Ebd., S. 73. 17 F. &mpini, Gennanizzazione. Come cambier8. l'ltalia, Bari I Rom 19%.

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Hinter dieser Mischung aus Furcht und Hoffnung in Sachen Maastricht steht vor allem die Sorge vor der "Kolonisierung", dem Ausverkauf Italiens. 1999 publizierte .La Repubblica" eine Artikelserie mit dem Obertitel .Europa frißt Italien auf". Die "Invasoren" sind nicht nur die "Teutonen" in neuer Gestalt, sondern die apokalyptischen Reiter der Modernisierung, Liberalisierung und Globalisierung, die von außen in den friedlichen •Garten Europas" eindringen. Die deutsch-italienische Beziehung geht damit in einem breiteren Umfeld auf. Die in der italienischen Kultur als kollektives Trauma vorhandene Invasions­ furcht präsentiert sich so heute in neuer Gestalt. Die .Barbaren" kommen nicht als militärische Eroberer und Okkupanten, sondern mit überlegenem technologischen Know-How und dicken Scheckbüchern. Die "Barbaren" von heute sitzen in den Chefetagen der Großkonzerne, Banken und Investmentge­ sellschaften in Paris, London, New York, Frankfurt, Düsseldorf und Madrid. 1997 publizierte der friihere Chefredakteur des •Corriere della Sera", Piero Ottone, ein Buch "Werden wir Kolonie? Oder sind wir es schon?"18, das einen einzigen Warnruf vor dem Ausverkauf der italienischen Wirtschaft darstellte. Auf dem Titelbild greift eine habgierige Riesenband nach den Gebäuden einer Fabrik des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das damals jüngste Beispiel für den Substanzverlust Italiens war der Verkauf der größten italienischen Reederei Costa Crociere an ein amerikanisches Unternehmen. "Sind wir dazu besrimmt, eine Kolonie zu werden? Ein erobertes Land, das dem Willen aus­ ländischer Mächte unterworfen sein wird?"" Ist das ein unvermeidlicher Vorgang im Zeichen der Globalisierung? Ottone hat sich in den Chefetagen der italienischen Wirtschaft und Finanz umgehört und hat bei allen, von Carlo De Benederti und Giovanni Agnelli bis zu Cesare Romiti, die gleiche Antwort gehört: •Was die großen WlrtSchaftskomplexe angeht, so lautet die Antwort: ja. Es ist wahrscheinlich, daß die Aktionärskonttolle ... der besten italienischen Unternehmen in ausländische Hand übergeht"". Ottone regte sich darüber auf, daß seine Gesprächspartner sich nicht aufregten. Er selbst zeigte sich zutiefst beunruhigt: .Mit der Kolonisierung geht einher eiomal die Auslagerung der Forsehuog, daon eioe geriogere Aufmerksamkeit für die sozialpolitischen Belange und größere Unbe­ kümmertheit bei Kürzungen uod Entlassuogen. Und es gibt eioen weoiger meßbareo, aber ebenso schwerwiegeoden Schaden: den Verlust an Identität"21•

Soll man sich mit dem Beispiel Großbritanniens ttösten? Oder mit dem Riisonnement der Genueser Reeder? .Es ist besser, einem reichen Unternehmen, wenn auch in untergeordoeter Position, anzugehören, als selbständiger Chef

18 P. Ottone, Saremo colonia? " Ebd., S. 65. 2o Ebd., S. 141. 21 Ebd.. S. 110.

0 forse

lo siamo gi8, Mailand 1997.

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eines armen Unternehmens zu sein"". Der Beitrag Ottones warweniger als prä· zise Situationsanalyse, denn als Symptom interessant. In seinem Beitrag fehlten fast alle quantitativen Daten, es fehlte vor allem der Blick auf die Gegenseite: die italienischen Kapitalexpone und Firmenaufkäufe im Ausland. Sollen die Deutschen aufschreien, weil die Modefirmen Hugo Boss und Jil Sander oder der Großbäcker Kamps in italienische Hände übergegangen ist? Oder weil ein Viertel der Restaurants in Deutschland von Italienern geführt werden und die Gastronomie immer stärker italienische Züge annimtm ? Ottone übergeht völlig die Tatsache, daß die Investitionsbilanz Italiens fast ausgeglichen ist. Für ihn ist der Nationalstaat, .il sistema paese", der Ralunen und der Denk· horizont für die Zukunftsplanung in Wirtschaft und Politik, weshalb er auch dem Argument Giovanni Agnellis, man müsse jerzt als ,europäischer' Patriot denken, wenig abgewinnen konnte. 1999 erschienen die Memoiren von Carlo De Benedetti". Dieser zählt zu den bedeutendsten Unternehmern Italiens in der Nachkriegszeit. Er forderte, Europa als Bezugsralunen zu akzeptieren Ich glaube mehr an Europa als an den Faktor Nationalität". Die untergründige Sorge aber blieb, im Wettbewerb der großen europäischen Nationen am Ende auf der Verliererseite zu stehen. So meinte Alessandro Benerton, einer der Finanzchefs des Benetton·Imperiums, .Italien steht auf der Kandidatenliste, nach dem Transfer einer wachsenden Anzahl von Entscheidungszentren ins Ausland eine reiche untergeordnete Provinz Europas zu werden"24• .



Nach dem 3. Oktober 1990 äußenen viele Beobachter die Überzeugung, ein endlich mit sich selbst ausgesöhntes und wiedervereintes Deutschland werde halkyonischen Tagen entgegengehen. In einer 1997 erschienenen Studie über die .Deutschlandbilder in der italienischen Presse" nach 1945 heißt es voll Optimismus: .1992 zeichnet die italienische Deutschlandperzeption kein idyllisches, aber doch ein

hoffnuogsfroh stimmendes Bild. Die Nachkriegszeit ist überwuoden, Deutschland hat mit seinem Verhalten nach dem Mauerfall die ,dernoktatische Reifeprüfung' bestanden, der Rekurs der italiertischen Medien auf die deutsche Vergangenheit ist schwächer geworden, die Deutschen haben zwn großen Teil ihre Vergangenheit bewältigt uod die deutsche Identität erscheint gefestigt"25•

Ebd., S. 63. 23 V gl. C. De Benedetti, Per adesso. Intervista di Federico Rampini con Carlo De Benedetti, Mailand 1999. 24 Zitiert nach]. Petersen, Italien ausverkauft. Seelertiage: Das Land fühlt sich als europäische Kolonie, in: Frankfurter Allgerneine Zeituog, 21.Juni 1999, S. 46. 25 E.S. Kuntz, Konstanz uod Wandel von Stereotypen. Deutschlandbilder in der italienischen Presse nach dem Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1997, S. 409. 22

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Jens Petersen III. Währungsunion und beiderseitige Skepsis

Diese 1997 geschriebenen Zeilen zeigen ein viel zu rosiges Bild. In Wirklich­ keit erwiesen sieb die neunziger Jahre auch im deutsch-italienischen Verhältnis als stürmische Zeiten. Die Frage der Teilnahme Italiens an der geplanten Gemeinschaftswährung ließ nach 1994 über Jahre hinweg die Meinungen in beiden Ländern auf das heftigste aufeinander prallen. Die traumatisch tief sitzende Furcht in Deutschland vor Inflation und monetärem Laissez­ faire führte dazu, daß eine breite Mehrheit der Bevölkerung einer Teilnahme des als unzuverlässig geltenden Weicbwährungslandes" Italien mit großer Skepsis betrachteten. Auf der anderen Seite erschienen die rigiden, nur auf monetären Größen beschränkten Maastricbt-Kriterien vielen italienischen Verantwortlieben als eine unerträgliche Zwangsjacke, die die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Investitionsförderung und jede Fortn von deficit-spending verhinderte. In beiden Ländern kam es zu merkwürdigen Allianzen zwischen Euro-Skeptikern und Euro-Gegnern. •Nicht für Dresden sterben" verkündete 1994 Carlo De Benedetti. Und Finanzminister Theo Waigel sprach von dem .Kreuz des Südens", das er zu tragen habe. In Italien formierte sich 1995/96 eine Allianz der Euro-Gegner, die von den Kommunisten Fausto Bertinottis und den Gewerkschaften bis zu Teilen der Finanz- und Großindustrie und der Alleanza Nazianale reichte. Fiat-Chef Cesare Romiti plädierte dafür, die Einführung des Euro zu verschieben und stattdessen Beschäftigungsprogramme anzukurbeln. Eurokritische Stimmen von Finanz- und Wirtschaftsexperten aus den USA fanden ein weites Gehör in den italienischen Medien. Die warnenden Stimmen reichten von P. Samuelson bis zu A. Modigliani und R Dornbusch. P. Lurtwak warnte vor dem .Zentralbankismus" als einer .fanatischen Religion", die allen vernünftigen Grundsätzen der Ökonomie radikal widerspreche Die geheinmisvolle Abkürzung EZB, d.h. Europäische Zentralbank, hätte die gleiche Beriiluntheit verdient wie andere berüchtigte Siglen wie z.B. KGB oder CIA oder gar, noch schlimmer, SS"26• •

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Maastticbtzwänge, Euroskepsis und Globalisierungsfurcbt gingen mitun­ ter merkwürdige Mischungen ein. Maastricht erschien als konsequentester Ausdruck des .modello Germania". Auf der postfaschistischen Rechten gilt der souveräne Nationalstaat nach wie vor als letztes Thule der Wirklichkeit. Hier lockt weiterhin der Gedanke an ein .Italien wird es alleine machen", und sei es, als Freibeuter zu segeln auf den Ozeanen des Welthandels, durch massive Abwertungen fit gemacht für große Exportoffensiven. Auf der kom­ munistischen Linken gilt Brüssel als Inkarnation des Turbokapitalismus, der mit seiner kaltschnäuzigen Shareholder-P olitik Hunderttausende von Arbeits­ plätzen wegrationalisiert und die Menschen in die tödlichen Strudel einer

" Die Geschichte dieser schwierigenJahre 1993-1995 ist noch zu schreiben.

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Modemisierungspolitik ii outrance reißt. Wieviel Veränderung und Lebensun­ sicherheit verträgt der Mensch? Der Starjournalist Giorgio Bocca hat einer weit verbreiteten Stinunung Ausdruck verliehen, als er eines seiner neuesten Bücher "Ich möchte aussteigen" betitelte, bevor einen die Stromschnellen des Turbokapitalismus davonreißen. Wie in anderen Ländern Europas könnte sieb jederzeit eine Allianz der Negationen ergeben, die das Projekt Europa einzu­ tauschen wünscht gegen eine protektionistische Selbstausschließung oder eine egalitäre kommunistische Utopie. Die deutseben Projekte von 1994 über ein .Kerneuropa" mit .variabler Geometrie" erweckten in Italien den Eindruck, man drohe, in die B-Liga relegiert zu werden. Entsprechend heftig waren die von Wellen des Verdachts begleiteten Proteste. Die von teilweise apokalyptischen Furchtvorstellungen gepriigte Maastricbt­ Diskussion in der italienischen Öffentlichkeit nach 1994 kann hier nicht refe­ riert werden. Drei Momentaufnahmen seien jedoch eingefügt: Die massiven, Maastricht betreffenden Kassandra-Rufe des Wahl-Engländers Lord RaH Dahrendorf fanden in Italien einen breiten Widerhall. Dahrendorf kritisierte die von Bonn durchgesetzten monetären Stabilitätskriterien als viel zu rigide. Wirtschaftliebe Stagnation, Anstieg der Arbeitslosigkeit und vermehrte soziale Spannungen seien die fast unvermeidliche Folge. Deutschland werde unwei­ gerlich in die undankbare und mit enormen historischen Vorerinnerungen belastete Rolle des Kontrolleurs und Zuchtmeisters hineingedrängt. "Der Preis ist sehr hoch", vermutlieb "zu hoch ... , psychologisch, politisch und ökono­ misch". In einem sofort vom "Espresso" übernommenen Spiegel-Interview warnte Dahrendorf Ende 1995, .die Währungsunion ist ein großer Irrtum, ein abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel, das Europa nicht eint, sondern spaltet"27• Auf ähnlichen Positionen befand sieb einer der besten Deutschlandkenner der italienischen Kultur, der Zeithistoriker und Publizist Lucio Caracciolo, der als Chefredakteur der Zeitschriften .MicroMega" und .Limes" den T hesen Dahrendorfs zu weiter Verbreitung verhalf. Die Zeitschrift .Limes. Rivista italiana di geopolitica" nennt die Wiederentdeckung Italiens als Staat und Nation .eine Aufgabe nicht für Tage oder Jahre, sondern für Generationen". Zu diesem nationalpädagogischen Projekt will die Zeitschrift mit ihrem weit gespannten, von weit links bis weit nach rechts reichenden Herausgeberkreis beitragen". Zu diesem Projekt gehören die Beeinflussung der politischen Eliten, 7:1 R. Dahrendor/, .Alle Eier in einen Korb". Lord Ralf Dahrendorf über die Gefahren der Währungsunion und die Krise in Europa, in: Der Spiegel, 11. Dezember 1995, S. 27-33. 28 V!9. J. Petersen, Die neue Attraktivität der Genpolitik in Italien, in: I. Diekmann I P Krüger I J.H. Schoeps (Hrsg.), Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, Potsdam 2000, Bd. 1/2: 1945 bis zur Gegenwart, S. 481-505.

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der Massenmedien, von Schule und Universität. Die Zeitschrift nennt einige große Gefahren, die Italien heute bedrohen: 1. Der Zerfall der staatlichen Ein­ heit; 2. Die Herausbildung einer deutsch-französischen Staatengemeinschaft, genannt .Framania", die Italien zu .. einer Provinz" des Karolingischen Europa degradieren würde; 3. Der Abbruch der europäischen Einigungsbewegung und die "Balkanisierung" Europas; 4. Die Gefahr einer neuen Hegemonie Deutsch­ lands. Caracciolo publizierte 1997 einen Band "Euro Nein. Nicht Sterben für Moastricht"", in dem er seine Argumentation zusammenfaßte. Seine größte Befürchtung war, daß Italien ntit der forcierten Finanzunion überfordert sein würde. •Das Projekt Euro/Kerneuropa ist zurückzuweisen, weil es unser Land zu spalten droht. Das ist der Hauptgrund. Das, was die Lega allein nicht zu hoffen erwarten kann, könnte sich realisieren als Auswirkung auf die Margina­ lisienmg Italiens von Kemeuropa"30• Maastricht sei zweitens zurückzuweisen, weil es das halbhundertjährige Vertrauensverhältnis USA- Westeuropa zu zerstören droht. Moastricht .ist die Unabhängigkeitserklärung Europas von den USA, ein Keil in der rransadantischen Allianz, auf die sich die Sicherheit und der Wohlstand unserer Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg gestützt haben"". Moastricht sei schließlich drittens zurückzuweisen, weil es Deutsch­ land zwingt, das wichtigste Symbol seiner schwierigen Identität, nämlich die DM aufzugeben. Bei Deutschland sei nätnlich nicht seine Stärke, sondern seine Schwäche zu fürchten. Zustimmend zitiert Caracciolo den englischen Publizisten David Marsh: ..Nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist die Wirtschaft der Bundesrepublik um 7 Prozent gewachsen, seine Einwohner um 25 Prozent, sein Territorium um 40 Prozent, die Zahl seiner Arbeitslosen um 50 Prozent, seine Probleme um 100 Prozent"". Moastricht ist für Caracciolo nicht die Fortsetzung der bisherigen europä­ ischen Einigungspolitik, sondern ihre Negation, ein Produkt der Furcht vor der möglichen neuen deutschen Hegemonie. •Maastricht ist das Zusammenwirken aller europäischen Gennanophobien, einschließlich der deutschen", ein Produkt alljener Kräfte, .die das Syndrom von Versailles noch nicht überwunden haben und die weiterhin, bisweilen unbewußt, von Deutschland nur aufgrund seiner Existenz Reparationen verlangen. Dieses Europa erzeugt ein Deutschland, das abgeschlossener und nationalistischer sein wird und das im Kampf gegen den Euro ein Element des Zusammenhalts finden wird"". Anfang 1997 erschien von der bekannten Kulturanthropologin Ida Magli ein polemischer Essay "Gegen Europa. Alles das, was man Euch über Moastricht 29 L. Caracciolo, Euro No. Non morire per Maastrieht, Bari I Rom 1997.

Ebd.. s. 66. Ebd.. S. 4. 2 3 Ebd., S. 25 f. Ebd., S. 27. .n

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nicht erzählt hat"", der in wenigen Monaten ein Dutzend Auflagen erreichte. Magli sah sich in der Rolle einer einsamen Ruferin in der Wüste. Sie schilderte die Zukunft Europas in den düstersten Farben. Die italienischen Führungseli­ ten praktizierten dank einer durchgehenden Kontrolle der Massenmedien eine systematische Verschweigetaktik, was die wirklichen Bindungen und Auswir­ kungen des Maastricht-Vertrags angehe. Das Projekt der Europäischen Union werde von Hohepriestern des monetarischen Integralismus wie Carlo Azeglio Ciampi, Mario Monti oder Hans Tietmeyer vorangetrieben, Brüssel werde zu einer Art irdischem Jerusalem verklärt. In Straßburg und Brüssel entstehe ein .kommunistisch" geprägter tyrannischer Superstaat, ein neuer Imperialismus, der die Nationalstaaten und mit ihnen alle historischen, kulturellen und poli­ rischen Differenzierungen absterben lassen werde. Die italienische Sprache und Kultur ebenso wie Staatsbürgerschaft, Eigentum, gesellschaftliche Heimat und Religion seien in größter Gefahr. Das von Goethe'schen Zauberlehrlingen konstruierte Europa von Moastricht könne nur in Balkanisierung und Islarni­ sierung enden. Moastricht ist in der Tat ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang, ein poli­ risch geprägtes Projekt, das gegen den qualifizierten Rat zahlreicher Finanz- und Wirtschaftsexperten in die Realität umgeserzt wird. Überdies klaffen die Über­ zeugungen der europäischen Eliten und die Ansichten der Bevölkerung weit auseinander. Hätte man das Projekt einer Volksabsrimmung unterworfen, wäre Moastricht in mehreren Ländern Europas gescheitert. Das Experiment einer Währungsunion in diesen Dimensionen, ohne politische Entscheidungsinstan­ zen, ohne Harmonisierung der Steuer- und Wohlfahrtssysteme ist welthistorisch einmalig und mobilisiert überall riefsitzende kollektive Ängste und Vorurteile. Die Konquistadoren dieses neuen noch unbekannten Kontinents •Euroland" haben die Schiffe hinter sich verbrannt. In den Maastricht-, Amsterdam- und Nizza-Verträgen existieren keine Rückfall- oder Auffangpositionen. Es gibt keine Möglichkeit zum Ausstieg. Unterschwellig zirkulierte allenthalben die Angst, sich auf der Jungfernfahrt einerneuen "Titanic" zu befinden. Die Befindlichkeit der öffentlichen Meinungen in Europa reichte von schwarzen, angstgeprägten Pessimismen bis zu euphorischen Hoffnungen. Als Symbole können die Titel­ bilder des .Spiegel" dienen. Anfang 1997 trieben ein Dutzend Papierschiffchen in den jeweiligen Nationalfarben auf einen gigantischen Wasserfall zu, zwei Jahre später stiirmte eine neue europäische Mariarme a Ia Delacroix siegreich die Barrikaden der reaktionären Europaskeptiker".

34 I. Mßgli, Contro l'Europa. Tutto quello ehe non vi hanno detto di Maastricht, 6. Auf!., Mailand 1998. " Vgl. Abenteuer Euro. Krise der Staatsfinanzen. Schwaehe D-Mark. Kurs auf 5 Millionen Arbeitslose, in: Der Spiegel, 17. Februar 1997; Aufbruch ins Euro-Land. Die neue Welttnacht?, in: Der Spiegel, 4.Januar 1999.

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Das gleiche Wechselbad von schwarzen Pessimismen und rosigen Hoffnun­ gen ereignete sich nochmals um die Jahreswende 2001/02. Mit Geldumtausch und Währungsumstellung zum 1. Januar 2002 erreichte die Einführung des Euro die Ebene der täglichen Lebenserfahrung und des Alltags. Hier ergaben sich fast entgegengesetzte Szenarien von Euphorie, teilnehmendem Interesse und optimistischen Zukunftserwartungen im Norden und Kälte, desinteressiertem Schweigen und verhüllter Ablehnung im Süden. Inzwischen sind diese Stimmungen der Rourine gewichen. Die Währungs­ umstellung hat in beiden Ländern zu einem Preisanstieg und entsprechenden Enttäuschungen geführt. Europa-Komntissar Mario Monri hat bei seinem Werben für die Gemeinschaftswährung immer mit dem Argument operiert, wenn die Europäer erst das gemeinsame Geld in der Tasche hätten, würde auch - quasi spontan - das Gefühl der Zusammengehörigkeit wachsen und ein europäisches Identitätsbewußtsein entstehen. Das steht zu hoffen. Wachsen könnte aber auch das Bewußtsein für die enormen Risiken und Gefährdungen, denen das große Projekt ausgesetzt ist. Auch die bilateralen Beziehungen und Perzeptionsmuster werden neuen Erfahrungen und neuen Argumentationen ausgesetzt sein. Ist es doch auch, so wird der Deutsche sagen, ,mein' Geld, das der Franzose oder der Italiener so freizügig auszugeben bereit ist. Und dieses Argument behält seine Berechtigung auch in der umgekehrten Richtung.

IY.

Die Überwindung der Ressentiments

Was wir benötigen - auch im deutsch-italienischen Verhältnis - ist eine vertiefte Kenntnis der beiderseitigen Beziehungen und der beiderseitigen Stereotypen und Perzeptionen. Dabei spielen auch Irrtümer, Abwehr- und Feindpositionen, ja sogar Schweigezonen und Tabuisierungen eine beträcht­ liche Rolle und können geschichtsmächtig sein. Zu dieser Geschichte der Perzeptionen gehörte auch die Wahrnehmung der Entwicklungsgeschichte der DDR aus italienischer Sicht. Zu diesem Thema liegen inzwischen, auch dank der unwahrscheinlich günstigen Archivlage, ein Halbdutzend Studien vor''. Denn die DDR galt in ihrer Selbstinterpretation und in den Augen der italienischen Linken als das .neue", als das bessere Deutschland, das einen radikalen Schlußstrich unter die Irrtümer und Fehlentwicklungen der Ver­ gangenheit gezogen hatte. Auch dies ist die Geschichte einer Enttäuschung. Ranuccio Bianchi Bandinelli, der bedeutendste italienische Archäologe seiner Generation, ein hervorragender Deutschlandkenner und seit 1958 Präsident des Centro Thomas Mann in Rom, spricht in seinen Tagebüchern in Sachen

" Vgl. ]. Li//, Völkerfreundschaft im Kalten Krieg? Die politischen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen der DDR zu Italien 1949-1973, Frankfurt a.M. 1999; C. Poethig, Italien und die DDR, Frankfurt a.M. 2000.

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Deutschland und DDR von einer der vier Enttäuschungen seines Lebens". Das Deutschland des 20. Jahrhunderts hat es seinen Freunden in Italien wahrlich nicht leicht gemacht. Dieses Deutschland präsentierte innerhalb von hundert Jahren fünf politische Systeme, fünf Nationalflaggen, fünf Eidesformeln, vier Verfassungen, eine Monarchie, zwei demokratisch-parlamentarische Republi­ ken, zwei totalitäre Diktaturen. Und jedes dieser .Deutschländer" vertrat den Anspruch, das andere, das "wahre", das "neue", das "bessere" Deutschland zu sein und als solches im Süden Aufmerksamkeit und Anerkennung zu finden. Die praeceptor Italiae - Haltung des pedantischen deutschen Besserwissers mit Missionsbewußtsein ist im bilateralen Verhältnis der beiden Nationen eine säkulare Figur. Wer sich mit den Beziehungen zwischen Deutschland und Italien befaßt, tut gut daran, einen Blick über die Nachbarzäune zu werfen. Bestimmte Charakte­ ristiken, Stärken, Schwächen oder Leerzonen dieses Themengebiets treten erst bei komparatistischer Analyse zutage. Deshalb sei dieser Beitrag mit einigen Beobachtungen zum deutsch-französischen Verhältnis geschlossen. Das Verhältnis der beiden Nachbarn am Rhein bildet seit den Zeiten Robert Schumans, Konrad Adenauers und Charles De Gaulies die eigentliche Kernzone der Einigung Westeuropas, ebenso wie die sogenannte .Erbfeindschaft", das •Vaterland der Feinde", seit den Zeiten Napoleons im Zentrum der europäischen Konflikt- und Kriegslandschaft gestanden harte. Seit Anlaufen der Verstän­ digungsbemühungen Ende der vierziger Jahre hat man in Patis wie in Bonn die .Entfeindung" der beiden Nationen, bis hin zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag von 1963 als Thema mit hohem Prioritätsgrad behandelt. Das gilt ebenso für die staatlich-politische Ebene wie für das gesellschafdiche und kulturelle Umfeld. Die Achse Paris-Bonn, das .Bündnis im Bündnis", galt und gilt als der eigentliche Motor der europäischen Einigung. Dieses Projekt war ein säkularer Erfolg, eine segensreiche Entwicklung nicht nur für Frank­ reich und Deutschland, sondern auch eine tragende Säule der europäischen Friedenssicherung. Die Politik hat viel getan, um diese .Enrfeindung" zu fördern: periodische Konsultationen auf allen Ebenen, gemeinsame Entwicklungsprojekte auf vielen Gebieten bis hin zu Forschung, Technik und Rüstung, Förderung eines breiten Netzes von Städtefreundschaften, Jugendaustausch in größtem Stil, kultu­ relle Zusammenarbeit bis hin zu dem deutsch-französischen Fernsehsender .Arte". Die Intensität dieser Beziehungen spiegelt sich auch in der Forschungs­ landschaft. Es gibt in beiden Ländern Institute, die sich mit Geschichte und Gegenwart des Nachbarn beschäftigen, es gibt große Spezialbibliotheken und kontinuierliche Materialsammlungen. Mit den Zeitschri&en .Dokumente",

" Vgl. R. Bianchi Bandinelli, Da! diario di un borghese, Neuauflage, Rom 1996, s. 359.

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"Lendemain" und dem "Frankreich-Jahrbuch" gibt es heute in Deutschland drei dem Nachbarland gewidmete Organe, die im Sinne einer übergreifenden "Landeskunde" das allenthalben in den Sozial- und Geisteswissenschaften des deutschen Sprachraums entstehende Fachwissen sanuneln und dem Interes­ senten zur Verfügung stellen. Datenbänke und Presse-Ausschnittssanunlungen erlauben den Zugriff auf die beiderseitige Berichterstattung. Im Vorwort zum "Frankreich-Jahrbuch" heißt es: "Das Jahrbuch versteht sich als Beitrag der Wissenschaft zu besserer Frankreichkenntnis für eine größere Öffentlichkeit ... Es versucht, Zusammenhänge zu erschließen" für alle diejenigen, .die sich in Politik, Wirtschaft, Kultur und Bildung tnit französischen Fragen befas­ sen ... Es will jenes Hintergrundwissen vermitteln, das zum Verständnis der Berichterstattung in den Medien ... erforderlich ist"". Hier wird -jedenfalls ansatzweise - die Wiederzusammenführung der Ergebnisse hochspezialisierter Einzelwissenschaften geleistet, die sich längst in ihren Elfenbeintiirtnen isoliert haben". Im Falle Deutschland-Italien ist von diesem Informationsreichtum wenig zu spüren. Es gibt keine Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen, und ebenso wenig ist die Geschichte der gegenseitigen Perzeptionen und Stereotypen aufgearbeitet. In der Geschichte der deutschen Italien-Wahr­ nehmung stehen die kulturhistorische und die politische Dimension vielfach nicht komplementär zueinander, sondern bewegen sich auf antithetischen Bahnen. Der deutsche Kulturraum besitzt ein breites Netz von Interessen, um die vielfältigen Vergangenheiten Italiens wahrzunehmen. Die Perzeption der Gegenwart dagegen ist institutionell kaum irgendwo abgesichert, in Traditionen verfestigt, durch anerkannte Autoritäten fortgeführt und im innerkulturellen Gespräch auf Dauer qualitätsmäßig kontrolliert. Politische Brüche und Kriege haben zusätzlich traditionszerstörend gewirkt. Gravierend sind vor allem die mangelnde Koordinierung, die Fragrnentierung und häufig auch die Isolierung, die die verschiedenen Politik-, Kultur- und Forschungsinteressen voneinan­ der trennen. Dabei kaun die Perzeptionsforschung etwas leisten, was wir im interkulturellen Gespräch mehr denn je benötigen: die Überwindung der fachspezifischen Grenzen und ihrer Blindheiten. Wir brauchten so etwas wie die •German Studies" in den USA, die Geschichte, Germanistik, Politik- und Sozialwissenschaften und "gender studies" miteinander vereinigen. "Italien­ Forschung", so Michael Kreile, .ist meistens die Sache von Einzelkämpfern und kann häufig nur als Teilzeitarbeit betrieben werden"'". So ist eine Klage

" FrankreichJahrbuch 1995, Opladen 1996, S. 5. " Vgl.]. Petersen, Die deutsche Zeitgeschichte im Spiegel der italienischen Kultur, in: ders , Italienbilder- Deutschlandbilder, Köln 1999, S. 261-287. 40 M. Kreile, Politikwissenschaftliche Italien-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 71 (1991), s. 798-815. .

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wie die folgende auch für andere Bereiche repräsentativ: ,Jeder, der sich in Deutschland um die Verbreitung italienischer Literatur bemüht, begibt sich auf einen langen Marsch der Frustrationen, weil es an einer Basis für die Kon­ solidierung der Ansätze fehlt"". Mehr denn je ist die Hiderzeit Zentrum und Bezugspunkt der amerika­ nischen Deutschland-Studien", schrieb kürzlich die .Frankfurter Allgemeine Zeitung"42• Eine ähnliche Beobachtung ließe sich auch für die italienische Deutschlandperzeption machen. Die zwölf Jahre der Hider-Diktatur stellen auch für Italien eine Vergangenheit dar, die schwer vergeben will. Die Jahre des Unheils 1933-1945 bilden einen geheimen Fluchtpunkt, auf den viele Überlegungen zulaufen oder die von ilun ausgeben. Deutschland befindet sich seitdem, in der bildkräftigen Formulierung von Angelo Bolaffi, in der Rolle des Vorbestraften: .die Vergangenheit spricht nicht zu seinen Gunsten"". Diese Konzentration auf die Zeit der großen Katastrophe hat ihre quantitative Seite. Schätzungen sind schwierig. Aber wenn nicht alles täuscht, so beziehen sich circa die Hälfte der in Italien publizierten Originalbeiträge oder Übersetzungen zur deutschen Geschichte direkt oder indirekt auf die Jahre der Hider-Diktatur. Der Schatten Hiders wird weit länger sein als die vergangenen füufzig Jahre. Sein Reich wird in der Erinnerung wie gewiinscht ein tausendjähriges sein. So werden viele, auch völlig unbegriindete, törichte und auch instrumentalisierte Besorgnisse und Ängste fortdauern. An "unfreundlichen Mutmaßungen und regelrechten Verfälschungen" hat es, wie Angelo Bolaffi in einem .Spiegel"­ Essay schrieb, in Italien auch nach 1990 nicht gefehlt. Notwendig wäre auf beiden Seiten und auf vielen Ebenen eine vertiefte Kenntnis voneinander, eine kontinuierliche Wahrnehmung und Berichterstattung, ein neues, solida­ risches, die mannigfaltigen kontrastierenden Vergangenheiten .aufhebendes" gemeinsames europäisches Bewußtsein, das die Probleme des und der anderen auch als eigene Probleme empfindet und deshalb, statt mit Mißtrauen und vorschneller Anklage zu reagieren, in Krisensituationen auf kritische Solidarität und Gelassenheit setzt. •

Deutsche und Italiener haben es-aus ganz unterschiedlichen Griinden -mit einem .schwierigen Vaterland" zu tun. Es wäre beiden geholfen, wenn sie verstehen würden, warum das so ist.

41 J. Hösle I W. Eitel (Hrsg.), Italienische Literatur der Gegenwart in Einzeldar­ stellungen, Stuttgart 1974, S. IX. 42 H. Wefing, Jetzt auch als Deodorant und After-Shave. Ganz Deutschland riecht für Amerika. Gennanisten nach Hitler, in: Frankfurter Allgerneine Zeitung, 9. Oktober 2002. " A. Bolaffi, Die schrecklichen Deutschen. Eine merkwürdige Liebeserklärung, Berlin 1995, s. 42.

Erster Teil

Abrechnung mit der Vergangenheit

Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland 1945-2000 Von Norbert Frei

Die ausgeprägte Bereitschaft zum selbstkritischen Umgang mit der NS­ Vergangenheit gilt vielen in- und ausländischen Beobachtern als ein besonderes Merkmal der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Zwar sind wohl nur wenige der Auffassung, daß diese Bereitschaft erst in allerjiingster Zeit entstanden ist; über die Anfänge dessen, wofür man im Deutschen den ebenso mißverständlichen wie unübersetzbaren Begriff"Vergangenbeitsbewältigung" gefunden hat, herrscht gleichwohl beträchtliche Unsicherheit. Am verbreitetsten ist vermutlich die Ansicht, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Erblast habe in den späten sechziger Jahren begon­ nen, mithin im Kontext der Studentenbewegung. In den Medien und in Teilen der jungen Generation wird inzwischen aber auch Kritik an diesbezüglichen Leistungszuweisungen an die Adresse der .Achtundsechziger" laut; statt dessen heißt es nicht selten, eine griindliche Beschäftigung mit dem .Dritten Reich" habe erst in den neunziger Jahren eingesetzt. Schließlich ist auf eine These hin­ zuweisen, die bereits im Zusammenbang mit der Auseinandersetzung um die .doppelte Diktaturerfahrung" der Deutschen nach 1989 propagiert wurde und die den .Achtundsechzigern" aus anderer Perspektive jede Impulsgeberfuoktion absprach; danach soll die Geschichte der Bundesrepublik bereits von Aufang an eine Geschichte der kritischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gewesen sein. Vor dem Hintergrund einer seit erwa einem Jahrzehnt in Gang gekom­ menen, inzwischen beachtlich breiten Forschung' soll im folgenden der 1 An dieser Stelle kann deshalb auch nur auf eine beschränkte Auswahl wichti­ ger Monographien (nicht auf Aufsätze uod Sammelbäode) verwiesen werden, in der Reihenfolge ihres Erscheinens: P. Graf Kielmansegg, Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Berlin 1989; U. Herbert I 0. Groehler, Zweierlei Bewältiguog. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS­ Vergangenbeit in den beiden deutscheo Staateo, Harnburg 1992; U. Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenbeitsbewältiguog und Westintegration in der Ära Adenauer, Harnburg 1994; I. Buruma, Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältiguog in Deutschland und Japan, München 1994; F. Wielenga, Schatten deutscher Geschichte. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und der DDR-Vergangenheit in der

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Versuch gemacht werden, einen knappen Überblick über die Geschichte des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik mit einem lockeren Periodisierungsvorschlag zu verbinden'. Anlaß zu letzterem bierer allein schon der Umstand, daß diese .Nachgeschichte" des Nationalsozialismus inzwischen einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhunden umspannt -oder anders gesagt: daß sie inzwischen fast fünfmal so lange wähn wie die Geschichte des "Dritten Reiches".

Bundesrepublik, Vierow bei Greiswald 1995; P. Reichet, Politik mit der Erinoeruog. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München I Wien 1995; M. Kohtstruck, Zwischen Erinnerung und Geschichte. Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen, Berlin 1997; A. Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe. German Intellectnals between Apocalypse and Enlightenment, Berkeley CA 1997; ]. Solchany, Comprendre Je nazisme dans I'AIIemagne des annees zero (1945-1949), Paris 1997; G. Schwan, Politik und Schuld. Die zerstöretische Macht des Schweigens, Frankfurt a.M. 1997; C. Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Ko112entrationslagem nach 1945, Berlin 1998; ]. Her/, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Beslin 1998; M. Zuckermann, Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands,Görtingen 1998; A. Assmann I U. Frevert, Gesehichtsvergessen­ heit- Gesehichtsversessenheit. Vom Umgang ntit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Sturtgart 1999; C. Classen, Bilder der Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955-1965, Köln 1999; H. Dubiet, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München I Wien 1999; M. Futbrook, German National Identity after the Holocaust, Oxford u.a. 1999; E. Wolfrum, Gesehichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999; M. ]eismann, Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und diePolitik von morgen, München 2001; P. Reichet, Vergangenheitsbe­ wältigung in Deutschlaod. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001; D. Levy I N. Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001; H. Marcuse, Legades ofDachau. The Uses and Abuses of a Goncentration Camp 1933-2001, Cambridge 200l;R.G. Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Fedesal Republic ofGermany, Berkeley I Los Angeles I London 2001;].S. Wiesen, WestGesmanindustty and the Challenge of the NaziPast 1945-1955, Chapel Hili NC 2001; H. König, Die Zukunft der Vergangenheit. Der Nationalsozialismus im polirischen Bewußtsein des Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 2003; N. Frei, 1945 und wir. Das Drirte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005. 2 FürdiefünfzigerJahre stützeichntich dabeiauf meine Studie: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 19%, 2. Auf!., 2003; im übrigen greift der vorliegende Beitrag in Teilen auf ftühere Aufsätze zurück: Amoesriepolitik des Bonoes Aufangsjahre. DieWestdeutschen und die NS-Vergangenheit, in: Urtiversitas, 51 (1996), S. 1147 ·1160; Deutsche Lernprozesse. NS-Vergangenheit und Generationenfolge seit 1945, in: H. Uht (Hrsg.): Zivilisationsbruch und Gedächntiskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinneruog des beginnendeu 21. Jaluhunderts, Wien 2003, s. 87-102.

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I. Säuberungspolitik Schaut man in die Gesamt- und Überblicksdarstellungen zur Geschichte der .alten" Bundesrepublik, die Anfang der achtziger Jahre gehäuft erschienen, so bestand innerhalb der Historikerschaft damals weitgehend Konsens, daß die NS­ Vergangenheit vor allem in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten verdrängt worden war. Diese Ansicht teilten auch Autoren wie Hans-Peter Schwarz' oder RudolfMorsey', die dafür allerdings-im Unterschied etwa zu Ansehn Doering­ Manteuffel' -ein beträchtliches Maß an Verständnis aufbrachten. Der Schwachpunkt dieser seitdem gleichsam kanonisierten und von dem Publizisten Ralph Giordano 1987 zur .zweiten Schuld" überspitzten Verdrän­ gungstbese6 freilich lag in dem Umstand, daß ihr so gut wie keine Forschungen zugrunde lagen. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre wurde die These, nicht zuletzt gespeist aus dem aktuellen Interesse an einer .zweiten Vergangenheits­ bewältigung" nach dem Ende der DDR, von einigen Historikern denn auch radikal in Zweifel gezogen: Von .unbewältigter Vergangenheit", so meinten sie, könne keine Rede sein, viehnehr sei auch in der Ära Adenauer in Sachen "Vergangenheitsbewältigung" alles schon auf dem bestem Wege gewesen'. Atmosphärisch war man mit dieser These ganz nahe bei der bereits 1983 for­ mulierten und geradezu populär gewordenen Diagnose von Hermann Lübbe, der die nach-nationalsozialistische Gesellschaft der Bundesrepublik bis zum Auftauchen der "Achtundsechziger" bekanntlich in bester Verfassung sah'. Empirisch aber lief diese Argumentation eher konträr zu Lübbe, denn wo

Vgl. H.-P. Schwarz, Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949-1957 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2), StuttgartiWiesbaden 1981; ders., Die ÄraAdenauer. Epochenwechsel1957-1963 (Geschichte derBundesrepublik Deutschland, 3), StuttgartiWiesbaden 1983. ' SieheR Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1%9, München 1987. 5 Vgl. A. Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949-1%3, Darmstadt 1983. ' V gl. R. Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein,

Harnburg 1987.

' In diesem Sinne bereits einige Beiträge in dem Sanundband U. Backes I E. ]esse I R. Zitelmann (Hrsg.), Die Scharten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1990; weiterhin M. Wolffsohn, Keine Angst vor Deutschland!, Erlangen I Bonn I Wien 1990, S. 96-148; C. Ho/fmann, Stunden Null? Vergangenheitsbewältigung in Deutschland 1945 und 1989, Bann I Berlin 1992; am poin­ tiertesten M. Kittel, Die Legende von der .Zweiten Schuld". Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer, Frankfurt a.M. I Berlin 1993. • Siebe H. Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: Histeeische Zeitschrift, 236 (1983), S. 579-599.

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angeblich so viel Aufarbeitung war, konnte schwerlich das große .kommuni­ kative Beschweigen" geherrscht haben. Der Widerspruch löste sich schließlich in dem Maße auf, in dem anstelle der Rhetorik der "Vergangenheitsbewältigung" die konkrete politische Praxis des Umgangs mit dieser Vergangenheit in den Blick der historischen Forschung geriet. Dabei zeigte sich: Die von der politischen Klasse der neugegriindeten Bundesrepublik inuner wieder postulierte normative Abgrenzung vom N atio­ nalsozialismus - ihre zwar noch ungeübte, partiell aber auch beeindruckende Rhetorik der "Vergangenheitsbewältigung" - ging einher mit einer gezielten "Vergangenheitspolirik". Im Zentrum dieser Polirik stand gewissermaßen die Bewältigung der frühen NS-Bewältigung; ihr Ziel war die Rückgängigmachung der Folgen der politischen Säuberung, wie sie auf Geheiß der Alliierten in den Jahren zwischen 1945 und 1949 betrieben worden war. Insofern erscheint es sinnvoll, ja notwendig, die unmittelbaren Nachkriegsjahre als eine erste Phase des Umgangs mit der NS-Vergangenheit zu verstehen. Die folgenden Stichworte mögen andeuten, daß es zu kurz greift, diese Phase der Säuberungspolirik' allein unter dem vereinfachenden Begriff der .gescheiterten Entnazifizierung" zu betrachten. Denn zwischen 1945 und 1949 wurden nicht nur .Persilscheine" ausgestellt, sondern auch Kriegsverbrecher hart bestraft, NS-Funktionäre zum Teil für Jahre interniert und sogenannte .Mitläufer" in spürbarer Weise zur Rechenschaft gezogen. Stichwort .justitielle Säuberung": Neben und nach dem Nürnberger Prozeß gegen 24 führende Repräsentanten von Partei, Staat und Wehrmacht und gegen sechs NS-Organisationen gab es in den drei westlichen Besatzungszonen Militärgerichtsprozesse gegen annähernd 5.000 Angeklagte, von denen etwa 800 zum Tode verurteilt wurden; mindestens ein Drittel dieser Urteile wurde vollstreckt. In den sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozessen, die die Amerikaner alleine durchführten, standen rund 180 ausgewählte Vertreter jener Funktionseliten vor Gericht, die zum Funktionieren des NS-Systems entschei­ dend beigetragen hatten; vier Fünftel dieser Angeklagten wurden verurteilt und die Hälfte der 24 Todesurteile wurde vollstreckt. 9

Die schon seit den sechziger Jahren entstandene Literatur zur "Entnazifizierung"

ist umfangreich; vgl. besonders ]. Fürstenau, Entnazifizierung. Ein Kapitel deutscher

Nachkriegspolitik, Neuwied I Berlin 1969; L. Niethammer, Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rebabilitierung unter ametikanischer Besatzung, Frankfurt a.M. 1972; als aufschlußreiche Fallstudie H. Waller, Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone. Die Begion Ansbach und Fürth, München 1986; bilanziereod K-D. Henke, Die Treonung vom Nationalsozialismus. Selbstzerstörung, politische Säuberung, .Entnazifizierung", Strafverfolgung, in: K.-D. Henke I H. Waller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung ntit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiteo Weltkrieg, München 1991, S. 21-83; dokumentierend C. Valinhals (Hrsg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Behabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991.

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Stichwort "Internierung": Gewissermaßen zur Vorbeugung nahmen die Alliierten nach Kriegsende massenhaft ehemalige Parteifunktionäre und Mitglieder der SS in den sogenannten .Automatie Arrest". Allein in der ameri­ kanischen Zone belief sich die Zahl der Internierten gegen Jahresende 1945 auf etwa 100.000 Personen, und etwa doppdt so vide dürften insgesamt von den Westmächten teils zwar nur für Wochen, teils aber auch bis zu dreiJahre in Haft gehalten worden sein - übrigens zumeist in ehemaligen Konzentrationslagern, bei freilich besserer Verpflegung und Behandlung. Stichwort "Mitläufer": Hier ist vor allem an die rigorose Politik der Endassung aus dem öffentlichen Dienst zu erinnern, mit der besonders die amerikanische Militärregierung agierte: Nach zunächst frei verfügten Endassungen, die im Sommer 1945 auch den Briten und Franzosen als ein probates Mittd erschienen, um etwaige politische Widerstände innerhalb der deutschen Verwaltung zu brechen und NS-Seilschaften zu zerschlagen, mußte in der US-Zone schließlich jeder Beamte seinen Schreibtisch räumen, der der NSDAP vor dem 1. Mai 1937 beigetreten war. Hunderttausende waren von diesen Maßnahmen zumindest vorübergehend betroffen, und daß es dabei auch zu Ungerechtigkeiten kam, ist leicht vorstellbar. Den meisten Deutschen aber kamen diese Fehler, pointiert gesagt, gerade recht: Lieferten sie doch Ansatzpunkte für eine ebenso intran­ sigente wie rasch einsetzende Kritik, die sich dann noch vor Griindung des Weststaats zu einem Generalverdikt gegen das gesamte Projekt der politischen Säuberung auswuchs.

II. Vergangenheitspolitik Es ist dieser Hintergrund einer insgesamt also beileibe nicht unerheblichen, sondern individuell und gesamtgesellschaftlich zunächst folgenreichen politi­ schen Säuberung, auf den die dann einsetzende zweite Phase des Umgangs mit der NS-Vergangenheit folgte und verstanden werden muß: die Phase der Vergangenheitspolitik in den fünfziger Jahren10• Die vergangenheitspolitischen Etwanungen an das Griindungspersonal der jungen Bundesrepublik waren klar: Es ging um einen .Schlußstrich" unter die politische Säuberung- und der Schlußstrich unter die Vergangenheit war davon nicht weit entfernt. Vom ersten Tag an standen die Zeichen also auf Amnestie und Integration. Sie w urden zu Leitbegriffen einer - so zwar nicht benannten, aber weitgehend konsensuell praktizierten- Vergangenheitspolitik, die im 1949 verkündeten Grundgesetz und der darin postolierten normativen Abgrenzung vom Nationalsozialismus, aber auch in der von Bundeskanzler Konrad Adenauer 10 Ausführlicher und mit Einzelbelegen politik.

zum

folgenden N. Frei, Vergangenheits­

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betriebenen Politik der Wiedergutmachung und Aussöhnung mit Israel11 gleich­ sam ihr Widerlager fand. Mit einem ersten, vom Bundestag einstimmig im Eilverfahren verabschie­ deten Straffreiheitsgesetz wurden zum Jahresende 1949 sämtliche Straftaten amnestiert, die vor dem 15. September 1949 begangen worden waren und mit Gefängnis bis zu sechs Monaten geahndet werden konntenu. Die Masse der rund 800.000 Personen, denen es zugute kam, harte sich wegen nichtpolitischer Delikte aus der Not- und Schwarzmarktzeit zu verantworten. Doch die Amnestie griff natürlich ebenso hinsichtlich noch nicht verjährter Straftaten aus der NS-Zeit". Und ein Spezialparagraph begünstigte explizit auch jene nationalso­ zialistischen Amtswalter, "Goldfasane" und SS-Leute, die es im Ftühjahr 1945 vorgezogen hatten, sich durch Annahme einer falschen Identität der Internierung und Entnazifizierung zu entziehen: Die geheimnisumwitterten .illegalen" also, deren Zahl niemand kannte und die nun doppelt profitierten, weil sie nicht nur der Strafe für ihr Untertauchen entgingen, sondern auch mit einer inzwischen zur Formsache gewordenen Entnazifizierung rechnen durften". Dem Straffreiheitsgesetz folgten auf Druck der rechtsnationalen Klientel­ parteien FDP und DP- beide in Adenauers Koalitionskabinett vertreten 1950 mehrere lautstarke Bundestagsdebatten, in denen die .Liquidation" der Ent-

11 Vgl. dazu im Überblick zuletztH. G. Hockerts, Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945-2000, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 49 (2001), s. 167-214. 12 V gl. Bundesgesetzblatt 1949, S. 37 f.: Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 31. Dezember 1949. 13 Indizien sprechen immerhin dafür, daß Zehntausende von NS-Tätem profi­ tierten. Eine Wohltat dürfte die Amnestie nicht zuletzt für etliche Schergen aus der "Reichskristallnacht" gewesen sein, und da neben Delikten wie Freiheitsberaubung und Amtsvergehen auch minderschwere Fälle von Körperverletzung mit Todesfolge und von Totschlag einbezogen waren, ist nicht auszuschließen, daß sogar NS-Verbrecher davonkamen, an deren Händen Blut klebte. 14 Trotz der Mahnung des Bundesjustizministers, mit einer Fristverlängerung könne nicht gerechnet werden, machten bis zum Stichtag (31. März 1950) jedoch nur 241 "illegale" von der Möglichkeit Gebrauch, ihre Identität straflos zu offenbaren. Die ande­ ren fürchteten wohl weniger die dann noch anstehende Formsache der Entnazifizierung als eine Anklage wegen NS-Verbrechen. Wie viele Fälle es tatsächlich gab, von denen im Bundestag mit seltsamem Humor als von den "Braun-Schweigern" die Rede war, wußte damals und weiß bis heute niemand zu sagen, aber bei den Fachreferenten im Bundesjustizministerium kursierten Schätzungen von bis zu 80.000 illegalen. Weder vor noch nach Inkrafttreten des Gesetzes kam die "illegalen"-Amnestie in der Presse beson­ ders zur Sprache. Eine Ausnalune machte bezeichnenderweise die amerlkanische Neue Zeirung (9. Dezember 1949, S. 1: .,illegale' können legal werden"), die die geschätzte Zahl von 80.000 "IDegalen" nannte und feststellte, von der Amnestie sei ausgenommen, wer sich vor 1945 an Verbrechen beteiligt habe (tatsächlich waren nur diese Verbrechen selbst nicht amnestiert).

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nazifizierung gefordert wurde". Im Dezember 1950 schließlieb verabschiedete der Bundestag, wiederum praktisch einstimmig, entsprechende Ricbdinien, obwohl die Dinge ohnebin nur von den Länderparlamenten geregelt werden konnten und zum Teil auch schon geregelt waren16• Was in diesen Debatten seinen Ausdruck fand, war besagtes, in der Be­ völkerung seit Jahren herangereiftes Scblußstricb-Denken, das sich mit einer ersten Amnestie und dem Aus für die Enmazifizierung freilieb noch keines­ wegs zufrieden gab. Die Versorgung und Wiedereinstellung praktisch all jener 1945 - wie es beschönigend hieß - "verdrängten Beamten" und ehemaligen Berufssoldaten in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik, 1951 mit dem sogenannten "131er"-Gesetz auf den Weg gebracht, war ein weiteres wichtiges Element der Bewältigung der frühen NS-Bewältigung". Zunelunend in das Zentrum dieser Vergangenheitspolitik rückte jetzt aller­ dings der Kampf um die Begnadigung und Freilassung der von den Alllierten seit 1945 als Kriegs- und NS-Verbrecher verurteilten Deutschen. Was in diesem Kontext Anfang der füufziger Jahre an Verharmlosung, Leugnung und Irreführung aufgeboten wurde, um noch den ruchlosesten NS-Verbrecher zur Freiheit zu verhelfen, ist in der hier notwendigen Kürze kaum deutlieb zu machen. Selbst Einsatzgruppenführer, die Tausende von Menschen auf dem Gewissen hatten, kamen damals aufgrund massiven politischen und gesellschaftlichen Drucks frei. Besonders bestürzend ist, daß es zunächst vor allem die Kireben waren, die sieb in dieser Sache exponierten -und zwar nicht etwa aus christlieb motivierter Gegnerschaft gegen die von den Alllierten anfangs durchaus häufig verhängte und auch ausgeführte Todesstrafe, sondern aus kaum verhülltem nationalen Ressentiment gegenüber einer angeblichen .Siegerjustiz". Dieses Ressentiment verband sieb mit einer ebenso aggtessiven wie durchsich­ tigen Instrurnentalisierung des sogenannten Kollektivscbuldvorwurfs. Man mag vielleicht noch darüber streiten, inwiefern die alliierte Rhetorik bei Kriegsende in dieser Weise verstanden werden konnte - zu denken wäre hier vor allem an die edukatotiscbe Kaufrontalion vieler Deutscher mit den Leiebenbergen in den 15 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, 23. Februar, 14. bzw. 15. Dezember 1950, S. 1329-1355, 4054 f., bzw. 4065-4072.

16 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, Nr. 1658,24. November 1950.

17 Einzelheiten bei N. Frei, Vergangenbeitspolitik, S. 69-100; insgesamt zum . 131er"­ Gesetz U. Weng.rt, Beamtenturn zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in derGriindungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948-1953, Düsseldorf 1988; stärker zu dessen vergangenheitspolitischen Aspekten C. Garner, Der öffentliche Dienst in den 50er Jahren. Politische Weichenstellungen und ihre sozialgeschichtlichen Folgen, in: A. SchildtI A. Sywottek (Hrsg.), Modemisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 759-790.

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befreiten Konzentrationslagern. In der Praxis der dann folgenden politischen Säuberung aber war es gerade nicht um kollektive, sondern um individuelle Schuld gegangen; die Entnazifizierung, also das bürokratische Verfahren der mas­ senhaften Prüfung von Einzelfällen, war dafür im Grunde der beste Beweis. Wenn von deutscher Seite gleichwohl in geradezu agitatorischer Weise an der Behauptung eines Kollektivschuldvorworts festgehalten wurde, so diente dies der Legitimation der Vergangenheitspolitik weit über den Kreis derer hinaus, die konkret von ihr profitierten. Die Präsenz der Kollektivschuldthese im deutschen Nachkriegsbewußtsein war Ausdruck der fortbestehenden volksgemeinschaft­ liehen Solidarisierungsbedürfnisse". Thre ritualhafte Zurückweisung war, weit über die fünfziger Jahre hinaus, Geschäftsgrundlage jeglichen vergangenheits­ bezogenen Redens und Handeins der politischen Klasse der Bundesrepublik manche üben sich bis heute darin. Ähnlich der Kollektivschuldthese, erwiesen sich die unablässig ventilierten juristischen und völkerrechtlichen Einwände gegen die alliierten Urteile aus der zweiten Hälfte der vierziger Jahre bei genauerer Betrachtung praktisch ausnahmslos als konstruiert. Ihrer Wrrkung auf die deutsche Öffentlichkeit tat das freilich keinen Abbruch; und in dem Maße, in dem die Westmächte schließlich nachgaben, deutete man dies als Eingeständnis von Fehlern und Ungerechtigkeiten. Damit bekräftigte die Freilassung verurteilter Kriegsverbrecher Mirte der fünfzigerJahre die bei den Deutschen ohnehin bestehende Neigung, den fun. damentalen Unrechtscharakter des NS-Regimes und seines Eroberungskrieges aus dem kollektiven Bewußtsein auszublenden. Geradezu fatale Konsequenzen zeitigte diese Neigung in der Justiz, zumal dort bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war: Unter dem Eindruck der Gnadenwelle und nachdem der Bundestag im Sommer 1954 -wiederum fast einstimmig- ein zweites Straffreiheitsgesetz verabschiedet harte19, sank die Bereitschaft, in NS-Strafsachen überhaupt noch zu ernrittein und sie zu almden, nahezu auf Null20• 18 V gl. N. Frei, Von deutscher Erfindungskraft oder: Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit,in: RechtshistorischesJournal,16 (1997),S. 621-634. 1' Siehe Bundesgesetzblatt I 1954,S. 203-209: Gesetz über den Erlaß von Strafen und Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren vom 17.Juli 1954. 20

Die Zahl der Verurteilten

war-

nach einen Höchststand von 1819 Personen

im Jahre 1948- seit 1949/50 in großen Spriingen kontinuierlich gesunken, harte aber im Jahr vor Inkrafttreten des zweiten Amnestiegesetzes,1953, immerhin noch bei 123

Personen gelegen; vgl. A. Riicker/, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945-1978. Eine Dokumentation,Heldeiberg I Karlsruhe 1979,S. 125,bzw. ders., NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenbeitsbewältigung, 2. Auf!., Heldeiberg 1984,S. 329.

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Dies ist denn auch der Punkt, an dem die negativen Folgen der Verdrängung am deutlichsten zu greifen sind: denn dieser faktische Stillstand bei der Ahndung von NS-Verbrechen bedeutete nicht nur eine aktive Begünstigung der Täter, sondern auch die Perpetuierung eines moralischen Zerrüttungszustands durch bewußten Verzicht auf das Bemühen um die Herstellung von Gerechtigkeit. Nun mag man argumentieren, wie schon damals argumentiert worden ist: daß nämlich dieser Verzicht auf weitere Strafverfolgung zur Befriedung der

Gesellschaft und damit zur politischen Stabilisierung beigetragen habe. Dem wäre freilich entgegenzuhalten, daß Mitte der fünfzigerJahre nichts dafür sprach, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik noch als sonderlich prekär zu betrachten. Die übergroße Mehrheit der .Ehemaligen" war vielmehr liingst im Begriff, sich in dem neuen System pragmatisch einzurich­ ten und im aufblühenden Wirtschaftswunder ihre Chancen zu nutzen. Wenn also schon nicht der strafrechtliche Ahndungsstillstand die politische Integration eines vergleichsweise kleinen Rests von Ehemaligen befördert hat, dann vielleicht die immerhin schon Anfang der fünfziger Jahre betriebene Wiedereinstellung des Heers der "131er" die Stabilisierung der Demokratie? Auch dies läßt sich leicht behaupten, aber schwer beweisen. Mindestens ebenso gut kann man die gegenteilige These vertteten: daß diese Beamten sich zu Un­ recht in ihrer tradierten, für die Demokratie erwiesenermaßen problematischen Amtsauffassung bestätigt fiiblten - und daß durch den .Rückstrom" (Eugen Kogon21) Hunderttausender, die allesamt nicht nur als formal, sondern zumindest zum Teil auch als ideologisch helastet gelten mußten, dem Aufhau einer demo­ kratischen Staatsverwaltung eine schwere Hypothek aufgebürdet wurde. Eine nicht weniger negative Bilanz der Vergangertheitspolitik läßt sich hin­ sichtlich der Gnadenwelle ziehen, von der die verurteilten Kriegsverbrecher profitierten: Die damit verbundene Delegitimierung der im Rahmen der alliierten Prozesse durchaus klar zutage geförderten Verstrickung des Militärs in die Verbrechen des Regimes beförderte die Konstruktion der gegen diese Erkenntnis angelegten Legende von der .sauber" gebliebenen Wehrmacht in den fünfziger Jahren, deren Nachwirkungen, wie die Kontroverse um die Hamburger Ausstellung"Vetnichtungsktieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" gezeigt hat", bis in die Gegenwart reichen. 21

E.

Kogon, Beinahe mit dem Rücken zur Wand, in: Frankfurter Hefte, 9 (1954),

s. 641-645.

22 V gl. dazu die beiden Ausstellungskataloge Vemichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Harnburg 19% und Verbrechen der Wehnnacht. Dimensioneo des Vernichtungskrieges 1941-1944, Harnburg 2002; aus der Fülle der kontroverseo Begleitliteratur zur ersten Ausstellung H. Donat IA. Strohmeyer (Hrsg.), Befreiung von der Wehrmacht? Dokwnentation der Auseinanderset>ung über die Ausstellung Vernichtungskrieg-Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" in Bremen 1996/'T/, Bremen 19'T/; Kultu"e/erat der Landeshauptstadt München (Hrsg.), Bilanz einer Aus•

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ßl. "Vergangenheitsbewiiltigung" Wo aber liegt- angesichts solcher nicht unerheblicher partieller Kontinui­ täten- der Bruch mit der Vergangenheitspolitik der fünfziger Jahre? Wann und mit welchen Gründen läßt sich von einer sich daran anschließenden dritten Phase sprechen, wann setzte ein, was als die Phase der Vergangenheitsbewältigung" zu bezeichnen wäre? •

Um hier Klarheit zu gewinnen, empfiehlt es sich, die Dinge aus einer etwas längeren Perspektive und mit ein wenig Sinn für Dialektik zu betrachten: Dann nämlich kann man argumentieren, daß es nicht zuletzt jene ausgreifende Vergangenheitspolitik der beiden ersten Banner Legislaturperioden gewesen ist, deren politisch-moralisch vielfach skandalöse Ergebnisse seit etwa Ende der fünfziger Jahre in wachsendem Maße Gegenkräfte mobilisierten. Das Wort von der "unbewältigten Vergangenheit", das damals aufkam, brachte diese Empfindungen auf den Begriff, und von hier aus erklärt sich vieles von dem, was seit Anfang der sechziger Jahre als politischer Generationenkouflikt gteifbar wurde und schließlich in .Achtundsechzig" münden sollte. Die Phase der Vergangenheitsbewältigung", die etwa zwei Jahrzehnte andauerte, bezog ihre Impulse aus einer schier endlosen Reibe von Skandalen um personelle und institutionelle Kontinuitäten, die hier nicht im einzelnen aus­ zuführen sind, zumal deren seriöse historische Erforschung eben erst beginnt". Immerhin läßt sich sagen, daß diese Bewegung, die aus vergleichsweise zaghaf­ ten Ansätzen entstand - man denke etwa an die Proteste von Studenten und Professoren gegen die Ernennung eines rechtsradikalen Göttinger Verlegers zum niedersächsischen Kultusminister schon 1955 -,durch eine zunelunende moralische Aufladung gekennzeichnet war. Und hinreichend deutlich ist eben­ falls, daß entscheidende Anstöße zu einem kritischeren Umgang mit der NS­ Vergangenheit in der Bundesrepublik ausgerechnet aus der DDR kamen: Ein Regime, das sich selbst auf den längst schon hohl gewordenen Antifaschismus zurückgezogen hatte, entdeckte im Vorwurf der .unbewältigten Vergangenheit" ein vorzügliches Instrument zur politisch-moralischen Diskreditierung der Bonner Demokratie. •

Mit Kampagnen beispielsweise gegen Hans Globke, den Staatssekretär im Kanzleramt und vormaligen Kommentator der Nürnberger .Rassegesetze", gegen stellung Dokumentation der Kontroverse um die Ausstellung "Vernichtungskrieg" Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 in München, Galerie im Rathaus, 25. Februar bis 6. April 1997, München 1998. 23 Vgl. P.-C. Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905-1998). Ein Lehrstück deut­ scher Geschichte, Frankfurt a.M. 2000; N. Frei (Hrsg.), Karrieren im Zwielicht. Hiders Eliten nach 1945, 2. Auf!., Frankfurt a.M. 2002; B. Weisbrod (Hrsg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002.

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den nationalsozialistischen "Ostexperten" und dann zum Vertriebenenminister berufenen T heodor Oberländer oder ganz pauschal gegen .Hiders Blutrichter in Adenauers Diensten" ließ sich Wirkung erziden - bei der westdeutschen Jugend ebenso wie im westlichen Ausland. Instigiert durch die Enthüllung immer neuer biographischer Verstrickungen, zu deren aktenmäßiger Unterfütterung Ost-Berlin nach Kräften beitrug, wuchs der Kreis derjenigen, die sich mit der Forderung nach "Vergangenheitsbewältigung" identifizierten. Intellektuelle wie Theodor Adomo und Kar! Jaspers, aber auch und nicht zuletzt die junge Disziplin der Zeitgeschichte und eine Reihe liberaler Publizisten mühten sich nun immer stärker darum, in den Medien wie in den Schillen die Aufklärung über die .jüngste Vergangenheit" voranzutreiben. Hinzu kam ein an den skandalösen Unterlassungen der fünfziger Jahre geschärfter Blick auf die Täter: Der Frankfurter Auschwitz-Prozeß, den der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit einer kleinen Gruppe engagierter Kollegen 1963 auf den Weg brachte, markierte die wohl entscheidende gesell­ schaftliche Wende: Von nun an existierte ein zwar noch minoritäres, aber höchst aktives Netzwerk von Politikern undJ uristen, Künsdem und Intellektuellen, das sich den nach wie vor vemdunbaren Forderungen nach einem .Schlußstrich" wirkungsvoll entgegenstellte". Die quälenden, aber letztlich mit der Unverjährbarkeit von Mord entschie­ denen Verjährungsdebatten der sechziger und siebziger Jahre" waren für diesen gesamtgesellschaftlichen Klimawechsd ebenso ein Bdeg wie die kritischen Nachfragen der Kriegskinder an ihre Eltern. Daß deren Auskunftsverweigerung in den fünfziger Jahren, zusammen mit den überall anzutreffenden personellen Kontinuitäten, der .Achtundsechziger"-Revolte in der Bundesrepublik eine sehr spezifische Prägung gab, dürfte die inzwischen angdaufene einschlägige Forschung erweisen. Ais prekärster Befund dieser Phase der "Vergangenheitsbewältigung" zeichnet sich allerdings das Faktum ab, daß das Zentralverbrechen der NS­ Zeit, der Mord an den europäischen Juden, nur mit großer Verzögerung in den Fokus der gesellschaftlichen Wahrnehmung geriet. Ungeachtet des von der Zeitgeschichtsforschung und den Medien durchaus schon in den sechziger Jahren vermittdten faktischen Wtssens bedurfte es einer 1979 ausgestrahlten amerikanischen Femsehserie, um- wie das dazugehörige Taschenbuch" dann konstatierte- eine ganze .Nation betroffen" zu machen: über den Holocaust. 24 Vgl. C. Fröhlich IM. Kohlstruck (Hrsg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheits­ politik in kritischer Absicht, Münster 1999.

n Dazu M. von Miquel, Ahnden oder anmestieren? Westdeutsche Justiz und Ver­ gangenheitspolitik in den sechziger Jabren, Göttingen 2004. 26 P. Märthesheimer II. Frenzel (Hrsg.), Im Kreuzfeuer: Der Fernsehfihn .Holo­ caust". Eine Nation ist berroffen, Frankfurt a.M. 1979.

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IV. Vergangenheitsbewahrung Mit diesem neuen Begriff, der Anfang der achtziger Jahre rasch an die Stelle der Metapher .Auschwitz" trat, vollzog sich der Übergang in eine bald zunehmend deutlicher erkennbare vierte Phase der Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit, die man mit Aleida Assmann vielleicht die Phase der Vergangenheitsbewahrunlf nennen könnte. Sie ist nicht zuletzt dadurch cha­ rakterisiert, daß der Begriff der .unbewältigten Vergangenheit" - gerade als Folge der Enthüllungsdiskurse, deren stimulierende Kraft und katalytische Bedeutung für die gesellschaftspolitische Debatte seit den sechziger Jahren so bedeutsam gewesen war - nun doch auch seinerseits schal zu werden begann und daß der aus dieser Kritik abgeleitete politische Veränderungsanspruch im Zuge des normalen Generationenwechsels seit etwa Ende der siebziger Jahre an Brisanz und Überzeugungskraft verlor. Den symbolischen Auftakt dieser neuen Phase bildete die mehrtägige inter­ nationale Konferenz zum 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtüber­ nahme 1983 im Berliner Reichstag''. (Das war im übrigen jene Konferenz im Grenzbereich von Politik und Wissenschaft, auf der Hermann Lübbe seine ein­ gangs zitierte Beschweigeformel vorstellte.) Angestoßen durch diesen .runden" Erinnerungstag kam es zu einer deutlichen Intensivierung der einschlägigen wissenschafeliehen und publizistischen Produktion über das .Dritte Reich". War diese zunächst vielfach im Sinne einer Bilanzierung angelegt, änderte sich im Laufe der zwölfjährigen Abfolge von Gedenkanlässen auch der Zugriff auf die Themen. Dabei kristallisierte sich heraus, wie weit man von einer detailge­ nauen Erforschung der Verbrechen des NS-Regimes noch entfernt war- und daß es gerade diese verstörenden Verbrechen waren und sind, die das Interesse nachwachsender Generationen an der Epoche des Nationalsozialismus immer wieder neu begründen. Ablesbar war dies an der großen Aufmerksamkeit, die 1995 die Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des Kriegsendes gefunden haben, bald danach und mehr noch aber an Steven Spielbergs Schindler-Film" und Goldhagens Holocaust-Buch".

Zl

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V gl. A. Assmann IU. Frevert, Geschichtsvergessenheit.

Siehe M. Broszat u.a. (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernalnne im Reichstagsgebäude zu Berlin. Referate und Diskussionen. Ein Protokoll, Berlin 1983. 29 Vgl. M. Weiß, Sinn liche Erinnerung. Die Fi lme ,Holocaust' und ,Schindlers Liste' in der bundesdeutschen Vergegenwärtigung der NS-Vergangenheit, in: N. Frei I S. Steinbacher (Hrsg.), Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen 2001, S. 71-102. 30 Vgl. dazu]. Heil IR. Erb (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um DanielJ. Goldhagen, Frankfurt a.M. 1998.

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Das fortwährende Bedürfois gesellschaftlicher Vergewisserung über die Vergangenheit und die in innner kürzeren Abständen eintreffenden Wellen intensiver öffentlicher Diskussion lassen, wie leicht zu verstehen ist, auch die schmaler werdenden Generationen der Zeitgenossen des .Dritten Reiches" nicht unberührt. So erscheint im Nachhinein bereits der Historikerstreit der Jahre 1985/86 vor allem als eine von den Erfahrungsgenerationen der Flakhelfer und jungen Frontsoldaten geführte Auseinandersetzung über die Präsenz des Nationalsozialismus im Bewußtsein der Gegenwatt -und als der gescheiterte Versuch eines Teils dieser Generationen, diese Präsenz zurückzudrängen. Als ein neuerlicher Versuch, dem breiten gesellschaftlichen Interesse an der Vergangenheit Einhalt zu gebieten, erwies sich letztlich auch jenes Bekennmis zum "Wegsehen", das Mattin Walser 1998 in seiner Friedenspreisrede vor­ getragen hat - wiederum übrigens offensichtlich motiviert durch die eigene Generationenerfahrung. Eine analytisch distanzierte Beschreibung dieser bis in die Gegenwart reichenden vierten Phase fällt naturgemäß nicht leicht. Immerhin läßt sich sagen: vor dem Hintergrund des sich vollziehenden Abschieds von den Zeitge­ nossen der NS-Zeit gebt es inzwischen weniger um die praktische Bewälti­ gung benennbarer politischer Folgen der Vergangenheit- obwohl auch diese, wie zuletzt die Debatte um die Entschädigung der Zwangsarbeiter zeigte, noch keineswegs zu Ende ist; zunehmend in den Mittdpunkt gerät vidmebr die Frage, ,wdche' Erinnerung an diese Vergangenheit künftig bewahrt werden solP1• In diesem Kontext ist der Streit um die sogenannte Wehrmachtsausstellung ebenso zu sehen wie die über einJahrzdmt hinweg intensiv geführte Diskussion um das Berliner Holocaust-Mahnmal", das zweifellos auch nach seiner Fertigstellung ein Kristallisationspunkt vergangenheitsbezogener Reflexion bleiben wird - insbesondere auch der Reflexion über die Frage nach dem historischen .Ort" des Genozids an den europäischen Juden. Bot schon der Historikerstreit einen Vorschein dieser Debatte, so hat sie mit der imJanuar 2000 in Stockhohn erfolgten Proklamation des Holocaust zur warnenden Botschaft des 20. an das 21. Jahrhundert eine signifikante Akzentuierung erfahren. Die Unterzeichner der Deklaration des Stockhohn International Forum on the Holocaust haben sich zu neuen Anstrengungen für eine .Erziehung über den " Dazu im Ü berblick V. Knigge IN. Frei (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Aus­ einandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002. " Dazu jetzt ].-H. Kirsch, Nationaler Mythos oder historische Trauer? Der Streit .Holocaust-Malmmal" für die Berliner Republ ik, Köln u.a. 2003; vgl. auch S. Quack (Hrsg.), Auf dem Weg zur Realisieruog. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Ort der loformation. Architektur und historisches Konzept, Sruttgart IMünchen 2002. um ein zentrales

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Holocaust" verpflichtet''. Dies bedeutet, daß Kenntnisse darüber auch in Ländern vermittelt werden sollen, in denen kein wunittelbarer Zusammenbang mit der eigenen Geschichte besteht. Es geht also tatsächlich um eine Universalisierung der Holocaust-Erinnerung, um ihre Verankerung im globalen Gedächtnis. Aus politischer und edukatorischer Sicht mag man dies begrüßen, vielleicht auch im Rahmen einer emphatischen Zeitdiagnostik". Mindestens aus geschichtswis­ senschaftlicher Perspektive stellt sich jedoch die Frage, ob und wie es auf dem Weg in eine solche Globalisierung" gelingen kann, eine Entkontextualisierung des historischen Geschehens zu vermeiden. •

Die Risiken einer solchen Entkontextualisierung liegen nicht allein in der datnit fast zwangsläufig einhergehenden Verkürzung der Geschichte des .Dritten Reiches" just injenem Moment, da das Ende der Zeitgenossenschaft die Möglichkeit eröffnet- aber auch die Notwendigkeit begründet-, die histo­ rische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht mehr als Kritik an der Bundesrepublik, sondern sui generis zu betreiben". Hinzu kommt, daß eine ganz auf" Globalisierung" gerichtete Gedächtnispolitik zur Überforderung werden könnte: für die von Deutschland seit 1939 überfallenen Völker Europas36, mehr noch aber für alljene Individuen, die mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges mehr verbindet als ein auf die Zukunft gerichtetes moralisches Postulat - mithin für die letzten Überlebenden und die Nachkommen der Opfer", doch auch für die in der Erbfolge der T äter stehenden Deutschen. Zu Jahresanfang 2000, kurz vor seinem Tod, hat der Kölner Soziologe Alpbons Silbermann ein kleines Buch vorgelegt, das die Ergebnisse einer Befragung präsentiert, die erkunden sollte, was .Auschwitz" der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration in Deutschland bedeutet''. 72% der Befragten" Vgl. Stockhohn International Forum on the Holocaust. A Conference on Education, Remembrance, and Research. Proceedings, Stockholm 2000. "

Vgl. D. Levy IN. Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter.

"

Vgl. die pointierte Diagnose von M. ]eismann, AufWiedersehen Gestern.

36 Zu den sieb öffnenden kollektiven Gedächtnissen inWesteusopa vgl. H. Rousso,

The Haunting Past. History, Memory, andJustice in Contemporary France, Philadelphia PA 2002;]. Altwegg, Die langen Schatten von Vichy. Frankreich, Deutschland und die Rückkehr des Verdrängten, München 1998; P Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and NationalRecovery inWestern Europe 1945-1965, Cambridge u.a. 2000. In gesamteusopäischer Perspektive jetzt B. Spine/li, Der Gebrauch der Erinnerung. Europa und das Erbe des Totalitarismus, München 2002;F. van Vree, Auschwit2 and the Origins nf Contemporary Historical Culture. Memories ofWorldWar II in a Europeon Perspective, in: A. P6k I]. Rüsen I]. Scherer (Hrsg.), Europeon History. Challenge for a Common Futuse, Harnburg 2002, S. 202-220. " Anregend dazu].-M. Chaumont, Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, Lütteburg 2001. " Vgl. A. Silbermann IM. Stoffers, Auschwitz: Nie davon gebött?, Berlin 2000; vgl. dazu jetzt auch die Ergebnisse der Tradierungsforschungen von H. Weher IS.

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und zwar fast unterschiedslos durch alle Altersgruppen hindurch- antworten, sie hielten es .auch heute noch" für .sehr wichtig" oder für .wichtig", an die Menschenverfolgungen und Massentötungen im Dritten Reich" zu erinnern (weitere 18% hielten dies für weniger wichtig, 9% für völlig unwichtig)". Ist das eine gute Ausgangsposition für die Bewahrung der Erinnerung im 21. Jahrhundert oder eine schlechte? Sind drei Viertel, die sich weiterhin erinnern und erinnern lassen wollen, viel oder wenig? Es ist nicht zu sehen, wie dies mit den Mitteln des Historikers begründet zu entscheiden wäre. Die Geschichte ist offen, auch die des Umgangs mit der Geschichte des Nationalsozialismus. •

Mol/er IK. Tschuggna/1, .Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002. " A. Silbermann IM. Stolfers, Auschwitz, S. 230.

Die Ahndung von deutschen Kriegsverbrechen in Italien nach 1945* Von Lutz Klinkhammer

I. Kriegsverbrechen ohne Schuldige In den letzten Jahren sind eine Reihe von Detailstudien über Kriegsverbre­ chen in Italien publiziert worden, die von Einheiten der Waffen-SS und der Wehrmacht begangen worden sind'. Zu deutschen Kriegsverbrechen in Italien scheint es mitderweile sogar eine größere Dichte von Studien zu geben als für andere, von NS-Deutschland besetzte Gebiete'_ In diesen Arbeiten wird gezeigt, * Diese Studie entspringt einer Gemeinschaftsarbeit mit Filippo Focardi, dem besten Kenner der zu diesem Thema zugänglichen italienischen Archivalien. Zwn Forschungs­ staod sei hier verwiesen auf den grundlegenden Aufsatz von F. Focardi, La questione della purtizione dei ctiminali di guerra in Italia dopo Ia fine del secondo conflitto mondiale, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 80 (2000), S. 543-624, sowie auf F. Focardi IL. Klinkhammer, La questione dei "ctiminali di guerra" italiani e Wla Commissione di inchiesta dimenticata, in: Contemporanea, 4 (2001), S. 497-528. Jetzt auch F. Foccardi, Die strafrechtliche Verfolgung deutscher Kriegsver­ brecher in Italien, in N. Frei (Hrsg.), Transnationale Vergaogenbeit. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, im Druck. 1 V gl. G. Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 bis 1945. Verraten- verachtet- vergessen, München 1990; F. Andrae, Auch gegen

Frauen und Kinder. Der Krieg der deutschen Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung 1943-1945, München 1995; M. Geyer, "Es muß daher mit schnellen und drakonischen Maßnahmen durchgegriffen werden". Civitella in Val di Chiana arn 29. Juni 1944, in: H. Heer IK. Naumann (Hrsg.), Vemichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Harnburg 1995, S. 208-238; L. Paggi (Hrsg.), La mernoria del nazismo neli'Europa di oggi, Florenz 1997; G. Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. T äter, Opfer, Strafverfolgung, München 1996; L. Klinkhammer, Stragi naziste in Italia. La guerra contro i civili (1943-44), Rom 1997; M. Battini IP. Pezzino, Guerra ai civili. Occupazione tedesca e politica del massacro. Toscana 1944, Venedig 1997; P. Pezzino, Anatomia di un massacro. Controversia sopra una strage tedesca, Bologna 1997; S. Prauser, Mord in Rom? Der Anschlag in der Vta Rasella und die deutsche Vergelrung in den Posse Ardeatine im März 1944, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 50 (2002),

s. 269-301.

2 Italien ist mit einer ganzen Reihe von Beiträgen (C. Gentile, St. Prauser, G. Schreiber) unter einem makroskopischen Aspekt fast schon überproportional ver­ treten in dem Sammelband von G.R. Ueberscha"r (Hrsg.), Orte des Grauens. Ver-

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daß zahlreiche Aktionen der Partisanenbekämpfung, Razzien und Repressalien stattgefunden haben, die auch zum Tod Tausender wehrloser Zivilisten- unter ihnen sehr oft Kleinkinder und Säuglinge- geführt haben'. Noch 1944 wurde ntit der United Nations War Crimes Conunission (UNWCC) ein Apparat auf­ gebaut, der auch der Ahndung solcher Kriegsverbrechen dienen sollte. Wie ist es zu erklären, und das soll die Leitfrage dieses Beitrags sein, daß angesichts Tausender ermordeter italienischer Zivilisten, Kinder, Frauen und Greise, in Italien nur wenige deutsche Soldaten oder Waffen-SS-Männer für ihre Taten vor Gericht zur Rechenschaft gezogen worden sind? Noch erheb­ lich schlechter sieht es in der Bundesrepublik aus: hier ist es zwar zu über 60 Erntittlungsverfahren gekommen, doch wurden alle bis auf drei ohne Eröffnung einer Hauptverhandlung eingestellt'. Im Falle des Hauptverfahrens gegen Leutnant Wolfgang Lehnigk-Emden wegen Mordes an Zivilisten bei Caiazzo (1994) kam der Angeklagte aufgrund Verjährung frei. Friedrich Bosshammer wurde zwar erstinstanzlieh wegen seiner Beteiligung an der Deportation der italienischen Juden verurteilt, starb aber 1971 vor lokrafttreten des Urteils der Revisionsinstanz. 2002 schließlich wurde mit SS-Sturmbannführer Dr. Siegfried Engel erstmals ein Deutscher vor einem bundesrepublikanischen Gericht verurteilt, und zwar wegen der Erschießungen am Passo del Turchino; das Urteil wurde vom Bundesgerichtshof 2004 aufgehoben. Wenn man heute die bundesdeutschen Ermittlungsakten aus den sechziger Jahren liest, ist festzustellen, daß zahlreiche Staatsanwälte wenig dazu beigetragen haben, daß deutsche Mordtaten in Italien gesühnt und die Mörder bestraft wurden. Das gesellschaftliche Klima und der Zusammenhalt der ehemaligen Soldaten waren erhebliche Hemmnisse für eine entschiedenere Erntittlungsarbeit. Aus diesem juristischen Befund zu schließen, es habe keine deutschen Kriegsverbrechen in Italien gegeben, entspricht schon lange nicht mehr dem historischen Erkenntnisstand. Die Ergebnisse der Forschung zeigen viehnehr, daß die .Erkenntnisse" der älteren deutschen Rechtfertigungs- und Erinnebrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003. Dies spiegelt den ausgezeichneten Forschungsstand zu den deutschen Kriegsverbrechen in Italien wider. Für Frankreich ist dieses Forschungsthema erst weitaus später in den Blick gekommen. Siehe dazu jetzt A. Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widersraudsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000. 3 Die italienische Forschung zu einzelnen Massakern ist kaum noch zu überblik.­ ken. Umso nützlicher ist der Literaturbericht von K. Ku/eke, .Östliche" Massaker in Westeuropa?, in: WerkstattGeschichte, 9 (2000), 27, S. 83-88.

' Der bekannteste Fall dürfte das Ennittlungsverfabren gegen SS-Sturmbannfübrer Joachim Peiper wegen der Ennorduug von Zivilisten im piemontesischen Boves (1%8) gewesen sein. Dazu C.U. Schminck-Gustavus, Complici togati. L'inchiesta delle autoritß giudiziarie germaniche sulla strage di Boves, in: M. Calandri (Hrsg.), Boves. Srorie di guerre e di pace, Cuneo 2003, S. 45-%.

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nmgsliteratur, die von einer stets korrekten Kriegsführung deutscher Soldaten ausging und etwaige .Übergriffe" dem grausamen Kampf der Partisanen zuschrieb, in den meisten Fällen ins Reich der Legende verwiesen werden müssen. Emblematisch läßt sich das am Massaker der italienischen Zivilbevöl­ kerung im Raum Marzabotto nachweisen. Schriften, in denen der Massenmord geleugnet wurde', lassen sich inzwischen unschwer mit der vor wenigen Jabren publizierten vollständigen und mit den Geburts- und Sterbedaten der Opfer versehene Liste der Toten von Monte Sole entkräften'. Der Bericht, den die 16. Panzergrenadier-Division der Waffen-SS nach den Ereignissen für das überge­ ordnete Armeeoberkommando anfertigte, nennt 228 getötete .Bandenhelfer". Die Zahl dieser angeblichen Sympathisanten der Partisanen entspricht fast exakt der Zahl der bei Marzabotto getöteten Kinder unter 12Jabren! Größere Kampfhandlungen haben nicht stattgefunden. Etwa 20 Partisanen starben beim deutschen Überraschungsangriff, doch das Gros der Partisanenbrigade .Stella Rossa" konnte sich vor dem Angriff der Waffen-SS aus der kritischen Zone absetzen. Die Waffen-SS mordete kaltblütig, mit zeitlichem Abstand zu den eigentlichen Kämpfen, und wußte genau, wen sie tötete: die mit der Opferliste übereinstimmenden Angaben im Gefechtsbericht lassen darauf schließen, daß jeder einzelne Tote, die 228 Kinder und die 316 Frauen, von den Mördern gezählt worden ist'. Warum gerade diese Waffen-SS-Division ein solches Verhalten an den Tag legte, war bis vor kurzem unklar. Es wurde meist recht allgemein auf die ideologische Indoktrination bei der SS verwiesen, eine T hese, die soziologisch gesehen für die Waffen-SS der späten Kriegsjahre kaum greift. Carlo Gentile hat nun in einer prosopagraphischen Analyse des Offizierskaders der Division belegt, daß viele Offiziere und Unteroffiziere dieser Division Profis der Massenvernichtung waren, die entweder aus der SS-Division Totenkopf oder aus dem Personal von KZ-Wachmannschaften rekrutiert worden waren'. Durch die zahlreichen Studien ist der Öffentlichkeit bewußt geworden, daß eine Ahndung deutscher Kriegsverbrechen in Italien so gut wie ausgeblieben ist und daß die Mehrzahl der Massaker an italienischen Zivilisten, die während ' So z.B. bei L. Greil, Die Lüge von Marzabotto. Ein Dokwnentarbericht über den Fall Major Reder, München 1959. Juristischer Rankenschutz auch von W Kunz, Der Fall Marzabotto. Analyse eines Kriegsverbrecherprozesses, Würzburg 1%7. 6 Vgl. Marzabotto. Quanti, chi e dove. I caduti e le vittime delle stragi nazifasciste a Monzuno, Grizzana e Marzabotto e i Caduti per cause varie di guerra, Bologna 1994, 2. Aufl., 1995. 7 Eine detallliertere Rekonsttuktion des Massakers bei L. Klinkhammer, Stragi naziste in ltalia, S. 105-141, sowie bei C. Gentile, Marzabotto, in: G.R. Ueberschär (Hrsg.), Orte des Grauens, S. 136-146. 8 Vgl. C. Gentile, "Politische Soldaten". Die 16. SS-Panzer-Grenadier-Division .Reichsführer-SS" in Italien 1944, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 81 (2001), S. 529-561.

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der Besatzungsmonate verübt wurden, zugunsten der beiden Symbolorte9 Marzabotto und Fosse Ardeatine weitgebend verdrängt oder vergessen worden smd10• Siebt man einmal von den angloamerikanischen Kriegsgerichtsverfah. ren gegen einige der führenden deutschen Generäle wie Albert Kessdting, Eberhard von Mackensen, Kurt Mälzer, Anton Dosder, Peter Crasernann, Max Sirnon und Willy Tensfdd ab, fanden in Italien ausgesprochen wenige Kriegsverbrecherprozesse statt". Raimondo Ricci hat daher zu Recht von einer .sporadischen und verspätetenJustiz" gesprochen12• In der Öffentlichkeit sind überhaupt nur die beiden Verurteilungen, die die Massaker an den wichtigsten Erinnerungsorten betrafen, also das Urteil gegen SS-Obersturmbannführer Herbert Kappier für die Tötungen in den Fosse Ardeatine und dasjenige ge­ gen SS-Sturmbannführer Walter Reder für die Morde bei Marzabotto, haften geblieben. Erst 1996 kamen mit SS-Hauptsturmführer Erich Priebke und SS­ Sturmbannführer Kar! Hass neue Namen hinzu, die allerdings erneut an die Fosse Ardeatine gernahnten13• ' Siehe dazu die Beiträge von F. Focardi und L. Klinkhammer in: C. Cornelißen I L. Klinkhammer I W. Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt a.M. 2003.

10 V gl. P. Pez.zino, Sui mancati processi in Italia ai criminali di guerra tedeschi, in: Storia e Memoria, 10 (2001), S. 9-72; M. Franzinel/i, Le stragi nascoste. I:armadio della vergogna: impunita e rimozione dei crimini di gnerra nazifascisti 1943-2001, Mailand 2002, sowie M. Battini, Peccati di memoria. La mancata Norimberga italiana, Rom I Bati 2003.

11 In Italien gab es von 1946-1951 nur eine verschwindend geringe Zahl von Verfahren gegen deutsche Wehrmachts- oder SS-Angebörige wegen Kriegsverbrechen, nämlich 10 Prozesse. Es handelt sieb um die Verfahren gegen Rudolf Fenn und Theo Krake, den Prozeß wegen des Massakers in den Posse Ardeatine, das Verfahren gegen Josef Strauch, den Ptozeß wegen der Tötungshandlungen auf der Insel Rhodos, das Verfahren gegen Waldemar Krumhaar, den Prozeß gegen Alois Scbmidt, gegen Pranz Covi, gegen Alois Scbuler, gegen Wilhelm Schmalz und gegen Walter Reder. Nach 1951 kam nur noch eine Handvoll Verfahren hinzu, bis mit dem Priebke-Prozeß 19% eine neue Prozeßwelle angestoßen wurde, die zu einigen Kontumazialverfahren geführt hat. Dazu demnächst ausführlieb in einem, vun Norbert Frei herauszugebenden Sammelband: F Focardi, Die strafrechtliche Verfolgung deutscher Kriegsverbrechen in Italien. 12 V gl. R Ricci, Processo alle stragi naziste? ll caso ligure. I fascicoli occultati e le illegittime arcbiviazioni, in: Storia e Memoria, 7 (1998), S. 119-164, hier S. 135. Zum Thema der illegalen Einstellungen der von der italienischen Militärjustiz Ertnittlungs­ verfahren jetzt auch aus journalistischer Siebt: F Giustolisi, I:armadio della vergogna, Rom 2004. 13 Zum Ptozeß und zur juristischen Beurteilung der Tat detailliert W. Les:d, ll pto­ cesso Priebke e il nazismo. Anatomia di un processo, Rom 1997; für die Weiterführung der nicht enden wollenden öffentlichen Debatte uro die Vorgänge in Rom vgl. A. Lepre, Via Rasella. Leggenda e tealta della Resistenza a Roma, Rom I Bari 19%. Zur histori­ schen uod publizistischen Diskussion der Nachkriegszeit siebe]. Staron, Posse Ardeatine und Marzabotto. Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza. Geschichte und nationale Mythenbildung in Deutschland und Italien (1944-1999), Faderborn u.a. 2002.

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Italienische Faschisten, die mit der Besatzungsmacht kollaborierten, sind hingegen weit zahlreichet von italienischen Gerichten (ganz abgesehen von den wilden Säuberungen bei Kriegsende) belangt worden14• Allein in Ligurien fanden 832 Prozesse gegen 1.235 Angeklagte statt. 78 Todesurteile wurden verhängt, davon wurden 14 vollstreckt. Die Sondergerichte in Piemont urteilten in 2.379 Prozessen gegen 3.634 Angeklagte. Von 203 Todesurteilen wurden schließlich 18 vollstreckt15• Erst mit der politischen Amnestie, die Justizminister Togliatti am 22. Juni 1946 unterzeichnete, wurde auch juristisch ein gewisser Schlußstrich unter den Bürgerkrieg der Besatzungsjahre gezogen. Warum kam es angesichts dieser Säuberungsintensität in Italien nur zu einer verschwindend kleinen Zahl von Strafverfahren gegen Deutsche, denen man Kriegsverbrechen zur Last legte?

II. Die ErnrittJung deutseher Kriegsverbrecher Um einen Straffrieden von Seiten der Alllietten zu vermeiden, entfalteten das Königreich Italien seit dem Kriegsaustritt im September 1943 eine enorme Aktivität, um den militärisch·logistischen Beitrag Italiens im Rahmen der Kriegführung der Alllierten zu unterstreichen. Aus diesem Grund wurden bis Kriegsende auch eine Reihe von Bilanzen erstellt, aus denen der Blutzoll ersichtlich werden sollte, den Italien für die Loslösung aus dem Bündnis mit dem Dritten Reich bezahlt habe. Gleichzeitig wurden die Untaten, die Deutsche an Italienetn begangen hatten, aufgezeichnet. Nicht nur die Ermitdungsbebörden der Alllietten (wie die britische Special Investigation Branch), sondetn auch das königlich·italienische Kriegsministerium und das Außenministerium sowie die Carabinieri und die Polizei sammelten noch während der Besatzungs· zeit Informationen über deutsche Verbrechen an der italienischen Bevölke· rung. Bei Kriegsende gab es sogar eine zentrale Informationsstelle, die ltalian War Crimes Centtal Commission im Ministerium für die Besetzten Gebiete (nach dem Staatssekretär, der den Vorsitz führte, auch Commissione Medici Tomaquinci genannt)�'. Da dieses, von dem Kommunisten Mauro Scoccimarro geführte Ministerium jedoch im Juli 1945 aufgelöst wurde, ging die zentrale Stelle für die Anzeigen von Kriegsverbrechen an das Ministerpräsidentenamt (Presidenza del Consiglio dei Ministri) über. 14 Grundlegend zum Prozeß der politischen Säuberungen in Italien H. Waller, Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien. 1943 bis 1948, München 1996; Z.O. Algardi, Processi ai fascisti, Florenz 1973; R.P. Domenico, Processo ai fascisti, Mailand 1996; M. Dondi, La lunga liberazione. Giustizia e violenza nd dopoguerra italiano, Rom 1999. 15 Siehe L. Bernardi I G. Neppi Modona I S. Testori (Hrsg.), Giustizia penale e guerra di liberazione, Mailand 1984.

1' Vgl. P. Pezzino, Sui mancati processi in Italia ai criminali di guerra tedescbi, s. 12.

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In der Sitzung eines interministeriellen Ausschusses vom 20. August 1945 konnte der Kabinettschef des Ministerpräsidenten seinen Kollegen endlich die ersehnte Mitteilung machen, daß die italienische Regierung autorisiert worden sei, vor der UNWCC Anklage gegen ausländische Zivil- und Militärpersonen zu erheben, die folgender Delikte beschuldigt waren: "1. Greueltaten und Vergehen an Personen sowie Sachbeschädigung, 2. Unterdrückung und Verfolgung von Einzelnen und Gemeinschaften aus religiösen und rassistischen Griinden, 3. Invasionen und Unterdrückungskriege unter Mißachtung von Verträgen oder des internationalen Rechts"". Dantit war ein wichtiges Etappenziel auf dem Weg, Strafverfahren gegen Deutsche in Italien einleiten zu können, erreicht. In Verhandlungen mit den Alliierten kämpfte die italienische Regierung um das Recht, entsprechend der Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943 die Deutschen, die Kriegsverbrechen in Italien verübt hatten, der italienischen Justiz zuzuführen. Der entscheidende Durchbruch spiegelt sich in einem Brief des Unterstaatsselttetärs im Foreign Office, Alexander Cadogan, an den italienischen Botschafter in London, Nicolo Carandini, wider: der alliierte Vorbehalt für die Strafverfolgung deutscher Kriegsverbrecher wurde Ende 1945 eingeschränkt. Italien war es dantit defacto erlaubt, deutsche Kriegsverbrecher abzuurteilen, mit Ausnahme der Kommandierenden Offiziere (vom Dienstrang eines Divisionsgenerals aufwärts) und mit Ausnahme derjenigen, die von einem der alliierten Staaten bereits für einen Prozeß vorgesehen waren". Gleichzeitig hatte man darüber zu befinden, welche Behörde sich um die Anzeigen von Kriegsverbrechern bei der UNWCC in London kümmern sollte. Schließlich einigten sich die beteiligten Ressortvertreter darauf, daß dies Sache der Militärjustiz sein solle, der auch die Strafverfolgung, soweit sie in Italien ausgeführt werden konnten, obliegen sollte. Als zentrale Stelle wurde die Generalstaatsanwaltschaft beim Obersten Militärgerichtshof (Procura generale militare presso il Tribunale Supremo Militare) ausgewählt. Der Generalstaats­ anwalt war Umberto Borsari, ein Mann, der es während des faschistischen Regimes zum Richter am Kassationsgericht gebracht hatte. Borsaris Behörde 17 Archivio Centrale dello Stato, Presidenza del Consiglio dei Ministri, 1944-1947, fase. 15625, Besprechungsvermerk PCM-Gab. (o.Prot) über die Besprechung vom 20. Augnst 1945 im Viminale, auf Einladung der Presidenza del Consiglio. Teilneluner waren: Prof. Tomms.so Perassi und Dr. Antonio Cottafavi vom Außenministerium, Umberto Borsari von der Militärgeneralstaatsanwaltschaft, der Präsident eines Senats des Kassationsgerichtshofs Saverio Brigante; Oberstleutnant Vmcenzo Mazzotti für das Luftwaffenministerium, Major Attanasio für das Kriegsministerium, der Richter am Berufungsgericht Oscar Sera für das Justizministerium, Obersdeutnant Giuseppe Bernardi und Hauptmann Buzzini für das Marinerninlsterium. Den Vorsitz führte der Kabinenschef in der Presidenza del Consiglio, dott. Camillo Feraudo. 18 V gl. 1'Archivio storico-dilpomatico del Ministero degli Mfari Esteri, Rom (künftig ASMAE), Direzione generale affari politici (künftig DGAP), Germania 1952, busta 174, fase. 2, Brief von Cadogan an Carandini, 7. Dezember 1945.

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war zuständig dafür, die Anzeigen zu sammeln, Ennittlungsverfahren einzuleiten und Anträge auf Auslieferungsbegehren zu stellen, die über das italienische Außenministerium an die Alllierte Kontrollkommission weitergeleitet werden mußten, da vorerst nur die alliierten Besatzungsbehörden einen polizeilichen Zugriff auf die gesuchten Kriegsverbrecher hatten. Eine gewaltige Zahl von Anzeigen ging bei der Militärstaatsanwaltschaft ein: Bis zum Februar 1946 waren es 1.914, von denen die Mehrzahl noch geprüft werden mußte. 64 Ennittlungsverfahren waren bereits eingeleitet worden". Nach dem Generalregister der Procura Generale militare kam es schließlich zu 2.274 Ermittlungsverfahren"'. Darunter befanden sich aber nicht nur deutsche Tatverdächtige, sondern auch Hunderte von italienischen Faschisten, die als Kollaborateure der Deutschen vor italienische Sondergerichte gestellt werden sollten. Aus diesem Berg von Ermittlungsdossiers ergab sich jedoch nur eine verschwindend geringe Zahl von Strafverfahren gegen Deutsche. Dies hatte mehrere Gründe: Der erste bezieht sich auf die Prozedur der Auslieferungs­ begehren. Am 3. Juni 1946 stellte der Generalsekretär im Außenministerium Renato Prunas fest, daß beim Außenministerium bis dahin nur 3 reguläre Anzeigen gegen deutsche Kriegsverbrecher zur Weiterleitung an die UNWCC eingetroffen seien. Dies betraf das Massaker von Kephallonia, die Posse Ardea­ 2 tine und die Ereignisse auf der Insel Leros 1• Bis Ende 1946 scheint die Mili­ tärgeneralstaatsanwaltschaft 105 Auslieferungsbegehren an das italienische Außenministerium gerichtet zu haben, die diese an die UNWCC weiterleiten sollte. Nur 23 davon wurden von den Alllierten an die italienische Regierung überstellt. Oft fehlte es an der nötigen Präzision der Angaben zur Ennittlung der Täter: Namen waren falsch geschrieben, Angaben unvollständig. Der zweite Grund bestand darin, daß die britischen und amerikanischen Militär­ behörden im besetzten Deutschland im Oktober 1947 die Auslieferungen an Italien praktisch einstellten. Nach diesem Datum waren Auslieferungen nur noch "in besonders schweren Fällen" möglich, worunter für die Alliierten nicht einmal die schwersten deutschen Straftaten in Italien fielen. Vor Gericht gestellt werden konnten also nur diejenigen Deutschen, die von den Alllierten vor dem Stichtag ausgeliefert worden oder auf anderen Wegen in italienischen " V gl. ASMAE , DGAP, Gennania 1952, busta 174, fase. 2, Aufzeichnung über die Besprechung vom 16. Februar 1946 zwischen Obersdeutnant Sormanti, Major Paotano und eioem Verwslrungsbeamten der Militärstaatsanwaltschaft. Es gab 741 .schwere Fälle begangen durch Unbekaoot", 64 .zu lasten bekannter Personen", 393 zu lasten italienischer Faschisten, den zivilen Sonderschwurgerichten zu überstellen.

20 Das Generalregister ist inzwischen elektronisch publiziert unter: http://www. eccidi1943-44.toscaoa.it/elenco_criminali/elenco_criminali.htm. 21 Vgl. ASMAE, DGAP Gerrnaois 1952, busta 174, fase. 2, Telespresso n. 18431/c vom 3. Juni 1946, gez. Prunas.

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Gewahrsam gekommen waren. Doch noch nicht einmal diese kleine Zahl von Personen wurde schließlich vor Gericht gestellt". Dies hing nicht zuletzt mit dem dritten Grund zusammen, mit der MiJi. tärgeneralstaatsanwaltschaft sdbst. Denn von den 2.274 Dossiers, die man dort zusammengetragen hatte, wurden nur gut 20 an die für die Führung der Prozesse zuständigen, regionalen Militärgerichte weitergdeitet. Erst in den sechziger Jahren wurden, nach über 15 Jahren Ennittlungsarbeit, gut 1.300 dieser Ermitdungsverfahren an die Militärgerichte überstellt: es handdte sich fast ausschließlich um Verfahren gegen unbekannte Täter. Den Staatsanwalt· schaften der regionalen Militärgerichte blieb so gar nichts anderes übrig, als diese Verfahren einzustellen. Diejenigen Ennittlungsverfahren jedoch, die die Namen der deutschen Beschuldigten enthidten, insgesamt 695, wurden von der Militärgeneralstaatsanwaltschaft sdbst eingestellt und zwar fast alle im Jahr 1960. Eine solche .provisorische Archivierung" war eindeutig illegal. Diese Dossiers sind erst seit 1994 wiederentdeekt worden" und haben eine interne Untersuchung hervorgerufen24•

m. Politische Befürchtungen wegen italienischer Kriegsverbrechen Warum gab es schließlich nur ein Dutzend Verfahren? Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Kampf der italienischen Regierung gegen einen Paragraphen des Friedensvertrags von 1947. Bis 1947 hatte die War Crimes Commission der Vereinten Nationen Listen mit 19.000 mutmaßlichen Kriegsverbrechern zusammengestellt, auf denen neben Deutschen, Japanern, Albanern, Ungarn, Bulgaren und Rumänen aber auch die Namen von 1.697 Italienern auftauchten; 729 wurden von Jugoslawien gesucht, 111 von der griechischen Regierung, 12 von der Sowjetunion, 9 von Frankreich und 3 von Albanien sowie 833 Italiener, für die sich (entweder als Angeklagte oder als Zeugen) die angloamerikanischen Behörden wegen Kriegsverbrechen an alliierten Soldaten in Italien interessierten: vor allem wegen Mißhandlung von Kriegsgefangenen". 22 Bis zur deutschen Verjährungsdebatte des Jahres 1965 gab es in Italien gerade einmal 13 Urteile gegen 25 Beklagte. " Diese illegalen Niederschlagungen von Emrittlungsverfabren sind letztlich durch den Fall Priebke aufgedeckt worden, als einer der zuständigen Militärstaatsanwälte (Antonio Intelisano) die Altalrten des Kappierprozesses sehen wollte. 24 Eine detaillierte Analyse dieser Vorgänge in: Relazione approvata da! Consiglio della Magistraturs Militare (CMM) in data 23 marzo 1999, in: Storia e Memoria, 7 (1998), S. 165· 178. 25 Siebe F. FocardiI L. Klinkhammer, La questione dei .criminali di guerra" italiani e una Commissione di inchiesta dimenticata, in: Contemporanea, 4 (2001), S. 497-528, hier S. 526.

Die Ahndung von deutschen Kriegsverbrechen in Italien nach 1945

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In den Waffenstillstandsvereinbarungen hatte das monarchische, im Frie­ densvettrag von 1947 dann auch das neue republikanische Italien zustimmen müssen, italienische Hauptkriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Allerdings war dort nicht präzisiert worden, vor welches Gericht''. Politisches Ziel der Regierung, auch der kommunistischen Minister, war es, diese Bestimmung zu unterlaufen, d.h. sie mit dem Tod Mussolinis und der Durchführung einer italienischen Säuberungspolitik als erledigt zu interprerieren. Zudem bemühte man sich, eine etwaige Bestrafung von Italienern im Ausland, vor allem in Jugoslawien, zu verhindern. Ausländische Auslieferungsbegehren wurden mit dem Hinweis abgelehnt, daß man in Italien gegen die Betreffenden vorgehen wolle. Die Ahndung von Kriegsverbrechen hatte daher rasch einen doppelten Aspekt: die Deutschen sollten vor italienischen Gerichten ihrer gerechten Strafe zugefUhrt werden, ohne jedoch die italienischen Beschuldigten der Gefahr eines Verfahrens vor ausländischen Gerichten auszusetzen27• Diese Gefahr war durchaus real. Jugoslawien, Griechenland, Frankreich, die Sowjenmion, Ätbiopien und Albanien verlangten die Bestrafung italienischer Kriegsverbrecher. Pietro Quaroni, italienischer Botschafter in Moskau, hielt es deshalb 1946 sogar für notwendig, die internationale Öffentlichkeit mit einigen harten Prozessen in Italien zuftiedenzustellen, um dann, wenn Gras über die Sache gewachsen sei, die Verurteilten zu amnestieren oder freizulassen. Doch mit diesem Plan stand er in italienischen Führungskreisen weitgehend allein. Ministerpräsident Alcide De Gasperl lehnte den Vorschlag ab, da der italieni­ sche Staat nur .ehrenwerte Methoden" anwenden wolle28• Doch die Realität sah in der Folgezeit anders aus: Viele Repräsentanten des Staates versuchten, die Verurteilung von Italienern, die als Kriegsverbrecher beschuldigt waren, zu vermeiden. Die meisten mißtrauten den Anschuldigungen in den Auslieferungsbegehren und hielten die italienischen Beschuldigten für unschuldig. Symptomatisch ist " Zwn Waffenstillstandsvertrag grundlegend E. Aga Rossi, I:inganno reciproco. I:armistizio tra l'Italia e gli angloamericani del settembre 1943, Rom 1993. Z7 Zwn Beleg für diese T hese siehe die Dokwnente bei: F. Focardi IL. Klinkhammer, La questione dei "criminali di guerra" italiani e una Commissione di .inchiesta dimenti­ cata. 28 Vgl. Quaroni an die Famesina 15. Juli 1946: "Was die italienischen Kriegsver­ brecher betrifft ... hätten wir für deren Bestrafung sorgen sollen ... Das wäre für uns und für unser Ansehen besser gewesen, denn es wäre auf jeden Fall besser gewesen, wir würden sie bestrafen, als sie anderen Staaten ausliefern zu müssen: es wäre für sie besser gewesen, denn ein italienisches Gericht wäre immer ein wenig verständiger g ewesen und hätte sie zu Haftstrafen verurteilt, die vielleicht nach ein paar Jahren kurzerhand mit einer Begnadigung beender hätten werden können, ohne großes Aufheben, während jugoslawische, albanische oder russische Gerichte sie ohne viel Federlesen zu Tode ver­ urteilen werden"; zitiert nach F. Focardi I L. Klinkhammer, La questione dei "criminali di guerra" italiani, S. 513. Die Aotwort De Gasperis vom 20. Juli 1946, ebd., S. 514.

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der Fall einer Gruppe von faschistischen Schwarzhemden, die als Bestandteil des Heeres im beseuten Jugoslawien mit ziemlicher Sicherheit Massaker an der Zivilbevölkerung verübt hatte. Das von intensivem Säuberungswill en beseelte .Alto Commissariato per le sanzioni contro il fascismo"ließ im Mai 1945 diese Gruppe verhaften, um sie vor die .Alta Corte di Giustizia" zu stellen". Doch der stellvertretende Chef des Generalstabs machte sofort den Kriegsminister, Senator Alessandro Casati, auf das Problem aufmerksam und warnte davor, italienische Militärangehörige wegen Kriegsverbrechen zu verfolgen, ohne daß sich auf der internationalen Ebene die Notwendigkeit herausgestellt habe, Repressalien im Zuge des Partisanenkriegs juristisch zu ahnden. Kurz: solange nicht geklärt sei, ob der von italienischer Seite geführte Partisanenkrieg recht­ oder unrechtmäßig gewesen sei, solle man innenpolitisch nichts präjudizieren". Kriegsminister Casati griff dieses Monitum auf. Sein Nachfolger Manlio Brosio brachte in der Folgezeit die Idee einer italienischen Untersuchungskomntis­ sion auf, die aus hochkarätigen Generälen und ehemaligen Kriegsministern bestehen und die Vorwürfe gegen italienische Soldaten prüfen sollte, um der Militärjustiz dann eine Empfehlung für die Strafverfolgung geben zu können. An sich hätte die Militärjustiz schon längst- und zwar unabhängig von solchen Vorschlägen -in all den Fällen nach dem italienischen Militärstrafgeset2buch vorgehen und dort ermitteln müssen, wo ein konkreter Tatverdacht vorlag. Der Vorschlag zur Einrichtung einer Untersuchungskommission diente daher nur der Ablenkung und Verzögerung. De Gasperi erkliirte sich mit dem Vorschlag Brosios einverstanden. Im Mai 1946 wurde die interne Prüfungskommission eingesetzt, die dann nicht umhin konnte, eine kleine Liste von Kriegsver­ brechern aufzustellen. Ende 1947 waren 26 Prüfverfahren so weit gediehen, daß man die Prozesse hätte eröffnen müssen. Ein Hindernis bestand jedoch darin, daß auch hochrangige Politiker, wie der Generalsekretär im Verteidi­ gungsministerium, General Taddeo Orlando, und der Christdemokrat Achille Marazza auf der jugoslawischen Kriegsverbrecherliste standen. Eine Prozeß­ eröffnung hätte erhebliche Rückwirkungen auf die italienische Innenpolitik gehabt. Am Schluß ging die Rechnung auf, die Verfahren aufzuschieben: Italien konnte nach 1949 in bilateralen Verhandlungen mit Großbritannien und Griechenland erreichen, daß Auslieferungsbegehren zurückgezogen und verurteilte Italiener freigelassen wurden. Auf die jugoslawischen Forderungen wurde nicht mehr eingegangen. Statt ihrem inhaltlichen Auftrag getecht zu " So die römischeo Zeitungeo Mitte Mai 1945 (I:Unita vom 15. Mai 1945, I:Indipendente vom 14. Mai 1945). " Vgl. Archivio Centtale dello Stato, PCM 1944-1947, fase. 15625, Ministero di Guerra, gez. Casati, n. 211550/II- 235.5.1 vom 24. Mai 1945 an den Presidente del Consiglio dei Ministri. Alessaodro Casati übermittdt darin die Kopie des Sdueiben vom 19. Mai 1945 des Sottocapa di Stato Maggiare dell'Esercito, Ercole Ronco, an Kriegsminister Casati, der eine detaillierte Schilderung des Sachverhalts und der Argu­ mentationsstrategie des Ufficio Informazioni des Heeresgeneralstabs enthält.

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werden, spielten sich die 1946 eingerichtete Untersuchungskonunission und die Militärgeneralstaatsanwaltschaft den Ball immer wieder zu, ohne daß in der Sache etwas geschah - nicht eirunal gegen die 26 Personen, die seihst die Untersuchungskonunission als der Strafverfolgung würdig bezeichnet hatte, wurde etwas unternommen. Als Verteidigungsminister Rodolfo Pacciardi 1951 den Abschlußbericht der Untersuchungskommission erhielt, dankte er den Mitgliedern der Konunission dennoch für ihren .hohen Sinn an detaillierter und gewissenhafter Objektivität"". Von dieser Haltung der italienischen Regierung profitierten auch Hunderte von Deutschen, deren Namen wegen Kriegsverbrechen in Ennittlungsverfah­ ren der italienischen Polizei und der Carabinieri gelandet waren. Denn um eine öffentliche Debatte über Kriegsverbrechen zu vermeiden, wurde auch der ehemalige Achsenpartner verschont. 15 Jahre lang w urden Hunderte von Ermitdungsverfahren verschleppt, um schließlich rechtswidrig eingestellt zu werden". Die Archivierung der Ennittlungsverfahren gegen Deutsche wie gegen beschuldigte Italiener zeigt, daß die italienische Militärjustiz nicht unabhängig war, sondern den politischen Vorgaben der Spitze gefolgt ist. Das gilt auch für die Verfahrenseinstellungen der frühen sechziger Jahre, die durchaus politisch gewollt waren. Damit kam eine Justizpolitik zum Abschluß, die 1947/1948 initüert worden war und über das Instrument der Militärju­ stiz realisiert wurde. Diese Politik wurde geheimgehalten, doch findet sich gelegentlich der ein oder andere dokumentarische Beleg, der einen bezeich­ nenden Einblick in die verfolgte Politik erlaubt. In der jüngeren Forschung wird inzwischen fast reflexartig auf den Brief von Außenminister Gaetano Martino an Verteidigungsminister Emilio Paolo Taviani vom 10. Oktober 1956 verwiesen''. Darin erklärte es Martino angesichts der Tatsache, daß auch die Deutschen in der NATO seien, für nicht opportun, ein Gesuch um Aus­ lieferung der deutschen Verantwortlichen für das Massaker an den Soldaten der italienischen Acqui-Division auf der griechischen Insel Kephallonia im September 1943 an die Bundesrepublik zu richten. Taviani schloß sich dem Gedankengang Martinos an". Ungeachtet der Tatsache, daß einem solchen

Vgl. ASMAE, DGAP Germania 1952, busta 174, Pacciardi, 20. Oktober 1951. " Nur die Verfahren, die gegen unbekannt eingeleitet wordeo waren, karneo bei den zuständigen Militärstaatsanwaltschaften an - wobei diesen kawn etwas anderes übrig blieb, als ihrerseits den Fall einzustellen. " So M. Battini, Peccati di memoria, S. 14; kritischer hingegen P Pewno, Sui mancati processi in Italia ai criminali di guerra tedeschi, S. 21. 34 Dieses Dokwnent wurde von der internen Untersuchungskommission der Militärjustiz, die von deren Selbstkontrollorgan Consiglio della Magistratura Militare eingerichtet worden war, aus deo Akteo des Verteidigungsministeriums hervorgeholt. Die Untersuchungskommission war auf die Zuarbeit des Verteidigungsministeriums 31

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Auslieferungsbegehren ohnehin nicht hätte stattgegeben werden können (das Grundgesetz enthält ein entsprechendes Verbot), wird in der Öffentlichkeit wie in der Forschung aus Mattinos Brief von 1956 der Grund für die gesamte italienische Polirik der Verfahrenseinstellungen herausgelesen: Italien habe aus außen- und verteidigungspolirischen Griinden auf den deutschen Verbünderen Rücksicht genommen. Dabei belegt dieser Brief nur, daß es auch 1956 für die italienische Führung gute Griinde gab, ihre Polirik der Verfahrenseinstellungen beizubehalten. Die grundlegenden Entscheidungen waren aber schon 1948 getroffen worden, als weder eine Rücksichtnahme auf die Bundesrepublik, noch auf einen west­ deutschen Verteidigungsbeitrag als Griinde in Frage kommen konnten. Das entscheidende Motiv ergab sich aus dem Wunsch, die Bestrafung italienischer Kriegsverbrecher unter Kontrolle zu behalten, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll.

IY. Die Vermeidung der Bestrafung italienischer Beschuldigter Ende 1947 war die Arbeit der Untersuchungskommission, die die Vor­ würfe gegenüber Italienern analysieren sollte, so weit gediehen, daß man an eine Eröffnung von Prozessen denken konnte. Am 3. Januar 1948 fand die grundlegende interministerielle Besprechung statt, auf der sich die beteiligten Ressottvertreter, unter denen Conte Vittorio Zoppi vom Außenministerium und Procuratore Umberto Borsari das größte politische Gewicht hatten, für ein .atteggiamento temporeggiante", d.h. für ein Hinauszögern der Prozesse aussprachen. Der Grund für diese Haltung ist in einer Äußerung zu suchen, die von dem für die gesamten Verfahren zustiindigen militärischen General­ staatsanwalt Borsari stammte:

.Die Prozesse gegen die angeblichen italienischen Kriegsverbrecher würden dann gleichzeitig mit denen stattfinden, die vor italienischen Gerichten gegen die mut­ maßlichen deutschen Kriegsverbrecher durchgeführt würden. Und da die Anklagen, die wir gegen die Deutschen erheben, die gleichen sind, die die Jugoslawen gegen uns Italiener erheben, folgt daraus, daß wir, wenn wir die Prozesse gegen die Deut­ sehen und insbesondere den gegen Kappier führen würden, den Jugoslawen eine gefährliche Waffe in die Hand geben würden"".

angewiesen, die die rdevanten Akten zu sichten und ggf. zu entsperren hatte. Von einer umfangreichen unabhängigen Untersuchung der Aktenbestände des Verteidigungsmi· nisteriums wird man wohl kaum ausgehen können. Eine Überprüfbarkeit ist nur für die Dnkumente gegeben, die beim Consiglio della Magistratura militare augekommen sind. " Promemoria 3.Januar 1948, in: ASMAE,DGAP 1950-1957, busta 172,Ministero degli Affari Esteri, Verbale, o.U., 5. Januar 1948, Bett.: Criminali di guerra italiani.

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Diese Gefahr hatte der italienische Botschafter in Moskau, Pietro Quaroni schon zwei Jahre zuvor angesprochen und davor gewarnt, daß ein italienischer Anspruch auf Bestrafung deutscher Kriegsverbrecher die Frage der "wirklichen oder vermeintlichen italienischen Gräueltaten" aufwerfen und damit einen gefährlichen Boometang-Effekt haben würde''. Sechs Monate zuvor hatte Borsari noch anders argumentiert: Was die Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher vor italienischen Militärgerichten angebt, . . . so handelt es sich um eine beeindrockende Zahl von Prozessen (circa 2.000) und es ist beschlossen worden, daß sie durch die jeweiligen Territorialmilitär­ gerichte zu führen sind, in deren Zuständigkeitsbereich die abzuurteilenden Taren begangen worden sind. Die Alllierten Behörden sind jedoch sehr langsam bei der Überstellung der Angeklagten und verlangen genaue Angaben zur Identifikation dieser Angeklagten, Angaben, die die Generalstaatsanwaltschaft oft nicht liefern kann. So sind bisher nur etwa zwei Dutzend Angeklagte ausgebändigt worden und es ist anzunehmen, dass die Prozesse sich über einige Jahre hinziehen werden". •

Was Borsari wirklich dachte, zeigt sich in seiner Stellungnahme zum Fall Kappler, des zu diesem Zeitpunkt prominentesten deutschen Kriegsverbrecher in italienischem Gewahrsam, für den die Öffentlichkeit .sicherlich ein Todesur­ teil reklamieren" würde. Borsari war der Ansicht, daß eine solche Verurteilung kaum möglich sein würde, .da es unmöglich scheine, ihm [Kappler] einen Vorsatz nachzuweisen, angesichts des Umstands, daß er seine Befehle nur nach einer langen Reihe von Instruktionen und Entscheidungen der verschiedenen Oberkommandos habe geben können "37• Die Vertreter des Außenministeriums verfolgten 1946/47 eine etwas andere Strategie, auch wenn sie im Ergebnis mit den Einschätzungen Borsaris überein­ stimmte. Um die italienische Position zu stärken und eine juristische Zuständig­ keit für die inkriminierten Italiener zu reklaroieren, insistierten die zustiindigen Diplomaten darauf, daß jeder Staat für die Aburteilung seiner Kriegsverbrecher selbst verantwortlich sein solle. Um jedoch eine Zuständigkeit für die deutschen Kriegsverbrechen in Italien geltend machen zu können, wurde darauf verwie­ sen, daß man, solange die deutsche Souveränität noch nicht wiederhergestellt sei, die deutsche Justiz gleichsaro ersetzen und nach dero Territorialprinzip die deutschen Kriegsverbrecher in Italien vor Gericht bringen müsse''. Daß " Vgl. ASMAE, DGAP, Germania 1952, busta 174, fase. 2, Telespresso der Bot­ schaft Moskau an das Außenministerium in Rom, 7. Januar 1946: .il giomo in cui il pri­ mo criminale tedesco ci fosse consegnato, questo solleverebbe un coro di proteste rla parte di tutti quei paesi ehe sostengono di aver diritto alla consegna di criminali italiani".

37 Aufzeichnung Castellani, 20. Juni 1947, in: F. Focardi I L. Klinkhammer, La questione dei .eriminali di gnerra" italiani, S. 521-523. " Dies war die geschickt in der Öffentlichkeit plazierte argumentative Strategie

im Fall des Verfahrens vor dem Militärgericht in Florenz gegen die beiden deutschen Offiziere Rudolf Fenn und Theo Krake im Mai 1947.

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sich die Prozesse in die Länge ziehen könnten, sah man im Außenministerium sogar als giinstig .für die italienische Politik an, weil in der Zwischenzeit der Frieden mit Deutsch­ land unterzeichnet werden könne und die italienische Regierung dann Gelegenheit haben werde, die schöne Geste vorzunehmen und dem neuen deutschen Staat die Aushändigung der in ihrem Besitz befindlichen Kriegsverbrecher anzubieten, um sie von den dortigen Gerichten aburteilen zu lassen"".

Im Januar 1948 trat jedoch eine Wende ein. Die Einrichtung einer Unter­ suchungskommission hatte sich ausgezahlt. Mittlerweile war der italienische Friedensvertrag ratifiziert und in Kraft getreten. Wichtige Regierungsvertreter einigten sich nun in der schon erwähnten interministeriellen Besprechung darauf, ausländischen Begehren auf Auslieferung italienischer Kriegsverbrecher nicht stattzugeben und auch in Italien sdbst keine Prozesse gegen Italiener durchzuführen. Das Ergebnis der Arbeit der Untersuchungskommission wurde de facto ignoriert. Diese Entscheidung wurde auch von Ministerpräsident De Gasperl gebilligt, wie er durch seinen Staatssekretär Giulio Andreotti am 16. Februar 1948 mitteilen ließ40• Pro forma scheint gegen einige Offiziere, die die Untersuchungskommission als anklagefähig bewertet hatte, die Anklage eröffnet worden zu sein; es handdte sich um einige derjenigen, die von der jugoslawischen Regierung als Hauptschuldige betrachtet wurden. Gegen sie wurden Haftbefehle ausgestellt, gleichzeitig räumte man ihnen aber reichlich Zeit ein, sich aus detn Staub zu machen": .Einige gingen ins Ausland und befin­ den sich noch dort, in der Erwartung, wieder einreisen zu können. Jedenfalls blieb der Haftbefehl ... bei den Akten und er erhidt nietnals auch nur den geringsten Ansatz zu seiner Umsetzung"". Die Anklageeröffnung war also eine reine Augenwischerei, um besser auf die jugoslawischen Auslieferungsbegeh­ ren antworten zu können". Dies wurde von Zoppi auch explizit zugegeben; man erkennt diese Absicht aber auch daran, daß es in keinetn Fall zu einetn Prozeß in Abwesenheit des Angeklagten gekommen ist - eine Möglichkeit, die im italienischen Militärstrafrecht bestand und von der die Militärjustiz bei der Strafverfolgung deutscher Kriegsverbrecher in den letzten Jahren (Prozesse gegen Wolfgang Lehnigk-Emden, T heodor Saewecke oder gegen Friedrich Engd) auch zum Teil Gebrauch getnacht hat.

" Vgl. Aufzeichnung Castellani 20.6.1947, in: F. Focardi I L. Klinkhammer, La questione dei .criminali di guerra" italiani, S. 521-523. 40 Ebd., S. 527.

41 Vgl. ebd, S. 528: .Es wurde gegen sie Haftbefehl erlassen, aber es wurde ihnen Zeit gegeben, sich in Sicherheit zubringen", Zoppi, 20. August 1949. 42

Ebd.

"

Vgl. ebd.

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V. Viktimisierungsstrategien Die Einrichtung der Untersuchungskonnnission hatte einen weiteren, durch ­ aus beabsichtigten Effekt: Die beschuldigten Italiener hatten genügend Gele­ genheit, sich gegenüber den Vorwürfen, die man ihnen machte, zu wappnen. Ausländische Zeugen wurden gar nicht erst gehört". Eine solche Verteidigungs­ strategie hatte der Generalstab schon Anfang 1945 eingeschlagen, als er auf die jugoslawischen Vorwürfe in einem Rundschreiben folgendermaßen reagierte:

"Dieses S.M.G. [Oberkommando der Streitkräfte] ist dabei, eine möglichst voll­ ständige und umfassende Dokumentation zu erstellen, um dantit einer analogen Dokrnnentation zu replizieren, die die jugoslawischen Behörden zusammenstellen, um ihre Anklagen gegen jene italienischen Offiziere und Amtspersonen zu untermau­ ern, die vor dem 8. September 1943 gegen die jugoslawischen Partisaneneinheiten gekämpft haben und die von ihnen als Kriegsverbrecher bezeichnet werden. Mit dieser Dokumentation beabsichtigt dieses S.M.G.: ... die in Jugoslawien von den verschiedenen sich bekriegenden jugoslawischen Gruppierungen sowohl an uns als auch an den Juden und der jugoslawischen Bevölkerung selbst begangenen barba­ rischen oder zumindest völkerrechtsverletzenden Handlungen herauszustellen; das friedensfördernde und humanitäre Vorgehen unserer Truppen zugunsren sowohl der Juden als auch der verschiedenen sich bekämpfenden Bevölkerungsgruppen herauszustellen; herauszustellen - wie unser Vorgehen gegen die verschiedenen Partisanenverbände und die sie unterstützenden Bevölkerungsgruppen allein den Charakter einer gerechten Reaktion auf terroristische Handlungen und sinnlose Greueltaten an unseren Truppen gehabt hat; die Wahrheit über Tatsachen und Zwischenfälle zu eruieren, die gewollt verdreht oder unvollkommen beschrieben, den jugoslawischen Behörden dazu dienen, ihre Anklagen gegen diejenigen zu untennauem, die sie als Kriegsverbrecher bezeichnen"4'. Die Angeklagten wurden aufgefordert, Berichte zu schreiben, Befehle und Verhalten aufzuführen, die für diese Zwecke dienlich sein konnten. Die jugoslawischen Vorwürfe wurden somit mit Gegenvorwürfen beantwortet, die die Bösartigkeit und Unglaubwürdigkeit der Ankläger beweisen und die Angeklagten von allen Vorwürfen endasten sollten. Die Glaubwürdigkeit der jugoslawischen Vorwürfe wurde praktisch von vomherein ausgeschlossen46• Die Strategie ging vollkommen auf: Borsari erklärte im Juni 1947, daß "die zahlreichen gesammelten Zeugenaussagen derart sind, daß die von den J ugo-

44 Der gleiche Mechanismus, überwiegend nur deutsche Zeugenaussagen zu hören, läßt sich auch bei der bundesrepublikanischen Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaften in den 60er Jahren beobachten, siehe C. U. Schminck-Gustavus, Complici togati. 4!i Archivio dell'Istituto campano per la storia della Resistenza, Fondo Mario Palermo. 46 Ein Musterbeispiel för eine solche Verteidigungsstrategie dokumentiert Gloria Chianese, Mario Palermo, sottosegretario comunista al Ministern della Guerra, in: A. Alinovi (Hrsg.), ll secolo breve di Mario Palermo, Fuorni 2001, S. 43-57, hier S. 56-

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slawen an italienischen Militärs begangenen Greueltaten in einem Liebt von erschreckender Kriminalität und ohne Präzedenzfall in der neueren Geschichte erscheinen, so daß die Prozesse gegen die angeblichen italienischen Kriegs­ verbrecher sieb schlußendlich in einen Prozeß gegen die Jugoslawen auflösen werden". Sein Gesprächspartner, ein hocbrangiger Vertreter des Außenmi­ nisteriums, meinte dazu: .Liebt auf die von den Jugoslawen gegenüber den Italienern begangenen Greueltaten zu werfen, ist eines unserer angestrebten Ziele, weil wir auf diese Weise eher die Voraussetzungen dafür schaffen können, um die Auslieferung von Italienern an Jugoslawien zurückzuweisen "47• Eine typische Verreidigungsschrift, die der Untersuchungskommission zugestellt wurde und aus der prominenten Feder von Acbille Marazza stammte, endete in folgendem Fazit: .Jn Anbetracht der gegen mich erhobenen Anklagen, ist es mir eine Ehre,

das fol­ gende darzulegen: ich wurde am 19. August 1942 als Major der Reserve eiegezogen und erreichte am 8. September in Cmomeli (Slowenien) das 23.lnfanterieregiment, dem ich abkommandiert worden war. Da die in den 3 vorstehenden Punkten des ,Aobangs' behandelten Operationen in der mich betreffeodeo Note der Jugoslawi­ schen Legation alle -laut demselben Aobang- zwischen dem 25. Juli und Mitte August 1942 ausgeführt worden sind, ist es offensichtlich, daß ich -ganz abgesehen von deren Wahrheitsgehalt-an den beschriebenen Ereignissen nicht teilgenommen haben kann . . . Was schließlich die Anklagen unter Punkt 5 betrifft, also die vom Kommandanten gegebenen und unterschriebeneo Befehle in Bezug auf die oben angeführten Verbrechen materiell abgefaßt und den nachgeordneten Einheiten übennittelt zu haben (sowie deren Durehführung überprüft und darüber den Vor­ gesetzten Bericht erstattet zu haben), so können mich auch diese nicht betreffen, da der Sachverhalt sich - nachweisbar oder nicht - nach wie vor auf Operationen bezieht, an deoeo ich nicht teilgeomnmeo habe"48. Von solchen Selbstrechtfertigungsschriften dürfte es Hunderte in den militärischen Archiven geben. Von wem die slowenischen Zivilisten in der vom Königreich Italien annektierten .Provinz Lubiana" denn erschossen worden waren, interessierte niemanden. Daß ein General wie Mario Robotti in seinen Befehlen niedergeschrieben hatte, .hier wird zu wenig getötet", ist erst in den letzten Jahren thematisiert worden - vor allem von ausländischen Wissenschaftlern wie Tone Ferenc oder James Burgwyn49, sowie von einigen italienischen Historikern wie Enzo Collotti, Brunello Mantelli, Davide Rodogno,

47 F. Focardi I L. Klinkhammer, La questione dei "criminali di guerra" italiani, S. 521-523. Borsari war der Meinung, daß viele der bevorstehenden Prozesse gegen die angeblichen italienischen Kriegsverbrecher notwendigerweise mit einem Freispruch oder einer geringfügigen Gefängnisstrale von 2-3 Jahren enden würden. 48 Archivio dell'Istituto campano per la storia della Resistenza, Fondo Mario Palermo, Promemoria di Acbille Marazza, 16. Januar 1948. 49 Vgl. T Ferenc, La provincia ,iraliana' di Lubiana. Documenti 1941-1942, Utline 1994; H.]. Burgwyn, Italian Empire-Builtling in Ex-Yugoslavia 1941-43, im Druck.

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die die italienischen Erschießungen und Deportationen in Konzentrations­ lagern herausgearbeitet haben". So bleibt die Tatsache fesrzubalten, daß italienische Kriegsverbrecher nur vor alllierten Kriegsgerichten zur Verantwortung gezogen wurden- und zwar in den seltenen Fällen, in denen die Siegermächte ihrer unmittelbar nach Kriegsende habhaft werden konnten. Über diese Verfahren ist bislang nur wenig bekannt geworden, wenn man einmal von dem Fall des Genetals Nicola Bellomo absieht. Stattdessen wurde über das bestellte und massenhaft produ­ zierte Verteidigungsschrifttum das Bild des guten Italieners neu geschaffen". Es war der Kampf um einen Friedensvertrag, die Rehabilitierung im Konzert der Mächte und die Abwendung der Einschränkung von Souveränitätsrechten, die dazu geführt haben, daß die eigene Kriegsvergangenheit vor 1943 verdrängt wurde. Die Regierung Parri stellte anläßlich der Potsdamer Konferenz sogar die Forderung auf, Italien unverziiglich den Status eines Alliierten der Sieger­ mächte zu verleihen. Einer der einflußreichsten Publizisten, der Direktor des ,Corriere della Sera" Mario Borsa, flankierte diese Forderung, in dem er einem neugeschaffenen Mythos zur Verbreitung verhalf: ,Der Faschismus ist keinesfalls wahrhafter Ausdruck unseres Volkes gewesen. All diejenigen, und es waren ihrer Hunderttausende, die während des zwaozigjähri­ gen Intermezzo Mussolinis im Gefangnis und in der Verbannung saßen, in den Konzentrationslagere und im Exil gelitten haben ..., sie alle bezeugen, daß das liberale, demokratische Italien niemals gestorben war; wenn es sich nicht hat erheben können, ... so allein deshalb, weil eine rohe Gewalt es unter dem Stiefel hielt"52•

Die italienische Beteiligung am nationalsozialistischen Krieg paßte nicht in dieses Bild- italienische Kriegsverbrechen schon gar nicht. Um Italien von jeder Schuld zu befreien, legte man Mussolini das Bündnis mit den Teutonen zur Last und versuchte, jeden Hinweis auf den Aggressionskrieg Italiens zu vermeiden. Die italienischen Stteitkräfte erschienen - so die Schlußfolgerung von Filippo Focardi- ,eher als Opfer denn als Mittäter deutscher Gewalttätigkeit"". Bis 50 Siehe B. Mantelli, Die Italiener auf dem Balkan 1941-1943, in C. Dipper I L. Klinkhammer I A. Nützenadel (Hrsg.), Europäisehe Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder zum 65. Gebuttstag, Berlin 2000, S. 57-74. D. Rodogno, ll Nuovo Ordine Mediterraneo. Le politiche di occupazione dell'Italia fascista in Europa (1940-

1943), Turin 2003. 51 V gl. F. Focardi, "Bravo italiano" e "cattivo tedesco": riflessioni sulla genesi di due immagini incrociate, in: Storia e Memoria, 5 (1996), S. 55-83; ders., La memoria della guerra e il mito del "bravo italiano": origine e affennazione di un autoritratto collettivo, in: Italia Contemporanea, 220-221 (2000), S. 393-399. " F. Focardi, Deutschland und die deutsche Frage aus der Sicht Italiens (1943-1945), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 75 (1995),

s. 445-480.

" Vgl. ebd.

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heute ist diese Verdrängung weitgehend erfolgreich54. Italien hat die .Erbschaft der Schuld", die Ian Buruma für Deutschland und Japan beschrieben hat, von sich abschütteln können. So bekannt Lidice und Oradour in Italien sind: wer kennt die Namen Debre Libanos oder den äthiopischen Ort Engecha, wo die Italiener Gräueltaten verübt haben?". Erinnerungen an den eigenen Aggres· sionskrieg sind aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend getilgt worden und haben den positiven Elementen der Kriegsvergangenheit und dem Widerstand gegen die Nazi·Okkupanten im eigenen Land Platz gemacht. Diese master narrative konnte nicht zuletzt deswegen ihre hegemoniale Wttkung entfalten, weil es vor italienischen Gerichten zu keinem einzigen Prozeß gegen italienische Militärangehörige wegen Kriegsverbrechen im Ausland kam. Parallel zu der Verschleppungstakrik gegenüber italienischen Beschuldigten zogen sich auch die Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher hin. Mit der Annäherung zwischen der Bundesrepublik und Italien seit 1949 war ein weiteres Motiv gegeben, nun auch gegenüber deutschen Kriegsverbrechern besondere Milde walten zu lassen - selbst gegenüber denjenigen, die in Italien rechts· kräftig verurteilt worden waren. Einige der Verurteilten wurden ohne WISsen der Öffentlichkeit auf dubiose Weise begnadigt und in die Bundesrepublik endassen, unntittelbar bevor Konrad Adenauer im Juni 1951 zu seinem ersten Staatsbesuch nach Italien aufbrach".

Dazu die Italien betreffenden Beiträge in: C. Cornelißen I L. Klinkhammer I W. 54 Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen. 55

Einen entscheidenden Beitrag zur Aufklärung über italienische Kriegsverbrechen

in Mrika leistet seit Jahren die Zeitschrift .Studi Piacentini", die von Angelo Dei Boca

geleitet wird. Datin zuletztA. Mattioli, Guerra senza limiti. I:uso italiano di gas asfissianti 1935·1936, in: Studi piacentini, 33 (2003), S. 123·157, sowie M. Dominioni, La repressione italiana nella regione di Babar Dar, ebd., S. 159·170. in Abissinia nel biennie

56 Dazu jetzt ausführlich F. Focardi, Un accordo segreto tra Italia e Rft sui criminali di guerra. La liberazione del .gtuppo di Rodi" 1948·1951, in: Italia Contemporanea,

232 ( 2003), s. 401-437.

Die Unsitte des Vergleichs Die Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus in Italien und die Schwierigkeiten, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen* Von Filippo Focardi

Wie alle großen bewaffneten Auseinandersetzungen der Geschichte wirkte der Zweite Weltkrieg nicht nur .konstitnierend" für die internationale Ordnung und das System der Beziehungen zwischen den Staaten', sondern veränderte auch die gegenseitige Wahrnehmung der Konfliktparteien sowie die nationale Selbstperzeption der einzelnen Länder grundlegend. Das gilt auch für Italien und Deutschland, die zunächst als Verbündete, später als Kriegsgegner zu den Hauptprotagonisten des Konfliktes gehörten. Ausschlaggebend für die gegenseitige Wahrnehmung, darin stimmen deutsche und italienische Geschichtsschreibung überein, war die Kriegserfahrung'. Dabei konzentrierten sich die Historiker vor allem auf die Zeit der deutschen Besatzung. Von Bedeutung war diese Erfahrung nicht allein deshalb, weil sie die Vorstellung von Deutschland und den Deutschen im Nachkriegsitalien maßgeblich beeinflußte, sondern vor allem, weil sie eine Grundvoraussetzung für das nationale Selbstverständnis bildete, in dessen Rahmen dem Gedenken an den Widerstand gegen den nazisrioeben Unterdrücker" und seinen faschistischen Verbündeten ein zentraler Stellenwert zukam'. Im folgenden möchte ich nun aufzeigen, daß auch die Art und Weise, wie Faschismus und Nationalsozialismus •

*

Aus dem Italienischen von Petra Kaiser.

Der Begriff des .konstituierenden Krieges" wurde von den T heoretikern der internationalen Beziehungen entwickelt. Siehe dazu L. Bonanate I F. Armao I F. Tuccari, Le relazioni internazionali. Cinque secoll di storia: 1521-1989, Mailand 1997, S. 1-24. 2 Auf deutscher Seite kommt den Arbeiten von Jens Petersen ein zentraler Stel­ lenwert zu. Stellvertretend seien hier genannt J. Petersen, Italia-Germania: percezioni, stereotipi, pregiudizi, immagini d'inimicizia, in:]. Petersen (Hrsg.), L'emigrazione tra Italia e Gennania, Manduria I Bari I Rom 1993, S. 199-219; ders., Quo vadis Italia?, Rom I Bari 1996, S. 3-18. Was die italienische Geschichtsschreibung betrifft, verweise ich auf die Veröffentlichung der einschlägigen Tagung in Genua vom November 1995: Amico Nemico. Italia e Gennania: immagini incrociate tra guerra e dopoguerra, in: Storia e Memoria, 5 (19%), S. !.

3 Hierzu vor allem A. Missiroli, Un rapporto ambivalente. Le due Germanie viste dali'Italia 1945-1989, in: Storia e Memoria, 5 ( 1996), S. 99-100.

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in Italien beurteilt wurden, wesentlich durch diese spezifische Kriegserfahrung beeinflußt wurden. Insbesondere soll gezeigt werden, daß viele der heute gängigen Ansichten über Faschismus und Nationalsozialismus im wesentlichen auf Einschätzungen basieren, wie sie von antifaschistischer Seite in der Zeit von September 1943 (Erklärung des Waffenstillstandes) bis zum Jahre 1947 (Unterzeichnung des Friedensvertrages und Verabschiedung der Verfassung) entwickelt wurden. Aufgrund politischer Erfordernisse, die dem Kriegsende und dem Abschluß des Friedensvertrages geschuldet waren, bemühte man dabei einen direkten Vergleich zwischen Nationalsozialismus und deutschem Volk auf der einen und Faschismus und italienischem Volk auf der anderen Seite. Die Ergebnisse vorwegnehmend, stelle ich fest, daß dieser direkte Vergleich der beiden historischen Faschismusformen dazu geführt hat, daß in Italien bis heute keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der eigenen faschistischen Vergangenheit stattgefunden hat und auch die Anstrengungen auf deutscher Seite, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit .abzurechnen", nicht gewürdigt wurden. Daraus resultiert ein verzerrtes Bild vom Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Vergangenheit und ein verzerrtes Bild des italienischen Faschismus. In meiner Analyse beschäftige ich mich daher zunächst mit Äußerungen antifaschistischer Intellektueller und Politiker über Nationalsozialismus und Faschismus nach dem Waffenstillstand, zeige dann anband von Indro Montanellis und Renzo De Felices Ausführungen über den Ventennio auf, wie diese Beurteilung die nachfolgende Faschismusdiskussion konditioniert hat, um schließlich darauf einzugehen, wie Nationalsozialismus und Vergangen­ heitsbewältigung der Deutschen aus italienischer Sicht beurteilt wurden- unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Debatte über den Historikerstreit, den FallJenninger und die Rezeption des Buches .Hiders willige Vollstrecker" von DanielJ. Goldhagen4• Von grundlegender Bedeurung für die gesamte antifaschistische Kultur war die Lehre von Benedetto Croce. Bekanntermaßen vertrat Croce in der Debatte über die Ursptiinge des Faschismus die These vom .Faschismus als Parenthese"', d.h. er betrachtete den Faschismus als singuläre historische Erscheinung, die sich in der italienischen Kulturtradition (römische Kultur, Humanismus der Renaissance, liberales Risorgimento) wie ein Fremdkörper ausnehme. Im Gegensatz dazu stellte er den Nationalsozialismus als .Offenbarung" der deutschen Geschichte hin, als Ausdruck eines .geistigen Sonderwegs", der Deutschland schon mit der mißglückten Romanisierung (Folge des Sieges von 4 5

Siehe S. 78-79.

R De Felice, Le interpretazioni dd fascismo, Bari 1983 (1. Auf!. 1969), S. 29 f., 227 -236; deutsch: R. De Felice, Der Faschismus. Ein Interview mit Michad A. Ledeeo, Stuttgart 1977.

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Arminius über Varus im Jahre 9 n.Chr.) vom restlichen Europa entfernt und zur andauernden Schwächung des Freiheitsgedankens gefühn habe, wie sie im preußischen Obrigkeitsstaat zu beobachten gewesen sei'. Zum erstenmal entwickelte er diesen Gegensatz in seinem Buch .TI dissidio spirituale della Germania con l'Europa", das 1944 erschien. Dort konstatiert er .einen tiefen, wesentlichen Unterschied" zwischen den beiden Systemen, "weil der Nationalsozialismus ... den Ausbruch einer furchtbaren Krise" bedeutete, .die in denJahrhunderten deutscher Geschichte gärte, während der Faschismus eine Art Überfremdung war, eine Erscheinung, die der jahrhundendangen Geschichte Italiens fremd blieb und im Widerspruch gerade zu Italiens glorreicher jüngsten Vergangenheit, zum 19. Jahrhundert, stand"'. Nach Croce liefeneu diese histotischen Unterschiede die Erklärung dafür, daß sich die beiden Regime ihrem Wesen nach grundsätzlich von einander unterschieden: Der Nationalsozialismus wurde als grausam und teuflisch hingestellt, weil sein rassistisches Credo tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt sei; der Faschismus hingegen wurde als .karnevalesk" bezeichnet, seine verbrecherischen Taten hätten nie das Ausmaß des Nationalsozialismus erreicht, weil Kultur und Gesellschaft, für die er stets ein .Fremdkörper" geblieben sei, seine ktiminelle Energie gebremst hätten'. Wie Croce 1947 schrieb: .Dem italienischen Faschismus haftete stets etwas Eklektisches und Inkohärentes an. Obwohl er vor Bosheiten und echten Verbrechen nicht zurückschreckte, war er doch weit weniger grausam als jener andere ..., weil italienische Traditionen und Gebräuche nicht zuließen, was deutsche Traditionen und Gebräuche durchaus gestatteten oder sogar beförderten"'. Allerdings hatte Croce gute Gründe für diese scharfe Abgrenzung von .Faschismus als Parenthese" und .Nationalsozialismus als Offenbarung". Denn seine Analyse beruhte nicht allein auf eingehenden intellektuellen Reflexionen, 6 Croces Gegenüberstellung von Faschismus als "Parenthese" und Nationalso­ zialismus als .Offenbarung" wurde sebr gut herausgearbeitet von Giuseppe Galasso, G. Galasso, Benedetto Croce e l'unitä. europea, in: Nuova Storia Contemporanea, 2 ( 1998), 5, S. 38. Siebe auch PG. Zunino, La Repubblica e il suo passato, Bologua 2003, s. 295 ff.

' B. Croce, TI dissidio spirituale della Germania con I'Europa, Bari 1944, S. 21. Außer dem titelgebenden Hauptaufsatz mit dem Untertitel .Confessioni di un italiano ,gennanofilo' ehe non riesce a scoprire in se per questa parte cosa alcuna di cui si debba ravvedere" entbielt der Band im Anhang drei frühere Schriften: .La Germania ehe abbiamo amata", "La guerra come ideale", "1 doveri e il dovere"; und eine Grab­ inschrift für die Opfer des nazistischen Blutbades an den Einwohnern von Caiazzo in Kampanien. • Ebd. ' Dazu siebe Croces Rezension des deutschen Ökonomen W. RDpke, Die deutsche Frage, erschienen in: Quaderni della Critica, 2 ( 1946), S. 6, sowie B. Croce, Nuove pagine sparse, Bd. 2, Neapel 1949, S. 200.

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sondern diente eindeutig politischen Zwecken: Damit sollte gerechtfertigt werden, daß das besiegte Italien eine bessere Behandlung verdiene als der ehemalige Achsenverbündete, das finstere Hitler-Deutschland. Wie Eugenio Garin10 zutreffend anmerkte, handelte es sich bei Croces Äußerungen über den Faschismus im wesentlichen um politische Stellungnahmen an die Adresse der Alllierten, die über das Schicksal des Landes zu entscheiden hatten. Dazu gehörten seine Rede auf dem CNL-Kongreß in Bari im Januar 1944 (wo er zum erstenmal den Begriff des .Faschismus als Parenthese" benutzte)", die 2 bedeutende Rede über die internationale Rolle Italiens vom September 19441 und ein Interview, das er dem Reuters-Korrespondenten Cecil Sprigge Ende März 1945 gab, als bekannt wurde, daß Italien die Teilnahme an der UNO-Konferenz in San Francisco verweigert worden war". In diesen Stellungnahmen, mit denen Croce sich zum Sprecher der Interessen und Gefühle des antifaschistischen Italien machte, unterstrich er den Anspruch auf einen Friedensvertrag ohne Bestrafung und begründete diese Forderung mit der Behauptung, für den verlorenen Krieg könne nur der Faschismus verantwortlich gemacht werden, keineswegs jedoch das italienische Volk, das zwanzig Jahre lang ein .fremdes Regime" ertragen habe, eine Diktatur, die ihm mit Lug und Trug und Gewalt aufgezwungen worden sei. Daher könne man die Italiener nicht als Täter, sondern nur als Opfer von Faschismus und Krieg einstufen. In dieser Hinsicht bot es sich für Croce an, seine These, der Faschismus sei praktisch ein Fremdkörper in der italienischen Geschichte und dem italienischen Volk wesensfremd gewesen, dadurch zu erhärten, daß er von Deutschland das Gegenteil behauptete, nämlich, daß der Nationalsozialismus untrennbar mit der deutschen Geschichte verflochten und im deutschen Volk fest verwurzelt gewesen sei. Mit dieser Argumentation sollte begründet werden, daß den Italienern eine bessere Behandlung zustehe und sie keineswegs die gleichen Sanktionen verdient hätten, die die Alllierten für Deutschland angekündigt hatten. Bezeichnend für diese Strategie war Croces Rede vom 21. September 1944 in Rom. Mit Entschiedenheit forderte er die höchsten Bevollmächtigten der Alllierten auf, Italien als Siegermacht anzuerkennen und an den .Entscheidungen über eine Neuordnung Europas" zu beteiligen". Im Gegensatz zu Deutschland, wo 10 E. Garin, Intellettuali italiani de!XX secolo, Rom 1987 (1. Auf!. 1974). Bezeich­ nenderweise trägt das Kapitel über Croce die Überschrift: .Beoedetto Croce o della ,separazione impossibile' &a politica e cultura". n B. Croce, La libertä italiana nella libertä del mondo, in: ders., Scritti e discorsi politici (1943-1947), Bd. 1, Bati 1963, S. 49-58. 12

Ebd., S. 97-116. Die Rede wurde

am

21. September im Teatro Eliseo gehalten.

u

"Dichiarazione di Croce per la partecipazione dell'ltalia", in: Risorgimento Liberale, 31. März 1945.

14 B. Croce, L'ltalia nella vita intemazionale, in: ders., Scritti e discorsi politici (1943-1947), Bd. 1, S. 99 ff.

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der Kult .der staatlichen Autorität und des bürokratischen, militaristischen Obrigkeitsstaats"" herrsche, habe das antifaschistische Italien zu seinen alten Freiheitstraditionen zurückgefunden. Deshalb dürfe man Italien, das einen Cavour und eine blühende Stadtkultur hervorgebracht habe, nicht dem gleichen Schicksal überantworten wie .Deutschland mit einem Bismarck, einem Wilhelm II. und einem Hitler"16, sondern müsse es in den Kreis der freien Nationen aufnehmen, die gegen die faschistischen Diktaturen gekämpft hatten. Croces Rede fand ein breites Echo in der italienischen Presse, sowohl in Massenblättern als auch in kleinen, eher liberalen Zeitungen. So hieß es in einem Artikel der römische Wochenzeitung "Domenica", der Faschismus sei nur eine "vorübergehende Krankheit", der Nationalsozialismus dagegen eine .Erbkrankheit des deutschen Volkes" gewesen". Ähnlich urteilte die Tageszeitung .Risorgimento liberale": Während .Italien wider seine Natur faschistisch war", .entsprach der Nationalsozialismus der deutschen Natur"". Croces Theorie von der kulturellen Verwurzdung des Nationalsozialismus wurde von Intellektuellen des Partito d'Azione wie Carlo Antoni, Guido De Ruggiero und Adolfo Omodeo aufgegriffen und vertieft. Vor allem Antoni und De Ruggiero sahen in der deutschen Romantik das kulturelle Vorspiel für Hitlets nationalsozialistische Bewegung und betonten, die italienischen Ver· hältnisse seien ganz anders gewesen, denn auch unter dem Faschismus hätten die Kulturschaffenden dem Regime weiterhin Widerstand geleistet und dabei auf einen antifaschistischen Lehrmeister wie Benedetto Croce zählen können". Meinungsbildend wirkte Croces Position auch bei den anderen großen kulturtragenden Gruppen, den Katholiken und Marxisten. Erst kürzlich hat Agostino Giovagnoli auf die .seltene Einmütigkeit" von Croce und De Gasperi .in Fragen der antinazistischen und antideutschen Einstellung"

5.

" Ebd., S. 113. 16 Ebd., S. 115. 17 F. Sa"at.ani, Metafisica della belva nazista, in: Domenica, 2 (22. Dezember 1945),

18 .Diritto alla digniti", in: Risorgimento liberale, 23. September 1944. Nicht namentlich gezeichneter Hintergrundartikel zu Croces Rede.

" C. Antoni, ll nazismo: fenomeno culturale, in: La Nuova Europa, I (17. Dezember 1944); ders., n nazismo: momento della cultura tedesca, ebd., 2 (14. Januar 1945), 2; ders., ll nazismo e Ia civiltil dell'Europa, ebd., 2 (28. Januar 1945), 4; ders., ll nazismo e I'e­ tica della potenza, ebd., 2 (25. Februar 1945), 8. G. De Ruggiero, La crisi dell'irraziona· lismo, ebd., 1 (10. Dezember 1944), 1; ders., TI ritomo alla ragione, in: Mercurio, 1 (1944), 2, S. 80·90; ders., ll centenario di Nietzsche, in: La Nuova Europa, I (23. Dezernher 1944), 3; ders., La cultusa germanica e noi, ebd., I (31. Dezember 1944), 4; ders., La Germania da! romanticismo a Hider, in: Realti Politica, I (20. Januar 1945), 3; Alle Artikel wurden erneut veröffentlicht in G. De Ruggiero, TI ritomo alla ragione, Bari 1946, S. 45·54, 55·71, 82·89, 90·97, 72-81.

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hingewiesen20• "Beide", so schreibt er, "unterschieden zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, indem sie den italienischen Widerstand als allgemeinen Freiheitskampf würdigten"21• Der italienische Widerstand habe kulturelle Ursachen, wurzele in einer ,Jahrtausende alten Zivilisation", die den unzivilisienen Deutschen fehle. Die "christliche Tradition der Griechen und Römer" stehe im Gegensatz zur deutschen Tradition einer "heidnischen Barbarei". Dieses einhellige Uneil von Croce und De Gasperi traf in katholischen Kreisen auf ungeteilte Zustimmung. Ebenso wie Croce unterstrichen die Katholiken die lange historische Inkubationszeit des Nationalsozialismus, den sie als "neue rassistische Form des Heidentums" oder gar als "neue rassistische und antichristliche Religion" ansahen", als Frucht eines Jahrhundene langen Reifungsprozesses, der im Heidentum der germanischen Stämme und vor allem in der Reformation seine Wurzeln habe. "Von Luther zu Hitler", darin sah die katholische Denktradition einhellig den "Weg des Bösen", wobei sie an die traditionelle Polemik der Gegenreformation anknüpfte und sich auf Schriften wie "La Germania e il suo demone" des Germanisten Rodolfo Bottacchiari 23 oder "Paganesimo, germanesimo, nazismo" des Philosophen Ernesto Buonaiuti berief'4• Dagegen beruhe der italienische Faschismus auf ganz anderen Voraussetzungen, die christliche Tradition des italienischen Volkes habe ihm stets enge Grenzen gesetzt. NachAuffassung des französischen Philosophen]acques Maritain, der in Italien großen Einfluß genoß, "bremste der Katholizismus den Totalitarismus" des Faschismus, den er dem "rassistischen Totalitarismus" entgegenstellte, wie er dem Nationalsozialismus eigen war". Ähnliche Ansichten vertrat die christdemokratische Zeitung "TI Commento": aufgrund des "doppelten Humanismus aus antiker Zivilisation und christlicher Überlieferung" sei in Italien und den anderen katholischen Ländern "jeder Versuch zur Vergottung des Staates" vereitelt und die Verbreitung eines "rassistischen Heidentums" erfolgreich bekämpft worden". Durch den fest verankerten kulturellen Einfluß des Katholizismus sei verhindert worden, daß 20 A. Giovagnoli, La cultura democristiana, Rom I Bari 1991, S. XIV, 21 Ebd., S. 123. 22 M. Bendiscioli, Neopaganesimo razzista, Brescia 1945 (!. Auf!. 1937); Sincerus [G. Manacorda], ll nuovo paganesimo gennanico. Dottrine, testi, critica, Rom 1946. Die Identifizierung des Nationalsozialismus als neue Form des "Heidentums" war bereits in der Enzyklika "Mit brennender Sorge" von Papst Pius XI. vom 14. März 1937 enthalten. 23 R Bottacchiari, La Germania e il suo demone, Rom 1945.

24 E. Buonaiuti, Paganesimo, gennanesimo, nazismo, Mailand 1946; ders., Lutero e Ia riforma in Gennania, Rom 1945 (!.Auf!. 1925). .v J. Maritain, Umanesimo integrale, Rom 1949, S. 221. Dieses wichtige Werk war bereits 1936 erschienen, wurde aber 1946 und 1947 wieder aufgelegt. 26 G. Braga, La grande patria latina. Valore e decadenza dei latini, in: D commento, 2 (I. Juni 1945), S. II.

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der Faschismus die "satanische" Gestalt des Nationalsozialismus annahm, den Papst Pius XII. als .Abfall von Jesus Chtistus, als Negation seiner Lehre und seines Erlösungswerkes" anprangerte"'. Darüber hinaus galt nach katholischer Auffassung die gesamte klassische deutsche Philosophie, allen voran das Denken Kants und Hegels28, als Wegbereiter des Nationalsozialismus, während Croce die beiden Philosophen ebenso wie Goethe verteidigte, weil er darin den höchsten Ausdruck der einzig geglückten .Parenthese" der deutseben Geschichte sah". Trotz dieses schwerwiegenden Streitpunktes war man sieb darin einig, daß die historische Verwurzdung und die daraus folgende Fähigkeit des Systems, den sozialen Organismus zu durchdringen und kriminelle Energien freizusetzen, als ausscblaggebendes Unterscheidungsmerkmal heranzuziehen sei. Jedenfalls teilte der Katholizismus voll und ganz Croces Einschätzung vom "Faschismus als Parenthese" und .Nationalsozialismus als Offenbarung". Zweifellos wurde diese Einigung dadurch begünstigt, daß Croce 1942 von seinen antiklerikalen Positionen, die er anläßlich der Lateranverträge (1929) eingenommen hatte, abrückte, sein Urteil über das Christentum und die historische Rolle der katholischen Kirche revidierte und die Bedeutung des Christentums und der katholischen Kirche als ursprüngliche Quelle einer .Religion der Freiheit" würdigte". Obwohl er seine grundsätzliche Kririk an der rückschrittlichen Rolle der katholischen Kirche in der Neuzeit beibeltielt, eröffnete er mit seinen Ausführungen über das Verhältnis von Christentum und Freiheit gewisse Spielräume für eine Verständigung traditionell unversöhnlicher Gegenspieler wie Liberalismus und Katholizismus. Man war sieb einig in der positiven Beutteilung des kulturhistorischen Vermächtnisses, das Italien als Wiege des "laizistischen" wie des "kirchlichen Humanismus" sah31•

Im Unterschied zu katholischen Intellekmeilen und Croce·Anhängern, die sieb ttotz aller Stteitigkeiten grundsätzlieb darauf einigten, der Nationalsozialismus sei eine deutsche "Geisteskrankheit", vertraten die italienischen Marxisten die "klassische" Auffassung, der Nationalsozialismus sei eine antiproletarische Reaktion des großbürgerlieben Industrie- und Finanzkapitals gewesen, das Il Allocuzione del Santo Padre al Sacro Collegia- Nefasti dd nazionalsocialismo e requisiti essenziali per uoa vera pace, in: Civilti Cattolica, 96, 2 (9. Jttui 1945), 2280, s. 369-376. 28 So beispielsweiseA. Tommasi, Precursori dd nazismo, in: TI Quotidiana, 29. März 1945.

29 Dazu siehe beispielsweise G. De Ruggiero, La cultura germanica e noi, ebd.; F. Flora, Rittatto di uo ventenuio, Neapd 1944, S. 71. " B. Croce, Perehe non possiamo non dirci cristiaui, in: La Critica, 60 (1942), S. 289297.

31 L. Salvatorelli, Umanesimo ecclesiastico e umanesimo laico, in: La Nuova Anto­ logia, April1945, 1732, S. 264-273.

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sich mit dem preußischen Junkertum, d.h. dem Großgrundbesitz und dem traditionellen deutschen Militarismus, verbündet habe. A llerdings neigten auch sie - und zwar Sozialisten, Kommunisten und Mitglieder der Aktionspartei gleichermaßen - dazu, den Nationalsozialismus als Resultat eines kulturellen und politischen deutschen Sonderweges zu interpretieren und ihn somit von der italienischen Entwicklung grundlegend zu unterscheiden. So charakterisierte etwa Carlo Dionisotti (Aktionspartei) Faschismus und Nationalsozialismus zwar als .blutsverwandte" Antwort der kapitalistischen Bourgeoisie auf die Herausforderung durch die Arbeiterklasse, vertrat aber zugleich die Auffassung, der barbarische, unzivilisierte Kern" des Nationalsozialismus entspräche .so vollkommen der deutschen Kulturtradition, wie man es sich andernorts gar nicht vorstellen kann"". In die gleiche Richrung ging der kommunistische Philosoph Cesare Luporini mit seiner Behauptung, die beiden faschistischen Diktaturen basierten .auf einem traditionell grundverschiedenen nationalen Kollektivethos"". Seines Erachtens habe "die Brutalität der bürgerlich­ kapitalistischen Welt", die Faschismus und Nationalsozialismus hervorbrachte, in jedem Land die ältesten .Nationalmythen" reaktiviert. "Speziell in Europa, wo die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern stark ausgeprägt sind, tritt die Krise des Kapitalismus - nach den jeweiligen moralischen und psychologischen Voraussetzungen - in höchst unterschiedlichen nationalen Erscheinungsformen zu Tage". In Deutschland seien so .die ursprünglichen, barbarischen Verhaltensweisen" wieder zum Vorschein gekommen, die .Aufklärung und Romantik nur mit einer dünnen Zivilisationsschicht kaschiert hatten" Dadurch hat sich hier eine so tiefe Kluft zum Christentum aufgetan wie in keinem anderen Land der westlichen Welt". Folglich seien die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Faschismus beträchtlich. Das unterstrich auch der Sozialist Giuseppe Saragat: .Hitlers Verbrechen entsprangen keineswegs einem Boden, der gegen Ungeheuerlichkeiten und Barbarei immun gewesen wäre wie in Italien. Denn tief in seinem Innem brütete Deutschland seit mehr als hundertJahren etwas Unheilvolles aus; deshalb wurde in Philosophie, Literatur und Politik jede humane Idee verworfen, weil sie nicht zur Weltanschauung paßte, die sich die Nachfahren von Arminius zurechtzimmerten"". •

. •

Auch die marxistisch orientierte Linke ging also von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen Faschismus und Nationalsozialismus aus, wobei sie als Erklärungsmuster die kulturhistorische Entwicklung und den National­ charakter anführte. Bezeichnenderweise griff der kommunistische Führer Palmiro Togliatti im Moskauer Exil im November 1943 die gleichen Argumente

32 C. Dionisotti, Gennania storica e nazionalsocialista, in: Risorgimento, 1 (15. Mai

1945), 2, s. 129.

33 Dazu C. Luporini, Rezension zu G. Ziemer, Educazione ai1a morte (Come si crea un nazista), London 1944, in: Societi, 1 (1945), 3, S. 283-286. 34 G. Saragat, Inglesi e tedeschi, in: Avanti!, 27. März 1945.

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auf wie Croce, um das antifaschistische Italien zu verteidigen: Det Faschismus habe es nicht vetmocht, .in die Seelen der Menschen einzudringen und das Volk zu korrumpieren", denn et stehe im Widerspruch zu den tief verwurzelten Traditionen, wie sie die gesamte italienische Zivilisation hervorgebracht hatte"". Ebenso wie Croce zählte Togliatti dazu untet andetem "die römische Zivilisation", die katholische Zivilisation", Renaissance und Risorgimento (wobei et sich insbesondete auf das demokratische Erbe von Mazzini und Garibaldi bezog). Schließlich fügte et noch die Tradition der sozialistischen Bewegung" hinzu, um den Kanon det Tugenden zu vervollständigen, die als .Antikörpet" gegen den Faschismus gewirkt hätten. •





Eineweitere Gemeinsamkeit det vetSchiedenen antifaschistischen Strömungen bestand darin, daß sie zur Erklärung der Untetschiede zwischen den beiden Regimen auch den unterschiedlichen Nationalcharakter det beiden Völket heranzogen". Nach allgerneinet Auffassungwar det Faschismus dadurch an die Macht gekommen, daß er es vetstanden hatte, sich die negativen Eigenschaften des italienischen Volkes (gering entwickelter Staatssinn, Vetfolgung individueller Eigenintetessen, politische Oberflächlichkeit, Empfänglichkeit für emphatische Rhetorik) zu nutze zu machen. Spätet jedoch hätten sich dieselben Eigenschaften als unüberwiodliches Hindernis entpuppt und die Errichtung eines totalitären Regimes inhibiert. Ähnlich habe es sich mit den positiven Eigenschaften verhalten; auch unermüdliche Kritikfreudigkeit, Sinn für Vethältnismäßigkeit, Solidarität und Friedensliebe hätten als Hemmschuh gewirkt. Im Gegensatz dazu habe der Nationalsozialismus nicht nur mit den negativen Eigenschaften des deutschen Volkes wie bliodem Gehorsam, Kampfgeist und grenzenloser Hingabe rechnen können, sondetn auch auf die positiven wie Opferbeteitschaft, Gesetzestreue, Ordnungsliebe und Organisationstalent. Vor allem aber wurde det Unterschied zwischen Faschismus und National· sozialismus an den charismatischen Führerfiguren Hitler und Mussolioi festgemacht. Das Bild des Führers basierte im wesentlichen auf Hermann Rauschnings Buch .Gespräche mit Hitler", das 1945 in Italien erschien, aber beteits vorher in der französischen Ausgabe von 1939 zirkulierte. Darin wurde Hitler als teuflischer Mensch beschrieben: sadistisch, grausam, fanatisch, hemmungslos, hysterisch, sexuell abartig. Rauschning schilderte ihn als .zerstöruogswütig" und als leibhaftige VerkörpetUOg des Antichristen"37• Diese Art det Darstellung wurde von den italienischen Antifaschisten aufgegriffen. •

35 P. Togliatti, L'Italia e la guerra contro Ia Gennania hitleriana, in: ders., Opere, 4 Bde., Rom 1979, hier Bd. 2: 1935·1944, S. 378 f. " F. Focardi, I:immagine del cattivo tedesco e il mito del bravo italiano, Padua

2005, s. 149·162.

37 H. Rauschning, Hitler mi ha detto, Mailaod I Rom 1945 (franz. Originalausg. 1939), S. 251.

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Sowohl laizistische Intellektuelle wie Salvatorelli als auch katholische wie Igino Giordani sahen in Hitler die Wiederkehr des ,Antichristen"". Giordani bezeichnete ihn als einen vom Wahnsinn getriebenen Parsifal". Der führende Christdemokrat Guido Gonella beschrieb ihn als Genie des Bösen"", der Monarchist Franeo Marano als .besessenen Fanatiker"". Wiederholt wurden andere unheilvolle historische Figuren wie Nero, Attila und Dschingis Khan zum Vergleich herangezogen. •



Angesichts dieser diabolischen Größe wirkte Mussolini wie ein schäbiger Durchschnittsmensch. Getreu einem Bild, das viele Antifaschisten bereits in der Emigration gezeichnet hatten", erschien der Duce als Glücksritter, eitler größenwahnsinniger Demagoge, gerissener Agitator, beifallheischender Hanswurst und theaterverliebtet Narziß. Enrico Gianeri charakterisierte ihn als .Pseudogenie" und .Cäsar aus Pappmache"42• Der ehemalige Führer der Volkspartei Piero Malvestiti bezeichnete ihn als ,ignoranten, eitlen, hand· greifliehen Sozialisten aus der Romagna"43• Der Sozialist Nenni warf ihm .die Feigheit eines mittelmäßigen Abenteurers" vor44, Padre Giordani verhöhnte ihn als ,Karikatur eines Helden der Meere"". Einmütig als .Knecht" des Führers hingestellt, verglich man Mussolini nicht mit Dschingis Khan, sondern mit Masaniello und Cola di Rienzo, unbedeutenden italienischen Volksführern46• Zu diesen spöttischen Darstellungen, die vor allem dazu beitragen sollten, den Mythos des faschistischen Duce zu unterhöhlen, gesellte sich unmittelbar nach Kriegsende ein vages nostalgisches Bild des ,guten Menschen Mussolini", das ursprünglich von Indro Montanelli stammte, der Mussolini als guten Familienvater und aufopferungsvollen Schöpfer eines milden Regimes schilderte, " L. Salvatorelli, Fine dell'Anticristo, in: Itslia Lihera, 3. Mai 1945; I. Giord4ni, Vittotia e nemesi, in: ll Quotidiano, 8. Mai 1945.

" G. Gone/la, ll genio del male, in: ll Popolo, 2. Mai 1945. 4° F. Marano, ll candidato al Walhalla, in: Itslia nuova, 3. Mai 1945. 41 A. Campi, Mussolini, Bologna 2001, S. 31 ff.; L. Passerini, Mussolini, in: M.

Isnenghi (Hrsg.), I luogbi della memoria. Personaggi e date dell'Italia Bati 1997, S. 172 ff.

unita,

Rom I

42 GEC [E. Gianen], ll Cesare di cartapesta. Mussolini nella caticatura, Tutin 1945, s. 275. 43 P. Malves##, Parte guelfa in Europa, Mailand 1945, S. 118. 44 P. Nenni, Espiazione, in: Avanti!, 28. April 1945. 45 I. Giordani, Vittoria e nemesi, in: TI Quotidiana, 8. Mai 1945. 46 Dazu stellvertretend: G.A. Borgese, Golia. Marcia del fascismo, Mailand I Verona 1946 (1. Auf!. 1938), S. 41 ff.; GEC [E. Gianen], Cesare di cartapesta, Mussolini nella caricatusa, ehd., S. 275 f.; C. S/orza, Costruttori e disttuttori, Rom 1945, S. 341 (das Buch war Ende der zwanziger Jahre auf engliach erschienen, hatte großen Erfolg und wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt); C. Barbagallo, Lettere a John. Che cosa fu il fascismo, Neapel 1945, S. 31.

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das die Italiener vor der bolschewistischen Flutwelle bewahrt hatte47• Sowohl die antifaschistische als auch die nostalgisch verklärende Darstelluog, die später großen Erfolg haben sollte, betonte den gruodlegenden Unterschied zwischen Duce uod Führer. Montanelli konstruierte einen Gegensatz zwischen dem .großen Komiker" Mussolioi, Protagonist des italienischen .Melodramas", uod dem "großen Tragödiendarsteller" Adolf Hitler, teuflischer Protagonist des deutschen .Dramas"48• Effektvoll auch der Vergleich der Wochenzeituog Domenica: Während Hitler als .dämonisches Ungeheuer" geschildert wurde, erschien Mussolioi als .uoheilvoller Hanswurst"". Ebenso urteilte die dem Partito d'Azione nahestehende Zeitschrift .Nuova Europa", die Hitler als .blutrünstigen Moloch" uod Mussolioi als .Idol aus Pappmache" darstellte". Die karikaturhafte Darstelluog uod der Vergleich mit Hitlernahmen der Figur Mussolioi die Grausamkeit, die historisch mit seioer Person durchaus verbuoden war. Diese Beurteiluog wurde auf den Faschismus insgesamt übertragen uod verschleierte die Dimension der Gewalttätigkeit, die das Regime zwanzig Jahre lang geprägt hatte. Bedeutsam war der Vergleich zwischen den beiden Diktatoren auch in einer weiteren Hinsicht: Während Hitler als eine Art .Messias", als "Prophet einer neuen Religion" hingestellt wurde, der das deutsche Volk eingenommen hatte, sah man in Mussolioi einen .durchtriebenen" Abenteurer, dem es durch tausend Tricks geluogen war, an der Macht zu bleiben, der aber keioe wahre Mission uod keinerlei Unterstützuog im Volk hatte. Als "Demagoge ohne Programm uod ohne konkrete Ziele", so Panfilo Gentile'', habe Mussolioi es perfekt verstanden, gewisse .Schwächen" des Nationalcharakters zu nutzen, um an die Macht zu kommen, ohne je eine politische Programmatik zu vertreten, mit der er die Italiener hätte begeistern können. Kein Vergleich zu Hider, der mit seinem Traum von einer reinen Rasse, einem von der jüdischen Herrschaft .befreiten" Deutschland das deutsche Volk mitzureißen verstand. Für den Journalisten Augusto Guerriero verkörperte der Führer .die Bedürfnisse, Hoffunogen uod Leidenschaften des deutschen Volkes"". Die Tageszeituog des Partita d' Azione Italia libera sah in NS-Deutschland .eine vollkommene psychologische Übereinstimmuog des Agitators mit dem Geist " I. Montane/li, ll buonuomo Mussolini, Mailaod 1947. Zu Montaoellis Buch als "Paradigma des Revisionismus" siehe S. Luzzatto, TI corpo del duce, Turin 1998, s. 122-125.

48 Ebd., S. 47-51. 49 M. Lombardo, I criminali sconfitti, in: Domenica, 2 (13. Mai 1945), S. 19. " Lo storiografo, ll crepuscolo degli idoli, in: La Nuova Europa, 1 (6. Mai 1945), s. 18. " P. Gentile, La crisi della cultura e ilfascismo,in: llCommeoto,2 (16.Jaouar 1945), 2, S. 54.

" A. Guerriero, Hitler, in: Idea (1. Juli 1945), 7, S. 54.

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der Massen", eine .fanatische, beinahe an sexuelle Verzückung grenzende Begeisterung, ein Indiz für die gegenseitige Übereinstinnnung und die kollektive Mitverantwortung"". Bezeichnend war auch die Rezension des Mercurio zu Charlie Chaplins Fihn .Der große Diktator"". Während Hider - so heißt es dort - .die verbrecherischen Neigungen eines ganzen Volkes verkörpert", verkörpert Mussolini niemanden"; .Mussolini ist eine klägliche Figur, jedoch ein Individuum, Hider dagegen ist ein Symbol: er steht für Deutschland vor, während und nach dem Nationalsozialismus". •

Mit dem Vergleich der beiden Diktatoren wurden also auch die beiden Kertdragen Ideologie und Massenkonsens thematisiert. Umstandslos übernahm man dabei in Italien die Selbstdarstellung des Nationalsozialismus als Volksgemeinschaft, die voll und ganz auf die Ideologie der Herrenrasse und des Antisemitismus eingeschworen war und ihrem charismatischen Führer Adolf Hider widerspruchslos folgte. In Italien dagegen, so die Behauptung, habe die faschistische Ideologie keinerlei Durchschlagskraft besessen und eine solche Beziehung zwischen Duce und Volk nie existiert. Ein monolidtisches granithartes nationalsozialistisches Deutschland und ein fragiles zaghaftes faschistisches Italien. Inhaldich neigtenPresse undPublizistikinltalien dazu, den Nationalsozialismus auf die arische Rassenideologie und vor allem auf seinen rasenden Antisemitismus zu reduzieren. Der katholische Journalist Giuseppe Piazza, der jahrelang als Korrespondent in Deutschland gearbeitet hatte, sprach von .einer absoluten Gleichsetzung: Nationalsozialismus gleich Rassismus"". Der Historiker Adolfo Omodeo tadelte den .Rassenwahn" des Nationalsozialismus und .den Verfall eines Volkes durch Rassismus"". Der Germanist Rodolfo Bottacchiari definierte den N arionalsozialismus als .integralen Rassismus"".

Im Gegenzug stützte sich die Einschätzung des italienischen Faschismus weitgehend auf Croces Positionen, wie sie in dem betühmten Manifest der antifaschistischen Intellekruellen aus dem Jahre 1925, das 1944 erneut veröffentlicht wurde, niedergelegt waren. Für Croce war der Faschismus ein wahlloses Gemisch aus allen möglichen Ideen", .eine kühne Bewegung, •

der jeder Glaube fehlte"" Als Abenteuer begonnen", so Panfilo Gentile, .lebte der Faschismus in geistiger Hinsicht allein von einem rein rhetorischen .



" G.M., Gergo e miti del nazionalsocialismo, in: Italia libera, 10./11. Juni 1944. " V Caioli, Sul.Dittatore" di Chaplio, in: M ercurio, 1 (1944), 3, S. 157-160. " G. Piazza, L'Anticristo come io lo vidi, Rom 1946, S. 12. " A. Omodeo, La razza tedesca, in: Acropoli, 1 (Mai 1945), 5, S. 193-200. Erneut abgedruckt in ders., Libertii e storia. Scritti e discorsi politici, Turin 1960, S. 251-261. " R Bottacchiari, La Germania e il suo demone, Rom 1945, S. 299. " B. Croce, Cbi e fascista?, in: Risorgimento liberale, 28. Oktober 1944.

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Nationalismus im Stile D'Annunzios"". Auch der Katholik Stefano Jacini hob das .Fehlen jeglicher Doktrin" hervor und klassifuiene den Faschismus als simple "Inszenierung", die nur darauf aus war, "dem Improvisierten, dem Produkt opponunistischer, öffentlichkeitswirksamer Berechnung das Mäntelchen des Organischen umzuhängen"60• Auch Piero Malvestiti unterstrich die "Unbestimmtheit der theoretischen Postulate" des Faschismus, dessen Ideologie er .als Spülwasser der schmutzigen Teller von Gentile, Corradini und Sore! [bezeichnete], das man in einem Hegeischen Kessel aufgekocht hat"". Setzten die Antifaschisten einerseits alles daran, den Mythos Mussolini zerstören, indem sie den Duce karikaturhaft darstellten, so versuchten sie andererseits, den faschistischen Staat zu entmythologisieren, indem sie ilun voreilig jede doktrinäre Konsistenz absprachen und ihn auf reine .Machttechnik" reduzierten, die direkt an die Persönlichkeit des Duce geknüpft war. Daher ist es auch kein Zufall, daß die Figur und Rolle des Philosophen Giovanni Gentile, der für den Faschismus von zentraler Bedeutung war, radikal in Mißkredit gebracht wurden". Kein gutes Haar ließ man auch an der Doktrin des Korporativismus, den der Faschismus als seine ureigene sozioökonomische Leitlinie propagien hatte". Auch der Nationalismus, ein Grundpfeiler der faschistischen Ideologie, wurde abgewettet und als .importiertes Produkt" aus Deutschland (Nietzsche) und Frankreich (Maurras, Barres) hingestellt". Die nationalistische Propaganda des Faschismus, die sich auf den Mythos des Römischen Reiches berief, wurde als hochgejubelte, reine Rhetorik apostrophiert. Obwohl lautstark vorgetragen, sei sie an der Oberfläche geblieben, weil sie mit den authentischen kulturellen Wurzeln des Landes nichts gemein hatte. Letztlich wurde der Faschismus als .politische Degeneration" hingestellt, während man den Nationalsozialismus auch für "kulturell degeneriert" hielt". Diese Interpretation des Philosophen Guido Calogero lag auf einer Linie mit Croces Unterscheidung von .Faschismus als Parenthese" und .Nationalsozialismus als Offenbarung". zu

Möglich wurde diese ideologische Unterscheidung auch aufgrund der besonderen Lesatt des faschistischen Antisemitismus und der Politik der Judenverfolgung, wie sie durch die Rassengesetze von 1938 eingeleitet wurde. Sowohl der Antisemitismus als auch die eigendiche Verfolgung in Italien wurden 59 P. Gentile, La crisi della cultura e il fascismo.

60 S. ]acini, ll regime fascista, Mailand 1947, S. 208-210. " P. Malvestiti, Patte guelfa in Europa, S. 40. 62 Dazu beispielweise G. Calogero, ll fascismo e Ia filosofia, in: P. Calamandrei (Hrsg.), Questo era il fascismo, Florenz 1945, S. 27. " Dazu stellvertretend C. Barbagallo, Lenere aJohn, S. 174. 64 M. Borsa, Le responsabiliti del nazionalismo, in: Corriere d'Informazione, 24. Mai 1945. " G. Calogero, ll fascismo e Ia filosophia, S. 27 f.

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als unechtes, von den Deutschen aufgezwungenes Phänomen dargestellt, das angeblich der gesamten Tradition des Landes und den Gefühlen des italienischen Volkes zuwiderlief". Denmach war Mussolini als Sklave Berlins allein gegen die Juden vorgegangen und dabei nur von einem kleinen Häuflein Gerreuer unterstützt worden. Das italienische Volk aber habe die Maßnahmen gegen die Juden pauschal abgelehnt, sich mit den Verfolgten solidarisiert, ihnen sowohl vor als auch während des Krieges geholfen, als viele Juden vor der Vernichtungswut der Nazis gerettet wurden. Dieses Verhalten wurde als eindeutige Abgrenzung von den Deutschen gewettet sowie als Beweis für die feindselige Einstellung des italienischen Volkes zum Faschismus. Diese Auffassung wurde insbesondere von der jüdischen Gemeinde in Italien unterstützt, denn dott war man in erster Linie an einer nationalen Aussöhnung interessiert und erinnerte deshalb wesentlich eher an die grausame, nach dem 8. September 1943 begonnene Verfolgung durch die deutschen Besatzer, die den Juden nach dem Leben trachteten, als an die abscheuliche Verfolgung durch die italienischen Behörden, die sie ihrer Bürgerrechte beraubt hatten67• Als Grundlage für diese Interpretation dienten die Thesen von Eucardio Momigliano68, einem antifaschistischen Juristen jüdischer Herkunft, der in seinem 1946 erschienenen Buch ,Storia tragica e grortesca del razzismo fascista" behauptete, in Italien, einem Land mit ,tausendjähriger Zivilisation"6 9, habe es Antisemitismus nie gegeben und Mussolinis antijüdische Wende sei nichts anderes gewesen als ,die getreue Nachahmung" deutscher Verhältnisse, der vorauseilende Gehorsam eines unterwürfigen, ,den Deutschen hörigen Systems"70• ,Der Rassismus des faschistischen Regimes", so Momigliano, ,hatte nur einen Grund und ein Ziel: und zwar die Verfolgung von vierzigtausend italienischen Juden auf Befehl von Adolf Hider"71• Doch das italienische Volk habe sich, wie er lobend hervorhob, der Propaganda der Diktatur widersetzt und ,passiven Widerstand" geleistet, durch ,ausdauernde Opposition" die Durchführung der Rassengesetze unterlaufen und .im Alltag stillschweigend, oft

66 F. Focardi, Alle origini di una grande rimozione. La questione dell' antisemitismo fascista nell'Italia dell'immediato dopoguerra, in: Horizonte. Italianistische Zeitschrift für Kulturwissenschaft und Gegenwartsliteratur, 4 (1999), S. 135-170. •7 E. Collot#, ll razzismo negato, in: E. Collot# (Hrsg.), Fascismo e antifascismo. Rimozioni, revisioni, negazioni, Rom I Bati 2000, S. 355-375; G. Schwarz, Gli ebrei italiani e la memoria della persecuzione fascista (1945-1955), in: Passato e Presente, 17 (1999), 47, S. 109·130. Zu der begrifflichen Unterscheidung von .Verfolgung der Gleichheit", Verfolgung der Rechte" und Verfolgung der Leben" siebe M. Sar/at#, Gli ebrei nell'Italia fascista. Vicende, ideotita, persecuzione, Turin 2000. 68 E. Momigliano, Storia tragica e grottesca del razzismo fascista, Mailand 1946. 69 Ebd., S. 29 f. 1o Ebd., S. 54. n Ebd., S. 65. •



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mutig Solidarität bewiesen•; außerdem würdigte er den "unvergeßlichen Beitrag der Kirche" und der ganzen .ehrlichen italienischen Kultur", insbesondere von Benedetto Croce72• Für Momigliano gehörte das italienische Volk einer weitreichenden "Verschwörung des Ungehorsams" an, ein weiterer Beweis dafür, daß .es mit den Deutschen nichts gemein hatte"". Momiglianos Buch wurde von der gesamten Presse geradezu euphorisch rezensiert und inspirierte zahlreiche Journalisten und Intellektuelle zu eigenen Beiträgen74• In katholischen Kreisen rühmte man die Hilfsaktionen der kirchlichen Institutionen und der vielen "guten Christen", unterließ jedoch eine selbstkritische Betrachtung des Verhaltens des Heiligen Stuhls zu den Rassengesetzen, der eine radikale Verfolgung der Juden zwar abgelehnt hatte, nicht jedoch eine Diskriminierung aus Glaubensgriinden, und nur bereit war, sich für die Juden einzusetzen, wenn es darum ging, eigene institutionelle Interessen zu wahren (wie im Fall der Mischehen)". Auch Croce und andere führende Antifaschisten zögerten nicht, das Thema Antisemitismus für ihre polirischen Zwecke zu instrumentalisieren. Um alle Verantwortung auf die Deutschen abwälzen und dadurch bei den Friedensverhandlungen mit den alliierten Siegermächten eine bessere Behandlung Italiens erreichen zu können76, attestierten sie dem italienischen Volk-ganz im Gegensatz zum Vernichtungswahn der Deutschen- ein vorbildliches Verhalten. Zum gleichen Zweck legten auch staatliche Organe wie die Streitkräfte und das Außenministerium Beweise dafür vor, daß man in den besetzten Gebieten, z.B. in Jugoslawien, alles zum Schutz der Juden getan hatte77• Generell kann festgestellt werden, daß in Momiglianos Narrativ zwei Hauptpostulate übernommen wurden: Zum einem die These, der Antisemitismus sei den Italienern von den Deutschen aufgezwungen worden, zum anderen die These, das italienische Volk habe sich grundsätzlich anders verhalten als das deutsche. Das erste Posrulat war eindeutig falsch; denn die Geschichtsforschung hat gezeigt, daß von Berlin keinerlei Druck auf Rom ausgeübt wurde" und 72 Ebd., S. 129-132. 73 Ebd., S. 136. 74 F. Focardi, Alle origini di una grande timozione, S. 146 ff. " G. Miccoli, Santa Sede e Chiesa italiana di fronte alle leggi antiebraiche del 1938, in: Studi Storici, 4 (1988), S. 821-902. 76 Zu Croces Position siehe F. Focardi, Alle origini di una grande rimozione, S. 148150. 77

Ministero degli Affari Esteri (Hrsg.), Relazione sull'opera svolta da! Ministero Esteri per Ia tutela delle comunita ebraiche (1938-1943), Rom 1946.

degli Affari

78 R De Felice, Storia degli ebrei italianisotto il fascismo, Turin 1993 (I. Auf!. 1%1), S. 247; M. Michaelis, Mussolini e Ia questione ebraica. Le relazioni italo-tedesche e Ia politica razziale in Italia, Mailand 1982 (I. Auf!. 1978), S. 136.

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der Antisemitismus durchaus ein eigenständiges Phänomen des italienischen Faschismus war". Das zweite Postulat war irreführend, weil es nur teilweise der Wttklichkeit entsprach. Denn neben denjenigen, die die Rassengesetze ablehnten und den Juden tatsächlich halfen, gab es nämlich auch zahlreiche Italiener (darunter beispielsweise viele Intellektuelle), die den Geserzen ausdrücklich zustimmten, die diskriminierenden Maßnal!rnen des Regimes deckten und sogar davon profitierten". Außerdem führte der direkte Vergleich mit Deutschland zu einer Verharmlosung des Antisemitismus in Italien, man unterschätzte dessen Verbreitung und das Ausmaß der Verfolgung. Die Vorstellung, der faschistische Antisemitismus sei nur eine sanfte Kopie des deutschen Vorbildes gewesen, diente weitgehend der eigenen Absolution". Immerhin hatte das faschistische Italien Tausende jüdischer Mitbürger ihrer Grundrechte beraubt und aus der nationalen Gemeinschaft ausgestoßen; und später hatte das Regime der deutschen Besatzungsmacht bereitwillig geholfen, Tausende von Juden zu verhaften, und so dazu beigettagen, daß die Mehrzahl von ihnen in deutschen Vernichtungslagern endete. Das T hema Antisemitismus tangierte also nicht nur ideologische Aspekte, sondern auch die heikle Konsensfrage. Momiglianos T hese, die Rassengesetze seien in Italien allgemein auf Ablehnung gestoßen, wurde als zwingender Beweis für eine Distanzierung des Volkes vom Regime angeführt. Gleichwohl mußte die antifaschistische Führungsschicht eine Erklärung dafür finden, warum Millionen Italiener offensichdich Anhänger des Faschismus gewesen waren und ein .Menschenmeer" dem Duce auf den Plätzen des Landes zugejubelt hatte. Zu diesem Zweck mußte ein weiteres Mal ein Vergleich mit dem nationalsozialistischen Deutschland herhalten. Daraus ergab sich eine recht bequeme Sichtweise, womit schließlich die historische Wahrheit verschleiert und verzerrt wurde. Zwar wurde nicht bestritten, daß die Unterstützung des faschistischen Regimes in Italien ein Massenphänomen war, doch habe es sich dabei um .passive Zustimmung" gehandelt, denn schließlich habe man sich .durchschlagen" müssen. Viele seien aus reinem Opportunismus in die Partei eingetreten, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren oder einen neuen zu bekommen". Das 79 Dazu beispielsweise G. Israel I P. Nastasi, Scienza e razza nell'Italia fascista, Bologna 1998; R. Maiocchi, Scienza italiana e razzismo fascista, Florenz 1999; M. Sar/atti, Mussolini contro gli ebrei. Cronaca dell'elaborazione delle leggi del 1938, Turin 1994.

80 Sarfatti spricht von einer "harten Trennung in böse- Verhaftungen Vornehmende, Verräter, stillschweigende Dulder, Gleichgülrige - und anständige Italiener- aktive Helfer, Hilfsbereite, Solidarische, Gerechte", M. Sar/atti, Gli ebrei nell'Italia fascista, s. 280. 81 D. Bidussa, TI mito del bravo italiano, Mailand 1994. 82

Dazu beispielsweise

C. Barbagallo,

Letrere aJohn, S. 179-181.

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faschistische System wurde als gigantischer Korruptionsapparat hingestellt, bei dem die Italieoer zum Schein mitgespielt härteo, um zu überlebeo. Übereifrig sei nur geweseo, wer das System nutzeo wollte, um Karriere zu macheo oder sich zu bereichern. Aber selbst diese .gerarchetti" (Parteibonzeo), wie sie der Historiker Corrado Barbagallo nannte", härteo nur aus Opportunismus an deo Faschismus geglaubt, nicht etwa aus innerer Überzeugung. Anschaulich dargestellt hat dies Carlo Antoni in einer bekannteo Schrift aus dem Jahre 1943: .In Italieo ging es zu wie auf einer Galeere, wo die Masse - mit Ausnahme der gutbezahlteo Steuermänner und Peitscheoschwinger - an die Ruder gefesselt war und sehnsüchtig auf deo Untergang des Schiffes wartete, um die Freiheit wieder zu erlangen"84• Um sich noch schärfer abzugreozeo, apostrophierte man Deutschland als ein Land, das durch und durch von der nationalsozialistischeo Krankheit befalleo war: Dort glaubte man ernsthaft an die Ideale des Nationalsozialismus, und zwar aus Überzeugung, nicht aus Opportunismus. Auch in diesem Fall brachte Beoedetto Croce die Sache auf deo Punkt: Die Italieoer .spieleo" die Faschisteo, die Deutscheo .sind" Nationalsozialisteo". Diese Einschätzung wurde von dem Kommunistee Ranuccio Bianchi Bandinelli voll und ganz geteilt: .In Italieo besteht keine Gefahr, daß die Leute daran glaubeo oder sich dafür begeistern wie in Deutschland. Alle tun so, als wäreo sie Faschisteo, doch kaum einer ist es wirklich"86• Als Indikator für die Zustinunung zum Regime galt die Haltung der Jugeod. In zahlreicheo Schrifteo wurdeo die jungeo Deutscheo als kleine "teutonische Automateo" geschildert, regimetreu, blind der nationalsozialistischeo Ideologie ergeben und glüheode Anhänger der hiderscheo .Heilslehre" und ihrer abscheulichsteo Auswüchse: Kult der arischeo Rasse, Judenhaß, heidnische Rituale, eugenische Fortpflanzung. Man bezeichnete sie als Jugeod ohne Gott, wie Horvath sie in seinem berübmteo Roman beschriebeo hat", und hielt die deutscheo Jungeo und Mädcheo für die hingebungsvollsteo Bewunderer und Dieoer Hiders. Bestätigt wurde diese Auffassung durch eine Untersuchung des

" Ebd. 84 C. Antoni, Della Storia d'Italia, in: Quaderni del Movimento Liberale Italiano, 1 (1943), S. 17. Der kurze Aufsatz wurde später in dem Bäodchen: Tre saggi storid, Rom 1947, erneut abgedruckt. " B. Croce, ll dissidio spirituale della Gennania, S. 21 f.

86 R Bianchi Bandinelli, Dal diario di un borgbese e altri scritti, Mailand 1948, S. 70. Umfangreiche Auszüge aus diesem Tagebuch wutden 1945 in der von Bianchl Bandinelli gegründeten und geleiteten Zeitschrift .Sodeta" veröffentlicht. " Ö. von Horoath, Jugend ohne Gott, Frankfurt a.M. 1971 (1. Auf!. Amsterdam 1937/38). Der Roman verurteilte den moralischen Verfall der deutschenJugend unter dem Nationalsozialismus.

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Amerikaners Gregor Ziemer über das NS-Schulsystem, die in Italien großen Einfluß ausübte". Darin schilderte Ziemer die kapillare Indoktrination der jungen Generation. Da sie systematisch .zum Tod für den Führer erzogen wurde", bildete ihr Fanatismus die extremste Form der Verrohung des deutschen Volkes. Eine moralisch korrumpierte Generation, vielleicht für immer verloren. Ein mahnendes Beispiel lieferte der junge Edmund, Hauptfigur des Films "Gertnania anno zero" von Rossellini89: Als gelehriger Schüler der NS-Lehre tötet er seinen kranken Vater und begeht Selbsrmord, als er sich seiner schändlichen Tat bewußt wird. Ganz anders dagegen die italienische Situation. Die Jugend, die im Fa­ schismus aufgewachsen war, konnte man mit der deutschen Jugend nicht vergleichen. Zwar hegten zahlreiche Intellektuelle und Poliriker vor allem der älteren Generation Zweifel an denJugendlichen, die zum Mussolinikult erzogen worden waren, und hielten eine demokratische.Umerziehung" für angebracht. Dennoch waren sich alle Strömungen der antifaschistischen Bewegung darin einig, daß sich die regimefreundliche Einstellung der italienischen Jugend grundlegend von dem blinden Gehorsam und dem ideologischen Fanatismus der deutschen Jugend unterscheide. Darin trafen sich zwei unterschiedliche Positionen: Zum einen die Halrung Benedetro Croces, der rundheraus abstritt, daß es der faschistischen Propagandamaschine gelungen sei, denJugendlichen .innere Überzeugung", .ernsthaften Glauben" und .echten Enthusiasmus" einzubänunem90• Die Zustimmung sei nur oberflächlich gewesen und habe über die .Leere" in den Seelen, dem einzigen Produkt der faschistischen Erziehung, hinweggetäuscht. Die zweite Position -vertteten vor allem von der antifaschistischen Linken-sprach dagegen von einem Prozeß der .Läuterung", den vieleJugendliche während der zwanzigjährigen Herrschaft des Faschismus durchlaufen hätten: von anfanglieh glühender Begeistertmg über eine zunehmend kritische Distanzierung bis zur politischen und kulturellen Opposition. Dabei handelte es sich um jene .lange Reise durch den Faschismus", wie sie von 88 G. Ziemer, Educazione alla morte. Come si crea un nazista, London 1944. Darin schilderte Ziemer das Erziehungssystem des Nationalsozialismus und verarbeitete dabei die Ergebnisse einer Umfrage, die er selbst als Direktor der Amerikanischen Schule in Berlin vor dem Krieg in deutschen Schulen durchgeführt hatte. Das Buch fand in allen Ländern mit allüerter Propaganda Verbreinmg. In Italien wurde es von der Tagespresse oft erwälmt und häufig rezensiert. Unter anderem von Cesare Luporini, in: Societa, 1 (1945), S. 3; Riccardo Bauer, in: Realta Politica, 1 (20. Dezember 1944), 1, S. 21 f.; Mario Bendiscioli, in: Humanitas, 2 (Juni 1947), 6, S. 649-651.

" Der Film wurde 1947 im ausgehungerten, zerstörten Berlin gedreht und erzählt die Geschichte des kleinen Edmund, der alles tut, um das Überleben seiner Familie zu sichern. Auf Anraten eines Ex-Nazis beschließt Edmund, seinen schwerkranken Vater, der als Belastung der Familie gilt, mnzubringen. Von Gewissensbissen geplagt, btingt er sich schließlich selbst um. "' B. Croce, La gioventii italiana, in: Risorgimento Liberale, 25.Juni 1944.

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Ruggiero Zangrandi meisterhaft beschrieben wurde", aber auch zuvor schon von maßgeblichen Stimmen wie dem Schriftsteller Elio Vittorini92 und der kommunistischen Zeitschrift "Rinascita "" analysiett worden wat. Gerade weil sie an den Faschismus als soziale Revolution geglaubt hatten, wie es ihnen von ihren Lehrern im Schwarzhemd eingebleut worden wat, erkannten viele junge Fasebisten mit der Zeit, daß man sie hintergangen hatte, distanzietten sich vom Regime und wechselten nicht selten in die Reihen der Antifaschisten und des Widerstands. In Wttklichkeit waren diese Jugendlichen keine Faschisten, sondern, wie Vittorini es ausdrückte, "Antifaschisten auf faschistische Art"94• Diese Interpretation spiegelte nur einen Teil der Wirklichkeit und ver­ schleierte die andere Hälfte, den Umstand nämlich, daß Tausende von Jugendlichen weiterbin an den Faschismus geglaubt und sich deshalb in der Republik von Salo engagiert hatten. Bei genauer Betrachtung erweist sich, daß dieser Einschätzung zwei politische Absichten zugrunde lagen: Einerseits der Wunsch vieler Intellektueller und politischer Exponenten des Antifaschismus (darunter auch Vittorini), die eigene Verstrickung in den Faschismus und die Fehler der Vergangenheit zu verdrängen; andererseits die Entscblossenheit der antifaschistischen Kräfte, vor allem der Kommunisten, alles zu tun, um die junge Generation für sich zu gewinnen. Daher auch die vielen, häufig autobiographischen Berichte über den individuellen "politisch-moralischen Lernprozeß vom Konformismus zut Opposition•, wie Enzo Santatelli es genannt hat". Nach beinahe einmütiger Auffassung wat diese Generationserfahrung nur möglich geworden, weil die antifaschistischen Lehren eines Croce und zahlloser von Croce beeinflußter Lehrer auch unter der Diktatur dafüt gesorgt hatten, daß der Funke des kritischen Geistes nicht erlosch, und der jungen Generation n R Zangrandi, TI lungo viaggio attraverso il fascismo. Contributo alla storia di una generazione, Turin 1948. 92 E. Vitton'ni, Fascisti i giovani?, in: TI Politecnico, 2 (5. Januar 1946), 15. "Ai gi.ovani", in: Rinascita, 1 (1944), 2; C. Negarville, Una generazione influenzata da! fascismo, ebd., 2 (1945), I; darin wird behauptet, daß die Kommunistische Partei sogar dieJugendlieben in den faschistischen Organisationen erfolgreich beeinflußt habe. D. Lajolo, La rivolta dei giovani, ebd., 3 (1946), 1-2; dabei handdt es sieb wn eioen Auszug aus "Classe 1912" von Lajolo, der als Jugendlicher Faschist war und sich später in der Kommunistischen Partei engagierte. S. Totzi, Esperienze di un giovane sotto il fascismo, ebd., 3 (1946), 7; ders., La personalita dd giovane durante il fascismo, ebd., 4 (1947), 8. 93

94 E. Vittorini, Fascisti i giovani? Zwn Übergang der jungen Generation, insbe­ sondere der Intellektuellen, vom Faschismus in den Postfaschismus siehe den wichtigen Aufsatz von L. Mangoni, Civilti della crisi. Gli intellettuali tra fascismo e antifascismo, in: Storia deii'Italia repubblicana, Bd. 1: La costruzione della democrazia. Dalla caduta dd fascismo agli aoni cioquaota, Turin 1994, S. 617 f. " E. Santarelli, ll lungo viaggio, in: Lo stato Moderoo, Bd. 5: 5.-20. August 1948, 15-16, s. 344 f.

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den Keim zukünftiger Rebellion eingepflanzt hatten. Die zunächst nur innerliche Distanzierung vom Faschismus wurde manifest, als sich das Regime durch abstoßende politische Maßnalunen wie das Bündnis mit Hider-Deutschland, die Einführung der Rassengesetze und schließlich die katastrophale Kriegserfahrung selbst endarvte. Im Gegensatz zu den jungen Deutschen, die bis zum Schluß .perfekte" Nazis blieben, hatten die jungen Italiener also Kritikfähigkeit und Umsicht an den Tag gelegt. In seiner Rezension des Buches von Ziemer über das unmenschliche Erziehungssystems in Deutschland schrieb De Ruggiero: .Auch bei uns hat man Ähnliches versucht, aber mit weitaus geringerem Erfolg, denn weder glaubten die Erzieher an ihre Mission, noch waren die Zöglinge deratt formbar"%. Weitere Anhaltspunkte für die Annalune einer grundlegenden Differenz zwischen beiden Ländern, wie man sie in der Einstellung der Jugend und analog - in der Einstellung der beiden Völker zum Regime ausgemacht hatte, lieferten die Umstände, unter denen die beiden Systeme ihr Ende fanden. In Italien hatte sich ein breiter antifaschistischer Widerstand formiert, der schließlich am 25. April zur Befreiung des Landes führte, während in Deutschland das Volk - zumindest augenscheinlich - treu zu seinem Führer stand, trotz der erdrückenden Übermacht der Feinde erbitterten Widerstand leistete und schließlich den .Nibelungentod" des Dritten Reiches erlebte. Die antifaschistischen Kräfte stellten ihren Kampf gegen Nationalsozialismus und Faschismus, den sie nach dem 8. September begonnen hatten, als nationalen Befreiungskrieg dar, an dem sich angeblich das ganze italienische Volk beteiligt hatte, weil es nun nach zwanzigjähriger Nötigung endlich seine wahren Gefiihle äußern konnte". Hatte diese Selbstdarstellung während des Bürgerkriegs gegen die Republik von Salo in erster Linie die Funktion, ideologische und militärische Ressourcen zu mobilisieren, so erhielt sie unmittelbar nach Kriegsende neuen Auftrieb durch das politische Legitimationsbedürfnis einzelner Strömungen der Resistenza und durch das gemeinsame Interesse, den italienischen Beitrag zum Sieg der Alliierten diplomatisch aufzuwerten. Auf jeden Fall führte dies zu einer ungenauen und irreführenden (vor allem politisch motivierten) Beurteilung, da nun so getan wurde, als sei das italienische Volk von Aufang an gegen den Faschismus gewesen und hätte sich als ganzes am Widerstand beteiligt. Im Gegensatz dazu nalun man die Modalitäten des Zusammenbruchs des Dritten Reiches zum Anlaß, das deutsche Volk wegen seiner fanatischen Nazigläubigkeit in Bausch und Bogen zu verurteilen. % g.d.r. [höchstwahrscheinlich Guido De Ruggiero, Philosoph und Co-Direktor der Zeitschrift], Educazione alla morte, in: La Nuova Europa, 1 (31. Dezember 1944), 4. 'Tl F. Focardi, Memorie di guerra. La memoria della guerra e della Resistenza nei discorsi commemorativi e nel dibattito politico italiano (1943-2001), in: Novecento, 5 (2001), s. 91-128.

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Diese gnadenlose Verurteilung führte dazu, daß ausgewogenere, objektivere Überlegungen über das Verhältnis der Deutschen zum Nationalsozialismus, die es zuvor sehr wohl gegeben hatte, in Vergessenheit gerieten. Denn trotz der scharfen Abgrenzung von Nationalsozialismus und Faschismus hatten die italienischen Antifaschisten ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, es möge ein .anderes Deutschland" existieren, ein demokratisches Deutschland, "nicht Komplize, sondern Opfer des Nationalsozialismus" (so die Formulierung von Pietro Nenni)". Führende Vertteter des Antifaschismus, vor allem der Linken, hatten schon mehrfach mahnend darauf hingewiesen, auch in Deutschland müsse man zwischen Volk und Regime unterscheiden". Deshalb hatte man auch die These von der .Kollektivschuld", wie sie die Großmächte formuliert hatten, zurückgewiesen Ich glaube weder an die Kollektivverantwortung noch an eine kriminelle Disposition der Völker""JO, schrieb Nenni, der im März 1945 nicht gezögert hatte, den Entwurf einer .Deutschland-Erklärung" der Sozialistischen Internationale abzulehnen, weil er das deutsche Volk mit dem Stigma der Kollektivschuld belegte101• Allerdings hatte das Vertrauen in die Deutschen eine Bedingung: Es beruhte auf der Überzeugung, daß sie sich selbst befreien würden. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitlet am 20. Juli 1944 schien eine solche Selbstbefreiung kurz bevorzustehen. Zwar wurde von StaufEenbergs Anschlag als Versuch des alten Establishments eingestuft, "noch zu retten, was zu retten war", aber auch als Startsignal für einen allgemeinen Aufstand gegen den Nationalsozialismus, von dem man glaubte, daß er nun beginnen würde102• Die Tatsache, daß das Dritte Reich schließlich ohne jeden Volksaufstand zusammenbrach, führte zu einer großen Enttäuschung in den antifaschistischen Reihen. Durch den direkten Vergleich mit Italien, wo die Partisanen aktiv an der Beendigung des Krieges sowie der Bestrafung Mussolinis und zahlreicher faschistischer Parteiführer mitgewirkt hatten, hatte die Glaubwürdigkeit des .anderen Deutschland" stark gelitten und die urspriingliche Unterscheidung von Volk und Regime geriet bald in Vergessenheit. Niemand achtete damals darauf, daß die Bedingungen, unter denen sich der Zusammenbruch der beiden Systeme vollzog, doch recht verschieden waren, niemand dachte an die unterschiedliche Macht der Repressionsapparate oder daran, daß der Nationalsozialismus alle politischen Gegner von Anfang an gewaltsam verfolgt und vernichtet hatte. Außerdem war eine nüchterne Betrachtung zu diesem Zeitpunkt fast unmöglich. Wegen seiner Antriebsschwäche schien das deutsche Volk in den Augen der Italiener mitschuldig an den Verbrechen der Nationalsozialisten. . •

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P. Nenni, Capitolazione senza condizioni, in: Avanti!, 18. Januar 1945.

,. F. Focardi, I:Italis antifascista e Ia Gennania (1943-1945), in: Ventesimo Secolo, 5 (1995), 13, s. 121-155. 1oo P. Nenni, Capitolazione senza condizioni. 101 P. Nenni, DifficoltS. dell'lnternazionale, in: Avanti!, 17. März 1945. 102 F. Focardi, La Gennania vista dall'Italia, S. 437-444.

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Deshalb konnte sich die These von der "Kollektivschuld" der Deutschen bei den italienischen Antifaschisten rasch durchsetzen103 und gewann auch in der öffentlichen Meinung zunehmend an Boden, insbesondere als nach Kriegsende die nationalsozialistischen Verbrechen ans Tageslicht kamen und über die Vernichtungslager berichtet wurde. Weitere Bestätigung fand die seit Croce gängige Unterscheidung zwischen Nationalsozialismus und Faschismus durch bekannte ausländische Autoren wie beispielsweise den amerikanischen Joumalisten Herbert Mattbews und die Arbeiten von Emil Ludwig ("Die moralische Eroberung Deutschlands") und Wilhelm Röpke ("Die deutsche Frage") über die Probleme des demokratischen Wiederaufhaus in Deutschland. Dabei fiel vor allem ins Gewicht, daß zwei renommierte Deutsche wie Ludwig, damals ein bekanntetJoumalist, und Röpke, der neben Keynes zu den einflußreichsten Ökonomen zählte, die Einschätzung der italienischen Antifaschisten teilten. Beide betonten die unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen der beiden Diktaturen (Latinität, Renaissance und liberales Risorgimento in Italien; "heidnisches Barbarenturn" und Preußenturn in Deutschland), die Unterschiede im Nationalcharakter (individualistisch und freiheitsliebend die Italiener, Hang zu Unterordnung und Gehorsam bei den Deutschen) und die Unterschiede zwischen Mussolini und Hider. Als eindeutiges Unterscheidungsmerkmal führten sie vor allem die verbrecherischen Auswüchse ins Feld, zu denen der Rassenwahn im Dritten Reich geführt harte. Obwohl beide Systeme, wie Röpke schrieb, die Form .totalitärer Tyrannei" annahmen, erreichte das NS-Regime doch eine "viel extremere, weit abstoßendere Stufe"104• Tatsächlich bezeichnete Röpke den Nationalsozialismus als .totale Auflösung aller Nonnen und Werte", als eine Form von "Satanismus" und "Nihilismus", als .totale Herrschaft der Gewalt""". Diese Ausführungen griffen tatsächliche Unterschiede zwischen deutschen und italienischen Erfahrungen auf und stützten damit die italienische Sicht­ weise, die ja gerade von einem grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Diktaturen und den Verhaltensweisen der beiden Völker ausging. Zweifellos hat es historisch gesehen viele Unterschiede zwischen Faschismus und Nationalsozialismus gegeben, und viele dieser Unterschiede sind in der italienischen Debatte klar und deutlich benannt worden. Entscheidend ist jedoch die Rolle, die dem Vergleich Faschismus/Nationalsozialismus in Italien zukam. Um den Faschismus zu beurteilen, zog man den Nationalsozialismus als negatives Vergleichsmodell, als quasi idealtypische Ausformung des Totalitarismus heran, 103 J. Petersen, La Resistenza tedesca vista dall'Italia: il giudizio dei contemporanei e degli storici,in: C. Natoli(Hrsg.), La resistenza tedesca 1933-1945,Mailand 1989, S. 254265. 104 W. Röpke, Die deutsche Frage, 3. Auf!., Erlenbach I Zürich 1948. 1oo Ebd.

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der auf drei, zu Axiomen erhobenen Grundelementen beruhte: uneingeschränkter Massenkonsens und Treue zum Führer; bedingungslose Gefolgschaft bei der Umsetzung von Rassenideologie und Antisemitismus; wahllose Anwendung barbarischer Gewalt nach Innen wie nach Außen. Der italienische Faschismus wurde nach dem Grad der .Abweichung" vom nationalsozialistischen Modell beurteilt. Daher rührte auch die nachsichtige Darstellung der italienischen Verhältnisse: der Massenkonsens wurde unterschlagen oder verwässert (die Italiener waren keineFasebisten oder höchstens zum Schein); der Gewaltfaktor wurde, vor allem im Hinblick auf Mussolinis Außenpolitik und Kriegführung, 06 drastisch heruntergespielt (.der gute Italiener" gegen den "bösen Deutschen"1 ); die kulturelle und ideologische Dimension des Regimes wurde geleugnet; die Figur des Duce wurde ins Lächerliche gezogen und ein Antimythos aufgebaut, eine Art negatives Abziehbild des Mussolini-Mythos, den das Regime zwanzig Jabre lang kultiviert harte. Eine derartige Darstellung, die im Wesentlichen auf einem Vergleich ntit dem Nationalsozialismus beruhte, diente in erster Linie politischen Zwecken: Um dem Land einen .Straffrieden" zu ersparen, mußte die antifaschistische Führung dafür sorgen, daß deutsche und italienische Verantwortlichkeiten klar voneinander abgegrenzt wurden. Außerdem legten einzelne Strömungen aus Grüoden der Selbsdegitimation großen Wert darauf, die Kontinuität des antifaschistischen Kampfes von der faschistischen Machtübernahme bis zur Grüodung der Widerstandsbewegung zu betonen. Gerade weil die Frage der Massenloyalität unter diesem Aspekt eine Schlüsselstellung einuabm, wurde sie derart heruntergespielt, daß ihre Existenz schließlich ganz geleugnet wurde. Zeitgleich ntit den Antifaschisten arbeiteten auch die Postfaschisten an ihremFaschismusbild. Letzteres basierte in erster Linie darauf, daß der gesamte Faschismus auf die Person Mussolinis reduziert wurde, den man überdies noch .zum banalen Privatmann" schrumpfen ließ107• Diese Form der Banalisierung kreiste um ein romanhaft, nostalgisch verklärendes Bild des Duce, das nicht den Politiker zum Gegenstand hatte, sondern den Privatmann. Im Zentrum stand dabei .das Cliche des gnten Mussolini als fürsorglicher Ehemann, aufmerksamer Vater, liebevoller Großvater und hingebungsvoller Staatsmann, der stets bereit war, sich für seine Italiener aufzuopfern""'. Für die Presse war das unntittelbar nach Kriegsende ein gefundenesFressen, eifrig fügre man dem Groschenroman .Benito" immer neue Kapitel hinzu, brachte pausenlos mehr oder weniger zuverlässige Neuigkeiten, Augenzeugenberichte und Rekonstruktionen über 106 F. Focardi, "Bravo italiano" e "cattivo tedesco": riflessioni sulla genesi di due immagini incrociate, in: Storia e Memoria, 5 (!9%), 1. S. 55-83. 107 A. Campi, Mussolini, Bologna 2001, S. 44. 1oa S. Lu:aato, ll corpo del duce, S. 228.

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das Privadeben des Duce und seiner Entourage109, und produzierte damit ein Mussolinibild, das im Massenbewußtsein tiefe Spuren hinterließ. Als Hauptinterpret der postfaschistischen Sichtweise muß zweifellos Indro Montanelli angesehen werden. Vom Erscheinen seines Buches .TI buonuomo Mussolini" im Jabre 1947 bis zu seinen letzten Artikeln über den Faschismus, die in seiner Kolumne im "Corriere della Sera" erschienen, hat Montanelli stets das Bild einer Diktatur entworfen, die im Grunde gutmütig und patemalistisch war, um einen Mussolini kreiste, der wie kein anderer die Schwächen und Tugenden des italienischen Volkes verkörperte (.Mussolini, der Erzitaliener") und deshalb ein Regime errichten konnte, das .ein Abbild" des Landes war, mit viel Sinn für Rhetorik und theatralische Auftritte, dafür um so weniger Sinn für Repression und Gewalt. Diese Interpretation kam den psychologischen Bedürfnissen weiter Bevölkerungskreise, vermutlich der Mehrheit, entgegen, die ihre eigenen Schuldgefühle abschütteln wollten und nichts anderes im Sinn hatten, als das traumatische Erlebnis, den plötzlichen kläglichen Zusammenbruch der Ideale, an die sie doch fest geglaubt hatten, möglichst schnell zu vergessen110• Indem man die antifaschistische Version, daß kein Italiener wirklich Faschist war, einfach umkehrte, konnte man ohne schlechtes Gewissen behaupten, jeder sei Faschist gewesen, weil der Faschismus ja im Grunde gar nicht so verwerflich war. Man ging sogar soweit, ihm ganz unverblümt einige positive Seiten abzugewinnen. Erstens hatte er nach dem Chaos der ,zwei roten Jabre" die Autorität wiederhergestellt und die staatlichen Institutionen wieder funktionsfähig gemacht. Zweitens hatte er, wie es noch heute im Volksmund heißt, für Ordnung gesorgt: die Züge fuhren pünktlich, öffentliche Gebäude wurden planmäßig fertiggestellt, es herrschten Ruhe und Ordnung und selbst die Pantinischen Sümpfe wurden urbar gemacht. Obwohl sie die Wirkungskraft des Regimes und die Loyalitätsfrage durchaus unterschiedlich beurteilten, waren sich Antifaschisten und Postfaschisten doch in einem Punkt einig: dem Rückgriff auf den Vergleich mit dem Na· tionalsozialismus. Daraus ergaben sich wichtige Berührungspunkte in der Einschätzung des Faschismus. In diesem Zusammenbang kann man noch eimnal auf die Ausführungen von Montanelli zurückgreifen. Denn die Faktoren, die in antifaschistischen Kreisen in der Scblußphase des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Abgrenzung vom Nationalsozialismus angeführt wurden, ziehen sich wie ein roter Faden durch Montanellis gesamtes Werk. Noch in den 109 A. Campi, Mussolini, S. 42-48. Der Begriff "Roman über Benito" stanunt von Renzo De Felice. 110 Luzzato erklärt Montanellis Erfolg mit .seiner Fähigkeit, sich quasi als ,schiech· tes Gewissen Italiens' an die Italiener zu wenden, die Faschisten waren, es nicht mehr sein wollten, aber sich auch nicht dafür schuldig fühlen wollten, daß sie es waren", S. Luzzato, ll corpo del duce, S. 125. Dazu siehe auch A. Campi, Mussolini, S. 44 f.

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neunziger Jahren wärmte er die alten Positionen in seiner Leserbriefkolumne im Corriere della Sera" wieder auf: Er sprach dem faschistischen Regime jede ideologische und kulturelle Kohärenz abm; er leugnete jede Form von Rassismus und Antisemitismus in Italien und behauptete, diese seien Mussolini von seinem deutschen Verbündeten aufgezwungen worden112; er behauptete, Italien sei in keiner Weise am Holocaust beteiligt gewesen113; er weigerte sich, Gewalrverbrechen seitens des faschistischen Regimes zuzugeben (dazu siehe auch die polemische Auseinandersetzung mit Dei Boca über den Einsatz von Giftgas in Äthiopien, den Montaoelli hartnäckig leugnete)114, und schilderte Mussolini als gutmütigen Diktatot; dem es nie in den Sinn gekommen wäre, Gewalt als Repressionsmittel einzusetzen; ein .Demagoge und Schariatao" sei er vielleicht gewesen, keinesfalls jedoch so "blutrünstig" wie Hitlet und Stalinm, womit er, wie wir bereits gesehen haben, die Grundelemente der Gegenüberstellung von Führer und Duce wiederaufoahm, wie sie von antifaschistischer Seite in der frühen Nachkriegszeit entwickelt worden waren. •

Die Tatsache, daß die faschistische Vergangenheit in antifaschistischen Kreisen immer nur im Hinblick auf den Nationalsozialismus interpretiert wurde, hat dazu geführt, daß relevaote Aspekte des Regimes (ideologische Dimension, Konsens der Bevölkerung, Antisemitismus und Kriegsverbrechen) gar nicht thematisiert wurden. Zweifellos hat dieser Umstaod die öffentliche Meinung und das kollektive Bewußtsein allgemein beeinHußt und damit den Weg bereitet für eine umfangreiche Verbreitung der postfaschistischen Theorien, die einer grundlegenden Entlastung und radikalen Selbstabsolution das Wort redeten. Bestärkt wurde diese Tendenz durch die historischen Analysen von Renzo De Felice. Wie Giaopasquale Saotomassimo zutreffend ausführte, .staod und fiel De Felices gesamtes Gedankengebäude" mit dem Vergleich Italien·Deutschlaod, wobei die Unterschiede und Besonderheiten der beiden Regime soweit auf 116• die Spitze getrieben wurden, daß es zu einer "vollständigen Spaltung" kam 111 I. Montane/li, La cultura fascista? ,.Un tubo vuoto", in: Corriere della Sera, 6. September1997; neu abgedruckt in: ders., Le stanze. Dialoghi con g]i italiani, Mailand 1998, s. 175 f. 112 I. Montanelli, ,.ll razzismo e roba da biondi" mi disse Mussolini, in: Corriere della Sera, 2. April1997; ders., Una Auschwitz italiana e pruprio ininunaginabile, ebd., 13. April1997 (neu abgedruckt in: ders., Le stanze, S. 50·52). 11 3 I. Montane/li, Una Auschwitz italiana. 11' Zur Polemik Montanelli·Del Boca siebe A. Dei Boca, I gas di Mussolini. ll fascistno e Ia guerra d'Etiopia, Rom19%, S. 28·33. m I. Montanelli, Mussolini? Demagogo e ciarlatano ma non sanguinario. In: Corriere della Sera, 10. November 1998 (neu abgedruckt in: ders., Le nuove stanze, Mailand 2001, s. 199 f.). 11' G. Santomassimo, ll ruolo di Renzo De Fellce, in: E. Collotti (Hrsg.), Fascistno e antilascismo, S. 424 f.

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Methodisch ging De Felice folglich ebenso nach dem Interpretationsmodell Vergleich-Abgrenzung vor, wie es von den Antifaschisten in der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelt und dann von einer breiten postfaschistisch orientierten Öffentlichkeit verinnerlicht wurde. Als Hauptdifferenzpunkt hob er den Antisemitismus hervor und erneuerte damit den altbekannten Gegensatz vom .menschlichen Antlitz" des Faschismus und dem finsteren, verbrecherischen Gesicht des Dritten Reiches. Sein großer Erfolg in Presse und Fernsehen, der eine wahre "vulgata defeliciana" hervorbrachte, beruhte im wesentlichen auf diesem Faktor117• Zu Recht hat Santomassimo darauf hingewiesen, daß diese Vulgata das Faschismusbild des Durchschnittsitalieners bediente'", der bereits an die - moralisch endastende - Abgrenzung von NS-Deutschland gewöhnt war. Dabei wurde Mussolini als geschickter Diplomat hingestellt, der zwischen den verschiedenen Seelen der Partei ebenso zu vermitteln verstand wie zwischen den verschiedenen nationalen und internationalen Mächten, jedoch ohne langfristiges politisches Programm, das mit den Vorstellungen des .Führers" von Weltherrschaft und Rassenreinheit vergleichbar gewesen wäre; der totalitäre Charakter des Faschismus wurde abgelehnt, im Vergleich zum .echten Totalitarismus" nationalsozialistischer und sowjetischer Prägung; der faschistische Antisemitismus wurde verbannlost und jegliche Verantwortung für die Ermordung der italienischen Juden geleugnet; der aggressive Charakter der italienischen Außen- und Kolonialpolitik wurde verharmlost; im Rahmen der Debatte, die sich Mitte der siehziger Jahre nach der Veröffentlichung der .Intervista sul fascismo" entspann, wurden all diese Elemente von den Print­ und Medienjournalisten hegietig aufgenommen und verbreitet. Seither haben echte .Mulrimediakünsder" wie Giordano Bruno Guerri, Arrigo Petacco und Antonio Spinosa, ihres Zeichens Vielschreiber, Ausstellungs­ kuratoren und Femsehherater, hingebungsvoll daran gearbeitet, dem großen Publikum eine simplifizierte Version des Faschismus vorzusetzen, die sich auf De Fellces Positionen berief und sich mehr oder weniger offen an der Kontrastierung von Faschismus und Nationalsozialismus orientierte'". Man wiederholte das altbekannte Narrativ vom rhetorisch großtuerischen, aber bannlosen .Regime der Italiener"; kein .stahlharter Totalitarismus" nach deutschem Vorbild, sondern ein autoritäres System im Schwarzhemd, das dank 117 Ein weiterer entscheidender Punkt für seinen Erfolg war, daß er in all seinen Arbeiten die Rolle von Antifaschismus und Resistenza stark relativierte, was zu einer .politischen Funktionalisierung" seiner Thesen führte. Zur Herausbildung einer "volgata defeliciana" siebeN. Tranfaglia, Fascismo e mass media: dall'intervista di De Felice agli sceneggiati televisivi, in: Passato e Presente, 3 (1983), S. 135-148;N. Gallerano, Critica e ctisi del paradigma antifascista, in: Problemi del Socialismo, (1986), 7, S. 106-133. us G. Santomassimo, TI ruolo di Renzo De Felice, S. 417. 119 Zur Rolle von Guerri, Petacco und Spinosa siehe die in Anm. 117 zitierten Artikel von Tranfaglia und Gallerano.

Die Unsitte des Vergleichs

.kritischer Faschisten" wie Grandi oder Bottai, die den Faschismus liberalisieren wollten, angeblich sogar einige positive Modernisierungseffekte zuwege brachte; und mittendrin Mussolirti, dem .der Rassismus eigentlich widerstrebte", der jedoch von Hitler genötigt wurde, .die Italiener jüdischer Herkunft ihrer gesetzlich verbrieften Rechte zu berauben"120• Mit Vorliebe schildette man das Regime als Schauplatz für Liebesabenteuer und lnttigen, ein Regime, das nur deshalb zugrunde ging, weil Mussolini dem diabolischen Einfluß des Führers erlag und sich schließlich mit Deutschland verbündete, um die ruhmreiche Weltherrschaft mit ihm zu teilen121• Allerdings distanziette sich De Felice später von dieser Art der Darstellung in den Massenmedien. Darüber hinaus hat er in weniger bekannten Beittiigen, auf die Emilio Gentile hingewiesen hat122, seine Beutteilung des Mussolirti­ Regimes grundlegend revidiert. In diesem Zusammenhang hob er den totalitären Charakter des Faschismus hervor und verwies auf die Notwendigkeit, .abstrakte Modelle, deren Totalitarismusbegriff allein anband von Nationalsozialismus und Stalinismus gewonnen wurde", zu überwinden123• Vielmehr müsse man .die politische Evolution des italienischen Faschismus und die ihm zugrunde liegende Kultur konkret" erforschen, um .einen Totalitarismusbegriff zu enrwickeln, der die Wirklichkeit des Faschismus abdeckt"124• Trotz dieses wichtigen methodischen Einwands hat sich die .Unsitte des Vergleichs" in Italien eingebürgett und eine ernsthafte Aufarbeitung des Faschismus verbinden. Und nicht nur das. Während die eigene Vergangenheit völlig unkritisch gesehen wird, neigt die italienische Öffentlichkeit gleichzeitig dazu, den Deutschen vorzuhalten, daß sie sich mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit nicht hinreichend auseinandersetzen würden. In den achtziger und neunziger Jahren wurden diese Vorwürfe wiederholt vorgetragen: zunächst im Kontext des sogenannten Historikerstreits, d.h. der 1986/87 entbrannten uo A. Spinosa, Alla corte di Mussolini. Capitani d'industria, avventurieri, belle donne e massaie rurali, Mailand 2000. Im Übrigen beschränkt sich Spinosa darauf, die Thesen seines vorigen Buches zu wiederholen, ders., Mussolini razzista riluttante, 1994, das 2000 von Mondadori wieder aufgelegt wurde. 1 Diese Interpretation findet sich in vielen Fernsehdokumentationen, wie z.B. in 21 "Turti gli uomini del duce" von Nicola Caracciolo, die unter fachlicher Mitarbeit von De Felice entstand und 1982 von der RAI ausgestrahlt wurde. Dazu siehe G. Crainz, I progtammi televisivi sul fascismo e Ia Resisterua, in: E. Collotti (Hrsg.), Fascismo e antifascistno, S. 463-491. 122 E. Gentile, Renzo de Felice. Lo storico e i l personaggio, Rom I Bari 2003, S. 107111. w Ebd., S. 109. Zitiert nach R De Felice, Le fascisme. Un totalitarisme a Ia italien­ ne?, Paris 1988. 124 E. Gentile, Reruo De Felice, S. 108. De Felices Ausführungen stanunen aus einem Vortrag, den er 1982 auf einer Tagung in Florenz gehalten hat; abgedruckt in: Ideazione,Juli!August (2000), S. 192-203.

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Debatte über Ernst Noltes These vom "ursächlichen Zusammenhang" zwischen Gulag und Auschwitz, dann anläßlich der Polemik über den .Fall Jenninger" im Jahre 1988 und schließlich anläßlich der Veröffentlichung von Goldbogens Buch .Hiders willige Vollsttecker" in Italien im Jahre 1997w. Fast einhellig stellten die Kommentatoren der linken Presse Noltes extreme Positionen auf eine Ebene mit denen anderer .revisionistischer" Historiker wie Stiirmer, Fest, Hiligrober und Hildebrand und warfen ihnen in Bausch und Bogen vor, die Verbrechen des Nationalsozialismus, die mit denen Stalins verglichen wurden, entschuldigen oder gar leugnen zu wollen 126• Manche Kommentatoren zögerten nicht, die Übereinstimmung dieser Positionen mit der mutmaßlichen Einstellung der Deutschen zu behaupten, denen man vorwarf, der eigenen Schuld gleichgültig gegenüber zu steheniZ7. In dieser Hinsicht bezeichnend waren die Reaktionen von italienischer Seite auf die Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger anläßlich des 50. Jahrestages der sogenannten .Reichskristallnacht" am 10. November 1988. Nachdem man Jenninger zunächst vorgeworfen hatte, er habe den Judenbaß seiner Landsleute gerechtfertigt, bildere sich bald darauf eine breite Pro-Jenninger-Front, die den CDU-Abgeordneten lobte, weil er den Mut aufgebracht habe, die antisemitischen Verstrickungen des deutschen Volkes zu analysieren128• Gerade deshalb sei er in Deutschland auf entrüstete Kritik gestoßen, denn er habe, so Mario Pirani und Barbora Spinelli, den Deutschen ein "mißliebiges Spiegelbild" vorgehalten und sie mit der unbequemen Wahrheit konfrontiert, daß sie sich durch ihre Loyalität zum NS-Regime eine Mitverantwortung an den abscheulichen Verbrechen des Nationalsozialismus aufgebürdet hätten129• Mit dieser Interpretation wurde die urspriingliche Begriindung für die Kritik auf den Kopf gestellt, denn in Deutschland wurde Jenninger (vor allem von Sozialdemokraten und Griinen) vorgeworfen, den Nationalsozialismus nicht eindeutig genug verurteilt zu haben und mit dem Verhalten der Deutschen zu nachsichtig umgegangen zu sein. Bezeichnend war auch die Rezeption von Goldbogens Bestseller'". Obwuhl das w Dazu vgl. F. Focardi, I:ombra del passaro. I tedeschi e il nazismo nel giudizio italiano dal1945 a oggi. Un profilo critico, in: Noveceoto (2000), 3, S. 74 ff. 126 Die Hauptbeiträge der deutschen Diskussion erschienen in Italien in: G.E. Rusconi (Hrsg.), Germania: un passato ehe non passa. I crimini nazisti e l'identit3. te­ desca, Turin 1987. 127 Vgl. dazu F. Focardi, l:ombra del passato, S. 74. 12s Ebd., S. 77 f. 12' Dazu ausführlich M. Pirani, ll fascino del nazismo. ll caso Jenninger: una pole­ mica sulla sroria, Bologna 1989. Darin findet sich auch eine ausführliche Darstellung der italienischen und internationalen Beiträge zum Thema. 13° Eine detaillierte Rekonstruktion findet sich bei]. Petersen, Holocaust und Gold­ hagen-Debatte in Italien, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 77 (1997), S. 489-4%.

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Buch in Italien im Vergleich zu anderen Ländern (außer in Deutschland und Israel u.a. auch in den USA) weit weniger diskutiert wurde, erzielte es doch hohe Verkaufszahlen131, ein Zeichen dafür, daß sich das italienische Publikum durch Goldhagens Thesen in .seinem unverrückbaren Glauben""' bestätigt sah, das deutsche Volk sei durch und durch antisemitisch gewesen und trage daher die Kollektivschuld an der Ermordung der Juden. Bezeichnend ist vor allem die Meinung vieler italienischer Kommentatoren, Goldhagen sei in Deutschland deshalb so erfolgreich, weil er in verschiedenen Interviews seine Ansicht bekräftigt hatte, nach Kriegsende habe Deutschland endgültig mit seiner antisemitischen Vergangenheit gebrochen"'. Damit hätten die Deutschen ihr Gewissen .erleichtert", vor allem die jüngere Generation, die nur danach trachte, daß man sie endlich in Ruhe lasse und mit den Erinnerungen an den Nationalsozialismus verschone. Derartige Positionen zeugen von hartnäckigen Vorurteilen gegen die Deutschen und einer weitverbreiteten Unkenntnis der tiefgreifenden, leidvollen .Abrechnung" mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die aufBetreiben der 68er-Generation in Deutschland eingesetzt hatte und nach Ausstrahlung der Fernsehserie .Holocaust" 1979, die einen neuen Schub anBewußtwerdung .freisetzte"134, intensiv weitergeführt wurde. Sicherlich handelt es sich dabei um einen Prozeß, der niemals definitiv abgeschlossen werden kann, stets die Gefahr von Unterbrechungen und Rückfällen birgt (wie die heftigen Auseinandersetzungen um die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zeigen). Dennoch steht außer Zweifel, daß die Deutschen entschiedene Anstrengungen unternommen haben, um sich mit den Schattenseiten ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, und dabei ein Bewußtsein ihrer Vergangenheit entwickelt haben, das in Italien seinesgleichen sucht. Dennoch hat die Faschismus-Forschung auch in Italien in den letzten Jahren bedeutende Pottschritte gemacht und zwar sowohl die Richtung, die sich der antifaschistischen Kultur verbunden fühlt, als auch die De Felice-Schule.Bereits in den siebziger Jahren wurden von Turi, Isnenghi, Lanaro, Mangoni, Emilio Gentile wichtige Untersuchungen über die Rolle der Intellektuellen, über Kultur und Ideologie des Faschismus vorgelegt, die eindeutig die These widerlegten, der Faschismus habe weder eine eigene Kultur noch eine eigene Ideologie hervorgebracht"'. Seit den Arbeiten von DeiBoca, Rochat und Labanca über m

Fünf Auflagen in fünf Monaten.

132 G. Gowni, Carnefici e tedeschi, in: Passato e Presente, 15 (1997), 42, S. 7. "' Vgl. dazu F. Focardi, I:ombra del passato, hier S. 78 f. 134 Vgl. M. Geyer, La politica della memoria nella Gennania contemporanea, in: L. Paggi (Hrsg.), La memoria del nazismo nell'Europa di oggi, Florenz 1997, S. 281 ff. 135 Dazu vgl . beispielsweise G. Turi, ll faseismo e il consenso degli intellettuali, Bologna 1980; M. Isnenghi, Intellettuali militanti e intellettuali funzionari, Turin 1979;

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die Greueltaten in Libyen und Ätbiopien gilt auch das überlieferte Bild eines faschistischen Kolonialismus .mit menschlichem Antlitz" als überholt136• Darüber hinaus hat sich seit 1988, dem 50. Jahrestag der Einführung der Rassengeserze, eine neue Forschungsrichtung etabliert, die sich unter Federführung von Micheie Sarfatti137 eingehend mit dem faschistischen Antisemitismus beschäftigt und den Kenntnisstand darüber enorm erweitert hat. So fand man Belege für die kulturell-ideologische Eigenständigkeit des Phänomens in Italien, die feine Verästelung und Wirksamkeit der antijüdischen Gesetzgebung, die in einigen Bereichen (z.B. der Schule) sogar früher eingesetzt hat als in Deutschland, sowie für die Mitschuld der Republik von Salo an der Verschleppung und Ermordung der Juden in deutschen Lagern"'. Zunehmend schwand auch der Widerstand antifaschistischer Kreise, sich mit dem Thema Massenkonsens zu beschäftigen, so daß bedeutende Untersuchungen durchgeführt werden konnten, die zu einer grundlegenden Revision festgefahrener Positionen führten. Man denke nur an die Untersuchung von Luca La Rovere über die faschistischen Studentenvereinigungen, die deren radikalfaschistische Einstellung ans Tageslicht gebracht und mit der Einschätzung aufgeräumt hat, die Guf seien ein Hort für Dissidenten und eine Kaderschmiede des Antifaschismus gewesen139• In den letzten Jahren ist auch das Interesse an der faschistischen Außenpolitik, der Besatzungspolitik auf dem Balkan und den Gewalttaten in den besetzten Gebieten gewachsen. Zu nennen sind hier vor allem die Studien über den Zeittaum von 1922 bis 1939 von Enzo Collotti 140, über die .neue Mittelmeerordnung" von Davide Rodogno141, über die italienische Besatzung auf dem Balkan von Brunello Mantelli1 42, über die italienische Besatzung in

S. Lanaro, Nazione e lavoro, Venedig 1979; L. Mangoni, L'interventismo della cultura, Rom I Bari 1974; E. Gentile, Le origini dell'ideologia fascista, Rom I Bari 1974; ders., ll mito dello stato nuovo, Rom I Bari 1982; ders., n culto del littorio, Rom I Bari 1993. 136 A. Dei Boca, Gli italiani in Mrica Orientale, 4 Bde., Rom I Bari 1976-1984; ders., Gli italiani in Libia, 2 Bde., Rom I Bari 1986-1988;A. DelBoca (Hrsg.), Le goerre coloniali del fascismo, Rom I Bari 1991; ders., I gas di Mussolini; G. Rnchat, Guerre italiane in Libia e Etiopia. Studi militari 1921-1939, Treviso 1991; N. Lahanca (Hrsg.), Un nodo. Immagini e documenti sulla repressione coloniale italiana in Libia, Manduria 2002; N. Labanca, Oltremare. Storia dell'espansione coloniale italiana, Bologna 2002. m

M. Sar/atti, Mussolini contto gli ebrei; ders., Gli ebrei nell'Italia fascista.

138 Zu diesem Thema vgl. L. Picciotto Fargion, ll libro della memoria. Gli ebrei deportati dall'Italia 1943-1945, Mailand 2002 (1. Auf!. 1991).

139 L. La Rnvere, Storia dei Guf, Turio 2003. 14° E. Collotti (Hrsg.), Fascismo e politica di potenza, Mailand 2000, mit Aufsätzen von Nicola Labanca und Teodoro Sala.

141 D. Rodogno, ll nuovo ordioe mediterraneo. Le politicbe di occupazione dell'Italia fascista in Buropa (1940-1943), Turio 2003. 142 B. Mantelli, Die Italiener auf dem Balkan 1941-1943, in: C. Dipper I L. Klinkhammer I A. Nützenadel (Hrsg.), Europäische Sozialgescbichte. Festschrift für

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Griechenland von Lidia Santarelli143 und über die italienischen Kriegsverbrechen von Focardi, Klinkhammer und von Di Sante144• Thematisiert wurde auch die innenpolitische Repression, wie die Untersuchungen von Capogreco und Di Sante über Konzentrationslager'" und von Franzinelli über "Ovra und .Squadtisti"146 zeigen; mit der Republik von Salo und ihren Schergen beschäftigen sich die Studien von Gagliani 147 und von Griner148• Es wurde schon von einer .neuen Ära" der Geschichtsschreibung gesprochen'", die ganz neue Horizonte eröffnet und den alten, stark ideologisch geprägten Disput zwischen antifaschistischen Historikern und De Felice·Schülern überwindet. Auf dieser Linie sieht sich auch das neue, von Sergio Luzzato und Victoria de Grazia herausgegebene "Lexikon des Faschismus"'". •

Allerdings hat diese intensive, häufig von einer neuen Forschergeneration vorangetriebene Neuorientierung der Geschichtswissenschaft bislang noch Wolfgang Schiedet zum 65. Geburtstag,Berlin 2000,S. 57·74; B. Mante/li (Hrsg.),I:Italia fascista potenza occupante: lo scacchiere balcanico, in: Qualestoria, 30 (2002), 1.

143 L. Santarelli, TI sistema dell'occupazione italiana in Grecia. Aspetti e problemi di ricerca, in: Annali dell'Istituto milanese per la storia dell'eti contemporanea, della resistenza e del movimento operaio, 5 (2000), S. 365·379; dies., Fra coabitazione e conflitto: invasione italiana e popolazione civile nella Grecia occupata (primaveraRestate 1941),in: Qualestoria, 30 (2002), 1,S. 143·155; dies., La violenza taciuta. I crimini degli italiani nella Grecia occupata, in: L. Baldissara I P. Pev:ino (Hrsg.), Crimini e memorie di guerra, Neapel 2004, S. 271·291. 144 F. Focardi, La questione della punizione dei ctiminali di guerra in Italia dopo Ia fine del secondo conflitto mondiale, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 80 (2000), S. 543·624; F. Focardi I L. Klinkhammer, La questione dei ,.crimini di guerra" italiani e una Commissione di inchiesta dimenticata., in: Contemporanea, 4 (2001), 3, S. 497 ·528; C. Di Sante, Italiani senza onore. I cchnini in Jugoslavia e i processi negati (1941·1951), Verona 2005; F. Focardi, I:Italia fascista come potenza. occupante nel giudizio dell'opinione pubblica italiana: Ia questione dei cchninalidi guerra (1943·1948), in: Qualestoria,30 (2002),1,S. 157·183; ders.,I mancati processi ai cchninali di guerra italiani, in: L. Baldissara I P Pezzino (Hrsg.), Giudicare e punire, Neapel 2005, S. 185·214.

"' C.S. Capogreco, I campi del duce. I:internamento civile nell'Italia fascista (1940· 1943), Turin 2004.

146 M. Frantinelli, I tentacoli dell'Ovra. Agenti, collaboratori e vittime della polizia politica fascista, Turin 1999; ders., Squadristi. Protagonisti e techniche della violenza fascista 1919·1924, Mailand 2003. 147 D. Gagliani, Brigate nere. Mussolini e Ia militarizzazione del Partito fascista repubblicano, Tutin 1999. 148 M. Griner, La .banda Koch". ll repatto speciale di polizia 1943·1944, Tutin 2000.

149 M. Geroasoni, Olrre il revisionismo. Emilio Gentile e il fascismo preso sul serio, in: Italianieuropei, 2 (2003), S. 216 f. 150 S. Luzzatto I V de Grazia (Hrsg.), Dizionarin del fascismo, Bd. 1, Turin 2002,

Bd. 2, Tutin 2003.

138

Filippo Focardi

keine durchgreifende Auswirkung auf das verharmlosende Faschismusbild gezeitigt, wie es sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit eingebürgert hat und noch heute in der Massenkultur fest verankert ist. In den Massenmedien ist seine Dominanz weiterhin ungebrochen, was durch die Mitte-Rechts-Regierung seit Mai 2001 noch zusätzlich gefördert wird. Die italienische Rechte, so Marco Gervasoni über die Alleanza Nazionale, .hat die Banalisierung von zwanzig Jahren faschistischer Herrschaft genutzt, um sich selbst zu legitimieren"151• Doch dantit allein gab man sich nicht zufrieden. Vielmehr wurde von rechter Seite versucht, aktiv Einfluß auf das Kollektivgedächtttis zu nehmen, was sich unter anderem darin äußerte, daß man die Namen faschistischer Größen auf lokaler Ebene wieder hoffähig machte, indem man Straßen nach ilmen benannte, und Einfluß auf die Gestaltung der Geschichtslehrbücher zu nehmen versuchte152• Nachdrücklich kritisiert wurde diese Tendenz, den Faschismus als gutmütig und tolerant hinzustellen, von Emilio Gentile, De Felice-Schüler und einer der besten Faschismuskenner Italiens, der sich gegen die "wachsende Neigung zur nachträglichen Entfaschisierung des Faschismus" verwahrte"'. Das alarntierende Ausmaß dieser Entwicklung belegt eine Umfrage unter Jugendlichen, die im Januar 2002 in der Fernsehsendung .Sciuscia" von Micheie Santaro vorgestellt wurde. Auf die Frage "Wie beurteilt Ihr den Faschismus?" antworteten 71% mit .negativ", 24% jedoch mit .positiv" (5% gaben keine Antwort). Ähnliche Antworten ergab die Frage nach Mussolini: 73% hielten ihn für schlecht, 25% jedoch für gut (2% gaben keine Antwort). Hitler dagegen hielten 96% für schlecht, 3% für gut (1% gab keine Antwort). Während das Urteil über Hitler (und vermutlich über das nationalsozialistische Deutschland), wie erwarter und gewünscht, einhellig negativ ausfällt, beurteilt ein Viertel der befragten Jugendlichen den Duce und den Faschismus positiv. Im Grunde ist auch dieses Ergebnis kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, wie die zwanzigjährige Herrschaft des Faschismus bisher dargestellt wurde und daß die Alleanza Nazianale sich bei den Jungwählern großer Beliebtheit erfreut. Damit bin ich wieder bei der Kernthese meines Beitrages angelangt. Wie ich zu zeigen versucht habe, hat die Unterschätzung des Faschismus, die wohlwollende Einstellung, mit der viele ilm heute immer noch darstellen und erinnern, viel mit der Art zu tun, wie er seit der unmittelbaren Nachkriegszeit interpretiert wurde: d.h. im Vergleich zu Deutschland schnitt der Faschismus als gutmütige, bläßliche Kopie des nationalsozialistischen Modells ab, was vor allem der eigenen Entlastung diente. Wohlweislich unterschlagen wurde dabei, daß

m M. Gervasoni, Oltre il revisionismo, S. 224. 152 Vgl. F. Focardi, Memorie di guerra, S. 117-119. L. Baldissara, Di come espellere la storia dai manuali di testo. Cronache di una polemica autunnale, in: TI mestiere di storico. Annale SISSCO, 2 (2001), S. 62-80. "' Vgl. E. Gentile, Fascismo. Storia e intespretazione, Rom I Bari 2002, S. VII.

Die Unsitte des Vergleichs

1}9

Italien für alle faschistischen Bewegungen in Europa, inklusive der deutschen unter Hider, als Vorbild gedient hatte. Für die Italiener, so die Feststellung von Nicola Tranfaglia'" wie von Vittotio Foa"', lieferten die Deutschen ein bequemes Alibi und fungierten als willkommener Sündenbock. Auf sie wurde alle Schuld abgewäl2t, mithin auch die Verpflichtung zu Reue und kritischer Erinoerung. Zweifellos können die Verbrechen des faschistischen Italien nicht mit denen des Nationalsozialismus verglichen werden. Das darf die Italiener jedoch nicht von der Verpflichtung entbinden, sich endlich mit der eigenen faschistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Denn Mussolinis Herrschaft war kein .Operettenregime", wie häufig behauptet wird. Es wäre wiinschenswert, daß die Italiener endlich anfingen, den Faschismus und seine Geschichte .ernst zu nehmen".

U4 N. Tranfaglia, Sull' antisemitismo fascista, in: ders., Labirinto italiano. TI fascismo, l'antifascismo, gli storici, Florenz 1989, S. 84. "' V Foa, Questo Novecento, Turin 19%, S. 145.

Zweiter Teil

Akteure und Weltbilder

Christliche Kultur - europäische Kultur Entwicklungen und Wandlungen einer Idee im italienischen Katholizismus zwischen 1920 und 1950* Von Francesco Traniello

I. Ein Vortrag De Gasperis im November 1948 und sein politischer Kontext Am 2 0. November1948 hielt Alcide De Gasperl in Brüssel auf Einladung des Komitees für die Grandes conferences catholiques einen Vortrag zum Thema .Die moralischen Grundlagen der Demokratie". De Gasperis Rede, veröffent­ licht in .TI Popolo" vom 21. November, ist in zweierlei Hinsicht interessant: zum einen aufgrundvon Ort und Zeitpunkt dieser Stellungnahme, zum anderen aufgrund ihres keineswegs konventionellen oder zufälligen Inhalts. Der Trentiner Staatsmann hatte gerade einen großen Erfolg bei den Parla­ mentswahlen vom18. April errungen. Unermüdlich hatten Democrazia Cristiana (DC), die Kirche und andere katholische Kreise diese Wahlen zur Entscheidung für eine Kultur stilisiert - vor allem im antikommunistischen Sinn-, ohne jedoch das T hema der europäischen Kooperation und Integration oder das der westlichen Solidarität zu betonen. Der Appell der christdemokratischen Partei an die Wähler enthielt zwar einen deutlichen Hinweis auf den "Geist der christlichen Kultur", aber aus einer betont nationalen Perspektive heraus'. In seiner Rundfunkhotschaft zu Weihnachten1947 hatte der Papst unter anderem jede Voreingenommenheit und jedes Vorurteil der Kirche .gegenüber dem einen oder dem anderen Block von Nationen" verneint. Nicht zuletzt durch solche Äußerungen ermutigt, wiesen am Vorabend der Wahl vom April1948 etliche einflußreiche Stimmen aus dem katholischen Lager darauf hin, welche Gefahren es mit sich btinge, die Entscheidung für eine Kultur mit dem Anschluß an einen der während des Kalten Krieges entstandenen Blöcke gleichzusetzen. "Orientamenti Sociali", die Zeitschrift des der Azione Cattolica zugehörigen Istituto cattolico di azione sociale, hatte am 10. März geschrieben: die •...

* 1

Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt.

G. Formigoni, La Democrazia Cristana e l'alleanza occidentale (1943-1953), Bologna 19%, S. 175.

Francesco Traniello

144

natürliche Position Italiens war immer die zwischen Ost und West: und seine Unabhängigkeit konnte stets eine Verbindungsbrücke zwischen den beiden Blöcken darstellen"'. Die .Cronache Sociali" hatten in einem Beitrag aus der Feder ihres Hauptschriftleiters Giuseppe Glisenti, der hier Anregungen Giuseppe Dossertis aufgriff, gegen diejenigen polemisiert, die .die Vorstellung des Kampfs zweier politischer Doktrinen durch die Vorstellung des Kampfs zweier Kulturen, einer östlichen und einer westlichen, einer russischen und einer amerikanischen [überlagern wollten], um dabei Italien dem zweiten Kul­ turtypus zuzuschlagen"'. Wenig später bezeichnete Pater Antonio Messineo in einem Kommentar zu den Wahlen in der Jesnitenzeitschrift .Civilta Cattolica" vom 24. April das Wahlergebnis als .einen Wahrspruch, in dem [Italiens] humane und christliche Kultur, sein Gedankengut und seine tausendjährige geistige Tradition, seine Religion mit den von ihr inspirierten, genährten und geförderten Idealen der Liebe und der Zusammenarbeit zwischen den gesell­ schaftlichen Klassen und seine Unabhängigkeit als zivilisierte und geistig und sittlich gesunde Nation verherrlicht wurden"': Dies war der wohlbekannte Widerhall eines "guelfischen" Nationalismus. Ehenfalls in der .Civilta Catto­ lica" erschien am 17. Juli ein Beitrag von Pater De Marco, der eine weitere Variante zum Thema Kultur bot: .Die Wahl hat gezeigt, daß die Mehrheit der Italiener für die Freiheit votiert hat. Ihre Wahl bedeutet nicht die Entscheidung für den einen oder für den aoderen Block in Ost und West ... Tatsächlich bedeutet sie die Entscheidung für die europäische

Familie und Kultur, denen das italienische Volk als einer der zahlenmäßig wichtigsten ' Bestaodteile und einer der bedeutendsten Repräsentaoten zugehört" .

Einen .Block" -wenn auch eher moralischer und rechtlicher als politischer oder militärischer Narur- hatte dagegen Pater Salvatore Lener in dersdben Zeit­ schrift beschworen: einen Block miteinander durch den Bezug zur gemeinsamen christlichen Kulrur verbundener Staaten, .die allein die wahre Gemeinschaft der zivilisierten Staaten" bilden sollten. Kurz vor De Gasperis Briissder Vortrag, zwischen September und Oktober1948, hatte an der Katholischen Universität in Mailand die XXII. Soziale Woche der italienischen Katholiken stattgefonden, die dem Thema der internationalen Gemeinschaft gewidmet war. Dort hatten renommierte Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens das Wort ergriffen , von Francesco Vito bis Silvio Golzio, von Giuseppe Vedovato bis zu den Patres Messineo und Cordovani, letzterer Maestro dd Sacro Palazzo; beschlossen wurde die Reihe durch Monsignore Adriano Bernareggi, .assistente centrale" der katholischen Akademiker, sowie durch Monsignore Pietro Pavan. Doch sdbst '

Ebd., S. 178. Ebd., S. 177.



Ebd., S. 179.

'

Ebd., S. 225.

Christliche Kultur- europäische Kultur

145

ein solches Aufgebot an hochgestellten Persönlichkeiten hatte nicht verhindem können, daß die Soziale Woche einen eher .aseptischen" Verlauf nahm. Man schwebte in den höheren Sphären allgemeiner Prinzipien, die an die päpstliche Lehre über die internationale Ordnung anknüpften (zum Beispiel hinsichtlich der .einheitlichen Wiederherstellung der menschlichen Familie durch die gemeinsame Anerkennung der den Staaten vorausgehenden sittlich-reehrlichen Ordnung"), vor allem aber suchte man auf die Krise der Nachkriegszeit eine universalistische Antwon zu geben, die - wenn nicht ausschließlich, so doch in hohem Maß- in der Treue zur Lehre der katholischen Kirche bestehen sollte. Guido Gonella, auch aufgrund seiner intensiven Mitarbeit an den .Acta diurna" des Osservatore Rarnano" vom 6. Mai 1933 bis zum 15. Mai 1940 allgemein als der nach De Gasperi renomntierteste christdemokratische Experte für internationale Fragen angesehen, hatte am Rande der Sozialen Woche über die europäische Frage gesprochen und dabei hervorgehoben, daß die Einheit Europas die Rückkehr zu den griechischen, röntischen und christlichen (nicht aber germanischen) Wurzeln seiner Kulrur voraussetze: Die .europäische Föderation" konnte sontit nichts anderes sein als .eine Föderation christlicher Völker", denn das Christenrum sei .dank des ihm angeborenen universalistischen Charakrers, dank seiner Fähigkeit zur Synthese, dank seines Vermögens, Orient und Okzident miteinander zu verbinden, das wirksamste Hilfsntittel zur Wiederherstellung der geistigen Einheit Europas"6• •

Zu Recht hat man festgestellt, daß das triumphale, wenn auch in mancher Hinsicht ambivalente Ergebnis, das die DC bei den Wahlen von 1948 erzielt hatte, und die Debatten im Vorfeld viele Optionen für Italiens Positionierung im europäischen Rahmen offenließen. Noch wichtiger aber ist, daß die geisti­ gen Impulse, die die Democrazia Cristiana durch die katholische Basis und die katholische Kirche selbst erhielt, sich noch keineswegs in einer wirklich homogenen politischen Mentalität niedergeschlagen hatten. Es gab also noch keine tragfähige gemeinsame Grundlage, keinen breiten Konsens über die Verwendung und den Gehalt vieldeutiger und umstrittener symbolischer Formeln - christliche Kultur, europäische Kulrur, Osten, Westen -, die vor, während und nach den Wahlen zu einer Polarisierung des öffentlichen Dis­ kurses geföhn hatten.

II. Der Autbau der Rede In dieser Gemengelage von päpstlichem Universalismus und katholischem Nationalismus, Westorientierung und Europäismus im Zeichen der .dritten Kraft", internationalistischem Pazifismus und Sehnsucht nach Vorrangstellung, ' Ph. Chenaux, Une Europe vaticane? Entre le plan Marshallet !es traites de Rome, Löwen I Brüssel 1990, S. 57.

Francesco Traniello

146

Konfessionalismus und interkonfessionellem Ökumenismus, prinzipiellem Anti­ kommunismus und radikaler Kritik an Kapitalismus und liberalem System kam dem Vortrag De Gasperis die Bedeutung einer Richtungsentscheidung zu. Der Vortrag' begann mit dem Zitat der Worte, die Charles de Montalernbett 1864 auf dem berülunten Kongreß von Malines gesprochen hatte, und mit einer nicht nur der Höflichkeit geschuldeten Lobrede auf Belgien als polirisches Vorbild: das Land, das es als erstes auf dem Kontinent verstanden hat, eine wahrhaft freie Regierungsform zu begriinden"- dank der Beteiligung der Katholiken an der .nationalen Revolution", der Vorbereitung der Charta der Volkssouveränität" und deren Verteidigung. Die Freiheit der .menschlichen Person, des Gewissens, der Fantilie, der Gemeinden, der Religion, der Ver­ bände, der Gewerkschaften" seien zwar .wesentliche" und .urspriingliche" Freiheiten, denen gegenüber .die politische Freiheit, also die Beteiligung aller Bürger an der Regierung" als sekundär oder instrumentell erscheinen könne; aber am historischen Beispiel Belgiens zeigte De Gasperi, daß .ohne die politische Freiheit alle anderen Freiheiten gefährdet sind". Diese Haltung hatte das belgisehe Episkopat zum Ausdruck gebracht, als es, im gemeinsamen Hirtenbrief zu Weihnachten 1936, gegenüber der profaschisrischen Bewegung Leon Degrelles erklärte, es mißbillige .die wie auch immer geartete Tendenz zu totalitären oder diktatorischen Regimen und erwarte sich .nichts Gutes für die katholische Kirche ... von einem autoritären Staat, der unsere Verfas­ sungsrechte abschafft, selbst wenn er anfangs die Religionsfreiheit in Aussicht stellt"'. Doch polirische Freiheit bedeutete für De Gasperl auch, der Macht des Staates, .die so leicht tyrannisch werden kann", Grenzen zu setzen: eine Logik, die nicht nur die belgisehe Verfassung inspiriert hatte, sondern auch die amerikanische, auf die im Vortrag zweimal verwiesen wurde. Dennoch hätte keine verfassungsmäßige Garantie die Tyrannei verhindem können- hier war die Anspielung auf den Faschismus offensichtlich-, wenn es an aktivem demo­ kratischen Bewußtsein gefehlt hätte. Die Reflexion darüber, welche Rolle das demokratische Bewußtsein der Bürger als unverzichtbarer politischer Faktor spielt, verknüpfte, ja vermischte sich von diesem Moment an mit dem Thema der Kultur (dviltii). Dieser Begriff taucht in dem Vortrag häufig auf (mindestens 15mal) und bildet schließlich eine Art .Kontinuum". Noch aufschlußreicher sind aber die Kontexte, in denen von Kultur die Rede ist. •. . .





Zunächst sprach De Gasperl von dem Weg unserer abendländischen Kultur". Deren politische Entwicklung sei von zwei großen Denksttömungen beeinflußt worden. Die erste hatte, im Bewußtsein der .natürlichen Schwäche des Menschen", eine Konzeption entwickelt, in der die Funktion der politischen •

7

A. De Gasperi, Scritti e discorsi di politica iotemazionale, hrsg. von G. Allara und A. Gatti, Rom 1990, S. 378-386. 8

Ebd., S. 380.

Christliche Kultur- europäische Kultur

147

Institutionen mit der Rolle der Sitten und des moralischen .Klimas" konver­ giene, in das diese Institutionen eingebettet sind. Möglich werden sollte dies durch einen Interaktionszusammenhang, der zwar in jeder Situation wirksam war, in der demokratischen Staatsform aber absolut entscheidend wurde, weil .Gehorsam und Disziplin" hier nicht länger als Tugenden des .souve­ ränen Volkes" angesehen werden konnten. Damit war, durchaus auch aus Tocquevillscher Perspektive heraus, die Frage nach den sittlichen Vorausset­ zungen der Demokratie angeschnitten. Die zweite Tradition, die .in gewissen Epochen einen dominanten Einfluß auf die politische Entwicklung ausgeübt hat" und sich nach De Gaspetis Ansicht noch in den Debatten der verfas­ sunggebenden Versammlungen der unmittelbaren Nachkriegszeit bemerkbar machte, bestand im "sozialrevolutionären Optimismus" Diesem Optimismus haben wir die Impulse von Großmut und schöpferischem Idealismus zu ver­ danken, der, ttotz des fundamentalen philosophischen Irnums, energisch den menschlichen Fonschritt vorangetrieben hat". . •

Dennoch stand am Horizont dieser Haltung die große und furchtbare revolutionäre Utopie, die von Rousseau zum Kommunismus führte: "Vergessen wir nicht, daß auch die kommunistische Diktatur dem Optimismus Rousseaus mehr zu verdanken hat, als man gemeinhin glaubt ... Der kindliche Optimismus, dessen Quellen im 18. Jahrhunden liegen, erklän die Mühelosigkeit, mit der die ersten marxistischen Revolutionäre jenes schreckliche Zwangsinstrument geschmiedet haben, das der kommunistische Staat ist ... Man mußte schon an eine An Unschuld der Menschheit glauben, um eine solche Machtfülle in wenige Hände zu legen. Wenn es darum gebt, das Leben des Staates zu orga­ nisieren, braucht man einen gesunden Pessintismus, der sich dessen bewußt ist, daß sich das Böse in den Menschen und in allen Gesellschaftsschichten findet", daß der Mensch nicht nur der Iibido possidendi, sondern auch der Iibido dominandi verfallen ist und daß .der Wille zur Macht" jegliche politische Ordnung überlebt'. Doch zugleich schloß De Gasperl den Kommunismus nicht aus dem Rahmen der abendländischen Kultur aus. Als nächstes warf er die Frage auf, ob es legitim sei, wieJuan Donoso Cones aus der Stimmung eines anthropologisch begründeten .gesunden Pessimismus" heraus ein vernichtendes Uneil über das Wesen der .modernen Kultur" zu fällen. Daß eine solche Haltung in der katholischen Mentalität unterschwellig fonbestand, war De Gasperl klar, und so konfrontiene er sie mit zwei Ideal­ vorstellungen. Er machte zunächst darauf aufmerksam, daß der Weltkrieg allen, die es etwa vergessen haben mochten, die .treibende Kraft des Christentums" vor Augen gefühn hatte, "von dem die moderne Kultur beseelt wird, auch don, wo sie ihm feindlich zu sein scheint". Um seine These zu stützen, zitierte er Benedetto Croces berühmtes Werk .Perche non possiamo non dirci ,ctistiani'". '

Ebd., S. 382.

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Auch die vielen Gläubigen, die den demokratischen Prinzipien kein Vertrauen entgegenbringen konnten, "weil diese von Locke und von Rousseau vertreten worden waren", hätten nach der Begegnung .ntit der heidnischen Natur des totalitären Staates" einräumen müssen, daß die Demokratie .zweifellos auf das Evangelium zurückgeht"". Die zweite Idealvorstellung bezog sich auf die Notwendigkeit eines .ener· gischen Optintismus" bei der Schaffung der "demokratischen Zukunft unserer Länder". Gründen könne sich dieser Optintismus auf die Gewißheit, daß "in einer freiwillig verwirklichten demokratischen Staatsform das christliche Fer· ment die Demokratie befruchten und die Kultur erneuern wird": hier berief sich De Gasperl auf Henri Bergson. Um zu präzisieren, welchen Beittag das Christentum zur Demokratie leisten solle, ging er auf drei Begriffe ein: erstens auf .das Streben nach Vollkommenheit, das den Kindern Gottes, die ... als freie Menschen und nicht als Knechte handeln, eigentümlich ist", wie dies der heilige Thomas formuliert hatte; zweitens auf das Individuum, wobei der Mensch, nach einer Devise von Jacques Maritain .mehr Ganzes denn Teil ist", was .zur Gleichheit vor dem Gesetz und vor der politischen Struktur fährt"; drittens auf das Gebot der Liebe, die "unter sozialem Gesichtspunkt Brüderlichkeit heißt und Opfergeist zum Nutzen der Gemeinschaft verlangt": eine Aussage, die durch einen zweiten Verweis auf Bergson bekräftigt wurde. Pessintismus und deutliche Vorbehalte gegenüber der Rolle des Staates verbanden sich hier also ntit einem demonstrativen Optintismus hinsichtlich der Entwicklung von Demokratie und Kultur, der sich "aus den Quellen des Christentums" speiste, .für welches das Goldene Zeitalter niemals in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt". Der im engeren Sinne polirische Teil des Vortrags beschäftigte sich dann zum einen mit der Notwendigkeit, zu einer Synthese zwischen den Prinzipien der politischen Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit zu gelangen, zum anderen widmete er sich dem Problem des Friedens als wesentlicher Bedingung für den Wiederaufbau der Demokratien. Diese Erörterungen mündeten in eine beson· dere Interpretation des Europagedankens. Die Beschwörung der .einheitlichen Kraft" Europas und der Quellen .unserer gemeinsamen Kultur" geriet zur Antwort auf die im wahrsten Sinn des Wortes kriegerischen Operationen (auch wenn dieser Krieg noch nicht ausgebrochen war), ntit denen versucht werde, .die parlamentarischen Demokratien zu schwächen oder niederzuzwingen" und .die Pläne zum Wiederaufbau Europas zu vereiteln": .Der Geist der europäischen Solidarität wird in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Instrumente der Sicherheit und Verteidigung schaffen können, aber die beste Verteidigung des Friedens besteht in einer gemeinsamen Anstrengung, die auch Deutschland einschließt ... Die Propaganda des ideologischen Hasses wird an der Solidarität to

Ebd., S. 383.

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des freien Europa zerbrechen". Die europäische Alternative bedeutet also den Verzicht auf die .Spitzfindigkeiten der machiavellistischen Taktik", bedeutet die Bereitschaft, .alle freiwilligen Beschränkungen der Souveränität auf sieb zu nehmen, die [Italien] zu einer aktiven Mitarbeit an einem geeinten Europa führen werden"; sie ist der Königsweg für eine .Politik der Kultur, die von den menschlichen und christlieben Werten durchdrungen"" ist und sieb auf die Verteidigung der Demokratie mit freiheitlieben Mitteln konzentriert.

ill. De Gasperis Kulturbegriff Andere Untersuchungen haben bereits die Aspekte herausgearbeitet, die sieb stärker auf den historischen Kontext von De Gasperis Rede beziehen. Chronologisch markiert sie den Beginn einer internationalen Ausrichtung, die der italienische Staatsmann von nun an mit großer Entschiedenheit verfolgen sollte. Sie bezeichnet den neuralgiseben Moment eines Übergangs: Bis dahin konzenttierte man sieb auf die Stärkung der Beziehungen zu den USA und auf die Probleme des Friedensvertrags und dessen stockender Ratifizierung- dieser widersetzten sieb ja bis zuletzt selbst einflußreiche Wortführer des geistigen und poliriseben Lebens wie Croce, Sturzo und Orlando. Mit De Gasperis Rede geriet die aktive Eingliederung Italiens in ein noch nicht verfestigtes Geflecht von Allianzen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Forschung hat ebenfalls deutlieb gemacht, daß sich in diesem Brüsseler Vortrag die Leitlinien des großangelegten politischen Vorhabens abzeichnen, einen europäischen Kurs in den umfassenderen Rahmen der westlieben Solidarität zu integrieren. Das ituplizierte eine Marginalisierung der noch itumer lebendigen, in der Debatte um den Friedensvertrag weiter gestärkten nationalistischen Impulse und ein Zurückdriingen der Sympathien für ein im Zeichen der .dritten Kraft" stehendes Europa - diese Idee, die sieb aus ganz unterschiedlieben Motiven speiste, war in der katholischen Welt Italiens nämlich ausgesprochen einflußreich. Doch De Gasperis Vortrag ist noch in anderer Hinsiebt interessant. Zunächst fällt auf, daß der Begriff .christliche Kultur" fehlt, der in zahllosen anderen Äußerungen und SchriftenDe Gasperis belegt ist12• Wenngleich dem Staatsmann in Brüssel bewußt war, daß er sieb an einen mehrheitlieb aus Katholiken beste­ henden Hörerkreis wandte - oder vielleicht gerade deswegen -, scheint in der vorsichtigen Wortwahl die Absicht erkennbar, eine konfessionelle Konnotation des Wortes .Kultur" zu vermeiden. Statt dessen bemüht sich De Gasperi, die u

Ebd., S. 386.

12 Vgl. insbesondere: A. Monticone, De Gasperle Ia scelta politica per Ia demo­ crazia occidentale, in: U. Corsini I K. Repgen (Hrsg.), Konrad Adenauer e Alcide De Gasperi: due esperienze di rifondazione della democrazia (Anoali deii'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quademi, 15), Bologna 1984, S. 55-78.

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Zusammenhänge zwischen Christentum, Kultur und Demokratie zu bestirumen. Das Fehlen bestimmter weiterer Ausdrücke wirkt in gleicher Weise symptoma­ tisch, insbesondere dann, wenn man berücksichtigt, daß andere Namen und Begriffe auffallend häufig vorkommen: Keine Bezugnahme auf die päpstliche Lehre, abgesehen von der Erwähnung der beiden berühmten Enzykliken von Pius XI. aus dem Jahre 1937 gegen den atheistischen Kommunismus und den nationalsozialistischen Rassismus; kein Wort über das zivilisatorische Werk der Kirche; häufig dagegen Verweise auf atheistische Autoren: Paul-Henri Spaak, Bergson, Croce. Bei der Abgrenzung der .christlichen Fermente", die die Demokratie befruchten und die Kultur erneuern sollten, ergab sich ganz offenkundig ein Feld der Begegnung und ein Konsens, der weit über das christliche Lager hinausreichte. Schließlich machte De Gasperl in der Entwicklung "unserer abendländischen Kultur" zwei prägende Denktraditionen aus, die sich nicht durch die Differenz von Christen und Nichtchristen oder gar Katholiken und Nichtkatholiken voneinander unterscheiden, sondern aus der Existenz zweier intellektueller und anthropologischer Kosmen mit verschiedenen Auffassungen von Staat und Macht resultieren. Eine solche Reinterpretation der Geschichte legte es nahe, die im katholischen Umfeld vorherrschenden .Kultur"-Konzeptionen zu überdenken. Daß De Gasperl mit seinen Bemerkungen keine akademischen oder rein theoretischen Absichten verfolgte, ist offenkundig; und ebenso unbe­ streitbar ist es, daß sich aus seinen Überlegungen erhebliche Veränderungen verfestigter kultureller Strukruren ergeben mußten. In Wtrklichkeit- dies ist der zweite Punkt, auf den ich aufmerksam machen wollte- erfolgte der beharrliche Rekurs auf die Idee der Kultur innerhalb eines eminent politischen Begriffsgefüges. Dabei fungierte .Kultur" als Scharnier zwischen einem Substrat sittlich-religiöser Werte, die sich, wie wir sahen, an der Trias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit orientierten, und den allgemeinen Prinzipien und moralischen Bedingungen einer freiheitlich -demokratischen polirischen Ordnung. Der Kern von De Gasperis Botschaft bestand also darin, die Zugehörigkeit zu einer Kulturgemeinschaft, die keine konfessionelle Homo­ genität und strenggenommen nicht einmal das ausdrückliche Bekenntnis zu einer Religion voraussetzte, in die polirische Dimension zu übertragen. Unter diesem Aspekt verfolgte sein Vortrag gewiß auch den Zweck, die christlichen Parteien mit katholischer Basis zur Übernahme einer polirischen Führungsrolle in demokratischen und säkularen Staaten zu legitimieren. Das Hauptargument dafür sind in den Augen De Gasperis die offenkundigen Auswirkungen des Krieges und des Kampfes gegen den Totalitarismus auf den europäischen Geist: nämlich das unwiderrufliche Ende jener großen Spaltung, die den Katholizismus in verschiedenen Ländern an den Rand gedrängt oder mit der freiheitlich-demo­ kratischen Grundordnung in Konflikt gebracht hatte und dementsprechend Alternativentwürfe der europäischen Kultur provozierte. Letztlich skizzierte De

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Gasperis Vortrag - insofern er eher einen Weg vorzeichnete, als sich um die Analyse komplexer historischer Phänomene zu bemühen- die Wesenszüge einer gemeinsamen polirischen Kultur. Damit koüpfte er aber wieder ao eine Idee von Europa und von europäischer Kultur ao, deren Tradition im italienischen Katholizismus laoge Zeit in Vergessenheit geraten war.

IV. Ein Schritt zurüek: Der Kulturpessimismus aus katholischer Perspektive Besonders zwischen den beiden Weltkriegen florierten pessimistische Geschichtsmodelle. Bei aller Unterschiedlichkeit der theoretischen Grundao­ nabmen und aoalytischen Kriterien gelaogten sie im Grunde zu derselben Vorstellung vom bevorstehenden Untergaog Europas und einer damit einher­ gehenden Krise der modernen Kultur. Wie Sturzo und aodere Veteraoen des Partito Popolare hatte De Gasperl solche apokalyptischen Diagnosen nicht oder nur mit zahlreichen Vorbehalten geteilt. Bekanntlich wurde die Formel von der .Kulturkrise" in weiten Kreisen des europäischen Katholizismus in unterschiedlicher Weise aufgegriffen und adaptiert. Daraus speisten sich diverse intellektuelle und religiöse Bewegun­ gen, die sich auch auf übernationaler Ebene berührten. Es ist nicht schwer zu bestinunen, was die katholische Mentalität so besonders empfänglich machte für die Chiffre der Kulturkrise. Wenn tatsächlich der Niedergaog oder das Scheitern der modernen Kultur bevorstaod (wie unterschiedlich mao deren Wesen auch beschrieb), dann ließ sich diese Entwicklung nämlich leicht als eine Bestätigung der jabrhundertelaogen Opposition der Kirche gegen die ideologischen Strukturen und Wertesysteme der Neuzeit interprerieren. Nicht zufällig hatte es in der Zwischenkriegszeit auch eine großaogelegte Rückkehr zum katholischen Denken der Gegenreformation gegeben, von Joseph De Maistre zu Juao Donuso Cortes. Ebenso leicht ließen sich viele der aotilibe­ ralen, aotikapitalistischen, aotibürgerlichen, aotimaterialistischen, aotisoziali­ stischen und aotisemitischen Impulse, die das von der Vorstellung der Krise gezeichnete Weltbild prägten, im katholischen Sinne umdeuten, indem mao sich ihren umfassenden Charakter zunutze machte: In der Geschichte hatte es einen großen Bruch gegeben, und einzig dieser religiöse Bruch sollte für die ausweglose selbstzerstörerische Situation der modernen Kultur verantwortlich sein. Es hatte sich die Vorstellung durchgesetzt, die Kultur drifte unaufhaltsam ab, .hin zu den absonderlichsten und rohesten Erscheinungen von Barbarei "13, 13 IndiesemZusammenhangwärendashäu.figeVorkommenderAntithesen .christliche Kulrur" uod ,heidnische Kultur" im Verhältnis zur Antithese .Kulrur-Barbarei" im katho­ lischenSprachgebrauch zu aoalysieren, auch um Herkunft uod Entwiekluog der jeweiligen Formelo bestimmen zu können. Ich verweise hier lediglich auf eines der Gründuogsdo-

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weil sie Schritt für Schritt, aber konsequent den Weg des Atheismus und des Materialismus eingeschlagen hatte. Aus katholischer Perspektive bedeutete dies die Vertreibung Christi und seiner auf den Papst und dessen Lehre gestützten Kirche aus dem individuellen und kollektiven Leben. In der modernen Kultur hatte sich das Drama des atheistischen Humanismus vollendet, der .durch den Protestantismus und den Liberalismus zur Negation des Menschen selbst" gelangt war14• Die vielfachen Verästelungen, die aus solchen Vorstellungen und Über­ zeugungen hervorgingen, und die unterschiedlichen, mitunter gegensätzlichen Folgerungen, die daraus gezogen wurden, lassen sich auf knappem Raum nicht untersuchen. Einige Präzisierungen sind allerdings unerläßlich, wobei die Situation in Italien besondere Berücksichtigung finden soll. Zunächst ist anzumerken, daß der von der Vorstellung der Kulturkrise geöffnete Raum sozu­ sagen von alternativen Kulturentwürfen besetzt worden war, die in der Idee der .christlichen Kultur" zumindest formal einen natürlichen Kristallisationspunkt fanden. Der Ausdruck .civilta cristiana" erinnerte stark an .cristianita"; beide Begriffe hatten eine lange Geschichte. Es ist hervorgehoben worden, daß das Wott .cristianita" "Anfang der drei­ ßiger Jahre, genau in dem Moment, als der Stern [der Idee] des Abendlandes zu verblassen begann, in katholischen Kreisen eine eigenrümliche Aktualität"" erlangt habe. Begünstigt wurde eine solche Tendenz durch eine Fülle theoreti­ scher und historischer Untersuchungen zu diesem Komplex (vorwiegend aus dem Bereich der Mediävistik). Im französischen Katholizismus läßt sich diese kumente der Zeitschrift .Oviltil Canolica", verfaßt im Dezember 1849 vooJesuiteopater Carlo Maria Curci (publiziert in F Dante, Storia della .Civiltil Cattolica" [1850-1891]. ll laboratorio del Papa, Rom 1990, S. 141-153): Die programmatische Grundlage der künftigen Zeitschrift soll in der Auseioaodersetzuog mit der "heidoischen Kultur" uod dem .gäozlich heidnischen Begriff der gesellschaftlicheo Zivilisieruog" bestehen, als deren Keime undifferenziert die .unheilvolle Reform im Norden" und die Werke von Machiavelli, Sarpi und Giannone bezeichnet werden. "Heidentum" scheint hier zu bedeuten: Abkeltt von und Opposition gegen "das, was die Kirche unter Katholi­ zismus versteht". 14

Diese Behauptung stammt aus der Eröffnungsrede Monsignore Bemareggis zur

XVITI. Sozialen Woche der italieniachen Katholiken imJalue 1934, zitiert nach: R Moro, La formazione della classe dirigente cattolica (1929-1937), Bologna 1979, S. 436; vgl. dort das Kapitel zur katholischen Debatte über .die Kulturktise", S. 413-476, sowie

aligemeioer L. Mangoni, La civiltil della crisi. Gli intellettuali tra fascismo e aotifascismo, in: Storia dell'Italia repubblicaoa, Bd. 1: La costruziooe della democrazia, Turin 1994, S. 617-718. 15 Pb. Chenaux, Occideote, Cristianitil, Europa. Uno studio semantico, in: A. Canavero I ].D. Durand (Hrsg.), TI fattore religioso nell'integrazione europea, Mailand 1999, S. 47; vgl. auch D. Menozzi, I:Eglise et l'histoire. Une dimension de Ia Chretiente de Uon Xlli il Vaticao li, in: G. Alberigo (Hrsg.), La chretiente eo debat. Histoire, formes er problemes actuels, Patis 1984, S. 45-75.

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Entwicklung besonders gut beobachten. Sie steht hier in einer engen Beziehung zur Verurteilung der Action Fran�aise, welche die Idee des Abendlands mit katholisch-nationalistischer und anti-deutscher Stoßrichtung eingesetzt harte (so z.B. Henri Massis) - spiegelsymmetrisch zu den Absichten, die bedeutende Bereiche des deutschen Katholliismus mit dem Verweis auf das .Abendland" verfolgten". Die katholische Welt Italiens wurden von dieser Entwicklung weit weniger erfaßt, weil die Idee des Abendlands dort nie viel Gefolgschaft gefunden hatte (wenn man von der betont abendländischen Ausrichtung des liberalen Katholi­ zismus a Ia Cesare Balbo absieht17). Allerdings wies der Begriff der christlichen Kultur, wie er in katholischen Kreisen Italiens zwischen den beiden Kriegen verwendet wurde, manche neue Züge auf. Diese Konzeption betonte nicht nur die herausragende Rolle der Religion für die Kultur, sondern evozierte eine direkte Beziehung zwischen dem christlichen Kulturraum und der katholischen Kirche, die sich in einer immer komplexeren Sttuktur von Laienbewegungen und -Organisationen entfaltete und über ein eigenes organisch-umfassendes Lehrgebäude verfügte. Man könnte hier von einer zentripetalen Bewegung sprechen: Der Kirche wurde neben dem Schlüssel zum Himmelreich auch der zur Kultur zuerkannt, und gleichzeitig stellte man sie als die Form (im klassi­ schen Sinn des Begriffs ) dieser Kultur dar: als die einzige Form, die imstande war, die Krise der modernen Kultur zu bewältigen. So wurden die Begriffe Kultur und christliche Kultur tendenziell dek­ kungsgleich. Attacken gegen die Kirche und die katholische Religion, ob sie nun von den sowjetischen Kommunisten, von spanischen Republikanern oder deutschen Nationalsozialisten ausgingen, ließen sich als Angriffe auf die Kultur interpretieren. So konnte man zum Beispiel die italienischen Truppen, die Äthiopien erobern sollten, wenn nicht als Streiter für den Glauben, so doch zumindest als Vorhut der christlichen Kultur feiern, und auch der Spanische Bürgerkrieg ließ sich als Krieg für die Kultur und als Kampf der Kulturen präsentieren und propagieren", wobei eine der beiden Seiten freilich für sich allein beanspruchte, eine Kultur im eigentlichen Sinn zu sein. Die Unterschei­ dung zwischen Verteidigung und Verbreitung des Glaubens und Verteidigung !6 H. Hürten, Der Topos vom christlichen Abendland in Uteratur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen, in:A. Langer (Hrsg.), Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Faderborn 1985, S. 131-154.

" F. Traniel/o, Politica e storia nella formazione di Cesare Balbo, in: G. De Rosa I F. Traniello (Hrsg.), Cesare Balbo alle origini del cattolicesimo liberale, Rom I Bari 1996, S. 13-59. 18 R Moro, La formazione, S. 518; M. Boca; Oltre Io Stato liberale. Ipotesi su politica e societä nel dibattito cattolico tra fascismo e democrazia, Rom 1999, S. 237, sowie allgemeiner C. Campanini (Hrsg.), I cattolici italiani e Ia guerra di Spagna. Studi e ricerche, Brescia 1987.

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der Kultur hatte sich verwischt: pro aris etfocis war zur Losung geworden, die Idee des Kreuzzugs wiedererstanden. Pius XI. leistete einen erheblichen Beitrag, um diesen Prozeß einer Ver· schmelzung von Kirche und christlicher Kultur in Gang zu setzen. Wiederholt hatte der Papst in seinen Botschaften das soziale Reich Christi hervorgehoben, das heilige Heer der katholischen Laien, den unauflöslichen Zusanunenhang zwischen dem Seelenheil und der Etablierung sozialer Strukturen und gesetz· licher Normen, die den kirchlichen Geboten entsprachen. Er hatte damit die Achsen einer "katholischen Ordnung" abgesteckt, die die geschichtlichen Bewegungen der neuen Kultur aufzunehmen vermochte und ihnen innerhalb eines fest umrissenen Horizonts eine Orientierung gab. Vor diesem Hintergrund hatte sich ein breites Spektrum an Strategien und Impulsen intellektueller und religiöser Natur entfaltet, die unter anderem zu divergierenden Bewertungen des faschistischen Regimes führten. So bei den beiden katholischen Gruppierungen, die von der Geschichtsschreibung schon deswegen am besten erforscht sind, weil aus ihnen der bemerkenswerteste und in kultureller Hinsicht am besten gerüstete Kern der .zweiten Generation" der künftigen polirischen Klasse der Democrazia Cristiana (und Italiens) hervorgegangen ist: nämlich die Gruppe der Universita Cartolica von Pater Agostino Gemelli und die von Giambattista Montini aus der Taufe gehobenen Intellektuellenbewegungen innerhalb der Azione Cattolica. Aber allgemein waren die italienischen Katholiken besonders dafür präde· stiniert, das Modell der christlichen Kultur in seiner katholischen Spielart zu enrwickeln und auf sich selbst zu beziehen, da es ihnen gestattete, die ständig präsenten katholisch·nationalen Tendenzen mit organischen Verbindungen zum Heiligen Stuhl zu vereinen. Die Idee von der italischen und lateinischen Kultur als urspriinglichem Kern und treibender Kraft der christlichen Kultur hatte die Beziehungen zum Faschismus vor und erst recht nach den Lateranverträgen begleitet und geprägt. Italien als Vorposten der christlichen Kultur- diese zentrale Vorstellung wurde nicht nur dem Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus entgegengesetzt, sondern in gewissen Grenzen auch dem Nationalsozialismus. Kurz vor Hiders Besuch in Italien im Mai 1938 und kurz nach der Veröffentlichung der Enzyklika .Mit brennender Sorge" erschien in der "Civilta Cattolica" ein Artikel mit dem Titel .Rassistisches Deutschtum und katholisches Römertum", in dem es hieß, daß .die Auffassungen, die die Seele unserer römischen und katholischen, lateinischen und universalen Kultur darstellen, und der nebulöse rassistische Mythos, der die höchsten geistigen Werte leugnet"1', nicht miteinander zu vereinbaren seien.

19 D. Veneruso, TI seme della pace. La cultura cattolica eil nazionalimperialismo fra le due guerre, Rom 1987, S. 167·168.

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V. Die Überschneidung von Religion und Kultur und die Vorstellung vom "lateinischen Block" in den dteißiger Jahren Innerhalb des Paradigmas der christlichen Kultur, wie es in den dreißiger Jahren in Italien vorherrschte, kam der politischen Ordnung eine eindeutig untergeordnete und instrumentelle Rolle zu. Nicht, daß im Modell der christli­ chen Kultur nicht auch die grundlegenden Prinzipien der politischen Ordnung enthalten gewesen wären (sofern es die Idee eines christlichen Staates mit ein­ schloß). Aber die autonome Sphäre der Politik erfuhr hier doch eine weitere beträchtliche Reduktion auf der axiologischen Ebene -und zwar in demselben Maß, in dem die Kirche eine Erweiterung ihrer Kompetenzen als Bewahrerin der kulturellen Werte erlebte. Das galt vor allem in bezug auf die gläubigen Laien und das Netzwerk von Verbänden, in denen sie sich sammelten. Man deutete die Kulturkrise nicht als politische Krise; sie galt allenfalls als Symptom und Auswirkung von zweitrangiger Bedeutung. Also konnte es nicht die Auf­ gabe der Gläubigen sein, auf dem Feld der Politik, die als Ort der Spaltung und des Konflikts wahrgenommen wurde, zu ihrer Bewältigung beizutragen. Der exzessive Rückgriff auf das Paradigma der christlichen Kultur fiel zeitlich zusammen ntit der erst in Italien, dann in Deutschland erfolgten Beseitigung jener Parteien, in denen die katholischen Kreise ein politisches Sprachrohr gefunden hatten; dies geschah mit stillschweigender Duldung, wenn nicht sogar dem stummen Einverständnis der Kirche. Andererseits kam es zu dieser Neubestimmung des Verhältnisses von politischer Ordnung und christlicher Kultur im seihen Moment, in dem die totalitären Staaten eine Hypertrophie der Politik erzeugten; ihr gegenüber erfüllte die Vorstellung einer christlichen Kultur schließlich, auf ihre Weise, eine objektiv kritische Rolle. In einem theoretischen Rahmen, der durch einen traditionellen Relativismus hinsichtlich der .Regierungsformen" gekennzeichnet war und nun allerdings von komplexeren Bedingungen besrimmt wurde, hatte die Idee eines .lateinischen Blocks" an Boden gewonnen: als zwar nicht ausschließliche, aber eindeutig der christlichen Kultur sehr nah verwandte politische Formel. Dieser Block sollte aus südeuropäischen und eventuell lateinamerikanischen Staaten bestehen -auch das Österreich von Engelbett Dollfuß wurde etwas gewaltsam, aber nicht ohne gute Griinde hinzugerechnet - und ein stark ständisches, autoritäres und national-katholisches Gepräge tragen. Dem faschistischen, aber per definitionem katholischen Italien kam dabei eine Scharnier- und Führungsfunktion zu, wenn es ibm gelang, den mühsamen Weg zu einer vollständigen Konfessionalisierung der Institutionen, des geistigen und des gemeinschaftlichen Lehens erfolgreich zu Ende zu gehen. Auf diese Weise hatte ein einheitlicher Raum katholischer Länder Gestalt angenommen, der ein Gegengewicht zum Kommunismus bilden, aber ebenso weit von der Welt der freiheitlich -demokratischen westlichen Staaten entfernt sein und in exklusiver Weise über die geistigen Ressourcen

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verfügen sollte, die für die Verteidigung und den Ausbau der christlichen Kultur unentbehrlich waren. Doch durch den Nationalsozialismus in Deutschland und vor allem durch die plötzlich entstandene Achse Hider-Mussolini waren die Karten neu gemischt worden. Verortete man die christliche Kultur vorzugsweise in dem lateinischen Block, dann ergab sich ein Bild von Europa, das in etwa die Verwerfungslinien des Zeitalters der Reformation und Gegenreform nachzeichnete. Es war also nicht deckungsgleich mit der Santa Romana Repubblica des Mittelalters und auch nicht mit der Vorstellung einer europäischen Kultur, die in Abgrenzung von der römischen und mediterranen Kultur entstanden und durch eine Vielzahl von Völkern, Konfessionen und nationalen "Kulturen" (wie man im 19.Jahrhundert sagte) gekennzeichnet war. Überdies schärften die Bestimmungsmerkmale der christlichen Kultur in Verhindung mit einer festen anti-protestantischen und anti-jüdischen Gesinnung das Bewußtsein der Andersheit, das noch verstätkt wurde durch das Überlegenheitsgefühl gegenüber der nordamerikanischen .Kultur": dem Symbol einer seelenlosen Massengesellschaft, die von Mecha­ nisierung, Technik, praktischem Materialismus, der Religion des Geldes und einem alle Werte und geistigen Traditionen zerstörenden hemmungslosen Kapitalismus beherrscht wurde. Trotzdem verfolgten zu jener Zeit auch katho­ lisch geprägte italienische Wissenschafder wie Francesco Vito aufmerksam die amerikanische WirtSchaft und Gesellschaft; und dies in denselben Jahren, in denen ein noch ganz junger Dozent an der Universita Cattolica, Amintore Fanfani -der Max Weber studiert hatte, um ilm zu widerlegen -behauptete, der Geist des Kapitalismus und die katholische Ethik seien absolut unvereinbar. Jedenfalls hatte die große wirtschaftliche Depression, die sich vom Zentrum der kapitalistischen Moderne aus allmählich im gesamten Westen ausbreitete, neue, unerwartete und schlagkräftige Argumente für die Behauptung einer Kulturkrise geliefert. Diese spezifische Konzeption von christlicher Kultur traf auf eine entinent politische Vorstellung von europäischer Kultur"'. Europa war darin Schauplatz eines friedlichen Wettstreits von Völkern, welche in unterschiedlichen, aber ausnahmslos .gemäßigten" und anti-despotischen politischen Systemen lebten, die durch den Primat des Gesetzes und die Idee der Freiheit und der Legitimi­ tät der Macht gekennzeichnet waren. Gewiß hatte man dem Christentum von Montesquieu bis Burke, von Guizot bis Tocqueville und dem liberalen Katho­ lizismus eines Balbo, Rosmini, Gioberti oder Lord Acton eine entscheidende Rolle dabei zuerkannt, dem europäischen Geist eine derartige Gestalt zu ver­ leihen; und eine ganze Denkrichtung protestantischer wie katholischer Prägung hatte in dem kulturstiftenden Werk der Kirche und in der mittelalterlichen christianitas die Wurzeln des modernen Europa erblickt. Aber dabei hatte man 20

F. Chabod, Storia dell'idea d'Europa, Bari 1%1, S. 49-59.

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sich vomelunlich auf ein gleichsam überkonfessionelles oder akonfessionelles christliches ethos und dessen Auswirkungen berufen und weniger auf das Lehrgebäude oder die institutionellen Strukturen der christlichen Kirchen. Gerade dieses Bild von Europa war jedoch unter dem Einfluß der nationa­ listischen Bewegungen, des Ersten Weltkriegs, der revolutionären Ideologien und der neuen weltlichen Religionen zerbrochen. Daher ließe sich mit Fug und Recht behaupten, daß das katholische Modell von christlicher Kultut in der allgemeinen Krise der Idee einer europäischen Kultur als freiheitlicher Kultur seine Legitimation fand. Selbst ein in seinen Urteilen so unabhängiger katholischer Historiker wie Carlo Morandi, für den die Politik aufs engste mit der modernen, sich seit der Romantik entfaltenden Idee von Europa verknüpft war, leugnete - explizit in Auseinandersetzung mit Chahod, aber indirekt mit Croce -, daß der Europäismus ausschließlich an das .freiheitliche Lebensge­ fühl" geknüpft sei21•

VI. Sturzo und De Gasperl und der Kultutpessimismus Die Persönlichkeit, die zwischen den beiden Kriegen zu jener Auffassung von christlicher Kultur, die ich totalisierend" nennen möchte, am weitesten auf Distanz ging und diesem Begriff eine ganz anders geartete Bedeutung verlieh, war Luigi Sturzo. Und dies hauptsächlich aus zwei Gründen: Sturzo teilte nie die Vorstellung einer globalen Kultutkrise, und zudem waren die Kriterien, die seiner Analyse der modernen Kultur zugrunde lagen, von einem soliden christlichen Historismus geprägt und hatten nichts von dogmatischer Erstar­ rung an sich. In Sturzos Denken stellte die christliche Kultut keine Alternative zur modernen Kultur dar. Obwohl er die Totalitarismen frühzeitig als solche bezeichnete und als einer der ersten erkannte, daß sie sich der christlichen Kultur als alternative ideologische Modelle gegenüberstellten, war er keines­ wegs davon überzeugt, daß die Krise der modernen Kultur notwendig auf sie zulief. Nach Sturzos Auffassung waren die totalitären Regime und Ideologien politische Phänomene, die sich von denen der Vergangenheit durch den Impuls unterschieden, die religiöse Ordnung zu vereinnahmen oder zu zerstören. In diesem Sinne erforderten sie differenzierte Antworten auf unterschiedlichen Ebenen. Ebenso fern war seiner religiösen Mentalität die Idee der christlichen Kultur als eines globalen Projekts, als einer Antizipation des Himmelreichs. In Sturzos Begriff von christlicher Kultur verdichtete sich hingegen eine komplexe Vorstellung, bei der eine religiöse und eine polirische Dimension konvergier•

21 C. Morandi, L'idea dell'unit3 politica dell'Europa nd XIX e XX secolo, in: ders., Scrini storici, hrsg. von A. Saitta, 4 Bde., Rom 1980, hier Bd. 3, S. 49 (dort die These, daß es mindestens drei Typen von Europäismus gebe: den konservativen, den liberalen und den demokratischen).

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ten, ohne miteinander zu verschmelzen. In einer Hinsicht wurde durch den Ausdruck .christliche Kultur" in groben Zügen der Raum umrissen, auf den sich die Präsenz uod das Wirken der Christen erstreckten uod der aufgruod des Wesens ihrer Religion nicht auf die Privatsphäre oder ausschließlich auf Gewissensfragen beschränkt sein konnte; in anderer Hinsicht bezog sich der Begriff auf einen polirischen Raum, der auch mit politischen Mitteln verteidigt werden mußte: "Unter Verteidiguog der chrisdichen Kultur (in polirischer Hinsicht)", schrieb er 1935 anläßlich der Brüsseler Zusammenkunft des Exe· kutivkomitees des Secretariat international des Partis democrates d'inspiration chretienne, "verstehen wir die Verteidiguog der moralischen uod rechtlichen Prinzipien, die der politischen Konzeption der zivilisierten Staaten eigentümlich sind, insbesondere was die Achtung der Person uod des Persönlichkeitsrechts, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Rechtspflege, die Achtuog der Rechte der Familie uod der christlichen Religion, die Verwirklichuog sozialer Gerech· tigkeit uod die Zusammenarbeit der Klassen, die internationale Kooperation zwischen den Staaten uod die Durchsetzuog des internationalen Rechts auf Frieden zwischen den Völkern betrifft"". Denen, die ihn darauf hinwiesen, daß .die dringliche Aufgabe der Verteidiguog der christlichen Kultur" nuo Vorrang vor der Pflicht zur Verteidiguog der Demokratie habe, antwortete er trocken, diese Verteidiguog dürfe nicht als .ein Kreuzzug" verstanden werden uod die Führuogsrolle müsse dabei "von der demokratischen Richtung mit demokratischen Mitteln ergriffen werden". Sturzos wichtigster Text zu diesem Thema ist der Aufsatz, der uoter dem Titel .Germanesimo e civiltii ctistiana" in den 1938 aufFranzösisch uodEnglisch erschienenen Band .Politica e morale" aufgenommen wurde. Sturzo bestreitet hier die Schicksalhaftigkeit des Faschismus ebenso wie des Nationalsozialismus uod bemerkt, daß .alle staatsvergötternden, nationalistischen, einer Klassen· ideologie anhängenden uod rassistischen Strömuogen die Freiheit negierten: jede Freiheit, alle Freiheiten, nicht nur die politische, sondern auch die Freiheit, die in persönlicher Autonomie, in Achtung vor der menschlichen Person, in Achtuog vor dem individuellen Gewissen, in Achtung vor dem sittlichen, kul­ turellen uod religiösen Leben jedes einzelnen uod aller ihren Ausdruck findet": genau hierin offenbare sich die antichristliche Natur dieser Beweguogen. Nuo, angesichts der Judenverfolgung, .schwiegen Katholiken uod Protestanten, die religiösen Zeitungen, die Verbände uod ihre Organe; einige stimmten der [anti­ jüdischen] Kampagne sogar aus uoterschiedlichen Motiven, Sentiments oder Ressentiments heraus zu, die zwar nicht jeglicher Gruodlage entbehrten, aber nicht opportuo uod im Gruode auch nicht christlich waren". Sie erkannten nicht, daß die Rassentheorie .in ihrem Kern auch die Gründe für einen Kampf 22 D. Veneruso, ll fattore religioso come fondamento dell'unitii europea al .Conve­ gno Volta" nell'ottobre 1938, in: F Canavero I J.D. Durand (Hrsg.), ll fattore religioso,

s.

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gegen das Christentum enthielt" und daß sich die Verteidigung der Religion und der christlichen Kultur nicht von der Verteidigung .der in der Freiheit enthaltenen menschlichen Werte" trennen ließ". Der Verzicht auf die .von der Freiheit bereitgestellten Mittel des Widerstands" hatte zu einem Rückzug auf die . rein religiöse Verteidigung" gefiihrt, die unter den Bedingungen eines politischen Despotismus kraftlos werden mußte. Gewiß fanden Sturzos Ideen damals keine Verbreitung in Italien, sie stießen auch in den katholischen Kreisen des Auslands nur auf mäßige Resonanz. Und doch zeigte sich in ihnen symptomatisch das Substrat einer politisch-religiösen Tradition, die einen Teil der Führungsschichten der katholischen Volkspartei tief geprägt hatte. Dieses Substrat war Spannungen ausgesetzt, die sich aus der Auseinandersetzung mit den totalitären Systemen ergaben, und so stinunten die aus ibm erwachsenden Reflexionen und Aussagen zwar nicht immer miteinan­ der überein (auch wegen der unterschiedlichen Erlebnisse und Erfahrungen in der Zeit des Faschismus), ergaben sich aber dennoch folgerichtig aus einigen gemeinsamen Grundsätzen. Alcide De Gasperl äußerte Ansichten, die denen Sturzos nicht femstanden, auch wenn sie weniger systematisch ausgearbeitet waren und ihre politische Umsetzung noch ungewisser war. Eine wichtige Gelegenheit zur Darstellung seiner Ideen bot ibm 1932 das Erscheinen von Benederto Croces .Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert". Dieses Werk ließ sich durchaus als Loblied auf die europäische Kultur als liberale, auf der Religion der Freiheit begriindete Kultur lesen und hatte in katholischen Kreisen eine heftige Polemik ausgelöst. De Gasperl tat so, als billige er diese Kritik, distanziert sich in Wahrheit aber von ihr. In einem Brief an den Trentiner Freund Don Sirnone Weber meinte er, die Geschichte Europas" sei .ein mächtiger Angriff auf die katholische Kirche als Feindin der Freiheit", wobei er präzisierte, daß die Einwendungen von katholischer Seite - er nannte ausdrücklich diejenigen Giovanni Papinis und der .Civilta Cattolica"- .wirklich sehr gut" seien, sich jedoch nicht mit .der Hauptsache, nämlich der politischen Freiheit" auseinandersetzten, da sie sich ausschließlich .bei den philosophischen Voraussetzungen oder bei den rein antireligiösen Attacken Croces" aufgehalten hätten Ich habe versucht", so fögte er hiozu, .den Stier bei den Hörnern zu packen und aufzuzeigen, daß in der Geschichte des XIX. Jahrhunderts die Katholiken för die politische Freiheit eintraten"". Diese T hese fiihrte er in einem langen Artikel aus, der in .Studium", der Zeitschrift der katholischen Akadentiker erschien; in diesem Beitrag finden sich bereits verschiedene Verweise auf Montalembert. •

.



:n L. Sturzo, Politica e morale, jetzt in: ders., Politica e morale (1938) Coscienza e politica. Note e suggerimenti di politica pratica (1953), Bologna 1972, S. 128-130. -

24 R Moro, La fonnazione, S. 509.

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De Gasperl führte drei Hauptargumente ins Feld: erstens die grundlegende Rolle der Kirche, wenn es darum ging, "den Auswüchsen der weltlichen Gewalt Schranken zu setzen"; zweitens die Verbreitung von Fermenten christlicher Brüderlichkeit in der .gegenwärtigen Kultur", die die Überwindung der abso­ lutistischen Herrschaftssysteme gefördert hatten; und schließlich den Beitrag der Katholiken in verschiedenen europäischen Ländern bei der Einführung und Verteidigung verfassungsrechtlich garantierter Freiheiten". Ein ganz anderes Urteil über Croces Werk fällte Stefano Jacini in einer privaten Mitteilung an De Gasperi. Der lombardische Katholik bekundete zunächst seine Bewunderung für Croces .großen Kampf für die Freiheit"; die Päpste des 19. Jahrhunderts hätten sich nicht in ähnlicher Weise um die Freiheit verdient gemacht, seien sie doch .mit Ausnahme einer kurzen Periode unter Pius VII. und eines Beinahe-Mißverstiindnisses bei Pius IX. allesamt Feinde der Freiheit" gewesen. Dann jedoch machte er darauf aufmerksam, daß Croce in einer merkwürdigen Weise mit den .rückständigsten Lehren der alten ,Civilta Cattolica'" übereinstimmte, weon er "katholisches Leben, Handeln und Denken mit den fragwürdigsten Haltungen, mit den nebensächlichsten Handlungen der kirchlichen Autorität oder gar mit der Politik des Papstkönigs" gleichsetzte und in seiner .Geschichte Europas" die .große liberale und demokratische Strömung, die die Kirche während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts durchzogen hatte", unterschätze. Jacini bemerkte freilich auch, daß es dieser Strömung nie oder fast nie gelungen war, "sich in der Politik der römischen Kurie durchzusetzen", obwohl ihre Vertteter doch .fast in ihrer Gesamtheit von Rosmini über Montalernbett bis Curci ... innerhalb der Grenzen der strengsten und eifrigsten Orthodoxie" verharrt hatten". Wenige Jahre später, als der Krieg bereits ausgebrochen war, bekräftigte Jacini diese Auffassung, als er in der Zeitschrift .Studium" auf das gleiche T hema zurückkam und behauptete, der Fortschritt der Freiheit sei im katholischen Umfeld tatsächlich nur .durch das Werk von Außenseiter- und Randgruppen" gefördert worden, deren Vermächmis erst später Teil des geistigen Erbes des Katholizismus wie auch des Lebens der modernen Staaten" wurde". •

Es ist hier nicht der Ort, die Angemessenheit divergierender historischer Urteile zu prüfen, die nicht nur stark durch den Bezug auf verschiedene nationale Kontexte geprägt sind, sondern auch durch ihre recht unterschied­ lichen kulturellen Wurzeln. Bei ihrem Versuch, die Geschichte der Katholiken wieder mit der Geschichte der Freiheit als politischer Achse der europäischen .v A. Giovagnoli, La cultura democristiana. Tra Chiesa cattolica e identit3 italiana (1918-1948), Rom I Bari 1991, S. 111-112. 26 Brief von S. Jacini aus dem Jahre 1932, in: M.R. De Gasperi, De Gasperl scrive. Corrispondenze con capi di stato, cardinali, uomini politici, giomalisti, diplomatici, 2 Bde., Brescia 1974, hier Bd. I, S. 173-175.

:n R. Moro, La formazione, S. 513.

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Kultur zu verbinden, griffen De Gasperl wie Sturzo zwangsläufig zahlreiche im liberalen Katholizismus entwickelte Paradigmen auf", obwohl sie beide nicht in dessen direkter Traditionslinie standen. In diesem Sinn kann man behaup­ ten, es sei bei De Gasperl während seiner Jahre in der geschäftigen Stille der Biblioteca Vaticana zu einem gewissen Gesinnungswandel" gekonunen29• Er las damals einige wichtige Beiträge von Etienne Gilson und besonders von J acques Maritain, den Vorläufern und Wegbereitem von "Hurnanisme integral": so etwa den Aufsatz .Ideal historique d'une nouvelle chretiente", der im Januar 1935 in der Vie intellectuelle" erschienen war, und den Band .Du regime temporel et de Ia liberte". De Gasperl machte in der "lliustrazione vaticana" vom 16. Februar 1935 auf diese Publikationen aufmerksam". •



Von allen ausländischen katholischen Autoren, deren Schriften in Italien Verbreitung fanden, hatte Maritain am intensivsten über den Kulturbegriff nachgedacht (und dachte weiterhin darüber nach, nicht zuletzt in Auseinander­ setzung mit den Arbeiten des Ethnologen Marcel Mauss und des Historikers Lucien Febvre''). Doch nicht nur dies: Er beklagte auch, daß die Begriffe .civi­ lisation" und .Kultur" sich im Sprachgebrauch zunehmend überschnitten oder sogar synonym verwendet wurden, und forderte, den ersteren in der politischen Sphäre anzusiedeln, während er den religiösen Faktor dem Bereich der Kultur zuordnete". Allerdings hatte er darauf hingewiesen, daß es ein zweifacher Irrtum sei, die Kirche als eine bestinnute Kultur zu verstehen oder, umgekehrt, den Katholizismus an eine bestinnute Art von Kultur zu verkaufen", auch wenn diese das Attribut .christlich" trage''. Die Definition der christlichen Kultur "im Sinne einer einzigen Form" hatte er deswegen als eine reine "Abstraktion" oder einen "Idealtypus" bezeichnet, der in der historischen Wirklichkeit ein •

28 P. Scoppola, La proposta politica di Oe Gasperi, Bologna 1977, S. 78 ff. " A.

Monticone, Alcide De Gasperi, S. 57.

30

Jetzt in: A. De Gasperi, Scritti di politica internazionale, 2 Bde., Vatikanstadt 1981, hier Bd. 1, S. 242-246. Jl Zu nennen wäre hier insbesondere der Vortrag bei der ersten Semaine inter­ nationale de synthese im Jahre 1930 mit dem Titel "Civilisation, le mot, l'idC:e", später als L. Febvre, Civilisation: evolution d'un mot et d'un groupe d'idf:es, aufgenommen in: ders., Pour une Histoise a patt entiere, Paris 1962, S. 481-528.

" In .Religion et culture" aus dem Jahre 1930 findet sich unter anderem eine Anmerkung zum Begriff .civilisation", die von dem zitierten Tagnngsband angeregt wurde; in der Diskussion über die Verwendung der Begriffe .culture" und .civilisation behauptete Maritain, daß der erste vornehmlich dazu diene, "1'aspect rationnel et moral", und der zweite, "l'aspect social et plus ptecis6nent l'aspect politique et institutionnel" der menschlichen Entwicklung zu bezeichnen (2. Auf!., Paris 1946, S. 105). •

" Ebd., S. 57. Ein wichtiger Beitrag zur begriffsgeschichtlichen Klärung des Ver­ hältnisses zwischen dem augustinischen Gottesstaat, der Christianitas und Europa findet sieb in dem gtoßen Werk von E. Gilson, Les metamorphoses de Ia Cire de Dieu, Löwen I Paris 1952, in dem der Nachball der Diskussion der dreißiger Jahre überdeutlich ist.

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Spektrum von gleichermaßen als christlich zu definierenden Kulturen zuließ. Das hatte es ihm bekanntlich erlaubt, das unwiderrufliche Ende der sakralen .christlichen Kultur des Mittelalters" zu verkünden und das Ideal eines neuen, ,profanen' Christentums zu entwerfen. Dadurch erfuhr der Begriff der christ­ lichen Kultur aber in gewisser Hinsicht eine radikale Umformung, denn sie erschien nun als ein Netzwerk von .Feuerstellen christlieben Lebens, die über alle Nationen in der großen überkulturellen Einheit der Kirche verstreut sind"; andererseits konnte dadurch aber prinzipiell die von den Gläubigen bewirkte Verbindung zwischen den .Strukturen" der weltlichen Herrschaft und der .christlichen Lebensauffassung" enger werden'"'. Trotzdem waren die Thesen Maritains (zumindest bis zu den Revisionen, die er während seiner Jahre in Amerika vomalun) und weit mehr noch ihre Adaptationen in Italien in Hinblick auf eine polirische Umsetzung äußerst zwiespältig. Von seinen Schriften gingen bedeutende Anregungen aus: bei­ spielsweise in bezug auf die Autonomie der politischen Zwecke oder auf den Unterschied zwischen dem Handeln der Gläubigen "als Christen" und ihrem Handeln .wie Christen" in der irdischen Realität: ein qualitativer Unterschied, auf den sich das Gebäude der neuen Christenheit stützte. Um Maritains Ideal der neuen Christenheit eine leichtere Aufnalune in Italien zu ermöglichen, deutete De Gasperi es als eine "palingenetische" Erneuerung der katholischen Gesellschaftslehre - ausdröcklich verwies er dabei auf Leo XII I., Charles Perin, Ludwig Hettling und Giuseppe Toniolo-, auch wenn er damit dessen ureigenste Intention verfälschte; und zugleich sah er darin eher einen .Mythos im Soreischen Wortsinn" als ein konktetes historisches Projekt. Er deutet an, daß es manche Anlässe zu Widerspruch gebe, ohne dies jedoch konktet auszuföhren, bekundet dann aber starke Zustimmung zu der Ansicht des französischen Philosophen, "nach christlicher Weise politisch zu leben", habe bei der Errichtung .der neuen Kultur" Vorrang vor .äußerlichen Mecha­ nismen und institutionellen Reformen". In De Gasperis Darstellung zeigt sich die Neigung, die Idee einer neuen Christenheit sozusagen in einen traditionelleren Rahmen zuröckzuföhren, wobei sie zugleich aber auf programmatischer Ebene an Klarheit und Bestimmtheit verlor.

VII. Wandlungen der Idee einer christliehen Kultur während des Zweiten Weltkriegs Der Zweite Weltkrieg bedeutete- nicht nur im übertragenen Sinn- die Feuerprobe für die Idee der christlichen Kultur und zugleich der europäischen

34 A. Pavan, Un "progetto" nella cultura cattolica degli anni '30? Riflessioni sulla nozione di progetto, in: L'idea di un progetto storico. Dagli anni '30 agli anni '80, Rom 1982, s. 52-56.

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Kultur. Beide Ideen waren nämlich hochgradig konfliktträchtigen Umfor­ mungs- und Auflösungsprozessen unterworfen. Versuche einflußreicher Stim­ men des katholischen Italien, die Kriegsteilnahme des Landes mit dem Zweck der Verbreitung der christlichen Kultur und mit der Logik einer neuen, auf Gerechtigkeit gegründeten Ordnung zu rechtfertigen", wurden in dem Moment offenkundig widersinnig, als Hider in der .Achse" die Vorherrschaft an sich riß und die Errichtung seiner nationalsozialistischen .Neuen Ordnung" pro­ klamierte; ihr definitives Ende fanden derartige Begründungsversuche in der verheerenden militärischen Niederlage Italiens. Schon in den ersten drei Kriegsjahren zerstoben die verbliebenen lliusionen, man könne das faschistische Italien zum Vorposten der christlichen Kultur machen. Dies war auch der Grund für den beschleunigten Prozeß der Abset­ zung der Kirche und der katholischen Kreise vom Regime und für die breite, mit Passivität gemischte Zustimmung, mit der sein Untergang aufgenommen wurde. Die Übertragung der Idee des heiligen Kreuzzuges auf den Krieg Italiens war zwar, wie aus zeitgenössischen und späteren Zeugnisse hervorgeht, unter den Frontsoldaten verbreitet; doch der Heilige Stuhl, der die Kriegsteilnahme Italiens anfangs ablehnte und sich später wiederholt beiden Kriegsparteien gegenüber weigerte, dem Krieg seinen religiösen Segen zu erteilen, konnte durch seine Haltung solche Entwicklungen erheblich eindämmen. Der Krieg setzte einen neuen geopolitischen und ideologischen Rahmen, den die katholische Welt Italiens überhaupt nicht vorhergesehen hatte, schuf aber damit zugleich auch die Bedingungen dafür, daß die Idee der christli­ chen Kultur wieder ins Spiel gebracht werden konnte: als eine Formel, die modifiziert und eventuell mit neuen Inhalten gefüllt werden mußte, die aber besser denn je imstande war, als Quelle der Inspiration für das Verhalten, für Projekte und Programme zu dienen. Zu keiner anderen Zeit hatte man sich in der katholischen Welt Italiens auf allen Ebenen des geistigen Lebens, der Verbände und kirchlichen Strukturen so häufig auf die christliche Kultur beru­ fen wie während des Zweiten Weltkriegs, auch wenn dieser Bezug vielfältige Konturen annahm. Immer weniger verstand man christliche Kultur als ein zu bewahrendes Erbe und immer mehr als eine neue christliche Ordnung, die auf den Triimmem einer alten, von der Katastrophe des Krieges ausgelöschten Ordnung errichtet werden sollte. Von Bedeutung war hier insbesondere die Frage nach den Beziehungen oder Widersprüchen zwischen einem solchen allgemeinen Impuls zur Errichtung des christlichen novus ordo und der Idee von Europa - sofern man sich dieses überhaupt noch mit einem eigenen kul­ turellen Profil vorstellen konnte.

" R Moro, I cattolici italiani di fronte aila guerra fascista, in: M. Pacetti I M. Papini IM. Saracinelli (Hrsg.), La cultura della pace dalla Resistenz• al Patto Adantico, Ancona 1988, S. 75-126; M. Bocci, Oltre lo Stato liberale, S. 251-253.

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Es ist wohl überflüssig, noch eirunal die Rolle von Pius XII. hervorzuheben, der nicht nur die Idee der christlichen Kultur tendenziell neubestimmte, son­ dern sie auch als entschiedene und realisierbare Antwort auf die Katastrophe einer Kultur vorschlug, die im Krieg ihr verheerendes Ende gefunden hatte. Pius XII. verlieh so dem Paradigma der christlichen Kultur die mobilisierende Kraft eines allgemeinen Zids, mit dem sich vor allem die Gläubigen identi­ fizieren konnten, aber auch all jene, die sich aus unterschiedlichen Grüuden mit seinen wesentlichen Aspekten identifizierten (wesentlich im Sinne der vom Papst umrissenen Vorstellung von christlicher Kultur). Hier sind jedoch einige Bemerkungen über die Wttkungen und die Resonanz von Lehre und kirchlicher Amtsführung Pius' XII. in Italien nötig. Zunächst fällt auf, daß das Modell der christlichen Kultur im Sinne von Pius XII . insofern eine Tendenz zur Dekontextualisierung besaß, als es dazu neigte, sich aus allen Bezügen zu bestimmten territorialen oder kulturellen Bereichen zu lösen. Der Begriff Kultur erhidt so nicht nur eine ganz besondere Bedeutung, sondern entfernte sich auch von den Modellen der mittdalterlichen Christenheit, den eurozentrischen Auffassungen von christlicher Kultur aus dem 19. Johrhundert und den betont nationalistischen Ausprägungen dieser Idee im Italien, Frank­ reich oder Spanien der Vorkriegszeit. Was Pius XII. unter christlicher Kultur verstand, bezog sich in erster Unie auf eine begrenzte und eingrenzbare Art von Kultur, wurde aber dargestellt als eine übergeschichtliche und überterritoriale Kategorie universaler Prinzipien, auf die keine historische Kultur das Allein­ recht beanspruchen konnte. Das Adjektiv .christlich" benanote also nicht das proprium einer Kultur, sondern das quid commune verschiedener und potentiell aller Kulturen. Ein Beispid findet sich in der päpstlichen Rundfunkansprache vom 1. September 1944, die zur Gänze dem Thema der christlichen Kultur gewidmet war: .Eine alte Wdt liegt in Trünunem. So bald wie möglich aus diesen Ruinen eine neue, gesündere, rechtlich besser geordnete Welt erstehen zu sehen, die mit den Erfordernissen der menschlichen Narur mehr in Einklang steht: dies ist der bren­ nende Wunsch der geschundenen Völker ... Werden den leid- und verhängnisvollen Irrtörnern der Vergangenheit vielleicht andere nicht minder beklagenswene folgen, und wird die Wdt endlos von einem Extrem ins andere fallen? Oder wird dank des Wttkens weiser Herrscher der Völker das Pendd zur Ruhe kommen bei Ent­ scheidungen und Lösungen, die nicht dem göttlichen Recht widersprechen und nicht dem menschlichen und vor allem christlichen Gewissen widerstreben? Von der Antwort auf diese Frage hängt das Geschick der christlichen Kulrur in Buropa und in der Wdt ab - einer Kultur, die, weit davon enrfemt, all den besonderen und so mannigfaltigen Formen zivilisienen Lehens, in denen sich der eigentümliche Geist eines jeden Volkes offenbart, Argwohn oder Vorurteil entgegenzubringen, sich vidmehr in sie einfügt und dort die höchsten ethischen Prinzipien zum Leben erweckt: das moralische Gesetz, das den Herzen der Menschen vom Schöpfer eingeschrieben ist, das von Gott sich herleitende Naturrecht, die grundlegenden Persönlichkeitsrechte und die Unantastbarkeit der menschlichen Würde . . In einer jener widerspruchsvollen Entwicklungen, in die sich der Verlauf der Geschichte .

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staffelt, haben die letzten Jahrhunderte erlebt, wie einerseits die Grundlagen der christlichen Kultur selbst systemarisch untergraben wurden, andererseits jedoch ihr Erbe sich nichtsdestoweniger über alle Völker ausbreitete. Europa und die anderen Erdteile zehren noch immer, in unterschiedlichem Maße, von den Lebenskräften und den Prinzipien, die das christliche Denken ihnen, gleichsam als eine spirituelle Bluttransfusion, übertragen hat"36.

Andererseits rekurrierte Pius XII., als er das Wesen der christlichen Kultur umriß, auf kategorische Instanzen (Naturrecht, Rechtsordnung, die menschliche Person und ihre Rechte, Schranken der politischen Macht), die historisch zwar zur abendländischen Kultur gehörten, aber, aus der päpstlichen Perspektive, vom Christentum und vom "christlichen Denken"- im Sinne der philosophia perennis- den Segen der Universalität empfangen hatten. Nicht ganz zu Unrecht hat man in der Lehre von Pius XII. den Versuch gesehen, einige zentrale Begriffe der abendländischen Kultur neu zu formulieren, sie zugleich aber in einer objektiven Wertordnung zu verankern, die dem Menschen gegeben und seinem vernünftigen und moralischen Wesen als unaufhebbare Bedingung eingeschrieben sein sollte, um zu vermeiden, daß daraus Systeme der Willkür, Unterdrückung und Gewalt hervorgingen: die Kirche behauptete, von Gott zur Hüterio und Deuterio dieser das Naturrecht erzeugenden Ordnung bestellt zu sein37• Daß Pacelli für sich dieses Amt des Auslegers und Vordenkers beanspruchte, davon zeugt eine dichte Folge von Botschaften des Papstes: Botschaften über die regulierenden Prinzipien der internationalen Ordnung und der inneren Ordnung der Nationen aus den Jahren 1941 und 1942 sowie über die Pro­ bleme der Demokratie und des Friedens aus dem Jahre 1944. Sie steckten den Rahmen ab für die Rundfunkbotschaft über die christliche Kultur, wenn nicht sogar für das gesamte noch folgende gewaltige Oeuvre seiner Lehre. Als Beispiel sei hier nur die Darstellung der Demokratie in der Rundfunkbotschaft zu Weibnachten 1944 genannt: .Eine gesunde Demokratie, gegründet auf die unwandelbaren Prinzipien des Natur­ rechts und der offenhatten Wahrheiten, wird entschieden jene Verderbnis ablehnen, die der Gesetzgebung des Staates zügel-und schrankenlose Macht zuerkennt und die auch aus der demokratischen Regierungsform, trotz des gegenteiligen, aber nichtigen Scheins, schlicht und einfach ein absolutistisches System macht"". Ein solches Bestimmungsmerkmal für die christliche Kultur führte zu einem komplexen und dialektischen Verhältnis zwischen der Idee von Europa und " Rundfunkbotschaft vom 1. September 1944, in: I. Giordani (Hrsg.), Le encicliche sociali dei Papi da Pio IX a Pio Xll, 4. Aufl., Rom 1956, S. 784-785. 37 A. Acerbi, La Chiesa nel tempo. Sguardi sui progeni di relazione tra Chiesa e societil civile negli ultimi cento anni, 2. Aufl., Mailand 1979, S. 169-173. 38 Rundfunkbotschaft zu Weihnachten 1944, in: I. Giordani (Hrsg.), Le endeliehe sociali, S. 807.

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der Idee vom Abendland, und diese Differenz trat in der Nachkriegszeit und in der Epoche des Kalten Krieges noch deutlicher hervor. In der Perspektive Pius' XII. hatten Europa und das Abendland einen hohen Stellenwert als Raum, in dem die christliche Kulrur entstanden war; gegenwärtig war jedoch die Bezeichnung "christliche Kulrur" nur insofern angemessen, als sich in der moralischen und kulrurellen Strukrur Europas und des Abendlandes die Spuren der Prinzipien erhalten hatten, die die Kirche dort eingepflanzt hatte und deren Hütetin sie weiterhin blieb. Die Kirche löste sich so zwar grundsätzlich von der Gleichsetzung der christlichen Kulrur mit dem Abendland oder mit Europa, behauptete aber gleichzeitig, daß dort die Spuren der christlichen Kultur ihre fortdauernde Wirkungskraft bewahrt hätten. Ausgehend von diesen Spuren, wurde die Errichtung einer neuen christlichen Ordnung als Ziel für die Zukunft denkbar. Es lag in der Lehrkompetenz der Kirche, nicht nur die Kriterien der Zu· gehörigkeit der eigenen Gläubigen zur religiösen Orthodoxie, sondern auch die Einschluß- oder Ausschlußkriterien bezüglich der christlichen Kultur festzulegen. Daraus ergab sich ein vielfältiges Bild der verschiedenen mensch­ lichen Gesellschaften, das bestimmt war vom Grad des von der Kirche auf sie ausgeübten Einflusses und dementsprechend vom Maß an Übereinstimmung dieser Kulmren mit dem Kanon der christlichen Kulrur. In diesem spezifischen Rahmen sah man Italien und seine Kultur noch immer auf einem herausra­ genden Platz, waren sie doch durchdrungen vom tausendjährigen Werk der katholischen Kirche und der Präsenz ihrer institutionellen Spitze in Rom - der "heiligen Stadt", die eine Aura des Sakralen über die gesamte katholische Nationpar excellence verbreitete. Diese Haltung verstärkre sich noch in dem Vakuum nach dem Zusammenbruch des Nationalstaates und der zunächst liberalen, dann faschistischen Ordnung, die ihn getragen hatten. Der Fall Italien wurde zum apokalyptischen Emblem eines Konflikts. Auf dem Spiel stand das Schicksal der Religion und mit ihm auch das Schicksal der ehrist­ Iichen Kulrur - in dem doppelten Sinne einer bestehenden Kultur und eines Ortes, der für das Experiment und den Aufbruch zu einer neuen christlichen Ordnung prädestiniert war.

VIII. Die Idee einer neuen ehristliehen Kultur und eines Kampfs der Kulturen in der Nachkriegszeit Es würde zu weit führen, hier auch nur summarisch das vielfältige Echo zu untersuchen, das die Neuformulierung des Paradigmas einer christlichen Kulrur durch Pius XII. auslöste. Dieses Paradigma berührte und vermischte sich bisweilen nicht nur mit anderen alten und jüngeren Tendenzen kultureller und religiöser Natur. Es traf auch in entscheidender Weise zusammen mit der

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Wiederbelebung der pluralistischen Politik, der Wiedergeburt der Parteien, den Erwartungen, die der Befreiungskampf geweckt hatte. Eioe auch nur partielle Bestandsaufnahme des Vorkommens des Ausdrucks .christliche Kultur" in jener Zeit wäre unmöglich. Auf Grund der mnfangreichen Literatur, über die wir verfügen, läßt sich jedoch folgendes konstatieren: Der Rahmen, den Pius XII . für eine christliche Kultur entwarf, stellte für einen sehr mnfangreichen und wachsenden Kreis von Vereinigungen, die hauptsächlich in der großen Bewegung der Azione Cattolica versammelt waren, und für andere katholische Gruppen einen fast obligatorischen Bezugspunkt und einen Anlaß zur Mobili­ sierung dar. Und er gab ihoen Gelegenheit zu Initiativen verschiedener Art, die es mehr oder minder erfolgreich unternahmen, aus den allgemeinen Vorgaben programmatische Linien abzuleiten - die freilich reichlich abstrakt blieben. Man muß aber auch anmerken, daß die Impulse, die von der Kirchenspitze ausgingen und sich auf allen Ebenen einer in Gärung befindlichen katholischen Welt verbreiteten, höchst unterschiedlich aufgenommen und interpretiert wurden. Im allgemeinen bestätigten die Lehraussagen Pacellis die Auffassung, daß die vom Papst nun konziser formulierte katholische Lehre die umfas­ senden Prinzipien einer neuen Ordnung enthielt, die auf sämtliche Fragen Antworten gab, die offen waren, seit eine bald als liberal, bald als bürgerlich oder kapitalistisch bezeichnete Kultur ihr Ende gefunden hatte. Auf ihren Triinunem standen sich nun nur noch zwei Kulturmodelle gegenüber, die die notwendige Kohärenz und organische Geschlossenheit besaßen, um sich als solche präsentieren zu können: die .neue christliche Ordnung" und die .neue kommunistische Ordnung" (auch wenn sich im Lauf der Auseinandersetzung etliche Ähnlichkeiten zeigten, zumindest aufgrund der polingenetischen Impulse, die sie beide beseelten). Die größten Diskrepanzen in der katholischen Welt ergaben sich vor allem bei der Frage, ob sich die Prinzipien der christlichen Kultur überhaupt in die politische Dimension umsetzen ließen und wie sie schließlich innerhalb des sich abzeichnenden Kontexts eines Mehrparteiensystems und eines ideologischen Pluralismus konkret umzusetzen waren. Hier kam es, in großen Zügen und mit verschiedenen Abstufungen, zu einer Polarisierung zwischen einer strikt klerikalen und konfessionellen Linie und einer Linie, die ich als neo-konstitu­ tionalistisch und konstruktivistisch bezeichnen möchte. Erstere ging aus von der Vorentscheidung, daß aus der christlichen Kultur gerade in Italien ein im konfessionalistischen Sinne christlicher Staat hervorgehen müsse, der der Kirche, ihren Institutionen und ihrem Netzwerk von Verbänden diente, was in der Forderung gipfelte, dem Katholizismus verfassungsrechtlich das Privileg einer Staatsreligion qua Nationalreligion zuzuerkennen. Die zweite ging aus von der Vorstellung, daß die allgemeinen Ideen der christlichen Kultur zu einer organischen politischen Kultur ausgearbeitet werden müßten - deren Ziel die civitas humana war und die als vorrangige und ureigene Aufgabe der

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christdemokratischen Partei gedacht wurde - und daß sie zudem in ein klar umrissenes Programm zu überführen seien: Dabei war zunächst die zu schaf­ fende Verfassungsorduung mit dem .christlichen Geist" zu durchdringen, der durch jene politische Kultur vermittelt wurde". Aus diesen divergierenden Perspektiven ergaben sich unter anderem zutiefst unterschiedliche Auffassungen von Zweck und Funktion des Staates. Innerhalb einer solchen scheinbar doppelten Polarität, bei der man einer­ seits der christlichen Kultur eine universalistische Bedeutung zuschrieb und andererseits für Italien einen herausragenden Platz in dieser Kultur bean­ spruchte, wurde das Thema der .kulturellen Sendung" wieder als nationaler Identitätsfaktor aktuell. Dadurch blieb freilich nicht mehr viel Raum für das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen, von religiösem Pluralismus gekennzeichneten europäischen Kultur, und es wurde die Möglichkeit verstellt, Europa als eminent politisches Problem zu begreifen. Auch in dieser Hinsicht blieb Sturzo, der schon früh einen europäischen Föderalismus verfocht, ein einsamer Mahner auf der anderen Seite des Adantiks. Ein schlagender Beweis dafür sind der marginale Status und die pauschale Behandlung der europä­ ischen Dimension im öffentlichen Diskurs der katholischen Kreise während des Krieges und bis in die ersten Nachkriegsjahre hinein. Eine der seltenen Ausnahmen stellt die Mailänder Gruppe der sogenannten"Guelfen" um Piero Malvestiti dar, eine der ersten organisierten Zellen, die in der Gründungsphase der christdemokratischen Partei mit De Gasperl Kontakt aufnahmen. Bereits 1942 verfaßte sie ein unter der Bezeichnung .Die zehn Punkte" bekann­ tes Dokument, in dem sich auf bemerkenswerte Weise die Perspektive der .Christenheit", deren"Wiederherstellung im Geiste der modernen Zeit und " Grundsätzliche Gelegenheit zur Gegenüberstellung der beiden Linien, die schließlich in zwei verschiedene Vorstellungen von einer .christlichen Verfassung" mündeten, bot die Soziale Woche der italienischeo Katholiken zum Thema Verfas­ sung und verfassunggebeode Versammlung", die vom 22. bis zum 28. Oktober 1945 in Florenz statrfaod: vgl. R. Moro, I movimeoti intellettuali cattolici, in: R. Ruffilii (Hrsg.), Cultura politica e partiti nell'etli della Costituente, 2 Bde., Bologna 1979, hier Bd. 1: I:area liberal-democratica. ll mondo cattolico e Ia Democrazia Cristiaoa, S. 224 ff.; M. Casella, Cattolici e Costituente. Orientamenti e iniziative del cattolicesimo organizzato (1945-1947), Rom 1987, S. 145 ff. Ein wichtiges Dokument der konstruktivistischen (und voluntaristischen) Linie, die von der These ausging, es habe die "Erneuerung der Struktur einer Kultur" und ein Wandel des .Kultuttypus" stattgefunden, die aber gleichzeitig auf die Gefahren .eines katholischeo Imperialismus" hinwies, .eines Messianismus, der uns dazu drängt und uns die trügerische Hoffnung eingibt, auf Erden ein himmlisches Jerusalem zu errichten, also eine einheitliche und völlig von Christentum durchdrungene Stadt", ist der Vortrag von Giuseppe Dossetti auf dem ersten Kongreß des Verbandes Civitas Humana am 1. November 1946, veröffentlicht in: P. Pombeni (Hrsg.), Alle origini della proposta culturale di G. Rossetri (1 novembre 1946), in: Ctistiaoesimo nella storia, 1 (1980), S. 251-272, jetzt in: G. Dossetti, Scrirti politici, Genua 1995, S. 310-323. •

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mit modernen Einrichtungen" gefordert wurde, verband mit dem Vorschlag einer .Gemeinschaft der europäischen Nationen, die sich zur Achtung vor den bürgerlichen und politischen Freiheiten bekennen", und mit der Idee einer Direktwahl .der Repräsentanten im Rat der Europäischen Gemeinschaft". Bekräftigt wird diese Vorstellung im Mailänder Programm vom 26. Juli 1943, nun bereits ausdrücklich als Dokument der Democrazia Cristiana verbreitet; der Verweis auf die Wiederherstellung der Christenheit ist inzwischen weg­ gefallen, und im ersten Punkt ist die Rede von einer .Föderation der Staaten mit freiheitlichem System"40• Aufmerksamkeit verdient diese Verknüpfung von freiheitlichen politischen Systemen und Europäismus deswegen, weil sie uns unweigerlich zu De Gasperl zurückführt. Man sollte De Gasperl nicht unterstellen, in ihm habe es seit jeher eine europäisrische Neigung von der An gegeben, wie sie sich dann später entfaltete; sehr wohl aber waren in ihm starke Impulse wirksam, die ihn dazu prädestinier­ ten, Europa als eine potentielle politische Größe anzusehen. Hierbei beziehe ich mich nicht so sehr auf seine Sozialisation, die ihn sozusagen auf natürliche Weise für die Mythen des Nationalsozialismus unempfänglich machte. Wie bereits bemerkt, hat auch De Gasperl von dem Ausdruck .christliche Kultur" ausgiebig Gebrauch gemacht und "unserer italischen Kultur" teichlieh gehul­ digt. Aber wenn man genauer analysiert, in welchen Kontexten diese Wen­ dungen auftauchen, dann zeigt sich schnell, daß es dort ganz überwiegend um historische und moralische Inhalte geht. In seinem .politischen Testament", verfaßt im Jahre 1943 und nicht zur Veröffentlichung zu Lebzeiten bestimmt, schrieb er: .Das Christentum, oder in Italien die katholische Kirche, bewahn und nährt das Ferment der vom Evangelium gefordenen Brüderlichkeit, das wesentliche Prinzip der Kultur, und es ist inzwischen allgemeiner Konsens, daß nur es allein uns vor der Katastrophe wird retten können, in die uns die Rassen-, Klassen- und Parteien­ diktaturen zu führen drohen"41•

40 Der Wortlaut des Mailänder Progranuns findet sich in: G. Fanello Marcucci, Documenti progranunatici dei democratici cristiani (1899-1943), Rom 1983, S. 145147. Die Mailänder .Guelfen" gehönen nicht nur zu den ersten und überzeugtesten Beförwortern der Bezeichnung Democrazia Cristiana für die neu entstehende Partei, so daß sie auch De Gasperl (der anfangs anderen Bezeichnungen den Vorzug gab) in dieser Richtung heeinflußten. Sie verknüpften zudem- was hier von besonderem Interesse ist- die Entscheidung für diesen Namen eng mit der Vorstellung des radikalen Bruchs mit .einer ganzen Kultur, deren pathologische Erscheinung eben der Krieg selbst war" und die "auf unabwendbare Weise in Faschismus, Bolschewismus und Nationalso­ zialismus gemündet hatte": vgl. M. Bocci, Oltre lo Stato liberale, S. 273-275. Zu den .Guelfen" vgl. C. Brew, ll cattolicesimo politico in Italia nel '900, Mailand 1979, S. 121163. 41 P. Scoppola, La proposta politica di De Gasperi, S. 82. Bemerkenswert erscheint wohl auch als Präzisierung gedachte- Hervorhebung, daß .in Italien" das Christentum durch die katholische Kirche repräsentiert worden sei.

mir die-

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Auf dem Parteikongreß der Democrazia Cristiana in Neapel im Juli 1944 hatte er gesagt: das Problem des Wiederaufbaus ist im Grunde ein moralisches Problem: wenn nicht alle Schichten des italienischen Volkes das moralische Bewußtsein wiederer­ langen, ist der materielle und kulturelle Wiederaufbau unmöglich .. . Indem sie einen eindringlichen Appell an das Zusanunenwirken aller geistigen Kräfte richtet, bringt die DC die Nation wieder ihren Lebensquellen näher und flößt ihr die Kraft ein, auf dem Weg ihrer christlichen Kultur weiterzugehen"42• •...

Und bei einem späteren Anlaß betonte er: .,Man halte uns nicht entgegen, wir seien Verfechter eines die menschliche Person einschränkenden Konfessionalismus ... Das Volk muß auch eine Moral haben ... Und dafür .. . gibt es nur die überlieferte Lehre unserer christlichen Kultur. In diesem Sinne sind wir konfessionell, aber wir sind es in einem sehr weiten Sinne, denn wir verlangen nichts anderes als Anerkennung der historischen Erfahrung, die unsere Väter in Italien gemacht haben"".

Andererseits erlaubte es die Betonung historischer und moralischer Fak­ toren als konstitutiven Elementen der .italischen christlichen Kultur" De Gasperi, den Westen nicht mit der christlichen Kultur gleichzusetzen - dies in Übereinstimmung mit Pius XII ., wenn auch ihre Griinde verschieden waren. Hauptsächlich an den Chef der Kommunistischen Partei Palmiro Togliatri adressiert war seine entrüstete Erwiderung in der Parlamentsdebatte vom Juni 1947 über die Ratifizierung des Friedensvettrags: Die Vorstellung, .jenseits der Adria und jenseits einer Linie Stetrin-Triest erstrecke sich ein unermeßliches feindliches Territorium, demgegenüber uns die Funktion zukäme, als Vorhut der sogenannten christlichen Kultur oder, realistischer gesprochen, als Söld­ ner des westlichen Kapitalismus aufzutteten", sei .drittklassiger Politiker und Stammtischsttategen" würdig; er brachte sogar wieder die Vorstellung ins Spiel, Italien könne eine Brücke .zwischen den beiden Kulturen" darstellen44• De Gasperis Auffassung von christlicher Kultur unterschied sich in vielerlei Hinsicht von den in katholischen Kreisen vorherrschenden Modellen. Zum einen beschrieb er mit diesem Ausdruck nicht so sehr die Züge einer von Grund auf neu zu errichtenden Welt; er wollte damit vielmehr eine Geschichte andeuten, an die man anknüpfen konnte, und auf eine Ressource an Wetten und moralischen Kräften hinweisen, die in einer Kultur feste Gestalt angenommen hatten und derer die italienische Demokratie ebenso wie jede andere Demo­ kratie notwendig bedurfte. Zum anderen ordnete er die politische Umsetzung der leitenden Prinzipien dieser Kultur - die er sicherlich stets als Aufgabe

42 M. Bendiscioli, Alcide De Gasperl e le basi del consenso per la politica intema, in: U. Corsini I K Repgen (Hssg.), Konrad Adenauer e Alcide De Gasperi, S. 103. " A. Giovagno/i, La cultura democristiana, S. 122. 44 G. Formigoni, La Democrazia Cristiana e l'alleanza occidentale, S. 155wl56.

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der Christen bettachtete- der Achtung der Freiheit unter. Im Progranun der Democrazia Cristiana, das er im Februar 1944 unter dem Pseudonym Demofilo veröffentlichte, referierte er zunächst ausführlich die fünfPunkte, die Pius XII. in seiner Rundfunkbotschaft Weihoachten 1942 zur Grundlage der inneren Ordoung der Staaten gemacht hatte. Anschließend hob er die Notwendigkeit hervor, diese Forderungen an die .Bedingungen der Umwelt, in der wir leben", anzupassen, der .Erfahrungen unserer Ahoen" Rechnung zu tragen und dabei .(da dieses Werk sich mit freiheitlichen Mitteln vollziehen muß) die konkreten, sich durch unser gesellschaftliches und politisches Zusanunenleben ergeben­ den Möglichkeiten" zu berücksichtigen". Dies war ein leiser, aber erhellender Hinweis auf die nicht gerade belanglose Tatsache, daß sämtliche Erörterungen über die Errichtung der neuen christlichen Kultur, wenn man vorbehaltlos die Regeln der Demokratie akzeptierte, sich zwangsläufig mit denen auseinander­ setzen mußten, die sich vermutlich überhaupt nicht oder nur im weitesten Sinn oder vage darin wiedererkannten. De Gasperl läßt sich weder als klerikal noch als "konstruktivistisch" (im bereits definierten Sinn) klassifizieren, weil er keine Formel akzeptierte, die mit der Vorstellung verbunden war, die Kultur befinde sich in einer globalen Krise, die von einer christlichen Kultur behoben werden mußte. Die gesamte einschlägige Tenninologie fehlt in seinem Wortschatz, während der Ausdruck Wiederaufbau" auffallend häufig erscheint. Obwohl das Gefühl einer .histori­ schen Wende" oder des .Untergangs einer Epoche" durchaus in den Schriften der Kriegszeit präsent und lebendig ist, betrifft es stets die Grundlagen des Staates oder des gesellschaftlichen Organismus, und es bezieht sich auf das Eode des Modells eines totalen Staates faschistischen oder nationalsozialisti­ schen Zuschnitts. De Gasperis Denken neigte dazu, die Fäden der Geschichte wieder aufzunehmen und zu verknüpfen, anstatt sie zu durchtrennen Vielleicht entgeht dem einen oder anderen von uns, ganz gewiß aber unseren Gegnern", sagte er auf dem Nationalkongreß der DC von Juli/August 1949 zu seinen Kritikern von der .jungen Linken", •

. •

.daß wir als Politiker nicht nur von einer Lehre herkommen, also von einer politischen und gesellschaftlichen Philosophie, sondern auch von einer historischen Erfahrung, und daß wir Objekt und zugleich Subjekt dieser Geschichte sind"46•

So ergab sich in De Gasperis Sprachgebrauch eine Bedeutungsdichotomie des Ausdrucks .Kultur": Zum einen bezeichnete er die historischen Wurzeln des in dieser Kultur vorherrschenden ethos und deckte sich mit der weitge45 lo: Atti e documenti della Democrazia Cristiana (1943-1967), Rom 1%7, Bd. I, S. 45 (auch in: PG. Zunino [Hrsg.], Scritti politici diAleide De Gasperi, Mailand 1979,

s. 281).

46 In: A. De Gasperi, Discorsi politici, hrsg. von T. Bozza, Rom 1956, Bd. 1,

s. 260.

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faßten Definition von christlicher Kultur; zum anderen orientierte er sich am Merkmal der politischen Freiheit. Zwischen diesen beiden Bedeutungen bestanden selbstverständlich sehr enge Beziehungen, aber ihre Differenz wurde durchaus wahrgenommen. Diese Unterscheidung ermöglichte es De Gasperi, die westliche Kultur nicht mit der christlichen Kultur zu identifizieren, zugleich aber die westliche Kultur konkret zu umreißen. Kurz nach der Konferenz von Brüssel sagte er auf der Tagung der "Nouvelles eqnipes internationales" in Sorrent unter anderem: Wenn wir von westlicher Kultur sprechen, ist uns sehr wohl bewußt, daß die Grenzen zwischen westlicher und östlicher Kultur an und für sich auch in aktuellen politischen Differenzen bestehen, aber wir wissen doch auch, daß die Kultur, die Europa und Amerika prägt, ein und derselben Quelle entspringt"". •

Bei De Gasperi wurde also das Prinzip der politischen Freiheit zur diffe­ rentia specifica der Kultur. Schon der im Juli 1943 veröffentlichte Text über die Vorstellungen der Democrazia Cristiana zum Wiederaufbau ("Idee ricostruttive della Democrazia cristiana") begann mit der Feststellung: "Unabdingbare Vor­ ausserzung und notwendiger Schutz der unantastbaren Persönlichkeitsrechte und jeder bürgerlichen Freiheit ist die politische Freiheit" - diese bildet das .Kennzeichen des demokratischen Systems; so wie die Achtung der Freiheit als Basis der Polirik das Merkmal und die Ehrenpflicht aller wahrhaft freien Menschen ist"48• Eine hypothetische Geschichte Europas, die es sich zum Ziel gesetzt hätte, den Sinn der historischen Entwicklung zu bestimmen, hätte sich für De Gasperi zwar sicherlich auf die christlichen Wurzeln der europäischen Kultur gegriindet, wäre aber ebenso tief geprägt gewesen vom Streit über die Freiheit als Verfahren des politischen Zusammeulebens und als Garantie für die Achtung jeglicher anderen Freiheit, angefangen bei derjenigen der menschlichen Person. In gewisser Hinsicht war sein historischer Blick auf Europa gar nicht so weit entfernt von Croces Auffassung (die ihrerseits von der "Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert" bis zu .Perche non possiamo non dirci ,cristiani'" eine teilweise Revision erfahren hatte), aber mit dem wichtigen Unterschied, daß die Freiheit bei Croce im Gewand einer .Religion" und bei De Gasperi im Gewand eines politischen Verfahrens erschien. Unter diesem Gesichtspunkt war De Gasperi liberaler als Croce. Der Ptimat der politischen Freiheit als Bedin­ gung jeder anderen Freiheit und wirksame Gewähr für die Beschränkung der staatlichen Macht wurde zum Terrain, auf dem De Gasperi eine feste Position bezog. Er knüpfte dabei an das Werk und Denken jener Katholiken an, die nach seiner Auffassung seit der Herausforderung der Französischen Revolution 47 Pb. Chenaux, Un Europe vaticane?, S. 145. 48 In: Atti e documenti, Bd. 1, S. 2 (P.G. Zunino [Hrsg.], Scrirti politici di A lcide De Gasperi, S. 257).

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positiv zur Verwirklichung der Freiheit beigetragen hatten, da sie darin .das christliche Ferment der Gerechtigkeit und Wahrheit" entdeckten. In seinen Schriften und Vorträgen aus der Zeit der Krieges verweist De Gasperl ständig auf die Geschichte der Neoguelfen des 19 . Jahrhunderts (wie er sie mit einer allgemeinen Bezeichnung nannte, wobei er auch Manzoni hinzurechnete, der nie im eigentlichen Sinne .Neoguelfe" gewesen war). Damit wollte er sicherlich sein eigenes Werk und die Arbeit seiner Partei in der Tradition des Risorgimento verankern und ihr eine .nationale" Dimension geben; doch andererseits waren dieser Geschichte föderalistische Ideen eingeschrieben, und ein europäischer Geist hatte sie beseelt. Es waren viele verschiedenartige Fäden, die sich in dem Brüsseler Vortrag miteinander verflochten, und sie reichten weit zurück.

Der Europagedanke in den christdemokratischen Parteien CDU/CSU und DC in den fünfziger Jahren* Von Maddalena Guiotto

I. Erste Zielsetzungen Nach 1945 übernahmen im kontinentalen Westeuropa die christdemokra­ tischen Parteien die politische Führung. Sie waren die Protagonisten bei der Verwirklichung und dauerhaften Verankerung der Grundelemente der westeuro­ päischen Nachkriegsordnung, auch wenn deren Konzeption und Durchsetzung nicht ihnen allein zu verdanken ist. Ihr Beitrag zur politischen Stabilisierung Westeuropas und zum lntegrationsprozeß war entscheidend'. Darüber hinaus spielten in Deutschland und Italien CDU/CSU und DC, die regierenden Mehrheitsparteien, eine fundamentale Rolle bei der Wiederauf­ nahme und Entwicklung der Kontakte zwischen ihren beiden Ländern - und dies genau in den Jahren, in denen sie auch ihren größten Beitrag zur Entfaltung des Buropagedankens und seiner praktischen Umsetzung in der Integrations­ politik leisteten (also von der Gröndung des Buroparats und der EGKS bis zur Schaffung von EWG und EURATOM). Diese politische Handlungsfähigkeit der christdemokratischen Parteien ist durch verschiedene Faktoren zu erklären. Vor allem war die europäische Perspektive bei den katholischen Parteien schon in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen deutlich ausgeprägt. Damals jedoch war es diesen Parteien, insbesondere dem Zentrum und der PPI, nicht gelungen, über die Phase der Diskussionen und theoretischen Entwütfe hinauszugelangen. Die Umsetzung ihrer Ideen in Realpolitik scheiterte an dem in weiten Teilen Europas fest verwurzelte Nationalismus, scheiterte am Unvermögen, die- vornehmlich fran­ zösischen - Sicherheitsbedürfnisse gegenüber Deutschland zu befriedigen, an den unterschiedlichen Forderungen nach Revision der Friedensverträge und schließlich an der Ausbreitung der autoritären und totalitären Regime und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die Projekte und Ansätze gingen *

Aus dem Italienischen von Stefan Monhatdt.

Vgl. die Einleitung, in: M. Gehler I W. Kaiser I H. Wohnout (Hrsg.), Christde­ moktatie in Europa im 20. Jahrhundert, Wien I Köln I Weimat 2001, S. 9-19. 1

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jedoch nicht vetloren: in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg worden sie wieder aufgenommen und verwirklicht, und zwar meistens von eben jenen Politikern, die in den zwanziger und dreißiger Jahren zu ihrer Entwicklung beigetragen hatten. So hatte in Deutschland in den zwanzigerJahren Konrad Adenauer- damals noch Bürgermeister von Köln und Vorsitzender des preuilischen Staatsrats -ver· sucht, eine Wittschaftsunion zwischen Frankreich, Belgien und dem Rheinland zu schaffen. Mit ihrer Hilfe sollte der deutsch-französische Streit um das Ruhrgebiet überwunden werden. In Italien hingegen gab es eine Initiative der PPI, und insbesondere ihres Gründers Luigi Sturzo, eine .christlich-demokra­ tische Internationale" ("Internazionale popolare") ins Leben zu rufen. Sie war gedacht als eine Organisation zur Koordinierung der christlich-demokratischen Parteien Europas, die das in verschiedenen Ländern seit den zwanziger Jahren bei führenden Persönlichkeiten dieses politischen Lagers vorhandene Streben nach internationaler Öffoung und nach einer Überwindung des N ationalis­ mus aufgreifen und bündeln sollte. Diese Initiative stand im Mittelpunkt des Deutschlandbesuchs einer von Sturzo angeführten Delegation der PPI, der auch Alcide De Gasperl angehörte, im August und September 1921; während dieses Besuchs knüpften die italienischen Politiker Kontakre mit den Kollegen der Zentrumspartei, nicht nur mit Adenauer, sondern auch mit Joseph Wirtb, Adam Stegerwald und Heinrich Briining. Vetwirklicht worde die christlich­ demokratische Internationale dann schließlich im Jahr 1925, als Sturzo bereits im Exil weilte: es worde das Secretariat International des Partis Democratiques d'Inspiration Chretienne (SIPDIC) mit Sitz in Paris gegründet, das bis 1939 auf regelmäßigen Jahreskongressen in verschiedenen europäischen Städten, darunter auch in Köln, zusammentraf. Nach den Erfahrungen mit Faschismus und Nationalsozialismus und der Tragödie des Zweiten Weltkrieges erschien es den auch durch christliche 2

Zu dem Versuch Adenauers vgl. H. Kiihler, Adenauer und die rheinische Repu­

blik. Der erste Anlauf 1918-1924, Opladen 1986, S. 236-256; H.-P. Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 1986, S. 265-290. Zur Initiative Sturzos und zur Inter­

nazianale popolare vgl. R. Papini, ll coraggio della democrazia. Sturzo e l'Interna2ionale popolare fra le due guerre, Rom 1995; A. Hanschmidt, Eine christlich-demokratische "Internationale" zwischen den Weltkriegen. Das «Secretariat International des Partis Democratiques d'Inspiration Chretienne» in Paria, in: W. Becker I R. Morsey (Hrsg.), Christliche Demokratie in Europa. Grundlagen und Entwicklung seit dem 19. Jahr­ hundert, Köln I Wien 1988, S. 153-188; G. Müller, Das «Secretariat International des Partis DCm.ocratiques d'Inspiration Chtetienne» 1925-1939- ein vorweggenommenes Exil katholischer Demokraten in der Zwischenkriegszeit, in: M. Gehler I W. Kaiser I H. Wohnout (Hrsg.), Christdemokratie in Europa, S. 559· 573. Speziell zur Deutschlandreise der PPI-Delegation vgl. M. Guiotto, Luigi Sturzo e il mondo politico e intellettuale della Germania di Weimar, in: G. Argiotas I M.G. Spinedi (Hrsg.), Universalita e cultura nel pensiero di Luigi Sturzo, Soveria Mannelli 2001, S. 443465.

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Werte verbundenen Politikern folgerichtig, Europa als einen gemeinsam zu gestaltenden Raum für eine neue Politik und eine bessere Zukunft ohne Kriege zu begreifen. Zur Realisierung dieses Projekts bedurfte es sowohl der Wiederaufnalune als auch der intensiven und systematischen Ausweitung der bereits in der Zwischenkriegszeit begonnenen Kooperation. Die Ergebnisse des persönlichen Erfahrungsaustauschs, der Zusammenarbeit und der Herausbil­ dung eines gemeinsamen Gedankenguts der am SIPDIC beteiligten Parteien wurden 1947 von der Organisation der Nouvelles Equipes Internationales (NEI) und in den Treffen des Genfer Kreises wiederaufgegriffen; diese letzteren wurden von dem Iettischen Journalisten Victor Koutzine im Namen führender Christdemokraten ins Leben gerufen. Innerhalb dieser beiden Diskussionsgre­ mien war die Qualitätssteigerung gegenüber dem SIPDIC beachtlich, sowohl hinsichtlich der Entwicklung des Buropagedankens als auch hinsichtlich der konkreten europäischen Politik. War das Hauptthema in den zwanziger Jahren die Wiederannäherung und Aussöhnung von Deutschland und Frankreich, so kam nun als entscheidender Faktor der Kalte Krieg und das Bestreben hinzu, sich vor etwas zu schützen, das als kommunistische Gefahr und sowjetische Bedrohung Europas wahrgenommen wurde'.

IT. Deutschland und Italien nach dem Zweiten Weltkrieg In diesem internationalen Rahmen brachte die besondere Situation der Parallelität, die am Ende des Zweiten Weltkrieges zwischen Deutschland und Italien entstand, die Politiker von CDU/CSU und DC einander näher; sie wurden dadurch zu Protagonisten einer Phase tiefer Einvernehmlichkeit und ebenbürtigen Austauschs, wie sie in der Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen selten vorgekommen ist. Wer die Weiterentwicklung der Kontakte und des Austauschs zwischen den christdemokratischen Parteien beider Länder nachzeichnen will, muß zugleich die Phase der Wiederaufnalune der deutsch­ italienischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg und damit auch einen nicht unwesentlichen Teil der Entstehungsgeschichte der Europäischen Union rekonstruieren. Da es sich in beiden Fällen um Regierungsparteien handelte, gelangten Fragen und Diskussionen auf Parteiebene, namentlich solche über ' Die Sitzungsprotokolle der NEI werden aufbewahrt im Archiv für Christlich­ Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin (künftig ACDP), . IX-022-011. Zu den Nouvelles Equipes Internationales vgl. W Kaiser, Deutschland exkulpieren und Europa aufbauen. Parteienkooperation der europäischen Christde­ mokraten in den Nouvelles Equipes Internationales 1947-1965, in: M. Gehler I W. Kaiser I H. Wohnout (Hrsg.), Christdemokratie in Europa, S. 695-719; zum Genfer Kreis vgl. M. Gehler, Begegnungsort des Kalteo Krieges. Der .Genfer Kreis" und die geheilneo Absprachen westeuropäischer Christdemokraten in den Nouvelles Equipes Internationales 1947-1955, ebd., S. 642-694.

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Außen- und Europapolitik, schließlich auf die Regierungsebene. Der vorlie­ gende Aufsau spiegelt diese Überschneidung wieder: es werden darin zwar die Beziehungen zwischen CDU/CSU und DC behandelt, aber zwangsläufig auch die zwischen der christdemokratischen deutschen Regierung und den jeweiligen italienischen Regierungen. Grundlegend für die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien in den fünfzigerJahren war der Umstand, daß sich beide Staaten am Ende des Zweiten Weltkrieges in einer ähnlichen Lage befanden, von dem ihr Wiederaufbau seinen Ausgang nehmen mußte. Die Zeit der Diktatur hatte in den Krieg gemünder und in beiden Ländern mit einer desaströsen militärischen Niederlage geendet. Diese Niederlage bedeutete nicht nur den Untergang von Faschismus und Nationalsozialismus; sie versetzte auch dem Ansehen der nationalen Traditionen einen schweren Schlag und bereitete hegemonialen Bestrebungen, die wenige Jahre zuvor noch proklamiert worden waren, ein Ende. Deutschland und Italien mußten sich daher bemühen, international wieder an Ansehen zu gewinnen und eine neue, bescheidenere Rolle auf der politischen Bühne Europas zu übernehmen - einer inzwischen vollständig veränderten und von den Siegermächten bestimmten Bühne. Dieser spezifische Parallelismus in der Nachkriegszeit begünstigte die Her­ ausbildung eines außenpolitischen Grundkonsensus zwischen der Bundesrepu­ blik und Italien, wie er zwischen anderen europäischen Ländern nicht bestand. Die Folge war, daß die beiden Länder im europäischen wie im adantischen Rahmen bei fundamentalen Fragen der Integrations-, Wirtschafts- und Sicher­ heitspolitik häufig identische Positionen vertraten. Über dieser Feststellung darf indes nicht vergessen werden- wie dies bei Vergleichen zwischen Deutschland und Italien oft geschieht -, daß den Gemeinsamkeiten ebenso beträchtliche Unterschiede gegenüberstanden'. Deutschland und Italien hatten sich am Ende des Konflikts in der glei­ chen Lage befunden. Beide waren besiegte Länder, die einen harten Weg zur Rehabilitation beschreiten mußten. Vor Italien lag dabei jedoch ein erheblich kürzerer und geradlinigerer Weg als vor Deutschland, denn Ausmaß und Folgen der Niederlage unterschieden sich erheblich. Deutschland vermochte nach der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 weder die staatliche Kontinuität 4 Ein Vergleich der Situation beider Länder in den fünfzigerJahren bei H. Woller (Hrsg.), La nascita di due repubbliche. Italia e Germania dai 1943 al 1955, Mailand 1993; R. U/1, Die Bundesrepublik Deutschland und Italien. Etappen einer europäischen Annäherung (mit italienischer Ü bersetzung: La Repubblica Federale di Gennania e l'Italia. Tappe di un avvicinamento europeo), Menaggio 1995. Im Kapitel zu Adenauer und De Gasperi hebt Gian Enrico Rusconi zu Recht die "Übereinstinunungen", aber zugleich auch die .Unterschiede" zwischen der italienischen und der deutschen Situa­ tion hervor, G.E. Rusconi, Gennania ltalia Europa. Dallo stato di potenza alla "potenza civile", Turin 2003, S. 215-239.

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noch die politische Einheit zu bewahren; in Italien hingegen garantierte das ,Königreich des Südens", zuntindest auf rechtlieber Ebene, die Kontinuität sowohl des Staates als auch der Regieruog sowie die Bildung neuer politischer Strukturen. Nach Unterzeichnung des Friedensvertrags im Februar 1947 war Italien zuntindest formal wieder ein souveräner Staat. Als es bereits zwei Jahre später der atlantischen Allianz als eines der Gründungsntitglieder beitrat, konnte es auch seine politische Isolieruog durchbrechen und den Status eines besieg· ten Landes aufgeben. Es gliederte sich dantit in vollem Umfang wieder in die westliche politische Welt ein, von der es sich in den Jahren des faschistischen Regimes, an der Seite des nationalsozialistischen Deutschland, entfernt hatte. Der westdeutsche Staat jedoch mußte weitere sechs Jahre - bis 1955 -warten, ehe er die Ziele der völkerrechtlichen Souveränität und der Gleichberechtigung innerhalb der westlichen Allianz erlangte.

III. Italien und die deutsche Frage Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags begann für Italien die Phase der Wiederaufnahme internationaler Beziehungen und der Fesdegung außenpolitischer Leidinien. In diesem Kontext bildete sich zwischen 1947 und 1949 allmählich die italienische Politik gegenüber Deutschland heraus, und dabei wurden einige Prinzipien bestimmend, die im Folgenden die Gruodlage der Beziehungen zwischen CDU/CSU und DC abgaben. Noch vor Entstehen der Bundesrepublik Deutschland diskutierte man in Kreisen der italienischen Regieruog, an deren Spitze seit Ende 1945 Alcide De Gasperl stand, über die Lösung der deutschen Frage. Konsens bestand darüber, daß dieses Problem ntit der notwendigen Neugestaltung Europas zu verknüpfen sei, das zutiefst verändert aus dem Krieg hervorgegangen war: zurückgeworfen auf bescheidene territoriale Grenzen, ohne die einstigen großen Kolonialgebiete und geteilt in zwei gegnerische Blöcke. Die vom Palazzo Chigi verfochtene These lautete, daß es unmöglich sei, Europa neues Leben einzuhauchen, ohne Deutschland wiederzubeleben. ,Deutschland ist unentbehrlich für Europa. Europa ist unentbehrlich für lta· lien"5• Unentbehrlich für Italien zunächst unter ökonomischem Gesichtspunkt, denn das Land selbst verfögte nicht über ausreichende Ressourcen für seine wirtschaftliche Entwicklung; unentbehrlich aber auch in politischer Hinsicht, um die lsolieruog Italiens zu übetwinden. Man dachte an ein Deutschland, ' "La Germania e una necessiti europea. L'Europa e una necessicl. italiana". NicolO Carandini an Carlo Sforza, London, 6. Juli 1947, in: Archivio Storioo Diplomatioo del Ministero degli Affari Esteri, Roma, Direzione Generale Affari Politici (künftig ASMAE, AP), Germania 1950, husta 43.

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das .militärisch unter Kontrolle, aber ökonomisch wiedererstarkt" war. Das Gewicht lag also vor allem auf dem industriellen Potential und der Kauf­ kraft Deutschlands, beide notwendig für das ökonomische Gleichgewicht des Kontinents. Aus italienischer Sicht waren Europa und Deutschland also eng miteinander verbunden. Beide waren unabdingbar für den Wiederaufhau und den wirtschaftlichen Aufschwung Italiens, das in ganz besonderer Weise auf die Wiederaufnahme des Handelsaustauschs mit Deutschland zählte. In seinem Appell an Truman vom April 1947 schrieb De Gasperi: .Herr Präsident, ... Mein Land macht ... eine Vertrauenskrise durch ... Die von mir geführte Regierung unternimmt jede Anstrengung, um den Staatshausha lt zu sanieren, die Produktion zu fördern, die Ordnung aufrechtzuerhalten ... Wrr werden kein Mittd unversucht lassen, uns sdbst zu helfen, aber es ist allzu offen­ kundig, daß unsere Kräfte nicht ausreichen. Solange Italien nicht wieder auf den Tourismus, auf die Emigration und auf den Sechandel zäh len und seine Exporte nach Deutschland wiederaufnehmen kann, ist eine ausgeglichene Handelsbilanz nicht zu erreichen"6•

Daß die Bedeutung Deutschlands für das europäische Gleichgewicht, aber auch und vor allem für die italienische Wirtschaft unterstrichen wurde, war nicht neu in der italienischen Politik. Diese Haltung erinnert nämlich an Positionen, wie sie ein Großteil der politischen Kreise Italiens gegenüber dem besiegten und auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 hart bestraften Deutschland bezogen hatte. Es mag genügen, an die Äußerungen Francesco Nittis und Giovanni Giolittis zu erinnern'. Entschiedene Mißbilligung der auf Bestra­ fung zielenden Deutschland-Politik Frankreichs wurde insbesondere von der PPI zum Ausdruck gebracht. Sturzo und seine Freunde waren sich im klaren darüber, daß Berlin die Reparationszahlungen nicht würde leisten können, die ihm vom Versailler Vertrag auferlegt worden waren - Sturzo bezeichnete sie als .Sanktionen"-, und daß Deutschland sich am Rande des Abgrunds befand, wie die Vertreter der Zentrumspartei beteuerten. Den .popolari" zufolge war es ein schwerer Fehler gewesen, Deutschland Bedingungen aufzuerlegen, die einen Wirtschaftsaufschwung beeinträchtigten Italien", so schrieb Rufo Ruffo della Scaletta, der außenpolitische Experte der PPI, im Jahre 1923 zum .



6 M.R De Gasperi (Hrsg.), De Gasperl scrive. Corrispondenza con capi di stato, cardinali, uomini politici, giomalisti, diplomatici, 2 Bde., Brescia 1974, hier Bd. 2, S. 93. Zur Wiederaufnalune der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Italien und Deutschland und allgemeiner zu den deutsch-ita lienischen Wirtschaftsbeziehungen nach 1945, siehe M. Rieder, Deutsch-italienische Wirtschaftsbeziehungen. Kontinuitäten und Brüche 1936-1957, Frankfurt a.M. 2003, S. 388-414. ' V gl. E.R. Rosen, Franoesco Nitti e Ia questione tedesca fra le due guerte mondiali, in: Faschismus- Nationalsozialismus. Ergebnisse und Referate der 6. Italieuisch-deut­ schen Historikertagung in Trier, Braunschweig_1964, S. 138-153, hier S. 153;]. Muhr, Die deutsch-italienischen Beziehungen in der Ara des Ersten Wdtkrieges (1914-1922), Göttingen I Frankfurt a.M. I Zürich 1977, S. 197.

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Problem der Reparationen, .hat ein Interesse daran, daß in Deutschland ein normales Wirtschaftsleben wiederaufgenommen wird"'. Nach der Erfahrung der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg mit ihren tra­ gischen Folgen war es leichter zu verstehen, daß kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutschland umgehend wieder in die Völkergemein­ schaft eingegliedert werden sollte, nicht nur offenkundiger wirtschaftlicher Vorteile wegen, sondern auch aus genau umrissenen politischen Griinden. Dabei schrieb Italien sich selbst stillschweigend die privilegierte Rolle eines Initiators und Garanten dieses Prozesses zu. Auch De Gasperl hob dies bei einer Wortmeldung in der Abgeordnetenkammer im Jahre 1948 hervor, als er seinen Standpunkt zum Brüsseler Vertrag darlegte, der eben Deutschland und Italien außen vor gelassen hatte: .Daß dieses Abkommen sich in erster Linie gegeo eine aggressive Politik Deutsch­ lands richtet, gibt ihm, wie bereits gesagt, einen Charakter, der nicht dem unseren eotspricht. Unsere historisch-geographische Lage verleiht uns viehnehr deo Charakter eines Vennitders, der auch Deutschland für dieses neue Europa und für die Form der Demokratie gewinnen möchte"9•

Diese besondere Auffassung von der Rolle Italiens in Europa, in der sich auch die Traditionslinien der vorfaschistischen Außenpolitik wiederfinden Italien als Zwischenglied zwischen den Westmächten und Deutschland -, geht in aller Deutlichkeit auch aus den Berichten hervor, die die diplomati­ schen Vertreter Italiens in Deutschland an ihr Ministerium sandten". Nach Auffassung des Palazzo Chigi hätte die Wiedereingliederung Deutschlands in das internationale Gefüge auch die Lösung des fundamentalen Problems der französisch-deutschen Rivalität bedeutet. Um diese Prozesse voranzutreiben und zu garantieren, sollte die Bundesrepublik beteiligt sein .an der größtmöglichen Zahl internationaler und übernationaler Organisationen ... und wirtschaftliche und politische Beziehungen knüpfen, nicht allein mit diesem oder jenem Land, sondern mit der größten Zahl organisch miteinander verbundener Länder". Dies war leichter möglich im Rahmen einer europäischen Union, deren Kern im Dreierbündnis ausgemacht wurde oder - wie Außenminister Carlo Sforza schrieb - .in der Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Rom, Paris und 11 Bann", in das Großbritannien einvernehmlich einbezogen sein sollte • Im Palazzo Chigi war man nämlich der Überzeugung: 8 R RI.tffo della Scaletta, I nuovi assetri della politica oentro-europea e I'atteggia­ mento dell'Italia, in: ll Popolo, 2./3. Oktober 1923, wiederveröffentlicht in: G. De Rosa, Rufo Ruffo della Scaletta e Lnigi Storzo, Rom 1961, S. 144.

'

A. De Gasperi, Discorsi parlameutari, Rom 1973, S. 588.

1o Siehe insbesondere die Berichte in ASMAE, AP, Germania 1950, busta 42, und

in ASMAE, AP, Gettnania 1948, busta 11.

11 C. Sforza, Cinque anni a Palazzo Chigi. La polirica estera italiana da! 1947 al

1951, florenz 1952, S. 459.

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Unser Einfluß auf internationalem Gebiet wird nur dann wachsen, wenn wir in den Rahmen eines moralisch, politisch und wirtschaftlich wiedererstarkten Europa zurückkehren, zu dem wir, genauso wie Frankreich und Deutschland, als wesentlicher Bestandteil gehören. Diese Betrachtung veranlaßt uns, weiter dazu beizutragen, daß die Alliierten zu einer realistischeren Politik im Hinblick auf Deutschland überge­ hen und sich eine trilaterale politische Zusanunenarbeit zwischen Paris, Bonn und Rom entwickdt . . . "12• •

Dies war der Weg, den Italien einschlagen mußte, um international wieder Ansehen und Achnmg zu erlangen: es mußte den anderen Staaten demonstrieren, daß es definitiv zur Demokratie zurückgekehrt war und daß der imperialistische Nationalismus der faschistischen Ära wirklich gründlich ausgetilgt und durch das Prinzip der übernationalen europäischen Einheit ersetzt worden war. Auf diese Vermittlerrolle Italiens in Westeuropa hat unter anderen nament­ lich Paolo Emilio Taviani des öfteren Bezug genommen, der für die Kontakte zwischen CDU/CSU und DC eine wichtige Rolle spielte13• Im Februar 1951Taviani leitete damals die italienische Delegation bei der Pariser Konferenz zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft- führte er ein Gespräch mit Heinz Heggenreiner, einem Exponenten der bayerischen CSU und engen Mitarbeiter von Clernens von Brentano, dem deutschen Generalkonsul in Rom. In diesem Gespräch vertrat er die Ansicht, da England weiterhin eine eher distanzierte Position gegenüber der europäischen Union einnehme, müsse man zumindest .die Dreimächtekonzeption Frankreich-Deutschland -Italien" energisch vorantreiben, wolle man nicht völlig unter russischen oder auch ame­ rikanischen Einfluß geraten. Westeuropa mußte sich also zusanunenschließen, mußte zur Integration gelangen, um die durch den Krieg verursachte schwere Zerrüttung überwinden zu können, ohne dabei jedoch seine eigene Autonomie zu verlieren. Italien seinerseits würde- so versicherte Taviani im Verlauf des Gesprächs - alles nur Mögliche tun, um Frankreich zu einer verständoisvol­ leren Haltung Deutschland gegenüber zu veranlassen. Er war nämlich davon überzeugt, .seine [Italiens] Eigenschaft als lateinische Nation sei geeignet, den Franzosen das Gefühl der Majotisierung durch Deutschland (und eventuell Amerika) in einer solchen Kombination zu nehmen"". Die italienische Regie­ rung sah also die Möglichkeit einer Gerneinschaft der .lateinischen Nationen", die sich nicht gegen Deutschland richtete, sondern vielmehr die Voraussetzung für dessen volle Eingliederung in Europa bildete.

u Vertrauliche Notiz für den Generaldirektor Affari politici, Rom, 8. Juni 1951, in: ASMAE, AP, Germania 1951, busta 13.

13 Vgl. P. E. Taviani, Politica a memoria d'uomo, Bologna 2002, S. 183-229. " Bericht über das Gespräch Heiuz Heggenreiners mit Paolo Emilio Taviani

am

9. April 1951, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin (künftig PAAA), B 11, Bd. 419.

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IY. Die politischen Parteien und die italienisch-deutsche Annäherung Zwischen1949 und1951 wurden in allenBereichen beachtlicheFortschritte bei derAnnäherung und Intensivierung der Beziehungen zwischen Italien und der neugegründeten Bundesrepublik erzielt. Persönliche Kontakte spielten in dieser Phase zweifellos eine herausragende Rolle, denn bis zur Revision vom März 1951 war es derBundesrepublik durch dasBesatzungsstatut der Alliierten untersagt, offizielle Beziehungen zu anderen Staaten anzubahnen. Zusammen­ künfte und ersteGespräche zwischen politischenExponenten undWortführern der Regierungen beider Länder hatten daher privaten Charakter und fanden zumeist anläßlich von Kongressen, Messen und Ausstellungen statt.

Im April1949 war manim italienischenAußenministerium derAnsicht, daß Schrittfür Schritt wieder intensivere Kontakte mit Deutschland aufgenommen werden sollten, wobei zurVorgehensweise vor allem auf die Beziehungen zwi­ schen den italienischen und den westdeutschen Parteien verwiesen wurde: "Ninunt man sich die englische Labour-Partei zwn Vorbild, die seit geraumer Zeit enge Kontakte zu den deutschen Sozialdemokraten pflegt, sollte man also erkennen, wie zweckmäßig es wäre, wenn auf italienischer Seite eine solche Initiative von der christdemokratischen Partei gegenüber der deutschen CDU und von der PSLI gegenüber der deutschen sozialdemokratischen Partei ergriffen würde"15•

DieAnregung wurde indessen lediglich von der DC aufgegriffen, besonders durch die Exponenten der gemäßigteren .correnti", während sich bei den anderen Parteien keine Spuren ähnlicher Initiativen finden". Unter den politischen Kräften Italiens und Deutschlands stellten zu dieser Zeit die DC und die CDU/CSU die Gruppierungen dar, die aufgrund unzwei­ felhafterÄhnlichkeiten undGemeinsamkeiten am leichtesten eine gemeinsame Gesprächsbasisfinden konnten. Im breiten Spekrrum der italienischenLinken hingegen fehlte in jenen Jahren eine Partei, die, wie die englische Labour­ Partei, durch ihre Zusammensetzung und ihr Programm zu nennenswertem Kontakt und Dialog mit der deutschen Sozialdemokratie prädestiniert gewesen wäre, einer starken demokratischen Opposition zur christlich-liberalenRegie­ rungskoalition. Bettächtlicher- und zum linken Parteienspektrum hin zuneh­ mender- Argwohn herrschte überdies in vielen politischen Gruppen Italiens IJ Notiz von Smoquina über die Zweckroäßigkeit, mit Deutschland wieder Kontakt aufzunehmen, 22. Aptil1949, in: ASMAE , AP, Germania 1949, busta 26. 16 Auf der Grundlage der oben angeführten Notiz wurde ein an Paolo Emilio Taviani gerichteter und von Sforza unterzeichneter Brief aufgesetzt, in dem der Parteisekretär der Democrazia Christians ermuntert wurde, weiterhin mit politischen Vertretern Deutschlands Beziehungen zu pflegen. Gleichzeitig arbeitete die Direzione generale Affari politici (Ufficio V) eine Notiz für Giuseppe Saragat aus, in der man der PSLI nabelegte, mit den deutschen Sozialdemokraten Fühlung aufzunehmen, in: ASMAE, AP, Germania1949, busta 26.

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gegenüber der raschen politischen und gesellschaftlichen Normalisierung, die bereits in den fünfziger Jahren in der neuentstandenen Bundesrepublik mit dem Beistand der Vereinigten Staaten vor sich gegangen war. Diese wurde oftmals gedeutet als kapitalistische und imperialistische Restauration, die starke Züge der Kontinuität mit Hider-Deutschland hatte. Ende Juni 1949 verlieh Außenminister Sforza in einem Schreiben an den damaligen Parteisekretär der DC, Paolo Emilio Taviani, seiner Genugtuung über die Beziehungen Ausdruck, die zwischen dessen Partei und den christlichen Parteien Deutschlands etabliert worden waren, ,sei es durch Vermitdung der Nouvelles Equipes Internationales, sei es unmittdbar über Exponenten der christlichen Parteien Österreichs und Bayerns", und er wünschte sich, daß diese Initiativen auf die Landesverbände von ganz Westdeutschland ausge­ weitet würden17•

V. Die CSU und Italien - Alcide De Gasperi und Josef Müller Tatsächlich waren die ersten Treffen zwischen Politikern und Regierungsmit­ gliedern Italiens und der Bundesrepublik von einer beachtlichen Präsenz von Exponenten der bayetischen Christlich-Sozialen Union geprägt. Die politischen Vertreter Bayerns bemühten sich generell, direkte Kontakte mit dem Ausland zu knüpfen, und versuchten die Beziehungen zu Italien gewissermaßen für sich allein zu vereinnahmen. Ein Motiv für dieses Verhalten war sicherlich das bayerische Streben nach Autonomie, eine große Rolle spidte aber wohl auch, daß sich die Region aufgrund ihrer geographischen Lage und ihrer kulturellen Vergangenheit traditionell weit stärker an den Zentren des Südens als an denen des Nordens orientierte. Politiker und Regierungsmitglieder wie Josef Müller, Hanns Seidd und Hans Ehard gehörten zu den ersten, die, noch zwischen 1947 und 1949, nach Italien kamen, zumeist anläßlich von Parteikongressen, Messen und Gewerbeausstd­ lungen oder aber auf Pilgerreisen und Besuchen im Vatikan. Zu den deutschen Politikern, die der DC und vor allem den am stärksten europapolitisch engagierten Kreisen der italienischen Christdemokraten am nächsten standen, gehört insbesondere J osef Müller: eine führende Figur der CSU, bayerischer Justizminister von 1947 bis 1952, entscheidend an der Entstehung der NEI beteiligt, an deren Treff en wie auch an jenen des Genfer Kreises er stets teilnahm18• Müllers Gesprächspartner waren, neben Paolo Emilio 17 Carlo Sforza an Paolo Emilio Taviani, Rom, 30. Juni 1949, in: ASMAE, AP, Germania 1949, busta 26. 18 Zu Müller vgl. Hanns-Seidei-Sti/tung (Hrsg.),JosefMüller. Der erste Vorsitzende der CSU. Politik für eine neue Zeit, München 1998. Müller unterhielt schon vor dem

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Taviani und Attilio Piccioni, auch die Journalistin Lina Morino, Mitglied des zentralen Parteivorstands der DC und verantwortlich für die internationalen Kontakte der Panei19• Zusammen ntit ihr, ntit Piccionis Tochter Donatella und ntit MariaJervolino beschloß Müller, ein Kontitee italienischer Frauen zu gründen, das er ntit der Pflege verwahrloster Gräber von gefallenen Deutschen auf verschiedenen italienischen Friedhöfen betrauen wollte". Ständige Kontakte unterhielt Müller auch mit De Gasperi. Die Politiker verband nicht nur die Überzeugung - wie Müller im August 1948 an De Gasperl schrieb -, .daß wirklich ein breiter Konsens über die Grundlinien unserer beiden Paneien besteht. Auch unsere Sorgen scheinen die gleichen zu sein"21, und daß daher die deutsche und die italienische Christdemokratie enger zusammenarbeiten sollten; sie verband auch der Wille, die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland vor allem im winschaftlich-kommerziellen Bereich auszubauen22• Müller verfocht aus Überzeugung die Bedeutung der Wirtschafts- und Währungsunion für die europäische Einigung; dabei sah er aber in Europa nicht nur ein WU'tschaftsmodell, sondern vielmehr auch und in erster Linie eine moralische Aufgabe, und in dieser Auffassung stimmte er ntit De Gasperi überein.

In einigen Aufzeichnungen anläßlich des Todes des italienischen Staats­ mannes erinnen sich Müller, wie De Gasperl im Verlauf freundschaftlicher Gespräche gerne von den Aufängen seiner politischen Karriere als Trentiner Abgeordneter im Wiener Reichsrat sprach- in jenem Österreich-Ungarn, das eine An Europa im Kleinen gewesen war und lange Zeit Völker verschiedener Zunge und Nationalität zusammengehalten hatte, ohne eine polirische Einheit, aber indem es in ihnen das Bewußtsein gemeinschaftlicher politischer Pflichten zu wecken wußte. Müller scbließt: Krieg engste Kontakte zu Rom und insbesondere zum Vatikan: er war gut bekannt mit Eugenio Pacelli seit dessen Zeit als Nuntius in München. Diese Kontakte waren ihm während des Krieges von Nutzen gewesen, als er aktiv an dem von Admiral Canaris und General Oster geführten militärischen Widerstand gegen Hitler teilgenommen hatte; während seiner häufigen Reisen nach Rom nalttn er durch Verntittlung des Papstes Verhandlungen mit den Alliierten auf. " V gl. die Briefe Müllers an Taviani, an und von Piccioni und an Lina Morino für Christlich-Soziale Politik der Banns-Seidel-Stiftung, München (künftig ACSP), Nachlaß Josef Müller, A 29.

im Archiv

20 Zu dieser Angelegenheit und zur Persönlichkeit Lina Morinos, ihrer Rolle in den Beziehungen zwischen DC und CDU/CSU und innerhalb des Genfer Kreises vgl. T Di Maio, Un'arte:fice sconosciuta dell'integrazione europea: Lina Morino, in: B. Pisa (Hrsg.), "Cittadine d'Europa". lntegrazione europea e associazioni femminili italiane, Mailand 2003, S. 185-201.

21 J. Müller an A. De Gasperi, 28. August1948, in: ACSP, Nachlaß Müller, A 62. 22

Ansprache Dr. Müller/De Gasperi, in: Schwäbische Landeszeitung Augsburg,

21. Januar 1949.

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.Man konnte den Eindruck gewinnen, daß nicht nur das, was man gelegentlich österreichisches Völkergemisch nannte, sondern auch das, was das Zusammenwirken der Menschen in diesem Staatengebilde geschichtlich geleistet hatte, De Gasperl zur ,europäischen Schau' hinführte"23. Es wäre in der Tat hochinteressant, wenn man den Inhalt der Gespräche, die Müller auf seinen Reisen nach Italien mit De Gasperl über das künftige Gefüge Europas geführt hat, genauer und konkreter rekonstruieren könnte24• Müller vertrat nämlich hinsichtlich der deutschen und europäischen Zukunft innerhalb der CDU/CSU eine politische Linie, die deutlich von derjenigen Kanzler Adenauers abwich und dafür derjenigen des Vorsitzenden der ostdeut· sehen CDUD, Jakob Kaisers, nahekam". Von fundamentaler Bedeutung war für Müller die Bewahrung der Einheit Deutschlands, ausgehend von der T hese, das Land sei zur östlichen Grenze des westlichen Kulturraums geworden und eine Grenze müsse in sich geschlossen bleiben. Mit anderen Worten: die beste Verteidigung gegen den Kommunismus sah Müller in der deutschen Einheit"'. Daher rührte sein Versuch, Deutschlands Rolle einer Brücke zwischen Ost und West und seine Neutralitätsbestrebungen am Leben zu erhalten. Er ging darin so weit, daß er die Notwendigkeit verfocht, das Tor zu Rußland offen zu halten, sich mit hochrangigen Führern der Sowjetischen Besatzungszone traf und 1949 versuchte, einen deutsch-deutschen Koordinierungsausschuß für Wtrtschafts· fragen auf die Beine zu stellen. Wegen derartiger Aktivitäten wurde er sogar innerhalb seiner eigenen Partei als Freund der Kommunisten bekämpft und von den Amerikanern argwöhnisch beobachtet; schließlich überwarf er sich mit Adenauer, der ihn umgehend vom Genfer Kreis ausschloß". De Gasperi lehnte hingegen nicht minder entschieden als Adenauer neu· tralistische Positionen ab, die sich gleichermaßen gegen den östlichen wie den westlichen Block innerhalb der neuen politischen Klasse der Christdemokratie richteten; er sah im Neutralismus eine Form wehrloser Unterwerfung unter den Einfluß des Kommunismus. In einem Gespräch mit dem deutschen Bot· schafter in Rom am Tag nach der italienisch-französischen Konferenz von Santa

" Die Aufzeichnungen datieren vom 20. August 1954; in: ACSP, Nachlaß Müller,

G 8415.

24 Auch Anfang August 1954 war er in Rom und hatte versucht, in Castelgandolfo mit De Gasperl Fühlung aufzunehmen. Ein Treffen kam nicht zustande, da De Gasperl zu jener Zeit bereits schwer erkrankt war; vgl. den Brief Müllers an De Gasperl vom 14. August 1954, in: ACSP, Nachlaß Müller, A 62. " Jakob Kaiser wollte ein neutralisiettes Deutschland mit der Funktion einer Brücke zwischen Ost und West, ein Projekr, das auf den hartnäckigen Widerstand Adenauers stieß, der eine Angliederung Deutschlands an den adantischen und euro· päischen Westen anvisierte, vgl. C. Hacke (Hrsg.),Jakob Kaiser. Wir haben Brücke zu sein. Reden, Äußerungen und Aufsätze zur Deutschlandpolitik, Köln 1988. 26 Nach Hanns..Seide/.Sti/tung (Hrsg.), Josef Müller, S. 83. 27 V gl. M. Gehler, Begegnungsott des Kalten Krieges, S. 691.

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Margherita versicherte ihm De Gasperl vor allem, er werde sich weiterhin der Idee einer Neutralisierung Deutschlands als Alternative zu seiner Westintegra­ tion widersetzen, da auch er, wie Adenauer, glaubte, daß die Neutralisierung notgedrungen zur Russifizierung Deutschlands und mithin ganz Europas führen würde". Nur aus Gründen der politischen Taktik - denn er war sich der internen Unruhen in der eigenen Partei sehr wohl bewußt- vermied es De Gasperl stets, sich frontal jeder Form von Neutralismus entgegenzustemmen, und versuchte statt dessen, ihn zu überwinden und ihn für europäische Zwecke nutzbar zu machen". Erste Kontakte zwischen der CSU und Kreisen der DC- besonders sol­ chen, die der Azione Cattolica sehr nahe standen - verntittelte seit Anfang 1949 insbesondere das italienische Konsulat in München, wo Baron Francesco Malfatti, ein junger Diplomat, dem eine glänzende politische Karriere bestimmt sein sollte, zum Konsul berufen worden war. Im Laufe des Jahres nahmen die Treffen ihren Fortgang, und zwar Mitte September mit der Italienreise des bayerischen Wirtschaftsministers Hanns Seidel (CSU), der nach einer Besich­ tigung der Bozener Messe und einem Treffen mit De Gasperl in Trient nach Rom weiterreiste, wo er ein Gespräch mit Ivan Matteo Lombardo, dem Mini­ ster für Industrie und Handel, führte und vom Papst in Audienz empfangen wurde. Dieser Reise sollten weitere folgen, die Seidel vor allem anläßlich von Kongressen und Messen unternahm. Wie stark er an Kontakten mit Italien interessiert war, zeigr sich an dem .Feldzug", den er 1950 führte, damit der deutschen Botschaft in Rom - an der Seite von Oemens von Brentano, der eindeutig von Adenauer ausgewählt war- Heinz Beggenreiner zugeteilt würde, ein herausragender Vertreter der CSU, der zahlreiche wichtige Beziehungen zu den politischen Kreisen der Hauptstadt unterhielt'0•

Im Lauf des Jahres 1950 wurden die Kontakte zwischen DC und CDU/CSU enger, vor allem, nachdem Guido Gonella zum Parteisekretär bestellt worden war. Gonella hatte stets persönlich die Bemühungen um eine Wiederaufnahme der deutsch-italienischen Beziehungen unterstützt und war auch Ehrenvor­ sitzender der Italienisch-Deutschen Gesellschaft, die er im Mai 1950 in Rom gegründet hatte, gemeinsam mit einigen angesehenen italienischen Germanisten und deutschen WISsenschaftlern, darunter die Professoren Rodolfo Bottacchiari

" Vgl. Brentanos geheimes Eiltelegranun, Rom, 23. März 1951, an das Auswärtige Amt, in: PAAA, B 11, Bd. 260. " Vgl. G.E. Rusconi, Germania Italia Europa, S. 219-220. 30 Zu Hanns Seidel vgl. A. Bayer IM. Baumgärtel (Hrsg.), Weltanschauung und politisches Handeln. Hanns Seidel zum 100. Geburtstag, Grünwald 2001. Über seine Bemühungen, Heinz Beggenreiner auf den Posten des Botschaftsrates zu hieven, siehe seine Briefe an Strauß, Adenauer und Heinrich von Brentano vomJuni 1950, in: ACSP, Nachlaß Hanns Seidel, 28.

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und Giovannucci, der bekannte Senator Alessandro Casati sowie Ludwig Curtius, Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom". 1950 boten sich im Gefolge des Heiligen Jahres, das auch deutsche katbo· lische Politiker und Regierungsmitglieder nach Rom lockte, besonders zahl· reiche Anlässe zu Begegnungen. So begab sich z.B. Ende Dezember 1949 eine Ddegation bayetischer Abgeordneten nach Rom, um dem Beginn des Heiligen Jahres beizuwohnen; sie traf bei diesem Anlaß mit De Gaspeti und verschiede· nen Persönlichkeiten des politischen und kirchlichen Lehens zusammen". Die häufigen Reisen bayetischer Parlamentarier nach Italien und vor allem nach Rom und in den Vatikan führten schließlich zu einer gewissen Spannung zwischen der Bundesregierung und der bayetischen Regierung. Letztere machte- zumin· dest bis 1954, als schließlich wieder ein deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl akkreditiert wurde - kein Hehl aus ihrer festen Absicht, die bayerische Gesandtschaft im Vatikan wieder zu eröffnen, wobei sie sich auf eine neuere Tradition berief, derzufolge Bayern, trotz seiner Integration ins Kaiserreich, his 1918 zwei Gesandtschaften in Rom unterhalten hatte: eine bei der italienischen Regierung und eine beim Heiligen Stuhl, letztere bis 193433•

VI. CDU und DC Lina Morino, Konrad Adenauer und Heinrieb von Brentano Wenn die geographische und kulturdie Nähe und die gemeinsamen, auch und vor allem wirtschaftlichen, Interessen die Kontakte zwischen CSU und DC, zwischen Bayern und Italien erleichterten, so kamen die vidfach aus dem Rheinland stammenden Politiker der CDU vor allem durch ihre Teilnahme an verschiedenen chiistdemokratischen Initiativen auf europäischer Ebene mit Exponenten der DC in Kontakt. Und dies blieb auch in den folgenden Jahr· zehnten noch der bevorzugte Rahmen der Beziehungen zwischen italienischen und deutschen Christdemokraten. Während der Treffen des Genfer Kreises lernte Lina Morino Konrad Adenauer persönlich kennen. Ihr Briefwechsd zeigt, daß sich zwischen beiden Persönlichkeiten, über das politische hinaus,

" Vgl. ASMAE, AP, Gennania 1950, busta 35; die Notiz der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts, verfaßt auläßlich des Besuches Adenauers in Rom, Bonn, 9. Juni 1951, in: PAAA, B 11, Bd. 260; und ferner den Brief Heinrich von Brentanos an Adenauer vom 3. Mai 1950, in: Buodesarchiv Koblenz, Nachlaß Heinrich von Brentano, N 1239/154, der einem Memorandum für den Kanzler beigelegt war, das Brentano auf seiner Italienreise von den Griindern der Gesellschaft überreicht wurde. " V gl. das vertrauliche Eiltelegramm n. 0099/47 des italienischen Generalkonsulats in Frackfurt vom 17. November 1949, in: ASMAE, AP, Germanis 1949, husta 26. " Vgl. die Anmerkungen der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts zur deutschen Botschaft heim Vatikan, 22. Januar 1953, PAAA, B 11, Bd. 339.

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ein menschliches Einvernehmen einstellte, das dann durch die Jahre bestehen blieb, gewiß begünstigt durch Lina Marinos ausgezeichnete Kenntnis der deut­ schen Sprache und Kultur und auch durch die politische Situation des - wie sie selbst es nannte - .neuen Deutschland"". Aus der Korrespondenz mit Adenauer geht hervor, daß Lina Morino mehrere Reisen in die Bundesrepublik unternahm- einige davon auch im Auftrag De Gaspetis-, um mit dem Kanzler zusammenzutreffen und mit ihm vertrauliche Probleme der Partei zu erörtern, die, wie sie schreibt, nicht so sehr von politischer als vielmehr wirtschaftlich­ finanzieller Bedeutung waren".

Im April1950 hielt sich Heinrich von Brentano, damals Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, in Italien auf, um am Kongreß der Nouvelles Equipes Internationales in Sorrent teilzunehmen. Bei jener Zusammenkunft griff auch De Gasperl in die Debatte ein und trat mit Entschiedenheit für die deutschen Interessen ein; er richtete an die französische und die deutsche Delegation einen Appell, nicht das Ziel der Union aus dem Blick zu verlieren. Gleichzeitig sicherte er - gemäß einer Auffassung, die, wie wir gesehen haben, in vielen politischen Kreisen Italiens eingewurzelt war- die Bereitschaft Italiens zur Übernahme einer Vermittlerrolle zu". Anläßlich seines Aufenthalts in Italien wurde Brentano von Pius XII. in Audienz empfangen, traf die beiden Substituten des päpstlichen Staatssekreta­ riats, Monsignor Tardini und Monsignor Montini, und hatte eine lange offiziöse Zusammenkunft mit Außenminister Sforza, bei der Brentano der deutschen Dankbarkeit Ausdruck verlieh: die Bundesrepublik war nämlich aufgrund der Unterstützung Italiens zu einem Beitritt zum Europarat aufgefordert worden. Der Dankesbezeigung Brentanos kommt noch größere Bedeutung zu, wenn man sich vor Augen hält, daß Adenauer in einer Kabinettssitzung vor diesem Beitritt geäußert hatte, daß Deutscbland nach einer Aufnahme in den Europarat auf gute Beziehungen zu Italien, zu den Beneluxländern und den nordeuropä­ ischen Ländern würde zählen können. Hingegen war es keineswegs sicher, daß Frankreich und England diesen Zusammenschluß ernstlich wünschten".

'4 L. Morino, Nascita e volto della nuova Gennania, Rom

1958. " Lina Morino an Konrad Adenauer, Rom, 6. Noverober 1953, in: Stiftung Bun­ deskanzler-Adenauer-Haus, Rhöndorf, Nachlaß Konrad Adenauer 10.08. " ACSP, Z-LTF UC 1949, 69, Zusammentritt der CDU/CSU-Fraktion- Dr. von Brentano über seine Italieneindrücke.

37 Zu den römischen Gesprächen Heinrich von Brentanos vgl. das Memorandum des italienischen Botschafters, Babuscio Rizzo, für das Außenministerium vom 28. April 1950, sowie das Eiltdegramm der italienischen Botschaft in Bonn vom 5. Mai 1950, in: ASMAE, AP, Gennania 1950, busta 35. Adenauer vettrat diese Meinung während der Kabinettssitzung vom 24. März 1950; vgl. H. Booms (Htsg.), Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. 6. Bde., Boppard a.Rh. 1982-1998, hier Bd. 2: 1950, S. 285-286.

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Vll. Die Europaidee der christdemokratischen Politiker Schon während dieser ersten inoffiziellen Gespräche tauchte die Idee einer deutsch-italienischen Zusammenarbeit auf, die umfassender zum europäischen Einigungsprozeß hätte beitragen sollen. Zwar war dabei ein gewisser Einfluß der Ideale und der Anregungen der föderalistischen Bewegungen zu bemer­ ken, aber ohne Zweifel herrschten die konkreten politischen Zwecke vor. Neben dem gemeinsamen Willen zur definitiven Beendigung der alten und gefährlichen nationalistischen Konflikte, die Europa zerstört hatten, gab es bei den italienischen und deutschen Politikern, die zwischen Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre zusammentrafen, auch das Bewußtsein der Einigkeit in ganz konkreten Zielsetzungen. In einer europäischen Union sahen sie vor allem einen Ausweg aus der Isolierung, in der sich Deutschland und Italien nach dem Krieg befunden hatten, und zugleich ein Mittel, die beiden Länder zu rehabilitieren. Indem sie sich anschickten, Teil einer europäischen Union zu werden, und zu deren Gunsten auf die volle nationale Souveränität verzichteten, konnten Deutschland und Italien ganz und zu Bedingungen, die ihrem Wiederaufbau und ihrer Verteidigung vorteilhaft waren, in den Schoß der Völkergemeinschaft zurückkehren. Überdies empfand man in den Regierungskreisen beider Länder stärker als andernorts die Notwendigkeit, ein starkes politisches Einvernehmen innerhalb Westeuropas herbeizuführen, auch um der sowjetischen Bedrohung entgegenzutreten und ein politisches Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten zu bilden. Nachdem er arn Parteitag der DC im November 1952 teilgenommen hatte, schrieb Bruno Heck, führender Politiker der CDU, mehrmaliger Bundesmi­ nister und zwei Jahrzelmte lang Präsident der Konrad-Adenauer-Stiftung, an Lina Morino: "Unsere gemeinsame Aufgabe ist, Europa vor der bolschewistischen Barbarei zu bewahren. Europa aber wird nur bestehen können, wenn es seinem Ursprung treu bleibt, Europa steht und fällt mit Rom, von dem es ausgegangen ist und zu dem es nach den Verirrungen der Neuzeit wieder zurückkehren muß"38.

Der Idee von Europa, wie sie die christlich-demokratischen Politiker ver­ traten, lagen sicherlich christliche Prinzipien zugrunde. Dies zeigen auch einige Stellen in einem Brief Adenauers an Robert Schuman vom August 1951, als Letzterer im Begriff war, in die Vereinigten Staaten zu reisen, um an den Konferenzen über den Friedensvertrag mit Japan und über die deutsche Frage teilzunehmen . Ich werte es hierbei als ein besonders günstiges, ja glückliches Zeichen, daß die ganze Last der gestellten Aufgaben auf den Schultern von Männern ruht, die wie Sie, •

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Erste Fassung des Briefes von Bruno Heck an Lina Morino vom

1952, in: ACDP, VII-004/197-1.

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unser gemeinsamer Freund Ministerpräsident De Gasperl und ich von dero Willen erfüllt sind, den Neuaufbau der europäischen Welt auf christlichen Grundlagen zu entwickeln und zu vetwirklichen".

Doch gleich darauf fügte er hinzu: .Ich glaube, es hat wenige Kombinationen in der europäischen Geschichte gegeben, die so günstige Voraussetzungen für das Gelingen eines solchen Werkes bieten, als der gegenwärtige Augenblick; nie aber hat die Zeit so gedrängt wie heute und nie waren die gegnerischen Kräfte, die überwunden werden müssen, so stark wie heute. Im Mittelpunkt steht das Problern der Wiederaufualune Deutschlands als gleichbe­ rechtigter Partner in die westliche Staatengemeinschaft und damit verbunden die Frage des Zusammenschlusses zu einer westlichen Verteidigungsgemeinschaft"39•

Dies war das Hauptziel von Adenauers Politik: die Rückgewinnung des internationalen Vertrauens, indem die deutsche Außenpolitik wieder verläßlich wurde. Und dies bedeutete für ihn, die unabhängige Zwischenposition einer Brücke zwischen Ost und West aufzugeben und an der Option der Bundes­ republik für den Westen keinerlei Zweifel zu lassen. Es wäre dann leichter gewesen, durch eine allmähliche Revision des Besatzungsstatuts die staatliche Souveränität zu erlangen. In Adenauers Sicht bedeutete Souveränität jedoch nicht die Anerkettnung einer vollständigen politischen Handlungsfreiheit des neuen deutschen Staats, sondern vielmehr die Erlangung einer ebenbürtigen Rolle und voller politischer Gleichberechtigung im Ralunen einer europä­ ischen Föderation. Das Deutschland Adenauers strebte also eine .integrierte Souveränität" an, deren Realisierung Hand in Hand gehen sollte mit der West­ integration-wie es zwischen Mai 1952 und Oktober 1954 dann tatsächlich geschah. Diese integrierte Souveränität sollte auch die politische und militärische Sicherheit vor der Sowjetunion garantieren, die der neue deutsche Staat für unbedingt erforderlich hielt40•

VID. Adenauer und De Gasperl Im Juni 195 1 rrafKonrad Adenauer in Italien ein; es war sein erster offizi­ eller Staatsbesuch als Bundeskanzler". Das Ereignis veränderte teilweise den Charakter des deutsch-italienischen Einvernehmens, indem es dieses offiziell " Konrad Adenauer an Robert Schuman, Bann, 23. August 1951, in: H.P. Mensing (Hrsg.), Adenauer. Briefe 1951-1953 (Rhöndorfer Ausgabe), Berlin 1987, S. 114. '' Zu dem doppelten .Anspruch" Westdeutschlands auf Souveränität und Sicher­ heit, der der Option für die westliche Allianz rugtunde lag, vgl. H. Gram/, Die Außen­ politik, in: W. Benz (Hrsg.), Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschiand, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1989, Bd. 1: Politik, S. 220-277, hier S. 220-236.

41 Eine Dokumentation des Besuchs findet sich in: ASMAE, AP, Germania 1951, busta 13, sowie in: PAAA, B 11, Bd. 260.

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machte, und bekräftigte symbolisch die Aussöhnung zwischen den beiden Ländern, die sich formal noch im Kriegszustand befanden. Das Treffen zwischen Adenauer und De Gasperi rückte die Persönlichkeit der beiden Staatsmänner in den Vordergrund, die beträchtliche ideologische und politische Affinitäten aufwiesen; darauf war übrigens schon bei Adenauers Regierungsbildung im September 1949 wiederholt hingewiesen worden". Adenauer und De Gasperi waren einander in gemeinsamen kulturellen und politischen Idealen verbunden, aber sie teilten auch präzise Zielsetzungen und besonders die Überzeugung, daß Italien und die Bundesrepublik einander nützlich sein könnten. Beide christdemokratischen Führer waren engagiert im Kampf gegen den Kommunismus, der für Adenauer vor allem darin bestand, den über Ostdeutschland ausgeübten Druck der Sowjetunion einzudänunen, während er für De Gasperi bedeutete, einer internen, in einer Massenpartei organisierten politischen Kraft entgegenzutreten. Adenauer, und mit ilun viele andere Politiker der CDU, sahen in De Gasperi den Garanten italienischer Stabilität und Solidarität, der verbürgte, daß das Land nicht dem Kommu­ nismus preisgegeben würde. De Gasperi hielt einen Angriffskrieg der UdSSR auf Europa für unwahrscheinlich, fürchtete jedoch Umsturzversuche der italienischen Kommunisten. Er war überzeugt, Moskau habe einen Plan zur Destabilisierung des Westens entworfen, der über die lokalen kommunistischen Parteien zu verwirklichen wäre. Im Februar 1953 fragte er Adenauer, ob dieser einen Meinungsaustausch zu einer möglichen gemeinsame Front gegen die Propaganda für angebracht hielte, die Stalin in seiner letzten Rede auf dem XIX. Parteitag KPdSU im Oktober 1952 angekündigt hatte und die durch die kommunistischen Parteien umzusetzen sei43• Überdies erkannten Adenauer und De Gasperi die zerstörecisehe Kraft des modernen Nationalismus und die Notwendigkeit, ihn durch eine übernationale europäische Föderation endgültig zu überwinden, für deren Realisierung die Zusammenarbeit zwischen ihren Parteien wichtig war. "Unsere Arbeit für die christlich-abendländische Kultur stützt die Democrazia Cristiana", erklärte Adenauer in einem Interview, und umgekehrt wird die Arbeit der Democrazia Cristiana uns stützen"44• •

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J. Schmitz van Vorst, Der große liberale Versuch, in: Frankfurter Allgemeine

Zeitung, 3. September 1949. 43 Übersetzung des Briefes in: PAAA, B 2, Bd. 63. Adenauers Antwort ist leider nicht bekannt.

44 Zitiert nach: C. Masala, Die CDU und die Dernocrazia Cristiana Italiana, 19491969. Eine schwierige Beziehung, in: Historisch-Polirische Mitteilungen, 3 (1996), S. 145-162. Eine Gegenüberstellung der Ansichten und der Aktivitäten der beiden Regierungschefs bei U. Corsini I K. Repgen (Hrsg.), Konrad Adenauer e Alcide De Gasperi: due esperienze di rifondazione della dernocrazia (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Treoto. Qudemi, 15), Bologna 1984.

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Jedoch fand das tiefe Einvernehmen, das sich zwischen Adenauer und De Gasperl im Laufe ihrer nicht allzu häufigen Begegnungen entwickelt hatte, bei ihren Patteien nie eine angemessene Entsprechung. Dieses Einvernehmen wurde höchstwahrscheinlich auch dank der Erfahrungen und des .kulrurellen Gepäcks" von De Gasperi gesteigert: seine Geburt in einem Grenzgebiet wie dem habsburgischen Trentino, die journalistischen und politischen Aktivitäten als Vermittler und Interpret zwischen der italienischen katholischen Bewegung und der Österreichischen und deutschen, sein Amt als Abgeordneter im Wiener Vielvölkerparlament, die direkten Erfahrungen mit den großen europäischen und internationalen Krisen vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die Initiativen auf europäischer Ebene in den 20er Jahren zusammen mit Luigi Sturzo zur Griindung einer .Internazionale popolare" und zum Schluß seine Analyse der internationalen Ereignisse der dreißiger Jahre vom Vatikan aus. Diese Erfah. rungen brachten ihm eine geistige und politische Öffnung und ein Feingefühl für internationale Beziehungen, die Politiker des republikanischen Italien nur selten besaßen"'. Mit dem Besuch Adenauers in Rom begann eine Phase größten politischen Einvernehmens zwischen Italien und Deutschland. Sie fiel zusammen mit der Zeit der intensivsten Bemühungen Adenauers und De Gasperis (der seit Juli 195 1 auch Außenminister war) um die europäische Einigung. Der Besuch De Gasperis in Bonn vom 21. bis zum 24. September 1952 stellte hingegen den Abschluß dieser ersten europaorientierten Periode des Palazzo Chigi dar, die durch die innenpolitischen Verwicklungen und Schwierigkeiten beendet wurde, und bezeichnete zugleich den Beginn einer allmählichen Lockerung der politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien, die zwischen 1953 und 1954 deutlicher wurde46• Am letzten Tag seines Deutschlandbesuches begab sich De Gasperi nach Aachen, um den schon damals angesehenen Karlspreis entgegenzunehmen, den die Stadt ihm in Würdigung seines Beitrages zum Aufbau Europas zuerkannt harte. Die Dankesrede, die er bei diesem Anlaß hielt, beschloß die Reihe der großen europapolitischen Reden De Gasperis und markierte auch das Ende seiner konkreten politischen T ätigkeit im Dienst Europas, die dann über den Verwicklungen der italienischen Innenpolitik aufgegeben wurde47• 45 Zum Leben De Gasperis siebe A. Canavero, Alcide De Gasperi: Cristiano, democratico, europeo, Soveria Mannelli 2003.

46 V gl. M. Guiotto, Italia e Germania occidentale dalla fine del1a seconda guerra mon· diale alla fine degli anni Cinquanta, in: M. Guiotto I]. Lill (Hrsg.), Italia·Germania 1948·1958. Deutschland·Italien 1948·1958. Riavvicinamenti!Wiederannäherungen (Collana di Villa Vigoni. Studi italo·tedeschi, 6), Florenz 1997, S. 11·157, hier S. 70. 47 Zum Besuch De Gasperis in Deutschland vgl. die Dokumentarion in: PAAA, B 11, Bd. 1289; PAAA, B 8, Bde. 54, 55, sowie in: ASMAE, AP, Germania 1952, busta 89. Zur Verleihung des Karlspreises siebe auch den Bericht der deutschen Botschaft

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Maddalena Guiotto IX. Das deutsch-italienische Einverständnis, die deutsche Wiederaufrüstung und das europäische Heer

Im Mittelpunkt dieser Phase tiefen deutsch-italienischen Einverständnis­ ses standen die Fragen der deutschen Wiederaufrüstung und der Schaffung einer europäischen Streitkraft. Liest man die Notizen und Kommuniques der italienischen und deutschen Diplomaten, gewinnt man den Eindruck, daß von den ersten Monaten des Jahres 195 1 an (nach Beginn der Arbeit der Pariser Konferenz zur Organisation der EVG) bis Anfang 1953 (als bereits klar wurde, daß De Gaspetis Position innerhalb der DC und an der Spitze der Regierung sehr geschwächt war) Adenauer und seine Mitarbeiter immer öfter in Italien das Land, ja sogar das einzige Land sahen, an dessen Unterstützung auf inter­ nationalem Parkett es nichts zu zweifeln gab und das deswegen solidarisch an der Seite Deutschlands zu halten war48• Die politischen Führer Italiens erkannten, daß in wirtschaftlicher wie in militärischer Hinsicht die Existenz und die Sicherheit Europas und ihres eigenen Landes nicht ohne die aktive Mitarbeit Deutschlands gewiihrleistet werden konnten. Dies hieß jedoch nicht, einer selbständigen Wiederaufrüstung der Bundesrepublik das Wort zu reden, die auch De Gasperl entschieden ablehnte. Vielmehr wollte man das Vorhaben einer Westintegration des neuen deutschen Staates als einzige Lösung unterstützen, mit der nicht nur jedes gefährliche Wiedererstehen deutscher Hegemonialbestrebungen verhindert, sondern auch der sowjetischen Expansion entgegengewirkt werden konnte- eine Gefahr, für die Italien mit seiner starken, noch völlig an Moskau ausgerichteten kommunistischen Partei besonders sensibilisiert war49 [Die Italiener] weisen nüchtern auf den Ausgangspunkt aller Bemühungen, die nach dem Kriege in Westeuropa unternommen wurden, hin", schrieb Josef Schmitz van Vorst, von der Nachkriegszeit bis in die siebziger Jahre deutscher Korrespondent in Rom. .Dies ist nicht die deutsche Wiederaufrüstung, aber die Gefahr, die von Rußland droht"". •



Die italienische Regierung hatte auch ein unmittelbares Interesse daran, den von den Amerikanern vorgelegten Plan für eine deutsche Wiederaufrü-

in Rom vom 8. Januar 1952, in: PAAA, B 10, Bd. 253. Der Text der Aachener Rede, Le radici spirituali dell'Europa, liegt veröffentlicht vor in: M.R. De Gasperl (Hrsg.), De Gasperle I'Europa, Brescia 1979, S. 169-173. 48 V gl. ausführlicher hierzu M. Gtdotto, I governi De Gasperle il rianno tedesco, in: Studi Trentini di Scienze Storiche, 1 (2001), 4, S. 807-822. 49 V gl. den Bericht der deutschen Botschaft in Rom über die Stellungnahme De Gasperis zur Außenpolitik auf der Tagung des Nationalrats der DC Ende Juni 1953, in: PAAA, B 11, Bd. 420.

" J. Schmitz van Vorst, Hat Frankreich Angst vor Europa?, in: Frankfurter Allge­ meine Zeitung, 23. Oktober 1952.

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stung zu unterstützen. Laut De Gasperl und Sforza war es nämlich für Italien von essentieller Bedeutung, die sichersten Garantien für die Verteidigung der Ostgrenzen bis hin zu den kroatischen Ebenen zu erhalten; und wenn die deutsche Wiederaufrüstung "die gemeinsame Zeche" dafür war, so zeigte sich Italien bereit, sie zu bezahlen. Sforza präzisierte jedoch auf der Tagung des NATO-Rats in New York: "Das demokratische Italien ist weit davon entfernt, das militärische Wiedererstehen Deutschlands mit Genugtuung zu betrachten, auch ist es weit davon entfernt, eine Politik der direkten deutsch-italienischen Zusanunenarbeit gutzuheißen, die womög­ lich die unseligsten Erinnerungen, versiegelt vom Blut des Zweiten Weltkrieges, wieder wachrufen könnte; aber ein Deutschland, das wiederaufgerüstet wird unter der Kontrolle uod im Rahmen der atlantischen Allianz, würde einen nützlichen und notwendigen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung leisten, ohne übermäßige Ängste vor militaristischen Rückfa.Ilen hervorzurufen "51•

Während der langen und kontroversen Pariser Verhandlungen über die Organisation der EVG herrschte zwischen Italien und der Bundesrepublik ständiges und volles Einvernehmen hinsichtlich der Vorhaben und der fuoda­ mentalen Entscheidungen''. Adenauer und seine Mitarbeiter unterstützten mit Nachdruck die Forderung nach einer übernationalen Anlage der europäischen Streitkräfte, nicht nur, weil sie darin den einzigen Weg vermuteten, um dem Prinzip der Gleichberechtigung zur Akzeptanz zu verhelfen, sondern auch, weil sie minels der partiellen Integration der einzelnen Armeen eine wirkliche politische Einigung Europas zu erreichen hofften". Die europäische Streit­ macht als Grundlage der europäischen Einigung: für diesen Weg harte sich auch De Gasperl entschieden. Deswegen unterbreitete er auf dem Treffen der Außenminister in Straßburg Mitte Dezember 195 1 den Vorschlag, daß "die Verteidigungsgemeinschaft von Anbeginn mit einem Organ parlamentarischer Natur ausgestattet sein solle, also mit einem Gremium", das neben seinen Funktionen als Organ der Verteidigungsgemeinschaft auch die Aufgabe haben solle, "das Projekt der föderativen oder kauföderativen Verfassung durch­ zuführen"". Was in De Gasperls Vorschlag als Grundfrage auftaucht, hatte niemand anders als Konrad Adenauer um einige Tage vorweggenommen, als er am Ende seines ersten offiziellen Besuches in Großbritannien am 8. De51

C. S/orza, Cinque anni a Palazro Chigi, S. 286-287.

Für eine Rekonstruktion der verwickelten Verhandlungen, die das Fundament des EVG-Abkommens legten, vgl. D. Preda, Storia di una speranza. La batraglia per Ia CED e la Federazione europea, Mailand 1990. 52

53 Vgl. H.-P. Schwarz, Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949-1957, Stuttgart I Wiesbaden 1981, p. 148. Zu dieser auch von De Gasperi vertretenen Posi­ tion vgl. P. Pastorelli, La politica europeistica di De Gasperi, in: P. Pastore/li (Hrsg.), La politica estera italiana del dopoguerra, Bologna 1987, S. 145-208.

" A. De Gasperi, La CED come strumento di pace, in: M.R. De Gasperl (Hrsg.), De Gasperi e l'Europa, S. 124-129, hier S. 126-127.

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zerober 195 1 vor der Foreign Press Association erklärte: n· · · in Hinblick auf die bevorstehende Gründung der europäischen Verteidigungsgemeinschaft [sollte] ein gerneinsames politisches Organ geschaffen werden, das in der Lage ist, schwerwiegende Entscheidungen, z.B. über den Einsatz der europäischen Armee, zu treffen"". Hiermit stellte er seine große geistige Verwandtschaft zu dem Trentiner Staatsmann unter Beweis. Auf der Grundlage von De Gasperis Vorschlag, mit der energischen Unter­ stützung Adenauers und trotz der Skepsis und des Argwohns der Vertreter der Beneluxländer wurde Artikel38 des EVG-Abkommens formuliert, der konkrete Schritte hin zur Ausarbeitung einer föderativen europäischen Verfassung und eines föderativen Staatensystems vorsah". Adenauer und De Gasperl sprachen der militärischen Integration und der gemeinsamen Armee also ähnliche Rollen zu und betrachteten sie weniger als Endzweck, sondern vielmehr als Mittel zur Erweiterung des politischen Wirkungsbereichs des eigenen Landes im europä­ ischen Rahmen und als Grundlage der europäischen Einigung. Dies bedeutete allerdings nicht, daß dem italienischen und dem deutschen Politiker die Problerne der Verteidigung nicht bewoßt gewesen wären. Ein T hema der römischen Gespräche Adenauers mit De Gasperl und Sforza war auch die Frage der europäischen Sicherheit, die durch zwei gleichermaßen fundamentale Komponenten gewährleistet werden sollte: dem Zusammen­ schluß der westlichen Staaten des Kontinents und der amerikanischen Hilfe. Namentlich von deutscher Seite jedoch fürchtete man, daß die Vereinigten Staaten auf lange Sicht schließlich die eigenen Truppen vom alten Kontinent abziehen würden, und man gelangte daher übereinstimmend zu dem Schluß, daß die Aufstellung europäischer Truppen notwendig sei; allerdings sollte diese nicht auf der Grundlage des Pleven-Plans erfolgen, der von der französischen Regierung vorgelegt worden war und die Grundlage der Konferenz bildete". Der Plan zur Schaffung einer europäischen, einem gemeinsamen Verteidigungs" Der Bundeskanzler vor der Weltpresse, in: Bulletin des Presse- und Informa­ tionsamtes der Bundesregierung, 11. Dezember 1951, Nr. 19, S. 134. " Zur Bedeutung, die der italienischen Initiative zur Grundlegung einer europä­ ischen Föderation für eine weitere Festigung der deutsch-italienischen Beziehungen zukam, vgl. die anläßlich des Besuches De Gasperis in Bonn von der Abteilung 3 des Auswärtigen Amts verfaßte Notiz, Bonn, 19. September 1952, in: PAAA, B 11, Bd. 1289, in der des großen Verdienstes des Trentiner Staatsmannes bei der Formulierung von Artikel38 des EVG-Abkommens gedacht wird. " V gl. das Kabinettsprotokoll der Bundesregierung über die Sitzung vom 26. Juni 1951, auf der Adenauer von seiner ersten Reise nach Italien berichtete, in: H. Booms (Hrsg.), Die Kabinettsprotokolle, Bd. 4: 1951, S. 474. Zum eimnütigen Widerspruch Deutschlands und Italiens gegen das Projekt einer europäischen Annee, wie es von Frankreich vorgeschlagen wurde, vgl. auch den vertraulichen Bericht über das Gespräch des Botschafters Brentano mit dem Staatssekretär im Außenministerium Taviani, Rom, 6. November 1951, in: PAAA, B 11, Bd. 1002.

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ministerium unterstellten Armee von Ende Oktober 1950 sollte den Beitritt der Bundesrepublik zum Nordatlantikpakt und damit die Schaffung nationaler deutscher Streitkräfte verhindern; auch auf italienischer Seite war er auf deut­ liehe Vorbehalte und Ablehnung gestoßen. Die politischen Mehrheitskräfte und gerade auch die italienische Regierung befürchteten neben übermäßigen Bdastungen für die Staatsfinanzen durch das EVG-Projekt auch eine Zunalune der Spannungen zwischen Regierung und Links-Opposition innerhalb des Landes. Auch die Sorge, die EVG könne wichtiger werden als die Nato, trug zu ihrem Argwohn gegenüber dem Plan bei. In Mehrheitskreisen war man überdies der Auffassung, daß die politische und wirtschaftliche Vereinigung Europas der militärischen voraus· oder zumindest mit ihr Hand in Hand gehen solle''. Der Banner Regierung und den deutschen Ddegierten in Paris erschien der französische Plan jedoch nicht nur militiitisch ungeeignet, sondern auch politisch inakzeptabd, da er der Bundesrepublik die für sie fundamen­ tale Gleichberechtigung verweigerte und vorsah, daß ihr Truppenkontingent nur einen kleinen Teil der europäischen Armee bilden, also eher symbolische Bedeutung haben sollte''. Gerade auch, um die Gefahr neuer, den deutschen Interessen zuwiderlaufen­ der Abkommen Frankreichs mit dritten Staaten abzuwenden, hatte Adenauer, seitdem er Bundeskanzler war, die Beziehungen zu dem mächtigen Nachbarn jenseits des Rheins in den Mittdpunkt seiner Politik gestellt: er wollte eine endgiiltige Aussöhnung erreichen. Aber gerade während der diffizilen Anfänge seiner Europapolitik, als es um fundamentale Fragen wie die Zugehörigkeit des Saatgebiets und vor allem die Organisation der EVG ging, war Adenauer sich bewußt, wie wichtig es für die Bundesrepublik sei, Frankreich nicht allein gegenüberzustehen. Daher betrachtete er Italien als Verbündeten, der auf der internationalen Bühne sicherlich keine entscheidende Rolle spidte, auf den er sich aber bei den bevorstehenden, für die Zukunft des neuen deutschen Staates wichtigen internationalen Treffen verlassen konnte. Wie etwa im Sep· tember 1951, als Botschafter von Brentano De Gasperl vor dessen Abreise zur Konferenz des NATO-Rates in Ottawa aufsuchte und ihn im Verlauf einer langen Unterredung bat, bei den Alliierten und insbesondere bei Schuman und Bidault darauf hinzuwirken, daß sie die Aufstellung einer europäischen Armee unter Beteiligung eines deutschen Kontingents vorantrieben und, vor 58 Vgl. A. Vtmori, I:Italiafra alleanza atlantica e CED (1949-1955), in: E. DiNolfo I RH. Rainero I B. Vige.W (Hrsg.), I:Italla e Ia politica di potenza in Europa (1950-1960), Mailand 1992, S. 587-623; P. Pastorelli, La politica europeistica di De Gasperi, S. 187 und passim. " V gl. G. Wettig, Enttoilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland

1943-1955. Internationale Auseinandersetzung um die Rolle der Deutschen in Eusopa, München 1%7. Zu den skeptischen Reaktionen Adenauers auf den Pleven-Pian vgl. H. Blankenhom, Verständnis und Verständigung. Blätter eines politischen Tagebuchs 1949-1979, Frankfurt a.M. I Berlin I Wien 1980, S. 115 ff.

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allem, Deutschland konkrete und eindeutige Zugeständnisse machten, um dem Besatzungsstatut ein Ende zu setzen. In seinem Bericht an das Auswärtige Amt über den positiven Ausgang des Treffens erklärte von Brentano, sich voll und ganz dessen bewußt zu sein, daß Italien nicht zu den Großmächten gehöre, die endgültige Weichenstellungen vorzunehmen vermochten. Dennoch war Italien sowohl aufgrund seiner geographischen Lage als auch wegen des hohen Ansehens, daß De Gasperi in den Vereinigten Staaten genoß, im Stande, im NATO·Rat einen politischen und militärischen Einfluß gdtend zu machen, der gewiß weit über das materielle und militärische Potential des Landes hinausging"'. In De Gasperi und der italienischen Regierung sah man auch Anfang 1952 noch einen notwendigen Rückhalt für die Positionen des deutschen Kanzlers auf internationalem Gebiet, also zu einem Zeitpunkt, als bereits alle sachlichen und politischen Klippen umschifft waren und man in Paris zu einer Einigung über das EVG-Projekt gdangt war. Dies zeigt ein Bericht ntit dem Titd .De Gasperl will Adenauer jede Bille leisten", der im Februar 1952 vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Bonn auf der Grundlage vertraulicher Informationen verfaßt worden war. In dem Bericht ging es um eine vertrauliche Unterredung zwischen Monsignor Montini und De Gasperi über die deutsche Beteiligung an der europäischen Armee. Montini habe dem Ministerpräsidenten den Wunsch von Pius XII. zur Kennntis gebracht, die italienische Regierung möge der Politik des Bundeskanzlers die größtmögliche Unterstützung gewähren. In Erwiderung darauf habe De Gasperi zugesichert, er werde Adenauer auf der Tagung des NATO·Rats in Lissabon und bei jedem anderen wichtigen Anlaß ntit aller Kraft unterstützen".

Am 27. Mai 1952 unterzeichneten die sechs europäischen Länder in Paris den Griindungsvertrag der EVG. Damit begann das schwierige Kapitd der Ratifizierungen, und damit setzten auch die französischen Bemühungen ein, Deutschland und den angdsächsischen Alliierten weitere Konzessionen und Garantien abzutrotzen, die im Fall ihrer Bewilligung schließlich das Prin· zip der deutschen Gleichberechtigung unterminiert hätten. Angesichts des französischen Vorgehens wurde die Solidarität der italienischen Regierung und insbesondere De Gasperis von deutscher Seite weiterhin als wesentlich angesehen. Als Adenauer am Tage nach De Gasperis Besuch in Bonn im September 1952 die Kabinettssitzung eröffnete, hob er die Wichtigkeit und die Bedeutung jenes Treffen s hervor, wobei er die noch ungewisse internatio· nale Lage Deutschlands und vor allem die .Labilität" Frankreichs und die 60 Vertraulicher Bericht des deutschen Botschafters, derzeit in Madonna di Campiglio, 6. September 1951, in: PAAA, B 11, Bd. 419. 61 Pressew und Informationsamt der Bundesregierung, Auslandsabteilung, Rew ferat 3, Bono, 21. Februar 1952, in: PA AA, B 11, Bd. 261.

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geschwächte politische Position Schumans in Erinnerung rief. Hingegen hatte sich - Adenauer zufolge - die Autorität De Gasperis in Italien gefestigt, trotz der Präsenz der starken kommunistischen Partei 62•

X. Das Abkühlen der deutsch-italieniseben Beziehungen Allerdings traf die Einschätzung Adenauers nicht ganz zu, denn ungeachtet des bettächtlieben Ansehens, das De Gasperl ohne Frage genoß, wurde schon im Laufe des Jabres 1952 in Rom die Mehrheit der Mitte von reebts und links unterhöhlt. Bei den Gemeinde- und Provinzialwahlen 1951152 hatte die DC im Vergleich zu 1948 über 10% der Stimmen verloren. Mit der Schwäebung der DC und der Position De Gaspetis und mit der daraus folgenden innen­ poliriseben Instabilität verringerte sich nicht nur Italiens Europaengagement, sondern zeigten sieb auch erste Risse im gegenseitigen Einvernehmen, das bis dato die Beziehungen zur Bundesrepublik geprägt hatte. Einige deutsche Diplomaten in Italien beobachteten die Schwächung der zenttistiseben Regierung und vor allem die langsame Verbreitung einer neuen Haltung gegenüber Deutschland in der öffentlichen Meinung und der Presse mit waebsender Sorge. Plötzlich tauebten wieder Ressentiments auf, die in die letzten Kriegsjahre zurückreiebten. Auf deutseher Seite befürchtete man hauptsächlich, daß all dies letzdich nicht nur die öffendiche Meinung in Italien gegen Deutschland aufbringen, sondern aueb dazu beitragen würde, die deutseh-italienische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene ernstlich zu beeinträebtigen. Mitte Oktober 1952 beriebtete aueb der deutsehe Geschäfts­ träger in Paris, Albreebt von Kessel - der von Anfang an die Verhandlungen über die EVG verfolgt hatte-, nach Bann, daß das Verhalten der italieniseben Delegation sieb in den letzten Wochen gewandelt und wiederholt Anlaß zu Zweifeln und Bedenken gegeben, bisweilen sogar den Eindruck bewußter Obstruktion erweckt habe". Die deutsche Diplomatie verfolgte mit sterig wachsender Aufmerksamkeit die Entwicklung der ungewissen poliriseben Lage in Italien: das Hauptproblem stellte nun die Ratifizierung des EVG-Abkommens dar. Im November 1952 schrieb Theodor Blank, der Beauftragte Adenauers für militärisebe Fragen und später erster Bundesverteidigungsminister, an Adenauer, die deutsche Botschaft in Rom schätze es als äußerst unwabrsebeinlieb ein, daß Italien noeb 62 Vgl. das Protokoll der Kabinettssitzung vom 26. September 1952, in: H. Booms (Hrsg.), Die Kabinettsprotokolle, Bd. 5: 1952, S. 600. " Geheimbericht Albrecht von Kessels (Deutsche Delegation beim Interims­ ausschuß für die Organisation der EVG), Paris, 17. Oktober 1952, in: PAAA, B 10, Bd.l002.

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vor Sommer 1953, wenn die neue Regierung ihre Amtsgeschäfte aufnehmen würde, das EVG-Abkommen ratifizieren werde". Im Frühjahr 1953, nach dem Tode Stalins, war in Deutschland die Furcht vor einem Abkommen der Westmächte, vor allem Frankreichs, mit der Sowjet­ union wiedererwacht; und von neuem blickte die deutsche Diplomatie ver­ trauensvoll nach Italien. Aber schon nach einigen Monaten wurden die deut­ schen Hoffnungen, auf europäischem Feld auf die italienische Solidarität zählen zu können, schwer enttäuscht. Das Scheitern von De Gasperis Versuch, seine achte, ausschließlich aus der DC bestehende Regierung zu bilden, ließ in Deutschland sofort um die Zukunft Europas und seiner Verteidigung fürch­ ten. "In jedem Falle aber", bemerkte Clemens von Brentano, "steht Italien in außenpolitisch bewegter Zeit vor einer Periode mangelnder Regierungsstabi­ lität mit allen Begleiterscheinungen gelähmter Initiative nach innen und nach außen"M. Die deutsche Radosigkeit angesichts der innenpolitischen Entwicklung in Italien und insbesondere ihrer möglichen Auswirkungen auf die außen­ politische Ausrichtung verstärkte sich noch nach der Bildung der neuen von Pella geführten Regierung. Sie erhielt von deutscher Seite viel Kritik, aber nur wenig Zustimmung. Die deutsche Presse, die Politiker und sogar Adenauer selbst, der bei den Wahlen vom September 1953 seinen größten Erfolg ernten sollte, begannen, die politische Haltung Italiens zur Ratifizierung der EVG in die Nähe der französischen Position zu rücken. Seit dem Amtsantritt Pellas beobachteten die deutschen Diplomaten mit Sorge, daß er eine völlig andere Haltung zur europäischen Vereinigung einnahm als dieRegierungenDe Gaspetis und offenkundig einer Ratifizierung des EVG-Abkommens wenig zugeneigt war66• Außerdem berichtete Brentano schon seit einiger Zeit aus Rom, daß die Triest-Frage eine inuner bedeutendere Rolle in der italienischen Innenpolitik

64 Theodor Blank anAdenauer, Buon, 6. Novem ber 1952, in: PAAA,B !O,Bd. 286. Am 25. März 1953 gratuliert De Gasperl Adenauer zur Ratifizierung des EVG-Abkom­ mens im Bundestag und beteuert seine feste Absicht, alles nur mögliche zu tun, damit dieses auch in Italien so schnell wie möglich ratifiziert würde, auch wenn dies kauro noch vor der bevorstehenden Auflösung der Kammer geschehen würde. In seinem Aotwortbrief vom 30. März gratuliert Adenauer De Gasperl zum neuen Wahlgesetz, das gerade deo Senat passiert hatte und fügt hinzu, daß ihm dies ein gutes Omeo scheine und nun auch in Italien einer Ratifizierung des EVG-Abkommens nichts mehr im Weg stünde; beide Briefe in: PAAA, B 2, Bd. 15.

" Bericht der deutschen Botschaft in Rom, 31. Juli 1953, in: PAAA, B 10, Bd. 115. 66 V gl. den Bericht der italienischen Botschaft an das Außenministetiuro, Bad Godesberg, 10. September 1953, in: ASMAE, AP, Germania 1953, busta 186; ferner die Berichte der deutschen Botschaft in Rom, 21. August 1953 und 25. August 1953, in: PA AA, B 11, Bd. 116.

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spiele und daß ihrer Lösung auch die Ratifizierung des EVG-Abkommens untergeordnet werde". Nach dem Rücktritt der Regierung Pella, der bereits imJanuar 1954 erfolgte, und dem sehr kurzen Intermezzo der von Fanfani geführten Regierung gewann Deutschland mit der Ernennung Scelbas zum Ministerpräsidenten die Hoffnung zurück, daß man binnen kurzem in Italien zur Ratifizierung des Griindungsver­ trages der EVG gelangen könne, ohne daß die Vorbedingung gestellt würde, der Vertrag müsse zuerst durch das französische Parlament ratifiziert werden. Allerdings enttäuschte auch die Regierung Scelba schon nach kurzer Zeit die deutschen Erwartungen, und bereits im Mai 1954 berichtete Brentano über die ungewisse und zweifelhafte Haltung der italienischen Regierung zur Ratifizierung des EVG-Abkommens, während die Triest-Frage wieder ernste Schwierigkeiten in Regierungskreisen hervorrief. Die US-Botschafterio in Italien, Oare Booth Luce, hatte in jenen Tagen sogar Brentano geraten, Adenauer vorzuschlagen, er möge De Gasperi, der in seiner Funktion als Parteisekretär der DC noch immer einflußreich war, schreiben und ihm die wichtigsten Griinde darlegen, die eine rasche Ratifizierung des EVG-Abkommens absolut unabdingbar mach­ ten, und zwar nicht nur im Interesse Europas, sondern auch Italiens selbst". Höchstwahrscheinlich wurde der Rat nicht befolgt, aber er zeigt immerhin, daß man von amerikanischer Seite danach trachtete, De Gasperl wieder an Adenauer und an den Einsatz für Europa heranzuführen. Nach dem Tode De Gasperis im August 1954 erkannte der Stellvertreter Brentanos in Rom, Graf Strachwitz, daß nunmehr keinerlei Möglichkeit mehr für eine Ratifizierung des Griindungsvertrags der EVG durch Italien bestand, und zwar nicht so sehr, weil die Regierung Scelba sich von der europäischen Linie De Gasperis entfernt hätte, sondern vielmehr, weil mit dem Tode des Letzteren .[die] Stimme des Ausgleichs und der Einigkeit über alle Strömungen und inneren Gegensätze ... in Partei und Staat ..." verstummt war". Damit endete jene Phase der deutsch-italienischen Einigkeit über die politischen Absichten und deren Umsetzung, deren Protagonisten die christ­ demokratischen Parteien gewesen waren. Verschiedene Ursachen hatten dazu beigetragen, und einige hatten sich schon vor dem Tode De Gasperis abge67 Siehe auch die Berichte der Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Parlamentsfraktion Fragen der Außenpolitik und europäischen Sicherheit vom 9.-16. März1954, vom 1 8 .-27. März1954 und vom 5. Mai-12 . Juni 1954 in: Bundesarchiv Koblenz, N 1239/ 120 . Zur Triest-Frage vgl. D. De Castro, La questione di Trieste. I:azione politica e di­ plomatica italiana dal1943 al1954,2 Bde., Triest1981 . zu

68 Vgl. den Geheimbericht der deutschen Botschaft in Rom, 2 4. Mai 1954, in: PAAA, B10 , Bd. 1003 .

" Bericht der deutschen Botschaft in Rom, 26. August 1954, in: PAAA, B 11 , Bd.l17.

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zeichnet. Infolge der Krise des Mitte-Bündnisses vollzog sich in Italien ein polirischer Übergang, der zu einer langsamen und schwierigen Öffnung nach links führte, die von riefgreifender Instabilität und dem ständigen Aufeinan­ derfolgen von Regierungen begleitet war. Aber auch die neue internationale Position der Bundesrepublik, ihre neue außenpolitische Ausrichtung nach dem Erlangen der Souveränität und dem Beitritt zur NATO im Jahre 1955 wirkten sich auf das Verhältnis zu Italien aus. Erst mit der Ostpolitik, Ende der sechziger Jahre, fanden die Regierungs­ koalitionen beider Länder, die SPD/FDP und die DC mit ihren Mitte-Links­ Verbündeten, wieder zu echten Gemeinsamkeiten und zu einem starken grund­ sätzlichen Einvernehmen zurück.

Alcide De Gasperl und Konrad Adenauer Ähnlichkeiten und Unterschiede* Von Pietro Scoppola

Dieser Beitrag versteht sich nicht als Referat, sondern nur als Reflexion über einige Aspekte des T hemas dieser Tagung. Zudem möchte ich damit auf neue Wege in der Forschung über De Gasperis Persönlichkeit und Werk eingehen, die durch die Arbeit junger Wissenschaftler gerade eröffnet werden. Die Persönlichkeit Alcide De Gasperis weckt noch immer das Interesse der Historiker, und dies wird auch auf lange Sicht so bleiben. Die verfügbaren Dokumente werden allmählich immer zahlreicher und fordern zu erneuter und vertiefter Auseinandersetzung heraus. Sein fünfzigster Todestag gibt Anlaß zu vielen Initiativen, die sich nicht in Feierstunden erschöpfen. Aber vor allem ein psychologisches Faktum beeinflußt auch den Historiker: der zeitliche Abstand und die Folie der Gegenwart lassen die Gestalt des Trentiner Staatsmannes größer und interessanter erscheinen.

In der Forschung zu De Gasperi und seiner Arbeit am Wiederaufhau drängte sich eine Gegenüberstellung und ein Vergleich mit Deutschland und Konrad Adenauer von selbst auf: man zog eine Parallele zwischen den zwei Staatsmäunem. 1971 fand in Salemo ein deutsch-italienischer Kongreß statt über das T hema "Von der Diktatur zur Demokratie. Deutschland und Italien in der Zeit nach 1943". Eine Studienwoche in Trient im Jahr 1979 (deren Berichte erst 1984 veröffentlicht worden sind) war ausdrücklich diesen beiden Persönlichkeiten gewidmet'. Die Herausgeher Umherto Corsini und Konrad Repgen betonten in ihrem Vorwort zwar, daß .in den Arbeiten der Studienwoche nicht die komparative Methode angewendet wird. Jeder Beitrag der Referenten hat entweder Adenauer oder De Gasperi zum Gegenstand oder aber die Probleme Italiens oder die Deutschlands", aber sie fügten hinzu -und bekräftigten damit die zugtundeliegende These der Parallelität und der Ähnlichkeit -: .Dennoch ergibt sich aus den gemeinsamen oder ähnlichen * 1

Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt.

U. Corsini I K. Repgen (Hrsg.), Konrad Adenauer e Alcide De Gaspeti: due esperienze di rifondazione della democrazia (Annali dell'Istituto storico italo- germanico in Trento. Quaderni, 15), Bologna 1984.

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Problemen und Lösungen der beiden Länder und der politischen Tendenzen der beiden Regierungschefs ein einheitliches Bild"2• Und damit nicht genug: In dem Treffen der beiden Staatsmänner im August 1921 in Köln wollten sie den Anfang einer späteren .Einheit der Ideale" sehen'. Auch bei dem Kongreß, dessen Beiträge hier vorgelegt werden, war das Grundthema das Verhälmis und der Vergleich zwischen Italien und Deutschland: der untersuchte Zeitraum wird ausgedehnt, und die beiden Persönlichkeiten Adenauer und De Gasperi stehen nicht mehr im Zentrum; aber der kompa­ rative Ansatz herrscht weiterhin vor, und Charles S. Maier spricht in seinem Einleitungsreferat sogar ausdrücklich von .komparativen Gesichtspunkten". Ich konnte, wie gesagt, an der Studienwoche selbst nicht teilnehmen, habe lediglich einige der Beiträge gelesen und manche Nachrichten über den Verlauf der Diskussionen erhalten: ich spreche nicht über die Ergebnisse des Vergleichs. Ich möchte lediglich die Frage aufwerfen - dies ist der Sinn meines verspäte­ ten Beitrags -, ob diese verbreitete Tendenz, zu vergleichen und Parallelen zu ziehen, nicht allmählich den Blick auf die tiefgehenden Unterschiede zwischen den Protagonisten De Gasperl und Adenauer verstellt hat. Ich möchte damit keineswegs die zahlreichen Ähnlichkeiten anzweifeln, die inzwischen zur historiographischen Vulgata gehören; und erst recht will ich keine Rangordnungen des Verdienstes oder der Bedeutung aufstellen, sondern nur die (auf dem Gebiet der Geschichte ohnedies selbstverständliche) Notwendigkeit unterstreichen, die individuellen Besonderheiten und die Unterschiede deutlich sichtbar zu machen. Diesen Weg scheinen einige neue Untersuchungen über De Gasperl einzuschlagen, auf die ich mich hier beziehen werde. Ein erstes, ausgesprochen interessantes Thema ist der recht unterschiedliche Werdegang der beiden Persönlichkeiten. Adenauer ist bereits mit dreißig ein anerkannter und geachteter Verwaltungsbeamter seiner Heimatstadt Köln, einer Stadt im Zentrum eines kräftigen industriellen Aufschwungs, in einem Deutschland, das sich seiner Macht bewußt ist; bei ilun gibt es keinen Grund für einen Widerstreit zwischen Nationalgefühl und Zugehörigkeit zum Deutschen Reich; wahrscheinlich- wie Wemer Weidenfeld angemerkt hat4- .hatte er nie Wohlwollen, geschweige denn Sympathie" für die Monarchie der Hohenzollem; seine katholische Erziehung und die Tradition des rheinischen Bürgertums verstärkten bei ihm, wie bei vielen seiner Mitbürger, eine antipreußische '

Ebd., S. 10 .

3

Das Treffen in Köln erwähnt S. Trinchese, Governare dal Centro. ll modello tedesco nel "cattolicesimo politico" italiano del 9 ' 00 , Rom 1994, S. 61 ff., wobei er allerdings die Wichtigkeit des Ereignisses schmälert.

4 W Weidenfeld, Impegno per l'Europa: Konrad Adenauer, in: W Weidenfeld (Hrsg.), Impegoo per l' Europa: K. Adenauer, A. De Gasperi, R Schuman, Rom 1981, s. 8 ff.

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Gesinnung, ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit zur lutheranischen und ari­ stokratischen Tradition der Junker, der die Monarchie verbunden war; diese Gefühle begünstigten zwar die Forderung nach regionaler Autonomie und siod daher auch eine Voraussetzung für seinen europäischen Föderalismus, aber sie führten nicht zu einem Bruch, ja, nicht einmal zu einer klaren Unterscheidung zwischen Nation und Staat. Ganz anders liegen die Verhältnisse beim jungenDe Gasperi.Die bereits vorliegenden Studien über diese Phase seines Lebens' und jetzt auch eine Arbeit von Stefano Triochese6 werfen Licht auf eine schwere und io gewisser Riosicht mühseligeJugend. Er wird io bescheidenen Verhältnissen geboren, ist Sohn einer damals ziemlich armen, von bäuerlichen Traditionen geprägten Gegend. Seine ersten Erfahrungen haben nichts gemein mit der unerschütterlichen Sicherheit, die die brillanten Anfänge von Adenauers öffentlichem Wttken kennzeichnet. Von seinerGeburt imJabr 1881 bis 1918, also37 Jahre lang, mehr als dieHälfte seines Lebens hindurch, istDeGasperl Untertan derHabsburgermonarchie und gleichzeitig Trenrioer mit einem starken Gefühl der Zugehörigkeit zu Italien. Was es ihm erlaubt, diese beiden Zugehörigkeiten miteinander io Bioklang zu bringen, ist die schon io seinen Jugendschriften ganz deutlich ausgeprägte Unterscheidung zwischen Nation und Staat.Das Bestreben, jeder nationalen Identität einen autonomen staatlichen Ausdruck zu geben, das die europäische Geschichte des 19. Jabrhunderts und das italienische Risorgimento so tief prägte, ist ihm also io den Jabren seines Heranreifens und io der ersten Phase seines politischen Lebens fremd; die Nation ist für ihn eine kulturelle Gegebenheit, die mit anderen nationalen Identitäten koexistieren und io einem einzigen staatlichen Gebilde Ausdruck annehmen kann. Triochese schreibt: .Mitten im Aufflackern der nationalistischen Bewegungen erarbeitete der junge De Gasperl eine originelle Konzeption von positivem Nationalbewußtsein, auch in polemischer Entgegensetzung zu den in Irredentismus ausgearteten nationalistischen Ideologien, wobei er ein absolut aprioristisches Knnzept von Nation verwarf ... Aus dieser Perspektive verstand er unter positivem Nationalismus die Verteidigung der Nationalität innerhalb des Reichs. Es ist bezeichnend ... daß er unter Land das Trentino verstand, so wie er den Staat ntit dem Habsburgerreich gleichsetzte, während er dem Begriff des Vaterlands die Dimension eines innigeren, vor allem sprachlich-kulturellen Gefühls der Zugchöriglreit zur italienischen Nation vorbebidt, ' jenseits der brutalen Anspruche des Irredentismus" . ' Siehe die Berichte des Kongresses in Trient von 1985: A. Canavero I A. Moioli (Hrsg.), De Gasperl e il Trentino tta Ia fioe dell'800 e il primo dopoguerra, Trient 1985; aber grundlegend ist nach wie vor die Sammlung der Jugendschriften von A. De Gasperi, I cattolici trentini sotto l'Austria, brsg. von G. De Rosa, 2 Bde., Rom 1964. • V gl. F. Trinchese, I:Europa perduta di Alcide De Gasperl, in: Aonali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, 29 (2003), S. 155-188.

7 Trinchese bezieht sich auf U. Corsini, La questione nazionale nel dibattito trentino, in: A. Canavero I A. Moioli (Hrsg.), De Gasperl e il Trentino, S. 593-667.

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Aus dieser Perspektive gewann das Thema der Autonomien für De Gasperl fundamentale Bedeutung, und in diesem Punkt unterscheidet sich seine Erfahrung in charakteristischer Weise von der Adenauers: De Gasperl lebte in einem Vielvölkerstaat, in welchem der Autonomiefrage größeres Gewicht und größere Relevanz in Hinblick auf eine künftige Öffnung hin zu Europa zukam. Aber insbesondere die Konzeption des positiven Nationalismus wirkte sich bei De Gasperl auf seine Auffassung von Demokratie aus, die weit über die Lehre Leos XIII. von der Demokratie als einer möglichen und legitimen Regierungsform hinausging. Das friedliche Verbleiben des Trentino- eines für De Gasperi zum italie· nischen •Vaterland" gehörenden .Landes" -im •Vielvölker-Staat" der Habs­ burgermonarchie setzte neben der Anerkennung der Treuepflichten gegenüber dem Staat im wesentlichen eine deutliche Bestätigung von Rechten voraus, die durch aktive und bewußte Partizipation des Volkes am politischen Leben einzufordern waren. Für De Gasperl war die Demokratie die Bedingung für die Bewahrung und Entwicklung jener Trentiner Identität innerhalb des Reiches. Die Demokratie wurde also von ihm spontan aufgefaßt nicht nur als Wohltat für das Volk, "actio benefica in populum", wie die wohlbekannte Definition der Enzyklika .Graves de comuni" lautet, sondern auch als Errungenschaft .durch das Volk"; diese von ihm gebrauchte Formulierung erinnert an das Motto der französischen abbes democrates: .pour le peuple et par le peuple". Bekanntlich stand De Gasperl, dem Gründer und Führer der Democrazia Cristiana, die Notwendigkeit klar vor Augen, die Grenzen des sozialen Katholizismus mit einer voilgültigen Aufwertung der politischen Demokratie zu überwinden: Diese sicherlich in den Erfahrungen der ersten Nachkriegsjahre und in den Studienjahren als Bibliothekar im Vatikan gereifte Überzeugung hat eine deutliche Voraussetzung schon in den Jugenderlebnissen8. Die chrisdich-soziale Bewegung kam in Österreich später auf und war weniger lebhaft als die entsprechende Bewegung in Deutschland. Dennoch kam ihr, anders als in Deutschland, eine ganz bestinunte politische Bedeutung innerhalb der größten konservativen Partei zu, die schon durch ihre bloße Existenz jegliche unabhängige Entwicklung einer katholischen politischen Kraft verhinderte. Doch innerhalb dieser konservativen Partei propagierten die Christlich-Sozialen die Idee einer .Sozialreform", die auf eine korporativ verstandene christliche Sozialordnung ausgerichtet war. Ausdruck fand diese Forderung in der 1883 gegründeten .österreichischen Monatsschrift für christliche Sozialreform".

8 Zu diesem Thema verweise ich auf mein Buch: La proposta politica di De Gasperi, 3. Auf!., Bologna 1988; siehe insondere das Kapitel: Le .vecchie teorie" di Alcide De Gasperi, S. 63 ff.

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Die Österreichischen Christlich-Sozialen waren entschiedene Gegner der Liberalen und der Sozialisten und ließen eine antisemitische Gesinnung er­ kennen, während sie sich einem Nationalismus gewogen zeigten, der sich am untergegangenen Ideal eines Großdeutschland mit Wien als Zentrum orientierte. Dieser Antisemitismus war jedoch nicht rassistisch motiviert, son­ dern entsprang einem Widerstand gegen die Machtpositionen, die Juden in Österreichs Wirtschaftsleben und Politik einnahmen. Kar! Lueger, Christlich­ Sozialer, Nationalist und Antisemit, genoß als charismatischer Parteiführer die unbedingte Gunst der Österreichischen Kirchenhierarchie und auch die Gunst der römischen Kurie. Als hingegen die entsprechende Bewegung in Deutschland selbstiindigen politischen Ausdruck in Gestalt der Zentrumspartei erlangt, zeigt sie sich zur Zusammenarbeit mit den Liberalen und später mit den Sozialisten bereit; sie ist tendenziell interkonfessionell und von der kirchlichen Hierarchie unab­ hängig. Auch wenn die Entwicklung des jungen De Gasperl sicherlich unter dem Einfluß des ÖSterreichischen Sozialkatholizismus stand, führte sie zu eigenstiindi­ gen Positionen, die keine Verbindung zu dem erwähnten konservativen Kontext hatten. Mehr als durch Kar! Lueger wurde er von herausragenden christlich­ sozialen Persönlichkeiten wie Leopold Kunschak und Pranz Hemala beeinflußt, die weit sensibler und offener waren für die sich rasch ändernden Probleme der Arbeitswelt und besonders das neue Phänomen der Arbeitergewerkschaft. Entscheidend wurde für De Gasperl das Verhälmis zur im Entstehen be­ griffenen italienischen Christdemokratie und vor allem zu Romolo Murri, ein Verhälmis, auf das eine Forschungsarbeit von Lorenzo Hedeschi Licht geworfen hat9• De Gasperl liest und verbreitet die Zeitschrift .Cultura sociale", trifft sich 1902 in Rom mit Romolo Murri, kehrt nach Trient zurück voller Begeisterung für die demokratisch-christlichen Ideen, fühlt und bekennt aber gleichzeitig, seine Position sei .radikaler"10• Murri hatte ihn gebeten, an der Zeitschrift .Domani d'Italia" mitzuarbeiten, und so erscheint am 15. Mai 1902 sein Artikel "La democrazia cristiana all'estero e il movimento cristiano-sociale in Austria" [Die Christdemokratie im Ausland und die christlich-soziale Bewegung in Österreich], der mit der bezeichnenden Feststellung schließt: .In Österreich erkannten die katholischen Konservativen zu spät die moralische Wirkungskraft der Christdemokratie, der sie sich widersetzten und zum Teil noch immer widersetzen."11 In einem Brief an Murri vom 27. Oktober 1903 schreibt De Gasperi: .Eines Umstandes können Sie gewiß sein, lieber Don Murri. Das von 9 L. Bedeschi, TI giovane De Gasperl e l'incontro con Romolo Murri, Mailand 1974. w

Ebd., S. 39.

11

Ebd., S. 102.

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208

der ,Cultura sociale' unter uns entfachte Feuer ist nicht erloschen, sondern lodert, genährt vom deutschen christlich-sozialen Brennholz, immer höher empor"12• Ein anschauliches Bild, das bestätigt, wie tiefe Wurzeln die christ­ lich-demokratischen Ideen des Priesters aus den Marken in ihm geschlagen hatten, indem sie die christlich-soziale Erfahrung in demokratischem Sinne umdeuteten. De Gasperl geht deutlich auf Distanz zu Murri, als Murri auf Distanz zur Kirche geht. Bedeschi sieht in dieser Abkehr ein Zeichen für den Einfluß eines Professors an der Wiener Universität, Ernesto Commer, eines stark thomistisch geprägten Philosophen, auf den jungen Trentiner. Es ist nicht möglich, diese Frage hier zu vertiefen, aber es scheint mir übertrieben, diesem philosophischen Einfluß eine entscheidende und dauerhafte Rolle im Denken des reifen De Gasperl zuzuschreiben und sogar zu bestteiten, daß er sich dem europäischen liberalen Katholizismus öffnete13• Hingegen ist es glaubhaft, daß der fehlende Bezug auf die Lehre Murris bei der Erarbeitung der .Idee ricostruttive della Democrazia Cristiana (1943)" weniger eine Abkehr vom Kern jener Lehre bedeutete, sondern eher von der Sorge bestimmt war, durch den Hinweis auf einen exkommunizierten Geistlichen könne die Anerkennung der neuen Partei durch die Kirche gefährdet werden. Von der Österreichischen Bewegung erhält De Gasperi also den Anstoß zur Bildung einer politischen Partei; aber die Partei, die ihm vorschwebt, ist nicht die konservative Partei, in der die Österreichische christlich-soziale Bewegung ihren Ausdruck gefunden hatte, sondern der Partito Popolare Trentino. Doch zurück zum Vergleich mit Adenauer: Deutlich ist die tiefe Kluft zwischen dem mühsamen kulturellen Prozeß, der den Hintergrund von De Gasperis Denken zum Zeitpunkt der Gründung der Democrazia Cristiana bildet, und der geradlinigen Einfachheit von Adenauers Rückbezug auf die christliche Ethik, die die Entstehung der CDU kennzeichnet. Er schreibt in seinen Erinnerungen: . Es verbreitete sich die Ü berzeugung daß nur eine große Partei, die in der christlich­ abendländischen Weltanschauung, in den Grundsätzen der christlichen Ethik ihr Fundament hatte, die notwendige erzieherische Aufgabe am deutschen Volk erfül­ len, seinen Wiederaufstieg herbeiführen und einen festen Damm gegenüber der kommunistischen atheistischen Diktatur errichten könnte . . . Der Grundsatz, daß die Würde der menschlichen Person über allem, auch über der staatlichen Macht, 14 stehen muß, ist aus dem Wesen des abendländischen Christentums entwickelt" • Das Christentum- die Betonung auf "abendländisch" ist bemerkenswertwird nicht so sehr als ein Glaube aufgefaßt, sondern eher als eine bestimmte Ideologie. In Edgar Alexanders Biographie des deutschen Kanzlers - sie erschien u

Ebd., S. 118.

u

Ebd., S. 52.

'' K. Adenauer, Erinnerungen 1945-1953, Stuttgatt 1%5, S. 51 f.

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noch während dessen Regierungszeit und enthält in det italienischen Ausgabe ein schönes Votwort von Luigi Stutzo - witd hervorgehoben, wie neuartig in det Nachkriegszeit der Vetweis auf die christlichen Werte ist: ,.,Das Konzept einer christlichen Politik, so wie sie von gewissen politischen Parteien und von sogenannten katholischen Männem und Staatsmännern im alten Europa praktiziert wurde, bedarf einer radikalen Revision und Neufassung, um geeignet zu sein, eine ,neue Ordnung' in Deutschland und in Europa zu schaffen - insbe­ sondere gemäß wahrhaft demokratischeo Leitlinien -. Daher kommt der neuen christlichen Bedeutung der sozialen und politischen Reformen, wie sie von Adenauer, von seiner Persönlichkeit und seinem Wtrken, dargestellt werden, eine wahrhafte Vorläuferqualität zu""· Dieser Feststellung ist voll und ganz zuzustinunen: Adenauet erkennt intuitiv die neue Rolle des Christentums auf sozialer und polirischer Ebene und ver­ leiht ihr konkreten Ausdruck, aber seine Intuition hat übetwiegend praktische Bedeutung; wenn De Gasperl ähnlich intuitiv die Rolle des Christentums beim demokratischen Aufbau seines Landes erkennt, dann ist seine Intuition das Ergebnis einet vertieften historischen Reflexion übet die schwierige Geschichte des Verhältnisses zwischen Kirche und moderner Welt in Europa, wobei er sich übetdies der Originalität des amerikanischen Demokratiemodells bewußt ist. Das ändert nichts daran, daß in Deutschland, auch dank der interkoufes­ sionellen Anlage der Partei und aufgrund der traditionellen Unabhängigkeit der Zentrumspartei von Rom, der weltliche Charakter der Partei und der Regierungsarbeit selbst stärket hervortritt als in Italien. Die Kluft, die beide Persönlichkeiten auf kultureller Ebene und in der Auffassung der religiösen Erfahrung voneinander trennt, erkennt man an der Schwierigkeit De Gasperis -wie sie in dem vorzüglichen Beitrag von Francesco Traniello aufgezeigt witd -, den Begriff der Christlichkeit zu definieren, was anscheinend im Denken des deutschen Staatsmanns kein Gegenstück findet. Doch wenn wir uns, wiederum nur mit einigen knappen Hinweisen, dem im engeren Sinn politischen Werk der beiden großen Staatsmänner zuwenden, so erscheinen die Unterschiede nicht weniger bedeutsam. Adenauet ist nicht der Griinder der CDU, sondern Kristallisationspunkt der Partei16, De Gasperl ist unbestritten der Griindet det Democrazia Cristiana, wenn auch nicht der alleirtige. Konrad Adenauer witd auf einet Sitzung, zu der er in sein Haus einge­ laden hatte und die et unangefochten beherrscht, mit Selbstverstiindlichkeit zum Kanzler emannt17• De Gasperl kandidiert für das Amt des Ministerpräsidenten

15 E. Alexander, Adenauer e la nuova Germania, mit einem Vorwort von L. Sturzo, Neapel 1959, S. 53 f. (dt. Ausg. Recklinghausen 1956). 1•

H. Osterheld I T. Prit#e I F.

17

Ebd., S. 24. K. Adenauer, Erinnerungen, S. 224 ff.

Seydoux, Konrad Adenauer, Bono 1984, S. 92.

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in der Krise der Regierung Parri, unter äußerst unsicheren und in mancherlei Hinsicht dramatischen Umständen". Dieser Kongreß hat zu Recht den institutionellen Aspekten der beiden parallel verlaufenden Geschichten Deutschlands und Italiens Aufmerksamkeit geschenkt. Aber einen Unterschied möchte ich besonders hervorheben: Die deutsche Demokratie ist sogleich bei ihrem Entstehen bipolar, weil Adenauer fest entschlossen war, eine Koalition mit den Sozialdemokraten abzulelmen. In derselben Sitzung, in der er zum Kanzler ernannt wird, formuliert er mit großer Deutlichkeit und Festigkeit das Prinzip des Wechsels in einer bipolaren Demokratie: "Wenn eine Koalition Elemente enthalte - und namentlich, wenn die Elemente ungefahr gleich stark seien -, die in wichtigsten Fragen genau entgegengesetzte Ansichten verträten, dann bestehe die Gefahr, daß eine solche Koalitionsregierung gelähmt sei und einfach steril bleibe. Das deutsche Volk müsse darao gewöhot werden, daß die stärkste Partei die Führung übernehme und eine aodere große Partei die Rolle der Opposition, aber eine verantwortungsvolle Opposition, die mit dem Interesse des Staatsgan2en vereinbar sei. Wenn dann die führende Partei keineo Erfolg habe, dann werde ihr der Wähler bei der nächsteo Wahl die Quittung für ihr Versagen geben. Wenn die Oppositionspartei gute Opposition treibe, habe sie die Aussicht, bei einer zukünftigen Wahl ao die Macht zu kommen. Das sei parlamentarische Demokratie"19.

Im Gegensatz dazu ist die italienische Demokratie bei ihrer Entstehung nicht bipolar. Und zwar nicht deswegen, weil jemand dies will, sondern aufgrund einer objektiven Notwendigkeit, über die De Gasperl sich völlig im klaren ist: Die Bandbreite der Volksvertretung fällt bekanntlich nicht mit den Möglichkeiten zur Regierungsbildung zusammen20; diese liegen im wesentlichen nur in der ,Mitte" unter Ausschluß der Kommunisten und ihrer Verbündeten einerseits und der monarchistischen und neofaschistischen Rechten andererseits. Aus objektiver - in zahlreichen Studien analysierter - Notwendigkeit wird das Verhältniswahlrecht eingeführt, das es nicht erlaubt, irgendeine Partei von der Volksvertretung auszuschließen, und das damit das politische System zur Logik der Koalition im Zentrum eben dieses Systems drängt21• Paradoxerweise ist der deutschen Demokratie in der Phase ihres Wiederaufbaus gerade der Umstand von Nutzen gewesen, daß Deutschland unter der Besatzung, als bereits der

in

18 Ich verweise nochmals auf das Kapitel: La successione di De Gasperl a Pani, meinem Buch: La proposta politica, S. 165 ff.

" K. Adenauer, Erinnerungeo, S. 226 f. V gl. G. Sabbatucci, La soluzione trasformista. Appunti sulla viceoda del sistema politico italiaoo, in: ll Mulioo, 390 (1990), S. 172. 20

21 Hierzu verweise ich auf mein Buch: La Repubblica dei partiti, 2. Auf!., Bologna 1997, sowie meine spätere Studie: Parlamento e govemo da De Gasperl a Moro, in: L. Violante (Hrsg.), ll Parlamento (Storia d'Italia. Annali, 17), Tutio 2001, S. 357 ff.

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Kalte Krieg das internationale Klima beherrschte, in zwei getrennte Staaten geteilt wurde. Die notwendige Entscheidung De Gasperis für die Mitte ist hingegen gekennzeichnet von dem ständigen Bemühen, die Regierungsmehrheit um die Kräfte der demokratischen Linken zu erweitern; diese Bemühung geht von einer Democrazia Cristiana aus, die De Gasperl sdbst in einem berühmten Interview mit dem .Messaggero" vom17. April1948, genau am Vorabend der Wahlen, als ,eine Partei der Mitte, die auf die Linke zugeht", definiert. Die komplexe Natur der Democrazia Ctistiana und die ständige Dialektik zwischen ihrer zum großen Teil gemäßigten und konservativen Wählerbasis und der Führungsgruppe der Partei, die überwiegend eine solche Erweiterung der Mehrheit nach links anstrebte, haben es - wie sich in jüngster Zeit gezeigt hat - verhindert, daß die italienische DC sdbst nach einem Wechsd des Wahlsystems in ihrer Gesamtheit zum gemäßigten Flügd einer bipolaren Parteienlandschaft werden konnte. Auch der beiden Staatsmännern gemeinsame entschlossene Antikommu­ nismus kam auf diesem Kongreß ausgiebig zur Sprache. Dabei ist allerdings hervorzuheben, wie unterschiedlich dieser aufgefaßt und praktiziert wird. In Westdeutschland ist der Kommunismus außerhalb des Staates, er ist ein anderer Staat, von der Sowjetunion abhängig; der Kommunismus innerhalb der Bundesrepublik ist eine Erscheinung ohne tiefgreifende Folgen, Adenauer kann ihn gesetzlich verbieten, ohne schwerwiegende Reaktionen im Land auszulösen. Andererseits sind die Erben des Nationalsozialismus von der Volksvertretung durch die für das Wahlsystem charakteristische Sperrklausd ausgeschlossen. In Italien ist der Kommunismus als mächtige Realität im Land präsent; er ist tief in Gesdlschaft und Kultur verwurzdt und unterscheidet sich charak­ tetistisch vom Wdtkommunismus, auch wenn er durch ein ,eisernes Band" mit der Sowjetunion verknüpft ist. Die Sozialisten in Deutschland sind nicht mit den Kommunisten verbunden und stellen eine demokratische Alternative dar. Der Antikommunismus De Gasperis und seiner Erben ist ein demokra­ tischer Antikommunismus - dies ist eine Kategorie, die in den historischen Untersuchungen zu lange übersehen wurde. Er will die Eindämmung dieser Partei, bleibt aber stets im Rahmen der Demokratie und des Parlaments. Im Augenblick der härtesten Auseinandersetzung nach dem Attentat auf Togliatti ist es De Gasperl sdbst, der bei einem Treffen mit dem Vorsitzenden des Allgemeinen italienischen Gewerkschaftsbundes CGIL, Di Vittorio, einen demokratischen Ausweg aus der Krise sucht. Paolo Emilio Taviani ruft in seinen kürzlich veröffentlichten Memoiren Situationen in Erinnerung, in denen die Erben De Gasperis, obwohl sich ihnen die Möglichkeit dazu geboten hätte, den Weg eines gesetzlichen Verbots der kommunistischen Partei ausschlossen, weil

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eine solche Initiative zu einem Bürgerkrieg geführt härte22• Aufmerksamkeit schenkte die Politik De Gasperis andererseits den Sozialisten, die sie aus ihrer Verbindung mit den Kommunisten herauslösen wollte. Inzwischen doku­ mentiert eine Forschungsarbeit von Maria Luisa Sergio das hartnäckig ver­ folgte, wenn auch zumindest teilweise vereitelte Vorhaben De Gasperis, die Regierungsmehrheit unter Isolation der kommunistischen Partei mit Hilfe der Sozialisten zu erweitern. Ein Projekt, das er nicht nur in der Zeit der ver­ fassunggebenden Versammlung, sondern auch nach der Krise vom Mai 1947 verfolgte: In der programmatischen Rede vom 10. Juni 1947, in der er seine neue Regierung vorstellte, beschwört De Gasperi die Bemühungen um eine Verständigung zwischen den Popolori und den Sozialisten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, die von ihm mit Freude aufgenommen wurden, denn sie entsprachen, so erklärt er: "meiner immer tiefer werdenden Überzeugung, daß man einen säkularen Fortschritt erzielt hätte, wenn die Massen, denen der Sozialismus gepredigt worden war, loyal das Verfahreo des demokratischen Staates übernommen hätten. Diese Überzeugung hatte sich in der Nachkriegszeit durch die aotifaschistische Kameradschaft in der Aufbauphase des demokratischen Staates gefestigt. Und ihr werde ich heute nicht untreu, indem ich ein Notstandskabinett vorstelle"23•

Im Grunde richtete er einen letzten verzweifelten Appell an die Sozialisten Nennis. Und noch am 19. Juli 1949, in einem Augenblick, da der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreicht hatte, erklärte er, auf die internationale Lage Bezug nehmend, den versammelten Fraktionen von Kammer und Senat: .Gewisse Grundsätze des Evaogeliums haben sich so allgemein verbreitet, daß sie fast ihrer christlichen Herkunft verlustig gegangen sind. Wichtig ist, daß sie sich außerhalb unseres Bereichs verbreiten, damit die Katholiken in ihrem praktischen Handeln etwas mit den Menschen anderer Überzeugung gernein haben können. Unser raktisches Verhalten hat eine relative Bedeutung, aber unsere Auffassung von der uneingeschränkten Bedeutung der Freiheit muß versuchen, ao Punkten gegenseitigen Einvernehmens anzusetzen. Dies auch und vor allem im internationalen Rahmen, wo heute die Sozialisten mit den Katholiken zusanunenarbeiten "24•

De Gasperis Strategie eines entschlossenen Widerstands gegen die Kommunisten hat den Blick auf seine weit differenziertere Position gegenüber den Sozialisten verstellt, die in De Gasperis polirischero Konzept eine Zeit lang als mögliche Koalitionspartner und dann als Träger einer künftigen demokra­ tischen Alternative betrachtet werden. Andreotti zufolge wollte De Gasperl mit dero Antrag auf eine Reform des Wahlgesetzes von 1953 zunächst sogar Saragats Position gegenüber Nenni stärken, um so die Voraussetzungen für eine Wiedervereinigung der beiden seit 1947 gespalteten Parteien zu schaffen,

22 P.E. Taviani, Politica a memoria d'uomo, Bologna 2002, S. 335. 23

In: I programmi dei governi repubblicani dal1946 al1978, Rom1978, S. 46.

24

Archivio storico Istituto Sturzo, Fondo Gruppo DC PPI, busta1.

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jedochmit einer Verschiebung der Maebtverhälmisse zugunsten der Sozialdemokaten. Auf längere Sicht . . . hoffte De Gasperi, daß diese sozialdemokratisebe Partei, gestärkt dureb die Wiedervereinigung, eine Alternative zur DC selbst darstellen könne, denn er empfand das Fehlen einer Alternative zur Macht seiner Partei als 25 einen der großen Mängel der Situation in Italien " • •

Es scheint also, daß dasProblem desWechsds, das diePolitikAdenauers vonAnfang an kennzeichnet, im HorizontDeGasperis keineswegs fehlt, sich aber nicht in einer konkreten politischenPerspektive stellt. Im Zusammenhang mit derWiedereingliederungDeutschlands in die euro­ päischePolitik ist kurz an ein weiteresThema zu erinnern:Zugespitzt ließe sich sagen, daßDeGaspeti die politischeZukunft Deutschlands sieht und antizipiert und daß Adenauer sie verwirklicht. LuigiSturzo schreibt in seinemVorwort zu EdgarAlexanders bereits zitierer t Studie"Adenauer unddas neueDeutschland" über dieRolle, dieDeGasperl bei derWiederaufnahmeDeutschlands in den europäischenKontext spidt, und hebt klarsichtig hervor: .Das Handeln De Gasperis war niebt von Germanophilie bestinunt; er besaß noeb den Argwohn des Gebirglers und die Erinnerungen an die Beziehungen zwiseben Wien und Berlin vor dem Ersten Weltkrieg. Aber, was Buropa anging, sah er klar, daß es sieb nur geeint retten konnte, und billigte nicht die hohlen Gesten De Gaulles, der naeb Moskau eilt, oder Anlees, der auf der Demontage der deutseben Industrieanlagen besteht ... Adenauer ist derjenige gewesen, der es, ohne Tuaden und Heuebelei, mit klarem Verstand, festem Willen und geschickter Taktik verstanden 26 hat, schließlieb sieb und dem deutseben Volk Vertrauen zu erwerben" •

Eine laufendeForschungsarbeit vonTizianaDeMaio dokumentiert ausführ­ lich, wie sich die italienischeDemocraziaCrlstiana undDeGasperl zugunsten Deutschlands einsetzten, als dieSiegermächte das besiegteDeutschland noch auf langeZeitim Zustand derAbhängigkeit halten wollten. Die diplomatischenBeziehungen zwischenItalien undDeutschland wurden erstim April1951 wieder aufgenonunen, aber sie wurden vorbereitet durch intensiveBeziehungen zwischen den beiden christdemokratischenParteien, die bereits die europäischeIntegrationzum Zid hatten. Im Jahr1947 begin­ nen die sogenannten.GenferTreffen" und es werden dieNouvellesEquipes Internationales gegründet, die dieWiedereingliederungDeutschlands zurcon­ ditio sine qua non der künftigen europäischenUnion erheben. "Deutschland ist unentbehrlich fürEuropa. Europa ist unentbchrlichfür Italien", auf diese FormulierungNicole Carandinis hatMaddalenaGuiotto auf diesemKongreß in ihremBeitrag.DerEuropagedanke in den christdemokratischenParteien" hingewiesen.Aber für dieWiedereingliederungDeutschlands ist es notwendig, die deutsch-französischenZwistigkeiten zu überwinden: Vor allem in dieser 25 In: G. Andreotti, Intervista su De Gasperi, hrsg. von A. Gambino, Rom I Bari 1977, s. 119 f.

" E. Alexander, Adenauer e Ia nuova Germania, S. 41 f.

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Richtung spielt das italienische Außenministerium, von Dezember 1944 bis Oktober1946 von Alcide De Gasperl persönlich geführt, eine entscheidende Rolle. Der italienische Botschafter in Paris unterstreicht die Bedeutung des ,europäischen Realismus", der die alten, mit den tragischen Erinnerungen an den Krieg verknüpften Zwistigkeiten überwinden soll. Die Parteiblätter der DC tragen im Zeitraum von 1945 bis 1952 dazu bei, das Bild eines ,neuen Deutschland", des ,demoktatischen Deutschland" zu schaffen. Die Beziehungen zwischen den beiden Parteien werden allmählich immer enger und erreichen den Augenblick der größten Intensität anläßlich der Diskussion über die EVG und, nach deren Scheitern, anläßlich der deutschen Wiederbewaffnung. Dieses komplexe diplomatische und politische Wirken, das in Umrissen bereits bekannt war, ist nun in der bereits erwähnten Studie von Tiziana Di Maio Gegenstand eindringlicher Analyse. Aber es fällt auf, daß in den .Erinnerungen" des deutschen Kanzlers diesem Wirken keine sonderliche Aufmerksamkeit gewidmet wird. Selbstverständlich könnte dieser Vergleich fortgesetzt, das komplexe Gleich­ gewicht von Ähnlichkeiten und Unterschieden weiter verfolgt werden. Die vielen Ähnlichkeiten im Wirken der beiden Staatsmänner sind gewiß nicht zu leugnen. Adenauer selbst unterstreicht diese Ähnlichkeit in einem Zeugnis über De Gasperi: .,Wir haben uns, ausgehend von derselben geistigen Grundlage, mit unseren Problemen auseinandergesetzt. Beide haben wir unsere politische Karriere in einer Partei begonnen, die zugleich demokratisch und christlich war, und wir sind so vorgegangen, daß sich dies in unserem Handeln deutlich zeigte"27•

Nachdem er sich mit ihm in Castel Gandolfo am 25. März1954 getroffen hatte, sagte er ihm beim Abschied: •Wir beide müssen noch zwei Jahre am Leben bleiben. Wenn Europa vereint ist, können wir endgültig in den Ruhestand treten." Der Wunsch erfüllte sich nicht: bekanntlich starb De Gasperl wenige Monate darauf, und Adenauer schrieb zu seinem Gedenken: ,Ich habe wenige Menschen gekannt, die so viel Wissen, Tüchtigkeit und Willen mit so viel Taktgefühl und Herzensgüte vereinten"28• Die beiden hegten ganz gewiß tiefen Respekt füreinander; aber bis heute sind keine Dokumente aufgetaucht, die von einer intensiven Freundschaft und Gefühlsverwandtschaft zeugen. Sie sind ohne Frage die beiden großen Männer des Wiederaufhaus ihrer Länder nach der Erfahrung der Diktatur und der Katastrophe des Krieges und, zusammen mit Schuman, die Väter des Projekts der europäischen Einigung. Tl In: M.R. De Gasperi (Hrsg.), De Gasperl scrive. Cortispondenza con capi di stato, cardinali, uomini politici, giomalisti, diplomatici, 2 Bde., Brescia 1974, hier Bd. 2, s. 71. 2s

Ebd., S. 73.

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Aber diese Ähnlichkeiten und diese im wesentlichen gemeinsame Rolle sind das Ergebnis von sehr verschiedenen Wegen der Entwicklung und der politischen Initiative, die sich in den unterschiedlichen Situationen, in denen die beiden Länder Deutschland und Italien sich nach dem verlorenen Krieg befinden, kreuzen. Tatsächlich sollte die Geschichte der beiden Paneien im Laufe der Zeit immer mehr auseinanderstreben, bis hin zu den letzten Entwicklungen in Italien, die durch die Auflösung der Democrazia Cristiana gekennzeichnet sind. Von den beiden Paneien, deren Protagonisten und Führer in den Nachkriegsjahren zwei große Gestalten wie De Gasperl und Adenauer waren, gebt gerade die italienische Panei, an deren Ursprung ein komplexerer und tieferreichender kultureller Prozeß steht, dem Schicksal der Auflösung entgegen. Dieser Ausgang wirft eine große Frage auf, die nunmehr auch auf historiegraphischer Ebene angegangen werden müßte.

Das Erbe Adenauers Von Hermann Gram!

Ist es nicht etwas verwegen, über das T hema .Das Erbe Adenauers" zu schreiben? Was soll denn geschrieben werden, das nicht schon hundertmal geschrieben worden ist? In der Tat fiillt die Literatur über den ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland mittlerweile ganze Bibliotheken, und die kleineren Gipfel der wichtigen Spezialuntersuchungen überragt auch schon eine große und gültige Biographie: das Werk, das Hans-Peter Schwarz geschrieben hat'. Damit kann man nicht konkurrieren wollen, und man kann sich auch nicht auf einen Wertstreit um Neues mit Kennern wie Hans Peter Mensing' und Hanns Jürgen Küsters' einlassen. Aber vielleicht ist die Ansicht nicht falsch, daß es seit der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR zunehmend geboten ist, im Hinblick auf die rechte Pflege des Bewußtseins unserer Wurzeln und in Abwehr von Tendenzen zu abistorisehen Urteilen immer wieder das zu tun, was Hans Rothfels einmal die .geistige Vergegenwärtigung von Geschehenem" genannt hat'. Die Beschäftigung mit Konrad Adenauer sollte sich dafür gut eignen, auch wenn man den Forschungsstand nicht zu bereichern vermag. Im übrigen gehört es zu den reizvollen Möglichkeiten historischen Arbei­ tens, daß es erlaubt ist, gelegentlich darüber nachzudenken, in welchem Maße herausragende Gestalten der Geschichte die Epoche, in der sie lebten und handelten, die dann womöglich ihren Namen trägt, tatsächlich mit ihrem Willen, mit ihren Vorstellungen, mit ihren Zielen beherrscht haben oder in welchem Maße sie lediglich Exekutoren des jeweiligen Zeitgeists waren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden wir für solch nie endende Spekulationen 1 Vgl. H.-P Schwarz, Adenauer, Bd. 1: Der Aufstieg 1876-1952, Sruttgart 1986, Bd. 2: Der Staatsmann 1952-1%7, Stuttgart 1991. Antithetisch H. Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, 2 Bde., Berlio 1997. 2 Mensing ist Bearbeiter von: Adenauer. Briefe 1945-1959, Berlio 1983 ff., sowie von: Adenauer. Teegespräche 1%1-1963, Berlio 1992, ferner Verfasser sonstiger Beiträge zur Adenauer-Forschung.

Küsters ist Bearbeiter von: Adenauer. Teegespräche 1950-1961, Berlio 1984 ff., sowie Autor zahlreicher Srudien zur politischen Biographie Konrad Adenauers. 4 H. Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1 (1953), S. 1-8, hier S. 1.

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Hermann Gram!

drei Modellfälle. So können wir fragen, ob es die Selbstheilungskräfte des poli­ tischen Systems waren, die in den dreißiger Jahren die Vereinigten Staaten von Amerika über ihre schlimmste Krise seit dem Bürgerkrieg gerettet haben, oder ob es doch Franklio Delano Roosevelt war, der mit seiner bewußten Politik der Inkonsequenz, des ausgeklügelten Schwankens zwischen social engineeringund free enterprise, das Land vor einem erneuten Bürgerkrieg bewahrt hat'. Ferner läßt sich darüber diskutieren, ob der Leninismus zwangsläufig zum Stalinis­ mus fortschritt oder ob es der Person Stalin bedurfte, damit eine an sich üble Diktatur zum stalinistischen Herrschaftssystem entartete'. Schließlich ist nach wie vor umstritten, ob der nationalsozialistische "Führerstaat" in Deutschland das Produkt überpersönlicher Entwicklungsgesetze der deutschen Gesellschaft beziehungsweise der NS-Bewegung gewesen ist oder ursächlich und in seiner Entfaltung an die Person Adolf Hitler gebunden war7• Was das deutsche Beispiel angeht, gibt es allerdings, Strukturalisten hin, Intentionalisten her, drei Gewißheiten: Ohne Hitler - etwa mit einem ,Führer" namens Hermann Göring- wäre die deutsche Außenpolitik nach 193 3 gänzlich anders verlaufen, ohne Hitlet wäre es nicht zum deutschen Angriff auf Rußland gekommen, und ohne Hitler wäre nie der Versuch zur Ausrottung der europäischen Judenheit unternommen worden.

I. Westintegration als Lösung von wilhelminischen und Weimarer Traditionen Konrad Adenauer lebt im Gedächtnis der deutschen Nation als der Staats­ mann, der vor allem mit drei Leistungen in die Geschichtsbücher gehört: Erstens mit der Integration der aus den drei westlichen Besatzungszonen entstandenen Bundesrepublik Deutschland in die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Allianzsysteme, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter amerikanischer Lenkung das Gros der nichtkommunistischen Staaten Europas verbanden. Damit sei die Bundesrepublik - mit ihrer freiheitlichen Gesellschafts- und WirtSchaftsordnung- gegen Expansionsgelüste der kommu­ nistischen Sowjetunion und gegen einen von Moskau erzwungenen Anschluß an die DDR gesichert worden, während der junge westdeutsche Staat gleichzeitig, der erst wenige Jahre zurückliegenden militärisch-politischen und moralischen Niederlage des NS-Regimes zum Trotz, in der westlichen Staatengemeinschaft ' Hierzu etwa J. MacGregor Bums I S. Dunn, The Thsee Roosevelts. The Leaders Who Traosfonned America, London 2001, insbesondere S. 218-324 und S. 405-428. ' Aus der kaum noch überschaubaren Literatur sei genannt A.B. Ulam, Stalin. The Man and his Era, New York 1973. ' Tief dringend behandelt in des jüngsten Biographie: I. Kershaw, Hitler, 2 Bde., London 1998/2000.

Das Exbe Adenauen

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einen bequemen wirtschaftlichen Platz ergattern und bald auch eine gleichbe­ rechtigte politische Rolle spielen konnte. Zweitens wird Konrad Adenauer als der gtoße deutsche Promoter der deutsch-französischen Verständigung gesehen' und drittens als der führende deutsche Protagonist einer Politik, mit der er, im Verein mit kongenialen Partnern wie Alcide De Gasperl und Robert Schuman, immerhin das Fundament eines wirtschaftlich und politisch geeinten Europa gelegt habe'. Gelegenilich wird auch daran erinnert, daß Adenauer noch vor Errichtung der Bundesrepublik als Präsident des Parlamentarischen Rates 1 maßgeblich an der Ausarbeitung des Grundgesetzes mitgewirkt hat 0• Wer sich dieses Bild von Adenauer macht, begreift ilm mithin als den Lotsen, der, soweit das mit politischen Mitteln geleistet werden konnte, die westdeutsche Gesellschaft aus dem Elend von Zusammenbruch und Befreiung in eine Zukunft ohne Nationalsozialismus und ohne Kommunismus gesteuert hat - dabei der Abwendung von Nationalismus und der Hinneigung zu europäischem Denken verpflichtet. Das war ja in der Tat, auf eine kurze Formel gebracht, die Aufgabe des westdeutschen Staates in seinen ersten fünfzehn Jahren, und Adenauer war tatsächlich geradezu prädestiniert, bei ihrer Bewältigung die Leitung in die Hand zu nehmen. 1876 geboren, ist er im deutschen Kaiserreich aufgewachsen und erreichte noch 1917 , als die Ablösung der Monarchie einsetzte, das Amt des Kölner Oberbürgermeisters, das er dann auch in den Weimarer Jahren inne­ hatte, bis ilm die Nationalsozialisten 1933 aus dem Rathaus vertrieben; seit 1920 hatte er zudem als Präsident des Preußischen Staatsrats fungiert, und mehrmals war er in den zwanziger Jahren als möglicher Reichskanzler genannt worden. So ist er naturgemäß von Erfahrungen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik stärkstens beeinflußt worden. Positiv in dem Sinne, daß er zeitlebens ganz selbstverständlich in gesamtdeutschen Kategorien dachte. Die Vorstellung vom Rheinbund-Politiker, der die Lande ösrlich der Eibe als fremd, ja feindlich empfunden habe, ist von Hans-Peter Schwarz liingst als eine von Adenauers Kritikern und Gegnern in die Welt gesetzte und liebevoll gepflegte Legende endarvt worden". Noch stärker ist er freilich negativ beeinflußt worden, und das in einem Sinne, der zu der Feststellung nötigt, daß er - und das muß als eine wesenrliche Voraussetzung seines Erfolgs als .Mann des Übergangs" nach 8

Hierzu H.-P. Schwarz, Erbfreundschaft. Adenauer und Frankreich, Bonn u.a.

1992. 9 U. Corsini I K. Repgen (Hrsg.), Konrad Adenauer e Alcide De Gasperi: due esperienze di rifondazione della democrazia. (Annali dell'Istituto storico ital.o-gennsnico in Trento. Quaderni, 15), Bologna 1984.

10 So von R. Morsey, Die Rolle Konrad Adenauers im Parlamentarischen Rat 1948/49 (Rhöndorfer Hefte, 5), Bad Honnef 1998. 11 Hierzu auch H. Buchheim (Hrsg.), Der Patriotismus Kontad Adenauets (Rhön­ dorfer Gespräche, 10), Bonn 1990; ferner K.D. Erdmann, Adenauer in der Rheinland­ politik nach dem Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1966.

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dem Zweiten Weltkrieg gelten -weder ein Repräsentant des wilhelminischen Deutschland noch ein Repräsentant des Weimarer Staates war. Sohn eines mittleren Beamten, der als Feldwebel der preußischen Armee 1866 im Krieg gegen Österreich schwer verwunder worden war, stand Konrad Adenauer gleichwohl in feindseliger Opposition zu bestimmenden Elementen des deutschen Kaiserreichs. Nach 1871, so hat er oft und oft gesagt, sei an die Stelle der .sittlichen Idee der nationalen Freiheit", was für ihn eben bürgerliche Freiheit und politische Mitbestimmung einschloß, deutscher Nationalismus getreten, dazu das Leitbild des omnipotenten Staates und preußischer MiJi. tatismus; er verurteilte Bismarcks Sozialistengesetze nicht weniger scharf als Bismarcks "Kulturkampf" gegen die deutschen Katholiken12• Bei manchen seiner Kommentare zur Rolle Preußens in der deutschen Geschichte meint man den Wmston Churchill von 1943 reden zu hören. Naturgemäß mißfiel dem rheinischen Bürger, der stets wie ein Kölner Patrizier wirkte, obwohl er keineswegs dem Kölner Patriziat entstammte, auch das Parvenühafte, das Laute, das Anmaßende des Wdhelminismus, und hegemoniale oder Weltmachtträume, wie sie von Kaiser Wdhelm, den Angehörigen des Flottenvereins und Max Weber gleichermaßen geträumt wurden, waren ebenfalls nicht seine Sache. Konrad Adenauer hatte weder mit dem Fürsten Bülow und dem Großadmiral von Tttpitz noch mit dem General Ludendorff etwas gemein. So war es nur konsequent, daß er nach dem Ende des Weltkriegs über· zeugt und keineswegs lediglich zur Dämpfung französischer Ambitionen im Rheiuland - für die Auflösung Preußens eintrat. Als er dieses Ziel erstmals öffentlich propagierte, am 1 . Februar 1919 vor den linksrheinischen Abgeord· neten der deutschen Nationalversammlung", da war die Zeit zur taktischen Ausmanövrierung französischer Ambitionen und der von Frankreich unter· stützten rheinischen Separatisten noch gar nicht gekommen. In den folgenden Jabren suchte Adenauer beharrlich für die wittschaftliche Kooperation und die politische Verstäodigung mit Frankreich zu wirken, obwohl das von Hysterie nicht freie französische Sicherheitsbedürfnis eine Pariser Deutschlandpolitik erzwang, die den Vorstellungen Adenauers keine Chance ließ. Der springende Punkt dabei ist jedoch dario zu sehen, daß Adenauer unter einer Verstäodigung -

12 Zum Beispiel sagte er am 14 November 1960 zu dem amerikanischeoJournalisteo George Bailey: "Wir haben ... durch die Schuld Bismarcks im Kaiserreich keioe gesunde innenpolitische Entwicklung gehabt, und zwar aus folgendem Grunde: Bismarck hat die Sozialisten vom Staate zurückgestoßen durch die Sozialistenverfolgung, die grausam war, und er hat die Katholiken vom Staate zutückgestoßeo durch eioe Verfolgung, die auch grausam war", siehe K. Adenauer, Teegespräche 1959·1%1, S. 356. Zum Problem .Preußen etwa seioe Rede im Royal Institute of International Affairs, Chatham House London, am 6.12.1951, in: K. Adenauer, Reden 1917·1967. Eine Auswahl, hrsg. von H.·P. Schwarz, Stuttgart 1975, S. 232·236, besonders S. 233. •

"

Ebd., S. 23 ff.

Das Exbe Adenauen

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mit Frankreich etwas anderes verstand als später die meisten Protagonisten der Locarno-Politik. Er diagnostizierte ganz simpel, daß eine solche Verstiindigung sowohl im wirtschaftlichen und politischen Interesse der beiden Länder liege, als auch dem Frieden in Europa und dem Zusammenwachsen Europas diene, und er fand es einfach logisch, diese Einsicht zum Ausgangspunkt praktischer Politik zu machen. Für Gustav Stresemann hingegen war die Annäherung an Frankreich anfänglich und bis zu einem gewissen Grad auch noch später lediglich ein taktisches Manöver, das die Revision der deutschen Ostgrenze vorbereiten sollte, indem es die politische, wirtschaftliche und militiitische Befrei­ ung des Deutschen Reiches aus Versailler Banden anbalmte und auch schon die Bindung Frankreichs an Polen lockerte. Im übrigen war die Mitwirkung Moskaus an der antipolnischen Revisionspolitik Berlins zwingend notwendig, und so konnte Stresemann nie daran denken, die seit 1921 bestehende Spe­ zialbeziehung zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu opfern und die Weimarer Republik vorbehaltlos in ein normalisiertes Verhältnis zu Frankreich zu führen. Also schien die Sonne von Locarno nur blaß, wie Wmston Churchill damals sagte, und Konrad Adenauer verurteilte das Unstete und Schaukelnde" der Politik Stresemanns14• Heinrich August Wmkler hat einmal mit Recht kon­ statiert, daß Adenauer, wenn er solchermaßen das Fehlen einer klaren Option für den Westen kritisierte, nicht weniger tat, als mit dem Revisionismus die .Staatsräson der ersten deutschen Demokratie" zu verwerfen". •

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eröffnete sich jedoch die Möglich­ keit, die Last sowohl wilhelminischer wie Weimarer Traditionen abzuschütteln. Wir wollen, daß Deutschland neu entsteht", sagte Adenauer am 24. März 1946 in einer Grundsatzrede, die er in der Kölner Universität bereits als 1. Vorsit­ zender der CDU der britischen Zone hielt. "Wir wollen nicht das Bismarcksche Reich unter preußischer Führung"16• Ungesäumt schickte er sich an, jene Ziele und Vorstellungen zu entwickeln und nun in der Tat zur Grundlage praktischer Politik zu machen, die er in den dafür noch chancenlosen zwanziger Jahren ansatzweise konzipiert gehabt hatte. Eine weitere Voraussetzung für eine nun nicht mehr nur kommunalpolitische Karriere und für eine Karriere zur Reali­ sierung seiner gleichsam aus der Kühltruhe geholten Gedanken war, wie sich alsbald zeigte, ebenfalls gegeben. Zwischen 1933 und 1945, in den Jahren der erzwungenen politischen Abstinenz, hatte er nicht nur seine V!Sion bewahrt, sondern auch bestinunte Eigenschaften, die ein Politiker neben Zielbewußtsein zu erfolgreichem Handeln braucht und die Adenauer als Oberbürgermeister •

14 Zitiert nach H.A. Winkler, Adenauer und der deutsche Sonderweg, in: A. Doering-Manteu!fel I H.-P. Schwarz (Hrsg.), Adenauer und die deutsche Geschichte (Rhöndorfer Gespräche, 19), Bonn 2001, S. 10-18, hier S. 13. 15 A. Doering-Manteuffel I H.-P. Schwarz (Hrsg.), Adenauerund die deutsche Ge­ schichte, S. 31. t6 K. Adenauer, Reden 1917-1%7, S. 104.

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von Köln schon eirunal zu einer gewissen Vollkommenheit gebracht hatte: Machtbewußtsein, Führungskraft, taktische Flexibilität und Raffiniettheit, ja, falls es ihm notwendjg schien, Skrupellosjgkeit17• So vermochte er die Bun­ desrepublik auf einen Platz in der internationalen - nach Lage der Dinge nur der westlichen - Staatengemeinschaft zu führen, wie ihn Deutschland seit der Reichsgründung weder besetzt gehalten noch angestrebt hatte: Als zwar souve­ ränen Staat, doch ntit einer Einschränkung der Souveränität, die diesen Staat zu internationaler Kooperation und zur Mitarbeit in europäischen Zusanunen­ schlüssen tauglich machte. In dieser Hinsicht verfehlt einfach die Realität, wer die Zeit Adenauers als eine Zeit der Restauration abtut. In Wahrheit fand eine revolutionär zu nennende Neuorientierung statt: eine Neuorientierung, die das internationale Handeln auch des wiedervereinigten Deutschland besrimmt.

II. Sozialpolitik und gesellsehaftspolitisehe Stsbilisierung Neues geschah auch auf einem anderen Felde. DiefünfzigerJahre waren eine Periode beispielloser sozialpolitischer Anstrengungen, und Konrad Adenauer hatte daran, wie uns Hans Günter Hockerts gezeigt hat, erheblichen Antei118, so am Lastenausgleich, so an eindrucksvollen Wohnbauprogranunen, so an einer Rentenpolitik, die Anfang 1957 die Einführung der dynantisehen Rente brachte; ein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten problematisches Geschenk, aber zunächst und auf viele Jahre gesellschaftspolitisch beruhigend. Es ist schon betrüblich, daß man etwa im neuesten Brackhaus unter dem Stichwort Adenauer nichts über den Sozialpolitiker findet und daß man selbst in der .aktualisierten und erweiterten Neuausgabe" der dreibändigen Geschichte der Bundesrepublik, die der Fischer Verlag 1989 vorgelegt hat, nichts über die Rentenreform erfährt. Gewiß hat Adenauer wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit auch als zuverlässigste Inununisierung der westdeutschen Gesellschaft gegen kommunistische Ansteckung betrachtet. Doch war für ihn Sozialpolitik nicht bloß ein Instrument im Dienste einer antikommunistischen Abwehrstrategie oder im Dienste jener .Magnet-Theorie", der zufolge die Bundesrepublik so attraktiv gemacht werden mußte, daß sie die DDR und ihre 17 Zur Kontinuität seiner politischen Vorstellungen und seines Verhaltens in der Politik sagte Rudolf Morsey .daß sich im Kölner Oberbürgermeister der spätere Staatsmann entfaltete und daß er in diesem Amt geformt" worden sei, R Morsey, Der Staatsmann im Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, in: Rbeioische Viertel­ jabrsblätter, 40 (1976), S. 209. 18 Vgl. H.G. Hockerts, Adeoauer als Sozialpolitiker, in: Koorad Adenauerund seioe Zeit. Politik und Persöolichkeit des ersten Buodeskanzlers, Bd. 2: Beiträge der Wissen­ schaft, hrsg. von D. IDusneowitz u.a., Srutrgan 1976, S. 466487; H.G. Hockerts, Konrad Adenauer und die Rentenreform von 1957, in: K. Repgen (Hrsg.), Die dynamische Rente in der Ära Adenauer und heute (Rhöndorfer Gespräche, 1), Srutrgart 1978, S. 11-29.

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Bürger unwiderstehlich anzog. Adenauer wat wohl ein rheinischer Bürger, der gat nicht datan dachte, freies Unternehmertum und Gewinnstreben in Frage zu stellen oder in Frage stellen zu lassen. Mit jedweder Form von Sozialismus, auch mit christlichem Sozialismus, hatte er nichts im Sinn. Aber abgesehen davon, daß er zeidebens für nur .mäßigen Besitz" eintrat, wie er sich aus­ drückte, und die Anhäufung großen Reichrums als ungesunde Erscheinung ansah, handelte er seit seinen Jugendjahren unter dem bestimmenden Einfluß jener Spielatt der katholischen Soziallehre, die, so Hans Günter Hockens, der Mönchengladbacher Volksverein .ab 1890 in den deutschen Katholizismus hineingepumpt hat"19• Er war mithin überzeugt davon, daß das kapitalisti­ sche System erheblicher sozialpolitischer Korrekturen und der permanenten Kontrolle durch einen wachsamen Staat bedürfe. Anders gesagt: er wat ein Verfechter der Matktwinschaft, jedoch aus christlichem Geist ein Verfechter der sozialen Matktwinschaft. Daß der Bundeskanzler Adenauer folglich auch für die sozialpolitischen Anstrengungen der fünfziger Jahre seine Qualitäten als Politiker mobilisiette, hat zum Erfolg der Anstrengungen wesentlich bei­ getragen. So kam es zu einem alles andere als selbstverständlichen Vorgang: Minen im Kalten Krieg trat in Westdeutschland, also in einer Frontzone des Krieges, eine gesellschaftspolirische Beruhigung ein, die nicht durch den Ein­ satz irgendwelcher Machtmittel erzwungen, sondern einer von Rationalität, Empathie und Verantwonungsgefühl bestimmten Politik zu danken wat und in der Klassenkämpfe, wie sie das wilhelminische Deutschland und die Weimarer Republik zerrissen hatten, nahezu abstatben. Wie nachhaltig dieser Prozeß die westdeutsche Gesellschaft verändene, zeigte sich in den späten sechziger und in den siebziger Jahren, als neomatxistische Gruppen, wie sie sich namentlich an den bundesdeutschen Hochschulen bildeten, mit ihren Versuchen kläglich scheitelten, die Bundesrepublik wieder in eine Arena von Klassenkämpfen zu verwandeln; sie scheitelten ja weniger am Repressionsappatat des Staates als an der Gleichgültigkeit der westdeutschen Gesellschaft.

m. Die Tendenzen der Zeit Nun ist freilich, wenn wir die Bedeutung Adenauers für unsere Geschichte genauer erfassen wollen, zu fragen, ob er für die genannten historischen Abläufe und auch Leistungen unverzichtbat gewesen ist oder ob er aus ihnen wegge­ dacht werden kann. Daß kein Politiker die Verhältnisse, in denen er agien, einfach nach seinen Vorstellungen zu formen vermag, daß jeder Politiker,

19 H.G. Hockerts, Kommentar, in: A. Doering-Manteu/fel I H.-P. Schwarz (Hrsg.), Adenauer und die deutsche Geschichte, S. 81-85, hier S. 81. Zum .mäßigen Besitz" vgl. G. Schutz, Adenauer in seinem Verhältnis zu Wtrtschaft und Gesellschaft, ebd., S. 63-80, hier S. 80.

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der erfolgreich operiert, nutzbare Voraussetzungen, fördernde Faktoren und günstige Umstände braucht, ist eine banale Feststellung; es geht nur um die Bestimmung des Anteils, der als wesentlich oder als relativ geting eingeschätzt werden kann. Das gilt natürlich auch für Konrad Adenauer. So wäre die in den fünfziger Jahren verfolgte Sozialpolitik ohne den gleichzeitigen wirtschaft­ Iichen Aufschwung zweifellos bei dürftigeren Ergebnissen steckengeblieben, und dieser wirtschaftliche Aufschwung war zwar sicherlich auch das Resultat einer vernünftigen WirtSchaftspolitik, die Adenauer immerhin mitgestaltet hat, aber mehr noch das Produkt von Enrwicklungen, auf die Bonner Kabinette keinen Einfluß hatten. Bei der deutsch-französischen Verständigung wiederum handelte Adenauer gewissermaßen, etwas übertrieben gesagt, im Auftrag beider Nationen. Nach dem ohne positives politisches Resultat gebliebenen Sieg Frankreichs im Ersten Weltkrieg und nach dem ohne jedes politische Resultat gebliebenen deutschen Sieg vom Sommer 1940 hatten viele Deutsche und Franzosen bewußt oder unbewußt den Schluß gezogen, daß es wohl besser wäre, mit der Torheit periodischer Waffengänge aufzuhören, und ein solcher Gesinnungswandel verlangte nach politischem Ausdruck. Förderlich war dabei, daß die französische Bevölkerung das Verhalten der deutschen Truppen im Mai und Juni 1940 paradoxetweise weniger schmerzhaft erlebte als im August und September 1914 das Verhalten des kaiserlichen Heeres und daß sich die Armee auch in den Okkupationsjahren in der Regel korrekt verhielt; das war anders als in den besetzten Territorien der Sowjenmion und Jugoslawiens, weshalb große Teile der französischen Bevölkerung trotz der härter und härter werdenden deutschen Reaktion auf Aktionen des französi­ schen Widerstands bis zuletzt einen Unterschied zwischen der Wehrmacht und den Organen des nationalsozialistischen SS- und Polizeiapparats machten. Der englische Militärtheoretiker und -histotiker Liddell Hart war baß erstaunt, als er 1945 und 1946 bei Reisen durch Westeuropa feststellen mußte, daß viele Belgier und Franzosen das Auftreten ametikanischer und britischer Soldaten herb kritisierten und höchst ungünstige Vergleiche mit dem Auftreten der deutschen Soldaten zogen20• Auch hatten zahllose Franzosen, die seit 1940 als Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Deutschland arbeiten mußten, erfahren, daß östlich des Rheins nicht nur mit Pickelhaube und Ulanencapka bedeckte Monster wohnen. Umgekehrt brachte der Krieg Millionen Deutsche aus allen Bevölkerungsschichten nach Frankreich, wo sie, anders als im Ersten Weltkrieg, zum ersten Mal die Lebensart und Kultur der westlichen Nachbarn näher kennen und sehr häufig schätzen und lieben lernten. Auch bei der Integration der Bundesrepublik in die westliche Staatenge­ meinschaft waren Faktoren am Werk, die den Prozeß auf den ersten Blick 20 Siehe B.H. Liddeli Hart, The Memoirs of Captain Liddeli Hart, 2 Bde., London 1%5, hier Bd. 1, S. 203. Der Autor machte auch auf die hier gegebene Para­ doxie aufmerksam.

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als selbstverständlich und unausweichlich erscheinen lassen, als unabhängig vom Handelu einzeluer Politiker. Nach dem offenen Ausbruch des Ost-West­ Konflikts dachten die Westmächte, vor allem Großbritannien und die USA, gar nicht daran, bei der Organisierung des Containment der sowjetischen Gefahr auf das wirtschaftliche, politische und militärische Potential der west­ lichen Hälfte Deutschlands zu verzichten oder dieses Potential womöglich dem Gegner im Kalten Krieg zu überlassen. Schon beim Zusammenschluß der drei Westzonen zu einem Staat war die lenkende Hand der Regierungen in London und Washington im Spiel, und nach der Staatsgründung war die Integration der jungen Bundesrepublik erklärtes und mit Energie verfolgtes Ziel westlicher Politik. Überdies hat eine klare Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung nicht einfach der fremden Lenkung mehr oder weniger willig gehorcht, sondern ihrerseits jeden integrationspolitischen Schritt gefordert oder doch ausdröcklich gebilligt. Als Motiv wirkte neben dem Wunsch, in die internationale Staatengesellschaft zuröckzukehren, ein antisowjetisches und antikommunistisches Sicherheitsbedürfnis, das in dieser alles andere verdrän­ genden Stärke und in der Verknüpfung zweier Ängste, nämlich der normalen Angst vor einem fremden Imperialismus und der spezifischen Angst vor der mit dem jetzt dräuenden fremden Imperialismus verbundenen Bedrohung der eigenen polirischen Kultur, ein Novum in der neuesten deutschen Geschichte darstellte, auch wenn es Vorformen in den zwanziger Jahren und neue Wurzelu in der Kriegszeit gegeben hat. Der Antisowjetismus und Antikommunismus der vierziger und fünfziger Jahre ist später nicht selten mit dem Epitheton .hysterisch versehen worden. Das ist ein ahistorisches Urteil. Dabei wird ignoriert, daß die Furcht der West­ deutschen das zwangsläufige Produkt eines von Moskau erteilten und überaus eindringlichen Anschauungsunterrichts war. Die brutale Unterwerfung der Staaten von Polen bis Bulgarien vor Augen, dann erschreckt durch die nicht •

minder brutale Errichtung stalinistischer Herrschaftssysteme in jenen Staaten und erst recht alanniert durch die gerade in den fünfziger Jahren mit Energie betriebene Sowjetisierung der DDR, entwickelte eine Majorität der Bundesbür­ ger selbstverständlich eine prononcierte Abneigung gegen alles Sowjetische und Kommunistische, ebenso selbstverständlich die Neigung, sich an starke Freunde im Westen anzuleimen, zumal die Propagandisten der KPdSU und der SED ohne Unterlaß verkündeten, auch die Bundesrepublik müsse der Segnungen des Stalinismus teilhaftig werden. Die meisten Deutschen -auch die in der DDR, wie die starke Fluchtbewegung nach Westdeutschland zeigt -waren indes keinesfalls bereit, den nationalsozialistischen Totalitarismus, den sie gerade losgeworden waren, ungesäumt gegen den stalinistischen Totalitarismus einzutauschen. Das Bedürfnis nach dem Schutz mächtiger Protektoren brauchte Adenauer also weder zu wecken noch zu nähren. Daß die Zustimmung zur Westintegration schon früh sogar weit in die Reihen der sozialdemokratischen Opposition reichte,

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beweist ein Vorgang zur Zeit des west-östlichen Notenwechsels im Jahre 1952, den Stalin im März mit dem Vorschlag auslöste, Deutschland zu vereinigen, das vereinigte Deutschland jedoch zu neutralisieren. Die Frage, welche Absichten Stalin mit der Note vom 10. März 1952 tatsächlich verfolgte, vermag ja noch heute die Gemüter zu erhitzen", und damals haben die Presse und die Funktio­ näre der SPD Adenauer unter schwersten Beschuß genommen, weil er die drei westlichen Besatzungsmächte nicht nötige, die sowjetische Offerte .auszuloten", wie es ebenso griffig wie nichtssagend hieß, und weil er selber das .Ausloten" unterlasse; mit beidem sabotiere er eine reelle Chance zur Wiedervereinigung. Während aber das Propagandagewitter Blitz und Donner über die politische Landschaft sandte, suchten führende SPD-Politiker wie Herhert Welmer in aller Stille die amerikanische Hochkommission in Bann auf und beschworen Hochkommissar Jahn McCloy und dessen Stellvertreter Sam Reber, sich von den Moskauer Sirenengesängen ja nicht vom Pfad der Integrationspolitik weg­ locken zu lassen". So könnte gesagt werden, daß der Adenauer der fünfziger Jahre gewissermaßen die Personifizierung eines antitotalitären Konsenses der westdeutschen Bevölkerung und eben deshalb Schwimmer in einem breiten Strom gewesen ist.

Kaum weniger stark erscheinen die Kräfte, die erste Schritte zu europäischen Zusammenschlüssen in Gang setzten. Nach der Erschütterung durch den Zwei­ ten Weltkrieg besaß die V"S l ion eines geeinten Europa eine Attraktivität, die ihr in den zwanziger und dreißiger Jahren noch gänzlich gefehlt hatte, und so entstand in allen freien europäischen Ländern eine machtvolle Europa-Bewe­ gung, der überdies populäre Leidiguren des Westens wie Wmston Churchill ihre Stimmen liehen. Die wirtschaftlichen Interessen vieler nichtkommunistischer Staaten drängten ebeufalls in diese Richttmg. Für die Bundesrepublik Deutsch­ land- und auch für Italien- boten europäische Verbünde, ob wirtschaftlicher, ob politischer, ob militärischer Art, überdies die Chance, die Belastung durch die nationalsozialistische und die faschistische Vergangenheit in den Hinter­ grund tteten zu lassen und rasch und unauffällig die Gleichberechtigung mit den anderen europäischen Ländern zu gewinnen; Graf Carlo Sforza, damals italienischer Außenminister, hat das klar ausgesprochen", und Konrad Adenauer 21 Hierzu J. Zarusky (Hrsg.), Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 84), München 2002. 22 So Herbett Wchner bereits am 14. Februar 1952 in Erwartung einer sowjeti­ schen Note, wie sie daun tatsächlich kam, und erneut am 11. März 1952 in Reaktion auf die Note: HlCOG-Bonn an Secretary of State, 15. Februar 1952, National Archives, Washington, D.C., Record Group 84, NC59A543, Bann Mission Files, box 2571; McCloy an Secretary of State, 11. März 1952, Bann Mission Files, box 1389. Vgl. auch H. Gram!, Die Märznote von 1952. Legende und Wuklichkeit, Meile 1988, S. 39 f. " Vgl. E. Di Nolfo, Das Problem der europäischen Einigung als ein Aspekt der italienischen Außenpolitik 1945-1954, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 28 (1980),

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hat bereits im März 1946 die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa postuliert und zu ersten Gehversuchen auf internationalem Parkett die Treffen von Organisationen genutzt, die ein geeintes Europa anstrebten, so bereits im Mai 1948 den Haager Europa-Kongreß, der das Fanal zu der Entwieklung gab, die zur Bildung des Europarats führte". Und Adenauer war gewiß nicht der einzige Westdeutsche, der die im Europagedanken liegenden politischen Möglichkeiten für das geschlagene Deutschland erkannte.

Iv. Die Bedeutung der Persönlichkeit Konrad Adenauers Andererseits ist ebenso wahr: Nutzbare Voraussetzungen müssen genutzt, fördernde Faktoren erkannt und günstige Gelegenheiten am Schopf gepackt werden. Visionen können von vielen geteilt werden, aber wenn sich niemand findet, der die Vielen mit Energie und Geschick zu einer politischen Kraft macht, verpassen die Visionen womöglich den Weg in die politische Realität, zumal zu jeder Zeit höchst gegensätzliche Tendenzen in der Zeit liegen. In dieser Hinsicht hat Konrad Adenauer vermutlich doch einen unverzichtba­ ren Beitrag zur Entwieklung der Bundesrepublik geleistet. Im Rückblick ist deutlicher als in den fünfziger Jahren zu sehen, wie glatt, wie rasch und mit welch wohltätiger Wirkung die Lösung Westdeutschlands aus dem Chaos der ersten Nachkriegszeit, die politische Verständigung mit den westlichen Siegennächten und die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft vonstatten gingen, wobei die wohltätige Wirkung vom Tempo des Vorgangs und von der Vermeidung jeglicher Umwege keineswegs unabhängig war. Und hier müssen wir den unverzichtbaren Beitrag Adenauers suchen, den seine Zeitgenossen, vor allem seine Kritiker, noch nicht deutlich zu erkennen vermochten. Nur ein Politiker, der den als richtig befundenen Kurs so konsequent und unbeirrbar steuerte wie er, nur ein raffinierter, ja gerissener Taktiker wie er, der dabei mit allen Mitteln und Schlichen - auch mit nicht sonderlich feinen - die eigene Partei auf dem rechten Wege hielt und die häufig unzuverlässjgen Koalitionspartner bändigte, war fähig, den ersten zehn Jahren der Bundesrepublik das Charakteristikum eines nahezu ununterbrochenen Aufstiegs zu geben. Die Straße hätte wahrlich holpriger sein können. Zum Beispiel wenn im Herbst 1949 Kurt Schumacher, in der Frühphase der Bundesrepublik Führer der

S. 145-167, besonders S. 156; H.-P Schwarz, Adenauer undEuropa,in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 27 (1979), S. 471-523.

Vgl. H. Gram/, Anfänge europäischer Einigung, in: W. Benzl H. Gram/ (Hrsg.), 24 Fischer Weltgeschichte, Bd. 35: Das Zwanzigste Jahrhundert li. Europa nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1982, Frankfurt a.M. 1983, S. 58-82.

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SPD, Bundeskanzler geworden wäre". Dieser preußische Sozialdemokrat legte einen Nationalismus an den Tag, als habe es weder das Dritte Reich noch dessen totale Niederlage gegeben. Mit jeder Geste, mit jedem schrillen Ton erinnerte er Franzosen, Briten und Amerikaner an den gar nicht geschätzten Geist der späten Weimarer Jahre, und in Washington mißfiel auch die Gesellschaftspoli· tik, die der Sozialist propagierte. Die Beziehungen zu den Westmächten wären unter einem Bundeskanzler Sehnmacher jedenfalls von ständigem Streit und von Serien unangenehmer Mißverständnisse geprägt gewesen. Angesichts des tiefen Mißtrauens, das die Außenwelt - einschließlich der westlichen Regierungen und ihrer Vertteter in Bonn- den Deutschen damals noch entgegenbrachte, hätte das verhängnisvoll sein können. Adenauer hingegen sicherte mit seiner Politik den Abbau von Mißtrauen, und dieser Erfolg ist noch 1989/90 wirksam gewesen und stellt bis zum heutigen Tage das Fundament des internationalen Ansehens der Bundesrepublik Deutschland dar. Die Realitäten der fünfziger Jahre rechtfertigen aber noch eine andere T hese, die T hese nämlich, daß Konrad Adenauer mit seinem nicht theoretisch begriindeten - er war kein Theoretiker -, sondern sozusagen angeborenen Politikverständnis26 und mit der konsequenten Praktizierung dieses Politikver· ständnisses in ungewöhnlich hohem Maße zur Einwurzdung der Demokratie in Westdeutschland beigetragen hat. In den ersten Nachkriegsjahren herrschte ja im politischen Gemüts- und Gedankenhaushalt zahlloser Deutscher eine arge Konfusion. Von der noch keineswegs schwachen Gruppe überzeugter Anhänger Hiders abgesehen, hatten die durchschnittlichen Deutschen an die Weimarer Republik keine guten und an das Dritte Reich nicht nur schlechte Erinnerun­ gen. Die Bemühungen der westlichen Besatzungsmächte, ihre Deutschen zur amerikanischen, britischen und französischen Form der Demokratie, jedenfalls zum liberaldemokratischen Parlamentarismus, zu bekehren, fanden mithin nicht gerade eine ideale Schülerschaft vor, sondern eine Schülerschaft, die trotz einer bereits wirksamen antitotalitären Orientierung noch großenteils aus politischen Heiden bestand, und zwar aus recht verwirrten politischen Heiden. Noch in der ersten Hälfte der fünfzigerJahre ist das Experiment der Demokratisierung Westdeutschlands in der Bevölkerung vielfach mit großer Skepsis beobachtet worden. Wer sich in jene Zeit zurückversetzen kann, weil das entsprechende Alter gegeben ist, wird sich daran erinnern, daß in priva­ ten Gesprächen oft die Meinung zu hören war, Demokratie und Parlamente 25 Siehe H.A. Wink/er, Adenauer und der deutsche Sonderweg, S. 14. Vgl. auch P Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995. " Hierzu G. Schutz, Adenauers gesellschaftspolitische Vorstellungen, io: H. Pohl (Hrsg.), Adenauers Verhältnis zu Wirtschaft und Gesellschaft (Rhöndorfer Gespräche, 12), Bonn 1992, S. 155·181. Ferner R. Wenzel, Konrad Adenauer und die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung im Nachkriegsdeutschland. Ordnungsvorstellungen und politische Praxis, Flensburg 1983.

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seien ja ganz schön, würden aber der nächsten Wirtschaftskrise natürlich nicht standhalten. Bei der Überwindung dieser Haltung ist der Pan Konrad Adenauers kaum zu überschätzen. Daß sein Führungsstil patriarchalisch, ja autoritär war, ist wieder und wieder angemerkt worden, meist kritisch. Der Begriff "Kanzler­ demokratie" bürgene sich ein27• Die Kritiker- nicht alle - übersehen aber, daß Adenauers Führungsstil in der gegebenen Situation der gedeihlichen Entwicklung des polirischen Systems durchaus genützt hat. Der Übergang vom eben noch gewesenen .Führerstaat" zu einer sozusagen normalen und für ihr Funktionieren nicht mehr von starker Leitung abhängigen parlamentarischen Demokratie war der westdeutschen Gesellschaft nur möglich, wenn ihr der Beweis geliefert wurde, daß Demokratie mit Führungsstärke und kraftvoller Politik durchaus vereinbar ist, und diesen Beweis erbrachte der erste Bundes­ kanzler''. Anfänglich ungläubig, dann staunend und schließlich überzeugt, hat die Mehrheit der Bundesbürger die Lektion erlebt. Adenauer hat ferner stets XI Vgl. K. Pabst, Konrad Adenauers Personalpolitik und Führungsstil, in: H. Stehkämper (Hrsg.), Konrad Adenauer. Oberbürgermeister von Köln, Köln 1976; H ­ P. Schwarz, Adenauers Kanzlerdemokratie und Regierungsteclutik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B1-2/89, S. 15-27; ders. Konrad Adenauers Regierungsstil (Rhöndorfer Gespräche, 11), Bonn 1991. .

28 So auch das Urteil von Marie-Luise Recker: "Sein zupackender, auch autoritärer Regierungsstil und seine starke Stellung als Kanzler sind der Einwurzdung der parla­ mentarischen Demokratie in der jungen Bundesrepublik durchaus zu gute gekommen". M.-L. Recker, Adenauer und das Problem der parlamentarischen Demokratie, in: A. Doering-Manteuffel I H.-P. Schwarz (Hrsg.), Adenauer und die deutsche Geschichte, S. 99-113, hier S. 112. Adenauer selber hat sieb stets ausdrücklieb zur parlamentarischen Demokratie bekannt, zum Beispiel in seiner Rede in der Aula der Kölner Universität am 24. März 1946: .Die Demokratie erschöpft sieb . . . nicht in der parlamentarischen Regierungsform oder gar in der Herrschaft einer Mehrheit über eine Minderheit. Wie die parlamentarische Regierungsform sogar zur Herbeiführung der Diktatur mißbraucht werden kann, wenn die Menschen nicht wirklieb demokrariseb denken und fühlen, das haben . . . die ersten Monate des Jahres 1933 gezeigt. Demokratie ist mehr als parlamentarische Regierungsform: sie ist eine Weltanschauung, die ebenfalls wurzelt in der Auffassung von der Würde, dem Werte und den unveräußerlichen Rechten eines jeden einzelnen Menschen, die das Christentum entwickelt hat. Demokratie muß diese unveräußerlichen Rechte und den Wert eines jeden einzelnen Menschen achten im staatlichen, im wirtschaftlieben und kulturellen Leben". Zitiert nach M.-L. Recker (Hrsg.), Polirische Reden 1945-1990, Frankfurt a.M. 1999, S. 68-106, hier S. 76 f. In einem Brief an eine Vertreterin des westfälischen Adels, Pia Gräfin Fürstenberg­ Herdringen, vom 22. Oktober 1946 findet sich eine schneidende Kritik an der Haltung .des größten Teils Ihrer Standesgenossen während der nationalsozialisriseben Zeit . . . ; sie sind unter Verleuguung ihrer Tradition aus einer völlig unbegründeten Abneigung gegen eine wirkliebe Demokratie einem verbrecherischen Abenteu[r]er nachgelaufen und haben dadurch vor Gon eine schwere Schuld auf sieb geladen", K. Adenauer, Briefe 1945-1947, S. 351. Daß eine autoritäre Persönlichkeit Affinitäten zu autoritären poliriseben Ideologien und Systemen haben müsse, ist ein unhaltbares Vorurteil.

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streng darauf geachtet, daß die Gegensätze zwischen Regierung und Opposition aufs schärfste betont wurden, und dabei seine Gegenspieler so wenig geschont wie sie ibn geschont haben. Nicht selten ist er deshalb der Vergiftung des politischen Klimas" geziehen worden. Daran ist viel Wahres. Auf der anderen Seite gewöhnten sich die Deutschen so daran, daß Demokratie gleichbedeutend ist mit Streit, mit offenem Streit, und sie machten die Erfahrung, daß solcher Austrag von Differenzen notwendige politische Entscheidungen nicht zu verbin· dern braucht im Gegensatz zu den obne Öffentlichkeit ausgefochtenen und Entscheidungsprozesse nur allzu häufig lähmenden Streitigkeiten zwischen den Ämtern und Organisationen der verblichenen NS·Diktatur. Es hat die Wirkung der Lektion noch verstärkt, daß die Auseinandersetzungen vor allem auch auf der Bühne des Parlaments stairfanden; die fiinfziger Jahre waren ja eine Zeit der großen Bundestagsdebatten über die anstehenden gesellschaftspolitischen und außenpolitischen Fragen. Da die Konflikte mit Ergebnissen endeten, was jedeufalls auch Adenauer zuzuschreiben war, nahmen me!Ir und me!Ir Deutsche den Bundestag nicht me!Ir als .Schwatzbude" wahr, wie noch zwanzig Jahre zuvor den Reichstag, sondern als die legitime Stätte des politischen Kampfes und der politischen Entscheidungen. Auch iu dieser Hinsicht ist also iu der Zeit Adenauers und vom politischen Handeln Adenauers eine solide Grundlage dafür gelegt worden, daß einige Jahrzebnte später eine halbwegs funktionierende westdeutsche Demokratie existierte, bereit und fähig, den von der Sowjetunion nicht mehr festgehaltenen ostdeutschen SED-Staat aufzufangen. •

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V. Realismus und Nüchternheit als Vermächtnis Zur gleichsam pädagogischen Wirkung des Politikers Adenauer gehört noch etwas anderes. Oft wird erwähnt, daß er bereits am 9. Oktober 1945 sagte, .der von Rußland besetzte Teil sei für eine nicht zu schätzende Zeit für Deutschland verloren". Hanns Jürgen Küsters hat Adenauers frühe Einsicht, daß die Teilung Deutschland unabwendbar sei und lange währen werde, einmal mit der Bemerkung kommentiert: .Seine Gedanken waren geprägt vom kalten Realismus und bitteren Wirklichkeitssinn des Besiegten, der sich keine Irrtümer leisten konnte. "29 Ich halte das für unzutreffend. Der Ansicht, Irrtümer, die man sich nicht leisten kann, würden auch nicht begangen, widerspricht schon die Alltagserfahrung und erst recht die Erfahrung des politischen Entwicklungen nachspürenden Historikers. Davon abgesehen: Konrad Adenauer fühlte sich so wenig besiegt wie Kurt Schumacher. Darin unterschied sich der katholische Rheinländer, den die Nationalsozialisten aus dem Amt verjagt hatten und der im Dritten Reich obne jede Funktion geblieben war, nicht von dem sozialdemo·

" H.J. Küsters, Adenauers Strategie im Kalten Krieg, in: A. Doering·Manteulfel I H.·P Schwarz (Hrsg.), Adenauer und die deutsche Geschichte, S. 174.

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kratischen KZ-Häftling. Nein, Adenauer ist zeit seines Lebens Realist gewesen. Ein Realismus, der sich nicht von Emotionen ablenken und nicht von Wunsch­ bildern bestechen ließ, gehörte zur Konstitution des Politikers Adenauer. Er zeichnete den Oberbürgermeister ebenso aus wie den CDU-Vorsitzenden und den Bundeskanzler. So fühlte er sich zwar nicht besiegt, begriff aber, anders als Kurt Schumacher, ohne Zögern und ohne Bitterkeit, daß er als politischer Akteur im Nachkriegsdeutschland die Niederlage des Deutschen Reiches und dessen Teilung in Rechnung zu stellen hatte. Auch als Regierungschef verfolgte er daher eine Politik, die der prekären Lage der Bundesrepublik angernessen war, und je erfolgreicher er realistische Politik praktizierte und als solche der Öffentlichkeit präsentierte, desto williger nahm die Öffentlichkeit die darin steckende Botschaft auf. Die Deutschen hatten ja ihren Bismarck gründlich mißverstanden und mit dem Begriff "Realpolitik" eine rücksichtslose, von sittlichen und moralischen Bindungen gänzlich freie Machtpolitik verbunden. Jetzt gewann die Erkennmis Boden, daß man unter Realpolitik besser eine an den Realitäten orientierte Interessenpolitik verstehen sollte. Dieser Prozeß drängte auch das balladeske Politik- und Geschichtsverständ­ nis zurück, das namentlich im deutschen Bürgertum heimisch geworden war. Zum Beispiel glaubten viele Deutsche fest daran, Deutschland sei 1914 aus sogenannter "Nibelungentreue" zu Österreich in den Krieg eingetreten. Die damalige Haltung Italiens wurde schlicht als"Verrat" empfunden. Die Vorgänge vom November 1918 sind als "Dolchstoß" von Schurken in den Rücken des gleichsam als Siegfried gesehenen deutschen Heeres wahrgenommen worden, und selbst der als Wissenschaft aufgeputzte rassistische Antisemitismus erfand mit der "jüdischen Weltverschwörung" ein Bild, das eher in eine düstere Ballade als in eine realistische Anschauung der Welt paßt; die "Protokolle der Weisen von Zion" sind nicht zufällig dem Roman eines mit schwülstigster Romantik arbeitenden Autors enmommen, und die fratzenhaften Gesichter, die Julius Streichers "Stürmer" den Deutschen als Gestalt gewordenes Juden­ tum anbot, scheinen geradewegs aus einem bösen Märchen zu stammen. Eine solche Sicht von Politik nahm ab, und am Ende der Ära Adenauer war der gefährliche Romantizismus in der polirischen Vorstellungswelt deutscher Bürger bis auf unbedenkliche Restbestände geschwunden. Daran hatte das länger als ein Jahrzehnt der Nation vor Augen stehende Beispiel eines nüchternen und nüchtern wirkenden Politikers, der reale Interessen definierte und im Dienste der Interessen erfolgreich Politik machte, durchaus seinen Anteil.

Dritter Teil

Nach der Katastrophe auf dem Weg nach Europa

Zwischen Weimar und Bonn Das westdeutsche Parteiensystem 1945 bis 1961 Von Thomas Schlemmer

I. Die Geschichte der Bundesrepublik in den fiinfziger Jabren Die Welt, so sagt man, ist voller Wunder und hält unzählige Überraschungen für die Historiker bereit. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland scheint besonders reich an erstaunlichen Phänomenen zu ein, denn es ist schon bemerkenswert, wie oft Zeitgenossen und Fachkollegen bei der alles andere als wissenschaftlichen Kategorie des Mirakels Zuflucht suchen mußten. Neben dem viel zitierten Wirtschaftswunder" stößt man auf den als "Wunder von Bem" in die Geschichte eingegangenen Sieg der deutschen Fußballnational­ mannschaft im Endspiel der Weltmeisterschaft von 1954; das Wunder der Integration" hat angeblich sogar zweimal stattgefunden und soll sowohl den Heimatvertriebenen als auch den ehemaligen Nationalsozialisten den Weg in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft geebnet haben. Zu den unbekannteren Wundem gehört dagegen das .deutsche Wahlwunder" des Jabres 1953', das uns noch ausführlich beschäftigen wird, und das wiederum als entscheidender Indikator für ein weiteres Mirakel gilt, nämlich für das Wunder der unerwartet raschen Stabilisierung des politischen Systems der jungen Bundesrepublik. •



Um zu verstehen, warum die von den Theologen entliehene Kategorie des Wunders bemüht wurde, um die Entwicklung der Wahlergebnisse und der Parteienlandschaft in den Kinderjahren des westdeutschen Staates zu charak­ terisieren, muß man einen Blick in die Vergangenheit werfen, genauer gesagt auf die Entwicklung der Wahlergebnisse und der Parteienlandschaft zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der sogenannten Machtergreifung Adolf Hitlers. Die chronisch instabile und krisengeschüttelte Weimarer Republik verschliß zwischen Februar 1919 und Januar 1933 zwanzig Regierungen und zwölf Reichskanzler. Nach der letzten freien Wahl im November 1932 waren 13 Parteien im Reichstag vertreten, wobei die totalitären Flügelparteien der Natio­ nalsozialisten und Kommunisten über eine desttuktive Mehrheit im Parlament 1 C.-C. Baer I E. Faul (Hrsg.), Das deutsche Wahlwunder (Schriften der Deutschen Wählergesellschaft, 7), Frankfurt a.M. 1953.

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verfügten'. Die Erfahrung des Scheiteros der ersten deutschen Demokratie, das man nicht zuletzt auf strukturelle Schwächen der Verfassungsordnung und die Polarisierung eines ausgesprochen fragmentierten Systems strukturell kompromißunfahiger Parteien zurückführte', war für die Gründergeneration der Bundesrepublik konstitutiv. Die bange Frage zahlloser Kommentatoren des politischen Geschehens, ob sich die Bonner Republik nicht auf der gleichen abschüssigen Bahn bewege wie ihr Weimarer Pendant, gehörte ebenso zum journalistischen Alltag wie Fritz Rene Allemanns apodiktische Feststellung "Bann ist nicht Weimar"4. Auch der vorliegende Aufsatz kommt nicht umhin, dem 1996 verstorbenen Journalisten aus der Schweiz seine Referenz zu erweisen. Unter dem Titel .Zwischen Weimar und Bonn" wird die These zu belegen sein, daß sich die Formierung des westdeutschen Parteiensystems nach 1945 im Spannungsfeld zwischen Tradition und Neubeginn vollzog und daß sich noch 1949 die vor allem sozialstrukrorell zu erklärenden Elemente der Kontinuität und die überwie· gend erfahrungsgeschichtlich zu erklärenden Elemente der Diskontinuität die Waage hielten. Erst ntit dem .deutschen Wablwunder" des Jahres 1953 wurde für viele Beobachter mehr als überraschend - deutlich, daß das Parteien· system der Bundesrepublik einen anderen Entwicklungspfad eingeschlagen hatte als das der Weimarer Republik. Anstatt fortschreitender Desintegration war eine zunehmende Konzentration zu beobachten, anstatt chronischer lnsta· bilität der Regierungen deren bemerkenswerte Stabilität und anstatt einer polarisierten, ja gewaltgesättigten politischen Kultur ein Grundkonsens der Demokraten, der sich nicht zuletzt aus den Erfahrungen der Zwischenkriegs· zeit speiste.

2 Vg]. dazu ausführlich die der>eit fundierteste Gesamtdarstellung von H.A. Wink/er, Weimar 1918·1933. Die Gesehichte der ersten deutschen Demokratie,

München 1998.

' Zum Stellenwert, den die Forschung den Strukturdefekten des politischen Systems und des Parteiensystems einräumte, vg]. den unübertroffenen Forschungs· überblick von E. Kolb, Die Weimarer Republik, 6. Aufl., München 2000, S. 155·288, insbesondere das Kapitel "Reichsverfassung, Parteiensystem, Reichswehr", S. 178-195; zum Stellenwert des Erfahrungshoti2onts der Gründergeneration der Bundesrepublik für die institutionelle Ordnung der zweiten deutschen Demokratie vg]. G.A. Ritter, Über Deutsehiand. Die Bundesrepublik in der deutschen Gesehichte, München 1998, S. 13·76. 4 F.R. Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln u.a. 1956. Es ist kein Zufall, daß sich auch die Überschrift eines italienischen Forschungsüberblicks an diesen suggestiven Titel anlehnt; vgl. A. Ferretti, Bann non fu Weimar: cesure, modemizzazione e scelta occidentale della Bundesrepublik nella storiografia degli anni Novanta, in: Ricerche di storia politica, 3 (2000), S. 391405.

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II. Schwerpunkte der Forschung Die Bedeutung, die man der Entwicklung des Parteiensystems für die politische Entwicklung der Bundesrepublik zumaß, spiegelt sich auch in der Forschungslandschaft wider, die aufgrund der Matetialfülle inzwischen ausgesprochen unübersichtlich geworden ist. Waren es zunächst vor allem Politikwissenschaftler und Soziologen, die sich mit den politischen Par­ teien der zweiten deutschen Demokratie beschäftigten - und dabei mitunter die historische Dimension zugunsten zeitnaher Strukturanalysen vernach­ lässigten-, so interessierten sich seit den siebziger Jabren zunehmend auch die Historiker für dieses Forschungsfeld. Daß die Zeitgeschichte erst vergleichsweise spät auf den Plan trat, obwohl sie bereits wertvolle Beiträge zur Erforschung des politischen Systems und der Parteienlandschaft der ersten deutschen Demokratie geleistet hatte, ist vor allem auf zwei Ursachen zurückzuführen. Zum einen wurde die Geschichte der Nachkriegszeit im allgemeinen und der Bundesrepublik im besonderen erst relativ spät als Forschungsfeld entdeckt, und zum anderen dauerte es aufgrund der Sperrfristen seine Zeit, bis das Schriftgut in den staatlichen Archiven von den Historikern ausgewertet werden konnte, ganz zu schweigen von den Quellenbeständen der Parteien selbst, die erst nach und nach in eigenen Archiven gesammelt und der Forschung zur Verfügung gestellt wurden'. Normalerweise sind es die Mächtigen und Erfolgreichen, für die sich Histo­ riker und Sozialwissenschaftler besonders interessieren. Bei der Erforschung des Parteiensystems der Bundesrepublik verhielt es sich jedoch - erstaunlich genug- etwas anders'. So rückten schon früh die 1952 und 1956 vom Bundes­ verfassungsgeticht verbotenen Antisystemparteien Sozialistische Reichspartei7 (SRP) und Kommunistische Partei Deutschlands' (KPD) ins Zentrum des ' Die Archive sind zumeist parteinahen Stiftungen angegliedert: das Archiv für Christlich-Demokratische Politik (CDU) in Sankt Augustio bei Bonn der Konrad­ Adenauer-Stiftung http://www-kas.de, das Archiv für Christlich-Soziale Politik (CSU) in München der Hanns-Seidel-Stiftung (http:www.hss.de), das Archiv der sozialen Demokratie (SPD) in Bonn der Friedrich-Ebert-Stiftung (http://www.fes.de) und das Archiv des Liberalismus (FDP) in Gummersbach der Friedrich-Naumann-Stiftung (hup:www.fnst.de).

' Vgl. R. Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969, 4. Auf!., München 2000, S. 193. 7 Vgl. 0. Büsch I P. Furth, Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland. Stu­ dien über die .Sozialistische Reichspartei" (SRP), (Schriften des Instituts für politische WISsenschaft, 9) Berlin 1957.

' Vgl. H. Kluth, Die KPD in der Bundesrepublik. Thre politische Tätigkeit und Organisation 1945-1956, Köln 1956; als neuere Darstellung sei genannt: P. Major, The Death of the KPD. Communism and Anti-communism in West-Germany 1945-1956,

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Interesses. Dann widmeten sich zahlreiche Arbeiten den kleineren, oft regio­ nal oder an bestimmte soziale Gruppen gebundenen Parteien, die zwischen 1946 und 1961 eine nicht zu unterschätzende Rolle im politischen Geschehen Westdeutschlands spielten, dann aber eine nach der anderen dem unaufhalt­ samen Konzentrationsprozeß der fünfziger Jabre zum Opfer fielen. Dazu zählten die Deutsche Partei' (DP) im Norden und die Bayernpartei10 (BP) im Süden der Republik, die - wie das katholische Zentrum" - überwiegend von der Union aufgesogen wurden, der es nach anfänglichen Schwierigkeiten zunehmend gelang, ihr Potential als integrierende politische Kraft jenseits von Region, Koufession oder Stand zu entfalten. Die Wählerschaft der zabllosen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, die sich zunächst vor allem dem Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE), aber im Zuge einer kurzen und turbulenten Geschichte auch einer Protestbewegung wie der Wirtschaft­ Iichen Aufbau-Vereinigung (WAV)13 angeschlossen hatte, mußten sich die Unionsparteien dagegen mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) teilen. Von den vier Parteien, die das Gesicht der Bundesrepublik in besonderem Maße prägten, ist die SPD zweifellos die ttaditionsreichste. Die Sozialdemokratie war sich ihrer langen Geschichte auch stets bewußt, und es liegt wohl nicht zuletzt daran, daß mit der Studie von Kurt Klotzbach bereits relativ früh eine urufassende und quellengesättigte Studie über die Programmatik, Politik und Organisation der SPD zwischen 1945 und 1965 vorgelegt werden konnte, die noch heute als Standardwerk gelten muß14• In den IetztenJahren waren es vor

Oxford 1997. Mittlerweile liegen auch mehrere Regionalstudien vor; vgl. z.B. K.]. Becker, Die KPD in Rheinland-Ffalz 1946-1956, Mainz 2001. 9 Vgl. H. Meyn, Die Deutsche Partei. Entwicklung und Problematik einer national­ konservativen Rechtspartei nach 1945, Düsseldorf 1965; I. Nathusius, Am rechten Rande der Union. Der Weg der Deutschen Panei bis 1953, Dissertation Mainz, 1992. " Vgl. I. Unger, Die Bayernpartei. Geschichte und Struktur 1945-1957, Sturtgart 1979; zur erbitterten Auseinandersetzung mit der CSU um die Führungsrolle in Bayern vgl. K. Wolf, CSU und Bayernpanei. Ein besonderes Konkurrenzverhältnis, 1948-1%0, 2. Aull., Köln 1984. 11 Vgl. U. Schmidt, Zentrum oder CDU. Politischer Katholizismus zwischen Tra­ dition uod Aopassuog, Opladen 1987. 12 Vgl. F. Neumann, Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten 19501960. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur einer politischen Interessenpartei, Meisenheim am Glan 1968. 13 Vgl. H. Woller, Die Loritz-Partei. Geschichte, Strnktur uod Politik der Wirt­ schaftlichen Anibau-Vereinigung (WAV) 1945-1955, Stuttgart 1982. 14 Vgl. K. Klotzhach, Der Weg zur Staatspartei. Progranunatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin I Bonn 1982; als Überblick vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Wiedervereinigung außerdem zu empfehlen: P. Lösche I F. Walter, Die SPD: Klassenpartei-Volkspartei-Quotenpartei.

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allem breit angelegte politische Biographien prominenter Sozialdemokraten wie Willy Brandt" und Carlo Schmid16 sowie Regionalstudien zum sozialdemokra­ tischen Milieu zwischen Erosion und Transformation", die unsere Kenntnisse über die Geschichte der SPD wesentlich erweitert und die innovative Kraft dieses Zugriffs unter Beweis gestellt haben. Von den in den siebziger und frühen achtziger Jahren erschienen Arbeiten Geschichte der Unionsparteien reichten -was analytische Tiefenschärfe, interpretatorische Reichweite und empirische Dichte angeht - lediglich die Untersuchungen des Soziologen Alf Mintzel zur Entwicklung der Christ­ lich-Sozialen Union (CSU) in Bayern an die Studie Klotzbachs heran18• Dies führte lange zu der beinahe paradoxen Situation, daß über die Geschichte und Sttukrur der bayerischen Unionspartei wesentlich mehr wissenschaftlich gesicherte Kenntnisse vorlagen" als über die erheblich größere und bundes­ politisch einflußreichere Christlich-Demokratische Union (CDU). Was vor allem fehlte, war eine Synthese, die die einzelnen Bausteine zur Geschichte von Programmatik und Organisation sowie die zahlreichen Lokal- und Regio­ nalstudien zusammengefügt härte'0• Nachdem die allzu parteinahe Darstellung zur

Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigong, Darn18tadt 1992. " Vgl. P. Merseburger, Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist, Stuttgart I München 2002. " Vgl. P. Weber, Carlo Schntid 1896-1979. Eine Biographie, München 19%. Caslo Schntid (1896-1979),Jurist, Politologe und Politiker, nach 1945 verschiedene hohe Ämter in der Regierung des Landes Württemberg-Hohenzollern, 1948/49 MdPR (SPD) und Vorsitzender des Hauptausschusses, 1949-1972 MdB (SPD), 1966-1%9 Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrats und der Länder. Zu den in den biographischen Informationen verwendeten Abkürzungen: MdL Mitglied des Landtags, MdPR Mitglied des Pariamentatischen Rats, MdR Mitglied des Reichstags, MdB Mitglied des Bundestags. =

=

=

=

17 Vgl. D. Süß, Kumpel und Genossen. Arbeiterschaft, Betrieb und Sozialdetnokratie in der bayerischen Montanindustrie 1945 bis 1976, München 2003;]. Balcar, Politik auf dem Land. Studien zur bayerischen Provinz 1945 bis 1972, München 2004.

18 Vgl. A. Mintzel, Die CSU. Anatomie einer konservativen Pattei 1945-1972, Opladen 1975; ders., Geschichte der CSU. Ein Überblick, Opladen 1977; ders., Die CSU­ Hegemonie in Bayern. Strategie und Erfolg, Gewinner und Verlierer, Passau 1999.

" Vgl. auch T. Schlemmer, Die aufsässige Schwester. Forschungen und Quellen zur Geschichte der Christlich-Sozialen Union 1945-1976, in: Historisch-Politische Mittei­ lungen der Konrad-Adenauer-Stiftung, 6 (1999), S. 287-324; ders., Zwischen Tradition und Traditionsbildung. Die CSU auf dem Weg zur Hegemonialpartei 1945 bis 1976, in: Mitteilungshefte des Instituts für Soziale Bewegungen, 24 (2000), S. 159-180. 20 Vgl. z.B. D. Buchhaas, Die Volkspartei. Programmatische Entwicklung der CDU 1950-1973, Düsseldorf 1981; W: Schönbohm, Die CDU wird moderne Volkspartei. Selbstverständnis, Mitglieder, Organisation und Apparat 1950-1980, Stuttgart 1985; H. Heitzer, Die CDU in der britischen Zone 1945-1949. Griindung, Organisation, Progranun und Politik, Düsseldorf 1988.

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Hans-Otto Kleirunanns wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügte21, blieb die zweibändige Biographie Konrad Adenauers aus der Feder von Hans­ Peter Schwarz auch die fundierteste historische Darstellung zur Geschichte der CDU". Erst Frank Bösch hat 2001 mit einer umfassend recherchierten Gesamtdarstellung den großen Wurf gewagt, wobei er sich - allerdings auf Kosten der Arbeit der Fraktionen im Bundestag und in den Landtagen sowie des schwierigen Bündnisses mit der bayerischen Schwester - vor allem darauf konzentriert hat, den inneren Aufbau der Partei und die Mechanismen der letztlich so erfolgreichen Sammlungspolitik nachzuzeichnen". Die Freie Demokratischen Partei (FDP) konnte sich gegen diese tödliche Umarmung zur Wehr setzen und behauptete sich als einzige von den bür­ gerlichen Parteien der ersten Nachkriegsjahre zwischen der Union und der SPD. Die strategische Schlüsselposition, die den Liberalen im Parteiensystem der Bundesrepublik zuwuchs, spiegelt sich in der Forschung allerdings nur begrenzt wider. Die Gesamtdarstellungen sind entweder älteren Datums oder vernachlässigen die historische Dimension"; auch Regionalstudien, Biographien oder- sieht man vom Themenfeld Deutschlandpolitik einmal ab" - problem­ orientierte Monographien sind vergleichsweise selten26• Dieser summarische Überblick soll nicht ohne einen ebenso kurzen wie subjektiven Wegweiser durch den Dschungel der Forschung enden. Wer sich allgemein über die politische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland aus sozialwissenschaftlicher und historischer Perspektive informieren möchte, sei auf die beiden facettenreichen Sammelbände von Max Kaase und Günther 21 Vgl. H.-0. Kleinmann, Geschichte der CDU 1945-1982, Stuttgart 1993. 22 Vgl. H.-P Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, 2. Auf!., Stuttgart 1986; ders., Adenauer. Der Staatsmann: 1952-1%7, Stuttgart 1991. " Vgl. F. Böseh, Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgs­ partei 1945-1969, Stuttgart I Müochen 2001; ders., Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart I Müochen 2002. 24 Vgl. ].M. Gutscher, Die Entwickluog der FDP von ihren Anfängen bis 1%1, Meiseoheim am Glan 1967;]. Dittberner, FDP- Partei der zweiten Wahl. Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Partei und ihrer Funktionen im Parteiensystem der Bun­

desrepublik, Opladen 1987.

R.

" Vgl. M. Schmidt, Die FDP und die deutsche Frage 1949-1990, Müoster 1995; Hübsch I]. Frölich (Hrsg.), Deutsch-deutscher Liberalismus im Kalten Krieg. Zur

Deutschlandpolitik der Liberalen 1945-1970, Potsdam 1997.

26 Vgl. K. Schröder, Die FDP in der britischen Besatzungszone 1946-1948. Ein Beitrag zur Organisationsstruktur der Liberalen im Nachkriegsdeutschland, Düsseldorf 1985; D. Hein, Zwischen liberaler Milieupartei und nationaler Sammlungsbewegung. Gründung, Entwickluog und Struktur der Freien Demokratischen Partei 1945-1949, Düsseldorf 1985; K. -]. Matz, Reinhold Maier (1889-1971). Eine polirische Biographie, Düsseldorf 1989; U. Wengst, Thomas Dehler 1897-1967, Müochen 1997.

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Schmid sowie von Thomas Eilwein und Everhard Holtmann verwiesen27• Wer sich intensiver mit den Wahlen und dem Wahlrecht beschäftigen will, wird bei Gerhard A. Ritter und Merith Niehuss beziehungsweise bei EckhardJesse fündig"'. Und wer sich mit der Geschichte der Parteien selbst auseinandersetzen möchte, kommt auch heute noch nicht am von Richard Stöss herausgegebe· nen ,Parteien-Handbuch" vorbei", das jedoch nicht mehr auf dem neuesten Stand ist und eine Überarbeitung nötig hätte. Neueren Datums sind dagegen die gelungenen Sammelbände von Alf Mintzel und Heinrich Oberreuter beziehungsweise von Oskar Niedermayer und Richard Stöss, die kompetent und kompakt über die wichtigsten politischen Parteien der zweiten deutschen Demokratie berichten".

m. Zwischen Besatzungsherrschaft und Parteiendemokratie der politische Neubeginn 1945 bis 1949 Während es in Italien über Krieg und Faschismus hinaus eine gewisse Kontinuität der Institutionen gab, führte die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches im Mai 1945 zu einem Vakuum. Dieses Vakuum füllten die Alliierten aus, die vier Wochen nach Kriegsende mit der .Berliner Erklätung" die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernahmen. Die Situation in Italien unterschied sich noch in einem weiteren wichtigen Punkt von der Deutschlands: die Alliierten hatten das Land nicht in mehr oder weniger autonome Besatzungszonen aufgeteilt, die sie nach ihren eigenen Vorstellungen und Traditionen verwalteten. Diese beiden Faktoren -das Fehlen institutio­ neller Kerne und die Teilung des Landes -können in ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung kaum überschätzt werden: Denn sie verschafften erstens-Neuansätzen einen strategischen Vorsprung vor zählebigen Tradi­ tionen, beschränkten - zweitens - deutsche Initiativen auf kleinere Räume unterhalb der gesamtstaatlichen Ebene, wodurch frühzeitige Festlegungen 27 Vgl. M. l.VJase I G. Schmid (Hrsg.), Eine lernende Demokratie. 50 Jahre Bun­ desrepublik Deutschland, Berlin 1999; T Eilwein I E. Holtmann (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen, Entwicklungen, Perspektiven, Opladen 1999.

28 Vgl. GA. Rüter IM. Niehuss, Wahlen in Deutschland 1946-1991. Ein Handbueb, Müneben 1991; E. ]esse, Wahlreebt zwiseben Kontinuität und Reform. Eine Aoalyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1983, Düsseldorf 1985. " Vgl. R. Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, 2 Bde., Opladen 1983184. " Vgl. A. Mintzel IH. Ohmeuter (Hrsg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutseb­ land, Bonn 1990; 0. Niedermayer I R. Stöss (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Parteienforsebung in Deutschland, Opladen 1993.

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verhindert wurden, und ermöglichten es - drittens -, daß sich die französische, aber vor allem die sowjetische Besauungszone von den Teilen Deutschlands abkoppdten, die unter anglo-amerikanischer Herrschaft standen". So wurden die amerikanischen, britischen und französischen Militärbehör­ den im Juni 1945 von der Ankündigung ihrer sowjetischen Kollegen überrascht, in ihrer Zone politische Parteien zuzulassen. Obwohl sie diese Maßnahme für verfrüht hidten und kurz vorher noch die Arbeit antifaschistischer Aktionskomi­ tees unterbunden hatten, fühlten sich die Militärregierungen in den West2onen genötigt, ihrerseits die Griindung politischer Parteien zu gendunigen, ohne jedoch den besiegten Deutschen freie Hand zu lassen. Das widersprüchliche .Doppelzid" der Amerikaner, Briten und Franzosen, .einer demokratischen Entwicklung Raum zu geben und sie doch auch unter Kontrolle zu halten"32, führte zu einem aufwendigen, teils mehrstufigen System der Lizenzierung. Es erübrigt sich fast zu sagen, daß es das oberste Zid dieser Lizenzierungspolirik war, nationalsozialistische, militaristische, reaktionäre und revanchistische Einflüsse auszuschalten und nur Parteien zuzulassen, deren Programme und Personal eine demokratische Entwicklung zu gewährleisten schienen. Die Lizenzierungspraxis reflektierte aber auch historische Erfahrungen und setzte darauf, nur wenige Parteien zuzulassen, um so eine Neuauflage Weimarer Verhältnisse" auszuschließen". •

Am konsequentesten hidten sich die Sowjetische Militäradministration34 und die französische Militärregierung'' an diesen Grundsat2, die 1945/46 mit der

" Vgl. dazu die fast schon klassische Gesamtdarstellung von T Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945-1949, Stuttgart IWiesbaden 1983; schnell greifbare Informationen finden sich bei W. Benz (Hrsg.), Deutschland unter alliiertet Besatzung 1945-1949/55. Ein Handbuch, Berlin 1999, fundierte Überblicke über den demokratischen Neubeginn unter alliiertet Herrschaft dagegen bei H. Oberreuter I]. Weber (Hrsg.), Freundliche Feinde? Die Alllierten und die Demokratiegründung in Deutschland, München 1996. " P Graf Kielmannsegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 86.

" Zu Praxis in der US-Zone vgl. H. Woller, Loritz·Partei, S. 11-21, sowie ders., Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth, München 1986, S. 166-198. "

Zur sowjetischen Besatzungspolitik vgl. N.M. Naimark, The Russians in Gennany.

A History of the Soviet Zone of Occupation 1945-1949, 2. Aufl., Cambridge MA u.a.

1996;]. Foitzik, Sowjetische Militärathninistration in Deutschland (SMAD) 1945-1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999. " Zur ambivalenten französischen Besatzungspolitik vgl. K.-D. Henke, Politik der Widersprüche. Zur Charakteristik der französischen Militärregierung in Deutsch­ land nach dem Zweien Weltkrieg, in: Vierteljahrshefte fös Zeitgeschichte, 30 (1982), S. 500-537; S. Martens, Vom .Erbfeind" zum .Erneueres". Aspekte und Motive der französischen Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, Sigmaringen 1993; S. Zauner, Erziehung und Kultunnission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945-1949, München 1994.

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CDU, der SPD, der KPD und einer liberalen Partei jeweils nur vier Gruppie­ rungen zuließen. Etwas großzügiger waren die zuständigen Behörden in der US-Zone'', wo neben diesen vier Parteien in Bayern mit der Wirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung eine weitere Partei lizenziert wurde, die sich unter der Führung des Demagogen Alfred Loritz zu einem Auffangbecken sozialen Protests entwickeln sollte. Am ehesten waren die Briten bereit", regional oder konfessionell verankerten Gruppierungen die politische Betätigung zu gestat­ ten und so einer stärkeren Auffächerung der Paneienlandschaft Vorschub zu leisten; neben den vier Parteien, die sich auch in den anderen Zonen konsti­ tuien hatten, lizenziene die britische Militärregierung mit dem Zentrum eine dezidien katholische Panei und mit der Niedersächsischen Landespanei (aus der später die Deutsche Partei wurde) eine bürgerliche Gruppierung, deren Wurzeln im Territorium des 1866 von Preußen annektienen Königreichs Hannover lagen. In den drei Westzonen schälten sich bis 1947 bereits die Konturen des Parteiensystems heraus, das die Polirik der Bonner Republik prägen sollte, auch wenn seine Ausformung und Stabilisierung noch mehr als zehn Jahre dauern sollte, wie wir sehen werden. Betrachtet man die Paneienlandschaft der Besatzungszeit genauer, so fallen Kontinuitäten und Diskontinuitäten glei­ chermaßen auf. Man erkennt die Umrisse des Grundmusters wieder, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundens herausgebildet hatte'' und das erst mit dem Aufstieg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) zur revolutionären Volkspanei in seinen Grundfesten erschütten wurde''. Den linken Flügel besetzten dabei Kommunisten und Sozialdemokraten, die sich jedoch aller Bemühungen um Zusammenarbeit zum Trotz, die es in der " Zur Konzeption und Umsetzung der amerikanischen Politik vgl. H.-J. Rupieper, Der besetzte Verbündete. Die amerikacisehe Deutschlandpolitik 1945-1955, Opladen 1991; ders., Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikacisehe Beitrag 1945-1952, Opladen 1993; C. Weisz (Hrsg.), OMGUS-Handbuch. Die ametika­ nische Militärregierung in Deutschland 1945-1949, München 1994; K.-D. Henke, Die ametikanische Besetzung Deutschlands, München 1995. " Zur Konzeption und Praxis britischer Besatzungspolitik vgl. J. Foschepoth I R. Steininger (Hrsg.), Die britische Deutschland- und Besatzungspolitik 1945-1949, Paderbom 1985; L. Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung wähsend des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 1989; I.D. Turner (Hrsg.), Reoonstruction in Post-was Gennany. British Occupation Policy in the Western Zones 1945-1955, Oxford u.a. 1989; A.M. Birke u.a. (Hrsg.), Britische Besatzung in Deutschland. Aktenerschließung und Forschungsfelder, London 1992. " V gl. E. ]esse, Paneien in Deutschland. Ein Abriß der historischen Entwicklung, in: A. Mintzel I H. Oberreuter (Hrsg.), Paneien in der Bundesrepublik, S. 40-83, hier s. 47-56. " Zur Geschichte der NSDAP vgl. M.H. Kllter, The Nazi Party. A Social Profile of Members and Leaders, 1919-1945, 2. Auf!., Oxford 1985; J. W. Falter, Hitlers Wähler,

München 1991.

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unmittelbaren Nachkriegszeit im Zeichen des Antifaschismus gegeben hatte, feindselig gegenüberstanden". Die Linksliberalen und die Nationalliberalen bemühten sich dagegen darum, die historische Spaltung des Liberalismus in zwei konkurrierende und sich gegenseitig schwächende Lager zu überwinden. Der Preis der Einheit war jedoch die Geschlossenheit, und so rang die neue Freie Demokratische Partei um den richtigen Weg zwischen national· und linksliberalen Positionen, wobei sich im ersten Nachkriegsjahrzehnt wiederholt der rechte Flügel durchsetzen konnte". Siebt man von der in der britischen Besatzungszone wieder gegriindeten Zenttumspartei42 ab, die aber in keiner Weise an die große Tradition des Zentrums vor 193 3 anzuknüpfen vermochte, fehlte eine Repräsentantin des einflußreichen politischen Katholizismus. Denn dessen Vertreter hatten sich in ihrer überwiegenden Mehrheit dafür entschieden, das Experiment einer chrisdich-interkonfessionellen Sammlungspartei auf der Basis einer engen Zusammenarbeit zwischen katholischen und evangelischen Christen zu wagen, die in dieser Form in der Weimarer Republik noch undenkbar gewesen wäre. Allerdings wurde die Griindung der Union von heftigen Geburtsweben begleitet, und die Friihgeschichte dieser Partei ist von schmerzhaften Integrationspro­ zessen gekennzeichnet", die immer wieder in heftige Flügelkämpfe ausarten konnten. Die Fronten in diesen Auseinandersetzungen verliefen etwa zwi­ sehen sozial engagierten Verttetern der christlichen Arbeiterbewegung und urspriinglich Deutschnationalen aus dem Großbürgertum, zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Verfechtern eines .christlichen Sozialismus" und Repräsentanten einer dezidiert bürgerlich-konservativen Programmatik" oder endang regionaler Scheidelinien. Gerade der historisch bedingte Gegensatz zwischen Nord und Süd war so stark, daß sich in Bayern unter dem Namen 40 V gl. F. Moraw, Die Parole der .Einheit" und die Sozialdemokratie, 2. Auf!., Bann 1990; zur antikommunistischen Orientierung des SPD-Vorsitzenden vgl. P. Merseburger, Der schwierige Deutsche: Kurt Schumacher. Eine Biographie, Sruttgart 1995; zu den Konflikten in der ehemaligen Hauptstadt des Deutschen Reiches vgl. G. Gruner IM. Wilke (Hrsg), Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit. Die Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD in Berlin 1945146, München 1981; zu den Initiativen von KPD und SED vgl. W Müller, Die KPD und die .Einheit der Arbeiterklasse". Die Bemühungen von KPD und SED um die Bildung einer sozialistischen Einheitspartei in den Westzonen Deutschlands 1945-1948, Frankfurt a.M. I New York 1979. 41 V gl. J. Dittberner, Die Freie Demokratische Partei, in: R. Stöss (Hrsg.), Parteien­ Handbuch, Bd. 2, S. 1311-1381. 42 Vgl. U. Scbmidt, Die Deutsche Zentrumspartei, in: R. Stöss (Hrsg.), Parteien­ Handbuch, Bd. 1, S. 1192-1242, hier insbesondere S. 1198-1208. 43

Vgl. dazu allgernein F. Bösch, Die Adenauer-CDU, S. 21-83, S. 109-138.

V gl. F. Pocke, Sozialismus aus christlicher Verantwortung. Die Idee eines Christli­ chen Sozialismus in der katholisch-sozialen Bewegrmg und in der CDU, Wuppertal 1981; R. Uertz, Christenrum und Sozialismus in der frühen CDU. Grundlagen und Wrrkrmgen der christlich-sozialen Ideen in der Union 1945-1949, Sruttgart 1981. 44

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Christlich-Soziale Union ein eigenständiger Zweig der Union konstituieren und bis heute erfolgreich behaupten konnte". Dennoch muß die Gründung der Union mit Blick auf die Patteienlandschaft als eigentliche Innovation gelten. Der Soziologe Maria Rainer Lepsius hat sogar davon gesprochen, man könne die .außerordentliche Strukturbedeutung der Gründung der [Union] gar nicht genug" hervorheben; sie sei .gewissermaßen die Überwindung der polirischen Folgen des westfälischen Friedens" von 1648 mit seinen starren Konfessionsgrenzen gewesen46, die den Gang der deutschen Geschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts nicht unwesentlich beeinflußt haben. Daß die Union nicht an ihren inneren Spannungen zerbrach, hatte mehrere Gründe, die hier nicht alle referiett werden können. Es sei nur darauf hingewiesen, daß gerade die Unionspatteien von der eher zurückhaltenden Lizenzierungspraxis der Besatzungsmächte profitietten. Reine Interessenpar­ teien, die etwa das Millionenheer der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen hätten mobilisieren können, hatten ebensowenig eine Chance, von den zustiindigen Militärbehörden anerkannt zu werden, wie national-konservative Parteien, die einst das fünfgliedrige Grundmuster der deutschen Parteienlandschaft komplet­ tiett hatten. Nach der Zerstörung der Weimarer Republik und der Herrschaft der Nationalsozialisten waren das Gedankengut und das Personal der alten konservativen Parteien zu diskreditiett, um an ihre Vergangenheit anknüpfen zu können. Zudem hatte der deutsche Konservatismus mit der Abtrennung der preußischen Ostgebiete und der Enteignung von Großgrundbesitzern in der Sowjetischen Besatzungszone einen erheblichen Teil seiner sozialen Basis verloren". Das heißt mit anderen Watten: CDU und CSU blieben durch die Lizenzierungspraxis der Besatzungsmächte zunächst weitgehend von gefähr­ licher Konkurrenz verschont. Die bayetische CSU ist mit Blick auf die Rolle der Militärregierung sogar als besatzungspolitisch verordnete bürgerliche Integrationspartei" bezeichnet worden48• •

Das Fehlen einer nationalen Rechten -deren Reste versuchten, sich in der Union, aber vor allem in der FDP und in der Deutschen Partei" zu organi" V gl. dazu ausführlich T Schlemmer, Aufbruch, Krise und Erneuerung. Die Christlich-Soziale Union 1945-1955, München 1998. " SoM.R. Lepsius in seinem Beitrag für: Nachkriegsgesellschaften im historischen Vergleich. Großbritannien, Frankreich, Bundesrepublik (Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte), München I Wien 1982, S. 33-39, hier S. 39. " Diesen Konrinuitätsbruch hebt G.A. Ritter, Über Deutschland, S. 18, zu Recht besonders hervor. 48 V gl. A. Mintzel, Regionale polirische Traditionen und CSU. Hegemonie in Bayern, in: D. Oberndörfer IK Schmitt (Hrsg.), Parteien und regionale Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 125·180, hier S. 142.

" Vgl. H.W. Schmollinger, Die Deutsche Pattei, in: R. Stöss (Hrsg.), Patteien­ Handbuch, Bd. 1, S. 1025-1111, hier insbesondere S. 1042-1048 und S. 1067-1077.

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sieren - gehörte zweifellos zu den wichtigsten Diskontinuitäten im deutschen Parteiensystem der ersten Nachktiegsjahre. Zu den Kontinuitäten zählt jedoch die Tatsache, daß sich die bedeutendsten Parteien, also die Sozialdemokratie und die Union, zunächst überwiegend als Repräsentanten von Weltanschauungen verstanden. Dieses Phänomen hat tiefe historische Wurzeln und zeitigte nach­ haltige politische Folgen. Das "politische Glaubensbekenntnis", so bilanzierte T homas Nipperdey daher, sei "eine deutsche Figur" geblieben; die Parteien neigten "zum Doktrinären", politische Auseinandersetzungen tendierten "leicht zum Kampf um letzte Überzeugungen"". Der Fesdegung einzelner Parteien auf bestimmte ideologische Konstrukte entsprach ihre Rückbindung an bestimmte mehr oder weniger gegeneinander abgeschottete soziale Milieus", von denen das sozialdemokratische Arbeiter­ milieu und das katholische Milieu am bekanntesten sind. Daß die Bindung an weltanschauliche Überzeugungen und soziale Milieus nach 1945 jedoch nicht wieder zu denselben Handlungs- und Entscheidungsblockaden führte, die sich in der Weimarer Republik vielfach beobachten lassen, ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen. Der erste Faktor ist sozialstruktureller, der zweite erfahrungsgeschichtlicher Art. Auf der Sozialstrukturellen Ebene ist zu kon­ statieren, daß die Milieus durch Diktatur und Krieg erschüttert worden sind und ihre Integrationskraft nachließ". Und auf der erfahrungsgeschichtlichen Ebene muß man feststellen", daß der unmittelbare Eindruck der nationalsozia­ listischen Gewaltherrschaft'' bei den Trägern des polirischen Neubeginns über

" T Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1806. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 378. " V gl. dszu den grundlegenden Aufsatz von M.R Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problern der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 25-50. 52 V gl. neben der monumentalen Studie von W. Damberg, Abschied vom Milieo? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945-1980, Faderhorn u.a. 1997, die Aufsätze von C. Kleßmann, Kontinuitäten und Veränderungen im protestan­ tischen Milieo, sowie K. Gabriel, Die Katholiken in den 50er Jahren: Restauration, Modemisierung und beginnende Auflösung eines koufessionellen Milieos, beide Beiträge in: A. Schildt IA. Sywottek (Hrsg.), Modenrisierung im Wu:deraufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50erJahre, Bonn 1993, S. 403-417 und S. 418-430, sowie]. Mooser, Ar­ heiterlehen in Deotschland 1900-1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt a.M. 1984, sowieS. Goch, Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im Ruhr­ gebiet. Eine Untersuchung am Beispiel Gelsenkirchen 1848-1975, Dösseidorf 1990.

" V gl. dazu M. BrosZtJt IK.-D. Henke IH. Woller, Einleitung zu: M. BrosZtJt IK.-D. Henke IH. Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deotschland, München 1988, S. XXV-XLIX. ,_, V gl. dazu für die Union den Aufsatz von M. MiteheI!, Materialism and Secular­ ism: CDU Politicians and National Socialism 1945-1949, in: The Journal of Modern History, 67 (1995), S. 278-308.

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die Milieu- und Parteigrenzen hinweg einen an demokratischen Grundrechten orientierten Basiskonsens begünstigt hat, der als Gegengewicht zu den zum Teil massiven Differenzen in Sach&agen wirkte. Über die Krä&everhältnisse und die Akzeptanz der neu- oder wieder gegriin­ deten Parteien bei der Bevölkerung in den drei Westzonen ließ sich freilich erst nach den Kommunal- und Landtagswahlen der Jahre 1946 und 1947 etwas sagen''. Nimmt man die Ergebnisse der Landtagswahlen als Maßstab (in den elf Ländern der Westzonen ohne das Saarland und Berlin), so zeigt sich, daß Wähler und Parteien diese erste Bewährungsprobe bestanden haben. Bei einer Wahlbeteiligung von etwa 70% kamen die Kommunisten auf 11,8% und die Liberalen auf 9,3% der Stimmen. Die Ergebnisse von Union und Sozialde­ mokratie hielten sich in etwa die Waage; die im Süden und Westen stärkere Union kam auf 37,7% der Stimmen, die im Norden erfolgreichere SPD auf 35%". Vor allem für die Sozialdemokraten mußten diese Resultate enttäu­ schend sein, waren sie doch mit ihrem Parteivorsitzenden Kurt Schumacher'7 davon überzeugt gewesen, daß der "Sozialismus auf der Tagesordnung" stehe". Außerdem harten sie gehofft, von den Wählern aufgrund ihrer Tradition und ihres Widerstands gegen die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur ein eindeutiges Mandat für den Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens zu erhalten. Aber auch in der Union war man nicht recht zufrieden, da man vor allem in den protestantischen Regionen mit mehr Unterstützung ge­ rechnet hatte. Vergleicht man diese Zahlen aber mit den Ergebnissen der Reichstagswahlen zwischen 1919 und 1933", so zeigt sich eine bislang unbekannte Konzentration der W ählerstimmen auf zwei große Parteien. Zugleich ergibt sich, daß die SPD zwar nahe an ihr bestes Resultat von 1919 (37,9%) herangekommen war, aber keinen strategischen Durchbruch hatte erzielen können, obwohl sie ihre Möglichkeiten offensichtlich ausgeschöpft hatte. Dagegen waren die Perspek55 Vgl. dazu Beispiele aus dem Süden Deutschlands bei W Benz, Parteigründungen und erste Wahlen. Der Wiederbeginn des politischen Lebens, in: W Benz (Hrsg.), Neu­ aofang in Bayern 1945-1949. Politik uod Gesellschaft in der Nachkriegszeit, München 1988, s. 9-35.

" Vgl. G.A. Ritter IM. Niehuss, Wahlen in Deutschland, S. 84; detaillierte Wahl­ ergebnisse finden sich ebenda, S. 146-149. ,., Kurt Schumacher (1895-1952),Politiker, 1924-1931 MdL (SPD) in Württemberg, 1930-1933 MdR (SPD), 1933-1943 uod 1944 Konzentrationslagerhaft, 1946-1952 Par­ teivorsitzender der SPD, 1949-1952 MdB (SPD). " Zitiert nach S. Heimann, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: R. Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch, Bd. 2, S. 2025-2216, hier S. 2042. " Zur Wahlgeschichte der Weimarer Republik vgl. ausführlich J. W Falter I T. Lindenherger IS. Schumann, Wahlen und Abstinunungen in der Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1919-1933, München 1986.

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tiven der Union trotz ihrer Probleme im protestantischen Raum gut; sie hatte nicht nur die katholischen und evangelischen Parteien der Weimarer Republik weit überflügelt, sondern io drei Ländern (Baden, Bayern und Württemberg­ Hohenzollern) sogar die 50%-Marke übersprungen und damit ihr Potential als strukturell mehrheitsfähige Partei angedeutet.

IV, Die Bonner Republik uod ihr Parteiensystem 1949 bis 1961

Trotz dieser Ansätze für ein überschaubares Parteiensystem mit zwei domi­ nanten Gruppierungen als klaren Alternativen war die Situation offen und die weitere Entwicklung nicht vorhersehbar. Zu groß war die politische und öko­ nomische Unsicherheit, zudem stand die Frage im Raum, wie verantwortungs­ bewußt die Deutschen handeln würden, wenn die alliierten Militärregierungen die Kontroll- und Botscheidungsbefugnisse zurück io ihre Hände gelegt hatten. Erste Indizien dafür ergaben sich bereits 1948/49 im Vorfeld der Gründung der Bundesrepublik, als die Besatzungsbehörden ihre Lizenzierungspraxis zu lockern beganneo60• Schon zu diesem Zeitpunkt zeigte sich, daß das Parteiensystem der ersten Nachkriegsjahre auf wackeligen Beineo stand. Vor allem traditionelle Spannungen zwischen Koufessioneo und Regionen schienen ebenso wie alte politische Konfliktlagen wieder an Bedeutung zu gewinnen. Der langsam einset­ zende Desiotegrationsprozeß traf vor allem die Union, deren ionere Biodekräfte noch nicht ausreichten, um den Verlust des Schutzschirms zu kompensieren, den die alliierten Militärregierungen zwischen 1945 und 1948 um sie gelegt hatten. Die junge Sammlungspartei war programmatisch und organisatorisch noch nicht gefestigt genug, um verbiodem zu können, daß das Parteiensystem vor allem am rechten Rand sichtlich .ausfranste". Die Union verlor Mitglieder und Wähler vor allem an konservative Regionalparteien wie die Bayernpartei oder an deutschnationale beziehungsweise rechtsextreme Gruppierungen wie die Deutsche Konservative Partei/Deutsche Rechtspartei61 (DKP/DRP); zudem stand die Gründung eigener Flüchtlingsparteien im Raum, auch wenn diese von den Besatzungsbehörden noch bis 1950 verzögert wurde. Folgerichtig gelang bei der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 mehr Parteien der Sprung ios Parlament als zuvor bei allen Landtagswahlen 60 Zur beginnenden Desintegration des Parteiensystems der ersten Nachkriegs­ jahre vg). A. Mintzel, Der akzeptierte Parteienstaat, in: M. Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 74-94, hier S. 86 f. Die Analyse eines Fallbeispiels aus Bayern- der Konnnu­ nalwuhlen von 1948 - findet sich bei T. Schlemmer, Aufbruch, Krise und Erneuerung, s. 229-241. 61 Vgl. H. W. Schmollinger, Die deutsche Konservative Partei - Deutsche Rechts­ partei, in: R. Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch, Bd. I, S. 982-1024.

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seit 194662• Insgesamt hatten immerhin zehn Parteien mehr als fünf Prozent der Stimmen in einem Bundesland errungen und so die Sperrklausd des Wahlgesetzes überwunden. Wieder erwiesen sich die Unionsparteien (31 %) und die Sozialdemokratie (29,2%) als fast gleich stark; allerdings hatte ihre dominierende Stellung etwas gelitten, denn beide Parteien hatten gegenüber den Landtagswahlen der Jahre 1946 und 1947 empfindliche Stimmenverluste zu verzeichnen (die Union rund sieben, die SPD rund sechs Prozent) und vereinigten nur noch rund 60% der Stimmen auf sich; bei den Landtagswahlen der Jahre 1946 und 1947 waren es noch fast 73% gewesen. Von den restlichen Parteien, die in den Bundestag einzogen, konnte lediglich noch die FDP mehr als zehn Prozent der Stimmen gewinnen, die KPD, die Bayernpartei, die Deut­ sche Partei, die WAV, das Zentrum und die DKP/DRP landeten abgeschlagen bei Ergebnissen zwischen 5,7 und 1,8% der Stimmen. Angesichts dieser Parteienvidfalt und der unklaren Mehrheitsverhältnisse fühlten sich vide Beobachter unangenehm an die Weimarer Republik erinnert. Diese Analogie war nicht nur auf den Erfolg neuer Klein- und Splitterparteien zurückzuführen, sondern resultierte auch daraus, daß der Habitus und die Rhetorik der Spitzenpolitiker ebenso an die zwanziger und frühen dreißiger Jahre erinnerten wie die im Wahlkampf verwendete Ikonographie". Allerdings erschöpften sich die Gemeinsamkeiten nicht in Äußerlichkeiten. Wahlforscher sprachen nach einem Vergleich der Bundestagswahl vom August 1949 mit der Reichstagswahl vom Juli 1932 von einer .verblüffend hohen territorialen Stabilität der Parteien" und ermittdten eine Fortsetzung der .schon vor 1933 wirksamen Wahlmuster", die auf .das Weiterwirken der alten, hauptsächlich von der Konfession und der Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeit" bestimmten soziopolitischen Trennungslinien in der (west-)deutschen Gesellschaft hindeu­ ten". Jürgen W. Falter hat daher ernsthaft die Frage aufgeworfen, ob man die erste Bundestagswahl nicht als .letzte Wahl der Weimarer Ära" charakterisieren müsse. Angesichts der eindeutigen Diskontinuitäten wird man soweit nicht gehen können. Schließlich hatte sich die Union als interkonfessionelle Sammlungspartei trotz aller Schwächen und Probleme behaupten können, schließlich war die 62 Detaillierte Angaben finden sich bei G.A. Ritter IM. Niehuss, Wahlen in Deutschland, S. 84 und S. 100.

" Zur Geschichte der Wahlen und Wahlkämpfe in Deutschland vgl. T Kühne, Wahlrecht - Wahlverhalten - Wahlkultur. Tradition und Innovation in der historischen Wahlforschung, in: Archiv für Sozialgeschichte, 33 (1993), S. 481-547; G.A. Ritter (Hrsg.), Wahlen und Wahlkämpfe in Deutschland. Von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur Bundestepuhlik, Düsseldorf 1997; V. Hetterich, Von Adenauer zu Sehröder-der Kampf um Stinunen. Eine Längsschnittanalyse der Wahlkampagnen von CDU und SPD bei den Bundestagswahlen 1949 bis 1998, Opladen 2000.

64 J. W. Falter, Kontinuität und Neubeginn. Die Bundestagswahl 1949 zwischen Weimar und Bonn, in: Politische Vierteljabresschrift, 22 (1981), S. 236-263, hier S. 260; das folgende Zitat findet sich ebd., S. 236.

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Konzentration der Wählerstinunen auf die beiden wichtigsten demokratischen Kräfte SPD und CDU/CSU noch immer relativ hoch, und schließlich zeigte sich schon 1949 deutlich die Auflösung des ehemaligen .nationalen Lagers", an dem noch in der Weimarer Republik kaum ein Weg vorbei geführt hatte und das nun Zug um Zug von den demokratischen Parteien absorbiert oder ins politische Abseits gedrängt wurde". Die erste Bundestagswahl vollzog sich dantit in einem Spannungsfeld von Alt und Neu, wobei das schreckliche Erbe von Diktatur und Krieg den demokratischen Neubeginn nicht wenig belastete. Die Kinderjahre der Bundesrepublik gehörten zu den schwierigsten, die der westdeutsche Staat je durchzustehen hatte. Man erinnere sich nur an die Anforderungen und Belastungen, die mit dem Wiederaufbau der weitgehend zerstörten Städte, der Versorgung der Kriegsopfer und der Eingliederung des Millionenheeres der Heimatlosen in eine mehr oder weniger verarmte Gesellschaft verbunden waren". Hans Günter Hockerts hat diese Kumulation sozialer und ökonomischer Problerne als .Gründungskrise" der Bundesrepublik bezeichnet", deren Auswirkungen auf Wahlen und Parteien sich 1949 nicht abschätzen ließen. Schließlich richteten sich alle Hoffnungen und Erwartungen an den Staat, dessen Legitimation ebenso wie die Integrationskraft der Parteien, die im Bund und in den Ländern Verantwortung trugen, nicht zuletzt davon abhing, ob es gelang, den Herausforderungen erfolgreich zu begegnen und den Ansprüchen der Bevölkerung einigermaßen gerecht zu werden. Bei einem Scheitern fürchtete man sowohl auf deutscher als auch auf alliiertet Seite eine politische Radikalisierung und damit eine Gefährdung der Demokratie. Zunächst schienen sich diese Befürchtungen zu bestätigen. Der Ton in den Verteilungskämpfen wurde zunehmend schärfer, zudem verstärkte sich die Desintegration des Parteiensysterns. Nachdem im März 1950 der Lizenzzwang gefallen war, folgte eine Welle von Parteigründungen; bis 1953 nahmen allein

20 neue Parteien an Landtagswahlen teil. Von besonderer Bedeutung war " Den säkularen Wandel des Wählerverhaltens und die Auflösung des .nationalen Lagers" hob besonders K. Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kultu· relle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992, S. 164·171, hervor. " Zur Beseitigung der Kriegsfolgen vgl. das Kapitel Wiederaufbau und Moder· nisierung" bei A. Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1999, S. 49·86; einen Überblick über die neuere Forschung zur Integration der Hüchtlinge und Vertriebenen bietet der Sammelband von D. Hoffmann IM. Krauss IM. Schwartz (Hrsg.), Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspekriven, München 2000. •

67 H.G. Hockerts, Integration der Gesellschaft. Griindungskrise und Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik, in: M. Funke (Hrsg.), Entscheidung für den Westen. Vom Besatzungsstatut zur Souveränität der Bundesrepublik 1949·1955, Bonn 1988,

s. 39·57.

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zweifellos die Gründung des Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten, einer Flüchtlingspartei, die rasch eine Reihe spektakulärer Erfolge erringen konnte- nicht zuletzt auf Kosten der Union. Bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein zum Beispid avancierte der BHE mit 23,4% der Stimmen noch vor der CDU zur zweitstärksten politischen Kraft". Als reine Interessen­ partei tat der BHE alles, um möglichst vid für die eigene Klientd herauszuschla­ gen; er schreckte auch vor populistischen Maximalforderungen nicht zurück, die einiges zur Polarisierung des politischen Klimas in den frühen fünfziger Jahren beitrugen. Während der BHE aber den Boden der Verfassungsordnung nicht verließ, zidte die neofaschistische Sozialistische Reichspartei auf deren Überwindung". Das Auftreten der SRP warf die prinzipielle Frage auf, wie sich die zahllosen ehemaligen Nationalsozialisten orientieren würden, die nun erstmals wieder eine Partei wählen konnten, die in der Tradition der NSDAP stand. Die Ergebnisse der Landtagswahlen zwischen 1950 und 1952 waren beruhigend und alarmierend zugleich; beruhigend, weil von erdrutschartigen Erfolgen der zerstritteneo und organisatorisch schwachen SRP keine Rede sein konnte, alarmierend, weil sich bei einzdnen Wahlen durchaus andeutete, daß in der westdeutschen Gesellschaft ein nicht zu unterschätzendes rechtsextremes Potential vorhanden war; so erzidte die SRP 1951 bei den Landtagswahlen in Niedersachsen immerhin 11% der Stimmen. Generell schien der Trend zur Desintegration bei den Wahlen zwischen 1949 und 1952 aufKosten der Union zu gehen. So verlor die CSU im November 1950 bei den bayerischen Land­ tagswahlen fast 25 Prozentpunkte und Iid mit nur noch 27,4% der Stimmen sogar hinter die in Bayern chronisch schwache SPD zurück. Damit schien im Vorfdd der zweiten Bundestagswahl, die im September

1953 stattfinden sollte, einiges auf die Entwicklung eines "Vidparteiensystem[s] mit labilen Koalitionen" hinzudeuten, wie es "der deutschen Tradition und der konfessionellen, sozialen und regionalen Zerklüftung der Gesellschaft" entsprochen hätte70• Doch die Skeptiker wurden eines besseren bdehrt, denn die zweite Bundestagswahl erwies sich als der überraschende .große Sprung zur Konsolidierung des Parteiensystems" der Bundesrepublik71• 45,2% der Stimmen entfiden auf die beiden Unionsparteien, die damit ihr Ergebnis von 1949 um rund 14% verbessern konnten, während die SPD bei knapp 29% 68 Vgl. GA. Ritter IM. Niehuss, Wahlen in Deutschland, S. 84 f.; detaillierte An­ gaben zu den Ergebnissen der Landtagswahlen Iinden sich ebd., S. 158-179. " Vgl. H.W Schmollinger, Die Sozialistische Reichspartei, in: R. Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch, Bd. 2, S. 2274-2336. 7° W. Hennis, Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie, in: R. Löwenthai I H.-P. Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland- eioe Bilanz, Stuttgart 1974, S. 203-243, hier S. 234. 71 J.W Falter, Kontinuität und Neubeginn, S. 246.

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stagnierte und auch nicht von den schweren Verlusten der KPD profitieren konnte, die nach 1953 in die bundespolitische Bedeutungslosigkeit abglitt". Von den anderen 12 Parteien, die sich zur Wahl gestellt hatten, gelang nur vier der Einzug in den Bundestag, der Deutschen Partei und dem Zentrum jedoch nur aufgrund von Wahlabsprachen mit der CDU. Der Trend zur Desintegration, den man seit 1948 hatte beobachten können, war also nicht nur aufgehalten, sondern sogar umgekehrt worden. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß mit dem BHE ersttnals eine Flüchdingspartei in den Bundestag einzog. Das bestenfalls mäßige Resultat von 5,9% der Stimmen deutete schon darauf hin, daß die politische Virulenz der Vertriebenenfrage ihren Zenit überschrit· ten hatte und die Integration der sogenannten Neubürger bereits relativ weit gediehen war. Die Union gewann diese Wahl deshalb so deutlich, weil es ihr gelungen war, die Stellung in ihren katholischen Hochburgen zu halten oder sogar noch auszubauen und zugleich Stimmen in dominant protestantischen beziehungs· weise gemischt·konfessionellen Regionen zu gewinnen, wo man 1949 noch FDP oder regional verankerte Konkurrenzparteien gewählt hatte73• Dabei zeigte sich deutlich der .Doppelcharakter" der Union als .Milieupartei des Katholizismus einerseits und als Sammlungsbewegung rechts von der SPD andererseits"". Dieses Angebot hatte die Union den Wählerinnen und Wählern bereits 1949 gemacht, damals war es jedoch auf wesentlich geringere Resonanz gestoßen. Was hatte sich, so muß man fragen, in nur vier Jahren verändert? Oder anders gewendet: Welche Faktoren waren für den Wahlsieg von CDU und CSU verantwortlich? Peter Graf Kielmannsegg hat diese Frage in seiner großen Gesamtdarstellung zur Geschichte des geteilten Deutschland kurz und bündig beantwortet: Die Union sei so erfolgreich gewesen, "weil die junge Bundesrepublik so über alle Erwartung hinaus erfolgreich" gewesen sei". Tatsächlich war man bei der Überwindung der durch die Kriegsfolgen bedingten .Gründungskrise" ein gutes Srück vorangekommen, und der wirt· schaftliehe Aufschwung ließ breite Bevölkerungsschichten auf eine bessere 72

Vgl. G.A. Ritter IM. Niehuss, Wahlen in Deutschland, S. 100.

73 Eine detaillierte Analyse des Ergebnisses der Bundestagswahl von 1953 findet sieb bei J. W. Falter, Kontinuität und Neubeginn, S. 245·257. 74

K. Schmitt, Konfession und Wahlverhalten in der Bundesrepublik Deutschland,

Berlin 1989, S. 305. Dieser .Doppelcbarakter", so fuhr Scbmitt fort, habe mit denJahren einerseits dafür gesorgt, daß die Loyalität der milieugebundenen Katholiken erhalten geblieben sei, habe es jedoch andererseits vielen Katholiken erlaubt .ihre Bindung an

Kireben und Konfession zu lockern oder ganz zu lösen, ohne gleichzeitig ... ihre ange· stanunte parteipolitische Orientierung aufgeben zu müssen". Damit verdanke sieb der .fortbestehende Konfessionalismus des Wahlverhaltens" paradoxerweise nicht zuletzt "der Entk.onfessionalisierung der Unionsparteien". "

P. Graf Kielmannsegg, Nach der Katastrophe, S.

261 f.

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Zukunft hoffen". Zudem hatte sich die Bundesrepublik im Zeichen des Kalten Krieges auf den Weg von einem besetzten Land mit stark eingeschränkten Souve­ ränitätsrechten zu einem wichtigen Teil des europäisch-atlantischen Bündnisses gemacht. Es gelang der Union als stärkster Kraft in der Bundesregierung, die erfolgreiche Politik der Sozialen Marktwinschaft, der Geldwenstabilität und der Westintegration weitgehend für sich zu reklamieren und mit führenden Persönlichkeiten wie Ludwig Erhard77, Fritz Schäffer78 und vor allem Konrad Adenauer79 zu identifizieren. Die SPD, die anfangs mit ihren winschaftspolitisch mehr am Plan als am Markt und außenpolitisch am Primat der Wiedervereini­ gung orientiettenKonzepten durchaus als wirkliche Alternative zur regierenden bürgerlichen Koalition erschien, geriet angesichts dieser Entwicklung mehr und mehr ins Hintettreffen.

Es waren aber nicht nur politische Faktoren, die 1953 den Wahlerfolg der Union aufKosten der Liberalen und der konfessionell beziehungsweise regional gebundenen Konkurrenzpaneien begünstigten; auch der rechtliche Rahmen hatte sich veränden. Während es einer Panei 1949 noch genügt hatte, fünf Prozent der Stimmen in einem Bundesland zu gewinnen, um in den Bundestag einzuziehen, so waren dazu 1953 fünf Prozent der Zweitstimmen auf Bundes­ ebene nötig. Da die direkte Konkurrenz der Union wie die Bayernpartei, die Deutsche Partei oder das Zentrum nur in einem oder zwei Ländern über eine feste Basis verfögte, kam diese Regelung trotz bestimmter Ausnahmeklauseln80 einem Todesuneil gleich. 76

Ein reich bebildettes Kaleidoskop über den .Geist der fünfziger Jahre" bietet

H.-P. Schwarz, Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949-1957, Stuttgatt I Wiesbaden 1981, S. 375-464; zu den Rahmenbedingungen vgl. H. Kaelble (Hrsg.), Der Boom 1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992.

77 Ludwig Erhard (1897-1977), evangelisch, Nationalökonom und Politiker, 1945/46 bayerischer Wittschaftsminister, 1948/49 Direktor der Verwaltung für Wutschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets, 1949-1977 MdB (CDU), 1949-1963 Bundeswittschafts­ minister, 1%3-1966 Bundeskanzler, 1966/67 Bundesvorsitzender der CDU. 78 Fritz Schäffer (1888-1967), katholisch, Jurist und Politiker, 1929-1933 Vorsit­ zender der Bayerischen Volkspanei (BVP), 1920-1933 MdL (BVP), 1931-1933 mit der Fühtung der Geschä&e des bayerischen Finanzministeriums beauftragt, 1945 bayerischer Ministerpräsident, 1949-1%1 MdB (CSU), 1949-1957 Bundesfinanzminister, 1957-1961 Bundesjusrizminister. 79 Konrad Adenauer (1876-1%7), katholisch, Jurist und Politiker, 1917-1933 und 1945 Oberbürgermeister von Köln, 1946-1950 MdL (CDU) in Nordrhein-Westfalen, 1948/49 MdPR und dessen Präsident, 1949-1967 MdB (CDU), 1949-1963 Bundeskanzler, 1951-1955 auch Bundesaußenminister, 1950-1966 Bundesvorsitzender der CDU. so 1949 hatten die Wählerinnen und Wähler nur eine, seit 1953 haben sie zwei Stimmen, wobei mit der ersten ein Wahlkreiskandidat und mit der zweiten die Landesliste einer Panei gewählt wird. Das Bundeswahlgesetz von 1953 sah vor, daß nur die Paneien in den Bundestag einziehen konnten, die mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen

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Ein Todesurteil für eine politische Partei hatten 1952 erstmals auch die Rich­ ter des Buodesverfassuogsgerichts gesprochen, als sie die neofaschistische SRP als verfassungsfeindlich verboten". Damit wurde ein klares Zeichen gesetzt, daß das vielzitierte Schlagwort von der wehrhaften Demokratie keine hohle Phrase war uod Parteien rechts von der Union uoter besonderer Beobachtuog standen. Das Verbot der SRP blieb nicht der einzige Eingriff des Buodesverfassungs­ gerichts in das Parteiensystem der juogen Buodesrepublik. 1956 verboten die Richter auch die KPD", obwohl sie bereits von der buodespolitischen Bildfläche verschwunden war uod auch in den Ländern nur noch eine uotergeordnete Rolle spielte. Diese Entscheiduog entsprach dem herrschenden antitotalitären Konsens, sie entsprach aber auch dem antikommuoistischen Klima des Kalten Krieges". Die Entscheidungen des Buodesverfassuogsgetichts trugen zusammen mit dem WISsen um die nationalsozialistische Vergangenheit auf der einen uod um die Diktatur im Osten Deutschlands auf der anderen Seite dazu bei, daß sich im politischen System der Buodesrepublik bis 1990 keine starken rechts­ oder linksextremen Flügelparteien etablieren konnten. Die Buodestagswahl am 15. September 1957 bestätigte das Ergebnis von 1953 eindrucksvoll, uod zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens hielt der Erfolg der Union an; CDU uod CSU gewannen zusammen 50,2% der Stimmen uod errangen damit zum ersten uod einzigen Mal in der deutschen Geschichte bei freien Wahlen eine absolute Mehrheit auf gesamtstaatlicher Ebene". Die Union, die 1945/46 als parteipolitisches "Elitenbündnis der Zentrumstradition mit liberalen bis gemäßigt deutschnationalen Kräften des protestantischen Milieus" angetreten war", hatte es geschafft, "den katholischen uod den pro-

auf Bundesebene auf sich vereinigt hatten oder ein Direktmandat hatten erobern können;

1957 wurde das Wahlgesetz dahingebend verschärft, daß nicht mehr nur ein, sondern

drei Direkttnandate nötjg waren, um die Fünf-Prozent-Sperrklausel außer Kraft zu setzen; vgl. GA. Ritter, Uber Deutschland, S. 73. " Zu Aufstieg und Verbot der SRP vgl. N. Frei, Vergangenheitspolitik. Die Aofäoge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 326-360. 82 Vgl. dazu D. Staritz, Die Kommunistische Partei Deutschlands, in: R. Stöss (Hrsg.), Parreien-Handbuch, Bd. 2, S. 1663-1809; zum Niedergang der KPD zwischen 1953 und 1956 sowie zum Verbot der Parrei vgl. ebd., S. 1733-1748. " Verschiedene Aspekte dieses Problemkomplexes werden behandelt von A. von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1%8, Frankfurt a.M. 1978; M. Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998; G. Schwan, Anti­ kommuni81nus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945, Baden-Baden 1999. " Vgl. G.A. Ritter IM. Niehuss, Wahlen in Deutschland, S. 85 und S. 101. " D. Lehnert, Zur historischen Soziographie der Volkspattei". Wählerstruktur und Regionalisierung im deutschen Parreiensystern seit der Reichsgründung, in: Archiv für Sozialgeschichte, 29 (1989), S. 1-33, hier S. 22, das folgende Zitat findet sich ebd., S. 33. •

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testantisch-mittelständischen Wählerblock in einem erfolgreichen Sammlungs­ prozeß, abgesehen von Minoritätengruppen", zu vereinigen. Die konfessionell beziehungsweise regional gebundenen Konkurrenzparteien waren entweder in die Bedeurungslosigkeit abgedrängt worden oder hatten sich unlösbar an die Union binden müssen; nur die FDP behauptete sich. Die CDU, weniger noch die CSU, trug 1957 bereits deutliche Züge einer christlichen Volkspartei der rechten Mitte. Zweitens setzte sich der Trend zur Konzentration fort, das heißt, es gab mit den Unionsparteien, der SPD und der FDP nur noch vier Parteien, die den Einzug in den Bundestag aus eigener Kraft geschafft hatten; dazu kam noch die von der CDU gestützte Deutsche Partei. Alle anderen Bewerber scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde. Drittens gelang es der SPD rrotz Stimmengewinnen (31,8%) nicht, mit der Union Schritt zu halten. Der Abstand, der 1949 weniger als zwei Prozent herragen hatte, wuchs auf mehr als 18 Prozentpunkte an. Für die SPD war das Wahlergebnis von 1957 rrotz der Stimmengewinne ein Schock. Als Milieupartei der Industriearbeiter in urbanen Zentren mit strukturellen Schwächen in katholischen Regionen war ihre soziale Basis zu beschränkt, um der Union auf Bundesebene erfolgreich Paroli bieten zu können. Zudem fehlte der Sozialdemokratie der strategische Partner, wie ihn die Union mit der FDP bis auf weiteres besaß. Obwohl diese offensichtliche Asynunetrie des westdeutschen Parteiensystems im linken Teil des politischen Spektrums oft beklagt wurde, resignierte die SPD nicht. Auch führten die harten Opposi­ tionsjahre in Bonn .nicht zu einer tieferen Entfremdung der Sozialdemokratie gegenüber der Bundesrepublik"86• Eine .negative Integration" der SPD und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft hat es in der Bundesrepublik nicht gegeben87• Wie Wllhelm Hennis hellsichtig festgestellt hat, ist diese Entwicklung nicht zuletzt der föderativen Strukrur des westdeutschen Staates zu verdanken, die der SPD über die Länderregierungen und -parlamente sowie über den Bundesrat nicht zu unterschätzende Mitgestaltungsmöglichkeiten sicherte". Die Länder erwiesen sich auch als wichtiges Reservoir zur N achwuchsrekrutierung, und wo die SPD Regierungsverantwortung trug, setzten sich meist Pragmatiker gegen die Genossen durch, die starr an offensichtlich nicht durchsetzbaren Positionen festhielten. Daß die SPD nach 1957 entschlossene Schritte in die Zukunft unter­ nahm, lag nicht zuletzt an diesen vielfach vergessenen Landespolitikern, von denen stellvertretend nur der bayerische SPD-Vorsitzende Waldemar von

86 Vgl. W Hennis, Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie, S. 217. 87 Diskussionsbeitrag von M.R Lepsius, in: Nachkriegsgesellschaften, S. 53. 88 Vgl W Hennis, Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie, S. 230 f.

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Thomas Schlemmer

Knoeringen 89 genannt sei. Im Jahr nach der Wahlschlappe wurde eine Organisa· tionsreform beschlossen, .die den traditionellen Vorrang der Parteiorganisation bei der Bestimmung der Parteipolitik zugunsten der Bundestagsfraktion aufhob und sie damit gleichsam ,parlamentatisierte'"90• Wesentlich öffentlichkeitswirk· samer waren das 1959 beschlossene Godesberger Programm der SPD und die große außenpolitische Rede, die Herbert Wehner91 am 30. Juni 1960 im Bundestag hielt. Damit hatte sich die Sozialdemokratie nicht nur von Restbe· ständen marxistischer Tradition verabschiedet, sondern auch die wirtschafts·, außen· und sicherheitspolitischen Grundsatzentscheidungen anerkannt, die sie seit 1949 zum Teil heftig bekämpft hatte. Die Neuorientierung der SPD Ende der fünfziger Jahre mag vielen altgedienten Parteimitgliedern schwer gefallen sein, die in ihrer Partei ein Stück Heimat sahen, sie war jedoch unabdingbar, um die Sozialdemokratie auf den Weg von der Klassenpartei zur linken Volks· partei und schlagkräftigen Alternative zur Union zu führen". Die Metamorphose der SPD machte sich bezahlt. Kurzfristig mochten es andere Effekte gewesen sein, die der Sozialdemokratie bei der Bundestagswahl am 17. September 1961 einen deutlichen Wahlerfolg bescherten- Effekte wie sichtliche Abnutzungserscheinungen der Union als Regierungspartei unter der Führung des greisen Konrad Adenauer, der Bau der Berliner Mauer, der nur vier Wochen vor dem Urnengang begonnen hatte, oder das Charisma des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Willy Brandt", der als regierender Bürgermeister von Berlin in diesen die gesamte deutsche Nation aufwühlenden Tagen die richtigen Worte fand, während Bundeskanzler Adenauer seltsam sprachlos wirkte. Doch sicherlich ttug auch die mittel· und langfristig ange· 89 Waldemar von Knoeringen (1906·1971), katholisch, Bibliothekar und Politiker, seit 1926 SPD·Mitglied, 1933 Emigration, 1946·1970 MdL (SPD) in Bayero, 1949·1951 MdB (SPD), 1947·1963 Vorsitzender der bayerischen SPD, 1958·1962 stellvertretender Bundesvonsitzender der SPD. "' G.A. Ritter, Über Deutschland, S. 69. " Herbett Webner (1906·1990), Indusrriekaufmann, Journalist und Politiker, seit 1927 KPD·Mitglied, 1930/31 MdL (KPD) in Sachsen, 1935 Emigration, seit 1946 SPD.Mitglied, 1949·1983 MdB (SPD), 1966·1969 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, 1958·1973 stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD. 92 Vgl. S. Miller, Die SPD vor und nach Godesberg, 3. Auf!., Bonn 1978; B. W. &uvier, Zwischen Godesberg und Großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regie· rungsverantwortung. Außen-, sicherheits- und deutschlandpolitische Umorientierung und gesellschaftliche Öffnung der SPD 1%0·1966, Bonn 1990. " Willy Brandt (1913 ·1992), Journalist und Politiker, vor 1933 Mitglied verschle· dener sozialistischer Jugendorganisationen und Parteien, 1933 Emigration, 1950·1966 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (SPD), 1957·1966 regierender Bürgermeister von (West·)Berlin, 1949 erstmals für die SPD in den Bundestag gewählt, dem er mit Unterbrechungen bis 1992 angehörte, 1966·1969 Bundesaußenminister, 1969·1974 Bundeskanzler, 1964·1987 Bundesvonsitzender der SPD, 1976·1992 Präsident der Sozialistischen Internationale.

Zwischen Weimar und Bonn

257

legte Strategie der SPD-Führung erste Früchte, verstärkt um Wähler aus der wachsenden Angestellten- und Beamtenschaft zu werben sowie das Verhältnis der Sozialdemokratie zur katholischen Kirche zu verbessern"', um die SPD auch für Katholiken wählbar zu machen. Mit 36,2% der Stimmen und einem Gewinn von 4,4% war die SPD nach der Bundestagswahl von 1961 zwar noch immer ein gutes Stück von der Union entfernt, die sich mit 45,4% der Stimmen zufriedengeben mußte und rund fünf Prozentpunkte verloren hatte. Aber die christlich-konservative Konkurrenz war wieder in Sichtweite und durch interne Querelen merklich angeschlagen; zudem schien der .Genosse Trend" ein verläßlicher Verbündeter zu sein: schließlich hatte die SPD seit 1953 stetig zulegen können. Neben CDU, CSU und SPD war nur der FDP der erneute Sprung in den Bundestag gelungen, wobei die Liberalen mit 12,8% der Stimmen das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielen konnten". Damit hatte sich der seit Anfang der fünfzigerJahre zu beobachtende Konzentrationsprozeß fortgesetzt, der die heterogene Parteienlandschaft des Jahres 1949 zu einem Parteiensystem werden ließ, das man als Typus eines ,gemäßjgten Pluralismus' klassifizieren" könnte%. Denn bis 1961 bildete sich auf Bundesebene ein .Zweieinhalbparteiensystem" heraus, das sich durch die Existenz zweier dominierender Volksparteien-aufgrund der Fraktionsgemein­ schaft und Aktionseinheit von CDU und CSU im Bundestag gilt die Union hier als eine politische Kraft- auszeichnete, die jedoch ohoe die Untersrützung der vergleichsweise kleinen FDP keine Regierung bilden konnten. Diese .zentrale Mechanik des Parteiensystems" sollte die Republik bis 1983 prägen, als mit den Grünen eine neue politische Kraft die Bonner Bühoe betrat". •

V. Epilog

Folgt man Peter Graf Kielmannsegg, so war "von allen Entwicklungen des ersten Jahrzebnts . . . für die Bonner Demokratie keine bedeutsamer als die Entstehung des Parteiensystems, das die Geschichte der Republik dann dreilligJahre lang bestimmen sollte"". Tatsächlich wurde die stabile, gemäßigt pluralistische Parteienlandschaft mit der Union und der Sozialdemokratie als "' Vgl. T. Brehm, SPD und Katholizismus- 1957-1966. Jahre der Annäherung, Frankfurt a.M. u.a. 1989. " Vgl. G.A. Ritter IM. Niehuss, Wahlen in Deutschland, S. 85 f. und S. 101. 96 A. Mintzel, Der akzeptierte Parteienstaat, in: M. Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945, S. 90, nach der Typologie von Giovanni Sartori. 97 T. Poguntke, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Von Krise zu Krise, in: T. Eilwein I E. Holtmann (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, S. 429-439, hier S. 432. 98 P. Graf Kielmannsegg, Nach der Katastrophe, S. 261.

258

Themas Schlemmer

dominierenden Kräften und der liberalen FDP als Mehrheitsbeschafferin zu einem Markenzeichen der .alten" Bundesrepublik, auch wenn dieses System 1961 aufgrund des nach wie vor relativ großen Abstands zwischen Union und SPD noch nicht voll ausgeprägt war und auch wenn sich in den Ländern zum Teil noch bis in die sechziger Jahre Parteien halten konnten, die längst aus dem Bundestag ausgeschieden waren. Doch warum ging die Konzentration der Parteienlandschaft in der Bundesrepublik weiter als in den meisten euro­ päischen Nachbarstaaten? Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig, doch mir scheint vor allem eine Erklärung tragfähig zu sein, die an die besondere Situation Westdeutschlands nach 1945 anknüpft. Der Konzentrationsprozeß, so könnte man argumentieren, ist deshalb so ausgeprägt gewesen, "weil durch die nationalsozialistische Vergangenheit und durch den permanenten Systemkonflikt an der Schnittstelle des Ost-West-Konfliktes beide Extreme des ideologischen Spektrums gewissermaßen zu Tabuzonen geworden waren und einen zur Mitte hin orientierten Parteienwettbewerb erzwangen", der durch die Parteienverbote der fünfziger Jahre noch verstärkt wurde". Obwohl der Strukturwandel des Parteiensystems in den fünfziger Jahren noch in vollem Gange war, brachte es seit 1953 tragfähige Mehrheiten und stabile Regierungen hervor. In den unruhigen späten sechziger Jahren mochte man das als beunruhigenden Ausdruck des Immobilismus und der Hypersta­ bilität im Zeichen des .CDU-Staates""10 brandmarken, in den fünfziger Jahren nahm man die Konzentration der Wählerstimmen auf wenige demokratische Parteien und solide Regierungskoalitionen als Zeichen dafür, daß die Bonner Republik nicht das Schicksal der Weimarer Republik teilen würde. Denn auch die schärfste .Kritik an den Mängeln des Bonner Systems" konnte .nicht leugnen, daß nirgends der Unterschied der zweiten deutschen Demoktatie gegenüber der Weimarer Republik deutlicher" hervortrat .als in dem reifer und sicherer gewordenen Parteiwesen"101•

" T. Poguntke, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, in: T. EilweinI E. Holtmann (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, S. 433.

100 G. Schäfer I C. Nedelmann (Hrsg.), Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungs­ wirklichkeit der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1967. 101 K.D. Bracher, Das Bonner Parteiensystem, in: ders., Das deutsche Dilemma. Leidenswege der politischen Emanzipation, München 1971, S. 269 -294, hier S. 294.

Zwischen Weimar und Bonn

259

Ergebnisse der Bundestagswahlen von 1949 bis 1969

CDU csu

SPD FDP DP Zentrum BP GBIBHE'" WAV KPD DKP/DRP DRP106 NPD107 Sonstige

1949

1953

1957

1961

1965

1969

25,2 5,8

36,4

39,7

35,8

38,0

8,8

10,5

9,6

9,6

36,6 9,5

29,2

28,8

39,3

42,7

9,5

31,8 7,7

36,2

11,9

12,8

9,5

5,8

2,0

4,3

1,6

1,1

4,0

3,1 4,2

3,3102 0,8104

3,4 '"

1,7 4,6

2,8

1,1

1,0

0,8

1,7

1,5

2,2

5,9

2,9 5,7

2,2

1,8

6,2108

Tabelle zusammengestellt nach: GA. Ritter IM. Niehuss, Wahlen in Deutschland, S. 100 f.; Wahlergebnisse, die nicht ausreichten, um Bundestagsmandate zu gewinnen, wurden kursiv gesetzt; die Ergebnisse der Parteien, die nach den Wahlen die Bundesregierung bildeten, wurden fett gesetzt; alle Angaben in Prozent.

102 Wablbilfe der CDU ermögliebte den Gewinn von Direktmandaten und damit die Umgebung der Fiinf-Prozent-Sperrklausel. 103 Wablbilfe der CDU ermögliebte den Gewinn von Direktmandaten und damit die Umgebung der Fiinf-Prozent-Sperrklausel. 1"' Wablbilfe der CDU ermögliebte den Gewinn von Direktmandaten und damit die Umgebung der Fiinf-Prozent-Sperrklausel. "' Gesamtdeutseber Block/Block der Heimatvertriebenen und Entreebteten. 106 Deutsche Reichs-Partei. 107 Nationaldemokratische Partei Deutschlands. 108 Darunter unter anderem die 0,3% der Stinunen, die auf den Südschleswigseben Wählerverband entfielen, der ein Mandat gewinnen konnte, sowie die 4,8% der Stim­ men, die auf drei parteilose Kandidaten entfallen waren.

Die politische Stabilisierung in Italien und Deutschland (1945-1958)* Von Paolo Pombeni

Die politische Stabilisierung gehört zu den vieldeutigen Themen: die Frage, was politische Stabilisierung sei, kann Gegenstand endloser Diskussionen sein. Vor etlichen Jahren gab es ein reges Interesse an dieser Problematik, das sich allerdings seitens der Geschichtsschreibung in erster Linie auf die Zwischenkriegszeit konzentrierte, auf jenes ,recasting" des bürgerlichen Europa, dem Charles Maier eine inzwischen klassisch gewordene Untersuchung gewid­ met hat'. Dieses Interesse hing sicherlich mit der aktuellen Situation der siebziger Jahre und dem beständigen Wunsch nach ,Stabilisierung" zusammen, der die Welt im Zeitalter des Kalten Krieges und des Zusammenpralls der großen Blöcke beherrschte. An Bedeutung verlor das Thema später durch eine neue Lesart der europäischen Geschichte, die sich nach den Ereignissen von 1989 und den folgenden Entwicklungen durchsetzte - in den Medien übrigens noch friiher als in der Geschichtswissenschaft. Damit verwandelte sich der Hintergrund, vor dem das Phänomen wahrgenommen worden war: nicht liinger .friedliche Koexistenz" zweier oder dreier "Großmächte", sondern eine teleologische Entwicklung hin zum endgültigen (oder zumindest als endgültig erachteten) Sieg des ,westlichen Modells"'. *

Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt.

1

Vgl. C.S. Maier, La rifondazione dell'Europa borghese, Bologna 1999 (eng!. Originalausg.: Recasting Bourgeois Europe: Stabilisation in France, Germany, and Italy in the Decade sfter World War I, Princeron NJ 1975), in der zitierten Überserzung siebe insbesondere das neue Vorwort des Verfassers sowie das abschließende Kapitd: Strutntra e limiti della stabilita. Wichtig für unserem Zusanunenbang auch der Aufsatz desselben Autors, The Two PostwarEras and the Conditions for Stability in Western Europe, in: American Historical Review, 86 (1981), 2, S. 237-352; zu der damit eröffneten Polemik vgl. die weitere Prii2isierung: C.S. Maier, Replay, ebd., S. 363-367. Andere Arbeiten zu demselben Thema, die die theoretischen Beiträge ergänzen, in: C.S. Maier, In Search of Stability: Explorations in Historical Political Economy, Cambridge MA 1987. 2 Eine Annäherung an das Thema unter verschiedenen Gesichtspunkten ist der Band: C. Levy IM. Roseman (Hrsg.), Three PostwarEras in Comparison.WesternEurope 1918- 1945 -1989, London 2002; darin auch mein Aufsatz: The Roots ofltalian Political Crisis: a View From History, 1918, 1945, 1989 ... and sfter, S. 276-2%. Eine scharf­ sinnige Bewertung der neuen Sicht der deutschen Geschichtsschreibung anf die BRD

262

Paolo Pombeni

Der Historiker kann sich unmöglich mit einem Thema wie dem der Stabilisierung auseinandersetzen, ohne eine Definition des zentralen Begriffes zu versuchen. Wann kann man sagen, daß ein politisches System Stabilität erreicht hat? Im Kontext einer Demokratie, wo es nicht nur garantiert, sondern erwünscht ist, daß die politische Dialektik zum Ausdruck kommt, sind zwei Annahmen möglich: die Ansicht, das System sei unter allen Umständen und für immer stabil, weil es die Spannungen absorbiert; und zugleich die Vermutung, es sei in alle Zukunft instabil, weil ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung wenn nicht seine Überwindung, so doch eine deutliche Veränderung möchte. Natürlich lehnen die Politologen diese Sicht der Dinge ab und machen gel­ tend, daß man unterscheiden müsse zwischen Änderungen, die nicht zu einem Wechsel des (im Grunde von allen akzeptierten) politischen Systems führen, und Änderungen, die auf seinen Umsturz abzielen. Eine solche Unterscheidung ist auf theoretischer Ebene leicht. Weitaus schwieriger wird es, wenn man den historischen Kontext berücksichtigt. Um innerhalb des hier betrachteten Zeitraums zu bleiben: zu welcher der beiden Kategorien wäre etwa der Erfolg der gaullistischen Wende zu zählen? Es ist mithin notwendig, Bewertungskriterien zu entwickeln, insbesondere für eine Periode wie die hier untersuchte, an deren Anfang die Erwartung eines völligen Wechsels des kulturellen, politischen und internationalen Horizonts stand'. Ähnliche Erwartungen hatte es schon einmal, unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gegeben, doch rührten sie damals eher von dem unvorhergesehenen Ausmaß des Krieges her als vom Wechsel der politischen und sozialen Koordinaten. Gewiß wäre über diese Punkte zu diskutieren, denen auf jeden Fall zentrale Bedeutung bei der Analyse der .faschistischen" Bewegungen und der schmerzhaften Entwicklungen der zwanziger und dreißiger

gibt P. No/te, Einführung: Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002), S. 175-182. ' DasJahr 1945 als .Stunde Null" ist kein auf Deutschland beschränktes Phänomen, auch wenn ihm dort angesichts der .deutschen Katastrophe" besondere Bedeutung zukam, vgl. M. Görtemakers ausgezeichnete Ausführungen zu jener Zeit der Krise: M. Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 198-249; spezifisch zur SPD vgl. H. Soe/1, Sozialdemokratische Intellektuelle in der frühen Bundesrepublik, in: G. Hübinger I Th. Hert/elder (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Sruttgart 2000, S. 200-221. Auch in Italien war die Idee einer unvermeidlichen .Revolution" (einer Revolution, der man selbstversriindlich die verschiedensten Deutungen gab) weit verbreitet: für die katholische Seite sieheA. Giooagnoli, Le premesse della ricostruzione. Tradizione e modentim nella classe dirigeute cattolica del dopoguerra, Mailand 1982; P. Pombeni, ll gruppo dosserriano e Ia fondazione della democrazia italiana 1938-1948, Bologna 1978; für die kommunistische SeiteN. Ajello, Intellettuali e Pci1944-1958, Rom I Bari 1997; für die liberal-radikale Seite L. Polere Remaggi, .n Ponte" di Calamandrei 1945-1956 , F1orenz 2001.

Die politische Stabilisierung in Italieo ood Deotschland (1945-1958)

263

Jahre zukommt; ich möchte hier aber nur auf einige einfache Faktoreo hinweisen. Erst nach 1945 findet das europäische Verfassungssystem eine eigene Form des Gleichgewichts zwischen parlamentarischem System, System der gesellschaftli­ chen Repräsentation und Zentralität der Regierung; seit den fünfziger Jabren kommt es zum Abbau des hierarchischen Systems der Klassenunterschiede, auf das sich Europa seit dem Eode des 18. Jahrhunderts gründete (und das etwas anderes war als das Stäodesystem). Dabei gelangt ein neuer erweiterter Mittelstand zur Vorherrschaft; die einstige .Arbeiterklasse" erfährt eine tiefgrei­ fende Umwandlung; und schließlich neigt sich das System der Nationalstaaten als autonome Mächte seinem Ende zu, die internationalen Beziehungen sind beherrscht vom System der .Großmächte", die sich vollkommen von den alten Bündnissystemen unterscheiden. In diesem Kontext bedeutet Stabilisierung die Akzeptanz der neuen Sachlage. Und dies in mehrfacher Hinsicht: nicht nur, wie man oft hervorgehoben hat, auf der Ebene der Kräfteverhältnisse (die kommunistischen Parteien in Westeuropa nehmen es als Tatsache hin, daß sie sich im amerikanischen Herrschaftsbereich befinden, die UdSSR gibt die Vorstellung einer Weltherrschaft ihrer Ideologie auf), sondern auch und mehr noch auf der Ebene der politischen Kulturen, die bereit sind, den neuen Horizont zum eigenen Bezugssystem zu machen, sowie auf der Ebene der Institutionen, die sich darauf einrichten, der neuen Welt .Gestalt zu geben". Eben darum sind meines Erachtens die fünfzehn Jabre zwischen Kriegsende und dem J abr 1960 in ganz Europa entscheidend für das, was wir als .Stabilisierung" bezeichnen können, also für die verbrei­ tete Akzeptanz der neuen Verhältnisse seitens der politischen Systeme in den verschiedenen Läodern (der politischen Klassen, intellektuellen Schichten, organisierten gesellschaftlichen Kräfte). Die neue Situation wird nun als solche anerkannt (was zuvor nicht unumstritten gewesen war), und für veräoderbar, aber nicht wirklich für umstürzbar gehalten. Vielen politischen Beobachtern jener Zeit (allen voran einem so bedeutenden Forscher wie Otto Kirchheimer4) fiel übrigens gerade der Umstand auf, daß es den demokratischen Systemen, die sich in den beiden besiegten .ex-faschistischen" Läodern durchgesetzt hatten, an realen Herausforderungen fehlte; dies gilt insbesondere für Deutsehland,

4 Der bekannte deutsche Politologe, der bei der Machtübernahme des Natio­ nalsozialismus nach Amerika emigriert war, widmete dem Problem der Stabilisierung in der Bundesrepublik Deutschland mehrere Schriften. In: The Polirical Scene in West Germany, in: World Polirics, 9 (1956), S. 433-445, seinem ausführlieben Überbliek über dreizehn Bücher zur Situation in Deutschland, konstatierte Kirchheimer eine .equally impressive, if less spectacular polirical stability of Germany" und erklärte sie wie folgt: "The beginnings of the Weimar Republic were marked by violent dissension over economic policies, the system of govemment, and foreign policy. By contrast, the polirical success of the Bonn establishment has been ried to a relarively small margin of choice".

Paolo Pombeni

264

während in Italien das Bestehen einer großen kommunistisehen Partei die Situation anseheinend problematiseher maehte'. Um diese Ausführungen mit einem Beispiel zu erläutern, sei auf das Problem des ökonontisehen Wandels hingewiesen. Begriffe wie Sozialisierung, Planung, polirisehe Kontrolle der W!rtsehaft bedeuten imJahr 1945 noeh erwas wesentlieh anderes als 1960. Aus dem Traum vom .sozialistisehen" Europa, der am Ende des Krieges so verbreitet war, daß er in mehr als einem poliriseben und gesell­ schaftliehen Sektor als unausweichliehe Zukunft betraehtet wurde, ist nun der .Neokapitalismus" und die .affluent society" geworden: keineswegs ein linearer Prozeß, aber doeh bezeichnend für die Entwicklungen, die hier stattgefunden hatten. Und dies ist nur ein Beispiel, wenn aueh von zentraler Bedeutung, denn gerade der "Überfluß" war ein wiehtiger Garant der Stabilisierung'. Untersehiede zwisehen Italien und Deutschland zeigen sich besonders deutlieh, wenn wir das Problem bis zu seinen Ursprüngen zurückverfolgen. Die .Säuberung" naeh dem Zweiten Weltkrieg stellt die erste Neuheit gegenüber der Situation von 1919 dar. Zwar wurde auch damals durehaus die Frage naeh der Verantwortung für den unbefriedigenden Ausgang des Krieges aufgeworfen (Hider mit seinem Sehlagwort von den .Novemberverbreehem" und Mussolini mit dem Mythos des verstümmelten Sieges" hatten hier die Fronten eröffnet), doeh handelte es sieh um einen gänzlich anderen Kontext. 1945 geht es für Italien und Deutsehland um die Abrechnung mit einem als "verbreeheriseh" angesehenen Regime, dessen radikale Beseitigung nieht nur die Siegermäehte, sondern aueh die Widerstandsbewegungen innerhalb der jeweiligen Länder selbst fordern. •

Über das Verfahren und das Ergebnis dieser Säuberungen hat man in Italien wie in Deutsehland bis heute gewöhnlich ein im wesentlichen negatives Urteil gefällt. Man betraehtete sie als Initiativen, die ziemlieh oberflächlieh, mit raseh erlahmender Energie durehgeführt wurden und auf eine Art all' Das Problem des Kommunismus war an sich schon ein schwieriger Faktor bei der internationalen Positionierung Italiens, aber noeb komplexer wurde die Frage dureb die Präsenz des Vatikans, der sieb allmählieb einem entschlossenen Feldzug gegen diese Ideologie zuwandte. Diese besonders die Regierung von Ministerpräsident De Gaspeti belastende Situation erläutert F. Malgeri, La stagione del centtismo. Politica e societii nell'Italia del secondo dopoguerra (1945-1960), Sovetia Mannelli 2002, S. 21-55. Zu den Wurzeln der Haltung des Vatikans gegenüber detn Kommunismus in Italien noeb inuner nützlieb G. De Rosa, Chiesa e comunismo in Italia, Rom 1971, eine stark der offiziellen Doktrin des Vatikans verpfliebtete Darstellung. 6 Zu diesen Themen erlaube ich mir, auf meine Aufsätze zu verweisen: La demo­ crazia del benessere. Rillessioni preliminati sui parametti della legittimazione politica nell'Europa del secondo dopoguerra, in: Contetnporanea. Rivista di Stotia dell'Onocento e del Novecento, 4 (2001), S. 1743; La legittimazione del benessere. Nuovi parametti di legittimazione in Europa dopo la seconda guerra mondiale, in: P. Pombeni (Hrsg.), Ctisi, Legittimazione, Consenso, Bologna 2003, S. 357-417.

Die politische Stabilisierung in Italieo ood Deotschland (1945-1958)

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gemeiner Verdrängung hinausliefen'. Dies war und ist noch immer ein Stein des Anstoßes für viele Forscher, die aus Quellen schöpfen, die vor allem vom Ressentiment verschiedener Kreise des Widerstands gespeist werden; diese waren verständlicherweise verärgert oder zumindest enttäuscht darüber, daß eine .Bestrafung" der Angehörigen des ehemaligen Regimes ausgeblieben war. Andererseits ist aber hervorgehoben worden, daß gerade die zivile Gesellschaft, wenn auch mit unterschiedlichen Instrumenten und Methoden, auf .Nachsicht" mit den Besiegten drängte, während man in der allerersten Phase kurzen Prozeß gemacht hatte (besonders in Italien, wo der Bürgerkrieg ein gewisses Ausmaß erreichte) und es dadurch zu fragwürdigen, ja mitunter schlicht nicht hinnehmbaren Vorfällen kam'. Wer über die Stabilisierung und insbesondere ihren Erfolg sprechen will, kann meines Erachtens das heikle Thema Säuberung nicht aussparen. Gerade durch die ausgesprochen laxen Säuberungen wurde verhindert, daß sich Strömungen einer radikalen Opposition gegen die neue Regierungsform bilde­ ten, die in friiheren Zeiten so viel Schaden angerichtet hatten. Es bestand die Befürchtung, daß ohne eine griindliche Säuberung unweigerlich die Mäuner der Vergangenheit an die Macht zurückkehren würden, um die alten Verhälmisse wiederherzustellen; doch anscheinend geschah eben dies nicht, wie die nach­ ttägliche Einsicht (das unentbehrliche Werkzeug des Historikers) lehrt. Hier ist, namentlich in Deutschland, ein grundlegender Unterschied gegen­ über der Phase von 1919 bis 1933 zu verzeichnen. Damals bedeutete das fast unan­ getastete Fortbestehen des ehemaligen Verwaltungsapparats eine wesentliche Schwächung der Widerstandsfähigkeit der Weimarer Republik gegen Angriffe 7 Hinsichtlich dieser Frage unterscheidet sich der deutsche Fall teilweise vom italienischen. Für Italien siehe die umfassende Darstellung von H. Woller, I conti con il fascismo. I:epurazione in Italla 1945-1948, Bologna 1997, sowie M. Salvati, Amnistia e amnesia nell'Italia del1946, in: M. Flores (Hrsg.), Storia, Veritli, Giustizia. I crimini del xx secolo, Mailand 2000, S. 141-161. Zu Deutschland nenne ich als Beispiele für die enorme Literatur zu diesem T hema: V Dotterweich, Die Entnazifizierung, in: ]. Becker I T Stammen I P. Waldmann (Hrsg.), Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Grundgesetz, München 1979, S. 123161; L. Niethammer, Die Mitläuferfabrik Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin 1982; P. Reichet, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinanderset­ zung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001. Was Deutschland angeht, so ist zu berücksichtigen, daß es neben einem Prozeß der .Säuberung" auch einen umfas­ senden Prozeß der "Umerziehung" gab, ein Phänomen, das in Italien völlig fehlt. 8 Zum Phänomen der Fortsetzung des Bürgerkriegs- mit den im Schnellverfahren vollzogenen Hinrichtungen in der Phase unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen als auch in den folgendenJahren-gibt es noch keine solide Gesamtdarstellung, sondero nur lokale Untersuchungen, vornehmlich über das sogenannte .Dreieck des Todes". Zwei Versuche einer Bewertung bei: P. Di Loreto, Togliatti e Ia .doppiezza". ll Pci fra democrazia e insurrezione 1944-1949, Bologna 1991, S. 73-89; M. Storchi, Uscire dalla gnerra. Ordine pubblico e forze poliriche. Moderta 1945-1946, Mailand 1995.

Paolo Pombeni

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von außen: die politische Klasse war nicht im Stande, die "Staatsmaschinerie" dem eigenen Willen gefügig zu machen. Natürlich handelt es sich hier um komplexe Zusammenhänge, die auf verschiedenen Ebenen untersucht werden müßten (Bürokratie, Armee, Justiz usw.). Nach 1945 jedoch paßte sich der in weiten Teilen mehr oder minder intakt gebliebene Staatsapparat an die neuen Sieger an und spielte keine "subversive" Rolle mehr: wieder war es Kirchheimer, der dies schon 1956 in der Besprechung eines Aufsatzes von T heodor Eschenburg konstatierte'. Die überlebende Bürokratie war zwar ein entscheidender Faktor bei der Herausbildung des "konservativen" Charakters und der Mitte·Rechts-Orientierung, die den italienischen und den deutschen Staat in der Anfangsphase prägten, aber man kann nicht sagen, daß in diesen Kreisen eine "Restauration des Faschismus" oder eine antidemokratische Wende betrieben worden wäre10• Ich halte es für wichtig, nach dem Warum dieses Phänomens zu fragen, das von ganz zentraler Bedeutung für unsere Überlegungen ist. Es gibt dafür Erklärungen, die banal wirken, aber deswegen allein noch nicht der Wahrheit entbehren. Das gewandelte internationale Klima und die imperiale Präsenz einer im wesentlichen "demokratischen" Macht wie der USA machten die Sinnlosigkeit reaktionärer Bestrebungen deutlich. Das Bedürfnis nach "Schutz" vor der von radikalen Kräften des Widerstands beharrlich erhobenen Forderung nach Säuberung machte die einstigen Faschisten oder Nationalsozialisten gefü­ gig, wenn es darum ging, sich in den Dienst der neuen, gemäßigten politischen Kräfte zu stellen. Allerdings ist auch daran zu erinnern, daß diese Faktoren nicht überall wirksam waren: Das Beispiel von Francos Spanien zeigt, daß die USA bereit waren, reaktionäre Regime in antikommunistischer Funktion zu dulden (im Jahre 1953 wurde das Franco-Regime von den USA und vom Heiligen Stuhl anerkannt); das in den ersten Jahren stark ausgeprägte Schutzbedürfnis der aus dem alten Regime stammenden Bürokraten wurde in der Folge immer schwächer, was denjenigen eine gewisse Handlungsfreiheit hätte zurückgeben können, die "konterrevolutionäre" Absichten hegten. Wenn es dazu nicht kam, so liegt das daran, daß andere Faktoren in Er­ scheinung traten. Der wichtigste ist der Umstand, daß Faschismus wie Natio­ nalsozialismus in ihrer kritischen Schlußphase von innen durch einen wesent­ lichen Teil jener Kräfte bedroht wurden, die ihnen einst die Machtergreifung '

0. Kirchheimer, The Political Scene, S. 443-444.

10 Zur Verwaltung in Italien vgl. G. Melis, Storia dell'Amministrazione Italiana 1g611993, Bologna1996; zur Situation in Deutschland findet sich eine Bewertung der diesbe­ züglichen Diskussion in: Tb. Ellwein, Verfassung und Verwaltung, in: M. Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Petiodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 47-61; E. Czerwick, Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland. Von Weimar zur Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002), s. 183-203.

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ermöglicht hatten. Mussolini stürzte durch die Rebellion seiner .Kardinäle"

im

Konklave des faschistischen Großrats vom 25. Juli 1943 und durch den

Niedergang der herrschenden Schicht, die ihn an die Macht gebracht hatte, einschließlich jener .monarchistischen" Kreise, die ihm aus Opportunismus gefolgt waren11• Der 20. Juli 1944 führte den Deutschen vor Augen, daß die von"



-

um das

bekannte Wort Hitlers nach dem Attentat zu gebrauchen -mit

dem Nationalsozialismus gebrochen hatten; daß sich also die konservativen Kräfte, die früher auf den Führer als den Wiederhersteller deutscher Größe setzten, erhoben hatten, um sich auf radikalste Weise seiner zu entledigen". So wurde der Faschismus in seinen verschiedenen Formen gewissermaßen tat­ sächlich zu .einem Zwischenspid", zu einer Art Epidemie, der sich nur wenige hatten entziehen können und die nun, außer wenn sich regdrechte Verbrechen feststellen ließen, als .Kollektivschuld" de facto neutralisiert wurde. Außerdem zeigte sich von Anfang an, daß die Trennlinie zwischen Faschismus und neuem politischen System nicht so leicht zu ziehen war. Um die komplexe Frage mit einem Beispid zu erläutern, sei in diesem Zusammenhang daran erin­ nert, daß zwei der angesehensten Verfassungsrechtler, die an der Ausarbeitung der demokratischen Verfassung Italiens mitwirkten, Costanrino Mortati für die DC und Vezio Ctisafulli für die PCI, einst bekanntlich Theoretiker der neuen .faschistischen Verfassung" gewesen waren13• Nicht weit davon entfernt ist in Deutschland der berühmte F ali Hans Globkes: Der enge Mitarbeiter von

11 Der Zusammenbruch des Regimes ist die am wenigsten untersuchte Phase des Faschismus, obgleich es über diese Zeit eioe Überfülle an Zeugnissen und Tage­ buchaufzeichoungen gibt. Vor allem ist natürlich hinzuweisen auf R De Felice, Mussolini l'Alleato, 2. Bde., Bd. 1/2: I:Italia in guerra 1940-1943. Crisi e agunia dd regime, Tutin 1990. Ich möchte hier an das luzide Urteil des alten Rechtsgelehrten Vittorio Emanuele Orlando über die .institutionelle" Dynamik jener Ereignisse erinnern; zu ihm vgl. meioen Aufsatz: I:Ultimo Orlando: il costituente, in: Vittorio Emanuele Orlando: lo scienziato, il politico, lo statista, Soveria Manndli 2003, S. 33-58. 12 Zur Bewertung dieses Bruchs der traditionellen Führungsschichten mit Hider vgl. verschiedene Aufsätze von Hans Mommsen, gesammelt in: H. Mommsen, Alternative zu Hider. Studien zur Geschichte des deutschen Widerstandes, München 2000; U. Heinemann, Arbeit am Mythos. Neuere Literatur zum bürgerlich-aristokratischen Widerstand gegen Hider und zum 20. Juli 1944, in: Geschichte und Gesellschaft, 21 (1995), S. 111-139; U. Heinemann I M. Krüger-Charte, Arbeit am Mythos. Der 20. Juli 1944 in Publizistik und wissenschaftlicher Literatur des Jubiläumsjahres 1994, in: Geschichte und Gesellschaft, 23 (1997), S. 475-501; K.]. Arnold, Verbrecher aus eigener Initiative? Der 20. Juli 1944 und die T hesen Christian Gerlachs, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 52 (2002), S. 20-31. 13 Zu diesen beiden Rechtswissenschaftlern vgl. M. Fioravanti, La Scienza del Diritto Pubblico. Dotttine dello Stato e della Costituzione fra Otto e Novecento, Mailand 2001, und vor allem den Aufsatz: Dottrina dello stato-persona e dottrina della costituzione. Costantino Mortati e Ia tradizione giuspubblicistica italiana, ebd., S. 657-793.

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Adenauer hatte unter dem NS-Regime einen Kommentar zu den Nürnberger Rassengesetzen verfaßt". Um diese Ausführungen zu vervollständigen, ist jedoch an eine weitere und meines Erachtens äußerst wichtige Tatsache zu erinnern. Wenn es nämlich zutrifft, daß das System der Nachsicht eine .nationale Versöhnung" ermög­ lichte, die für die Stabilisierung der neuen Regierungsformen und vor allem für ihre wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten äußerst günstig war (die Alternative wäre in Anbettacht der Zahl der Bettoffenen schließlich eine Art latenten Bürgerkriegs gewesen), so ist gleichfalls wahr, daß dies keineswegs zu einer .Absolution" der verschiedenen Formen des Faschismus führte. Ich weiß sehr wohl, daß dies eine provokante Behauprung ist, die zu akzeptieren Verttetern eines histotiographischen Dogmatismus schwer fällt, aber ich glaube, sie mit stichhaltigen Argumenten begründen zu können. Das negative Urteil über den Faschismus und sein Ausschluß aus dem politischen Horizont wurde in Italien nie wirklich in Frage gestellt. Wenn es Anstöße gab, Kräfte der extremen Rechten wieder in die Regierungsmehrheit einzubinden (der bekannteste ging Anfang der fünfziger Jahre von den Spitzen des Vatikans aus"), und wenn man sich wieder .nachsichtig" dem zuwandte, was sich in zwanzig Jahren Faschismus ereignet hatte, dann ging das nie so weit, daß man eine erneute Zuwendung zu jener Ideologie und jenem Modell in Bettacht gezogen hätte. Würde man beispielsweise die Werke eines Schriftstellers wie Giovanni Guareschi untersuchen, des berühmten Schöpfers der Figuren Don Carnillo und Peppone, der ein typischer Vertreter dieser Kultur war, würde man die zwiespältige Haltung zur Vergangenheit bemerken, die als .Egoismus der Gutsbesitzer" verurteilt und nur als .nationale" Aufwallung" aufbewahn wurde. Die echten .Nostalgiker", die immerhin auch existierten, bildeten eine Minderheit ohne Anhängerschaft. 14 Zum Fall Globke vgl. P. Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 1986, S. 658-671. Ebenfalls zu Globke, aber im Rahmen einer umfasseoderen Darstellung: P. Kielmannsegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilteo Deutschland, Berlin 2000, S. 635·638. Hans Globke war 1953 von Adenauer zum Staatssekretär

ernannt worden und war ein Mitarbeiter seines Vertrauens. Man halte sich weiter vor Augeo, daß auf der Grundlage eines im Mai 1951 beschlossenes Bundesgesetzes bereits 150.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dieostes wieder die Positionen einnahmen, die sie im Zuge der Entnazifizierung verloren hatteo. 15 Es begann mit der sogenannten "Operation Sturzo", also dem Versuch, eine gemeinsame Front aus deo Regierungsparreien und deo Patteieo der extremen Rechten (MSI und Monarchisten) für die Kommunalwahlen in Rom 1952 zu bilden - einem Versuch, der an dem entschlossenen Widerstand De Gasperis scheiterte, aber später dennoch weiterverfolgt wurde. V gl. A. Riccardi, Pio XII e Alcide De Gaspeti. Una storia segreta, Rom I Bari 2003, mit bislang unveröffentlichten Dokumenten von größrem Interesse. Zus Halrung des Heiligen Stuhls, wie sie das einflußreichste Organ der Jesuiten verbreitete, vgl. R Sani, Da De Gasperl a Fanfani. La Civilti cattolica e il mondo cattolioo italiano nel secondo dopoguerra, 1945-1962, Brescia 1986.

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An welche Grenzen die Waisen des Faschismus und der politischen Rechten bei ihren Bemühungen stießen, wieder Zustimmung zu erlangen, zeigen auf schlagende Weise die Ereignissen vom Juni 1960, als ein zweitran­ giger Christdemokrat in stümperhafter Ambition versuchte, der Partei der Rückwärtsgewandten einen . offiziellen" Ort zu geben: damals stand das Land wahrhaftig wieder dicht vor einer tiefen Spaltung, einer Gefahr, die nur des­ halb schnell gebannt wurde, weil alle politischen Kräfte sich in der Ablehnung dieser Perspektive einig waren, nicht zuletzt, weil sie die bereits erreichte Stabilisierung aufs äußerste gefährdet hätte". Unter einem anderen Aspekt gilt dies auch für Deutschland: die Entscheidung, die Reparationszahlungen an Israel zu leisten (März 1953), und der Entschluß, als .Nachfolgestaat" der deutschen Vergangenheit -einschließlich ihrer Verbrechen-aufzutreten, zeugen von der entschlossenen Aufrechterhaltung des negativen historischen Urteils über denNationalsozialismus, auf dem dieNachktiegsordnung basierte, wenn es auch gleichzeitig eine grundlegende Verdrängung des Verhältnisses zur Vergangenheit gab (die wohlbekannte .unbewältigte Vergangenheit", die von vielen Beobachtern mit einem gewissen Befremden und mit Mißbilligung wahrgenommen wurde). Dabei ist freilich zu bedenken, daß Verdrängung implizit bereits ein sehr starkes negatives Urteil darstellt: man verdrängt das, wessen man sich schämt und was man ungeschehen machen will, weil man nicht imstande ist, es einzuordnen und zu verstehen". Folge dieser Situation war, daß die "Wiedereingliederung" der in die fa­ schistischen Regime Versttickten im allgemeinen unter einer ganz bestimmten Bedingung erfolgte: daß sie nicht Anspruch darauf erhoben, auf die politische Bühne im eigentlichen Sinne zurückzukehren. Deutlicher zeigt sich dies in Deutschland schon zu Beginn (wie kürzlich Thomas Schlemmer in seiner Untersuchung eines Falles in Bayern herausgearbeitet hat") und später in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gegen die Parteien der extremen Rechten. Etwas weniger deutlich ist es in Italien, wo dem MSI von Anfang an genug legaler Freiraum gelassen wird, auch wenn man nicht vergessen darf, welche Grenze hier durch das Gesetz gegen die Reorganisation des faschisti16 Zu diesem Thema siehe die Diskussion zwischen den Zeugen: Tambroni e Ia crisi del luglio 1960, in: Ricerche di Storia Pnlitica, NF, 3 (2001), S. 361-386. Für die Literatur zu diesen Ereignissen verweise ich auf die Einführung von Guido Fonnigoni und auf den von Andrea Guiso besorgten kritischen Apparat. 17 V gl. N. Frei, Vergangenheitspolitik Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS­ Vergangenheit, München 1997; einen anderen Ansatz, der jedoch in die Richtung geht, auf die ich die Aufmerksamkeit lenken möchte, verfolgt K.J. Jarausch, Normalisierung oder Re-Nationalisierung? Zur Umdeuroog der deutschen Vergangenheit, in: Geschichte und Gesellschaft, 21 (1995), S. 571-584. 18 V gl. Tb. Schlemmer, Grenzen der Integration. Die CSU und der Umgang ntit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Der Fall Dr. Mas Frauendorfer, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 48 (2000), S. 675-742.

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sehen Extremismus gezogen wurde, das vom christdemokratischen Minister Mario Scelba eingebracht und am 18. Juni 1952 beschlossen worden war. Dies erklärt sich jedoch aus der besonderen Beschaffenheit des italienischen Parteiensystems (darauf werde ich noch zurückkommen), das darauf abzielte, allen gesellschaftspolitischen Gruppen einen gewissen Raum zu geben. Der MSI wurde aber stets außerhalb des Bereichs der konstitutionellen Legitimität gehalten, bis er jüngst von seiner rückwärtsgewandten Ideologie abrückte, die sich in vielerlei Hinsicht bereits erschöpft hatte". Ein zweiter wesentlicher Faktor bei der Stabilisierung einer .nationalen Gemeinschaft" war der Weg zur Verfassung. Hier ist selbstverständlich nicht der fachlich-jutistische Inhalt der beiden Dokumente von Bedeutung, sondern das Ereignis der Verfassung als solches und seine politische und symbolische Tragweite". In diesem Fall ließe sich teilweise von unbeabsichtigten Folgen sprechen, zumindest hinsichtlich der Spitzen der Regierungen. De Gasperl und Adenauer hatten weder Neigung, an der Ausarbeitung der Verfassung mitzu­ wirken, noch besaßen sie sonderliches Interesse für den Gegenstand: sie waren am Regieren interessiert, wie der deutsche Staatschef offen zu Carlo Schmid sagte, der dies in seinen Memoiren vermerkt''. In Adenauers Fall bildete die

" Eine umfassende Darstellung fehlt noch, vgl. aber G. Ga/li, La Destra in Italia, Mailand 1983; P Ignazi, fl Polo esduso. Profilo del Movimento Sociale Italiano, Bologna 1989; R. Chiarini, Destra Italiana. Dall'Unita d'Italia ad Alleanza Nazionale, Venedig 1995. 20 Die Literatur zu den beiden verfassunggebenden Versammlungen ist umfangreich, aber alles andere als eindeutig in ihren Bewertungen, und vor allem schenkt sie der Erforschung dieser .symbolischen" Dimension nicht viel Aufmerksamkeit. Was Italien angeht, gestatte ich mir, auf meine Untersuchungen hinzuweisen: La Costituente. Un problema storico-politico, Bologna 1995; n peso del passato. Storia d'Italia e Strategie costituzionali all'assemblea costituente, in: G. Miccoli I G. Neppi Modona I P Pombeni (Hrsg.), La grande cesura. La memoria della guerra e della resistenza nella vita europea del dopoguerra, Bologna 2001, S. 383-402. Stärker auf den politischen Aspekt richten die Aufmerksamkeit: D. Novacco, L'officina della Costituzione italiana 1943-1948, Mailand 2000; A.G. Ried, n compromesso costituente. 2 giugno 1946 - 18 aprile 1948: le radici del consociativismo, Foggia 1999. Auf deutscher Seite ist das Problem sehr viel komplexer. Es siebt nicht danach aus-zumindest, wenn man sich an die maßgebenden Deutungen hält-, als hätten verfassunggebende Versammlung und Verfassung als solche eine entscheidende symbolische Rolle gespielt; vgl. z.B. den Aufsatz von W. Kaschuba, Memoria collettiva e identitii nazionale nella Germanis postbellica: le Strategie politiche e simboliche di rileginimazione, in: G. Miccoli I G. Neppi Modona I P Pombeni (Hrsg.), La grande cesura, S. 357-382. Eine sorgfältige Darstellung der verfassunggebenden Versammlung in Deutschland bei M.F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948-49, Göttingen 1998. Eine zugleich umfassende und prägnante Analyse der Entstehungsphase des Grundgesetzes bei M. Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 56-83; knapper: H.A. Wink/er, Der lange Weg nach Westen, 2. Bde., München 2001, hier Bd. 2, S. 131-138. 21 Carlo Schmid schreibt, daß Adenauersich wenig als Verfasser von Gesetzestexten" fühlte: ,Juristische Kontroversen und staatsphilosophische Dispute interessierten •

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Verfassung die notwendige institutionelle Voraussetzung dafür, daß die poli­ tischen Institutionen ihre normale T ätigkeit überhaupt aufnehmen konnten. De Gasperi hingegen besaß bereits Erfahrung mit der Regierungsarbeit, als die verfassunggebende Versammlung eingesetzt wurde, und sein Wirken als Ministerpräsident hatte schon Ergebnisse gezeitigt, auch in dem schwierigen Bereich des materiellen Wiederaufbaus des Staates und insbesondere bei der Stabilisierung. Jedenfalls griff er nur ein Mal in die eigentliche Arbeit an der Verfassung ein, und zwar, um mit dem Art. 7 die Garantie für die Neutralität der katholischen Kirche gegenüber der Republik zu erhalten22• Doch in beiden Fällen handelte es sich um einen grundlegenden Übergang, denn einige Persönlichkeiten in der Politik ahnten, daß ihren Ländern zuvor ein legitimatorisches Moment der Verfassungsgebung im eigentlichen Sinne gefehlt hatte. Dies ist für Italien leicht nachzuweisen, das sich bis dahin auf eine .oktroyierte" Verfassung gestützt hatte, auf das alte Statuto Albertino, und in dessen politischer Tradition es eine lange Debatte über das Fehlen eines solchen Moments in der Tradition der aufklärerischen Revolutionen gab. Hier jedoch wurde das neue Element gebildet von einer begeisterten Gruppe junger katholischer Intellektueller, die sich zum Ziel gesetzt hatten, am Replay einer historischen Phase teilzunehmen: Ich möchte nicht, daß dieser Ausdruck als ikonoklastisch aufgefaßt wird, er ist lediglich ein rhetorischer Kunstgriff, um eine ziemlich komplexe Realität zu erklären. Bekanntlich bestand bei den politischen Kräften Italiens keine große Klarheit über die Frage, was eine verfassunggebende Versammlung sein solle, und unter einer Verfassung stellte man sich anfangs eher ein allgemeines Gesetz mit Garantien und Regeln für die politische Arbeit vor als einen progranunatischen Text, der das Profil der neuen Demokratie bestimmte. Mit Zustimmung des PCI­ Generalsekretärs Togliatti - der sofort ahnte, welche Handlungsmöglichkeiten sich ihm damit eröffneten -, drängten die katholischen .Dossettiani" auf die Ausarbeitung einer Verfassung, die ein programmatisches Dokument für die neue Gestalt des italienisches Staates sein sollte". Die Operation zeitigte mit­ telfristig zwei bemerkenswerte Resultate: Erstens ließ sich auf dieser neuen Grundlage der Bruch mit dem vorangegangenen rechtlich-institutionellen ihn wenig". Er habe ihm jedoch offen bekanot, .ihm komme es darauf an, daß das

Groodgesetz auf breiter Groodlage und ohne Konflikte mit den Besatzungsmächten zustande komme uod daß man mit ihm regieren könne", vgl. C. Schmid, Erinneroogen, Frankfurt a.M. 1980, S. 402. 22 Eine aufschlußreiche Rekonstruktion dieses Übergangs in: F. Malgeri, La sta­ gione del centrismo, S. 59-68. Man vergesse nicht, daß der italienische Fall besonders kompliziert wird durch die Aufmerksamkeit, mit der der Vatikan die Arbeit der ver­ fassunggebenden Versammlung verfolgte.

"

V gl. P. Pombeni, ll gruppo dossettiano.

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System legitimieren und konsolidieren (die Reform eines Großteils der faschi­ stischen Verordnungen und Gesetze wurde in Italien bekanntlich dadurch erreicht, daß vor dem Verfassungsgericht die Frage ihrer Vereinbarkeit mit der Verfassung aufgeworfen wurde, und zwar häufig gerade unter Bezugnahme auf die von denJuristen seinerzeit so geschmähten programmatischen Grundsätze"). Zweitens stellte man damit an den Anfang der Republik einen .Ort" und ein .Dokument", das Ausdruck der Begegnung aller nationalen politischen Kräfte und Traditionen war, die eine bestimmte tiefverwurzelte Denkweise als noch immer blockiert von den Brüchen des Risorgimento und der Zeit nach dem Risorgimento betrachtete. Es läßt sich im Rahmen dieses Aufsatzes nicht zeigen, daß sich erst allmählich ein Bewußtsein dafür einstellte, wie grundlegend diese Erfahrung der Begegnung war. In der allerersten Phase, bis 1955/56, war die Verfassung nämlich eine Art von ausgesetztem Sohn, den niemand mehr keunen wollte, weil man in ihm vor allem das Erbgut des Partners erblickte, mit dem man sich unüberlegt vereinigt hatte und den man nun verstoßen wollte". Als man schließlich jedoch zu einer angemesseneren Ansicht über die Treunung von •Verfassungskonsens" und Berechtigung des Regierungsmandats kam

(zwei Begriffen, die die Ideologie des militanten antifaschistischen Blocks zur Deckung zu bringen trachtete), da erwies sich, daß jene Erfahrung gerade als Bindemittel der Stabilisierung wertvoll war. Etwas Ähnliches geschah in Deutschland, auch wenn einige Besonderheiten der Situation diese Wahrnehmung verschleierten. In der BRD brachte man die Frage der Wiedervereinigung aufs Tapet, die nicht nur für lange Zeit offen bleiben, sondern auch als Waffe in der politischen Auseinandersetzung dienen sollte (und von der SPD Schumachers und Ollenhauers ständig gegen die Politik Adenauers eingesetzt wurde''), so daß schließlich der Arbeit an der Verfassung das Etikett des .Provisoriums" angeheftet wurde (wie der berühmte Ausdruck Carlo Schmids lautete). Die Geschichtsschreibung wird nicht müde, die ungenügende Einbeziehung der öffentlichen Meinung in die Arbeit des Parlamentarischen Rats hervorzuheben (eine Bezeichnung, die die Deutschen bei den Alliierten durchsetzten, die stattdessen zur Einsetzung einer 24 Einer der großen Gegner dieser seiner Ansicht nach ideologischen Anlage der Verfassung war bekanntlich Piero Calarnandrei. Aber einer seiner bedeutendsten Schüler, der Verfassungsrechder Paolo Barile, hat viele Jabre später eingeräumt, daß diese Prinzipien von grundlegender Bedeutung gewesen waren, um die Konstruktion der republikanischen Legalität zu ermöglichen, vgl. P. Barile, La nascita della costitu­ zione: Piero Calarnandrei e le liberta, in: U. De Siervo (Hrsg.), Scelte della Costituente e cultura giutidica, 2. Bde., Bologna 1980, hier Bd. 2, S. 15-58. 25

Einige diesbezügliche Bemerkungen finden sich in meiner Arbeit: La Costi­

tuente. 26 Zum neuen .Nationalismus" der SPD siehe D. Grob I P. Brandt, Vaterlandslose Gesellen". Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992, S. 238-269. •

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"Verfassunggebenden Versammlung" aufgefordert hatten27). Doch einerseits interessierte man sich wenig für dieses Thema, und alles erschien ohnedies provisorisch", andererseits lenkte der gleichzeitige Beginn der Berliner-Krise (am 4. August 1948 hatte die totale Blockade begonnen) die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in eine ganz andere Richtung". In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Situation allerdings nicht allzu sehr von der Italiens. Auch hier fand die Verfassunggebende Versammlung nur mäßige Beachtung in der öffentlichen Diskussion; Themen, die im engsten Sinne mit der Verfassung zu tun hatten, tauchten nicht einmal im Wahlkampf auf (der beherrscht war von der Alternative Monarchie oder Republik oder von vagen Argumenten, die auf unwahrscheinliche Erneuerungen anspielten)". In der die öffentliche Meinung bestimmenden Presse wurde in erster Linie kriti­ siert, daß sich das Verfahren angeblich allzu sehr in die Länge zog; die Parteien jedoch hatten in Hinblick auf die Wahlen, die nach dem Abschluß der Arbeit der Versammlung stattfinden sollten, ein Interesse daran, die Spannungen und Gegensätze lebendig zu halten. In Deutschland setzte sich ein enger Kreis von Mitgliedern des Parlamentarischen Rates mitNachdruck für einen Text ein, der in gewissem Sinn zum .Manifest" einer Wiedergeburt der deutschen Demokratie werden konnte; in diesem Punkt gibt es also eine völlige Übereinstimmung mit der Situation in Italien. Die gemeinsame Arbeit an der Verfassung vereinte christliche, sozialistische und liberale Persönlichkeiten ohne allzu enge Bindung an die jeweiligen Parteien, die sich - ganz wie in Italien - als solche von dieser Diskussion weitgehend femhielten. Auf lange Sicht eignete sich der Text daher sowohl als Legitimationsquelle für alle Kräfte (bezeichnenderweise spielten die drei kommunistischen Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung keine bedeutende Rolle, so daß die Ächtung dieser Partei keine Kontroverse auslöste) wie auch als Identifikationsmoment für eine neue deutsche Generation (der sogenannte "Verfassungspatriotismus")". 27 Im ersten der drei Dokwnente, die von den Militärgouverneuren den Minister­ präsidenten der westlichen Länder bei dem Treffen in Frankfurt vom 1. Juli 1948 überreicht wurden, vereinbarte man .die Einberufung einer verfassunggebenden Ver­ sammlung", die spätestens bis zum 1. September zusammentreten und .eine demokra­ tische Verfassung ausarbeiteo" sollte. Zitiert nach M.F. Feldkamp, Der Parlameotatische Rat, s. 18.

" P. Kichnannsegg weist auf eine seinerzeit erhobene Statistik hin, der zufolge gut 40% der Befragten angabeo, keinerlei Präferenz hinsichtlich der zu schaffenden Verfassung zu haben, P. Kielmannsegg, Nach der Katastrophe, S. 256. " Zur Blocksde Berlins und ihrer emotionalen Bedeutung vgl. T Parrish, Berlin in the Balance, Raading MS 1998. " Dazu nach wie vor gnmdlegend die Untersuchung von R. Ru/filii, Costituente e lotta politica, Florenz 1978. " Wmkler hat vielleicht am deutlichsten diese Fähigkeit der führenden Gruppe der deutschen verfassunggebeodeo Versammlung hervorgehoben, sich mit dem Hintergrtmd

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Ein bestinuntes Verfahren bei der Säuberung und das besondere Lösung Verfassungsfrage waren also die beiden Säulen der Stabilisierung nach dem Krieg. Das Fundament aber bildete die Errichtung zweier Parteiensysteme, die den Übergang der jeweiligen Gesellschaft in die Zeit des Wohlstands und die Zeit nach dem Verlust der ,nationalen" Perspektiven (im Sinn des 19. Jahr· hunderts) gewährleisten konnten. Ohne diese Parteiensysteme wäre es wohl weitaus schwieriger gewesen, staatliche Gebilde zu stabilisieren, deren Probleme in der Vergangenheit zu einem guten Teil darin bestanden hatten, daß man keinen Kontext geschaffen hatte, innerhalb dessen sich die politischen Entscheidungsmechanismen des modernen Staates mit einem entscheidenden Einfluß der Volksvertretung verbinden ließen". Es ist meines Erachtens an der Zeit, die gängige Meinung zu überwinden, die den .Mangel an Demokratie" in den Verfassungssystemen des 19. Jahrhunderts betont. In Italien wurde dieses Problem sogar zum Thema einer Debatte in der Consulta, als Ferruccio Parri in einem berühmt gewordenen Beitrag die Frage aufwarf, ob sich denn die präfaschistische Phase als .Demokratie" bezeichnen lasse (was die Empörung Croces erregte''); seither lebte die Ansicht

der ersten Republik und daher mit der Geschichte auseinanderzusetzen (man denke an den besonderen Charakter der sogenannten.Weimarer Koalition"). Scharfsinnig etwa seine Bemerkung: "Carl Schmitt wurde in den westdeutschen Verfassungsberanmgen von 1948/49 selten zitiert, aber er war allgegenwärtig. In vieler Hinsicht stellten die Bonner Verfassungsschöpfer Schmitts Weimarer Positionen auf den Kopf- etwa wenn sie sich für eine konsequent repräsentative und gegen eine plebiszitäre Demokrstie, für ein Staatsoberhaupt mit überwiegend repräsentativen Funktionen und gegen jedwede präsidiale Diktaturgewalt, für einen getichtsfünnigen und gegen einen präsidialen ,Hüter der Verfassung' entschieden. Aber was die Gegnerschaft zum Weimarer Wertrelativismus anging, waren die Väter und Mütter des Grundgesetzes ,Schmittisner' -freilich utit einer wichtigen Einschränkung: Sie dachten naturrechtlich und sahen in der ,Entscheidung' keinen Selbstzweck; sie waren Nonnativisten und keine Dezisionisteil", H.A. Winkler, Der lange Weg, Bd. 2, S. 133. Zur Armasphäre des .Parlamentarischen Rats", aber vor allem der Beratungen des Verfassungskonvents, die auf der Insel Herrenchiemsee abgehalten wurden, siebe C. Schmid, Erinnerungen, S. 334-410. " Selbstverstiindlich handelt es sich dabei um ein äußerst komplexes T hema, zu dem es eine sehr umfangreiche Literatur gibt. Hier möchte ich nur auf zwei Arbeiten hin· weisen: F. Grassi Orsini I G. Quagliariello (Hrsg.), ll partito politico dalla grande guerra al fascismo. Crisi della rappresentanza e riforma dello Stato nell'eta dei sistemi politici di massa (1918·1925), Bologna 1996- das Buch behandelt umfassend den Fall Italiens, enthält aber auch Aufsätze, die einen Überblick über die europäische Situation geben; S. Cavazza, "Una repubhlica senza repubblicani, una democrazia senza democratici". Crisi di sistema e ruolo dei partiti a Weimar attraverso le riviste politiche di area liberale 1920·1930, in: P. Pombeni (Hrsg.), Crisi, Legirtimazione, Consenso, S. 133·182. " Vgl. F. Parri, Scrirti 1915·1975, Malland 1976, S. 192·193. Auf jene Äußerung reagierte Croce arn folgenden Tag, indem er erklärte, ,Italien ist von 1860 bis 1922 eines der demokratischsten Länder Europas gewesen", und betonte, es sei eine ,.,zweifels­ ohne liberale Demokratie, wie jede echte Demokatie" gewesen, vgl. B. Croce, Discorsi Parlarnentari, Bologna 2002, S. 179·180.

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als historiegraphisches Axiom zäh weiter. Es gründete sich auf das aus marxi­ stischen Restbeständen konstruierte Argument, "die Massen" hätten vor der republikanischen Phase keine Rolle in der Politik gespielt. In Deutschland sind "Semikonstitutionalismus" und "deutscher Sonderweg" bis auf den heutigen Tag Klassiker''. Gerade der deutsche Fall wird jedoch inzwischen weit weniger schematisch betrachtet. Auslöser dafür war eine mutige Untersuchung von Margaret Lavinia Anderson über das Wahl- und das parlamentarische System des Wilhelminischen Kaiserreichs", die eine breite Diskussion entfacht hat: politische Partizipation, Wahlkampf, Auffächerung der Parteizugchörigkeiten waren keineswegs unbekannt, ja, sie wurden schon im Kaiserreich ausgiebig praktiziert und natiirlich in der Weimarer Republik weiterentwickelt. Wenn tatsächlich, wie einige Kritiker Andersons behauptet haben, trotz allem das Problem eines von solcher Dynamik unberührten bürokratisch-staatlichen Regierungs- und Verwaltungssystems bestehen blieb", so muß gleichzeitig gesehen werden, daß die Deutschen von 1945 nur eine kaum mehr als zehn Jabre währende Unterbrechung der öffentlichen Praxis des politischen Kampfs im Kontext von Wahlen erlebt hatten - Auseinandersetzungen, an denen sie sich massiv beteiligten. Damit will ich nicht behaupten, daß das Parteiensystem der Bundesrepublik die früheren reproduzierte, denn dem ist nicht so, und zwar, wie ich gleich darlegen werde, aus fundamentalen Gründen. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit auf den Umstand lenken, daß der Rahmen und die Riten einer "Wahldemokratie" im Nachkriegsdeutschland keineswegs neu waren und daß seine Bürger über viele kulturelle Instrumente und persönliche Erfahrungen verfügten, um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Was mit der Gründung der BRD verschwand, das waren die "Milieu-Par­ teien", die für das Kaiserreich ebenso charakteristisch waren wie für Weimar". 34 Zwn Problem der deutschen Besonderheit sowie zu dem Mentalitätswandel, der momentan in der Geschichtswissenschaft bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema stattfindet, vgl. W Schulze, Vom .Sonderweg" bis zur .Ankunft im Westen". Deutschlands Stellung in Europa, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 53 (2002), 226-240. " M.L. Anderson, Practicing Democracy: Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton NJ 2000.

" Vgl. Ch. Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung. Einflussgewinn und fehlende Herrschaftsfähigkeit des Reichstags im sich demokratisierenden Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift, 272 (2001), S. 623-666. " Zu dieser Verlinderung noch immer nützlich, wenn auch zwangsläufig veraltet D. Orlow, West German Parries since 1945: Conrinuity and Change, in: Centtal Europeon

History, 18 (1985), S. 188-201; zur Auswirkung dieser Entwicklung auf die Wahltrends siehe H. Norpoth, Elections and Political Change: a German Sonderweg?, in: P.H. Merk/ (Hrsg.), The Federal Republic of Gerrnany at Fifty. The End of a Cenntry of Turmoil, London 1999, S. 87-99. Zu eiuigen speziellen Aspekten, aber mit Hinweisen auf breiter angelegte Untersuchungen P. Lösche I F. Walter, Katholiken, Konservative

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In diesem Sinne ist die Ablösung der einstigen Zentrumspartei durch die CDU (verbündet mit der CSU) emblematisch. Das Hauptproblem ist dabei keineswegs das der Konfession, also der Übergang von einer .katholischen" zu einer interkonfessionellen Partei; allerdings verschwand das konfessio­ nelle Vermächtnis nicht schlagartig: man denke nur an die Schwierigkeiten, anf die der Protestant Erhard stieß, als er 1963 zum Nachfolger Adenauers gewählt werden sollte''. Unter dem politischen Personal fehlte es, wie die neue Untersuchung von Frank Bösch" nachweist, in den fünfzigerJahren durchaus nicht an Konkurrenz und Streit zwischen den konfessionellen Lagern, aber es handelte sich um Persönlichkeiten, die noch aus den alten gesellschafdichen Milieus und aus den traditionellen politischen Kaderschmieden stammten. Ansonsten war die "Union" im wesentlichen eine neue Partei; der Bezug zum "Christentum" diente als kulturelles Hilfsmittel der Sicherstellung einer gewis­ sen sozialen Homogenität, aber nicht mehr der Vetteidigung der gesondetten sozialen Identität eines Bevölkerungsteils. •Christen", "Deutsche", "Bürger der BRD" wurden im Grunde als Synonyme hingestellt". Einmal mehr gäbe es Anlaß zu zahlreichen Differenzierungen und zur Erläuterung verschiedener Besonderheiten. Die katholische Kirche verlor in der BRD natürlich keineswegs an Boden, ebenso wenig wie die evangelische. Beide, namentlich aber die erstere, erlangten eine von der Partei unabhängige öffentliche Präsenz. Das setzte sie in den Stand, direkt mit der Regierung ins Gespräch zu kommen, und diese ermutigte die Kirchen, auch in Hinblick auf die Wahlen, zu einem solchen Verhalten". Im Unterschied zu Italien gewährte und liberale: Milieus und Lebenswelten bürgerlicher Parteien in Deutschland während des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, 26 (2000), S. 471492. " Die Frage ist allerdings umstritten. In seiner großen Erhard-Biographie mißt Volker Hentschel der "konfessionellen" Frage kaum Bedeotung bei: zwar erhielt der Vater des Wirtschaftswunders bei seiner Nominierung zum Nachfolger Adenauers als Bundeskanzler nur 159 von 225 abgegebenen Stimmen (die Fraktion hatte jedoch 251 Mitglieder, aber die Erklärung scheint eher darin zu bestehen, daß es, mehr oder minder im Hintergrund, noch andere Bewerber gab (etwa von Brentano). Vgl. V. Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München 1996, S. 424-425. Man vergesse jedoch nicht, daß Erhard erst Anfang 1963, also kurz vor seiner Wahl, formell der CDU bei­ getreten war, nachdem er zuvor die Position eines "Parteilosen" innehatte. " F. Bösch, Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspanei 1945-1%9, Stuttgan I München 2001.

'' Manfred Görtemaker hat zu Recht hervorgehoben, daß Erhard später diese Ideologie zur Vollendung gebracht hat. Er bezeichnete sich zugleich als gemäßigter, christlicher und liberaler Politiker und machte sich schließlich zum Volkskanzler", vgl. M. Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik, S. 391-395. •

41 Die Situation der katholischen und evangelischen Kirche ist umfassend erforscht worden. Einen Überblick über die Arbeiten zu beiden Kirchen gibt W.R. Ward, Guilt and Innocence: the German Churches in the Twentieth Century, in: Journal of Modem History, 68 (1996), S. 398426; einen Forschungsbericht zum Katholizismus K.-E. Lönne,

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dies der christlichen Partei eine beträchtliche Handlungsfreiheit in der Frage des Dienstes an der .katholischen Soziallehre". Es ist bedeutsam, daß es in Deutschland, wie jüngst eine Arbeit von Wilhebn Damberg gezeigt hat, im Grunde keine Katholische Aktion nach dem französisch-italienischen Vorbild der dreißiger und vierziger Jahre gegeben hat42• Dadurch und durch die Stabilität der Führerrolle Adenauers blieb dem Land die Verquickung von Politik und Theologie erspart, die das Handeln der italienischen Christdemokratie so sehr belasten sollte. Wie sehr, das zeigte sich in den Jahren 1951-1953, als der Vatikan ntit Blick auf die neue antikommunistische Kampagne (und auf der Woge der spontanen Begeisterung einiger Spitzen des Vatikans für Francos Experiment) ungeheuren Druck auf De Gasperl ausübte, sich den monarchistischen und neofaschistischen Rechtsparteien zu öffnen". Katholizismus-Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft, 26 (2000), S. 128-170. Zum Mentalitätswandel vgl. B. Stambolis, Nationalisierung trotz Ultramontanisierung oder .Alles für Deutschland. Deutschland aber für Christus". Mentalitätsleitende Wertorientieroog deutscher Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, 269 (1999), S. 57-97. Speziell zum Bruch in der Nachkriegszeit K.-E. Lönne, Katholizismus 1945: Zwischen gequälter Selbstbehauptung gegenüber dem Nationalsozialismus und Öffnung zur pluralistischen Gesellschaft, in: H.-E. Volkmann (Hrsg.), Ende des Dritten Reiches- Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München 1995, S. 745-769. Eine Überblicksdarstellung zum Protestantismus bei W Schieder (Htsg.), Evangelische Kirche nach dem Nationalsozialismus, in: Geschichte und Gesellschaft, 18 (1992), 1, S. 5-69; C. Lepp, Wege des Protestantismus im gereilten und wiedervereinigten Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 51 (2000), S. 173-189. Zu einer speziellen, aber sehr bedeutsamen Frage A. Doering­ Manteuffel, Die ideologische Blockbildung im Kalten Krieg und ihre Bedeutung für den westdeutschen Protestantismus in den 1950er und 1960er Jahren, in:]. Mehlhausen I L. Siegele- Wenschkewits (Hrsg.), Zwei Staaten- zwei Kirchen?, Leipzig 2000, S. 33-45; Tb. Sauer, Die Geschichte der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik. Schwerpunkte und Perspektiven der Forschung, in: C. Lepp I K. Nowak (Hrsg.), Evangelische Kirche im gereilten Deutschland (1945-1989190), Göttingen 2001, S. 295-309. 42 Vgl. W Damberg, .Radikal katholische Laien an die Front!". Beobachrungen zur Idee und Wukungsgeschichte der Katholischen Aktion, in:]. Köhler I D. van Melis (Hrsg.), Siegetin in Triimmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Stuttgart 1998, S. 142-160. Ausgebaut und auf einen konkreten Fall angewendet hat diese T hese W Damberg, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945-1980, Faderborn I München 1997. 43 Heute werden allmählic h die Einzelheiten dieser Ereignisse bekannt. Das vor kurzem erschienene Buch von A. Riccardi, Pio XII e Alcide De Gasperi, hat weiteres Material für einen Vorgang geliefert, der im übrigen bereits teilweise durch eine andere Arbeit desselben Autors dokumentiert worden war: ll partito Rarnano nel secondo dopoguerra 1945-1954, Brescia 1983; vgl. außerdem G. Zizola, ll microfono di Dia. Pio XII, padre Lombardi e i cattolici italiani, Milano 1990. Die Bedeutung dieser Vorgänge geht weit über das T hema der Beziehungen zwischen DC und Vatikan hinaus. Sie bilden die Erklärung für die Krise der dossettisnischen Linken, die im Oktober 1951 von ihrem Führer aufgelöst wurde, als klar wurde, daß durch die Auseinandersetzung zwischen .vatikanischer" Rechten und De Gasperl die .junge Linke" zum Trojanischen Fferd zu

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Die Union war, zusammenfassend gesagt, zugleich eine "Kanzlerpartei" und eine .Spendenpartei"44, die die traditionelle"Weltanschauungspartei" im Sinne Webers überwand- es sei denn, man wollte diese Weltanschauung auf die Frage der "Westorientierung" reduzieren, die allerdings mehr ein issue im modernen politologischen Sinn als ein System der Weltinterpretation darstellt". Daß die Kanzlerpartei sich diese .Physiognomie" gab, beeinflußte das System in seiner Gesamtheit entscheidend. Meines Erachtens liegt hier eine erste und wichtige Ursache für die Vereinfachung der politischen Landschaft, obgleich mir bedeutsam erscheint, was Daniel E. Rogers in einem Aufsatz deut­ lieh gemacht hat. Rogers zufolge ging ein anfänglicher und ausschlaggebender Anstoß Zut Vereinfachung des politischen Systems von den Besatzungsmächten aus, die die Entfaltung mehrerer .ideologischer" (vor allem konservativer und regionalistische Parteien) verhinderten, die immerhin gute Erfolgsaussichten

werden drohte, mit dem die Spitze der DC ins Wanken zu bringen war; diese schien " nämlich der Perspektive einer .christlichen Politik eher die "Treue" zu halten als De Gasperl mit seinem prinzipiellem Agnostizismus hinsichtlich der "Ziele derGeschichte". Dossetti aber begriff, daß man ihn instrumentalisieren wollte. In Wahrheit entsprach eine solche .christliche Politik" nämlich nicht seiner Vorstellung von gesellschaftlicher Solidarität- diese war von der Idee der Errichtung einer ,.Ovitas Humana" inspiriert -, sondern bedeutete die vollstiindige Übertragung des .römischen Katholizismus" auf die Ebene des politischen Systems. Um einer solchen lnstrumentalisierung zu entgegen, zog er sich aus der Politik zuröck und widmete sich der Arbeit an der Kirchenreform (er war schließlich sogar in wichtiger Funktion, allerdings hinter den Kulissen, am II. Vatikanischen Konzil beteiligt). Die Aullösung der .corrente dossettiana" ist wesentlich für das Verständnis des Wandels in der DC. Sie verliert von diesem Moment an inuner mehr den Charakter einer .Milieu-Partei" (den Status eines politischen Sprachrohrs jenes .katholischenGhettos", das von Risorgimento und "liberalem Staat marginalisiert worden war), um inuner mehr eine "catch-all-party" zu werden, in der die "konfessio­ nelle" Identität eine Komponente der "nationalen" Identität ist. Dies zeigte sich etwa in der lebhafte Debatte bei den beiden Treffen zur Aullösung derGruppe der .Cronache Sociali" (in der auch ganz verschiedene Kulturen vertreten waren); diese Treffen im Schloß von Rossena im Appennin sind durch vielerlei Zeugnisse dokumentiert. V gl. G. Tassani, La terza generazione. Da Dossetti a De Gasperi, tra stato e rivoluzione, Rom 1998, S. 37-56; G. Trotta,Giuseppe Dossetti. La rivoluzione nello stato, Florenz 1996, S. 398-408; V. Saba, Quella specie di laburismo cristiano. Dossetti, Pastore, Romani e l'alternativa a DeGasperl 1946-1951, Rom 19%, S. 445-471. •

44 Außer der schon zitierten Arbeit von F. Bösch, Die Adenauer-CDU, vgl. die Betrachtungen von P. Kielmannsegg, Nach der Katastrophe, S. 261-263, der betont, "ein Programm, das diesen Namen verdient, hat die Partei sich erst 1968 gegeben".

45 Das T hema ist wirklich komplex. Einerseits geht es nämlich um die Wahl eines "strategischen" Standorts des neuen politischen Subjekts und andererseits um das Phänomen einer neuen kulturellen Hegemonie von globaler Dimension. V gl. dazu A Döring-Manteu/fel, Wie westlich sind die Deutschen? Ametikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Götringen 1999. Eine Bilanz der bisherigen Forschung zieht C. Mauch, Im Westen angekonunen. Ideengeschichtliche Forschungen zur frühen Bundesrepublik, in: Historische Zeitschrift, 272 (2001), S. 107-114.

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gehabt hätten". Die Alliierten wollten einerseits keine .politische Agitation", weil diese als gefährlich angesehen wurde, und verringeneo aus diesem Grund die Freiräume, um sie den historisch konsolidienen Paneien vorzubehalten; andererseits betrachteten sie die Paneien als Reservoirs für die Rekrotierung von Personal für die kommunalen Verwaltungen, und wandten sich deshalb nur jenen zu, die traditionell über administrative Erfahrung verfügten. Dies stellte natiirlich für diese .historischen" und nicht (oder nicht allzu sehr) in den Nationalsozialismus verstrickten Paneien ein wichtiges Sprungbrett für ihren Erfolg dar: sie waren die einzigen noch vor der Wiederherstellung der Souveränität anerkannten deutschen .Institutionen". Mit der 1949/53 eingefühnen .Sperrklausel" wurde lediglich eine Tendenz der Bundesbürger unterstützt, wie sie auch aus den statistischen Erhebungen der Soziologen hervorging: eine große Gleichgültigkeit gegenüber der Politik, vor allem der Politik als Ideologie und Mobilisierung. Nach den von Gerhardt Schmidchen veröffentlichten Daten hatten Ende der fünfziger Jahre 71% einer signifikanten Stichprobe von Deutschen seit 1945 an keiner politi­ schen Versannnlung mehr teilgenommen, und 48% gaben an, in den eige­ nen Gesprächen niemals, auch nicht beiläufig oder zufällig, ein politisches T hema angeschnitten zu haben. Unter diesen Umständen war es kein solch schwieriges Unterfangen, die reinen Agitationspaneien auszuschließen und die Lobbypaneieo in der CDU/CSU aufzunehmen47• Aber vor allem konnte dies in Anbetracht eines gewissen damals merklichen Trends zur .Entpolitisierung"48 nicht auf gesellschaftliche Opposition stoßen. Das System zwang allerdings auch die SPD zur Veränderung. Sie war tatsäch­ lich als einzige Panei teils .Milieu"-, teils .Weltanschauungspanei" geblieben, auch wenn sich diese Weltanschauung nun zu gleichen Teilen aus alten sozia46 D.E. Rogers, Transforming the German Party System: the United States and the Origins of Political Moderation, 1945-1949, in: Journal of Modem History, 65 (1993), s. 512-541. 47 Die Sitzungsprotokolle der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag aus den ersten Jahsen der zweiten Republik machen deutlich, daß es eine bestimmte politische Haltung gab, die schließlich jede Annäherung an high politics vennied, um sich ganz auf konkrete Fragen des Eingriffs in die Gesellschaftsstrnktur zu konzentrieren, vgl. H. Heidemeyer (Hrsg.), Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungs­ protokolle 1949-1953, Düsseldorf 1998. 48 Als ,das' Dokument dieser Krise undihrerRezeption durch die Sozialwissenschaften gilt das Buch von H. Schelsky, Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957, aber natür­ lich ist das Phänomen sehr vielschichtig. Eine Einordnung des Buches versucht F.-W Kersting, Helmut Schelskys .Skeptische Generation" von 1957. Zur Publikations- und Wukungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 50 (2002), S. 465-495. In diesem Aufsatz wird unter anderem der Zusammenbang zwischen dem von Aderrauer für die Wahlen von 1957 gewählten Slogan "Keine Experimente!" und diesem Klima hervorgehoben.

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listischen Theorien und Elementen von Neonationalismus zusanunensetzte. Der Wandel der SPD von einer .Klassenpanei" zu einer "Volkspanei" (oder nachgerade zu einer .catch-all-pany") ist zu bekannt, um ihn an dieser Stelle darstellen zu müssen". Ein Faktum muß dennoch erwähnt werden: Leitmotiv dieser Entwicklung war der durch den Wohlstand" eingeleitete gesellschaft­ liche Wandel. Studiert man die in der .Neuen Gesellschaft" zwischen 1956 und 1959 erschienenen Artikel, die ich in einer guten Examensarbeit'' las, erkennt man, wie umfassend und differenzien man darüber nachdachte, daß es den .Arbeiter" in seiner traditionellen Gestalt nicht meltr gab und es des­ wegen notwendig war, sich einer neuen und breiteren gesellschaftlichen Basis zuzuwenden. Die Wurzel dieser Entwicklung, so hat jüngst Christoph Nonn in einem Aufsatz behauptet'1, sei in der .Ametikanisierung" der deutschen Politik zu suchen, in der .personality show" und dem Siegeszug des Konzepts der .catch-all-party" in den Politikwissenschaften (der Begriff war von Otto Kirchheimer eingeführt worden, einem Autor, den Willy Brandt und Fritz Erler gleichermaßen kannten). •

Nonn liefert keine Belege für seine These. Ganz zufällig habe ich heraus­ gefunden, daß der einst nach Amerika emigrierte deutsche Politologe dieses Konzept schon in einem Aufsatz aus dem Jahr 1954 verwendete, in dem er die .politische Szene in Westdeutschland" analysierte". Dort definierte er nicht nur die CDU als .a conservative catch-all-party", sondern stellte auch bezüglich der SPD, der er vorbehaltlos den Status einer .loyal opposition" zuerkannte, die Frage: "Will the SPD develop into a catch-all-party, and thus retain the possibility of leading an alternative government? "53• 49 Die halbamtliche Deutung dieser Angelegenheit bei K. Klatzbach, Der Weg zur Staatspartei. Prograrmnatik, praktische Politik und Organisation der Deutschen Sozialdemokratie 1945-1965, Berlin 1982; eine neuere Deutung, die diesem Modell sehr kritisch gegenübersteht, gibt S. Padgett, The SPD: the Decline of the Social Democrarie Volkspartei", in: K. La"es I P. Panayi (Hrsg.), The Federal Republic of Germany since 1949, London 1996, S. 230-253. •

50 Vgl. F. Traldi, .Die Neue Gesellschaft" e l'evoluzione della SPD !956-!959, Tesi di laurea Bologna, 2001102. 51 C. Nonn, Das Godesberger Progratrun und die Krise des Ruhrbergbaus. Zum Wandel der deutschen Sozialdemokratie von Ollenhauer zu Braodt, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 50 (2002) S. 71-97. '2 V gl. 0. Kirchheimer, Notes on the Political Scene in Western Germany, in: World Politics, 7 (1954), S. 306-321. Dieses Erscheinungsjahr sei zumindest als Kuriosität ver­ merkt. G. Sivini behauptet nämlich in seinem Aufsatz: La sociologia dei partiti e lo stato, in: Sociologia dei partiti politici. Le trasformazioni nelle democrazie rappresentative, Bologna 1971, daß die voll entwickelte Theorie der .catch-all-party" auf das Jahr 1965 zurückgehe und erste Vorläufer im Jahre 1957 zu finden seien (vgl. ebd., S. 51). In dem von mir genannten Aufsatz liegt der Begriff aber m.E. nicht nur in einem ersten Keim vor, er wird vielmehr so verwendet, als sei er unstrittig und umnittelbar verständlich. 53

Vgl. 0. !{jrchheimer, Notes on the Political Scene.

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Die Wende der SPD in Bad Godesberg bedeutete im wesentlichen den Abschied vom deutschen Parteiensystem Bismarckscher Prägung, die im Parlament den Sitz der Vertretungen gesellschaftlicher Interessen sah. Diese Sichtweise wurde vollständig ersetzt durch das Konzept des "Wettbewerbs um die Regierung", der sich auf allgemeine Programme zur Verwalrung des Wohlstands griindete. Die .Kanzlerdemokratie" fühlte sich inzwischen stark genug für einen solchen Weg; das Problem der korporativen Repräsentation wurde so, selbstver· ständlich innerhalb gewisser Grenzen, von dem der politischen Repräsentation getrennt. Erhards Versuch, bei den Wahlen vom September 1965 die Idee einer .formierten Gesellschaft" mit einem "Volkskanzler" zu propagieren, erscheint mir in dieser Hinsicht wie der- freilich gescheiterte -Versuch einer Kehrtwende, obwohl dies noch eingehender untersucht werden müßte'4• Genau in diesem Punkt jedoch zeigr sich der Unterschied zur Entwicklung in Italien. Auch hier hing die Stabilisierung eng mit dem Parteiensystem zusam­ men, aber mit anderer Sichtweise und in einem anderem Kontext. In aller­ erster Hinsicht ist dabei natürlich an die Rolle und die Position der Regierung zu denken. De Gasperis Situation war völlig anders als die Adenauers: ihm gelang es nicht, die DC zur Partei des Ministerpräsidenten umzugestalten, wie er es sich vielleicht doch gewiinscht hätte und wie es ihm wahrscheinlich seine politische Erfahrung riet". Seine Vorstellung von der Partei, die ihn zu einer hatten Auseinandersetzung mit der dossettianischen Strömung führte, blieb einerseits dem 19. Jahrhundert verhaftet und war andererseits ihrer Zeit voraus. De Gasperl verstand die Partei nämlich als eine Organisation zur Wählermobilisierung und allenfalls zur Bündelung der gesellschaftlichen Interessen, nicht aber als eine in sich geschlossene institutionelle Struktur, die aus sich selbst heraus polirische Bindungen zu schaffen vermochte''. Zu dem 54 V gl. M. Görtemaker, Geschichte der Bundesrepuhlik, S. 413-18; Ludwig Erhard, S. 559-564.

V. Hentschel,

" In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, daß eine vollständige historische Studie zuDe Gasperl noch nicht vorliegt. Die einzige speziell ihm gewidmete wissen­ schaftliche Untersuchung ist nach wie vor die von P Scoppola, La proposta politica di De Gasperl, 3. Auf!., Bologna 1988, die allerdings nur die Phase etwa vom Ende der dreißiger Jahre bis 1947 berücksichtigt. Die neuesten Arbeiten über den Staatsmann stammen von P. Craveri,De Gasperl e il ricorso necessario ai "vincoli esterni", in: ders., La democrazia incompiuta. Figure del '900 italiano, Venedig 2002, S. 117-134, sowie ders., Una leadership .atipica": il caso di Alcide De Gasperl, in: Ricerche di Storia Politica, NF, 5 (2002), S. 393-402. Darüber hinaus gibt es die schon mehrmals ange­ führte Arbeit von Andrea Riccardi. In allen genannten Arbeiten finden sich Hinweise auf die verfügbare Memoirenliteratur und auf die Schriften De Gasperis. " Eine Interpretation der .Parteilorm" in der Mitte des 20. Jahrhunderts habe ich versucht in meiner Studie: Partiti e sistemi politici nella storia contemporanea, Bologna 1994. Zur Debatte zwischen den Dossettiani und De Gasperl siehe G. Baget-Bozzo, ll partito cristiano al potere. LaDC diDe Gasperl e diDossetti 1945-1954, Florenz 1974; P Pombeni, ll gruppo dossettiano.

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scheinbaren Sieg der Linie De Gasperis über die "junge Linke" der (nach ihrer größtenteils akademischen Herkunft so genannten) "Professörchen" war es in Wahrheit -wie bereits erwähnt wurde" -zu einem guten Teil des­ halb gekommen, weil Dossetti, der Führer dieser Strömung, sich der Gefahr bewußt wurde, die mit seinem Paneimodell verbunden war: Es drohte zum "Trojanischen Fferd" zu werden, mit dessen Hilfe sich die Spitzen des Klerus in die politische Autonomie der Katholiken, die er doch stets vetteidigt hatte, einmischen konnten''. Dennoch löste sich durch den Abgang der Dossettiani von der politischen Bühne im Oktober 1951 für De Gasperl kein einziges Problem. Nicht nur wuchs, wie wir gesehen haben, der Druck des Vatikans; auch der Versuch, die Mehrheit vermittels eines Wahlrechts mit Mehrheitsprämien zu stabilisieren, blieb ergebnislos. Mit der sogenannten "!egge truffa", also der Gewährung einer beträchtlichen Mehrheitsprämie für diejenige Koalition, die bei den Wahlen 50% plus eine Stimme erhalten würde'', sollte im Prinzip verhinden werden, daß die innerhalb der Mehrheit der Mine bestehenden Spannungen zwischen Rechts-Gruppierungen (den Liberalen) und Mine-Links-Gruppierungen (den Republikanern und den Sozialdemokraten) sich auf das gentischte christdemo­ kratische Bündnis auswirkten und dessen interne Risse verstärkten; außerdem sollte damit die Koalition gegen Angriffe von außen (seitens der Kirche und des Arbeitgeberverbandes, um nur zwei Fälle anzuführen) gewappnet werden. Das Gesetz fühne aber nicht nur nicht zum gewünschten Resultat, weil eine geringe Zahl an Stimmen fehlte"'; es veranlaßte das System auch zu einer ernsthaften Reflexion darüber, daß es, zumiodest auf lange Zeit, den "koufö­ derativen" Charakter des Staates nicht in Frage stellen durfte, den es von einer noch nicht vollstiindig "nationalisierten" Gesellschaft geerbt hatte. Das beweist der Umstand, daß zwar beim Wahlgang vom 7.Juni 1953 nur 57.000 Stimmen gefehlt hatten, um den Erfolg der Wahlrechtsreform zu sichern, die Aktion aber dennoch offiziell abgebrochen und sogar das Gesetz aufgehoben wurde. "

Vgl. oben, Arun. 43.

's Das Bestehen eines "dossettianischen lntegralismus" ist eine reine Legende (zu einem nicht geringen Teil der Feder Giulio Andreottis zu verdanken). Mit einem Artikel von G. Lazzati, Azione cattolica e azione politica, erschienen in der Zeitschrift der Gruppe, "Cronache Sociali", legte schon im November 1948 darauf fest, daß beide Bereiche strikt getrennt bleiben sollten. Das Thema war so bedeutsam und entscheidend, daß die Dossettiani sich anfangs entschlossen hatten, ihm ein "Sonderheft" zu widmen, für das auch unter den Abonnenten geworben wurde. Vgl. P. Pombeni, Le "Cronache Sociali" di Dossetti. Geogralia di un movimento di opinione, Florenz 1976, S. 20-21.

" Hierzu P. Pombeni, La rappresentanza politica, in: R Romane/li (Hrsg.), Storia dello Stato Italiano dall'Unitä ad oggi, Rom 1995, S. 118-119; M.S. Piret#, La !egge truffa . ll fallimento dell'ingegneria politica, Bologna 2003. 60 Zum Scheitern des Gesetzes und den Folgen, F. Malgeri, La staginne del cen­ triamo, S. 137-143.

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Offenbar hatten alle begriffen, daß das politische System Italiens nicht auf diesem Weg seine Stabilisierung finden würde und daß man das akzeptieren mußte, was später als .Parteienrepublik" bezeichnet wurde61• Die Besonderheit in der Entwicklung des italienischen Parteiensystems gegenüber dem deutschen hat ihren Ursprung in vielerlei Faktoren, aber gewiß nicht darin, daß es De Gasperri an der Gelegenheit gefehlt hätte, sich durch eine frühzeitige und für eine gewisse Spanne relativ unabhängige Ausübung des Regierungsamts ( 1946-1948) zu legitimieren". Der Unterschied liegt meines Erachtens vielmehr darin, daß De Gasperl eine besondere .Mission" fehlte, die Adenauer hingegen in der internationalen Politik und in der Westorientierung Deutschlands fand. Für Italien kam der Entscheidung für den Westen geringere Bedeutung zu: Im Gegensatz zu dem Land jenseits der Alpen verfügte Italien immerhin über eine Armee, hatte bereits einen Friedensvertrag geschlos­ sen, grenzte nicht an den sowjetischen Einflußbereich. Mit dem Beitritt zur NATO folgte man nur der Tradition der italienischen Außenpolitik, sich in ein Bündnissystem einzufügen, damit man im richtigen Klub saß". Und dann war da noch der Vatikan. Wie bereits bemerkt, ist die Abhängigkeit der urspriinglichen DC von der Azione Cattolica ein nicht zu unterschätzender Umstand64• Zumindest stichwortartig muß man daran erinnern, daß die Azione Cattolica kein bloßes Organisationssystem konfessioneller Art war, sondern ein politisches Projekt, um die Gesellschaft wieder für die Werte des Katholizismus zu gewinnen und dessen Vorherrschaft wiederherzustellen. Um die Befreiung von dieser Hypothek zu erleben, mußte die Partei erst auf das Il. Vatikanische

" V gl. P. Scoppola, La repubblica dei partiti. Evoluzione e crisi di un sistema politico (1945-1996), Bologna 1997. 62 Die ersten vier Regierungen De Gasperl agierten, ohne mit dem Parlament ernsthafte Probleme zu haben, das bis 1946 in der Gestalt der Consulta ebensowenig Einfluß hatte, wie ab 1946 in der Gestalt der verfassunggebenden Versammlung. Man halte sich vor Augen, daß in dieser gesamten Phase die Legislative vollständig in der Hand der Regierung lag. V gl. P. Calandra, I gnverni della Repubblica. Vicende, fonnule, regnle, Bologna 1996, S. 38-59.

" Über den Beitritt zum Nordadantikpakt und die damit verbundenen Probleme vgl. G. Formigoni, La Democrazia Cristiana e I' alleanza occidentale 1943-1953, Bologna

1996.

64 In diesem Zusammenhang ist an zwei Aspekte zu erinnern: einerseits an das Verhältnis der DC zu einigen Bewegungen innerhalb der Azione Cattolica, besonders zu jenen, die in Studenten- und Akademikerkreisen Persönlichkeiten anwerben woll­ ten, die von Anfang an eine Schlüsselrolle spielen sollten (ein Aspekt, der durch die Untersuchungen von R Moro wohlbekannt ist, siehe insbesondere R. Moro, La forma­ zione della classe dirigente cattolica [1929-1937], Bologna 1979); andererseits an das allgemeinere Verhältnis der DC zum katholischen Verbandswesen und dessen Milieu; vgl. A. Giovagnoli, La cultura democristiana. Tra Chiesa Cattolica e Identita italiana 1918-1948, Rom I Bari 1991.

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Konzil warten. Plötzlich waren die Traditionalisten an der Spitze des Vatikan ntit dem Widerstand gegen die anstehende Kirchenreform beschäftigt; die Laienschaft, geformt von der Azione Cattolica, mußte sich wieder ntit einer Kirchenreform auseinandersetzen, durch die sie auf die Gesellschaft einwirken konnte, nachdem man den Traum einer politisch-moralischen Restauration aufgegeben hatte. In diesem Zusammenhang kann allerdings die DC nicht vereinfachend als .catch-all-party" im Sinne Kirchbeimers bezeichnet werden, zumindest nicht in den fünfzigerJahren. Viehnehr war sie ein föderativer Organismus, der in seinem Inneren ein komplexes Universum von Beziehungsgeflechten auf regionaler, ideologischer, gesellschafdicher und auch sonstiger Grundlage barg". Seine Organisationsform fand dieses System in einem Verband von .Strömungen", der sich zwischen 1953 und 1960 herauszubilden begann, aber erst nach diesem Zeitraum vollständig Gestalt annehmen sollte, bis er zur eigentümlichen .Form" dieser Partei wurde66• Die Dossettiani waren nie eine .Strömung" in dem Sinn, den der Begriff später annehmen sollte; viehnehr waren sie ein .Flügel" oder, um genauer zu sein, eine der "Seelen" der Partei. Die "Iniziativa Democratica" -die Strömung, die Fanfani ins Leben rief, wobei er sich einen Teil des dossettia­ nischen Know-how zunutze machte - begann das neue Modell zu erproben; sie blieb aber noch eine Gruppe im Dienst eines einzelnen (wenn auch in die Leitungsgruppe seiner Partei eingebundenen) Politikers, der um das Amt des Parteisekretärs und langfristig das des Regierungschefs kämpfte". Allmählich jedoch strukturierte sich die DC - zu einem nicht geringen Teil auch infolge des Widerstandes anderer prominenter Parteigenossen gegen die Ambitionen Fanfanis- als ein System, das in seinem Inneren vielerlei Komponenten hatte, die das Gewebe einer katholischen Welt erkennen ließen, die in gewisser Weise vom Vatikan zur .Einheit" g ezwungen worden war, während sich zugleich eigenständige Strukturen herauszubilden begannen, die für den professionellen Wettstreit unter Parteien unabdingbar waren. Die von Strömungen geprägte Parteistruktur gestattete es der DC nicht nur, ein weites Feld - auch ntiteinander konkurrierender - gesellschafdi­ eher Fragen abzudecken; sie gewährleistete vor allem die Beherrschung der Spannungen. Tatsächlich fanden Spannungen unterschiedlichster Art, ange­ fangen bei denen, die durch das Verhältnis zur Kirche entstanden, über die" Vgl. A. Giovagnoli, ll partito italiano. La Democrazia Cristiana dal 1942 al 1994, Rom I Bati 1996. 66 Vgl. die interessante Literaturübersicht von V Capperucci, La storiografia del giomo dopo. ll dibattito sulla crisi della Democrazia Cristiana negli anni Novanta, in: Ricerche di Storia Politica, NF, 5, (2002) S. 231-248.

" G. Baget-Bozzo, ll pattito cristiano e l'apertura a sinistra. La DC di Fanfani e di Moro 1954-1962, Florenz 1977; G. Mantovani, Gli eredi di De Gasperi. Iniziativa democratica e i "giovani" al potere, Florenz 1976.

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jenigen, die vom "interklassistischen" Zuschnitt der Partei herrührten, bis zu denen, die sich durch die Unterstütmng der Regierungsarbeit ergaben, in der Dialektik der Strömungen, die sich auch in der Parteispitze niederschlug, eine Art Klärungs- und Ausgleichsstelle. Dieses System konnte nur funktio­ nieren, wenn die Regierung im allgemeinen und ihre Spitzen im besonderen "schwach" blieben: dies ist meines Erachtens die Deutung für die Wende vom März 1959, als es zur Spalrung der fanfanianischen Strömung und zur Gründung der Dorotei kam68• In dieser Hinsicht war Aldo Moro der ideale Parteisekretär. Er war sich der Komplexität der politischen Situation (aber auch der italienischen Geschichte) bewußt, mit der man nicht umgehen durfte, ohne der Bewahrung der Mechanismen, die das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Komponenten aufrechterhidten, die größte Aufmerksamkeit zu schenken. Im Guten wie im Schlechten repräsentierte Faufani den Versuch, die Regierungsgeschäfte nach dem Vorbild De Gasperis weiterzuföbren, wobei er dieses Modell natürlich dem neuen historischen Kontext anpassen mußte.

Es war nicht so paradox, daß die Organisationsform der DC, mutatis mu­ tandis, zum Paradigma des gesamten italienischen Parteiensystems wurde: eines Mosaiks aus Parteien, die die Schichtungen innerhalb der Nation reprä­ sentierten, nicht nur in gesellschaftlicher, sondern auch, und in gewissem Maß noch mehr, in kultureller Hinsicht. Die gegenseitige Kontrolle der Parteien und die Fähigkeit jeder einzdnen, wenn schon nicht zu regieren, so doch den Machtapparat der jeweiligen Regierung vollständig zu blockieren, stabilisierten das System. Es garantierte nämlich allen nationalen Kräften, daß ihr Anteil am öffentlichen Raum nicht beschnitten werden konnte und daß sie bei einer Verteilung neuer Ressourcen nicht an Gewicht verlieren würden. Später gab man diesem System die Bezeichnung "Konsoziativismus", aber es handdte sich lediglich um die Vervollkommnung des längst Praktizierten und dessen offene Anerkennung in dem Augenblick, als es nicht mehr notwendig war, die einzdnen Identitäten durch frontale Auseinandersetzungen mit den übrigen und deren Verdammung zu verteidigen. Darüber darf allerdings nicht verges­ sen werden, daß am Beginn dieses .Konsoziativismus", so paradox dies auch scheinen mag, die Entscheidung De Gasperis zu Gunsten der "vierten Partei" stand, also die Entscheidung, neben den im Parlament vertretenen Parteien auch führende Wirtschaftskreise in das Regierungssystem einzubeziehen. Ein Schritt, den er in der Überzeugung tat, daß in Italien kein Jakobinertum" (die Bezeichnung stammt sdbstverständlich von mir) bei der Herbeiführung der politischen Entscheidungen möglich sei". 68 Hierzu verweise ich auf die treffenden Ausführungen von P Craveri, LaRepubblica dal 1958 al 1992 (Storia d'Italia, 24), Turin 1995, der in diesem Zusanunenbang von einer "besonderen Demokratie" gesprochen hat, vgl. S. 1-56. " Anregende Arunerkungen dazu bei P Craveri, Angdo Costa e Ia breve parabola del "quarto partito", in: ders., La democrazia incompiuta, S. 175-210. Siehe in diesem

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Die Stabilität dieses Kosmos spiegelt sich dendich in dem System der Verhältniswahl, das bedeutende Verschiebungen in der Verteilung der Stimmen auf die Parteien nicht einmal aagesichts dramatischer Ereignisse verzeichnete. So etwa im Jahre 1958, als der PCI unerschüttert die Mißbilligung auffing, die sich im Zusammenhaag mit den Ereignissen in Ungarn von 1956 durchaus vernehmlich gemacht hatte70• Unter einem gewissen Aspekt stellte gerade der PCI den interessaatesten Fall der Stabilisierung Italiens dar71• Die Existenz einer Partei, die, zumindest verbal, aa der .Revolution" festhielt, erstaunte viele Beobachter, vor allem Ausländer, die sich derartige Phänome nur als Reaktion auf wirtschafdiche und soziale Depression vorstellen konnten. Dort, wo die historische Notwendigkeit einer .Befreiung des Proletariats" bestaad, war das Wiedererstarken revolutionärer Bewegungen verständlich; doch aagesichts eines weit verbreiteten Wohlstaads war dieses Faktum schwer einzuordnen. In diesem Zusammenhaag darf nicht vergessen werden, daß einer der ideologischen Gründe für die Durchführung des Marshall·Plaos gerade in der Annahme bestaad, daß eine Verarmung die Bevölkerung in die Arme des Kommunismus treiben, der Wohlstaod sie hin· gegen für die Demokratie einnehmen würde72•

In Italien geschah dies nicht. Der PCI war gerade in Gebieten großen Wohlstaads stark. Emblematisch ist der von den Politologen genau untersuchte Fall der EmiJia.Romagna. Dort konnte nicht einmal eine Herausforderung durch die nicht-marxistische Linke die historische Hochburg des Kommunismus in ihren Grundfesten erschüttern. Dies war aa den Kommunalwahlen von 1956 Zusammenhang auch den bekannten, sebr wichtigen Brief, den Oe Gasperl Anfang 1952 an Pius XII. richtete in: M.R. De Gasperi (Hrsg.), De Gasperl serive: corrispondenza von capi di stato, cardinali, uomini politici, giomalisti, diplomatici, 2 Bde., Brescia 1974, s. 114-116. 70 Zu dieser Wahl, der eine besondere Bedeunmg für die Stabilisierung Italiens zukonnnt, weil sie den Beweis dafür erbrachte, daß die Struktur der Stinnnenverteilung im wesentlichen statisch war, vgl. F. Malgeri, La stagione del cenrrismo, S. 331-344; dort sind auch verschiedene wichtige Wahlanalysen aus der damaligeo Zeit wiedergegeben, wie diejenigen von Compagna und De Capratiis, die zu den Begriindern der neuen italienischen Wahlforschung gebären. 71 Die Forschungsliteratur zum PCI ist sebr umfangreich, auch wenn sie noch längst nicht zu einem definitiven Bild geführt hat. Hier seien folgende Arbeiten genannt: N. Ajello, lntellertuali e PCI. 1944-1958, Rom I Bati 1979; A. Agosti, Togliatti, Turin 1996; F. Gori I S. Pons (Hrsg.), Dagli archivi diMosca. I:URSS, il Cominform e il PCI, 1943-1951, Rom 1998; P Di Loreto, Togliatti e Ia .doppiezza". ll Pci tra democrazia e insurrezione, Bologna 1991; R. Martinelli, TI ,.,partito nuovo" dalla liberazione al 18 aprile, Tutin 1995; G. Gozzini IR. Martinelli, Dall'attentato a Togliatti aii'Vlll congresso (Storia del parrito comunista italiano, 7), Turin 1998. 72 Vgl. D. Ellwood, I:Europa ricostruita. Politica ed economia tra Stati Uniti ed Europa occidentale 1945-1955, Bologna 1994; C. Spagnolo, La stabilizzazione incom­ piuta. ll pianoMarshall in Italia (1947·1952), Rom 2001.

Die politische Stabilisierung in Italieo ood Deotschland (1945-1958)

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in Bologna zu erkennen, als die Rückkehr Giuseppe Dossettis, des Führers der christdemokratischen Linken, die kommunistische Vorherrschaft nicht einmal ansatzweise gefährden konnte; Dossetcis Wahlkampf war eine Mischung aus .savonarolianischen" Einlassungen über die wahre Art, eine soziale Revolution zu machen (indem er den PCI von links angriff mit dem Vorwurf, er sei keine .rote", sondern eine .rosa" Partei), und aus reforntistischen Vorschlägen, die sich von den Sozialwissenschaften herleiteten (und die später im wesentlichen vom kommunistischen Bürgermeister Dozza aufgegriffen wurden, der gestärkt aus der Wahl hervorging)". Tatsache ist, daß in einem System wiedem italienischen jede Bevölkerungsschicht das Verdienst am eigenen sozialökonomischen Wohlergehen derjenigen Partei zuschrieb, der er traditionell angehörte und von der er glaubte, daß ohne ihre ständige Präsenz das gerade erst Errungene sehr bald wieder verloren gehen könne (daher riihrt eine gewisse Mystik des sozialen Kampfes). Man vergesse nicht, daß die proletarischen Schichten eine ähnliche Erfahrung mit dem Faschismus gemacht hatten, der viele der in den Jahren zuvor erzielten Errungenschaften zunichte gemacht hatte; umgekehrt schrieben die bürgerlichen Schichten die Verbesserungen der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse (die oft polemisch als denen des Mittelstands überlegen hingestellt wurden) deren Fähigkeit zur Organisation in starken Massenparteien zu. Diese Mentalität ist der Grund für die Entstehung dessen, was Journalisten als .Gesellschaft der Palisadenzäune" bezeichneten, und sie erklätt sowohl die Tendenz aller Parteien zum Festhalten an verschiedenen .historisch-sozialen" Wurzeln (die einzige erfolgreiche Partei, die wieder verschwand, war .r:Uomo Qualunque", gerade weil sie keinem derartigen Kontext zugehörte"), als auch die Unfähigkeit zu Zusanunenschlüssen (ein auffälliger Umstand, wenn man bedenkt, daß sich diese Haltung bis zum endgültigen Zusanunenbruch dieses Parteiensystems im Jahre 1992 als Konstante erwies und auch beim anschließen­ den Versuch einer Reorganisation des Systems noch eine entscheidende Rolle spielte). Daher wurde die Dynamik des Systems nur von externen Faktoren sichergestellt, etwa der wachsenden Attraktivität neuer .Sozialwissenschaften", die sich außerhalb Italiens durchgesetzt hatten. In ihrem Umfeld gelang es Gruppen der neuen Generationen, neue Orte der Auseinandersetzung zu schaffen, wobei zumindest zu einem guten Teil die alten Begrenzungen über­ wunden werden konnten: emblematisch ist in diesem Sinne die Gruppo .il Mulino" aus Bologna". Dieses Phänomen rief die Mitte-Links-Wende in der 73 Vgl. M. Tesini, Oltre la citt8. rossa. L' altemativa mancata di Dossetti a Bologna (1956-1958), Bologna 1986. 74

Vgl. S. Setta, I:Vomo Qualunque 1944-1948, Rom I Bari 1975.

" Der Gruppe .il Mulino" hat die Geschiehtssehreibung noeh nieht die ange­ messene Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. In unserem Graduiertenkolleg (einero

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nationalen Politik ins Leben und gab den Anstoß zur Reformpolitik der PCI in der Emilia-Romagna76 und in einigen anderen Regionen. Selbstverständlich müßte man, um die Ausführungen über die Stabilisierung vervollständigen, die beiden Nationen in den Kontext der internationalen Beziehungen einbetten. Die Erwartung eines Wandels hing nämlich auch damit zusammen, daß man anfangs der Auffassung war, das Resultat des Zweiten Weltkrieges sei noch .offen"77• Die Bedeutung dieses Umstands für die deutsche Geschichte ist wohlbekannt und auch bereits erwähnt worden: man denke an die Debatte über die Entscheidung zwischen der Westoption einerseits und der Möglichkeit einer Wiedervereinigung und einer damit verbundenen .Neutralisation" Deutschlands andererseits". Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß das wachsende Bewußtsein der Unabänderlichkeit einer Aufteilung der Welt zwischen den beiden Großmächten dazu beitrug, das politische System Deutschlands zu stabilisieren. Die Fakten sind bekannt: die Berlin-Blockade, das sukzessive Scheitern einer Reibe von Konferenzen und Gipfeltreffen, die Lehre von 1956 (aber auch die von 1953), schließlich die Vorfälle von 1958-1961, von der Note Cbruschtschows vom 27. November 1958 bis zum Bau der Berliner Mauer im August 1961 (der später, wie Görtemaker zu Recht hervorhebt, eine Art Nachspiel in der Kubakrise hatte"). Es handelt sich um eine Entwicklung, die allen zu verstehen gab, daß die internationale Lage auf lange Sicht keinen Raum für Revisionen oder Wagnisse ließ. zu

In diese Vorgänge wurde auch Italien involviert, wenn auch eher indirekt. Sicherlich spielten sie eine Rolle bei der Rückbesinnung des PCI auf die ita­ lienische Politik, indem sie ihm jedwede Profilierungssucht in der internatio­ nalen kommunistischen Bewegung austrieben (was keineswegs vorauszusehen Gemeinschaftsprojekt der Urdversitäten Bologna, Perugia, Rom [LUISS] uod Neapel [Suor Orsola Benincasa]) sind Dissertationsprojekte angelaufen wie das bereits erwähnte von Barbara Covili, die den Zeitraum von 1951 bis 1958 abdeckt, uod das von Marzia Maccaferti, die den Zeitraum von 1958 bis 1968 behandelt.

76 Hierzu siehe die interessanten Etiuoeruogen von G. Fanti I G.C. Ferri, Cronaehe dell'Emilia Rossa. I:impossibile riformismo del Pci, Bologna 2001. 77 Das Problem des Kalten Krieges gibt noeh immer Anlaß zu Betraehtuogeo über sein Wesen uod seine Folgen: vgl. F. Romero, Indivisibilitil della guerra fredda. La guerra totale simbolica, in: Studi Storici, 38 (1977), S. 935-950; J.L. Gaddis, La guerra fredda: rivelaziord e riflessiord, Soveria Mannelli 2002; C. Spagnolo, Tra anrifascismo e anticomurdsmo. Aspetti della stabilizzazione dell'Europa occidentale nella formula­ zione della politica estera americana (1944-1947), in: F. De Felice (Hrsg.), Aorifascisnti e Resistenze, Rom 1997. Auch hinsichtlich der Sowjetuoion herrscht alles andere als Klarheit: vgl. S. Pons, l:impossibile egeroorda. l:Urss, il PCI e le origird della guerra fredda, Rom 1999. 78 Auf diesen Aspekt hat vor allemM. Görtemaker hingewiesen: M. Geschichte der Buodesrepublik. "

Ebd., S. 360-365, 379-381.

Görtemaker,

Die politische Stabilisierung in Italieo ood Deotscbland (1945-1958)

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war: Togliatti war einer der angesehensten Führer der ehemaligen Dritten Internationalen und der kommunistischen Weltbewegung80). Dies verband sich mit einer bedingungslosen Gefolgschaft gegenüber der UdSSR und deren internationalen Interessen, aber gerade dies gab den italienischen Kommunisten die Freiheit, in dem von der kapitalistischen Alternative beherrschten .exter­ nen" Territorium den eigenen "Sonderweg" zu suchen. Indem er auf der internationalen Bühne der UdSSR Treue schwor (bis hin zum •Verständnis" für die Niederschlagung des ungarischen Aufstands), machte sich Togliatti mit seinem Vorschlag eines .nationalen Weges" in einem Land, das immerhin im Einflußbereich einer rivalisierenden Großmacht lag, schwer anfechtbar''. Allerdings schmälerte dies auch die Bedeutung der italienischen Bühne, und vor allem erschwerte es in der katholischen Kirche, weiter zum antikommunistischen Kreuzzug aufzurufen, wie das Pius' XII. von 1949 bis 1958 getan hatte. Für Italien war die kulrurelle Auswirkung der internationalen Entwicklungen wichtiger. Die Stabilisierung auf diesem Gebiet überzeugte alle davon, daß die Zeit der großen Revolutionen vorbei war und daß auf internationaler Ebene die .friedliche Koexistenz" angesagt war, ebenso wie auf innenpolitischer Ebene die sogenannte .Rationalisierung" des Systems. Ein Ausdruck, der positive und negative Bedeutung haben konnte, was aber nur für seine begriffliche Weite sprach. In diesem neuen Kontext entwickelten sich die sechziger Jahre, an deren Ende es paradoxerweise in Italien wie in Deutschland wieder Raum für die revolutionäre Utopie geben sollte. Diesmal bezog sie sich nicht mehr auf eine Geschichtstheologie; sie war nur die Radikalisierung dessen, was die Sozialwissenschaften, von denen die Wohlstandsgesellschaft geformt worden war, mit ihrem Traum von .Rationalität" an utopischen Hoffnungen geweckt hatten.

so Vgl. S. Pons, ll fattore internazianale nella leadership di Togliatti (1944-1964), in: Ricerche di Storia Politica, NF, 5, 2002, S. 403-413. 81 Vgl. R. Gualtieri (Hrsg.), ll PCI nell'Italia repubblicana (Annali della Fondazione lstituto Gramsci, 9), Rom 2001.

Die Wiedergeburt zweier Demokratien Gemeinsamkeiten und Unterschiede der italienischen und der deutschen Verfassung* Von Giovanni Bognetti

I. Im großen und ganzen gibt es zwischen der italienischen (1947) und der deutschen Verfassung (1949) bei weitem mehr Gemeinsamkeiten als Unter­ schiede. Beide Verfassungen orientieren sich am .Modell des demokratischen, interventionistischen Sozialstaates", das seit dem Ende des liberalen Staates, wie er sich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum New Deal in Amerika überall vollzogen hatte, allen westlichen Ländern als Vorbild diente. In beiden Ländern fand dabei eine Rückbesinnung auf die Staatsform statt, für die man sich bereits vor der Parenthese der autoritären antidemokratischen Regime entschieden hatte. Denn bei den beiden Verfassungen handelt es sich meines Erachtens nicht um die Einführung einer novus ordo, sondern um die "Wie­ dergeburt" (im wahrsten Sinn des Wortes) .zweier vorher bereits existierender Demokratien", die in den politischen und kulturellen Traditionen Italiens und Deutschlands fest verwurzelt waren1• Schon zu Giolittis Zeiten trug die liberale Monarchie Italiens alle Züge eines demokratischen Sozialstaates. Sie bewahrte die großen bürgerlichen Freiheiten und Garantien des Rechtsstaates, die sie vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts übernommen hatte. Die Ökonomie beruhte auf der privaten Initiative und den Institutionen des Kapitalismus, die jedoch durch staatliche Eingriffe, zu denen * 1

Aus dem Italienischen von Petra Kaiser. In beiden Ländern vertraten zwei namhafte Historiker des

20. Jahrhunderts die These, daß die Neuordnung nach dem Ende der faschistischen Regime an historisch tiefverwurzelte Traditionen anknüpfte: B. Croce, Discorsi parlamentari, Rom 1966, Discorso alla Consulta nazionale, 27. September 1945, S. 17 6 ff; G. Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Smttgart 1954, Einleitung, S. 3 ff. Allerdings waren viele Historiker bekanntermaßen anderer Auffassung und wider­ sprachen aufs Heftigste der Idee, der Faschismus habe nur einen Umweg auf dem grundsätzlichen Weg der beiden Nationalgeschichten dargestellt. Dieser Streit ist bis heute nicht beigelegt.

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Giovanni Bognetti

auch die ersten sozialen Leistungen eines modernen Staates gehörten, ergänzt und korrigiert wurden. Das allgemeine Wahlrecht (für Männer) wurde 1913 eingeführt; die Regierung war dem Parlament verantwortlich, das ein vom Volk gewähltes Abgeordnetenhaus enthielt'. Noch exemplarischer verkörpert die schöne zukunftsweisende Verfassung der Weimarer Republik den .demokratischen Sozialstaat". Sie enthält die feierliche Proklarnation der Gtundrechte, die bereits siebzig Jahre zuvor in der Faulskirehe (1848) verkündet und in der Preußischen Verfassung von 1851 sowie den Verfassungen anderer deutscher Staaten des 19. Jahrhunderts verankert worden waren, sowie eine Ergänzung durch neuartige soziale Rechte. Ökonomische Freiheiten und Privateigentum wurden garantiert, aber in den Grenzen neuer sozialer Ptinzipien und staatlicher Interventionsmacht. Die in Deutschland bekanntermaßen ausgeprägten rechtsstaatliehen Garantien wurden durch die Einführung föderaler Verwaltungsgerichte gestärkt. Männer und Frauen erhielten das allgemeine Wahlrecht, die erbliche Monarchie wurde abgeschafft und an Stelle des Kaisers als Organ der Exekutive trat eine demo­ kratisch legitimierte Regierungsform, die - mit Blick auf die französische Verfassungsreform im Jahre 1958 als .semipräsidentiell "' bezeichnet werden könnte. -

Aus dieser historischen Perspektive könnte man beide Neuordnungen einfach als Fortschreibung vorhergehender Verfassungserfahrung bezeichnen. Natürlich wurden dabei einige Strukturen, die sich als untauglich erwiesen hatten, abgeschafft und neue Garantien, die durch die tragische Erfahrung mit totalitären Systemen erforderlich geworden waren, hinzugefügt. Tatsächlich sind beide Verfassungen- und das ist heute wohl die beste Charakterisierung- das ausgereifte Produkt einer .bürgerlichen" ethisch-politischen Ideologie, die, nachdem die Phase der Agrar- und Handelsgesellschaft überwunden und die Industriegesellschaft erreicht war, zu ihrer konkreten Selbstverwirklichung nicht mehr auf mehr oder weniger eingeschränkte Eliten angewiesen war, sondern sich auf die große Mehrheit der Gemeinschaft stützen konnte, die nunmehr völlig 2 Dazu vgl. A. Acquarone, l:Italia giolittiana, Bologna 1988; R. Lill, Geschichte Italiens in der Neuzeit, Darmstadt 1988, S. 244 ff. Vgl. auch G. Bognetti, Elementi di continuitä. e elementi di innovazione nel quadro della storia costituzionale italiana, in: H. Waller (Hrsg.), La nascita di due repubhliche. Italia e Germania dal1943 als 1955, Mailand 1989, S. 106 ff.

' Für eine neuere, äußerst sorgfältige Analyse der Weintatet Verfassung vgl. Ch. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997. Klassisch der Kommentar von G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Berlin1933 , Nachdruck Darmstadt 1960. Vgl. auch G. Bognetti, l:esperienza di Weimar. Considerazioni di storia erico­ politica formulate da un giurista oomparatista, in: ders., Europa in crisi: due studi su aleuni asperti della fine della III Repubhlica francese e della Repuhhlica di Weimar, Mailand 1991, S. 115 ff.

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von Individualismus, von Vorlieben, Zielen und Erwartungen durchdrungen war,wie sie für eine .Mittelschicht" typisch sind'. Was nun die Staatsform betrifft (d.h. die grundlegenden Beziehungen zwi. sehen Staat und Bürgern und die Rechte, die die Verfassung letzteren einräumt), so ist die Übereinstinunung beider Systeme von Einzelheiten abgesehen wirklich überwältigend. In beiden Verfassungen stehen die Grundrechte vor den Bestim· mungen zur Organisation der öffentlichen Gewalt (die italienische Verfassung stellt das Prinzip der Souveränität des Volkes und einige andere allgemeine Prinzipien über die grundlegenden Werte der konstitutionellen Ordnung). Allein diese Stellung spricht für den absoluten Vorrang, den die Verfassung den persönlichen Freiheiten in der Organisation der Zivilgesellschaft beimißt, die der Staat durch die Gesetze regelt. Das Grundgesetz präzisiert, daß diese Rechte auch für den Gesetzgeber unmittelbar bindend sind (Art. 1, Abs. 3) und ihr Wesensgehalt (Art. 19, Abs. 2) nicht angetastet werden darf. Weiterhin wird präzisiert, daß diese Grundrechte unverletzlich sind,über den Gesetzen stehen und, wie bestimmte andere Eigenschaften des liberal-demokratischen Systems - einscbließlich der Souveränität des Volkes und der Sozialstaatlich­ keit (Art. 79) -,durch Verfassungsänderungen nicht berührt werden dürfen. Die italienische Verfassung enthält keine derart eindeutigen und expliziten Bestinunungen dieser Art, aber die Rechtsprechung bringt unter Berufung auf die Klausel der Unverletzlichkeit der Persönlichkeitsrechte (Art. 2) sowie der Unveränderlichkeit der .republikanischen Staatsform" (Art. 139) ähnliche Prinzipien zum Ausdruck'. In der italienischen wie der deutschen Rechtslehre ist inuner wieder betont worden,daß dieser Vorrang der Grundrechte einem radikalen Bruch mit der in beiden Ländern traditionell vorherrschenden .absoluten Souveränität des Staates" gleichkommt: Mit anderen Worten ein radikaler Bruch mit der Ver­ gangenheit und der Kontinuität,die ich eingangs behauptet habe'. Ich meine, ' Ich verwende den Begriff .bürgerlich", wn die individual-demokratische Ideolo­ gie zu klassifizieren, wie sie sich bis heute in den westlichen Gesellschaften durchgesetzt hat. Damit bestreite ich nicht (wie ein Marxist es tun würde) ihren Anspruch, den zur Zeit fortgeschrittensten Punkt in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation zu repräsentieren, noch die Legitimität ihres Wunsches, sich weiter in der Welt auszubreiten (wenn die Bedingungen es erlauben). Es geht mir vielmehr darwn, an den historischen Ursprung dieser Ideologie zu erinnern und die Verdienste jener Klasse hervorzuheben, die sie als erste vertreten hat. Im Übrigen sind die Spuren dieser urspriinglichen Ideologie in den westlichen Gesellschaften, die inzwischen zu zwei Dritteln aus .Mittelschicht" bestehen, unübersehbar: das gilt sowohl für die persönlichen und kulturellen wie für die wirtschaftlichen Freiheiten. ' Zur Theorie der "unveränderlichen höchsten Prinzipien" vgl. M. Cartabia, Principi inviolabili e interpretazione europea, Mailand 1995. 6 V gl. beispielsweise H.P. Schneider, ll cammino verso Ia democrazia, in: H. Woller (Hrsg.), La nascita di due repubbliche. Italia e Gennania dal1943 als 1955, Mailand 1989,

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daß diese These im wesentlichen unbegründet ist. Vor allem weil es noch Autoren gibt, die an den Ideen des klassischen Rechtspositivismus festhalten und weiterhin die Auffassung vertreten, anläßlich einer grundlegenden politi­ schen Neuordnung könne sich das Volk legitimerweise eine andere Verfassung geben, die diese Priorität vollkommen negiert'. Doch abgesehen davon (d.h. abgesehen von der Tatsache, daß die vertneintliche Überwindung der Vergan­ genheit in Wirklichkeit dann vielleicht gar nicht vollkommen ist) ist das Dogma der absoluten und unbeschränkten Souveränität des Staates (und damit des Volkes, denn .alle Macht geht vom Volke aus") ein intellektuelles Konstrukt der Rechtswissenschaft und der politischen Lehre (vor allem, aber nicht nur, in Deutschland), die niemals in die Köpfe der handelnden Eliten vorgedrungen ist, welche in den westlichen Gesellschaften - auch in Italien und Deutsch­ land - den Staat kontrollierten. Die deutsche Lehre für Öffentliches Recht von Gerber bis J ellinek konnte dieses Dogma verteidigen und die Rechte als rein kontingente und widerrufbare .Selbstbeschränkung" des Staates konzipieren und damit bei den Rechtsgelehrten in ganz Europa Eode des 19. Jahrhunderts eine breite Gefolgschaft finden'; etwa zur seihen Zeit konnte eine bestimmte französische Schule im Gefolge von Rousseau die Rechte zu .großzügigen Konzessionen" des Volkes erklären, das folglich absoluter Souveriin blieb'; ebenso wie gewisse antiliberale und antidemokratische politische Strömungen ultranationalistischer oder kollektivistischer Ausprägung die von der Aufklärung proklamierten Rechte als Produkt einer betrügerischen Klassenpropaganda denunzierten und damit Eode des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bei Intellektuellen und bestimmten Bevölkerungsschichten Erfolg hatten. Aber die bürgerlichen Eliten, die damals auch die Führungsschicht der politischen Klasse stellten, dachten nicht im Traum daran, die Grundrechte - darunter besonders das Privateigentum -, für deren Durchsetzung sie so lange gekämpft hatten, irgendeiner Autorität mit absoluter Gewalt ausgestattet zu unterwerfen, S. 87 ff.; H. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Karlsrube 1969, S. 3 ff.; C. Mortati, Istituzioni di Diritto Pubblico, Bd. I, 7. Aufl., Padua 1991, S. 88 ff., S. 132 ff.

7 Dazu beispielsweise E. B&:kenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, Frankfurt a.M. 1986; P. Biscaretti Di Ruffia, Dirirto Costituzionale, 15. Aufl., Nea pell 989, S. 55 ff., S. 251 ff. 8 C.F. von Gerber, Über öffentlicheRechte, Tübingeo 1852; ders., Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, Dresden 1880, Nachdruck Aalen 1869, passim; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1912, Nachdruck Darmstadt 1%0, S. 409 ff., S. 435 ff.; ders., System der subjectiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. Tübingen 1919, Nachdruck Aalen 1964, S. 67 ff.; S. Romano, Osservazioni preliminari per una teoria sui limiti della funzione legislativa nel diritto italiano, in: ders., Lo stato modemo e Ia sua crisi, Mailaod 1969, S. 117 ff. ' R Camf De Malberg, Contribution a Ia tbeorie geoerale de !'Etat, Paris 1920, Bd. I, S. 88 ff., 238 ff., Bd. 2, S. 125.

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auch nicht einem Staat oder einem Volk, die mao im übrigen für souverän halteo konnte, aber innerhalb gewisser Greozeo. Bewußt uod uobewußt dachteo sie wie Beojamin Constaot uod die nacbfolgeodeo Evolutionstheoretiker10, daß die Demokratie zwar die beste Methode sei, die Rechte zu verwalteo, keinesfalls jedoch legitimiert sei, diese abzuschaffeo. Vor einer reineo Demokratie mit uoeingeschränkter Machtbefugnis (die womöglich zu einer Zerstöruog der bürgerlicheo Kultur hätte fübreo könneo) hatteo sie, wie die amerikanischeo Autoreo des .Federalist", eine tiefsitzeode Angst. Wenn das die Stimmuog der italienischeo uod deutscheo Bourgeoisie kurz vor der Machtübernalune durch Faschismus uod Nationalsozialismus war, dann kaon die Neuordnung der Verfassuog in der Nachkriegszeit, welche die Gruodrechte in ihrem Kerngehalt von der Verfüguogsgewalt des Volkes ausschloß, in gewisser Hinsicht nicht als Bruch mit der Vergaogenheit aogeseheo werdeo, sondern muß als formal-kon­ stitutionelle Umsetzuog einer Idee gelteo, von der die Institutioneo bereits in der Vergaogenheit implizit uod substaotiell durcbdruogeo wareo. Was nuo deo Inhalt der Gruodrechte betrifft, so garaotiert das Gruodgesetz die klassischeo staatsbürgerlicheo Rechte (einschließlich des Eigeotums ao deo Produktionsmittel uod der freieo Berufswahl uod Berufsausübuog) sowie die politischeo Rechte. Verzichtet wurde dagegeo auf die Aufzäbluog spezifischer ,sozialer" Gruodrechte, die in der Weimarer Verfassuog sehr urnfaogreich war, vielmehr beschränkte mao sich auf die allgemeine Formel vom .sozialeo Rechts­ staat"". Die italieoische Verfassuog bingegeo formuliert in einer urnfaogreicheo Reihe von Artikeln die einzelneo bürgerlicheo, ethisch-sozialeo, ökonomischeo uod politischeo Rechte mit Formeln, die aufgruod ihrer Allgemeinheit eher ao .programmatische" Erkläruogeo erinnern (ähnlich wie bereits für die Weima­ rer Verfassuog ausgeführt wurde)u. Allerdings spieleo diese Unterschiede in Aufbau uod Formulieruog auch in der Rechtslehre praktisch keine Rolle mehr. 10 B. Constant, Cours de politique constitutionelle, 3. Auf!., Brüssel 1837, S. 64 ff.; F. Guizot, Philosophie politique: de la souverainete, in: ders., Histoire de Ia civilisation en Europe depuis Ia chute de 1' empire romain jusqu'8. la Revolution &anjj:aise, Paris 1828/29, Nachdruck Paris 1985. n Grundgesetz, Art. 1·19; Art. 20, 28 und 30. In der Weimarer Verfassung wurden die traditionellen Grundrechte staatsbürgerlicher und politischer Freiheiten zum ersten­ mal mit einer Reihe starker sozialer Rechte ergänzt, in denen diverse Ansprüche der Bürger und von Dritten gegenüber dem Staat fottnoliert wurden. u Parte I, Titoli I-N. Die Allgemeinheit der Bestimmungen betrifft nicht nur die sozialen Rechte (Art. 38 über die Sozialversicherung zum Beispiel), sondern auch die Grundprinzipien bürgerlicher und politischer Rechte (Art. 21, Abs. I über die Mei­ nungsfreiheit zum Beispiel). Angesichts dieser allgemeinen Formolierung optierte die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte in den fünfziger Jahren - bevor das Verfas­ sungsgericht seine Arbeit aufnahm - fast ausschließlich für die These der .Program­ matik", d.h. für die Unmöglichkeit daraus direkte juristische Konsequenzen abzuleiten (unter Verwendung von Argumenten, die in der Weimarer Republik, beispielsweise von Anschütz, häufig vertreten und verteidigt wurden).

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In Deutschland hingegen ging man davon aus, daß die Grundrechte nicht nur

die Freiheit der Bürger gegenüber dem Staat gewährleisten (es waren nicht nur Abwehrrechte), sondern zugleich .Grundwerte" darstellen, die der Staat aktiv schützen muß, indem er die Bedingungen dafür schafft, daß jeder Bürger diese Rechte auch tatsächlich wahrnehmen kann. Nach dem Prinzip des Sozialstaates kann die öffentliche Gewalt ihre Leistungen zwar frei gestalten, ist dabei aber gehalten, alle grundlegenden Bedürfnisse der Person abzudecken13• In Italien nahm man nach einigem Zögern von der Unterscheidung in Gebots- und Pro­ grammsätze Abstand und ging dazu über, auch aus zunächst .programmatisch" aufgefaßten Prinzipien juristische, für den Gesetzgeber unmittelbar verbindliche Konsequenzen abzuleiten. Auf diese Art wurden auch die sozialen Rechte einem konkret wirksamen Schutz durch die Verfassung unterstellt14• Das alte liberale Ideal der Rechtsstaatlichkeit wurde in beiden Verfassungen wieder aufgegriffen und verstärkt. Jede Person hat Anspruch auf ihre gesetz­ lichen Rechte und kann diese, bei Verletzung oder im Streitfall, gerichtlich einklagen. Besonderen Schutz genießt dieses Recht, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wurde (Art. 24 und Art.l13 der italienischen Verfassung; Art. 19, Abs. 4 und Art. 103, Abs. 1 Grundgesetz). Die Richter, welche zur Wahrung des Rechtes angerufen werden, sind unabhängig, nur dem Gesetz verantwortlich und können nicht abgesetzt werden. Nach der italienischen Verfassung werden die Richter von einem Organ ernannt, das überwiegend selbst von Richtern gewählt wird (dieses System tendiert dazu, die Jurisdiktion von den anderen Staatsgewalten abzuschotten). Nach dem Grundgesetz (Art. 95, Abs. 2) entscheidet die Bundesregierung gemein­ sam mit einem von den Länderregierungen und dem Bundestag ernannten Richterwahlausschuß über deren Berufung (dieses System entspricht eher der angelsächsischen Tradition)15• 13 Zu den Grundrechten, die heute wesentlich mehr sind als Abwehrrechte, siehe den Klassiker P. Häberle, Die Wesensgehalte des Art. 19, Abs. 2 Grundgesetz, Heidelberg 1983. Zum Begriff des .Sozialstaats" vgl. den Aufsatz von R. Herzog, Die Verfassungsentscheidung für die Sozialstaatlichkeit, in: Tb. Maunz I G. Dürig, Grund­ gesetz Kommentar, Bd. 2, München 1980, zu Art. 20, S. 295 ff.

14 Die zögerliche Haltung, um nicht zu sagen die Weigerung, der ordentlichen Gerichte in den fünfziger Jahreo wurde erst durch die ersten Urteile des Verfassungsge­ richtes (14.Juni 1956, Nr.1) überwunden.DieRechtsprechung des Verfassungsgerichtes hat sich dann auf allen Gebieten weitereetwickelt und dabei umfangreiche Schlüsse auch aus den allgemeinsten Bestinunungen der Verfassung abgeleitet. l5 In einem Sozialstaat, den sowohl die deutsche als auch die italienische Verfas­ sungsordoung anstreben, kann dieRechtsprechung nicht einfach die Rolle einer .bouche de la loi" übemelunen, wie es bei einer Gewaltenteilung nach Montesquieu vorgesehen war; vielmehr stellt sie eine echte Staatsgewalt dar, die dazu verpflichtet ist, originär und schöpferisch an der Erarbeitung und Weiterentwicklung des Rechts mitzuwirken und dadurch teilweise zu einer quasi politischen Gewalt zu werden. (Zur Entwicklung dieser These vgl. G. Bognetti, La divisione dei poteri, Mailand 2001.) Werm diese

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Allerdings gab es hinsichtlich des Staatsaufbaus in beiden Ländern tatsäch­ lich zwei grundlegende Neuerungen, die sich kaum von einander unterschieden. Sowohl in Italien als auch in Deutschland richtete man ein Verfassungsgericht ein, dem vornehmlich die Aufgabe zukam, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu entscheiden. Das - und nicht etwa der Vorrang der Grund­ rechte -war die wirklich bahnbrechende Innovation, denn bis dahin hatte man sich in der Frage, ob die Werte der Verfassung tatsächlich beachtet wurden, im wesentlichen auf den Eid von Parlamentariern und Staatschefs verlassen. Zwar kann zu Recht daran gezweifelt werden, ob ein Verfassungsgericht in einer echten Nodage die freiheitlichen Institutionen zu schützen vermag. Doch die große Veränderung betrifft das Alltagsleben der Gemeinschaft, denn die forrwährende juristische Überprüfung der Legitimität von Gesetzen generiert, wie die Erfahrung zeigt, einen umfangreichen Korpus von Verfassungsurtei­ len, deren Prinzipien und Vorstellungen sich schließlich in der Alltagspolitik durchsetzen. Langfristig haben sich dadurch die Konzepte, die dazu dienen, die Vielfalt der Einzelgesetze zu ordnen, im öffentlichen wie im privaten Recht grundlegend verändert. Damit wurde die Öffentlichkeit an eine eher prinzipielle Denkweise herangeführt, wodurch die Entscheidungen von Parlamentariern und Wählern weniger beliebig ausfallen. Damit die Verfassungsgerichte sich nicht zu Machtzentten entwickeln, die sich gegen allgemein gängige Auffassungen immunisieren, wurde die Amtszeit der Richter begrenzt (sie werden nicht auf Lebenszeit ernannt wie in den USA). In Deutschland werden sie alle vom Parlament ernannt, in Italien in der Mehrzahl von politischen Organen". Das größte ethische und politische Vergehen der autoritären Regime (abge­ sehen von der Judenvernichtung in Deutschland) hat wahrscheinlich darin bestanden, daß sie die internationale Ordnung bewußt zerstören wollten, um die Völker Europas und perspektivisch die ganze Welt der eigenen Herrschaft zu unterwerfen. Bis zu diesem Zeitpunkt gestanden alle Verfassungen, auch die demokratischsten (möglicherweise mit Ausnahme der Schweiz), dem Staat ein bedingungsloses ius ad bellum zu, als Ausdruck seiner Souveränität nach Gewalt jedoch den Kontakt zu den klassischen Staatsgewalten verliert und sich völlig abschottet, läuft sie langfristig Gefaht, mit ihnen in Konflikt zu geraten. Aus diesem Grund ist das deutsche System der Ernennung der Obersten Richter wahrscheinlich dem italienischen überlegen, wo die Ernennung dutch den Obersten Rat des Richterstandes erfolgt, der die mehr oder weniger zufa!lig vorherrschenden politisch-kultutellen Ten­ denzen seiner Mitglieder widerspiegelt, die in jungenJahreo allein nach Fachkomperenz ernannt werden. Bekanntermaßen ist es in den neunziger Jahren zu großen Konflikten zwischen der Richterschaft und der politischen Klasse gekommen; zum Teil sind diese komplexen Konflikte, deren unparteüsche Beurteilung sehr schwierig ist, sicher diesem völlig abgeschotteten Chatakter der italienischen Richterschaft geschuldet. " Zur Zeit werden die Richter des Verfassungsgerichts in Deutschland auf 12, in Italien auf 9 J ahte ernannt. Die indirekte Verbindung des Verfassungsgerichtes zut politischen Klasse wird in Italien dadurch gewährleistet, daß ein Drittel durch das Parlament und ein Drittel vom Staatspräsidenten ernannt wird.

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außen, in der Welt der Nationen. Aufgrund der Schrecken, die der Aggressi­ onskrieg der Achsenmächte hervorgehracht hatte, wurde jeder Angriffskrieg in beiden Ländern für verfassungswidrig erklärt und nur der Verteidigungs­ krieg als rechtmäßig anerkannt (Art. 11 der italienischen Verfassung; Art. 26 Grundgeseu). Darüber binaus wurden die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zum Bestandteil des nationalen Rechts erklärt, der durch ordentliche Gesetze nicht angetastet werden darf (Art. 10 der italienischen Verfassung; Art. 25 Grundgesetz). Da man der Überzeugung war, daß zur Sicherung des Friedens internationale Organisationen gebraucht würden, die über Befehlsgewalt und eventuell auch die Möglichkeit zu Zwangsmaßnahmen verfügen sollten (die gerade erst gegründete UNO war dafür das beste Beispiel), wurden auch Klauseln zur Begrenzung der nationalen Souveränität in die Verfassung aufge­ nommen (Art. 11 der italienischen Verfassung; Art. 24 Grundgesetz). Darüber binaus enthält das Grundgesetz indirekt einen Hinweis darauf, daß man ein vereintes Europa für erstrebenswert hielt17• Was das Verhältnis zu den ande­ ren Nationen betrifft, kann man also durchaus behaupten, daß in den beiden Verfassungen ein ganz neues, seit dem Westfälischen Frieden nie dagewesenes Staatsverstiindnis das Licht der Welt erblickte.

D. Die Unterschiede zwischen den beiden Verfassungen betreffen die .Regie­ rungsform" im weitesten Sinn: den Gesamtaufbau des politischen Systems. Natürlich sind die Unterschiede relativ, denn in beiden Fällen gilt das demo­ kratische Prinzip, daß alle Gewalten direkt oder indirekt dem Volk, d.h. den Wählern, verantwortlich sind. In der Geschichte des westlichen Sozialstaates haben sich im 20. Jaltrhundert, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, bezüglich der Organisation und Verteilung der politischen Macht zwei relativ einheitliche Tendenzen heraus­ gebildet. Einerseits haben Komplexität und Implikationen der sozialstaatliehen Aufgabe zu einer erheblichen Dezentralisierung geführt. Selbst Staaten mit langer, bewährtet zentralistischer Tradition konnten am Ende nicht umhin, einen gewissen "Regionalismus" zuzulassen. Andererseits hat die Notwendig-

17 Ursprünglich war Art. 11 der italienischen Verfassung, der die Einschrän­ kung der nationalen Souveränität zu Gunsten internationaler Organisationen vorsieht, nicht als Sprungbrett für den Beitritt Italiens zu einer zukünftigen, wünschenswerten europäischen Union gedacht. Doch eine intelligente Auslegung von Rechtslehre und Rechtsprechung hat daraus später die Grundlage für zunehmende Souveränitätsabtre­ tungen an verschiedene Europäische Institutionen gemacht, ohne daß dafür jedesmal die Verfassung geändert werden mußte. Ein heLVorragendes Beispiel dafür, wie eine Norm, die von ihren Autoren zu bestimmten Zwecken gedacht war (hier der Beitritt zur UNO), später zu ganz anderen Zwecken benutzt wurde.

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keit, den Einzelmaßnahmen durch eine entschlossene, stabile Führung im Zentrum Kohärenz zu verleihen, überall zu einer Stärkung der Exekutive und zur Entstehung einer echten .Regierungsmacht" geführt (unabhängig von der konkreten Form - Ministerpräsident, Präsident oder andere)18• Präventiv gewissermaßen und mit großer Ausgewogenheit hat das Grund­ gesetz von 1949 auf die Erfordernisse dieser beiden epochalen Tendenzen rea­ giert. Denn es verwirklichte ein föderales System, das den Ländern Autonomie zugesteht, zugleich jedoch dem Bund genügend Kompetenzen einräumt, um die rechtliche und wirtschaftliche Einheit des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten (ursprünglich wollten die Alllierten eine weitergehende Dezentralisierung, gaben aber schließlich nach). Die Richrlinienkompetenz auf Bundesebene wurde dem Kanzler erteilt, der mit der absoluten Mehrheit des Bundestages gewählt wird und nur durch ein konstruktives Mißtrauensvotum abgesetzt werden kann. Der kann aufgelöst werden, wenn er dem Kanzler die Gefolgschaft verweigert; nur in bestimmten Fällen verfügr der Bundesrat als Vertretung der Länder über ein Vetorecht. Mangelhaft fiel dagegen die Antwort der italienischen Verfassung aus. Zwar war die "Region" als Institut vorgesehen, wurde jedoch (bis auf fünf Sonderfälle) nur mit geringen Kompetenzen ausgestattet (allerdings wurde dieses Institut zwanzig Jahre lang nicht operativ; erst durch die Reform von 2001 wurde den Regionen zumindest auf dem Papier eine Rolle zugestanden, die vielleicht mit der der deutschen Länder vergleichbar ist). Schwerer wogen die Versäumnisse hinsichtlich der höchsten Staatsorgane. Man entschied sich für ein reines Zweikammernsystem und führte durch ordendiche Gesetze für beide Kammern ein reines Verhältniswaldrecht ein, das nicht einmal eine Sperrklausel nach deutschem Vorbild enthielt, um die Zald kleiner und kleinster Parteien einzuschränken. Dadurch wurde eine übertriebene Parteienvielfalt begiinstigr, die zwangsläufig zu unsicheren, ineffizienten Koalitionsregierungen führen mußte. Dabei kommt dem Ministerpräsident weder die Position eines Primus in der Regierung zu, noch das ausdrückliche Recht, bei wichtigen Gesetzesvorhaben im Parlament die Vertrauensfrage stellen zu können. Die vorzeitige Auflösung des Parlaments, die nur dem Präsidenten der Republik zugestanden wurde, stellte jedenfalls kein ausreichendes Gegenmittel dar. Die Masse der Gesetzesvorbehalte in der Verfassung ist ein Zeichen dafür, daß man der Delegation normativer Macht an Regierung und Verwaltungsorgane mißtraute, welche in anderen Verfassungen ein nützliches Instrument zur Gestaltung sozialstaatlicher T ätigkeit darstellt". 18 Eine kurze Beschreibung dieser beiden Tendenzen findet sich in meinen Schriften: Federalismo, Turin 2000, sowie La divisione dei poteri. " Daß der Zweite Teil der Verfassung (Aufbau der Republik) für die Erfordernisse eines modernen Sozialstaates insgesamt uozuläoglich ist, ist heote in der Verfassungs­ lehre sowohl juristischer als auch politologischer Provenienz fast unwnstritten. Aber

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Die unterschiedliche Bedeutung der Regionen ist wenig überraschend und leicht zu erklären. Deutschland verfügte seit dem 19. Jahrhundert über einen föderativen Staatsaufhau, eine bewährte Tradition, auf die man nun zurück­ greifen konnte. In Italien existierte dagegen seit über achtzig Jahren ein rigider Einheitsstaat, der bei der Staatsgründung die vielen kleinen Regionalstaaten ersetzt hatte. Um ähnliches zu erreichen wie in Deutschland, hätte man folglich starke regionale Formationen aus dem Nichts schaffen müssen. Außerdem wäre dadurch das starke sozioökonomische Gefälle zwischen Nord und Süd noch verstärkt worden". Ein auffälliger Unterschied besteht hingegen darin, daß die Regierung in Italien ohne Not zu relativer Ohnmacht verurteilt wurde. Man kann nämlich nicht behaupten, daß die Väter der Verfassung in Italien unerfahren gewe­ sen wären. Sie wußten, daß ein moderner Sozialstaat eine starke Regierung braucht, und anfänglich hatten sie sich (mit dem Antrag Perassis) auch dazu verpflichtet, diesem Erfordernis Genüge zu tun21: Doch mit der Zeit trafen sie immer mehr Entscheidungen, die diese Selbstverpflichtung zur Unwirksamkeit verurteilten. Für diese Richtungsänderung wurden die unterschiedlichsten Erklärun­ gen bemüht. Die einen sahen darin ein postdiktatorisches Syndrom (doch in Deutschland hinderte eine weit schlimmere Erfahrung niemanden daran, sich besser zu orientieren). Andere meinten, auch das traditionell blinde Vertrauen der Linken und der Christdemokratie in das Verhälrniswahlrecht habe dabei eine Rolle gespielt. Am glaubwürdigsten ist immer noch die Hypothese, daß demokratische und marxistische Parteien einander mißtrauten und an der zukünftigen Verläßlichkeit der jeweils anderen Seite und einer friedlichen Koexistenz zweifelten, was beide Lager schließlich zu einem Kompromiß nötigte: Die Machtbefugnisse der Regierung wurden möglichst gering gehalten, weil sie nach einem unglücklichen Wahlausgang jederzeit in die Hände des pflichtvergessenen Gegners fallen konnten. selbst in diesen Kreisen, die politiseb unabhängig sind, konnte sich diese Auffassung nur langsam durchsetzen. Die erste wnfassende systematische Kritik an der ursprüng­ lieben Gestalt der Verfassung, insbesondere was die Regierungsform betrifft, stammt von dem .Gruppo di Milano", der zu den einzelnen Punkten aueb ein vollständiges Alternativkonzept entwickelt hat (Gruppo di Milano, Verso una nuova Costituzione, 2 Bde., Mailand 1983).

2o Hinzu kam die allgemeine Befürebtung, daß bestinunte Regionen in die Hände radikaler Gegner der amtierenden Zentralregierung fallen könnten, was bei einer Stär­ kung der Regionen zu einem schleiebenden Bürgerkrieg hätte führen können. 21 Mit der Zustinunung zum Antrag Perassis (abgestinunt am 5. September 1946) spraeb sieb die verfassunggebende Versammlung für die Form einer parlanoentatiseben Regierung aus, die jedoeb flankiert werden sollte dureb Verfassungsbestimmungen, die eine stabilen Regierungstätigkeit gewährleisten und eine Degeneration des Parla­ mentarismus vermeiden sollten." •

Die Wtedergeburt zweier Demokratien

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Im Rahmen eines größeren, historischen Kontextes führt dieser Erklärungs­ ansatz zu einer Reflexion über die Gemeinsamkeiten der deutschen und der italienischen Geschichte und über die unterschiedlichen Wege, die beide Länder nach tragischen Ereignissen einschlugen. Dazu muß man ein wenig ausholen. Als Ursache für das Scheitern der Demokratie und den Siegeszug des Natio­ nalsozialismus in Deutschland sahen die .progressiven" Historiker (Wehler, Kocka, usw.) die verspätete Modernisierung gesellschaftlicher Gewohnheiten und Institutionen, welche durch den Widerstand einer mächtigen Koalition aus egoistisch und reaktionär eingestellten Großgrundbesitzern und Industriellem verhindert wurde". Mehr oder weniger ähnlich argumentierten im Gefolge von Gramsei die "progressiven" Historiker in Italien, die für das Aufkommen des Faschismus vor allem fehlende soziale Reformen verantwortlich mach­ ten". Dabei lassen diese Analysen jede realistische Zeitvorstellung vermissen, denn sie ignorieren kurzerhand, wieviel Zeit zwangsläufig vergebt, bis sich bestimmte, mit der fortschreitenden Industrialisierung einhergebende soziale Transformationsprozesse in der staatlichen Ordnung niederschlagen können. Weiterhin nahmen sie nicht zur Kenntnis, daß manche Länder aufgrund ihrer besonderen historisch-geographischen Lage mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hatten als andere, wodurch bestimmte negative und kritikwürdige Entwicklungen quasi unvermeidlich wurden (in dieser Hiusicht aufschlußreich die Arbeiten von Stürmer und Romeo)24• Aber diese Analysen haben noch einen viel schwetwiegenderen Defekt. Sie unterschlagen den Umstand, daß die marxistisch-sozialistische Opposition in Deutschland und Italien schon vor dem Ersten Weltkrieg eine politische und kulturelle Dominanz erreicht hatte, wie sie in den anderen westlichen Staaten unbekannt war. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieser Machtzuwachs noch eindeutiger". Wenig überzeugend 22 H. U. Weh/er, Krisenherde des Kaiserreichs: 1871 - 1918, Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, Göningen 1979; J. Kocka, Das lange 19. Jahrhundert: Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001; ders., Angestellte zwi­ schen Faschismus und Demokratie. Zur politischen Sozialgeschichte der Angestellten, Göningen 1977; H.U. Weh/er (Hrsg.), Klassen in der Europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979. Auf der gleichen Wellenliinge W. Mommsen, II peso del passato e l'ideotita nazianale dei tedeschi, in: H. Woller (Hrsg.), La nascita di due repubbliche, s. 25 ff. 23 V gl. u.a. E. Ragionieri, La storia politica e sociale (Storia d'Italia, 4), Turin 1976; N. Tran/aglia, Dallo stato liberale al regime fascista. Problenti e ricerche, Mailand 1973. 24 M. Stürmer, Das ruhelose Reich, Berlin 1983; R. Rameo, Breve storia della grande industria in Italia, Bologna 1974. Man vgl. auch die harte Kritik von Romeo an den deutschen .progressiven" Historikern in dem Artikel: II tradimeoto degli intellet­ tuali, in: II Giomale, 31. Mai 1985. Über die notwendige Langfristigkelt tiefgreifeoder gesellschaftlicher Veränderung zur Vermeidung verhängnisvoller Bröche vgl. meine oben zitierte Studie: I:esperienza di Weimar, S. 118 ff.

"

EinJahr vor dem Ersten Weltkrieg verfügte die deutsche Sozialdemokratie über im Reichstag. In Italien stellte der Partita socia-

ein Drittel der Abgeordnetenmandate

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ist jedoch die von Nolte vetttetene Auffassung, der Nationalsozialismus sei allein als Reaktion auf den Sieg des Kommunismus in der Sowjetunion zu erklären". Denn die faschistischen Bewegungen waren zwar antikommunistisch, zugleich aber Träger einer Ideologie, die durch Repression nach innen und Aggression gegen die internationale Ordnung nach außen alles abschaffen wollte, was die bürgerliche Zivilisation hervorgebracht hatte. Die Wahrheit ist, daß das Bür­ gertum dem Faschismus zum Erfolg verhalf, weil es sich bedroht fühlte und fürchtete, die marxistische Opposition langfristig nicht eindämmen zu können. Jedenfalls müssen die marxistischen Kräfte- nicht nur jene, die zum gewaltsamen Umsturz aufriefen, sondern auch jene, die den Kollektivismus auf demokrati­ schem Weg anstrebten - in hohem Maße verantwortlich gemacht werden für die Destabilisierung der schwachen und anfälligen Demokratien".

lista ein Viertel der Abgeordneten im Abgeordnetenhaus. In der verfassungsgebenden Versammlung in Weimar erreichten die verschiedenen marxistischen Parteien zusammen beinahe die Hälfte der Mitglieder (nur weil sie knapp die Mehrheit verfehlten, entstand eine Verfassung, die man noch als ,bürgerliche" Demokratie bezeichnen kann). Im ita!ieoiscben Abgeordneteobaus kontrollierten die Sozialisten 1919 mehr als ein Vtertel der Stimmen. Im Volk war die Zustimmung zum Sozialismus noch viel höher als der Anteil der entsprechenden Patteien im Parlament. In keiner anderen westlieben Demo­ kratie-Fraokreicb, Großbritannien, USA- gab es zu diesem Zeitpuokt derart mächtige politische Kräfte, die erklärtermaßen danach strebten, die bürgerliebe Gesellschaft und alle ihr zugrunde liegenden individuellen Rechte abzuschaffen, wenn nicht sofort, dann doch, sobald die Bediogungen es erlaubten (als erstes natiirlicb das Privateigentum an den Produktionsmitteln). 26

E. No/te, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, Frankfutt a.M. 1987.

Die ,progressive" Geschichtsschreibung tendiett dazu, die enorme kulturell-poli­ tische Verantwortung der marxistischen Bewegung für das Aufkommen des Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu negieren oder drastisch zu unterschätzen, mithin die Verantwornmg der gesamten Bewegung mit ,allen' ihren Gliederungen einscbließlicb der demokratischen Teile, die die Anwendung von revolutionärer Gewalt ablehnten. Diese Einschätzung ist falsch, da sie den bürgerlieben Standpunkt zumindest in zwei Punkren mißverstand. Sie ignorierte, daß a) die Bourgeoisie zurecht die Kollektivierung der Gesellschaft, auch wenn sie demokratisch zustande kam, ablehnte, weil dieser Schritt uoter den Bedingungen des 20. Jahrhuoderts einen allgerneinen zivilisatorischen Rückfall bedeutet hätte; b) daß sieb die Bourgeoisie, gleichgültig wie man heute darüber utteilen mag, in den zwanzigerJahren durch einen möglichen endgültigen Sieg des sowjetischen Regimes in Rußland ernsthaft bedroht föblte. Daher war es faral, vor den Augen einer Bourgeoisie, die schon vor und nach dem Ersten Weltkrieg durch den gesellschaftlieben Wandel zur Industriegesellschaft in Schwierigkeiten war, die rote Fabne zu scbwingeo, gleicbgültig wie gut die Absichten auch gewesen sein mögen uod wie vorsichtig man auch zu Werke ging. In den Ländern, wo die Vorherrschaft der Bourgeoisie stark und gefestigt war, hatte das Schwingen der roten Fabne auch wegen seines geringeren Aus­ maßes keine irreparablen Auswirkungen, während es in Deutscbland und Italien zum Desaster fühtte. Wer aus erklärter oder impliziter Sympathie für die ,guten Griinde" der marxistischen Bewegung die entscheidenden direkten oder indirekten negativen Auswirkuogen auf die tragischen Ereignisse in der Geschichte des Westens uod der Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und dann auch in der zweiten) nicht Tl

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Durch den Einsatz autoritärer und gewaltsamer Mittel beschleunigte der Nationalsozialismus den Prozeß der sozialen Vereinheitlichung, der angesichts der fortschreitenden Industrialisierung der Gesellschaft ohnehin unvermeidlich war. Er entfesselte einen Weltkrieg, der Deutschland schwere Zerstörungen brachte, den Verlust der Ostgebiete sowie vierzehn Millionen Flüchtlinge, die Abtrenoung der Gebiete jenseits der Eibe und deren durch ausländische Mächte verfügte Unterwerfung unter ein finsteres Regime sozialistisch-kollektivistischer Prägung. Ein riesiges Desaster, das jedoch das deutsche Volk durch den Zwang zum Wiederaufhau einte und durch die direkte Konfrontation mit dem, was im Osten geschah, von dem illusorischen Traum befreite, Gerechtigkeit und Wohlstand könnten durch Abschaffung des Kapitalismus und Einführung des Kollektiveigentums an den Produktionsmitteln erreicht werden. Im freien Westdeutschland fand die kommunistische Partei nur eine verschwindend geringe Zahl von Anhängern. Die Sozialdemokraten rückten bald von ihren antikapitalistischen Positionen ab und gaben 1959 mit dem Godesberger Pro­ gramm ihr marxistisches Glaubensbekenntnis auf, das für ihre Gefolgschaft hundert Jahre lang verbindlich gewesen war. In Italien dagegen hatte das faschistische Regime kaum Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse. Zwarwar das Regime anmaßend genug, Italien in den Krieg zu verwickeln, doch verursachte dieser im Land nur geringe Schäden. Die Leiden der Bevölkerung waren unvergleichlich viel kleiner als in Deutsch­ land. An diesem Punkt trennten sich dann auch die Wege der beiden Länder, weil die linke Kritik an den bürgerlichen Institutionen eine ganz andere Rolle spielte. In Italien wurde der Traum vom Kollektivismus nicht gestört, so daß ein großer Teil der Bevölkerung (und der Intelligenz) das strahlende Licht der Wahrheit weiterhin im Osten aufgehen sah. Rasch fanden sich Leute, um diese Meinung zu vertreten und politisch umzusetzen. In der verfassunggebenden Versammlung verfügten die marxistischen Par­ teien, die sich zu einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen hatten, über mehr als 40% der Sitze. Ganz unverblümt gaben sie zu, der Verfassung, die sie selbst als bürgerlich" bezeichneten, nur zuzustimmen, weil sie unter den gegebenen Bedingungen die .fortgeschrittenste" Lösung auf dem Weg zum Sozialismus darstelle. Unter diesen Bedingungen war es undenkbar, in die Ver­ fassung Bestimmungen zur Beschränkung der politischen Organisationsfreiheit aufzunehmen, wie sie das Grundgesetz (Art. 21) zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung gegen eine mögliche Bedrohung von links und rechts vorsah. lnunerhin hatten die Kommunisten in Italien einen der Grundpfeiler der Resistenza gestellt, vor allem aber war es unter Wahrung demokratischer Gepflogenheiten undenkbar, Parteien für ungesetzlich zu erklä•

sehen will, der verfügt über keine hinreichend objektive Sieht auf die komplizierten Verwicklungen einer bitteren historischen Realität.

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ren, die einen so großen Prozentsatz der W ählerschaft vertraten. Daher war es nur folgerichtig, daß die Verfassung der Regierung eine schwache Stellung im Rahmen eines Mehrparteienparlamentes einräumte. Diese grundlegende Abweichung der italienischen Entwicklung beschränkte sich jedoch nicht auf die unglückliche Gestaltung des zweiten Teils der italie­ nischen Verfassung in der Geburtsstunde der beiden Demokratien, sondern harte über zirka vierzig Jahre Bestand. In Deutschland waren bereits in den sechziger Jahren die Bedingungen dafür geschaffen, daß die demokratische Linke an die Macht kam, ohne die bürgerliche Gesellschaftsordnung und die internationale Ordnung zu gefährden. In Italien dagegen schafften es die Sozialisten nur mit Mühe, sich von der Kommunistischen Partei abzugrenzen und in das demokratische Lager zu wechseln. Die Kommunisten behielten ihre enge Bindung an die Sowjetunion bei und festigten ihren Stimmenanteil bei 25-30%. Vor diesem Hintergrund entstand die sogenannte conventio ad excludendum, d.h. die stillschweigende Übereinkunft, die Kommunistische Partei von der Regierungsbeteiligung auszuschließen". Aufgrund des Stimmenanteils der Kommunisten wurde es damit automatisch unmöglich, daß rechte und linke Regierungen einander abwechselten, und die italienische Demokratie wurde zur Stagnation verurteilt. Die Tatsache, daß dieselben Parteien jahrzehntelang die Regierung stellten, ohne jemals fürchten zu müssen, von einer siegreichen Opposition abgelöst zu werden, hat zweifellos gewisse Degenerationen des poli­ tischen Lebens hervorgebracht. Um keine Stimmen an die Linke zu verlieren, sah sich die Regierung systematisch zu übertriebenen Zugeständnissen in der Sozialpolitik genötigt, was für den Staatshaushalt und die W ährung schwetwie­ gende Konsequenzen hatte''. Die conventio ad excludendum blieb bis zum Fall der Berliner Mauer in Kraft, als die Kommunistische Partei Italiens sozusagen ihr Godesberg erlebte und danach sogar ihren Namen änderte. Zweifellos ist die unterschiedliche politische Entwicklung in Italien und Deutschland in der letzten Jahrhundertbälfte nicht nur- vielleicht nicht einmal hauptsächlich - auf die oben erwähnten verschiedenen Wege und Erfahrungen zweier Völker nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzuführen. Dennoch hat dieser Umstand sicherlich eine Rolle gespielt. Wenn dem so ist, drängt sich unweiger28 Die Formel "conventio ad excludendum", wie dieser bewußte, entschiedene Ausschluß der Kommunisten genannt wurde, der praktiziert wurde, solange keine grundlegende Änderung der innen- und außenpolitischen Lage eintrat, geht zurück auf L. Elia, Art. Govemo, in: Enciclopedia del Diritro, Bd. 19, 1970, S. 655 ff.

29 Damit erklärt sich zu einem großen Teil, warum es in den siebziger Jahren zu einem unerträglichen Anstieg der Inflationsrate kam und die Ausgaben in den achtziger Jahren die Steuereinnahmen bei weitem überschritten. Ein Erbe dieser Politik ist die aktuelle Staatsverschuldung (110% des BIP), die fast doppelt so hoch ist wie in den anderen europäischen Staaten und Italien in der Europäischen Währungsunion vor große Probleme gestellt hat und inuner noch stellt.

Die Wtedergeburt zweier Demokratien

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lieh der Gedanke an die rätselhaften Wege des Schicksals auf. Schreckliches Leid, wie es das deutsche Volk-wenn auch selbstverschuldet-erfahren hat, kann bisweilen befreiend wirken. Anderen Völkern, denen dieses Leid etspart blieb, wurde diese Befreiung lange vorenthalten.

Wege in die Adantische Gemeinschaft Amerikanisierung, Westemisierung und Europäisierung in der internationalen Politik der Bundesrepublik Deutscbland Von Eckart Conze

Ist Außenpolitik ,Außen'-Politik? Die Frage beschäftigt deutsehe Historiker bis heute'. Konrad Adenauer hat sie auf seine Weise scbon 1949 beantwortet. In seiner ersten Regierungserklärung vom 20. September 1949 beronte der Bundeskanzler, daß die Grundlinien und Ergebnisse der Außenpolitik mit über die künftige Gesellschaftsform der Bundesrepublik Deutschland ent­ scheiden würden'. Und umgekehrt, so läßt sieb leicbt ergänzen, sind natürlich innenpolitische und gesellschaftliebe Verhältnisse und Entwicklungen wichtige Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik eines Staates'. Genau dieser doppelte Zusammenhang, diese Interdependenz, steht im Zentrum dieses Beitrags. Er unternimmt den Versuch, zwei Entwicklungsstränge der Geschichte der Bundesrepublik aufeinander zu beziehen, die die Forschung hisher eher gerrentn voneinander aufgegriffen und allenfalls punktuell miteinander verknüpft hat. Dabei wird der Schwerpunkt der Analyse auf den fünfziger und sechziger Jahren liegen. ' Gestellt hat die Frage in dieser Formulierung E. Krippendorff, Ist Außenpolitik Außenpolitik?, in: Politische Vieneljahresschrift, 4 (1%3), S. 243-266. Das Problem, auf das diese Frage zielt, das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik beziehungsweise von gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen, war freilich auch schon früher (im Lamprecht-Streit oder in den Schriften Eckart Kehrs) Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. In der sogenannten Primatsdebatte der sieb­ ziger Jahre zwisehen deutschen Politik- und Sozialhistorikern erreichte die Kontroverse einen neuen Höhepunkt, dies allerdings weniger im Blick auf ihren wissenschaftlichen Ertrag als vielmehr im Blick auf den Ton und die Schärfe, mit denen sie ausgetragen wurde. Vgl. zusammenfassendE. Conze, .Modeme Politikgeschichte". Aporien einer Kontroverse, in: G. Müller (Hrsg.), Deutschland und der Westen. Internationale Beziehungen im 20. Jahrhunden. Festschrift für Klaus Schwabe zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1998, S. 19·30. 2 K. Adenauer, Reden 1917-1%9. Eine Auswahl, hrsg. von H.·P. Schwarz, Stuttgart 1975, s. 155.

' Vgl. E. Conze, Zwischen Staatenwelt und Gesellschafrswelt. Die gesellschaftliche Di­ mension in der Internatinaalen Geschichte, in: W. Loth IJ. Osterhammel (Hrsg.), Interna­ tionale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten, München 2000, S. 117-140.

Eckart Conze

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Der erste Bereich ist die Geschichte der Außenpolitik der Bundesrepublik seit

1949. Diese kann als sehr gut erforscht gelten. Insbesondere die Geschichte der politischen, der allianz- und sicherheitspolitischen, aber auch der ökonomischen Westbindung der Bundesrepublik in der Ära Adenauer, die Geschichte auch der europäischen Integration der Bundesrepublik ist seit vielen Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Forschung'. Das zweite Feld ist demgegenüber die Geschichte politischer und gesellschaftlicher Liberalisierung in der Bundesrepublik vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren. Diese Prozesse, neuerdings oftmals durch die Begriffe Verwestlichung" oder Westernisierung"' näher bestimmt oder zumindest mit diesen Begriffen in Verbindung gebracht, sind erst in jüngerer Zeit in den Blick der Forschung getreten' Verwestlichung" oder Westernisierung" bezieht sich in diesem Zusammenhang in erster Linie auf die Ebene von politischen und sozialen Wertorientierungen, auf die Entwicklung politisch-ideeller Denkmuster über die Ordnung der Gesellschaft sowie auf die Veränderung der politischen Kultur. Verwestlichung bezieht sich nicht bezie­ hungsweise nur am Randeauf Entwicklungen im Bereich der materiellen oder der Alltagskultur, die nach wie vor mit dem Begriff der .Amerikanisierung" besser erfaßt sind (wenn auch Amerikanisierung in diesen Entwicklungen nicht aufgeht}'. •



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4 Den exzellenten Forschungsstand in diesem Themenbereich detailliert darzustel­ len, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Es sei aber auf einige Forschungs­ synthesen und Überblicksdarstellungen verwieseo, die den Stand der Forschung got widerspiegelo: C. Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschlaud. Weltmacht wider Willen?, 3. Auf!., Berlin 1997; H. Haftendom, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945-2000, Stuttgart I München 2001; W.E Hanrieder, Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, 2. Auf!., Faderhorn I München 1995; G. Schöllgen, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschlaud. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999.

' Die Begriffe Westemisierung", zugegebenermaßen ein durch die Eindeutschung des englischen Wortes "westernization" entstandenes sprachliches Ungetüm, und Verwestlichung" werden in diesem Aufsatz synonym gebraucht. Eine knappe, aber pointierte Definition bietet]. Angster, Westeroisierung, in: M. Behnen (Hrsg.), Lexikon der deutschen Geschichte 1945-1990, Stuttgatt 2002, S. 659 f. ' "Westemisierung" war der Leithegriff eines seit Anfang der neunzigerJahre unter •



Leitung von Anselm Doeting-Manteuffel arn Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen durchgeführten Forschungsprojekts, das seither eine ganze Reihe von Studien zu der Thematik (Monographien und Aufsätze) hervorgebracht hat. Zu Konzept und ersten Erträgen des Tühinger Projekts vgl. A. Doering-Manteu/fel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westemisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 7 Eine kntze und präzise definitorische Bestinnnung des Amerikanisierungsbegtiffs beiA. Doering-Manteu/fel, Ametikanisierung, in: M. Behnen (Htsg.), Lexikon der deut­ schen Geschichte 1945-1990, S. 17 f.

Wege in die Atlantische Gemeinschaft

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In der Bezeichnung .Atlantische Gemeinschaft", einer seit 1945 im Zusam­ menhang mit den internationalen Beziehungen auf beiden Seiten des Atlantiks gebrauchten Leitvokabel der politischen Rhetorik und Publizistik, kommt die enge Verknüpfung der beiden Entwicklungslinien gut zum Ausdruck. Obwohl schon vor 1945 geprägt, ist .Atlantische Gemeinschaft" ein Epochenbegriff der Nachkriegszeit'. Die .Atlantische Gemeinschaft" hatte in dieser Zeit so unterschiedliche Dimensionen wie die militärisch-sicherheitspolitische Allianrlormation, die Herausbildung des transatlantischen Raums als Kernraum der liberal-kapitalistischen Weltwirtschaft, aber auch den ideellen Prozeß der (Fort-)Entwicklung einer westlichen Wertegemeinschaft. Als konzeptionel­ ler Begriff verwandt, ttansportiert .Atlantische Gemeinschaft" deshalb ein weites Verständnis internationaler Beziehungen, ihrer Sttukturen, Prozesse und Determinanten. Um die Beziehung zwischen der außenpolitischen Entwicklung zum einen und den eher soziopolitischen und soziokulturellen Prozessen von Ame­ rikanisierung und Westernisierung zum anderen zu untersuchen, sind ein­ leitend einige begriffliche Vorüberlegungen und Klärungen notwendig (I.). Auf dieser Grundlage ist dann der zentrale Zusammenhang zwischen der politischen Hegemonie der USA über Westeuropa nach 1945 zum einen und Ametikanisierungs- und Westernisierungsentwicklungen zum anderen zu bettachten (li.). In diesen analytischen Bezugsrahmen wird anschließend die Außenpolitik der Bundesrepublik insbesondere während der Ära Adenauer gesetzt (III.JIV:). Abschließend geht es um die Rolle von Institutionen und Organisationen (NATO, EWG etc.) im Kontext von Verwestlichungs- und auch Europäisierungsprozessen (V.)'. 8

Der Begriff geht zurück auf den amerikanischen Publizisten Walter Lippmann, der schon während des Ersten Weltkriegs von der .Atlantic Community" sprach, verstanden als in erster Linie anglo-amerikanische Sicherheitsgemeinschaft, um die vor allem wirtschaftlichen Verbindungen über den Nordatlantik frei zu halten. Im Zweiten Weltkrieg griff Lippmann das Konzept wieder auf, betonte nun aber stärker die gerneinsame Kultnr und die gemeinsamen Werte der .Atlantischen Gemeinschaft", vgl. W Lippmann, U.S. Foreign Policy. Shield of the Republic, Boston MA 1943, s. 114-136. ' Der Begriff der Europäisierung bezieht sich zum ersten, bis 1990 gleich­

sam als West-Europäisierung, auf den politischen und ökonomischen europäischen lntegrationsprozeß seit den späten vierziger Jahren, auf die Herausbildung und Entwicklung der sogenannten enropäischen Institntionen. Europäisierung meint aber zum zweiten auch soziale, soziapolitische und soziokulturelle Angleichungs- oder Aunäherungsprozesse, die Entstehung eines Werte- und Bewußtseins-Europas jenseits der politischen und wirtschaftlichen lntegrationssstrukturen, die gleichwohl von ent­ scheidender Bedentung für diese Entwicklungen waren. Europäisierung beinhaltet zum dritten schließlich die Dimension einer relativen Denationalisierung, einer europäischen Überwölbung, Ergänzung, ja teilweise Ablösung von Nationalstaat, Nationalgesellschaft, Nationalökonomie und Nationalk.ultur.

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I. "Westernisierung" und Amerikanisierung So wie sie in den IetztenJahren in Deutschland als Forschungsfeld entdeckt und als Forschungskonzept entwickelt worden ist, wird Westernisierung" definiert als .die alhnähliche Herausbildung einer gemeinsamen Werteordnung in den Gesellschaften diesseits und jenseits des Nordatlantik"10• Dieser Westernisierungsprozeß vollzog sich in einem längeren Zeitraum seit dem 19. Jahrhundert, in dessen Verlauf mehrere konkurrierende politisch-gesellschaftli. ehe Ordnungsentwürfe entstanden und in einen spannungsreichen Bezug zuein­ ander gerieten"". Das gilt insbesondere für den sich nach 1871 ausprägenden und mit dem Ersten Weltkrieg an Schärfe gewinnenden Gegensatz von angel­ sächsischem Liberalismus und Pragmatismus und eines pluralistischen Gesellsch aftsverständnisses einerseits und deutscher politischer Romantik und Idealismus andererseits. In Deutschland fand dieser Gegensatz in der konfliktheischenden Gegenüberstellung der westlichen .Ideen von 1789" und der deutschen .Ideen von 1914", von deutscher .Kultur" und westlicher .Zivilisation", ganz platt auch von Werner Sombarts angelsächsisch-westlichen .Händlern" und deutschen .Helden" seinen semantisch zugespitzten und vulgarisierten Ausdruck. Nach 1945 führten der deutsche Zusammenbruch sowie die ametikanische Hegemonie über die westlich-atlantische Welt zu einer sukzessiven Auflösung dieser poli­ tisch-ideellen Konfrontation zwischen Deutschland und dem Westen und zu einer langsamen Integration zumindest Westdeutschlands und der westdeutschen Gesellschaft in die politisch-ideulogische Wertegemeinschaft des Westens. Damit bezeichnen die Begriffe Westernisierung" oder Verwestlichung" jene Li­ beralisierungsprozesse, welche die politische, soziale und kulturelle Entwicklung der Bundesrepublik in den ersten beiden Jahrzehnten ihrer Existenz charak­ terisierten. Sie präzisieren den recht allgemeinen Begriff Liberalisierung aber dahingehend, daß sie - schon durch die Terminologie - Gründe, Triebkräfte, die Richtung und den Referenzrahmen dieser Liberalisierung klar bestimmen. Der Westernisierungsbegriff ist damit auch ein Erklärungsbegriff und nicht bloß ein Feststellungs- oder Deskriptionsbegriff12• •







Der einer solchen Verwendung zugrunde liegende Begriff des Westens" wird auf zweifache Weise gewonnen: durch die Bestimmung konstitutiver Elemente von "Westlichkeit" einerseits, aber auch- andererseits- im historischen Verlauf •

10 A. Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: A. Schildt ID. Sieg/ried I ].Ch. Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311-341, hier S. 314. n

Ebd.

Der Begriff der Uberalisierung leitet beispielsweise die Beiträge in: U. Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Uberalisierung 1945-1980, Göningen 2002. 12

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durch die Abgrenzung von anderen, als nicht-westlich betrachteten Modellen beziehungsweise ihrer historischen Konkretisietung in bestimmten Staaten oder Gesellschaften (zum Beispiel dem kaiserlichen oder dem nationalsozialistischen Deutschland, dem faschistischen Italien oder der kommunistischen Sowjetunion). Gerade im deutschen Falle und in der deutschen Geschichtsschreibung hat sich in den letzten Jahren mit der "Westernisierung" eine attraktive und plausible histotische Meistererzählung (master narrative) herausgebildet, ein lnterpretationsmuster, das die Integration der Nachkriegszeit in die Erforschung und Darstellung der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zugleich verlangt und erleichtert. Dabei sind das jüngere lnterpretament der "Westernisierung" und das ältere des deutschen .Sonderwegs" sehr eng auf­ einander bezogen und lassen sich, wenn man "Westernisierung" als Prozeß der Abkehr der Deutschen von ihrem .Sonderweg" versteht, analytisch überaus sinnvoll miteinander verbinden". Was die "Westernisietung" als methodisch-heuristisches Konzept freilich vom Ansatz her vom .Sonderweg" unterscheidet, ist ihre immanente Inter­ nationalität und Transnationalität. Schon der Begriff selbst weist darauf hin, daß er Beziehungen zwischen Staaten, mehr noch aber zwischen Gesellschaften und Kulturen umgreift und solche erfassen will. Ob wir "Westemisierung" nun als Prozeß eines Kulturtransfers14 verstehen oder als Ergebnis durchaus auch politisch bestimmter Gesellschaftsbeziehungen, "Westernisietung" läßt sich nicht nationalstaatlich, nationalgesellschaftlich oder nationalkulturell verengen. So gesehen liegen im Konzept der "Westernisierung" auch An­ satzpunkte einer weiterreichenden Internationalisierung der geschichtswissen­ schaftliehen Perspektive, die nicht nur Staatenbeziehungen und, ansatzweise, Wirtschaftsbeziehungen erfaßt und zum Gegenstand der Analyse macht, sondern auch Gesellschafts- und Kulturbeziehungen. Es handelt sich damit um ein Konzept, das ein weites und integratives, nicht politikhistotisch (im traditionellen Sinne) beschränktes Verständnis internationaler Beziehungen errnöglicht. 13 Vgl. E. Conze, Nationale Vergangeoheit und globale Zukunft. Deutsche Ge­ scbichtswissenschaft und die Herausforderung der Globalisierung, in: J. Baberowski u.a., Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Stuttgart I München 2001, S. 43-65, insbesondere S. 51-54; siehe auch P. No/te, Einführung. Die Bundesrepublik Deutschland in der deutschen Gescbichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002), S. 175-182. Zum .deutschen Sonderweg" siehe B. Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, zur wissenschaftlichen Debatte darüber: Deutscher Sonderweg - Mythos oder Realität?, hrsg. vom Instituts für Zeitgescbichte, München I Wien 1982.

" Konzeptionelle und begrifflich differenzierende Überlegungen zum Kultur­ trausfer bei J. Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Gescbichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift, 267 (1998), S. 649-685.

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Ein solches weites Verständnis internationaler Beziehungen setzt freilich die .Durchbrechung der harten Schale des Nationalstaats", wie es der ameri­ kanische Politikwissenschaftler John Herz schon vor vielen Jahren formuliert hat, voraus". In diesem Zusammenhang- und gerade im deutschen Falle- ist die Zäsur des Jahres 1945 von zentraler Bedeutung. Das hat nicht nur zu tun mit dem Ende des .Dritten Reiches" und dem Untergang des deutschen Nationalstaats, sondern mehr noch mit dem machtpolitischen Aufstieg der Vereinigten Staaten zur globalen Macht schon im Laufe des Zweiten Weltkriegs sowie zur Hegemonialmacht des Westens im Zeichen des sich entfalten­ den Kalten Krieges. Der Siegermachtstatus der USA gegenüber Deutschland und die amerikanische Hegemonie über den "Westen" des Kalten Krieges waren zunächst entscheidende Voraussetzungen für die Intensivierung von Amerikanisierungsprozessen, von Prozessen, ganz allgemein gesprochen, in denen der prägende, formverändernde Einfluß der USA zum Tragen kam. Amerikanisierung - und das ist von Westetttisierung klar zu unterscheiden bezeichnet in diesem Sinne Prozesse der Transformation, in welchen Impulse von US-amerikanischer Seite her aufgenommen wurden und ein anderes Land deutlich sichtbar prägen". Das bezieht sich primär auf Wirtschaft und Sozialkultur, auf Konsum, Alltag und Freizeitverbalten, doch man wird auch von politischen und ideellen Amerikanisierungsprozessen sprechen können, wenn und soweit es um die Übertragung spezifisch amerikanischer Vorstellungen, Strukturen und Praktiken geht. Wichtig ist indes der Einbahnstraßencharakter von Amerikanisierungsprozessen, der Transfer von den USA in ein anderes Land, die Orientierung, ja zum Teil Ausrichtung auf die USA. Amerikanisierung wirkt vor allem als Kulturttansfer, als Übertragung von amerikanischen oder als amerikanisch erachteten Institutionen, Gebräuchen, Verhaltensweisen und 15 J.H. Herz, Rise and Demise of the Territorial State, in: World Politics, 9 (1957), S. 473-493. Die T hese vom Ende des Territorialstaats und der Entterritorialisierung ist, das zeigt Herz' Aufsatz, also nicht ganz so neu, wie es mancher Beitrag im Kontext der Globalisierungsforschung der letzten Jahre suggeriert. 16 Zum Ametikanisierungsbegriff sowie zu den Prozessen und Phänomenen der Amerikanisierung ist in den letzten Jahreo reiche Literatur erschienen. Es sei hier nur knapp verwiesen aof einige allgemeinere Werke: A. Doering-Manteu!fel, Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte, 35 (1995), S. 1-34; P Gassert, Amerikanismus, Antiamerikanismus, Amerikanisierung. Neue Literatur zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des amerikanischen Ein­ flusses in Deutschland und Europa, in: Archiv für Sozialgeschichte, 39 (1999), S. 531561; ders., Was meint Amerikanisierung? Über den Begriff des Jahrhunderts, in: Merkur, 54 (2000), S. 785-796; K. Jarausch I H. Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a.M. I New York 1997; R. Kroes, Americanisation- What Are We Talking About?, in: R. Kroes I PW Ryde/1 I D.EJ. Bosseher (Hrsg.), Cultural Thmsmissions and Receptions. Arnerican Mass Culture in Europe, Amsterdam 1993, S. 302-318; A. Lüdtke I J. Marßolek I A. von Saldern (Hrsg.), Amerikanisietung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Sturtgart 1996.

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Symbolen von den Vereinigten Staaten in andere Länder. Amerikanisierung ist damit ein prinzipiell globaler und globalisierender Prozeß - daher heute die Überschneidung von Amerika- und Globalisierungskritik -, nicht beschränkt auf den europäisch-atlantischen Rawn, als Zentrwn des Westens" des Kalten Krieges. Amerikanisierung als Kulturtransfer kann Ergebnis gezielten und absichtsvollen Handeins sein; Amerikanisierung kann sich aber auch unbe­ absichtigt und eher indirekt als Folgeerscheinung des Aufstiegs der USA zur Weltmacht ab etwa 1900, vor allem zur westlichen Hegemoniahnacht nach 1945, vollziehen. Das in zwei Weltkriegen besiegte Deutschland ist nur ein besonders gutes Beispiel für die Voraussetzung von Amerikanisierungsprozessen. Diese konnten im deutschen Falle nach 1945 besonders leicht greifen, weil hier der Amerikanisierungsdruck der Sieger- und Hegemoniahnacht auf eine außergewöhnlich große Amerikanisierungsdisposition oder -bereitschaft der Deutschen traf. •

II. Hegemonie durch Integration In der internationalen Politik und der internationalen Wirtschaft war der Marshall-Plan sowohl Instrwnent als auch Produkt der amerikanischen Hegemonie". DerMarshall-Plan trieb Amerikanisierungsprozesse voran, indem er die (west-)europäischen Volkswirtschaften auf die USA hin ausrichtete und sie für den Handel mit den USA öffnete. Gleichzeitig jedoch wirkte der Marshall-Plan auch westemisierend", indem er nicht nur Westeuropa ökono­ misch revitalisieren half, sondern es auch in das von den Vereinigten Staaten konzipierte und dominierte multilaterale Welthandels- und Weltwährungssystem mit dem US-Dollar als Leitwährung integrierte und damit ökonomisch und handelspolitisch den Westen" zu schaffen half; den "Westen" als Zone liberal­ marktwirtschaftlich strukturierter Volkswirtschaften in engem Handels- und Währungsverbund". •



17 Zum Marshall-Plan vor al lem die wichtige Studie, mittlerweile ein Standardwerk, von M.J. Hogan, The Marshall Plan. Ametica, Britain, and the Reconstruction ofWestem Europe 1947-1952, Cambridge 1987. Knappe, ZUsammenfasseode Bewenuogeo, die deo Stand der Forschung reflektiereo, mit weitereo Literaturhinweisen auch bei M. Wala, Der Marshallplan und die Genese des Kalten Krieges, in: D. Junker (Hrsg.), Die USA und Deutsch land im Zeitalter des Kalteo Krieges 1945-1990, 2 Bde., Stuttgart I Mönchen 2001, Bd. 1: 1945-1%8, S. 124-131, sowie G. Hardach, Der Marshallplan, ebd., S. 468-479.

" Vgl. C.S. Maier, Die konzeptuellen Grundlageo des Marshall-Plans, in: O.N. Haber/ I L. Niethammer (Hrsg.), Der Marshall-Plan und die europäische Linke, Frankfurt a.M. 1986, S. 47-58, vor al lem S. 47 und 53 f., sowie auch C. Buchheim, Die Wiedereing l iederung Westdeutsch l ands in die Weltwirtschaft 1945-1958, Möncheo 1990.

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Der Marshall-Plan wirkte schließlich auch europäisierend, iodem er- das war io Washiogton von Anfang an mitgedacht-die europäische Integration vorantrieb". Amerikanische Hilfsleistuogen aus dem Europeon Recovery Program (ERP) wurden gekoppelt an Fortschritte bei der Überwindung der von der Existenz autonomer uod isolierter Nationalstaaten gekennzeichneten euro­ päischen Ordouog der Zwischenkriegszeit. Auch nach 1918 hatten die USA­ zumindest bis zur Weltwirtschaftskrise-eine europäische Stabilisieruogspolitik zu herreihen versucht, waren damit aber angesichts der Strukturen des Versailler Systems erfolglos geblieben20• Nach 1945lagen die Dioge nuo anders. Das hatte nicht nur zu tuo mit dem gestiegenen Macht- uod Hegemonialpotential der USA, sondern auch mit einer größeren Neiguog der durch den Krieg geschwächten westeuropäischen Nationalstaaten, der amerikanischen Europäisieruogspolitik (auch verstanden als Entnationalisieruogspolitik) zu folgen. Zwar rertere, so Alan Milward, die europäische Integration, wie sie seit den späten vierziger Jahren Gestalt annahm, auch die überkommenen europäischen Nationalstaaten, iodem sie ihnen, vor allem ökonomisch, nach 1945 neues Leben eiobauchte21• Dennoch waren die wiedererstehenden europäischen Nationalstaaten der Nachkriegszeit allenfalls geläuterte Nationalstaaten, deren iotemationale Politik nur noch wenig gemein hatte mit ihrem Verhalten io der Zeit vor 1914 oder auch zwischen den Kriegen. Daß die europäischen Nationalstaaten, die entste­ hende Buodesrepublik Deutschland eingeschlossen, auf ihre absolute politische Handluogsautonomie zu verzichten bereit waren-uod zwar sowohl im euro" Dazu jetzt auf breiter Quellenbasis B. Neuss, GeburtshelferEuropas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozeß 1945-1958, Baden-Baden 2000, vor allem S. 30-63. Vgl. aber auch G. Bossuat, I:Europe occidentale a !'heure ameticaine. Le plan Marshall et l'unite europeenne 1945-1952, Brüssel 1992. Diese ametikanische Politik setzte sich auch in den fünfziger und sechziger Jabren fort. Siehe dazu P. Winand,Eisenhower, Kennedy, and the United States ofEurope, London 1993, sowie E. Conze, Die gaullistische Herausforderung. Die deutsch-französischen Beziehungen in der amerikanischenEuropapolitik 1958-1963, München 1995. Siehe im übrigen auch die Überblicksdarstellung von G. Lundestad, .Empire" by Integtation. The United States andEuropean Integtation 1945-1997, New York u.a. 1998. 2° Konzeptionell schloß der Marsball-Plan klar an ametikanische Überlegungen und Anstrengungen aus der Zwischenkriegszeit, vor allem aus den zwanziger Jahren, an, die jedoch allenfalls in Ansätzen Wirkung entfaltet hatten. Haupthindernisse waren das ungebrochene Gewicht des Nationalen, der strukturelle, Systemische Nationalismus der Versailler Ordnung sowie, konkreter, der scharfe deutsch-französische, vor allem sicherheitsbezogene Gegensatz. Die Weltwirtschaftskrise nach 1929 brachte dann die europäische Stabilisierungspolitik der USA fast völlig zum Erliegen und führte zum Rückzug der USA auf sich selbst und die eigene Hemisphäre. Zu den Kontinuitätslinien der amerikanischenEuropapolitik zwischen erster und zweiter Nachkriegszeit siehe M.]. Hogan, The Marshall Plan, S. 1-23, sowie C.S. Maier, The Two PostwarEras and the Conditions for Stability in Twentieth-Century WesternEurope, in: American Historical Review, 86 (1981), S. 327-352. 21

A.S. Milward, TheEuropean Rescue of the Nation-state, London 1992.

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päischen Integrationskontext als auch in der transadantischen Ausrichtung auf den amerikanischen Hegemon -, war Ergebnis einer höchst rationalen Kosten­ Nutzen-Analyse: Im Austausch gegen Autonomiebeschränkungen würden die westeuropäischen Staaten größere Sicherheit und materiellen Wohlstand gewinnen. Es wurde zum Spezifikum der amerikanischen Hegemonie über Westeuropa nach 1945, daß die US-Dominanz weitestgehend auch den natio­ nalen Interessen, der westeuropäischen Staaten entsprach. Der norwegische Historiker Geir Lundestad hat in diesem Zusammenhang von .empire by invitation" gesprochen, Charles Maier von .consensual hegemony", und selbst in den Memoiren Charles de Gaulies findet sich der Begriff der "schützenden Hegemonie"22 . Die Sicherheitsinteressen der Westeuropäer richteten sich dabei bekannter­ maßen nicht nur auf die direkte oder indirekte, reale oder perzipierte sowjeti­ sche Bedrohung, sondern insbesondere im Falle der kontinentaleuropäischen Nachbarstaaten Deutschlands mindestens ebensosehr auf ein Wiederaufleben der deutschen Gefahr. Die amerikanische Europapolitik, wie sie im Marshall­ Plan ihren Ausdruck fand, trug diesem Umstand Rechnung. Der Marshall­ Plan und die durch ihn angestoßenen europäischen Integrationsprozesse waren Teil der amerikanischen Politik der .doppelten Eindämmung"". Der Sicherheitsbegriff, der der Eindämmungspolitik zugrunde lag, war denkbar weit.

22 G. Lundestad, Empire hy lovitation? The United States and Western Europe, 1945-1952, in: SHAFR Newsletter, 15 (1984), S. 1-21; C.S. Maier, The Politics of Productivity. Faundarions of American lotemarianal Economic Policy after World War II, in: International Organization, 31 (1977), S. 607-633, hier S. 630; C. de Gaulle, Memoiren der Hoffnung. Die Wiedergehurt 1958-1962, Wien u.a. 1971, S. 237. Vgl. auch die begriffliche und konzeptionelle Weiterentwicklung bei E. Conze, Hegemonie durch lotegration. Die amerikaDisehe Europapolitik und ihre Herausforderung durch de Gaulle, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 43 (1995), S. 297-340, sowie G. Lundestad, .Empire" hy lotegration. " Den Begriff der .doppelten Eindäonnung" prägte W. Hanrieder, West German ForeignPolicy, 1949-1%3.1otemational Pressure and Domestic Response, Stanford CA 1%7; vgl. auch ders., Germany, America, Europe. Forty Years of German ForeignPolicy, New Haven CT I London 1989, S. 6-11. Andere Autoren bevorzugen den Terminus .duale Eindäonnung", weil dieser den Zusammenhang zwischen der Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion und der Eindämmungspolitik gegenüber Deutschland besser erfasse. Vgl. beispielsweise T.A. Schwartz, Die Adantikhrüeke. John McOoy und das Nacbktiegsdeutscbland, Frankfurt a.M. I Berlin 1992, S. 425 und 525 f. Die Anwendung des Begriffs .Eindämmung" auch auf die ametikanische Politik gegenüber Deutschland beziehungsweise der Bundesrepublik kritisiert Hans-Peter Schwarz scharf als .erkeonntishemmend". Die Bundesrepublik habe nie eingedäonnt, allenfalls kontrol­ liert werden müssen, und die amerikaDisehe Kontrollambition habe sich - als Teil ihrer Hegemonialpolitik- immer auch auf andere europäische Staaten, Großbritannien und Frankreich allen voran, bezogen. Vgl. H.-P. Schwan, Amerika, Dentscbland und die adan­ tische Gemeinschaft nach dem Kalten Krieg, in: D. Junker (Hrsg.), Die USA und Deutsch­ land im Zeiralter des Kalten Krieges 1945-1990, Bd. 2, S. 799-826, vor allem S. 802 f.

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Er definierte Sicherheit nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch und soziopolirisch. Es war ein liberaler Sicherheitsbegriff, der im Kern zurückging auf die Ideen und Ordnungsvorstellungen des frühen Liberalismus im späten 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; ein Sicherheitsbegriff, der Frieden durch freien Handel erreichen beziehungsweise befestigen wollte und der die Schaffung liberal-demokratisch organisierter Gesellschaften als wesent­ liehe Bedingung für einen .ewigen Frieden" im Sinne Kants erachtete. Das idealistische Konzept des democratic peace ist hier deutlich zu erkennen". Machen wir uns ein solch weites Sicherheitsverständnis zu eigen, dann fallen die Schranken zwischen Außen- und Sicherheitspolitik im engeren Sinne einerseits und soziopolirischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Entwicklungen und Beziehungen andererseits. Mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland und die deutsch-amerikanischen Beziehungen nach 1945/49 wird dies ganz besonders deutlich. Es gilt ganz allgernein im Hinblick auf die bereits erwähnte überwölbende Bedeutung des amerikanischen Sieger- und Hegemonialmachtstatus für die konstitutionelle, die politische und gesellschaft­ liehe Entwicklung der Bundesrepublik, und nicht nur für ihre Außen- und Sicherheitspolitik. Dieser Aufsatz kann nicht das komplette Panorama dieser Prozesse entfalten, kann nicht die vielfältigen Formen und Wirkungen von Amerikanisierungs- und Westemisierungsprozessen in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik darstellen". Er kann sich aber in einer durch die umfas­ senden Entwicklungen von Amerikanisierung und Westernisierung bestimmten Perspektive der internationalen Politik der Bundesrepublik zuwenden und diese innenpolitisch und gesellschaftlich rückbeziehen.

24 Im Gefolge des weltpolitischen Umbruchs von 1989191 und nicht zuletzt unter dem Eindruck von Francis Fukuyamas geschichtsphilosophischem Deutungsversuch jener Ereignisse (F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992) hat sich insbesondere die Politikwissenschaft verstärkt mit dem Problemkomplex des .democratic peace", der Frage nach der Friedfertigkeit demaktarischer Gesellschaften auseinandergesetzt. Die Diskussion über den "demokratischen Frieden" rekurriert innner wieder auf Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf [1795], in: J. Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von W Weischedel, Frankfurt a.M. 1964, Bd. 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, S. 193-251. Aus der großen Fülle an Literatur vgl. zum Beispiel E.-0. Czempiel, Friedensstrategien. Systemwandel durch Internationale Organisationen, Demoktatisierung und WirtSchaft, Faderborn u.a. 1986, S. 110-172; B. Russett, Grasping the Democrarie Peace. Principles for a Post-cold War World, Princeron NJ 1993; B. Russett I J. Oneal, The Classical Liberals Were Right. Democracy, Interdependence, and Conflict, 1950-1985, in: International Studies Quarterly, 41 (1997), S. 267-294, ntit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen. 25 Siebe dazu im Ü berblick A. Doering-Manteu!fel, Wie westlich sind die Deut­ schen?; ders., Westernisierung; A. Lüdtke I J. Marßolek I A. von Saldern (Hrsg.), Ame­ tikanisierung; A. Schildt, Sind die Westdeutschen amerikanisiert worden? Zur zeitge­ schichtlichen Erfahrung kulturellen Transfers und seiner gesellschaftlichen Folgen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50 (2000), S. 3-10.

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m. Politik der Westbindung Wer von der Außenpolitik der Bundesrepublik nach 1949 spricht, kommt auch ohne Vertreter eines neo-rankeanischen .Männer machen Geschichte"­ Ansatzes zu sein- an Konrad Adenauer nicht vorbei26• Der erste Bundeskanzler war ein Realpolitiker, und auch als Machtpolitiker wird man ihn ohne wei­ teres bezeichnen dürfen. Zielsicher, ja geradezu instinktiv, verfolgte er seit 1949- in Ansätzen sogar schon früher - seine Politik der Westbindung als Mittel zu deutschem Wiederaufstieg und zu internationaler, vor allem aber innerwestlicher Gleichberechtigung. Der Kalte Krieg hatte die Tür für eine solche Politik geöffnet. Adenauer setzte dem westlichen und insbesondere amerikanischen Interesse an Stärkung des Westens durch Integration des westdeutschen Potentials das westdeutsche Wiederaufstiegs- und Gleichberec htigungsinteresse entgegen. Der deutsche Kanzler vertrat eine Politik des quid pro quo, wie sie sich erstmals im Sommer 1950 nach Beginn des Korea-Kriegs in seinem Sicherheits- und seinem Neuordnungsmemorandum manifestierte, in jenen Dokumenten, die einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag von Modifikationen des Besatzungsregimes abhängig machten27• Das war machtpoli­ tisch gedacht, ließ jedoch traditionelle Formen nationalstaatlicher Machtpolitik weit hinter sich. Die .außenpolitische Revolution"" Adenauers bestand nicht darin, daß er deutscher Machtpolitik ein für allemal abschwor. Sie bestand vielmehr darin, daß Adenauers Westbindungspolitik als Machtpolitik höchst moderne Züge trug, indem sie Souveränitätsverzicht, Integrationspolitik und Entterritorialisierung, also die Lösung politischer Entscheidungskompetenz vom territorialstaatlichen Bezugsrabmen, als Mittel verwandte. Adenauer brach damit nicht nur mit der Tradition des preußisch-deutschen Machtstaates seit dem 19. Jahrhundert, sondern überwand auch das politische Denken und Handeln in Kategorien des autonomen nationalen Machtstaats, wie es sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa, später auch über Europa hinaus, herausgebildet hatte". Das fiel den Deutschen nach 1945 gewiß leichter als

26 Zu Konrad Adenauer zuerst und vor allem H.-P. Schwarz., Adenauer, 2 Bde., Stuttgart 1986 und 1991; außerdem H. Ki!hler, Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt a.M. I Berlio 1994. 7:1 Siehe dazu N. Wiggershaus, Die Eotscheiduog für eioen westdeutschen Vertei­ digungsbeitrag 1950, in: Anflinge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, 4 Bde., Müochen IWien 1982-1997, Bd. 1: Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, S. 325-402, sowie R. G. Foerster, Innenpolitische Aspekte der Sicherheit Westdeutschlands 1947-1950, ebd., S. 403-575.

28 C. Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutsch land, S. 49. " Vgl. P. Krüger, Das Problem der Stabilisierung Europas nach 1871. Die Schwierigkeiten des Friedenssch lusses und die Friedensregelung als Kriegsgefahr, in: ders. (Hrsg.), Das europäische Staatensystem imWandel. Strukturelle Bedingungen und bewe­ geode Kräfte seit der Frühen Neuzeit, Müocheo 1996, S. 171-188; A. Doering-Manteu/fel,

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anderen Europäern, weil die Idee des Nationalstaats zwischen 1933 und 1945 in Deutschland so vollständig pervertiert und moralisch diskreditiert worden war. Gleichwohl war Adenauer kein post-nationaler Politiker. Das verbot auch die ungelöste deutsche Frage, die Frage der deutschen Teilung. Die Nation blieb Bezugspunkt seines Denken und Handelns, allerdings nicht in Gestalt des isolierten, sich selbst genügenden Nationalstaats, sondern als in vielfältige föderative oder multilaterale Strukturen eingebundene Nation. Adenauers dezidierte Westbindungspolitik war eine Absage an traditionelle Muster deutscher Außenpolitik, deren Protagonisten in Deutschland nach 1945 nicht von der Bildfläche verschwunden waren, sondern in Kurt Sehnmachers SPD, in einer stark national ausgerichteten FDP, aber auch im nationalen Flügel der CDU (Jakob Kaiser) weiter politisch aktiv waren und Adenauers Westpolitik massiv kritisierten und bekämpften". Trotz seiner politischen Sozialisation im Kaiserreich, aber wohl nicht zuletzt wegen seiner politischen Verwurzdung im katholischen Rheinland, repräsentierte Konrad Adenauer neue Wege und Metboden deutscher Außenpolitik. Er erteilte indes nicht nur einer arn natio­ nalen Machtstaat preußisch-deutscher Provenienz orientierten Außenpolitik eine klare Absage, sondern mindestens ebenso sehr auch konservativ-katholi­ schen internationalen beziehungsweise übernationalen Ordnungsvorstellungen. So seltr und so oft Adenauer gerade in seinen europapalirischen Reden vom .chrisdichen Abendland" sprach, so wenig teilte er die Bestrebungen der sogenannten Abendländischen Bewegung, jener rechtskonservativen, über­ wiegend katholischen Gruppierung, deren europäische Ordnungskonzepte an das über- und vornationale Heilige Römische Reich anknüpften, die aber auch innenpolitisch und gesellschaftlich in einer Art rückwärtsgewandten Utopie die vormodernen, ja vorreformatorischen Zeiten des Sacrum Imperium als heilsgeschichtlich Goldenes Zeitalter verklärten". Internationale Geschichte als Systemgeschichte. Strukturen und Handlungsmuster im europäischen Stoarensystem des 19. und 20. Jahrhunderts, in: W Loth I J. Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte, S. 93-115, oder auch E. Conze, "Wer von Europa spricht, hat Unrecht". Aufstieg und Verfall des vertragsrechtliehen Multilateralismus im europäischen Staatensystem des 19. Jahrhunderts, in: Historisches Jahrbuch, 121 (2001), S. 214-241, vor allem S. 232-241.

30 Zu Kurt Sehnmacher siehe P. Merseburger, Der schwierige Deutsche. K. Schumacher, Eine Biographie, Stuttgart 1995; zu Jakob Kaiser siehe W Conze, Jakob Kaiser. P olitiker zwischen Ost und West 1945-1949, Stuttgart 1%9, sowieE. Kosthorst, Jakob Kaiser. Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen 1949-1957, Stuttgart u.a. 1972; zur FDP P Lösche I F. Walter, Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Danns tadt 19%. 31 Zur .Abendländischen Bewegung" siehe A. Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 21-82; neuerdings umfassend V Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München 2005.

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Angesichts solcher Alternativvorstellungen- nationalistisch-machtstaatlich einerseits, vor- und antimodern andererseits-, so randständig sie im einzelnen auch gewesen sein mögen, kano es kaum überraschen, daß Adenauer zum .Kanzler der Alliierten"", der Amerikaner zumal, wurde. Form und Inhalt seiner Außenpolitik entsprachen - trotz aller Konflikte und Spanarmgen im einzelnen - ganz weitgebend den Zielen und Erwartungen amerikanischer Außen-, Europa- und Deutschlandpolitik vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Diese außenpolitische Kongruenz ließ die Amerikaner auch den auto­ ritativen Führungs- und Politikstil des ersten Bundeskanzlers akzeptieren, den man durchaus zur Kenntnis nahm und in internen Analysen auch kritisierte". Aber man zweifelte nicht an Adenauers Loyalität zu der von ihm mitgeschaf­ fenen und nun durch ihn repräsentierten konstitutionellen und institutionellen Ordnung der Bundesrepublik Und die klügeren unter den amerikanischen Analysen erkannten auch, wie sehr das System der Kanzlerdemokratie, wie sehr Adeoauers autoritär-patriarchalischer Führungsstil und Politikverständnis deo Deutschen die .Einhausung" (Thomas Nipperdey) in der parlamentarischeo Demokratie erleichterte und damit die mittel- und langfristige Stabilisiertmg und gesellschaftliche Einwurzdung freiheitlich-demokratischer Strukturen beför­ derte". Auch das verlieb, nebeo den außen- und militärpolitischen Faktoreo, Adeoauer und den Unionsparteien währeod der gesamteo fünfzig er Jahre den politischen Rückhalt der USA, wie er am klarsten und sichtbarsten in der politischeo Freundschaft zwischeo Adeoauer und dem amerikanischeo Außeominister John Foster Dulles zum Ausdruck kam. " So der berühmte Vorwurf des SPD-Oppositionsführers Kurt Sebumaeber an Konrad Adenauer in der Bundestagsdebatte am 25 November 1949 über das Petersberger Abkommen und die Demontagepolitik Die entsebeidenden Ausschnitte der Debatte sind abgedruckt bei E. Conze I G. Metzler (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Daten und Diskuasionen, Stuttgatt 1999, S. 93-96. " Siebe dazu beispielsweise H. -]. Schröder, Die Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland. Eine arnerikanische Bilanz 1954, in: Vierteljahrshefte für Zeitgescbiebte, 37 (1989), S. 323-351, oder F. Schumacher, Kalrer Krieg und Propaganda. Die USA, der Kampf um die Weltmeinung und die ideelle Westbindung der Bundesrepublik Deutschland, 1945-1955, Trier 2000, S. 250-259. Abwegig ist die Bewertung von R. Lammersdorf, Verwestliebung als Wandel der politiseben Kultur, in: D. Junker (Hrsg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990, Bd. I, S. 966-977, hier S. 974 f., der die amerikanische Akzeptanz der sieb herausbildenden Kanzlerdetnokratie Adenauerscher Prägung in der Bundesrepublik mit der Unterstützung autoritärer, aber antikommunistiseber Regime, wohl vor allem in der Dritten Welt, dureb die USA auf eine Ebene stellt.

34 Stirnrunzelnd, ja sorgenvoll, konstatierte diesen Zusammenhang in den seebziger Jabren schon R. Dahrendorf, Gesellsebaft und Detnokratie in Deutschland, München 1965, S. 464-480. Heute sieht das die Forsebung nüebrerner. Vgl. zum Beispiel D. van Laak, Der widerspenstigen Deutseben Zivilisierung. Zur poliriseben Kultur einer unpolitischen Gesellsebaft, in: E. Conze I G. Metzler (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, S. 297-315.

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Der SPD vor Godesberg (1959) war demgegenüber in amerikanischen Augen nicht zu trauen. Das hatte nicht nur außen- und deutschlandpolitische Gründe. Weit stärker als Adenauer galt Kurt Scbumacher amerikanischen Beobachtern als Repräsentant einer Politikergeneration der Zwischenkriegszeit mit ihrer fragmentierten politischen Kultur und ihrer extremen nationalen Aufladung. Diese personellen Präferenzen blieben nicht ohne politische, und das heißt auch innenpolitische Wirkung. Konrad Adenauer selbst betonte 1960 gegenüber dem französischen Ministerpräsidenten Michel Debre, daß ihm der Schulterschluß mit den USA, wie er für die Öffentlichkeit vor allem in der Außenpolitik siebtbar wurde - sichtbar nicht zuletzt durch Bilder -, geholfen habe, drei Wahlen zu gewinnen; der Scbulterschluß, welcher der deutseben Bevölkerung vor allem das Gefühl der Sicherheit gebe". Als der deutsche Kanzler das feststellte, hatte allerdings der deutsch-amerikanische Konsens im Schatten der Berlin-Krise tiefe Risse bekommen. Amerikanische Politiker, unter ihnen der 1960 siegreiche demokratische Präsidentschaftskandidatlohn F. Kennedy, kritisierten schon seit Mitte der fünfziger Jahre die einseitige politische Fesdegung der Eisenhower-Administration auf Adenauer und die Unionsparteien36•

Iv. "Doppelte Eindämmuog" uod Antikommunismus Wechseln wir nun aber die Perspektive: Verlassen wir die Politik in der Ära Adenauer und blicken wir noch einmal auf die amerikaniscbe Politik gegen­ über Deutschland und den Deutschen. Die Errichtung und Einwurzdung einer stabilen Demokratie nach westlichem Muster in der Bundesrepublik Deutschland, die ideelle Westorientierung also, entsprang nicht nur ametikani­ scbem Sendungsbewußtsein im Sinne Woodrow Wdsons. Die ideelle Integration Westdeutschlands und der Westdeutschen, wie sie unmittelbar nach Kriegsende mit der Politik der reeducation begann und sieb dann ab 1948/49 mit der Politik der reorientation fortsetzte, verlief parallel zur funktionalen Integration der Bundesrepublik in die politischen, wirtschaftlichen und militärischen "

Vgl. K. Adenauer, Erinnerungen 1959-1963, Stuttgart 1%8, S. 75.

" Vgl. beispielsweise einen außenpolitiseben Grundsatzartikel Kennedys von 1957: J.F. Kennedy, A Democrat Looks at Foreign Policy, in: Foreign Affairs, 36 (1957), S. 44-53. Im Vorfeld der westdeotschen Bundestagswahl sebrieb Kennedy: .American policy has Iet itself be !ashed too tightly to a single German govenunent and party. Whatever electioos show, the age of Adenauer is over ... The present Athninisttation ... has riveted its policy and favor exclusively an one Ieader and party and made pariabs of the opposition, who will inevitably be a patt of some future government. The fidelity to the West of the Socialist opposition is unquestionable, and yet sometimes our statesmen and actions seem almost to equate them with the puppet regime in East Gennany". Vgl. dazu aueb E. Conze, Gaullistisebe Herausforderung, S. 182 f.

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Strukturen der westlichen Welt. Ja mehr noch: Demokratisierung und ideelle Westorientierung, das also, was wir als Verwestlichung der Deutschen fassen könoen, waren in amerikanischer Sicht auch Voraussetzungen der Verwandlung Deutschlands in einen verläßlichen Verbündeten der USA. Gesellschaftliche Reform und gesellschaftlicher Wandel waren essentieller Bestandteil des stra­ tegischen Konzepts der USA im Zeichen der .doppelten Eindämmung". Die Aufnahme Deutschlands in den Kreis der westlichen Demokratien entsprach in amerikanischer Einschätzung den Erfordernissen eines stabilen internationalen Systems - hier zog man die Lehren aus der Zwischenkriegszeit - und dantit den nationalen Sicherheitsinteressen der USA. Dieser politische Imperativ war in seinen Folgen allerdings durchaus ambi­ valent, und er konfrontierte die USA vor allem in den fünfziger Jahren mit einem schwierigen Dilemma. Die USA erwarteten einerseits die feste und vorbehaldose Westbindung der Bundesrepublik , ihre Einbindung in die trans­ adantischen und westeuropäischen Bündnis- und Integrationsstrukturen. Andererseits aber sorgte der sich in Westdeutschland allmählich entfaltende Geist demokratischer, politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzung dafür, daß die politischen Optionen, für die Washington und die Regierung Adenauer eintraten, nicht von allen Deutschen geteilt und akzeptiert wurden und daß dieser Dissens vor allem auch öffentlich artikuliert, der Konilikt in Parlament und Öffentlichkeit ausgetragen wurde". Das zeigen die großen politi­ schen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über Westintegration versus Wiedervereinigung, über den Neutralismus und über die Wiederbewaffnung. Diese Kontroversen, die nicht nur auf den politisch-parlamentarischen Raum im engeren Sinne beschränkt blieben, sondern ganz erheblich zur Politisierung der westdeutschen Öffentlichkeit (und dantit zu politischer und gesellschaftlicher Liberalisierung, für die die Existenz einer politischen Öffentlichkeit entschei­ dende Voraussetzung ist) beitrugen, schienen mehr als einmal das strategische Konzept der USA zu gefährden. Wollten die USA aber die Deutschen dauerha& als Verbündete gewinnen, so konoten sie nur sehr begrenzt und behutsam hegemonialen Druck ausüben. Die Herausforderung war umso größer, als gerade die für die Westintegration entscheidenden Jahre zwischen 1949 und 1955 auch dadurch gekennzeichnet waren, daß die Westallüerten schrittweise ihre Kontrolle über die Bundesrepublik abbauten, während gleichzeitig die Sowjetunion, zum Teil via Ost-Berlin, subversive Propaganda betrieb und dabei vor allem national-neutralistischer Töne anschlug. Es war nicht zuletzt dieser Hintergrund, welcher die USA noch stärker als in den späten vierziger Jahren zu einer beispiellosen .intellektuellen und kulturellen Lu&brücke" (OMGUS­ Erziehungsdirektor Alonzo Grace) motivierten, zu dem Versuch, potentielle

" Vgl. F Schumacher, Vom Besetzten zum Verbüodeten. Deutsch-amerikanische Beziehungen 1949-1955, in: D. Junker (Hrsg.), Die USA uod Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990, Bd. 1, S. 150-159, hier S. 157 f.

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Multiplikatoren für die westlich-liberalen Vorstellungen einzunehmen und über diese Multiplikatoren sowohl aktuell wie auch mittd- und langfristig die Westdeutschen für den Westen zu gewinnen''. Austauschprogramme, vor allem für Studenten, gehören in diesen Kontext, die Angebote der Amerika-Häuser, aber auch die CIA-finanzierten Aktivitäten des Kongresses für kulturelle Freiheit, die auf Intellektuelle zidten". Verklammert wurden die Ebenen der funktionalen und der ideellen West­ integration der Deutschen nicht zuletzt durch den Antikommunismus. Die Bündnisintegration, vor allem die militärische, begegnete der machtpoli­ tischen Herausforderung des Kommunismus in Gestalt der Sowjetunion; die ideelle Westintegration zidte auch darauf, die Westdeutschen gegen die ideologischen Durchdringungsversuche des Kommunismus zu immunisieren. Politische Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstand hidt die amerikanische Regierung schon seit dem Marshall-Plan für die beste Abwehr gegen kommu­ nistische Verlockungen. Aber auch als Triebkraft der deutsch-amerikanischen Beziehungen ist der antikommunistische Grundkonsens zwischen den USA und der Bundesrepublik kaum hoch genug einzuschätzen. Zwar war auch die SPD der fünfziger Jahre militant antikommunistisch - der Ausdruck ,rodackierte Faschisten" für die KPD und später die SED stammt von Kurt Schumacher40• Doch während in Sehnmachers SPD der Antikommunismus mit national getönten anti-westlichen, vor allem auch anti-kapitalistischen und anti­ markrwittschaftlichen Vorbehalten einherging und man Deutschlands Ort und Aufgabe zwischen Ost und West sah, war der Antikommunismus Adenauers und immer größer werdender Teile der Unionsparteien mit prowestlichen, liberalen, marktwirtschaftliehen und kapitalistischen Ordnungsvorstellungen gekoppdt. Dies verband sich, insbesondere bei Adenauer, mit der klaren Einschätzung, daß es im ideologischen und machtpolitischen Ringen zwischen 38 Vgl. dazu F. Schumacher, Kalter Krieg, S. 159-165, dort auch das Zitat, S. 159. " Siehe ebd., S. 151-171. Zu den Austauschprogrammen ausführlich: 0. Schmidt, A Civil Empire by Co·optation. German-American Exchange Programs as Cultural Diplomacy 1945-1961, Cambridge 1999; zu den Amerika-Häusern M. Hein-Kremer, Die amerikanische Kulturoffeosive. Gründung und Entwicklung der amerikanischeo Information Centers in Westdeutschland und West-Berlin 1945-1955, Köln 1996, oder A. Schildt, Zwischen Abeodland und Amerika, S. 167-195; zum Kongreß für kulturelle Freiheit M. Hochgeschwender, Freiheit in der Offeosive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998. 40 Die Bezeichnung, in unterschiedlichen Variationen überliefert, taucht erst­ mals bereits 1930 auf. Damals sprach Sehnmacher auf einer Konferenz des SPD­ nahen ,Reichsbanners" von den Kommunistee als deo ,rotlackierten Doppelausgabeo der Nationalsozialisten". Nach 1945 Iinden wir ihn im Kontext des Widerstands der Schumacher·SPD gegen einen Zusammenschluß mit der KPD, später in der Auseinandersetzung mit der nationaleo Propaganda der SED nach Gründung der DDR Vgl. den Nachweis bei P. Merseburger, Der schwierige Deutsche, S. 127.

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West und Ost keine dritte Option, keine Zwischen-Position, keine Neutralität geben könne, und dies am wenigsten für den Staat an der Treruilinie der beiden Blöcke mit seinem politischen, militärischen und ökonomischen Gewicht. Das war Mitte der fünfziger Jahre Adenauers Argument gegen diejenigen seiner politischen Gegner, die den Österreichischen Staatsverttag als Lösungsmodell für die deutsche Frage priesen. Und das war auch eine erneute Absage an die Traditionslinien deutscher Außenpolitik aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Antikommunismus des Kalten Krieges erleichterte den Westdeutschen, nicht zuletzt ihren politischen und gesellschaftlichen Eliten, die Öffnung nach Westen und den Schulterschluß mit Amerika. Denn bewies nicht der Antikommunismus des Kalten Krieges den Deutschen, daß nicht alle ihrer politischen Überzeugungen aus der Zeit vor 1945 gänzlich verkehrt gewesen waren, daß man nicht alles falsch gemacht hatte? An die Traditionslinie des Antibolschewismus der Zwischenkriegszeit und auch des Nationalsozialismus konnte der Antikommunismus des Kalten Krieges nahdos anschließen, und er übertünchte auch kulturelle Vorbehalte, die nicht wenige Deutsche gerade aus dem bürgerlich-konservativen Lager den USA gegenüber noch immer hegten. Diese waren in der Hochphase des Kalten Krieges angesichts der sowjetisch-kommunistischen Bedrohung von weitaus geringerer Bedeutung als die Notwendigkeit der politisch-militärischen Allianz. Dennoch hielten sich Argumente und Stereotypen eines kulturellen Antiamerikanismus in der Bundesrepublik weit über die fünfziger Jahre hinaus, ohne daß sie freilich nennenswerte politische Wirkung entfalten konnten. Trägergruppen eines sol­ chen Antiamerikanismus wie zum Beispiel die schon erwähnte Abendländische Bewegung verloren indes seit den späten fünfziger Jahren immer stärker an Bedeutung". Der antikommunistische deutsch-amerikanische Konsens im Zeichen der sowjetischen Bedrohung war nicht nur entscheidende Bedingung des deutschen Wiederaufstiegs, sondern er gehörte zu den Voraussetzungen dafür, daß die amerikanische Hegemonie von den Deutschen akzeptiett, ja begrüßt wurde. Dieses Argument läßt sich im übrigen auch ohne weiteres auf das gesamte europäisch-amerikanische Verhältnis nach 1945 überttagen. Denn fragt man nach den Griinden dafür, warum die Staaten Westeuropas die amerikanische Dominanz akzeptierten, warum sie die USA zu hegemonialer Machtausübung einluden (.empire by invitation"), dann finder man im Antikommunismus, 41 DazuA. Schildt, Modeme Zeiten. Freizeit, Massenmedien W1d "Zeitgeist" in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, Harnburg 1995, S. 398-423; jüugst auch V Conze, Abendland gegen Amerika Europa" als antiamerikanisches Konzept 1950-1970, in: J. Bebrens u.a. (Hrsg.), Autiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa, Bonn 2005. .



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vielleicht präziser im Antisowjetismus, eine wichtige Antwort. Die USA waren Hegemon und gleichzeitig Verbündeter, und nicht zuletzt die sich seit 1949 ent­ wickelnden Allianzstrukturen der NATO spiegelten diese Ambivalenz wider.

V. Multilateralisierung und Europäisierung Für die NATO, aber auch für die Organisationen und Institutionen der europäischen Integration, gilt nicht nur, daß sie neuartige Formen internatio­ naler Politik und Allianzbildung darstellten. Integration und Multilateralismus sind hier die entscheidenden Elemente. Für die Nordatlantische Allianz und die europäischen Organisationen gilt auch, daß sie jenseits ihrer funktionalen Bedeutung im außenpolitischen, militärischen oder ökonomischen Bereich bei der Herausbildung von Identität, von gemeinsamer westlicher Identität, mitwirk­ ten und damit auf diese Weise Anteil hatten an Prozessen der Westernisierung. Denn Westernisierung meint eben nicht nur Ideentransfer aus den USA in Richtung Europa und insbesondere Deutschland, sondern auch die allmähli­ che Entstehung dessen, was wir für die Zeit nach 1945 als .den Westen" zu bezeichnen gewöhnt sind. Es ging um die Herausbildung einer gemeinsamen Werteordnung in den Gesellschaften diesseits ,und' jenseits des Nordadantik. Macht- und sicherheitspolitisch begründet, war die NATO seit 1949 ein zentraler und institutionalisierender Bestandteil des Ost-West-Konflikts und damit der Gegenüberstellung von Ost und West. Die Nordatlantische Allianz verlieh der Idee des Westens, der Vorstellung der immer wieder beschworenen .freien Welt" Gestalt und Struktur; sie repräsentierte jene westlich-atlantische Identität, die zu schützen und zu verteidigen sie ins Leben gerufen worden war42• Das geschah nicht zuletzt auch durch symbolische Politik. Die Flaggen vor dem NATO-Hauptquartier zeigten, wer zum Westen gehörte und wer nicht. Auch das gesamte militärische Protokoll der NATO ist in diesem Kontext zu betrachten. Gerade für die geschlagenen Deutschen unter Besatzungsherrschaft wurde die Mitgliedschaft in der NATO als dem Bündnis des Westens nicht nur zum Beleg ihres Wiederaufstiegs, sondern auch ihrer Zugehörigkeit zum Westen. Nicht zuletzt daraus erklärt sich Konrad Adenauers friihe, schon 1949/50 erkennbare NATO-Option, die erst später, angesichts französischer Sicherheitsbedenken, durch eine europäische, die EVG-Option abgelöst wurde, bevor es nach dem Scheitern der EVG 1954 dann doch zu einer NATO-Lösung und zum deutschen NATO-Beitritt kam. Die NATO-Mitgliedschaft Portugals unter Salazar und der Türkei sollte uns zwar davon abhalten, einen zu engen Zusammenhang zwischen Allianzzu42 Vgl. F. Costigliola, Culture, Emotion, and the Creation of the Atlantic Identity,

1948-1952, in: G. Lundestad(Hng.), No End to Alliance. The UnitedStatesand Western Europe. Past, Present and Future, Houndsmills 1998, S. 21-36, vo r allem S. 21-25.

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gehörigkeit und einer freiheitlieh-demokratischen Staats- und Gesellscha&s­ ordnung zupostulieren.Doch imdeutschen Falle verband sich im Rahmen der Politik der doppdten Eindämmung die Bündnisintegration mit Demokratisie rungsfortschritten, und die Bündniszugehörigkeit der Bundesrepublik diente stets auch dem Zweck, die Demokratie in Westdeutschland zu stabilisieren und die Deutschen auf dem rechten, dem westlich-demokratischen Weg zu halten. Aus genau diesem Grund war Herbert Wehners Bundestagsrede vom Juni 1960, in wdcher der SPD-Politiker das Bekenntnis seiner Partei zu den Strukturen und Institutionen der Westintegration ablegte, nicht nur außen­ politisch rdevant,sondern auch ein Meilenstein fürdie Westorientierung der westdeutschen Gesellscha& nach 1945. Der enge zeidiche Zusammenhang zwischen dem Godesberger Programm der SPD und Wehners Rede war in­ sofern kein Zufall. Über NATO und europäische Organisationen öffnete sich den Deutschen der Weg in die Gemeinschafren des Westens. Die Praxis der multilateralen oder supranationalen Kooperation in NATO, EGKS oder EWG war darüber hinaus aber nicht nur grundverschieden vom außenpolitischen Stil der Zeit vor 1945,sondern sie war auch die internationale Anwendung von Methoden demokratisch-gleichberechtigter Entscheidungsfindung. Sicher,innerhalb der NATO war das Machtgefälle zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten offenkundig. Doch die Europäer, die Deutschen allen voran, akzeptierten dieses Machtgefälle und die amerikanische Dominanz, weil sie von ihrer schützenden Wttkung -politisch wie militärisch -profitierten; sie akzeptierten die amerikatrisehe Dominanz, weil die USA, so hat es Frank Costigliola genannt,autoritatives Wissen besaßen". Nur die USA verfügten über den gesamten, den globalen Überblick über Ausmaß und Formen der sowjetischen Bedrohung;die USA waren führend auf dem Gebiet der Rüstungstechnologie und der Abschreckungstheorie. Dieser Wissensvorsprung war so offenkundig, daß die USA es nicht nötig hatten, ihre Dominanz zu formalisieren oder die europäischen Verbündeten - der Begriff "Parmer" blieb inuner eine Vokabd der politischen Rhetorik-bei der Durchsetzung amerikanischer Interessen die Machtdifferenz direkt spüren zu lassen. Statt dessen verschaffte ihr Wissensvorsprung den USA den Primat beim agenda-settinginnerhalb der NATO, den führenden Einfluß darauf,was die NATO-Grentien diskutierten, in wdche Richtung die Diskussionen ver­ liefen und in wdchem Rahmen sich die Ergebnisse bewegten. Das geschah durchaus imKonsens,wenn auch die gaullistische Herausforderung der sechzi­ ger Jahre den amerikanischen Primat in Frage stellte. Der Austritt Frankreichs aus der Militärintegration der NATO 1966löste dieses Problem,und er wurde deswegen, aber auch weil er der NATO-Strategie der "Flexible Response"

" Vgl. ebd., S. 24.

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eine politische Dimension verlieh, von amerikanischer Seite nicht nur negativ bewertet44• Dennoch: Auf symbolischer und auf formaler Ebene waren alle NATO­ Mitglieder gleichberechtigt, und erst recht galt dies für die Mitglieder der europäischen Organisationen. Das Gleichberechtigungsprinzip verhinderte asymmetrische Entscheidungsfindungen. Anders als im Osten beruhten die Bündnis- und Integrationsstrukturen des Westens nicht auf Befehl und Gehorsam. Statt dessen wurde verhandelt, wurden Kompromisse gesucht, um die divergierenden Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten zu bündeln bezie­ hungsweise auszugleichen. Nationale Interessen gingen in den multilateralen und supranationalen Strukturen des Westens nicht unter. Interessenkonflikte gab es nach wie vor. Doch sie wurden nicht länger konfrontativ ausgetragen, sondern weitestgehend kooperativ. Nach etwa einem Johrhundert geradezu absolut gesetzter nationalstaatlicher Autonomieansprüche war das ein Novum, welches mitunter fiir etablierte Nationalstaaten, allen voran Großbritannien und Frankreich, schwer zu akzeptieren war. Die Bundesrepublik Deutschland indes, die in diesen Prozessen der Integration, der Multilateralisierung, der Trans­ und Supranationalisierung und des Souveränitätsverzichts nichts zu verlieren, aber sehr viel zu gewinnen hatte, wurde gerade deswegen zum entschiedenen Vertreter dieses Sttukturwandels internationaler Beziehungen. Der .Primat der verflochtenen nationalen Interessen"" und der kooperativen Konfliktregelung prägte seit den fiinfziger Jahren auch die außen- und sicher­ heitspolitischen Eliten in den westlichen Gesellschaften. Politiker, Diplomaten und Militärs lernten in den Gremien der NATO sowie der Europäischen Gemeinschaften viel über divergierende, aber legitime Interessen, über Interessenkonflikte und ihre kompromiß- und konsensorientierte Überwindung, über den produktiven Nutzen konfligierender Meinungen und damit über Pluralismus, Interessenausgleich und demokratische Entscheidungsfindung. Das wirkte zurück in die Innenpolitik und in die eigene Gesellschaft und dürfte auch dort seine Wttkung entfaltet haben"'. Ganz abgesehen davon entstand durch die Dauerhaftigkeit der westlichen Institutionen, die im Grunde ein 44 Zu der Bündniskrise von 1%6 und ihrer Ü berwindung siehe H. Ha/tendorn, Kernwaffen und die Glaubwürdigkeit der Allianz. Die NATO-Krise von 1966/67, Baden-Baden 1994; allgemeiner F. Bozo, La France er l'OTAN. De Ia guerre froide au nouvel ordre europCen, Paris 1991.

" C. Hacke, Die neue Bedeurung des nationalen Interesses für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2 (1997), S. 3-14, hier S. 9.

" Dieser gesamte Zusanunenbang harrt noch der systematischen Untersuchung. Er markiert nach Einschätzung des Verfassers ein dringendes Forschungsdesiderat, nicht nur weil hier die Wechselwirkungen zwischen inneren und äußeren Entwicklungen deutlich hervortreten, sondern auch weil sich hier Westemisierungsansätze noch klarer mit genuin außenpolitikhistorischen Fragestellungen verknüpfen ließen.

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permanenter Diskussions- und Verhandlungsprozeß waren, eine europäische beziehungsweise transatlantische Elite, die zwar nicht frei war von nationalen Bindungen und Loyalitäten, deren Denken und Handeln aber dennoch zuneh­ mend europäisch, transatlantisch, westlich orientiert war. Insbesondere mit Blick auf die außen- und sicherheitspolitischen Eliten des deutschen Nationalstaats, auf Militär und Diplomatie, ist diese westliche Horizonterweiterung nicht hoch genug einzuschätzen. Die Forschung täte gut daran, diese inter- und transnationalen Elitenbildungsprozesse stärker aufzugreifen, gerade weil sie einen Schnittbereich zwischen Entwicklungen der internationalen Politik einerseits und gesellscha&lichen Veräuderungen andererseits darstellen und weil sie Westernisierungsprozesse als Homogenisierungsprozesse sichtbar werden lassen. Auch in der europäischen Integration treten die Zusammenhäuge zwi­ schen internationaler Politik und gesellscha&lichen Eutwicklungen deutlich zutage". Unabhäugig vom konkreten Verlauf dieser Integration auf politisch­ institutionellem und wirtscha&lichem Gebiet steht außer Frage, daß nach 1945 der Prozeß der europäischen Einiguug zusammen mit der amerikani­ schen Hegemonie über Westeuropa zwischen den einzelnen europäischen Gesellschaften sozialkulturelle Annäherungen und Angleichungen bewirkt, zumindest aber befördert hat. Die europäischen Gesellschaften sind sich ähnlicher geworden. Das .gelebte Europa" (Hartmut Kaelble) hat dazu nicht unwesentlich beigetragen: Städtepartnerschaften, Schüleraustausche, aber auch der Massentourismus haben in diesem Zusammenhang beträchtliche Wtrkungen gezeitigt. Grenzüberschreitende Kommunikationsmöglichkeiten und sich aus deren Existenz ergebende kulturelle und subkultureile Formationen und Gemeinsamkeiten haben die politischen Einheiten Europas, je nach dem, überwölbt oder untergraben. Natürlich griffe man zu kurz, wollte man für europäische Annäherungen und Angleichungen allein die ökonomischen und politischen Integrationsprozesse seit 1945 verantwortlich machen. Eine strukturelle Grundgemeinsamkeit, die vor allem in der gemeinsam durchlau­ fenen Industrialisierung, der parallelen, aber nach gleichem Muster verlau­ fenen Entwicklung zu modernen Industriegesellschaften besteht, bildete die Voraussetzung für die Möglichkeit und den Erfolg der Integration". 47 Das ist die Folge einer Entwicklung in der historischen Europa-Forschung, die sich nicht mehr so gut wie ausschließlich auf den polirischen und ökonomischen lntegrationsprozeß konzentriert. V gl. zu dieser Entwicklung und ihren Perspektiven die Beiträge in: R. Hudemann I K. Kaelble I K. Schwabe (Hrsg.), Europa im Blick der Historiker. Europäische Integration im 20. Jahrhundert. Bewußtsein und Institutionen, München 1995.

48 Vgl. H. Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozial­ geschichte Westeuropas 1880-1980, München 1987, insbesondere S. 139-148; siehe im übrigen auch G. Therborn, Die Gesellschaften Europas 1945-2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt a.M. I New York 2000.

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Dennoch war die politische Integration nicht bloßes Resultat oder die Folge der tendenziellen Angleichung der europäischen Gesellschaften. Eine solche Sichtweise vernachlässigte die Bedeutung des Politischen sowohl in Gestalt struktureller Bedingungen als auch des konkreten politischen Handeins einzelner Akteure". Der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg, ökonomische Zwänge und Notwendigkeiten und nicht zuletzt individuell-persönliche Über­ zeugungen und Interessen kommen spätestens dann ins Spiel, wenn man die Frage nach den konkreten Ausprägungen der europäischen Integration (zeitlich, geographisch, institutionell) stellt. So betrachtet, war die Homogenität der politischen und gesellschaftlichen Ordnungen der europäischen Staaten sowohl Voraussetzung als auch Folge der europäischen Integration. Eine Erklärung der EG-Staaten aus dem Jahre 1973 .über die europäische Identität" spiegelt dies wider:

.In dem Wunsch, die Geltung der rechtlichen, politischen und geistigen Werte zu sichern, zu denen sie sich bekenoen, in dem Bemühen, die reiche Vielfalt ihrer natio­ nalen Kulturen zu erhalten, im Bewußtsein einer gemeinsamen Lehensauffassung, die eine Gesellschaftsordnung anstrebt, die dem Menschen dient, wollen sie die Grundsätze der repräsentativen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, die das Ziel wirtschaftlichen Fortschritts ist, sowie der Achtung der Menschenrechte als die Grundelemente der europäischen Identität wahren"". Gerade im deutschen Falle ist- neben dem starken politischen und sozialkulturellen Einfluß der USA-die Bedeutung der europäischen Einigung für Prozesse des gesellschaftlichen Wandels und der Wertetransformation (Liberalisierung, Pluralisierung, Demokratisierung, Parlamentarisierung) kaum zu überschät­ zen. Betrachtet man vor einem solchem Hintergrund Europäisierung auch als Modernisierung, so gewinnt bezogen auf die Bundesrepublik die Bewertung der füufziger Jahre als Periode gesellschaftlicher Modernisierung zusätzliches Gewicht''. Auch die europäische Integration trug zur •Verwestlichung" der Bundesrepublik bei und zeitigte hier, unberührt von allen späteren euroskepti­ schen und eurokritischen Tendenzen und Stimmen, dauerhafte und tiefgehende Wirkung. Für die Bundesrepublik trirt dieser Verwestlichungseffekt zu den auch für andere Länder zu konstatierenden Angleichungsprozessen. 49 Einen Versuch, biographische und strukturgeschichtliche Aosätze zu verbinden, bilden die Beiträge in: H. Duchhardt (Hrsg.), Europäer des 20. Jahrhunderts. Wegbereiter und Gründungsväter des "modernen" Europa, Mainz 2002. " Zitiert nach P. Krüger, Europabewoßtsein in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: R. Hudemann I K Kaelble I K. Schwabe (Hrsg.), Europa im Blick der Historiker, S. 31-53, hier S. 52. " Denn an der Bewertung der fünfziger Jahre als Periode der Modernisierung bestehen heute keine Zweifel mehr, allenfalls- und das ist natürlich nicht ganz unwich­ tig -an der Qualifizierung dieser Modernisierung. Den Stand der Forschung präsentieren die Beiträge in: A. Schildt I A. Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.

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VI. Zusammenfassung Dieser Beitrag hat versucht, an einigen Punkten Verbindungen und Zu­ sammenhänge aufzuzeigen zwischen innenpolitischen und gesellschaft­ lichen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland einerseits und ihrer internationalen Politik andererseits. Die Kategorien Ametikanisierung, Westernisierung und Europäisierung konnten dabei auf je unterschiedliche Weise als Scharniere" dienen, durch welche die Ebenen des Nationalen und diejenige des Internationalen, des Politischen und des Gesellschaftlichen mitein­ ander verknüpft und aufeioander bezogen werden konnten. Diese methodische Vorgehensweise ist freilich nicht aus der Luft gegriffen, sondern sie ergibt sich fast zwangsläufig beim Blick auf die Grundstrukturen und Hauptentwicklungen der deutschen und der internationalen Nachkriegsentwicklungen. Die eio­ gangs zitierte Feststellung Konrad Adenauers von 1949 hat gezeigt, daß dieser Zusammenhang bereits den Zeitgenossen deutlich vor Augen stand. Die Histo­ riker sind daher gut beraten, diese Perspektive auch in ihre Untersuchungen eiofließen zu lassen.

" Den Scharnier-Begriffhat Gustav Schmidt in einem ganz anderen Kontext einge­ führt, um .Bezüge zwischen einer bestinunten Außenpolitik und denjenigen Momenten des politisch-sozialen Systems aufzuweisen, die unter bestimmten Gesichtspunkten vor allem auf das Außenverhalten einwirken". Siehe G. Schmidt, England in der Krise. Grundzüge und Grundlagen der britischen Appeasement-Politik (1930-1937), Opladen

1981,

s.

3047.

Die Linke und ihr Verhältnis zu Europa Ein deutsch-italienischer Vergleich* Von Aldo Agosti

Welchen Beitrag hat die Linke zur Entstehung und Weiterentwicklung der europäischen Einigungsbewegung geleistet? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, nicht zuletzt weil die Linke dazu im Verlauf des 20. Jahrhun­ derts sehr unterschiedliche, sich wechselseitig modifizierende Standpunkte eingenommen hat. In groben Zügen kann man die Entwicklung in drei Phasen einteilen: Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis Mirte der fünfzigerJahre wurde die Buropabe­ wegung von den Gemäßigten, insbesondere Liberaldemokraten und Christdemo­ kraten, dominiert, während die Linke (teilweise mit Ausnahme von Belgien und Frankreich) eine ausgesprochen marginale, untergeordnete Rolle spielte, wenn sie nicht gar eine mehr oder weniger entschlossene Ablehnung an den Tag legte. Die folgenden fünfzehn Jahre waren durch einen gewissen Ausgleich gekenn­ zeichnet, denn die Linke sammelte ihre verstreuten Kräfte und übernahm -mehr oder weniger verspätet und je nach Fall mehr oder weniger umstritten- die wirtschaftlichen und politischen Ziele der ersten Phase des europäischen Eini­ gungsprozesses. In den letzten zwanzig Jahren des 20. Jahrhunderts dagegen ist fast eine Art Frontenwechsel zu beobachten. Die gemäßigte, konservative Rechte äußerte zunehmend Bedenken gegen ein starkes, politisch geeintes Europa und setzte plötzlich alles daran, die Durcbsetzung bereits sicher geglaub­ ter Regelungen für den gesamten Kontinent zu erschweren. Dagegen nutzte die Linke den europäischen Einigungsprozeß als gemeinsames Betätigungsfeld, um die frühere Spaltung in Fragen der Außenpolitik zu überwinden. Dabei engagierte sie sieb nicht nur für eine stärkere Demokratisierung der EU­ Institutionen, eine internationale Entspannung und eine Neugestaltung der Nord-Süd-Beziehungen, sondern auch für eine Demokratisierung der europä­ ischen Gesellschaft, die Regulierung des Marktes, die Durcbsetzung der Staats­ bürgerscbaftsrecbte und den Schutz der strukturschwaeben Regionen'. * 1

Aus dem Italienischen von Petra Kaiser.

P. Corsini, lntroduzione, in: P. Corsini (Hrsg.), La sinistra in Europa. Cultura e progetti per gli anni '90, Mailand1989, S. 18.

Aide Agosti

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Bestätigt wird dieses Schema, wenn man eine vergleichende Analyse der politischen Kräfte vornimmt, die in Deutschland wie in Italien stärker als in anderen Ländern für die Entwicklung und die bisweilen labile Identität der Linken ausschlaggebend waren. Unter Einbeziehung des historiographischen Forschungsstandes konzentriert sich dieser Beitrag vor allem auf die beiden ersten Phasen, während über die dritte nur ein kurzer Überblick gegeben wird.

I. Die Ursprünge Das anfängliche Handicap der linken Parteien läßt sich in erster Linie darauf zurückführen, daß die europäische Perspektive für die sozialistischen Bewegungen zwischen den beiden Weltkriegen fast keine Rolle gespielt hatte. Dabei war man sich nach der Tragödie des Ersten Weltkrieges durchaus bewußt, daß der alte Kontinent sich bemühen müßte, auch durch supranationale Insti­ tutionen einen Weg zu finden, um die innere Zerrissenheit zu überwinden. In ihrem Heidelberger Programm von 1925, das zumindest formal bis zum Godesberger Programm von 1959 seine Gültigkeit behielt, trat die SPD .für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europä­ ischen WJrtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa" ein. Bereits 1935 hatte der Sozialistische Kampfbund .Neu Beginnen" einen .echten Staatenbund mit allen Machtinstrumenten einer föderativen Exekutive" gefordert'. Auch in Italien hatten führende Sozialisten wie Filippo Turati und Claudio Treves schon Ende der zwanziger Jahre über eine europäische Per­ spektive nachgedacht, als sie sich in der Zeitschrift .Critica sociale" mit dem fortschreitenden Verfall des V ölkerbundes und den mit dem Briand-Kellogg­ Pakt verbundenen Hoffnungen beschäftigten. Im folgenden Jahrzehnt wurde der Europa-Gedanke dann von sozialistischen .Häretikern" wie Andrea Caffi, Silvio Trentin und Carlo Rosselli immer wieder aufgenommen'. Tatsache ist jedoch, daß der europäische Sozialismus in den dreißiger Jahren ganz im Zeichen des antifaschistischen Kampfes stand und sich auf nationaler Ebene, was ziemlich umstritten war, mit der jeweiligen Wirtschafts­ politik antizyklischer Art identifizierte, wie das Beispiel der skandinavischen Sozialdemokraten, der englische Labour Party und des .planwittschaftli­ chen Sozialismus" in Belgien und Frankreich zeigt. In der Kommunistischen Internationale begegnete man - trotz eines gewissen Interesses, das Trotzki 2 Zitiert bei W. Lipgens, l:idea dell'unita europea nella Resistenza in Italia e in Francia, in: S. Pistone H ( rsg.), I:idea dell'unificarione eusopea dalla prima alla seconda

guesra

mondiale, Tutin 1975, S. 99.

Dazu siehe C. Malandrino, Socialismo e libertil. Autonomie, federalismo, Europa da Rosseli a Silone, Mailand1990.

Die Linke und ihr Verhältnis zu Europa

in einigen Schriften geäußert hatte- der Parole von den Vereinigten Staaten von Europa zunelunend mit Mißtrauen, je mehr diese von den Erben der Zweiten Internationale vereinnahmt und von der Sozialdemokratie in ihr Friedensprogramm integriert wurde. In einer Resolution des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale vom März 1926 heißt es klipp und klar, daß ein Vereintes Europa erst nach dem Sieg der proletarischen Revolution im Westen denkbar sei. Nur unter dieser Bedingung könne sich die Komintern überhaupt mit einer Europa·Programmatik befassen, gleichgültig ob diese nun an Kautskys .Superimperialismus" oder am Paneuropäismus der .Pazifisten" orientiert sei4• Als die Kommunisten zwischen 1934 und 1939 ihre politische Linie änderten und nun zur Verteidigung der Demokratie die Volksfront auf nationaler Ebene propagierten, gaben dabei Fragen der kollektiven Sicherheit den Ausschlag, womit das Thema der internationalen Beziehungen auf reine Realpolitik reduziert wurde. Nur Gramsci, der völlig isoliert im Gefängnis saß, zeigte in seinen Quaderni" eine Spur von Interesse für die historische Bedeutung einer stärkeren europäischen Integration, wenn auch im Rahmen der wachsenden amerikanischen Hegemonie'. •

Neuen Auftrieb erhielt die Europa·ldee nach den dramatischen Ereignis· sen des Zweiten Weltkriegs: Vor allem in den Ländern, die eine faschistische Diktatur erlebt hatten, war das nationalistische Denken endgültig diskreditiert und diese Erfahrung veranlaßte die Widerstandsbewegungen, Antifaschis· mus und europäisches Denken miteinander zu verknüpfen. Das zeigte sich besonders in Italien, wo das Gedankengut von "Giustizia e Liberta" nicht nur in das .Manifest von Ventotene" Eingang fand, das von Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni 1941 in der Verbannung verfaßt wurde und großen Einfluß auf die föderalistische Bewegung in Italien und Europa hatte, sondern auch den Partita d'Azione und verschiedene Strömungen inner· halb der Sozialistischen Partei beeinflußte. Auch im deutschen Widerstand hatte die Vorstellung eines föderalen Europa eine wichtige Rolle gespielt, im Programm des Kreisauer Kreises, jener einzigartigen Widerstandsgruppe aus christlichen Sozialisten und Christlich·Sozialen, nahm sie eine zentrale Stelle ein und beeinflußte auch andere Widerstandsgruppen von der Weißen Rose der Geschwister Scholl bis zu Carl Goerdeler. Auch in sozialistischen Kreisen im Exil war man sich weitgehend einig darüber, daß man zukünftig ein demo· kratisches, sozialistisches und enttnilitarisiertes Deutschland im Rahmen einer demokratischen, sozialistischen europäischen Föderation anstrebte'. Doch ' R Monteleone, Le ragioni teoriche dd ri.fiuto della parals d'ordine degli Stati uniti d'Europa nel movimento comunista intemazionale, in: S. Pistone (Hrsg.), L'idea dell'unificazione europea, S. 76·95. ' M. Te/i;, I:Europa, in: A. Agosti (Hrsg.), Enddopedia della sinistra europea nd XX secolo, Rom 2000, S. 903 f. 6

WB. Paterson, The SPD and Europeon lntegrstion, Glasgow1974, S.

3 f.

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jahrelang blieben diese Pläne reine Wunschvorstellungen und fanden in der Politik der linken Volksparteien keinerlei Niederschlag. Obwohl sich der Europagedanke unter den völlig veränderten Bedingungen der Nachkriegszeit, die durch die Vorherrschaft der USA und der internatio­ nalen Wirtschaftsinstitutionen von Bretton Woods, den Marshall-Plan und die Schwäche der europäischen Volkswirtschaften gekennzeichnet waren, allmählich in eine konkrete politische Option verwandelte, hatten die sozialistischen Par­ teien doch lange schwerwiegende Differenzen in der Frage des Verhältnisses von nationaler Strategie und internationaler Öffnung. Denn jenseits aller nationalen Eigenheiten hatte sich überall die ohnehin tief verwurzelte, durch die Krisenerfahrung der dreißiger Jahre noch verstärkte Überzeugung durchgesetzt, jede Reformstrategie müsse auf nationalstaatlicher Ebene ansetzen, denn nur durch eine nationale Steuer- und Sozialreform könne man eine Umverteilung und damit eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter erreichen. Daher rührte auch die Ablehnung eines Europa der Sechs, das sie eher als potentielles Hindernis oder gar Bedrohung wahrnahmen, denn als Chance. Obwohl achtzehn Länder der Organisation für wirtschaftli­ che Zusammenarbeit in Europa (OEEC) beitraten, die zur Durchführung des Marshall-Plans gegründet wurde, sprachen sich nur die belgischen Sozialisten und die Section Fran�aise de !'Internationale Ouvtiere (SFIO) dafür aus, sich am Aufbau eines Europa der Sechs, d.h. der Montanunion (EGKS) und- trotz heftiger innerer Widerstände- der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), zu beteiligen. Die Haltung der kommunistischen Parteien unterschied sich davon nicht grundlegend: In Wahrheit hatten auch sie dort, wo demokratische Verhält­ nisse herrschten, ihre revolutionären Ambitionen bereits aufgegeben und sich dem Weg des Reformismus verschrieben. Thre Strategie zielte darauf, .sich in der jeweiligen nationalen Arena als legitime politische Kraft dauerhaft zu etablieren"7, indem sie den Antifaschismus als Legititnitätsktiterium für sich in Anspruch nahmen. Diese Strategie war zum Scheitern verurteilt, weil sich einer­ seits die internationalen Rahmenbedingungen verlindert hatten und andererseits ihre .demokratische" Glaubwürdigkeit darunter litt, daß sie systematisch und kritiklos die Außenpolitik der Sowjetunion und die Praktiken des Sozialismus in Osteuropa und der UdSSR unterstützten. Gleichwohl unterschied sich ihre Strategie kaum von der der Sozialdemokraten und beschränkte sich auf die Forderung nach "Strukturreformen" als Dreh- und Angelpunkt der jeweiligen .nationalen Wege". Deshalb war ihre Fixierung auf den demokratischen N atio­ nalstaat und dessen Stärkung auch unvermeidlich, es sei denn die internationale Ordnung hätte sich dramatisch verändert. 7 D. Sassoon, Cento anni di socialismo. La sinistra nell'Europa occidentale del XX secolo, Rom 1997, S. 144 ff.

Die Linke und ihr Verhältnis zu Europa

II. Deutsche und italienische Linksparteien auf der Suche nach ihrem internationalen Standort Wenn man die Lage Italiens und Deutschlands mit der der anderen west­ liehen Länder vergleicht, muß man in erster Linie berücksichtigen, daß die ehemaligen Achsenmächte nicht nur als Besiegte galten, sondern auch für das Ausbrechen des Krieges verantwortlich gemacht wurden. Daher waren beide vorrangig daran interessiert, sowohl politisch wie wirtschaftlich wieder Anschluß an die internationale Gemeinschaft zu finden. Als besiegte, durch militärische Niederlage und wirtschaftliche Misere gedemütigte Länder waren sie eher dazu bereit, im Tausch gegen Legitimation bei der Souveränität Konzessionen zu machen. Theoretisch hätte dies den Weg ebnen können für eine parteiübergreifende Konzeption der Außenpolitik und der nationalen Interessen. Jedoch bekamen beide Länder sofort zu spüren, daß sie in einer Welt, deren Spaltung in zwei Blöcke sich bereits abzeichnete, als Francländer galten. Auch die Haltung zu einer zukünftigen Einigung Europas spaltete die polirischen Lager. Art und Verlauf dieser Spaltung unterschieden sich jedoch in beiden Ländern grundlegend. Bei Kriegsende war die Linke hier wie dort organisatorisch gespalten, worin sich der Bruderzwist der gesamten europäischen Arbeiterbewegung zu Begino der zwanziger Jahre widerspiegelte. Das Kräfteverhältnis zwischen den beiden größten Gruppen, Kommunisten und Sozialdemokraten, war jedoch unter­ schiedlich: In Italien waren die beiden Gruppen zunächst gleich stark, doch schon ab 1946 zeichnete sich eine Verschiebung zugunsten der Kommunisten ab; in Deutschland waren die Sozialdemokraten eindeutig stärker, obwohl es enorme Unterschiede zwischen den Besatzungszonen gab, mit gegensätzlichen Tendenzen in Ost und West. Während sich PSIUP und PCI in Italien zu einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen hatten, verschlechterte sich das Ver­ hältnis von SPD und KPD - von Anfang an alles andere als idyllisch - rasant, auch aufgrund der tiefen Spaltung in der SPD. Dennoch gaben sich die großen Linksparteien in beiden Ländern bis 1947 der Hoffoung hin, sie könnten das antifaschisrische Bündnis auch in der Nachkriegszeit aufrechterhalten. Aus der Sicht der italienischen Kommunisten, die auch von der Mehrheit der PSIUP geteilt wurde, hätte das Moskau in die Lage versetzt, den Hegemonialtenden­ zen der kapitalistischen Großmächte entgegenzuwirken, -mit der Folge, daß den kleineren Staaten mehr Spielraum an Souveränität und Unabhängigkeit geblieben wäre, den diese für tiefgreifende Reformprozesse nutzen konnten. Anfänglich setzte auch die SPD auf ein neutrales Deutschland, dem in einem nach dem traditionellen Gleichgewicht der Kräfte organisierten Europa eine führende Rolle hätte zukommen können Die SPD ist an einer größtmögli­ chen Zusammenarbeit der Siegennächte interessiert", so Sehnmacher auf der Konferenz von Wenningsen im Oktober 1945, .und wird deshalb eine Politik .



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unterstützen, die auf Kompromiß und Ktäfteausgleich beruht"'. Trotz aller tiefgreifenden Divergenzen auf anderen Gebieten wurde diese Einschätzung zumindest auf dem Papier von der KPD geteilt. Für die Zeit vor dem Beginn des Kalten Krieges lassen sich in der Art und Weise, wie die deutsche und die italienische Linke ihre eigene Rolle sah, gewisse Parallelen ausmachen. Wichtig war in beiden Fällen die Phase der nationalen Einheit im Namen der antifaschistischen Ideale. Damals gewann eine realistische Einschätzung der internationalen Lage und der schwierigen Position der beiden besiegten Länder die Oberhand, drängte überkommene, nicht durchsetzbare politische Vorstellungen in den Hintergrund und bewahrte die Linke - auch nachdem sie von der Regierung ausgeschlossen war - davor, auf die Karte des Nationalismus zu setzen. In beiden Ländern verfestigte sich damals eine Art Verfassungspatriotismus", allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. Da sich Italien dank der Resistenza (und der politischen Weitsicht Togliattis) eine ganz andere Legitimität erworben hatte, war die Arbeit an der Verfassung durch einen starken Zusammenhalt aller antifaschistischen Parteien gekennzeich­ net. Im Übrigen stimmten auch die Linksparteien ohne zu zögern für Artikel 1 1 der Verfassung, der einen Souveränitätsverzicht zugunsten internationaler und supranationaler Organisationen vorsah. In Deutschland dagegen führte die Teilung des Landes in Besatzungszonen zu einer beschleunigten Polarisie­ rung der politischen Kräfte, so daß die Kommunisten von der Gründung des demokratischen Systems nahezu ausgeschlossen wurden (und alles taten, um sich selbst auszuschließen). •

m. Das Jahrzehnt der Verweigerung: 1947-1957 Nach Verkündung des Marshall-Plans Mitte 1947 und mehr noch nach der Gründungskonferenz der Kominform im September desselben Jahres führte das Zusammenspiel von wachsenden internationalen Spannungen und erbit­ terten politischen Auseinandersetzungen im Innern auch in Italien zu einer ideologischen Radikalisierung, die die nationale Politik noch jahrzehntelang beherrschen sollte. Dazu trugen verschiedene Faktoren bei Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern", so Franeo De Felice, .war die Schwäche der italienischen Führungseliten in der Nachkriegszeit so ausgeprägt", daß sie .nicht in der Lage waren, beim nationalen Neuaufbau eine führende Rolle zu übernehmen"'. Gegen den Führungsanspruch der Arbeitswelt, der neuge­ gründeten Gewerkschaften und der Linksparteien formierte sich ein ebenso .

8 9



Zitiert bei W.E. Paterson, The SPD and European Integration, S. 10.

F. De Felice, Nazione e sviluppo: un nodo non sciolto, in: Storia dell'Italia repubblicana, 3 Bde., Tutin 1994- 1995, hier Bd. 2/1: La trasformazione dell'Italia. Sviluppo e squilibri. Politica, economia, societa, Tutin1955, S. 821.

Die Linke und ihr Verhältnis zu Europa

aggressives Unternehmertum, das innerlieh zerstritten war und keine klaren Vorstellungen von der Zukunft des Landes hatte, dafür aber um so entschlos­ sener eine Rückkehr zum .privatwirtschaftlich" organisierten .Liberalismus" verlangte10• Unter diesen Bedingungen gelang der DC ein genialer Schachzug: Indem sie sich zum Garanten für Italiens Zugehörigkeit zum euro-adantischen Bündnis machte, schaffte sie es, .eine strategisch wichtige Stelle zwischen der verunsicherten Bourgeoisie und deren externen Unterstützern"11 (den USA, aber auch der katholischen Kirche) zu besetzen und sich dadurch eine politi­ sche Schlüsselstellung zu sichern. Tatsächlich erhielt der Europagedauke bei vielen Christdemokraten erst dann nennenswerten Zulauf, als sich eindeutig abzeichnete, daß die westeuropäische Einigung untrennbar mit einer anti­ kommunistischen Ausrichtung und einer unverbtüchlichen Bindung an die USA einhergehen würde. Weitgehende Einigkeit besteht auch darüber, daß der Marshall-Plan in Italien vor allem auf Containment ausgerichtet war und antikommunistischen Zielen diente. Zwar gestattete das italienische Wtrtschafts­ modell, welches aufgrund niedriger Löhne stark exportorientiert war, von 1946 bis 1956 eine kohärente Liberalisierung des Handels in Westeuropa und in der westlichen Welt, blockierte jedoch viele Jabre lang jede .Modernisierung durch Reformen"12• Angesichts solcher Widerspruche war die ohnehin schwache Sozialde­ mokratie hoffnungslos überfordert und verstand es nicht, die Erfahrungen ihrer Schwesterparteien aus anderen europäischen Ländern zu nutzen, um daraus Lehren für die italienischen Verhälmisse zu ziehen: Zwar kursierte in einigen Gruppierungen, die später im PSDI aufgingen, die Vorstellung, durch eine .Sozialistische Initiative" aus dem Vereinten Europa .eine dritte Kraft [zu machen] ..., die stark genug sein sollte, um zwischen kommunistischem Osten und demokratischem Westen zu vermirteln"13; doch diese Idee harte nicht die Kraft, die harten Jabre des Kalten Krieges zu überstehen. Bei den kleinen laizistischen Parteien traf die föderalistische Europabewegung, die sich direkt auf das Manifest von Ventotene berief, durchaus auf Zustimmung, harte aber - ähnlich wie bei den Liberalen - angesichts der veränderten politischen Machtverhältnisse große Schwierigkeiten, sich durchzusetzen. Das war auch 10 R Gualtieri, Nazianale e internazianale nell'Italia del dopogoerra 1943-1950, in: Italia Contemporanea (1999), 216, S. 456. 11 J. Harper, I:America e Ia ricostrozione dell'Italia: 1945-1948, Bologoa 1986, s. 44.

12 M. Te/0, L'Italia nd processo di costruzione europea, in: Storia dell'Italia repubblicana, Bd. 3/1: I:Italia nella crisi mondiale: !'ultimo ventennio. Economia e societil, Turin1996, S. 179. 13 Zitiert beiM. Zagari, ll socialismo italiano e l'europeismo (Testimonianza), in: I socialisti e I'Europa (Annali della Fondazione Giacomo Brodolini e della Fondazione di srodi storici Filippo Turari, 3), Mailand1989, S. 248.

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einer der Gründe, warum sie bei den linken Massenparteien keine Resonanz fand. Dies traf vor allem auf den PSI zu, der dem Marshall-Plan zwar kritisch gegenüberstand, ihn jedoch nicht grundsätzlich ablehnte, denn wie Riccardo Lombardi sahen manche Sozialisten in gegenseitiger Abhängigkeit und Ame­ rikanismus durchaus positive Aspekte, und zwar nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in sozialer und politischer Hinsicht. Doch die Neigung der Föderalisten (liberalistischen Ursprungs), in jeder ökonomischen und sozialen Maßnahme des Staates gleich das korporative und autarke Erbe des Faschismus zu wittern", machte die Zusammenarbeit mit einer sozialistischen politischen Partei schwierig, die im Staat den Dreh- und Angelpunkt jeglicher Reformpolirik sah, was schließlich zu einer Stärkung jener Kräfte im PSI führte, die innen­ politisch ein Bündnis mit dem PCI und außenpolitisch eine strikte Neutralität befürworteten. Trotz enger persönlicher und politischer Beziehungen aus der Zeit des gemeinsamen antifaschistischen Kampfes wurde das Verhältnis von .frontisti" (die die Föderalisten ohnehin nicht in ihren Kampf für Europa miteinbeziehen wollten) und .federalisti" (denen die Führung des PSI vorwarf, sie hätten den demokratischen Kampf gegen das .DC-Regime" verraten und deckten .den imperialistischen Schmuggel") zunehmend gespannter. Zum endgültigen Bruch kam es schließlich im Juli 1950, als der Parteivorstand des PSI eine Unterstützung der föderalistischen Europabewegung mit der Partei­ mitgliedschaft für unvereinbar erklärte15•

Im Gegensatz dazu erlebten die Kommunisten unter Togliatti einen Auf­ schwung: Angesichts hoher Arbeitslosenzahlen und der Ausschaltung der Arbeiterbewegung gewannen sie an Handlungsspielraum, so daß der PCI sich im Zeitraum von 1946 bis 1953 endgültig zur größten Linkspartei entwickelte. Obwohl inzwischen definitiv aus der "Zone der Legitimität" ausgeschlossen, vermochte die kommunistische Partei ihr Gewicht in der .Zone der Repräsen­ tativität" zu steigern, ihre Position auf der reformistischen Linken zu festigen und deren Führung zu übernehmen". Andererseits etwies sich gerade diese relative Monopolstellung als funktional für die Aufrechterhaltung einer kom­ plexen Konstellation, in der die DC politisch den Ton angab". Erst unter diesen Voraussetzungen wird verständlich, warum der PCI in der Zeit von 1947 bis 1954, als der Kalte Krieg sich zuspitzte, jeden Vorstoß zu einer Integration der westeuropäischen Staaten kategotisch ablehnte. Auch 14 M. TelO, L'Italia nel processo di costruzione europea, S. 153. 15 D. Felisini, D partito socialista italiano e l'integrazione europea, in: Annali deli'Istituto Ugo La Malfa (1987), S. 259.

" Zu diesen Kategorien siehe G. Sabbatucci, La soluzione trasfonnista. Appuoti sulla vicenda del sistema politico italiaoo, in: ll Mulino (März/April1990), S. 172. 17 R Gualtieri, Nazianale e intemazionale neli'Italia del dopoguerra 1943-1950, S. 462.

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hier fielen zwei Faktoren ins Gewicht. Einerseits gehörte die Partei eindeutig kommunistischen Lager, spätestens seit sie sich- wie es einer kommu­ nistischen Partei anstand im Herbst 1947 explizit zur Sowjetunion bekannt hatte. Danach konnte es für sie auf die historische Schlüsselfrage der europä­ ischen Zukunft nur eine Antwort geben, und die bestand- wie Mario Telo behauptet .im wesentlichen ... in einem Rückgriff auf das Verhältnis der Oktoberrevolution von 1917 zum Kontinent, d.h. in einer leninistischen Lösung, die in mancher Hinsicht urspriinglich vielleicht angemessen war, im Zeitalter des Ost-West-Konfliktes jedoch vollkommen anachronistisch und überholt war und deshalb wirkungslos bleiben mußte"18• Andererseits war inzwischen unübersehbar, daß die von der DC betriebene Westintegration innenpolitisch auf eine Marginalisierung der Linken zielte, wobei das Bekenntnis zu Europa .zum Prüfstein wurde, ntit dem man die ideologische Zuverlässigkeit einer Partei testen konnte; eine Art obligatorischer Etappe, ntit der eine Partei ihre demokratische Legitimität und potentielle Regierungsfältigkeit unter Beweis stellen mußte"19• Damit befand sich der PCI in einer fast schizophrenen Situation, hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zu einem .feindlichen" Block und der Verteidigung einer Verfassung, die er selbst ntit ausgearbeitet hatte, die seine Legitintität schützte und die Instrumente für grundlegende soziale Reformen bereitstellte: Daher mußte ihm das entstehende Kerneuropa wie eine autoritäre Fessel erscheinen, wie eine Ausgeburt der vorherrschenden konservativen Kräfte und der exportorientierten und deshalb an Freihandel interessierten Großindustrie''. zum

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Unter diesen Bedingungen lehnten die italienischen Kommunisten und Sozialisten die ersten Schritte zur europäischen Einigung ab. Trotz gewisser Unterschiede in der Einschätzung hielten sie den Marsball-Plan für ein Instru­ ment zur Schaffung eines antisowjetischen Blocks, der die Spaltung Europas zementieren, die Vorherrschaft der kapitalistischen Großmächte auf Kosten der schwächeren Länder stärken und dem Einfluß der Amerikaner auf die inneren Angelegenheiten der europäischen Staaten unverhohlen Vorschub leisten würde. Aus dieser Grundeinschätzung wurden später alle Stellungnah­ men zu europäischen Projekten abgeleitet, die direkt oder indirekt ntit dem Marshall-Plan in Verbindung standen". Von der Europäischen Zahlungsunion bis zur Montanunion, von der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bis zur Westeuropäischen Union (WEU), alle Gemeinschaftsvorhaben verstärk18 M. TelO, L'Italia nel processo di costruzione europea, S. 177. 19 M. Maggiorani, L'Europa degli altri. Comunisti italiani e integrazione europea (1957-1969), Rom 1998, s. 19. 20 M. TelO, TI socialismo europeo e l'idea d'Europa, in: P. Corsini, La sinistra in

Europa, S. 26. 21 S. Galante, TI partito comunista italiano e l'integrazione europea. TI decennio dd ri.fiuto: 1947-1957, Padua 1988, S. 5 f.

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ten bei den beiden großen italienischen Linksparteien die Überzeugung, daß alle diese Vorhaben nichts anderes waren als Aspekte der amerikanischen Europapoli­ tik: aus dieser Interpretation ergab sich für sie .eine untrennbare Verknüpfung von fortschreitender Integration und Vormarsch des Imperialismus, wodurch sie sich jeder plausiblen Unterscheidung zwischen europäischer und atlantischer Gemeinschaft verschlossen"22• In dieser Hinsicht gab es keine nennenswerten Unterschiede zwischen PCI und PSI. Anläßlich des erbitterten Kampfes gegen die EVG nutzten die Sozialisten den Konsens in der Ablehnung der deutschen Wiederbewaffnung, um die Beziehungen zu einigen westeuropäischen Schwe­ sterparteien wieder aufzunehmen, die nach dem Ausschluß aus der Comisco (Comite Consultativ International Socialiste) im Jahre 1949 abgerissen waren. Erste Anzeichen für ein Ende dieser radikalen Ablehnung aller europäischen Projekte zeigten sich bei den Sozialisten zuerst anläßlich der Verträge über die WEU, die im Oktober 1954 in Paris unterzeichnet wurden. Obwohl sie im Parlament gegen die Ratifizierung stimmten, zeigten sich die Sozialisten in dieser Frage Hexibel und erreichten, daß die Regierung sich in einem wichtigen Punkt für einen Kompromiß einsetzte: Durch den Beitritt zur WEU sollte ein Kriegseintritt nicht obligatorisch werden, auch dann nicht, wenn eines der Mitgliedsländer sich zum Opfer eines Angriffskrieges erklärte. Doch selbst ein aufgeschlossener Exponent wie Riccardo Lombardi vertrat noch im Dezember 1954 die Auffassung, auf sozialer Ebene habe der lntegrationsprozeß bisher kaum Fortschritte erzielt und die inzwischen geschaffenen Institutionen hätten nur Alibifunktionen für die Absichten von Konservativen und Kapitalisten". Mit dem gleichen Mißtrauen verfolgten die beiden Parteien auch noch die Konferenz von Messina im Juni 1955, die nach dem Scheitern der EVG den Europagedanken wieder beleben sollte. Aus diesem Anlaß äußerte der .Avanti!" die Sorge, Westeuropa habe seiner .natürlichen Rolle als Vermittler zwischen Ost und West" abgeschworen, die Zügel der eigenen Geschichte aus der Hand gegeben und sich damit abgefunden, nur noch von amerikanischen Ideen und Dollars zu leben; es leiste damit .einem klerikalen Europa "24 Vorschub. Diesem .Gespenst des europäischen Föderalismus" begegnete man mit der Forderung nach einer "authentischen" Europaidee, die - so Togliatti - .die Gräben zwischen den Völkern und Staaten überwinden und das Zusammenleben und die wirtschaftliche und polirische Zusammenarbeit der Völker auf eine solide Grundlage stellen"25 sollte. Diese Formulierungen zeugen von der Hoffnung auf Entspannung, die den Linksparteien als lebenswichtige Voraussetzung dafür galt, in der nationalen Politik wieder eine aktive Rolle spielen zu können. 22 M. Maggiorani, I:Europa degli altri, S. 17.

TI partito socialista italiano e l'integrazione europea, S. 292 f.

n

D. Felisini,

24

Zitiert bei M. Mßggiorani, I:Europa degli altri, S. 19.

25 P. Togliatti, Discorsi parlamentari, 2 Bde., Rom 1984, hier Bd. 2, S. 915.

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Allerdings war das eher eine abstrakte, rhetorische Wunschvorstellung als ein konkretes politisches Prograoun, das es erlaubt hätte, mit dem (Wenigeo), was an europäischer Einigung tatsächlich im Aufbau war, konstruktiv umzugeheo.

Iv. Die SPD zwischen Westloyalität und Nationalstolz (1947-1957) Will man die italieoische mit der deutscheo Linkeo vergleicheo, so müsseo wir uns nun der Bundesrepublik zuweodeo. Aus zwei Gründeo stellte sich die Lage in der BRD grundlegend anders dar als in Italien. Da sich einerseits die historische Spaltung der Arbeiterbewegung immer weiter verfestigte, ver­ schob sich das Kräfteverhältnis innerhalb der Linken eindeutig zugunsten der Sozialdemokratie und drängte die kommunistische Partei schon 1953 in eine marginalisierte, entlegitimierte Position ab. Andererseits stellte die seit 1948 auf die Rolle der Opposition beschränkte SPD als größte Linkspartei ihre Loyalität gegenüber dem inzwischen entstandenen Westblock nie in Frage. Sie teilte Adenauers Ablehnung des Sowjetkommunismus und dessen Überzeugung, daß die Überlegenheit des westlichen Systems wie ein .Magnet" wirken würde, der schließlich auch Ostdeutschland in seineo Bann ziehen würde. Folglich begrüßte der charismatische, bis 1951 unumstrittene SPD-Vorsitzende Sehnmacher den Marshall-Plan, betonte jedoch, daß desseo Umsetzung kein Hindernis für die Durchsetzung sozialistischer Positioneo darstelleo dürfe. Offensichtlich war Kurt Sehnmacher auch in den Jahren 1947/48 noch empfänglich für die Idee, Europa könne als Block sozialistisch orientierter west- und mitteleuropä­ ischer Staaten zu einer dritten Kraft avancieren. Folglich galt die europäische Einheit, selbst wenn sie nur auf eineo Teil des Kontinents beschränkt blieb, als wünschenswertes Ziel, um der sowjetischen Expansion einen Riegel vor­ zuschieben. Wiederholt stinunte die SPD-Fraktion Mitte der fünfziger Jahre im Bundestag gemeinsam mit allen anderen Parteien - mit Ausnahme der KPD- Vorlagen zu, die die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa zum Ziel hatten. Solange Sehnmacher die Partei führte, und in gewisser Weise auch noch als Ollenhauer seine Nachfolge antrat, hatten Wiedervereinigung und Gleichbe­ rechtigung, d.h. die Anerkennung der deutschen Nation als gleichberechtigte Partnerin in der internationalen Gemeinschaft, absoluten Vorrang vor allen anderen außenpolitischen Erwägungeo. Dem lagen zumindest zwei Positionen zugrunde: Erstens fürchteten die Sozialdemokraten mehr als alles andere, daß man ihnen wie bereits vor dem Ersten Weltkrieg erneut vorwerfeo könnte, das nationale Interesse ihren .intemationalistischem Positioneo zu opfern; obwohl die Attacken der Rechten von DP und auch von der FDP bereits •

abflauten, wollten sie in dieser Hinsicht doch keinen Vorwand liefern. Zwei­ tens war die SPD durch die deutsche Teilung erheblich geschwächt, da sie

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einige ihrer sozialen und politischen Hochburgen aus der Zeit der Weimarer Republik verloren hatte. Darüber hinaus orientierte sich die SPD eher an der politischen Kultur englischer und skandinavischer Prägung, weil sie dort eine größere Aufgeschlossenheit für sozialistische Werte fand als in jenem .karolin­ gischen" Europa unter dem Einfluß von konservativ-katholischen Politikern wie Adenauer, Sehnman und De Gaspeti26• Folglich blieben, allen Widersprüchen in ihrer Buropapolitik zum Trotz, zwei Voraussetzungen doch stets unangetastet: ,Jede Lösung, die die deutsche Teilung in Kauf ninunt, ist grundsätzlich anti­ europäisch; die zukünftige deutsche Souveränität kann nur an eine europäische Organisation übergehen, die Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied in vollem Umfang anerkennt"27• Zu diesen beiden Voraussetzungen komnlt noch eine dritte, äußerst wichtige hinzu. Für die deutschen Sozialdemokraten war ein politisch geeintes, demokratisches und föderatives Europa nur vorstellbar unter der demokratischen Kontrolle eines supranationalen Parlamentes: In dieser Forderung spiegelte sich die bittere Erfahrung der eigenen Geschichte, aber auch das Mißtrauen gegenüber einem lntegrationsmodell, wie man es Frankreich zuschrieb, das man verdächtigte, die eigenen Hegemonieansprüche zu verschleiern und Deutschland in einem hierarchisch-bürokratischen Europa in eine dauerhafte Minderheitenposition abdriingen zu wollen. Alle konkreten Entscheidungen der SPD zu den ersten Schritten der europäischen Integration wurden von diesen Voraussetzungen bestimmt. Auf dem Düsseldorfer Parteitag im Jahre 1948 wurde beschlossen, daß die SPD weiterhin .ein vereintes demokratisches Deutschland in Freiheit und Frieden" anstrebte, das .sich gemeinsam ntit den Sozialdemokraten aller Länder für einen freien Zusammenschluß der Völker zu den Vereinigten Staaten von Europa einsetzen wird". Doch die beiden Ziele - ein vereintes Deutschland in einem vereinten Europa - wurden immer unvereinbarer, und die SPD versteifte sich auf eine Position, die der Wiedervereinigung den Vorrang gab. Auf dem ersten Europa-Kongreß in Den Haag war Deutschland offiziell nicht vertreten, und als die Schaffung des Buroparats verkündet wurde, sprach sich die SPD ntit großer Mehrheit gegen eine deutsche Beteiligung aus. Auf dem Hamburger Parteitag 1950 erklärte man, dies sei ein .entschiedenes Nein zu allen Versu­ chen seitens der Kirche und des Monopolkapitals, ein Europa zu schaffen, das aufgrund seines kapitalistischen Aufbaus, mangelnder Demokratie und sozialer Durchlässigkeit ein leichte Beute für Angriffe aus dem Osten sein würde"28• Auch der Aufbau des Europarates wurde scharf kritisiert, weil er nicht dem Prinzip der repräsentativen Demokratie entsprach, ganz zu schweigen davon, 26 W Hanrieder, The Stahle Crisis. Two Decades of German Foreign Policy, New York I London 1970, S. 135, 141.

"'

Zitien bei W.E. Paterson, The SPD and European Integration, S. 10.

Zitiert bei K Featherstone, Socialist Parries and European Integration. A Cam­ paralive History, Manchester 1988, S. 145. 28

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daß die Zulassung des Saatgebietes als eindeutiges Zeichen für Frankreichs Absicht interpretiert wurde, an der deutschen Teilung festzuhalten29• Dennoch verzichtete die SPD nicht darauf, Vertreter in die Parlamentarische Versanun· Jung des Europarates zu entsenden. Die ablehnende Haltung, die die SPD nach anfänglichem Zögern zur Montanunion einnahm, scheint alle Motive ihres widersprüchlichen und kon· fliktreichen Verhälmisses zum europäischen Einigungsprozeß in sich zu tragen. Diese Entscheidung beruhte auf vier Gründen: das tief verwurzdte Mißtrauen gegen Frankreich, das man verdächtigte, mit dem Schuman·Plan eine Wieder· aufJage der Reparationspolitik zu planen und sich das Ruhrgebiet einverleiben zu wollen; die Enttäuschung über die englische Nichtbeteiligung und die damit einhergehende Sorge, durch die Einbindung des westlichen Deutschland in ein vom gemäßigten Katholizismus dominiertes Klein·Europa könne jede soziaJi. stische Perspektive zunichte werden; die Furcht vor äußerer Einmischung in die geplante Verstaatlichung sowie die Wirtschafts- und Sozialreformen; und schließlich die Kritik am hierarchischen Aufbau der Montanunion und den unzureichenden Kompetenzen ihrer parlamentarischen Versammlung. Trotzdem besetzte die SPD auch in diesem Fall die ihr zustehenden Parlamentsplätze und leistete einen konstruktiven Beitrag zur Arbeit der Montanunion. Daß Schumacher inzwischen von der politischen Bühne abgetreten war, trug sicher dazu bei, ebenso- wahrscheinlich- die offene Zustinunung des DGB zur Montanunion. Zu den Kritikpunkten gehörte jedoch die von Adenauer und der franzö­ sischen Regierung geäußerte Absicht, den Beitritt zur Montanunion mit einer Beteiligung an der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu verbin­ den. Gerade weil die Wiederbewaffnung für Adenauer außenpolitisch von so großem Gewicht war, um seine Position gegenüber den Alllierten zu stärken, wurde sie für die Opposition zum entscheidenden Argument der innenpoliti­ schen Auseinandersetzung. Für die SPD sprach vieles gegen eine Wiederbe­ waffnung der BRD, denn sie gefährdete die Wiedervereinigung, weil die BRD damit im Kalten Krieg eindeutig Partei ergriff; für die Sowjetunion stellte sie eine Provokation dar und verschärfte dadurch die wdtweiten Spannungen, ohne die Sicherheitslage des Westen wesentlich zu verbessern; dies konnte verheerende Auswirkungen auf die fragile Demokratie in Westdeutschland haben, weil unverbesserliche Militaristen und andere unliebsame Anhänger der alten Ordnung damit neuen Auftrieb erhidten; außerdem würde Deutschland damit Teil einer europäischen Union konservativer Ausprägung, was leicht zu einer Spaltung des nichtkommunistischen Europa führen konnte. Schließlich vertraten die Sozialdemokraten die Ansicht, als Besatzungsmächte seien die 29 R Steininger, I:Internazionale socialista e Ia SPD dopo Ia seconda guerra mon­ diale, in: I socialisti e l'Europa, S. 339.

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Westmächte für die Verteidigung Deutschlands zuständig''. Deshalb sprach sich die SPD entschieden gegen die EVG aus, obwohl der Bundesrepublik dort die Gleichberechtigung zugestaoden wurde, und focht den Beitrittsbeschluß des Bundestages sogar vor dem Bundesverfassungsgericht an, wobei sie von einer breiten, parteiübergreifenden Bewegung gegen die Wiederbewaffnung unterstützt wurde. Tatsächlich hegte die SPD die Befürchtung, selbst durch eine begrenzte Militarisierung Westeuropas könne jede noch so vage Aussicht auf Entspannung, die durch das sowjetische Memorandum vom 10. März 1952 in die Welt gesetzt und nach Stalins Tod noch bestärkt wurde, im Keim erstickt und damit jede Hoffnung auf eine zukünftige deutsche Wiedervereinigung end­ gültig zunichte gemacht werden. Daher nahm die Polemik gegen Adenauer als "Kanzler der Alliierten" im Frühjahr 1952 immer schärfere Töne an: Nachdem Schurnacher bereits am 25. April erklärt hatte: "Für die Sozialdemokraten ist die deutsche Einheit wichtiger als die westeuropäische Integration", ließ er sich Ende Mai in einem Interview sogar zu der Behauptung hinreißen: "Wer dem Vertrag zur Griindung der EVG zustimmt, ist kein Deutscher mehr"31• Nachdem die EVG gescheitert war, weil das französische Parlament am

31. August 1954 die Ratifizierung verweigerte, nahm die SPD auch zur WEU die gleiche ablehnende Haltung ein. Erneut wurde als Grund die Befürchtung geäußert, daß "die Bundesrepublik Deutschland damit einfach einem militä­ rischem Bündnissystem beitritt, als würde das andere Deutschland gar nicht existieren"". Doch im Unterschied zu Italien ging die deutsche Regierung aus den Wahlen von 1953 eindeutig gestärkt hervor, während die SPD verlor. Auch der halbherzige Versuch, den Kampf gegen die Wiederbewaffnung durch Massenmobilisierung fortzuführen, erwies sich nach anfänglichen Erfolgen als fruchdos. Als am 5. Mai 1955 die WEU-Verttäge definitiv in Kraft traten, markierte dies einen Wendepunkt in der SPD-Politik. Obwohl die Prote­ ste gegen die Wiederbewaffnu ng bis 1958 fortgesetzt wurden, geschah dies doch unter grundsätzlich anderen Bedingungen, denn mit der Griindung der WEU und dem Beitritt der BRD zur Nato wurde die Sicherheitsfrage von der Buropafrage abgekoppelt. Bis dahin hatte die Wichtigkeit der Wiederaufrü­ stung - unbeliebt bei der Basis und den Wählern der SPD - jeden Anschein von bipartisanship in der Außenpolitik verhindert und eine Unterstützung der europäischen Integrationspolitik der Regierung verhindert. Nachdem das T hema Wiederaufrüstung aus der Streitmasse ausgeklammert war, konnte die Parteiführung der SPD der europäischen Einigung zustimmen, zumal der Partei­ vorsitz nach Schumachers Tod inzwischen an den pragmatischeren Ollenhauer übergegangen war. Die Zusammenarbeit mit dem DGB wurde enger und die 30 W. Hanrieder, The Stahle Crisis, S. 136 f. 31 Zitiert bei W.E. Paterson, The SPD and European Integration, S. 87. " Ebd., S. 89.

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Bundestagsfraktion gewann größeren Einfluß auf die Parteiführung. Als im Januar 1957 das Saargebier in die Bundesrepublik eingegliedert wurde, war auch der letzte Streitpunkt zwischen SPD und SFIO ausgeräumt. Andererseits gewannen, vor allem nach dem Beitritt der SPD zu dem von Jean Monner ins Leben gerufenen .Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa" im Oktober 1955, Männer wie Herbert Wehner und Wt!helm Kaisen in der Partei an Einfluß, die begriffen hatten, wie sehr die früher so heftig bekämpfte Montanunion in der öffentlichen Meinung mit dem deutschen Wohlstand in Zusammenhang gebracht wurde. Auch die Mitarbeit der SPD-Vertteter in den Gemeinschaftsorganen - ein weiterer wesentlicher Unterschied zu Italien-trug dazu bei, daß die Pattei sich allmählich mit dem europäischen Projekt anfreun­ dete. Ermutigend wirkte vermutlich auch, daß die Konferenz von Messina auf eine eher pragmatische Linie einschwenkte und mehr Rücksicht auf nationale Belange sowie weniger Forderungen nach Souveränitätsverzicht versprach. Diese flexiblere Haltung paßte ausgezeichnet zu dem Prozeß der Entideologisierung und dem Verblassen der sozialistischen Perspektive in der SPD. Folglich befürwortete die SPD die Einrichtung der Europäischen Atomge­ meinschaft (Euratom) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Kritisch betrachtete die Parteiführung weiterhin den Umstand, daß Großbri­ tannien und die skandinavischen Länder sich nicht beteiligten, sowie die man­ gelnde demokratische Legitimation der Europäischen Kommission. Allgemein jedoch waren Ablehnung und Mißtrauen der Jabre unter Schumacher einem Geist der kritischen Unterstützung gewichen.

V. Europiiisierung in zwei Geschwindigkeiten: Die italienische Linke von 1957 bis zu den siebziger Jahren Eine ähnliche Entwicklung durchlief auch die italienische Linke, wenn auch zunächst auf die Sozialisten beschränkt. Erste Risse bekam die ursprünglich einhellige Haltung zu Europa in den zwanzig Monaten, die von der Konferenz von Messina bis zur Unterzeichnung der Römischen Verträge (Gründung von EWG und Euratom) vergingen. Anläßlich der Ratifizierung im Parlament im Jnli 1957 enthielten sich die Sozialisten bei der Abstimmung über die EWG und stimmten nur für die Euratom. Insbesondere die Zustimmung zur Euratom wurde von Lombardi mit der Überzeugung begründet, der Beitritt werde Italien in einem .bisher brachliegenden" Schlüsselbereich der Energiegewinnung auf den Weg des Fortschritts führen. Diese Überzeugung setzte sich gegen den Teil der Partei durch, der Zweifel an der Gewährleistung einer streng friedlichen Nutzung der Atomenergie hegte''. Viel schwerer tat man sich mit dem Ge" D. Felisini, ll partito socialista italiano, S. 323 f.

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meinsamen Markt. Der Beitritt zur EWG wurde auf dem Parteitag in Venedig befürwortet, auch wenn Nenni betonte, daß .zwischen wirtschaftlicher Inte­ gration und Verteidigungsbündnis ein absoluter Unterschied gemacht werden muß"", und damit auf die Hypothese eines neutralen, jedenfalls nicht zur Nato gehörenden Europa anspielte (offiziell wurde der Widerstand gegen den Nato­ Beitritt Italiens erst 1964 aufgegeben). Im Juli 1957 beriet das Zentralkomitee der PSI über einen Kommissionsbericht, der im wesentlichen von Riccardo Lombardi stammte und den Gemeinsamen Markt insgesamt befürwortete. Er sah den Gemeinsamen Markt als .emstzunehmendes Mittel, sich aus der wirtschaftlichen Bevormundung durch die Amerikaner zu befreien", und als geeignetes Instrument, um weit verbreitete überkommene, parasitäre Positio­ nen im italienischen Produktionssystem zu eliminieren. Für Lombardi war der Gemeinsame Markt .ein entscheidender Fortschritt, weil er eine kollektive Entwicklung anstrebte, die die verschiedenen nationalen Entwicklungspläne kompatibel machen und ersetzen würde". Bei der Diskussion darüber stellte sich jedoch heraus, daß die Partei tief gespalten war. Der Entschluß, ein Instrument, dessen Nutzen für die Arbeiter man grundsätzlich einsah, nicht von vornherein abzulehnen, ging mit einer Reihe schwetwiegender Vorbehalte und einer expli­ zit negativen Beurteilung der konkreten Inhalte des Abkommens einher''. Als Zeichen einer größeren Demokratisierung forderte man vor allem ein größeres Mitspracherecht der Gewerkschaften sowie die Direktwahl des Europäischen Parlaments - Forderungen, die von allen europäischen Sozialdemokratien, der SPD an erster Stelle, geteilt wurden - und sprach sich unter anderem auch für die Zulassung kommunistischer Abgeordneter aus. Spätestens ab 1957 war die Einstellung der italienischen Sozialisten zu den europäischen Institutionen jedoch durch kritische Unterstützung gekenn­ zeichnet, auch wenn jene Gruppe, die später die PSIUP griindete, weiterhin erbittert das .Europa der Monopole" bekämpfte und bisweilen sogar härter und .ideologischer" auftrat als die Kommunisten". Bezeichnenderweise setzte der PSI alle Hebel in Bewegung, um in der 1963 gebildeten reformorientierten Mitte-Links-Regierung ein mittelfristiges Programm für nationale Struk­ turreformen" durchzusetzen. Mit jahrzehntelanger Verspätung im Vergleich zu anderen europäischen Demokratien kam es dadurch in Italien zu einer Ausweitung der wirtschaftlichen und sozialen Rolle des Staates, hinter der die planwirtschaftliehen Vorstellungen der dreißiger Jahre hervorlugten, nicht unbe­ dingt in Form von Autarkiebestrebungen, häufig jedoch mit einer guten Portion Mißtrauen gegenüber einem Europa, das nicht als Potential gesehen wurde, •

34 P. Nenni, Dalla giusta causa all'integrazione economica europea, in: Avanti!, 20. Januar 1957. " D. Felisini, ll partito socialista italiano, S. 326-329. Z. Ciu/foletti IM. Degl'Innocenti I G. Sabbatucci, Storia del PSI, 3 Bde., Rom I Bari 1993, hier Bd. 3: Da! dopoguerra a oggi, S. 235-241. "

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sondern als Einschränkung''. Darüber hinaus wurde diese .Introversion" der italienischen Politik zu Zeiten der Mitte·Links-Regierung durch die Situation auf der internationalen Ebene begünstigt, die in den siebziger Jahren durch die Stagnation und dann durch einen wahrhaften Stillstand des europäischen Aufhauprozesses gekennzeichnet war. Vor diesem Hintergrund muß auch dieEntwicklung des PCI, der stärksten italienischen Linkspartei, gesehen werden. Nach Severino Galante verursachte die Krise von 1956 .tiefe Risse im Geflecht der internationalen Loyalitäten, in das auch der PCI mit der Teilnahme am Kalten Krieg an der Seite der Sowjet­ union verstrickt war; und durch diese Risse bahnte sich langsam ein Prozeß der Erneuerung einen Weg, der auch die europäische Problematik betraf"". Dabei kristallisierte sich nach und nach heraus, daß die Strategie des .natio­ nalen" Weges nicht bedeutete, daß jede einzelne KP sich in ihrem nationalen Gärtchen abschottete, sondern eine Kooperation nach regionalen Zonen mit ähnlichen Problernen erforderlich machte. Das Prinzip des .polyzentrischen" Kommunismus, wie es von Togliatti verkündet worden war, verband sich folglich mit der Perspektive der Multipolarität des internationalen Systems. Auf dem 8. Parteitag (Dezember 1956) wurde der traditionelle paneuropäische Ansatz des PCI-Vorsitzenden (Europa ja, aber nur einEuropa aller Völker im Interesse des Friedens) um eine wichtige Präzisierung erweitert: "Wtt wollen in den derzeitigen europäischen Organisationen mitarbeiten, um dort unsere Friedenspolitik zu vertreten und weiter zu entwickeln, und zwar als Vertreter eines großen Teils des italienischen Volkes"". Diese Worte markierten einen grundlegenden Perspektivwechsel, wenn nicht gar einen kompletten Bruch mit der Vergangenheit. Denn damit waren die europäischen Institutionen in den Augen des PCI kein natürlicher Gegner mehr, "den man endarven, wenn möglich abschaffen und auf jeden Fall ignorieren mußte, sondernEinrichtungen, für derenDerno­ ktatisierung man sich engagieren konnte, um ihre Ausrichtung im Interesse der Völker und Nationen zu verändern und sie in Instrumente paneuropäischer Kooperation und internationalerEntspannung zu verwandeln"40• Bereits wenige Monate später äußerte sich dieser Richtungswechsel in der Stellungnahme zu Gerneinsamern Markt undEuratom. Zwar stimmte man im Parlament gegen die Römischen Verträge, weil man darin das "Europa der Monopole" im Dienste der Vereinigten Staaten zu erkennen meinte, doch hieß der PCI- angestachelt vom offensichtlichen Fortschritt der Integration und vom Wunsch, denDialog mit den Sozialisten wieder aufzunehmen - die wirtschaftliche Integration als 37 M. TelO, L'Italia nel processo di costruzione europea, S. 225. 38 S. Galante, TI partito comunista italiano e l'integrazione europea, S. 6. 39 Zitiert ebd., S. 7.

4o Ebd.

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objektiven Faktor gut, mit dem man sich auseinandersetzen mußte, um seine politische Entwicklungsrichtung zu verändern. Nachdem dieser erste Schritt getan war, ging es allerdings nur sehr langsam und zögerlich weiter. Denn neben der Überzeugung, daß der Prozeß der wirtschaftlichen Integration nicht nur ein koordiniertes Handeln aller Kommunistischen Parteien, sondern der gesamten Arbeiterbewegung Westeuropas verlangte (das waren die Vorboten zum Begriff der .europäischen Linken", den Togliatti im März 1959 in einem Artikel in .Rinascita" ausführen sollte), existierte Ende der fiinfziger Jahre auch noch die Einschätzung, daß der Aufbau Europas nur dazu diene, das anti· sowjetische Lager zu stärken. Kritiker wie beispielsweise der Ökonom Eugenio Peggio wurden ignoriert, und es blieb bei der offiziellen Linie, die die negativen Aspekte des Gemeinsamen Marktes auf politischer Ebene hervorhob und kata· strophale Auswirkungen auf den nationalen Markt vorhersagte: Daher auch der Vorschlag, die Gründung von EWG und Euratom vorübergebend auszusetzen, um zunächst vorbeugende Sttukturreformen vornehmen zu können. Zu einschneidenden Veränderungen kam es erst im folgenden Jahrzehnt. Ab 1961 übernahm die Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL) eine explizite Vorreiterrolle, denn im Ralunen der Bemühungen um eine Ver­ einigung der italienischen und europäischen Gewerkschaftsbewegungen baute sie ein konstruktives Verhältnis zu den Organen der Europäischen Gemein­ schaft auf. Im März 1962 kam man auf einer Tagung des Istituto Gramsei zu der Schlußfolgerung, durch den Gemeinsamen Markt komme es im ökono· mischen Kräfteverhältnis zwischen Westeuropa und den USA tendenziell zu einem Ausgleich und damit zu einem Ende der amerikanischen Vorherrschaft, wodurch eine autonome Politik der friedlichen Koexistenz gefördert werde. Selbst Togliatti vollzog schließlich eine vorsichtige, wenn auch begrenzte Annäherung an die .Idee eines demokratischen Europa". Seine harsche Kritik der .rationalistischen, abstrakten" Methoden der Europabefürworter und deren Unterordnung unter die ametikanische Strategie der Teilung Europas und des Kalten Krieges aus dem Jahre 1948 wurde nun abgelöst durch eine weitgebende politische Anerkennung, die den Weg zu einer Verständigung öffnen sollte. Vor allem kaprizierte man sich nicht länger darauf, Europa als .einschränkende" Instanz wahrzunehmen, sondern erkannte, daß es sich zum Schauplatz einer potentiellen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Kapitalismus entwickelte und womöglich gar Bewegung in die festgefahrenen Ost-West-Beziehungen bringen würde. Obwohl er seine Vision eines Europa vom Adantik bis zum Ural nicht aufgab, mußte Togliatti schließlich einsehen, daß man um die Frage der wirtschaftlichen und politischen Einigung der kapitalistischen Länder Westeuropas nicht herum kam. Als Bedingung for­ mulierte er eine durchgreifende Demokratisierung des Europaparlaments und der europäischen Institutionen sowie eine Friedens- und Abrüstungspolitik unabhängig von der Nato. Im .Memoriale di Yalta", seinem politischen Te-

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stament, kritisierte Togliatti, daß die Arbeiterbewegung auf dem Gebiet der Buropapolitik noch große "Lücken" aufweise, und unterstrich damit deren wachsende Bedeutung für den PCI. Unter dem Vorsitz von Luigi Longo behielt der PCI diese Linie bei und bemühte sich entschiedener darum, die Beziehungen zu den .progressiven" Kräften in Westeuropa zu intensivieren: die Idee der "europäischen Linken" fand ihre erste Anwendung in vertraulichen Gesprächen mit der SPD, die sicher nicht ohne Auswirkungen auf die Entwicklung von Brandts Ostpolitik blieben. Obwohl die strategischen Überlegungen zur Buropapolitik und zur notwendigen Koordinierung aller Kräfte der europäischen Linken stets um neue Inhalte erweitert wurden, beeinflußte die Zugehörigkeit zur internationalen kommunistischen Bewegung doch weiterhin die außenpolitischen Entschei­ dungen. Großes Mißtrauen hegte man auch gegenüber einer supranationalen Planung der wirtschaftlichen Entwicklung in den einzelnen Ländern, denn man förchtete, daß dadurch die ohnebin schon verwässerten Reformvorha­ ben der Mitte-Links-Regierung endgültig scheitern könnten, zumal der Ein­ fluß der Sozialisten im Schwinden begriffen war. Auf die Anerkennung der wirtschaftlichen Erfolge des europäischen Einigungsprozesses folgte deshalb weder eine klare wirtschaftspolitische Neuorientierung der Partei noch eine Zustimmung zum Konzept der politischen Integration. Noch im Juli 1967 forderte Gerardo Chiaromonte dazu auf, sich nicht der IDusion hinzugeben, man könne "das nationale Moment" überspringen. "Wenn man auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der europäischen Einigung einen Demokratisierungsprozeß in Gang bringen will, dann muß man viel Geduld aufbringen und permanent über einen Ausgleich der nationalen Interessen und Bedürfnisse verhandeln "41• Die scharfe Verurteilung des sowjetischen Einmarsches in die Tschechoslowa­ kei (August 1968) führte zu einer Neubestimmung der eigenen Position, wobei unter anderem der bereits begonnene Richtungswechsel in der Buropapolitik des PCI noch weiter beschleunigt wurde. Allerdings verlief dieser Prozeß keineswegs linear, hatte tnit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen und ging tnit schwierigen subjektiven Entscheidungen einher. Entscheidenden Anteil daran hatten die neuen Handlungsspielräume, die sich durch die Mitarbeit in den europäischen Institutionen, vor allem im Europaparlament, für den PCI ergaben. Denn im Januar 1969 hielt endlich ein erster Spähtrupp kom­ munistischer Abgeordneter Einzug ins Straßburger Parlament. Das Ende der Diskriminierung beschleunigte .die europäischen Lehrjahre" des PCI, wozu auch der Dialog tnit den großen sozialdemokratischen Parteien Westeuropas nicht unerheblich beitrug.

41

Zitiert beiM. Mßggiorani, l:Europa degli altri, S. 24.

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Nachhaltig gefördert wurde diese Entwicklung durch eine spürbare Ent­ spannung in Europa, die sich im Gefolge der Ostpolitik eingestellt hatte, und durch grundlegende Veränderungen auf internationaler Ebene. Als 1971 ntit dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods und den folgenden Währungsturbulenzen die Krise der gesamten Nachkriegsordnung offensichtlich wurde und es auch in den ttansatlantischen Beziehungen erneut zu Spannungen kam, besann man sich plötzlich wieder aufEuropa und propa­ giene die Europäische Gemeinschaft als authentische, weder antisowjetische noch antiametikanische" dritte Kraft, als autonomes Subjekt der internationalen Beziehungen. •

VI. Die SPD vom Godesberger Programm zur Ostpolitik Vor dem Hintergrund dieser großen Umwälzungen kreuzten sich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder die Wege der beiden großen Linkspaneien Italiens und Deutschlands. Denn auch die SPD hatte in den sechziger Jahren ihr außenpolitisches Progranun grundlegend veränden und legte noch am 19. März 1959, als die Mobilisierung gegen den Bundestagsbeschluß, die Bundes­ wehr ntit taktischen Atomwaffen auszustatten, ihren Höhepunkt erreichte, den sogenannten "Deutschland-Plan" vor. Ziel dieses Planes war die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa, der Rückzug aller beteiligten Länder aus den jeweiligen Militärbündnissen und die Schaffung eines kollek­ tiven Sicherheitssystems unter der Garantie der USA und der Sowjetunion. Die CDU sah darin einen Beweis für die Untreue der SPD gegenüber dem Bündnis ntit dem Westen42• In seiner Bundestagsrede vom 30. Juni 1960, die nicht zufällig als außenpolitisches Godesberg der SPD gilt, wollte Herben Wehner jeden Zweifel ausräumen und erkläne, die Bundesrepublik werde ihre Bündnisverpflichtungen stets erfüllen, und zwar unabhängig davon, wer in der Regierungsverantwonung und wer in der Opposition stehe Die Sozial­ demokratische Partei Deutschlands geht davon aus, daß das europäische und atlantische Venragssystem, dem die Bundesrepublik angehön, Grundlage und Rahmen für alle Bemühungen der deutschen Außen- und Wiedervereinigungs­ politik ist"". Das war das Signal, daß man die deutsche Teilung aufgrund der zweiten Berlinktise und der sowjetischen Beharrlichkeit in Sachen DDR nun für unumkehrbar hielt und die sozialdemokratische Disengagement-Politik im Dienste der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten endgültig gescheiten war. .



Allerdings stellte sich bald heraus, daß man sich hinsichtlich der Ost-West­ Beziehungen viel leichter auf eine gemeinsame außenpolitische Position, der 42 E. Collotti, Storia delle due Germanie, Turin 1968, S. 449 f. "

Zitien bei K. Featherstone, Socialist Parries and European Integration, S. 152.

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Wehner in seiner Rede einen Weg gebahnt hatte, einigen konnte als in der Europapolitik. Denn kaum hatte die sozialdemokratische Opposition ihre Konzeption einer deutschen Neutralität mit gleicher Distanz zu Moskau und Washington aufgeben und sich angeschickt, die neue, von Kennedy geprägte Version der Adantischen Parmerschaft zu übernehmen, begann Adenauer, alle bisher verttetenen Prinzipien - europäische Einigung und unverbrüchliche Treue zum Adantischen Bündnis-zugunsten der deutsch-französischen Achse in Frage zu stellen. Paradoxerweise sah sich die SPD genötigt, Europa gegen De Gaulle zu verteidigen: Energisch kritisierte sie den deutsch-französischen Vertrag und kündigte an, der Ratifizierung nur zuzusrinunen, wenn klargestellt sei, daß das Adantische Bündnis und die europäische Einheit dadurch nicht beeinträchtigt würden. Zugleich schlug sie einen vergleichbaren Vertrag mit Großbritannien vor. Unter dem wachsenden Einfluß von Willy Brandt nahm die Partei jedoch ab 1964 allmählich eine differenziertere Haltung dazu ein. Obwohl er als ent­ schlossener Befürwortet der Nato die Kritik der SPD-Fraktion grundsätzlich teilte, sah Brandt in der Politik De Gaulies auch Vorteile, denn dieser wollte den europäischen Einigungsprozeß verlangsamen, weil ihm eine .paneuropäische" Lösung vorschwebte. Eine solche Strategie konnte durchaus vorteilhaft sein im Hinblick auf Brandts ehrgeiziges Ziel eines "Wandels durch Annäherung" an die DDR", das er, wenn auch mit einigen Schwankungen, als Außenminister der Großen Koalition (1966-1969) zielstrebig verfolgte. In seinen Reden legte er stets großen Wert darauf zu betonen, wie wichtig eine breite kulturelle Verankerung des europäischen Gedankens sei, zeigte aber - abgesehen von der rituellen Forderung nach Stärkung des Parlaments und Beschleunigung des Einigungsprozesses - wenig Interesse an der rechtlichen Ausgestaltung seiner Institutionen. Erst als er Bundeskanzler wurde und die Ostpolitik erste Erfolge zeitigte, begann die Sozialdemokratie, eine politische Führungsrolle im europäischen Einigungsprozeß zu beanspruchen, weil sie erkannt hatte, daß ein wirtschaftlich und politisch gestärktes Europa entscheidend zur Ent­ spannung in Europa beitragen konnte. Dabei wurde die Intensivierung des Europäischen Einigungsprozesses als Baustein zum Aufbau eines "weltweiten Stabilitätssystems" gesehen". Nach einem Jahrzehnt gaullistischer Stagnation markierte der Haager Gipfel von 1969 schließlich die Wende zu einem neuen Aufschwung: man einigte sich auf Reformen der europäischen Institutionen und der Sozialpolitik, eine neue Rolle der EWG in den internationalen Bezie­ hungen (Ost-West und Nord-Süd) sowie eine Erweiterung um traditionell stark sozialdemokratisch orientierte Länder. Mehr denn je war die SPD an einem Beitritt Großbritarmiens, der skandinavischen Länder sowie Österreichs inter"

WB. Paterson, The SPD and European Integration, S. 150.

4S R D'Agata, L'"altra" distensione: Brandt, Berlinguer e la ricerca di ordine di pace negli anni '70, in: Contemporanea, 2 (2002), S. 244.

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essiert, weil sie sich davon einerseits eine Unterstützung ihrer sozialpolitischen Forderungen versprach und dies andererseits, getreu der .Magnet-Theorie", die Anziehungskraft der EWG auf die osteuropäischen Länder, vor allem auf die DDR, erhöht hätte. Zwar ließen sich Bruno Kreisky und Olof Palme nicht überzeugen, aber der Beitritt von Großbritannien, Norwegen und Dänemark konnte zweifellos als Erfolg der Brandtschen Politik verbucht werden. Auf die Habenseite gehöne auch der langfristig bedeutsame Austausch mit den italie· nischen Kommunisten, den man zwar vertraulich, dafür aber mit zunehmender Intensität pflegte. Dies fühne zu einer Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion und zu den osteuropäischen Ländern und zu der Erkenntnis, daß der PCI mit den westeuropäischen Arbeiterparteien vid mehr Gemeinsamkeiten hatte als mit den Machtapparaten der osteuropäischen Regime".

VII. Wachsende Buropaorientierung der italienischen Linken in den siebziger Jahren

Tatsächlich wurde in den siebziger Jahren inuner deutlicher, daß die euro­ kommunistische Perspektive für die italienischen Kommunisten zunehmend in den Vordergrund rückte. Gemeinsam mit den westlichen Sehwesterpaneien engagiene man sieh dabei für eine Transformation des europäischen Kapita­ lismus, in der Demokratie und Sozialismus miteinander verknüpft werden sollten. Je mehr der Einigungsprozeß an Bedeutung gewann und je wichtiger das europäische Parlament als politische Instanz wurde, desto mehr setzte sich im PCI die Überzeugung durch, daß man um eine ernsthafte Auseinan­ dersetzung mit der EWG, zunächst mit den einzdnen Politikbereichen, später dann auch mit der institutionell-politischen Zukunft der Gemeinschaft, nicht herumkam, wenn man eine .positive Integration" wollte, d.h. die Umwandlung der EWG von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft in ein aktives politisches Subjekt. In dieser Hinsicht kam es in Straßburg und Brüssd inuner häufiger zu Übereinstimmungen mit den sozialdemokratischen Parteien, was bald zu Spannungen mit dem PSI fühne. Im Verlauf wenigerJahre verschwand der Begriff .Eurokommunismus" aus dem Sprachgebrauch der Partei und wurde allmählieh dureh den Begriff .euro­ päische Linke" ersetzt. Das T heorem von .Europa als dritter Kraft" verlor mehr und mehr an Einfluß. Schon in dem berühmten Interview von Enrico Berlinguer im .Corriere dellaSera" vom 15.Juni 1976 zeichnete sich ab, daßman sich nun eindeutig dem westliehen Lager zugehörig fühlte, dessen dynamische Kräfte man für eine Friedens- und Reformpolitik zu nutzen gedachte. Bezeichnend für diese Entwicklung ist beispidsweise, daß Berlinguer und Brandt sieh im " Ebd., S. 239.

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März 1980 in ihrer Eigenschaft als .Europaabgeordnete" trafen und dabei eioe wachsende ÜbeteiDstimmung der beiden Parteien feststellten. So befürworteten beide das Eogagement des .Europa der Neun" für Entspannung, Frieden und Abrüstung, die Aufnahme eioes Nord-Süd-Dialogs und die Reform der Nato. Die wachsende .Europäisierung" zeigte sich unter anderem auch daran, daß die Partei 1976 Kandidaten wie Altiero Spinelli aufstellte, die dann als Unabhängige in der kommunistischen Fraktion in Straßburg mitarbeiteten; dazu gehörte auch die Mitwirkung an der Verabschiedung außenpolitischer Vorlagen in beiden Kammern im Dezember 1977 und schließlich das Votum für den Vertrag über die Europäische Union im Buropaparlament im Jahre 198447• Damit war hinreichend belegt, daß die alte europafeiodliche Einstellung endgültig ausgedient hatte. Daher waren es auch eher innenpolitische Gründe, die den PCI 1978 dazu bewogen, gegen den Beitritt Italiens zum Europäischen Währungssystem zu stimmen, denn zu diesem Zeitpunkt war die Mehrheit der die Regierung tragenden Nationalen Solidarität in eioe Krise geraten und die Kommunisten kehrten in die Opposition zurück. Dennoch war diese Ablehnung auch Ausdruck eioes allgemeioen Unbehagens, das von weiten Kreisen in Italien und Europa geteilt wurde: Zum Lager der Gegner, das ziemlich vielschichtig war, gehörten auch gewisse Strömungen der westeuropäischen Linksparteien, denen der Nationalstaat - ganz in der Tradition der sozialdemokratischen Reformpolitik der dreißiger und vierziger Jahre - noch immer als Allheilmittel galt, als Verbündeter und Ansprechpartner der Gewerkschafts- und Arbeiterbe­ wegung. Selbstredend kam diese Verquickung von innen- und europapolitischen Aspeltten für den PCI als größte Linkspartei eioer politischen Zerreißprobe gleich, denn damit wurde ein Eckpfeiler seioer Politik, der .nationale Weg zum Sozialismus", in Frage gestellt". Darüber hinaus hinderte ihre ausgeprägte Streitsucht die beiden großen italienischen Linksparteien daran, in der Buropapolitik eine konstruktive Zusanttnenarbeit aufzunehmen, was sich theoretisch eigentlich anbot, nach­ dem die grundsätzlichen Divergenzen über Italiens Beitritt zum europäischen Vertragssystem ausgeräumt waren. Zu diesem Problem äußerte sich Antonio Giolitti, der 1977 bis 1985 Mitglied der Europäischen Kommission war und sich in dieser Zeit zunehmend von der Sozialistischen Partei distanzierte, im Jahre 1992 wie folgt: .Die Buropapolitik bietet die einzigartige Möglichkeit, alles an Groll, Rivalität und parteitaktischer Polemik hinter sich zu lassen, was in Italien weiterhin das politische Klima belastet, jede Verständigung blockiert und damit die italienische Linke daran hindert, endlich eiue Konsistenz und Statur zu gewinnen, die denen der europäischen Partner in nicbrs nachsteht ... Folglich zeichnet sich eiue Art

47 M. Te/0, L'Italia nel processo di costruzione europea, S. 228 f. 48

Ebd., S. 230.

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parallele Entwicklung ab, eine Art Synebronisierung der europäischen Einigung und der Einigung der italienischen Linken, die sieb anband konkterer Probleme Schritt für Sebritt vollzieht"".

Doch seine Wunschvorstellung sollte sich nicht erfüllen, denn beide Par­ teien verfolgten ihre eigenen Interessen. W ährend die Kommunisten auf europäischer Ebene endlich die Legitimation zu erlangen versuchten, die ihnen in der Heimat durch die conventio ad excludendum inuner noch verweigert wurde, setzten die Sozialisten unter ihrem neuen Vorsitzenden Bettino Craxi alles daran, diesen für sie lebenswichtigen Unterschied auch auf europäischer Ebene zu etablieren und den Eurokommunisten ihre neue Rolle streitig zu machen. In den fünfzehn Jahren unter Craxi, insbesondere in seiner Zeit als Regierungschef, versuchten die Sozialisten sich dadurch zu profilieren, daß sie Italiens .nationale" Interessen als Mittehneermacht in den Vordergrund stellten. Im Hinblick auf die europäische Politik (an der er sich durchaus maßgeblich beteiligte, beispielsweise an den Beschlüssen zum institutionellen und politischen Aushau der Europäischen Gerneinschaft auf dem richtungs­ weisenden Gipfel von Mailand 1985, die ein Jahr später zur Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte führten) ging Craxi davon aus, daß die EWG vor dem Hintergrund des Ost-West-Gegensatzes, dessen Fortbestand er, anders als Berlinguer und später Alessandro Natta und Achille Occhetto, nie anzweifelte, eine inuner größere Rolle spielen würde''.

VIII. Von der Regierung Schmidt bis zur deutschen Wiedervereinigung: Die SPD in den achtziger Jahren In der ersten Hälfte der siebziger Jahre waren die Sozialdemokraten soweit, daß sie den Vorsprung der christdemokratischen Parteien in Sachen Europa aufgeholt hatten. Zweifellos verfügte die SPD über alle Voraussetzungen, um in diesem Prozeß eine tragende Rolle zu spielen. Von diesen günstigen Bedingun­ gen profitierte offenbar auch Hebnut Schmidt, der im Mai 1974 Wtlly Brandt als Bundeskanzler abgelöst hatte, zumal nun auch die portugiesischen und spanischen Sozialisten (PSP unter Mario Soares, PSOE unter Felipe Gonzales) dem italienischen Beispiel folgten und den EG-Beitritt als Unterstützung für Dernokratisierung und sozialen Fortschritt in ihren Ländern auffaßten. Doch in Buropafragen tendierte Schmidt, der nach der Ölkrise nicht nur mit ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, aufgrund seines persönlichen Temperaments ohnehin eher zu einer pragmatischen, weniger idealistischen

" A. Giolitti, Lettere a Marta. Ricordi e riflessioni, Bologna 1992, S. 212. " F. De Felice, Nazione e crisi: le linee di &artura, in: Storia dell'Italia repubblicana, Bd. 3/1, S. 116 ff.

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Herangehensweise als Brandt''. Nicht ohne Grund wurde die These vertreren, daß .der Führungswechsel von Brandt zu Schmidt in mancher Hinsicht einen größeren Einschnitt bedeutete als die spätere Ablösung Schmidts durch Kohl"". Unter dem neuen Bundeskanzler konzentrierte sich die Koalitionsregierung mit der FDP in erster Linie auf die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Haushaltsdefizit und bemühte sich um eine Eindämmung der internationalen Rezessions- und Inflationsgefahr, um die Stabilität der deutschen Wirtschaft zu gewährleisten". Folglich drängte die Regierung Schmidt/Genscher auch auf Gemeinschaftsebene auf strenge Haushaltsdisziplin, verlangte eine Reform der EG-Bürokratie und forderte von den anderen EG-Mitgliedern konkrete Verpflichtungen als Gegenleistung für den umfangreichen deutschen Finanz­ beitrag zum Gemeinsamen Markt. Während die besonderen Beziehungen zu Frankreich unter Giscord d'Estaing wieder hergestellt wurden, engagierte sich Deutschland vor allem für die Schaffung des Europäischen Währungssystems, das Ende 1978 in Kraft trat und für die volkswirtschaftlichen Entscheidungen der Mitgliedsstaaten bindend war. Obwohl die SPD bei den Europawahlen 1979 mit ihrem heröhmten Slogan .Modell Deutschland" antrat und einen einflußreichen Politiker wie Brandt als Europaabgeordneten nach Brüssel schickte, war Schmidts Europapolitik nicht auf Rückzug ausgerichtet, sondern drängte entschieden darauf, daß der Bundesrepublik die politische Rolle zukäme, die ihrem wirtschaftlichen Gewicht entsprach, und besann sich auf eine eher traditionelle Sichtweise der nationalen Interessen". Die Schwierigkeiten, mit denen alle europäischen Währungen außer der Mark zu kämpfen hatten und die sich in den häufigen Krisen der •Wähtungsschlange" äußerten, trugen zu einer engen, wenn auch nicht immer reibungslosen Zusammenarbeit zwischen Washington und Bonn bei, die sich vor allem auf die Finanzpolitik erstreckte, aber auch ein neues Vertrauensverhältnis begriindete, das die deutsche Vormachtstellung in der Europäischen Gemeinschaft konsolidierte''. Im Unterschied zu Brandt betrach'1 Eine gewisse Skepsis gegenüber der europäischen Einigung ist auch in seinen Schriften unübersehbar. Dort spricht er von der .Abdaokung Europas", .maogelnder innerer Geschlossenheit und Führungsschwäche" und .fehlender politischer Vitalität", H. Schmidt, A Grand Strategy for the West: the Anachronism of National Strategies in an Interdependent World, zitiert bei W Hanrieder, Germany, America, Europe: Forty Years of German Foreign Policy, New Haven CT I London 1989, S. 484, Anm. 34.

" R Dahrendor/, TheEuropeanization ofEurope, in: A.]. Pierre (Hrsg.), Domestic Change an Foreign Policy: A Widening Atlanticl, Council of Foreign Relations, New York 1986, S. 30.

" W. Hanrieder, Germany, America, Europe, S. 298-302, 358. " J. Lodge, The European Policy of the SPD, Beverly Hills CA I London 1976, s. 86 ff.

" G. Mammarella, Storia dell'Europa dal 1945 a oggi, Rom I Bari 1980, S. 448.

356

Aide Agosti

tete Schmidt - ähnlich wie Henry Kissinger - die Entspannungspolitik eher als Instrument zur Kontrolle und Beschränkung der globalen Auseinandersetzung, wie sie mit dem Kalten Krieg eingesetzt hatte, und nicht so sehr als Hebel zur Weiterentwicklung der etablierten sozialen und politischen Systeme. Unter diesen Voraussetzungen ist es verständlich, daß Schmidt sich ebenso wie Brandt und die SPD-Linke gegen eine Regierungsbeteiligung des PCI aus­ sprach, obwohl er gleichzeitig die Ablehnung des Eurokommunismus seitens der USA als kurzsichtig bezeichnet hatte. Dadurch daß Schmidt eine Position der Mitte einnahm, gelang es ihm zwar, die SPD/FDP-Koalition über die Wahlen von 1980 zu retten, doch danach wurden die internen Spannungen unerträglich. Als Anfang der achtziger Jahre die neokonservative, neoliberale Welle sowohl die Parlamentarier als auch die Wählerschaft der SPD zu spalten begann, war die Regierung Schmidt, wie fast alle europäischen Linksregierungen, dem nicht gewachsen. Nach der Wahlniederlage von 1982/83 geriet die Partei in eine schwere Identitätskrise, weil sie sich mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert sah. Um auf die veränderten Bedürfnisse neu entstandener postindustrieller und posttnateria­ listischer sozialer Gruppen und Bewegungen eingehen zu können, diskutierte man jahrelang lebhaft über neue politische Ansätze und versuchte, vor dem Hintergrund eines neuen Kalten Krieges die europäische Identität neu zu bestinunen. Dabei wurde die Europaidee jedoch nie in Frage gestellt, vielmehr bemühte man sich stets um eine Perspektive, die über den deutschen Horizont hinausging, so daß sich schließlich der Begriff vom "europäischen Weg zum Sozialismus" einbürgerte. Manche behaupteten sogar, in der "Ära Kohl" habe die SPD gerade deshalb so viele Wahlniederlagen erlitten, weil es ihr nicht gelungen sei, nationale und international-europäische Interessen in ein über­ zeugendes Gleichgewicht zu bringen. Zweifellos waren die Einwände der SPD gegen Kohls überstürztes, kostenträchtiges und demagogisches Vorgehen bei der deutschen Wiedervereinigung rational begriindet und durchaus berechtigt; dennoch traf er .das neue Gefühl der wiedergewonnenen Einheit, der wieder­ gewonnenen Souveränität und das leidenschaftliche Gemeinschaftsgefühl"" besser als die eher "postnational" orientierte, europafreundliche Position von Oskar Lafontaine. Andererseits wußte Kohl ganz genau, daß das neue Deutsch­ land, wollte man die Erschütterung durch die Wiedervereinigung mildern, nur entstehen konnte, wenn es in eine kompaktere europäische Organisation eingebettet wurde. Daher bot er an, sich entschieden für jene europäischen Ziele einzusetzen, die schon lange auf der Tagesordnung standen, aber bisher " M. Te/0, Alle radici dell'evoluzione della SPD. Valare e limiti della nuova Bad Godesberg della Spd neg]i anni Ottanta, in: P. Borioni (Hrsg.), Revisiooismo socialista e rinnovamento liberale. U riformismo nell'Europa deg]i anni Ottatanta, Rom 2001,

s. 76.

Die Linke und ihr Verhältnis zu Europa

357

unerreichbar schienen57. Die schnelle, umfassend wirksame Wiedervereinigung führte so zu einer rasanten Beschleunigung des europäischen Einigungspro­ zesses: Paradoxerweise bewahrheitete sich damit in gewisser Weise alles, was die SPD fünfzig Jahre früher zur Grundlage ihrer Politik gemacht harte, nur daß sie selbst nun nicht mehr davon profitieren konnte.

IX. Die letzten Jahre Dennoch trug die SPD entscheidend dazu bei, daß die deutsche Einheit fest in der europäischen Einigung verankert wurde. Als die Europaidee in den achtziger Jahren einen neuen Boom erlebte, entpuppte sieb die vordem unter Brandt entwickelte Theorie vom .europäischen Weg zum Sozialismus" als Stimulans und Korrektiv zugleich. Tatsächlich diente sie als Aufhänger für einen Austausch mit den französischen Sozialisten und den italienischen Kommunisten, an dem die SPD besonders interessiert war, weil sie ein neues Grundsatzprogramm in Auftrag gegeben hatte, an dem Peter Glotz, Oskar Lafontaine, Thomas Meyer und anderen unter Leitung von Willy Brandt schon seit geraumer Zeit arbeiteten und das 1986 in einem ersten Entwurf vorlag''. Das Bekenntnis zu einem starken, föderalen Europa, einer Art idealem Hei­ matland, einem dritten Weg zwischen UdSSR und USA, stellte das kulturelle und politische Selbstverstiindnis des PCI auf eine harte Probe: Ideologisch war es für die Partei eine äußerst schwere Geburt, ihr Verhältnis zu Europa und zur europäischen Linken grundlegend zu verändern. Daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß sieb dieser Prozeß über Johrzehnte hinzog, von Berlinguer bis zu Occbetto, als die Brücken zum real existierenden Sozialismus endgültig abgebrochen waren und der Eurokom­ munismus sieb als unprakrikabel erwiesen hatte, die Partei aber noch nicht bei einer sozialdemokratischen Position angekommen war, zumindest nicht im Sinn eines Beitritt zur Sozialistischen Internationale''. Daher kann mit Fug und Recht behauptet werden, daß der europäische Einigungsprozeß durch die deutsche Wiedervereinigung nur deshalb so rasant beschleunigt werden konnte, weil die europäischen Linksparteien in den achtziger Jahren politisch und programmatisch eine weitgehende Annäherung vollzogen hatten60• Von zentraler Bedeutung war dabei das Europaparlament (ab 1979 direkt gewählt), das nicht nur als Begegnungsstätte fungierte, sondern als Schauplatz gemein­ samer Initiativen für eine Demokratisierung der europäischen Institutionen,

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L. Rapone, Storia dell'integrazione europea, Rom 2002, S. 100.

's M. TelO, L'Europa, S. 910. '9 M. TelO, L'Italia nel processo di costruzione europea, S. 232.

60 M. TelO, L'Europa, S. 910 ff.

358

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die mit dem Kampf um den als .Progetto Spinelli" bekannten EU-Vertrag (1981-1984) ihren Höhepunkt erreichten. Eine große Rolle spielte auch das zunehmende Europa-Engagement der Gewerkschaften. Mit der Grändung des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) und der wachsenden Einsicht der nationalen Gewerkschaftsorganisa­ tionen, daß ihren Mitgliedern durch ein Fernbleiben nur Nachteile entstanden (Beschäftigung, soziale Rechte der Beschäftigten, reale und potentielle Koor­ dinationsmöglichkeiten iunerhalb transnationaler Unternehmen), wuchs der Wunsch, sich für eine Stärkung der sozialen Belange in der EU einzusetzen, was schließlich unter der Präsidentschaft von Jacques Delors zur Formulierung des Begtiffs der .sozialen Kohäsion" führte. Damit war der Abbau des Gefäl­ les zwischen den verschiedenen europäischen Regionen gemeint, der in der Aufstockung der .Strukturfonds" und der Schaffung eines "Kohäsionsfonds" seinen Ausdruck fand. Mit dem Sozialprotokoll im Vertrag von Maastticht (1992) und dem Abschnitt zur .Beschäftigung" im Vertrag von Amsterdam ( 1997) wurde erneut bekräftigt, daß man alle Anstrengungen zu unternehmen gedachte, um "das europäische Sozialmodell" gegen alle äußeren und iuneren Anfeindungen zu verteidigen. Eine entscheidende Rolle spielte schließlich die Entwicklung der internatio­ nalen Lage: Der Entschluß der Europäer, ihre Zusammenarbeit in Währungsfra­ gen zu intensivieren, der Streit zwischen Europa und den USA über die ange­ messene Reaktion auf die Ölkrise und der offensichtliche Interessenunterschied zwischen Europäern und Amerikanern im .zweiten Kalten Krieg" (Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa, Projekt .Sternenktieg", Kampf um den Frieden) stärkten die Position derjenigen Europapolitiker, insbesondere aus den Sozialistischen Parteien, die sich für ein starkes Europa aussprachen und darin auch eine politisch-strategische Entscheidung sahen. Diese konkretisierte sich während des zweiten Kalten Krieges in einer Entspannungspolitik und später in der Einführung der Gemeinschaftswährung, der im Verlaufe der neunziger Jahre erstaunlicherweise alle sozialistischen Parteien zustimmten. Am wichtigsten jedoch war der Umstand, daß sich 1989 mit dem Ende der bipolaren Welt eine Linke präsentierte, die relativ einmütig die Meinung vertrat, die Europäische Union müsse gegenüber den USA eine unabhängige Position eiunehmen, ohne die adantische Partnerschaft in Frage zu stellen. Diese Einmütigkeit basierte auf der langfristig, durch viele Entwicklungs­ stadien gereiften Überzeugung, daß die meisten Reformziele der Linken (sozial, politisch, international) im Rahmen der Europäischen Union leichter zu errei­ chen seien.

Vierter Teil

Das Wirtschaftswunder

Vom Wirtschaftswunder zur Krise des Wohlfahrtsstaats in (West-)Deutschland Von Christoph Buchheim

I. Die Wirtschaftslage in der unmittelbaren Nachkriegszeit Im Jahre 1945, nach Niederlage und Besetzung, sah es in Deutschland zunächst nicht nach einem Wmschaftswunder aus. Der spätere erste Bundes· präsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, sprach im Novem· her 1945 in Stuttgart auf der Griindungsversammlung der Demokratischen Volkspartei davon, daß .zwischen Wunden und Triimmern Zahllose hilflos, heimatlos, verstört, um den Sinn ihres Glaubens betrogen, in ihrer bürgerlichen Existenz ohne Boden" seien . •Das Drängendste [ist]: Ernährung, Behausung, Kleidung"'. Heuss konstatierte hier also einerseits den Zerfall der Ideale der Menschen, andererseits drückendstes materielles Elend. Hunger war allgegen· wärtig', obwohl praktisch sofort umfangreiche Nahrungsmirtelhilfslieferungen der alliierten Besatzungsmächte anliefen, die rund die Hälfte der kärglichen Normalrationen von 1.500 kcal abdeckten. Ein besseres Ernährungsniveau ließen die infolge Dünger· und Saatgutmangels extrem niedrigen Erträge der deutschen Landwirtschaft aber einfach nicht zu'. Auch die Industrieproduktion lag danieder. Noch im ersten Halbjahr 1948, drei Jahre nach Kriegsende, betrug sie weniger als die Hälfte ihres Vorkriegs· niveaus. Dagegen hatte sie in vielen anderen europäischen Ländern, darunter auch in Italien, bereits 1947 diesen Stand erreicht oder gar überschritten. Ent· gegen einer in der Literatur häufig anzutreffenden Meinung war die anhaltend

' T. Heuss, Aufzeichnungen 1945·1947. Aus dem Nachlaß hrsg. von Eberbord Piltart, Tübingen 1966, S. 155, 158. 2

V gl. auch L. Vaubel, Zusammenbruch und Wiederaufbau. Ein Tagebuch aus der W!rtschaft 1945·1949, Mimehen 1984. Zum Beispiel die Tagebucheintragung vom 12. Juni 1946, S. 80: .Das Essen ist das wirklich alle interessierende Thema". ' Vgl. W Mausbach, Umstrukturierung und Unterstüt2ung. Anfänge amerika· nischer Wirtschaftspolitik im beset2ten Deutschland, in: D. Junker (Hrsg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945·1990, Ein Handbuch, Bd. 1: 1945·1%8, Sruttgart/ Mimehen 2001, S. 435447, hier S. 441; G.J. Tritte/, Hunger und Politik. Die Ernährungskrise in der Bizone (1945·1949), Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 213·

223.

362

Christoph Buchheim

schlechte Entwicklung der Wirtschaft Westdeutschlands jedoch nicht die Folge hoher Reparationsleistungen und einer harschen Besatzungspolitik, wie sie Henry Morgenthau gefordert hatte. Vielmehr waren die Demontagen in den drei westlichen Besatzungszonen, anders als es die ursprünglichen Planungen vorsahen, nicht besonders wnfangreich. Trotz Abbau von Anlagen und Kriegs· zerstörungen war der Kapitalstock der Industrie 1948 größer und moderner als 1936 oder 1937, und die Reparationen aus laufender Produktion blieben dauerhaft sehr gering. Auch bemühten sich die westlichen Besatzungsmächte schon deshalb um eine konstruktive Wtrtschaftspolitik, weil sie die finanzielle Last, die die Sicherung des Überlebens der Bevölkerung ihrer Zonen für die Budgets und Zahlungsbilanzen ihrer Läoder bedeutete, so bald wie möglich vermindern wollten'. Es war vor allem die vollstäodige Zerröttung des Geld· und Währungswe· sens, die die Wirtschaft lähmte. Die Rüstungs· und Kriegsfinanzierung mithilfe einer gigantischen Geldschöpfung hatte infolge des vom NS·Regime verfügten Preis- und Lohnstopps nicht zu einer offenen, wohl aber zu einer zuröckgestau­ ten Inflation geführt. Die Unternehmen schwammen in weitgehend nutzloser Liquidität, der enorme Geldüberhang machte normale Verkäufe zu den offi­ ziellen Preisen zu Verlustgeschäften, staatliche Instanzen konnten nur durch strikte Bewirtschaftungsmaßregeln versuchen, die Produktion zu lenken. Auch die alliierten Besatzer hielten an Preisstopp und Rationierung fest, was jedoch die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft, nicht zuletzt infolge des Wegfalls der schärfsten Sanktionsdrohungen, immer weniger sicherstellen konnte. Schwarz­ märkte und Kompensationshandel nahmen überhand, die Unternehmen hatten nur noch geringes Interesse an der Produktion, da deren Rentabilität wegen der total verzerrten Sttuktur der offiziellen Preise nicht mehr einzuschätzen war, und bevorzugten die Hortung von Rohstoffen und Halbwaren5• In klarer Erkenntnis dieser Situation lancierten die Amerikaner bereits im August 1946 im Allüerten Kontrollrat ein Währungsreformprojekt auf der Basis des sogenannten .Colm-Dodge-Goldsmith (CDG)-Plans". Dieser sah unter anderem eine scharfe Reduktion der Geldmenge im Verhältnis 10:1, die Annullierung der Reichsschuld und einen rekurrenten Anschluß der neuen Währung an die alte durch die Umstellung wiederkehrender Zah­ lungen, wie Löhne und Mieten, unter Beibehaltung ihrer absoluten Beträge vor. Jedoch opponierten vor allem die sowjetischen Vertteter im Kontrollrat 4 V gl. C. Buchheim, Von der aufgeklärten Hegemonie zur Partnerschaft. Die USA und Westdeutschland in der Weltwirtschaft 1945-1%8, in: D. Junker (Hrsg.), USA und Deutschland, Bd. 1, S. 401-423, besonders S. 406-414. 5 V gl. C. Buchheim, The Currency Reform in West Germany in 1948, in: German Yearbook on Business History, 1989-1992, München 1993, S. 85-120, besonders S. 87-

94.

Vom W1rtSchaftswnnder zur Krise des Wohlfahrtsstaats in (West-)Deutschland

363

gegen Emzelheiten des Plans. Eine Einigung konnte nicht erzielt werden. Daher verlängerte sich die Agonie der deutschen Wirtschaft um beinahe zwei Jahre, bevor der Plan in seinen Grundzügen am 20. Juni 1948 in einer auf die drei Westzonen beschränkten Währungsreform umgesetzt wurde, nachdem die Viermächtekontrolle über Deutschland, ausgeübt durch den Kontrollrat, endgültig zusammengebrochen war. Diese Währungsreform war ein allliertes Oktroi. Gerade deshalb konnten durch sie, anders als im Hornburger Plan, dem offiziösen deutschen Geldreformprojekt, vorgesehen, alle Geldvermögen radikal und unwiderruflich zusammengestrichen wurden, was ja formal eine gewaltige Enteignungsmaßnahme darstellte. Gerade deshalb war sie jedoch auch so erfolgreich, da sie die Energien für den Wiederaufhau anstatt für Verteilungskämpfe entfesselte'. Dazu bedurfte es allerdings auch der Aufhebung von Bewirtschaftung und administrativer Preiskontrolle. Dies geschah im Zusammenhang mit der Wäh­ rungsreform durch das sogenannte .Leitsätzegesetz" vom 18. Juni 1948. Das Gesetz war das Werk von Ludwig Erhard, damals Direktor der bizonalen Verwaltung för Wirtschaft (VfW), der es auch gegen die Stimmen der SPD durch den Wtrtschaftsrat, das bizonale Parlament, brachte. Es war eine An Ermächtigungsgesetz, das den Direktor der VfW anhielt, wo immer möglich die Bewirtschaftung und den Preisstopp zu beseitigen. Erhard handelte schnell, und bereits Anfang Juli 1948 war die Marktsteuerung im größten Teil der gewerblichen Wtrtschaft Westdeutschlands wiederhergestellt.

ll. Das�rtseh�wund� Die allliene Währungs- und Erhards Bewirtschaftungsreform beendeten die Wachstumsträgheit in Westdeutschland und wirkten als Katalysatoren des •Wirtschaftswunders". Ein lang anhaltender Wachstumsboom begann. Erst nach 1973 reduzierten sich die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten des Sozialprodukts pro Kopf auf ein Niveau von unter zwei Prozent, das ver­ gleichbar ist mit den Wachstumsraten der Johrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg (siehe Schaubild). Erst seitdem kann man also erneut von einer Normalperiode kapitalistischen Wachstums in Deutschland sprechen. Triebkraft des außergewöhnlichen Wachstums der Periode bis Anfang der siebziger Jahre war zunächst die Nutzung der Arbeitskraft und Qualifikatio­ nen von Millionen Arbeitslosen und Unterbeschäftigten, darunter zahlreichen Vertriebenen und Flüchtlingen, indem diese auf einer ihren Fähigkeiten ent6

Siehe, auch für den folgenden Absatz, C. Buchheim, Die Errichtung der Bank deutscher Länder und die Währungsreform in Westdeutschlaod, in: Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Noteobank und Währung in Deutschlaod seit 1948, hrsg. von der Deutschen Bundesbank, München 1998, S. 91-138, hier S. 117-134.

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Quellen: W.G. Ho/fmann, Das Wachstum der deut>chen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1%5, S. 172-174, 453-455 (Deutschland: 1850-1913); A. Ritschl IM. Spoerer, D.. Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amrliehen Volkseinkn mmen.- und Sozialproduktstatistiken 1901-1995, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschlchre (19 ). 2, S. 27-54 (Deßator); Statistisches Reichsamt .. 0.. dentsche Volkseißkommen vor und nach dem 1, Kriege, Berlin 1932, S. 32, 60, 174 (Votsachtsommen: 1901-1913, 1925-1928); Statistisches Jahrbucli tür da. Deutsche Reich (1941/42), S. 9 (Bevölkerung: 1901-1937); Stati>ti>ches Handbuch von Deutschland 1928-1944, München 1949, S 18, 600 (Bevölkerung: 1938-1939, Volkseiukununen: 1929-1939); B. Gleitz.e, Die Wirtschaftsstruktur der Sowjetzone und ihre gegenw�en sozial- und wirtschaftsrechtlichen Tendenzen, Bonn 1951, S. 6 (Volkseinkommen: 1947-1949) ; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und WlrtScli.tt 1872-1972, Stuttgart 1972, S. 90 (Bevölkerung: 1947-1959); StaJistisches Bundesamt , (Hrsg.), VolkSWirtschaftliche Gesamtteclinungen. Revidierte Ergebnisse 1950 bis 1990 (Fachsetie 18, Reibe S. 15), Stuttgart 1991, S. 46 (Volkseiukununen: 1950-1988); Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik DeutsChland, 1996, S. 47, 641 (Bevölkerung: 1960-1990, Volkseiilkommen: 1989-1990); Stati>ti>ches ahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 2000, S. 44, 635 (Deflaror: 1991-1996, Bevölkerung: 1991-1998, Volkseiukommen: 1991-19%); Stati>ti>ches ohrbuch für die Bundesxepublik Deutschland, 2001, S. 44, 655 (Deßator: 1997-2000, Volkseiukommen: 1997-2000, Bevölkerung: 1999); Institut der deutschen irtschaft Köln (Hrsg.), Zablen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Köln 2001, S. 7 (Bevölkerung 2000).





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Vom W1rtSchaftswnnder zur Krise des Wohlfahrtsstaats in (West-)Deutschland

365

sprechenden Position in den Produktionsprozeß wieder eingegliedert wurden. Das war nur möglich durch gewaltige Investitionen, nicht zuletzt in den Woh­ nungsbau der zerbombten Städte. Das beginnende Wachstum ermöglichte die nochmalige Wanderung der Vertriebenen vom Land in die Ballungs- und Industriezentren, wo sie Arbeit fanden und zum Wiederaufhau beitragen konnten'. Dementsprechend erreichte die Investitionsquote bereits in den fünfziger Jahren eine in Deutschland bis dahin nicht erlebte Höhe'. Anfang der sechziger Jahre war Vollbeschäftigung, ja Überbeschäftigung erreicht. Damit war das frei zur Verfügung stehende Fähigkeitspotential der Menschen erschöpft, zumal durch den Mauerbau 1961 auch der Strom von qualifizierten Flüchtlingen aus der DDR versiegte. Jedoch erhöhte sich der gesamtwirtschaftliche Kapitalstock jetzt noch schneller, und die Investitionsquote stieg weiter an'. Das Wachstum des Sozial­ produkts pro Kopf blieb mit im Mittel3 ;>% auch in den sechziger Jahren weit überdurchschnittlich. Denn andere Triebkräfte wirkten weiter. Dies waren die Abwanderung aus der Landwirtschaft in die produktiver arbeitende Industrie sowie das gewaltige Reservoir an produktivitätssteigernden Technologien, das von den USA auf dem Weg der Imitation übernommen werden konnte. Die Produktivitätsdifferenz der verarbeitenden Industrie zwischen Westdeutschland und den USA hatte sich in den fünfziger Jahren lediglich von etwas über 60 auf rund 50 Prozent (gemessen am Produktivitätsniveau der Vereinigten Staa­ ten) verringert". Das .Golden Age of Economic Growth" dauerte demnach fort- in der Bundesrepublik und in ganz Westeuropa11• Dies war allerdings nur möglich, weil die wirtschaftlichen Rahmenbedin­ gungen stimmten. Denn bereits in den zwanziger Jahren hatte eine enorme Produktivitätslücke zu den USA bestanden, ohne daß dies in Westeuropa zu einem Wachstumsboom geführt hätte. Der Unterschied beider Epochen lag in ökonomischer Hinsicht vor allem in der Weltwirtschaftsordnung. In der Zwi­ schenkriegsperiode herrschte Hochprotektionismus, so daß der Außenhandel 7

Vgl. G. Ambrosius, Der Beitrag der Vertriebenen und Flüchtlinge

zum

Wachs­

rum der westdeutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jabrbuch

für

Wirtschaftsgeschichte (1996), 2, S. 39-71. ' Vgl. R Metz, Säkulare Trends der deutschen Wirtschaft, in: M. North (Hrsg.), Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jabttausend im Überblick, München 2000, S. 421474, hier S. 460 f. '

Ebd.

10

Vgl. S.N. Broadberry, The Productivity Race. British Manufacturing in Interna­ tional Perspective, 1850-1990, Cambridge 1997, S. 36. 11

N.F.R Cra/ts, The GoldenAge ofEconomic Growth in WesternEurope, 19501973, in: Economic History Review, 48 (1995), S. 429-447; ders., The Great Boom: 1950-73, in: M.-S. Schulze (Hrsg.), WesternEurope.Economic and Social Change since 1945, London 1999, S. 42-62.

Christoph Buchheim

366

nicht als Motor des Wachstums wirken konnte. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Protektionismus und Bilateralismus in der westlichen Welt unter tatkräftiger amerikanischer Führung jedoch rasch abgebaut. Marksteine auf diesem Weg waren der Marshallplan, das GATI (General Agreement on Tariffs and Trade), der Internationale Währungsfonds (IWF) und auch die europäische Integration". Besonders wichtig war zunächst der Marshallplan. Davon abgesehen, daß es durch ihn für Westdeutschland möglich wurde, wichtige Importe aus dem Dollarraum zu finanzieren und die DM-Gegenwertmittel, die als Bezahlung für diese Einfuhren von den deutschen Importeuren aufgebracht wurden, als Kredite an Engpaßbereiche zu vergeben, erfüllte er nämlich eine dritte Funktion, die häufig nicht wahrgenommen wurde, jedoch von ganz entschei­ dender Bedeutung war. Denn das amerikanische Gesetz, das die Grundlage des Marshallplans darstellte, forderte von den europäischen Empfängerländern der Marshallplan-Hilfe Schritte zu engerer Kooperation, die in einer eigenen Organisation institutionalisiert werden sollte. Dies wurde die 1948 gegröndete "Organization for European Economic Coupetation" (OEEC), die Vorläufetin der OECD (.Organization for Economic Cooperation and Development"). Diese Organisation war es, durch die faktisch, begleitet von nicht nachlas­ sendem amerikanischen Druck, der Handel und Zahlungsverkehr innerhalb Westeuropas liberalisiert und multilateralisiert wurden. Instrumente dazu waren die schrittweise Befreiung des inttaeuropäischen Außenhandels von Einfuhrquoten sowie die Errichtung der Europäischen Zahlungsunion (EZU) als Unterorganisation der OEEC, in deren Rahmen ein multilaterales Ver­ rechnungssystem für den westeuropäischen Zahlungsverkehr installiert wurde, was dann auch die allmähliche Heranführung der europäischen Währungen an die Dollar-Konvertibilität ermöglichte. Auf diese Weise gelang es, in den westeuropäischen Wirtschaftsbeziehungen Preise und Märkte an die Stelle von staatlicher Regulierung und intergouvernementalen Verhandlungsprozessen zu setzen. Erst daran anknüpfend konnte durch die Integration Westeuropas in ein weltweites Handelsgeflecht ein wirkliches Weltwirtschaftssystem errichtet werden, dessen Sicherung und weiteren Ausbau dann das GATI und der IWF übernahmen". Die Ausnutzung der Wachstumsspielräume, die sich durch die schrittweise Schließung der Produktivitätslücke zu den USA ergaben, bedurfte einer Nach­ fragekomponente, die die Auslastung des zunehmenden Produktionspotentials immer erneut sicherstellte. Dies waren die Exporte, und zwar vor allem die Ausfuhren von Industriegütern in andere Industrieländer, die sich aufgrund 12

Vgl. B. Eichengreen (Hrsg.), Europe's Post-War Recovery, Camhridge 1995.

" Siehe ebd., sowie C. Buchheim, Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Wdtwirtschaft 1945-1958, München 1990.

Vom W1rtSchaftswnnder zur Krise des Wohlfahrtsstaats in (West-)Deutschland

367

der Liberalisierung des Welthandels besonders dynamisch entwickelten. Dieser sogenannte .intraindustrielle" Handel ist nämlich seit dem Zweiten Weltkrieg das am schnellsten zunelnnende Segment des Welthandels. Dadurch eröffneten sich für die Industrien aller beteiligten hochentwickelten Länder im Prinzip weltweite Märkte, die sie mit ihren jeweils spezifischen Produktlinien bedien­ ten. Gleichzeitig stachelte die allseitige Konkurrenz die Unternelnnen zu steter Investitionstätigkeit an, die zur raschen Umsetzung des in neuen Anlagen inkorporierten technischen Fortschritts und damit zu hohen Wachstumsraten, nicht zuletzt wieder der Exporte, beitrug. Mit Fug und Recht werden daher die Exporte als die entscheidende Wachstumsmaschine im .Golden Age" angesehen, und man spricht mit Blick auf diesen Zusammenhang von export­ geleitetem Wachstum (.export-led growth")14• Die Bundesrepublik, aber auch Italien profitierten davon ganz besonders. Ihre Exportquoten, das ist der Anteil der Ausfuhren am Sozialprodukt, stiegen schnelP'. Ihr Wtrtschaftswunder war daher nicht zuletzt ein .Exportwunder".

m. Positive soziale und politische Konsequenzen des Wachstumsbooms Die wichtigsten sozialen Errungenschaften des Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik waren der bereits erwähnte schnelle Rückgang der Arbeitslo­ sigkeit sowie der enorme Anstieg des Lebensstandards der Masse der Bevöl­ kerung. Letzteres läßt sich beispielsweise an den durchschnittlichen realen Wochenverdiensten (brutto) von Industriearbeitern zeigen16: In der gesamten Zwischenkriegszeit hatten diese in einzelnen Jahren höchstens um etwa zwan­ zig Prozent über ihrem Niveau von 1913 gelegen. Auch 1950 überschritten sie diesen Stand nur wenig. Bis 1960 erhöhten sie sich dann aber kräftig um zwei Drittel, und Anfang der siebziger Jahre erreichten sie das Dreifache ihres Standes von 1950. Steigende Einkommen gehen einher mit einem Rückgang des Anteils der Nahrungsmittelaufwendungen an den Gesamtausgaben von Haushalten. Diese Gesetzmäßigkeit läßt sich für Westdeutschland sehr gut demonstrieren. Während noch 1950 ein repräsentativer Arbeitnehmerhaushalt gut die Hälfte seiner Ausgaben für Lebensmittel aufwandte- 1913 und in der gesamten Zwischenkriegszeit war es in etwa der gleiche Prozentsatz gewesen -,

14 L. Lind/ar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprospetität, Tübingen 1997. " Zwischen 1950 und 1973 erhöhte sich dieExportquote in der Bundesrepublik von 8 auf 19, in Italien von 9 auf 16%; Deutsche Bundesbank (Hssg.), 40 Jahre Deut­ sche Mark. Monetäre Statistiken 1948-1987, Frankfurt a.M. 1988, S. 4 f.; Statistisches Jahsbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1953, S. 412 f., 70*, 139*; ebd., 1976, s.

649, 681, 693. 16

Vgl. Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1990, S. 502, 548.

Christoph Buchheim

368

war der Anteil 1973 auf rund 30% gefallen17• Innerhalb der Nahrungsmittel ging der Verbrauch sogenannter .inferiorer" Güter stark zurück. So sank der Haushaltskonsum an Kattoffeln im genannten Zeitraum von 500 auf nur noch 160 kg im Jahr. Auf der anderen Seite stieg derjenige von Fleisch und Wurst von knapp 90 auf über 160 kg an". Die zunehmenden Wochenverdienste gingen einher mit einer Verminderung der Arbeitszeit. Die 5-Tage-Woche wurde im Lauf der fünfziger und sechziger Jahre in vielen Branchen eingeführt. Die durchschnittliche tarifliche Wochen­ arbeitszeit in der Industrie verringette sich zwischen 1950 und Anfang der siebziger Jahre von 48 auf unter 41 Stunden. Mit dem Bundesurlaubsgesetz von 1963 wurde die Mindestdauer des bezahlten Jahresurlaubs auf 15 Werktage festgesetzt. Jedoch bereits zehn Jahre später belief sich der tarifliche Urlaubsan­ spruch im Mittel auf 23 Tage19• Mit dem Anstieg von Einkommen und Freizeit begann in der Bundesrepublik eine Reisewelle sondergleichen. 1972!73 machte mehr als die Hälfte der Bevölkerung eine zumindest einwöchige Ferienreise, und hiervon wiederum mehr als die Hälfte verbrachte diesen Urlaub im Ausland20• Letzteres war deutlich sichtbar in der Reiseverkehrsbilanz- einer Unterbilanz der Zahlungsbilanz-, in der 1973 ein Loch in Höhe von 11 Milliarden DM klaffte. 1%0 hatte dieses Defizit hingegen noch nicht einmal eine Milliarde Mark betragen. Es wurde gedeckt von einem Teil des Exportüberschusses, der sich 1973 auf 41 Milliarden DM belief". Ganz offensichtlich nutzten die Deutschen die völlig freie Konvertierbarkeit ihrer Währung, hatten sie doch genau dies in der Zeit der Devisenbewirtschaftung von 1931 bis 1956/58 nicht tun können. Und es weitete sich ihr Horizont, die große Mehrheit der Deutschen wurde offener für fremde Länder und fremde Kulturen.

Im Zuge der beschriebenen Entwicklung kam es zum .Abschied von der Proletarität"22, die Klassengegensätze schwanden, eine Arbeitnehmer- und 17 Vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1955, S. 497; ebd. 1974, S. 486 f.; G. Hohorst u.a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870-1914, München 1975, S. 112-114; StatistischesJahrbuch für das Deutsche Reich 1930, S. 342; ebd., 1941/42, S. 448. 18 Vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschlaod 1955, S. 498 f.; ebd., 1974, S. 488. 19 Vgl. K Maase, Freizeit, in: W. Benz (Hrsg.), Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3: Kulrur, Frankfurt a.M 1989, S. 345-383, hier S. 356; J. Frerich IM. Frey, Haodbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 3: Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Herstellung der Deutscheo Einheit, 2. Auf!., Müncheo 19%, S. 110. 2o 21 22

Vgl. K. Maase, Freizeit, S. 358. Vgl. Deutsche Bundesbank (Hrsg.), 40 Jahre Deutsche Mark, S. 254, 258. Vgl. M. Wildt, Privater Konsum in Westdeutschland in den 50er Jahreo,

A. Schildt I A. Sywottek (Hrsg.), Modenrisierung

in:

im Wiederaufbau. Die westdeutsche

Gesellschaft der 50er Jahre, 2. Auf!., Bonn 1998, S. 287-289.

Vom W1rtSchaftswnnder zur Krise des Wohlfahrtsstaats in (West-)Deutschland

369

Konsmngesellschaft entstand, in die auch die große Zahl der Vertriebenen und Flüchelinge relativ reibungslos eingegliedert werden konnte. Letzteres zeigte sich etwa am Stinunenanteil, den der ,Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE), ein Sammelbecken der Vertriebenen, bei verschiedenen Wahlen erzielte. Dieser sank von im Durchschnitt 7,7% bei den Landtagswahlen 1949-1951 auf nur noch 2,5 Prozent bei denen der Jahre 1961-1965". Ebenso kann es wohl als ein Resultat der enormen Steigerung des Lebensstandards und der Herausbildung der Mittelstandsgesellschaft angesehen werden, daß die SPD nach drei verlorenen Bundestagswahlen im Godesberger Programm von 1959 dem Sozialismus abschwor, sich auf den Boden der existierenden Marktwirtschaftsordnung stellte und sich dadurch neue W ählerreservoire erscbloß. Es war, wie in der Literatur häufig festgestellt, jedoch noch nicht im einzelnen untersucht, die erfolgreiche wittschaftliche Entwicklung, die in der Bundesrepublik die demokratische politische Kultur festigte und dem liberalen Wirtschaftssystem eine positive öffentliche Meinung bescherte. An beidem konnte bisher selbst die Wiederkehr hoher Arbeitslosigkeit nichts Grundsätz­ liches ändern, was wohl zu den markantesten Unterschieden im Vergleich zur Weimarer Republik gehört.

IY. Soziale Marktwirtschaft und WohHahrtsstaat Es ist ein weit verbreiteter lrrtmn zu glauben, die deutsche Wirtschafts­ ordnung der Sozialen Marktwittschaft sei als eine Marktwittschaft ntit einer gehörigen Portion sozialer Wohltaten gedacht gewesen. Die zeitgenössischen Protagonisten dieses Konzepts verstanden unter .Sozialer Marktwirtschaft" vielmehr eine Wertbewerbswirtschaft, die vom Staat gegen die jeder Laisser­ faire-Wirtschaft innewohnende Tendenz zur Aushebelung des Wettbewerbs geschützt würde. So gesehen ist der Wettbewerb, wie Franz Böbm das bereits 1937 formulierte, ,eine öffentlich-rechtliche Veranstaltung ..., die vom Staat zum Behuf der Ordnung der Märkte eingesetzt wird"24, und zwar gegen die Kartellierungs- und Vermachtungstendenzen der untemehmerischen Wirtschaft, die gerade in Deutschland bis 1945 besonders stark ausgeprägt waren. Vor allem die amerikanische Besatzungsmacht setzte nach dem Krieg viele wesentliche Elemente der Sozialen Marktwirtschaft durch- oft gegen binhalten­ den deutschen Widerstand- und orientierte sich dabei vor allem am heintischen Modell. Dabei spielte in der Tat die Sicherung des Wettbewerbs nach innen

" Vgl. H. Grebing, Die Parteieo, in: W. Benz (Hrsg.), Geschichte der Bundesre­ publik Deutschland, Bd. 1: Politik, Frankfurt a.M. 1989, S. 71-150, besonders S. 95-97, 137 f. F. Böhm, Die Ordnung der Wmschaft als geschichdiche Aufgabe und rechts­ 24 schöpferische Leistung, Sruttgart 1937, S. 186.

Christoph Buchheim

370

und außen eine zentrale Rolle. Während letztetes, wie beschrieben, mithilfe det an die Marshallplan-Hilfe geknüpften Bedingungen für Westdeutschland im Gleichschritt mit Westeuropa durchgesetzt worden ist, war ersteres, d.h. Dekaneliierung und Entflechtung det deutschen Industrie, bereits ein nicht unwichtiges Kriegsziel det USA. Nach amerikanischer Meinung mußte dies schon deshalb sein, um das Aggressionspotential Deutschlands dauerhaft zu vetringern. Daher fand es auch Eingang in das Potsdamer Protokoll und wurde 1947 durch Militärregietungsgesetze in den drei Westzonen umgeseuf'. Erst 1957 wurden diese Regelungen durch das .Gesetz gegen Wettbewetbs­ beschränkungen" abgelöst, das am Kartellverbot prinzipiell festbielt, obwohl dies vom Bundesvetband der Deutschen Industrie und von großen Teilen der Unionsparteien heftig bekämpft worden war. Man kann kaum bezweifeln, daß das so nicht gelungen wäre, hätten nicht die allöerten, auf Dtängen det USA zustande gekommenen Kartellvetbote noch Bestand gehabt". Auch ein weiteret Ffeiler der Sozialen Marktwirtschaft, nämlich die Unab­ hängigkeit (und dezenttale Organisation) det Zentralbank, geht auf ein amerika­ nisches Diktat zurück. Denn die 1948 gegründete Bank deutschet Ländet (BdL), Vorgängetin det Deutschen Bundesbank, wurde wesentlich nach amerikani­ schen Vorgaben gestaltet. Deutsche Experten und vor allem deutsche Politiker akzeptietten das Prinzip det Weisungsungebundenheit der Notenbank lange nicht, weshalb sich die Ablösung det BdL durch die durch deutsches Gesetz geschaffene Deutsche Bundesbank ebenfalls bis 1957 verzögerte. Letztlich setzte sich das Prinzip jedoch durch, woran die stabilitätsbewußte und gerade deshalb von der Öffentlichkeit stark untetsrützte Geldpolitik det politisch unabhängigen BdL den entscheidenden Anteil hatte. Auch hier entwickelte also ein von den Amerikanetn durchgesel2tes Ptäzedens positive langfristige Wttkungen, die sogar noch die Struktur der Europäischen Zentralbank besrinunten27• Detnnach kommt man kaum umhin fesl2ustellen, daß die Soziale Marktwirt­ schaft der Bundesrepublik zahlreiche Züge der amerikanischen Wtrtschaftsord­ nung trägt, was nach dem Beschriebenen auch nicht weiter verwundett. Die Soziale Marktwirtschaft stellt dahet einen wichtigen Aspekt der Amerikanisie­ rung Westdeutschlands dar. Und ebenso wenig wie ein ausgebauter Wohlfahrts­ staat zu den Charaktetistika des ametikanischen sozioökonomischen Systems gehört, war dieset ein Bestandteil des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft, .v Vgl. R.U. Gramer, Von der Entflechtung zur Rekonzentration. Das unein­ heitliche Vermächtnis der wirtschaftlichen Umgestaltung, in: D. Junker (Hrsg.), USA und Deutschland, Bd. 1, S. 448-456; J. Scherner, Dekartellierung, in: W. Benz (Hrsg.), Deutschland unter alllierter Besatzuug 1945-1949/55, Berlin 1999, S. 336-338. 26

Vgl.

V. Bergbahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt

a.M. 1985, S. 152-179.

Vgl. C. Buchheim, Die Unabhängigkeit der Bundesbank. Folge eioes amerika­ :n nischen Oktrois?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 49 (2001), S. 1-30.

Vom W1rtSchaftswnnder zur Krise des Wohlfahrtsstaats in (West-)Deutschland

371

wie es die ordoliberalen Ökonomen ursprünglich propagierten. Dies macht das folgende Zitat von Wtlhelm Röpke, eines der führenden Ordoliberalen, auf drastische Weise deutlich": .,Die staatlich organisierte Massenfürsorge ist eben nichts anderes als die Prothese einer durch Protektionismus verkrüppdten Gesellschaft, ein Notbehdf, berechnet auf die wirtschaftlich-moralische Unmündigkeit der aus dem Zerfall der alten Gesellschaft entstandenen Schichten . . . Das Schwerbegreifliche ist es, daß erst jetzt, nachdem seine Veranstaltungen an Dringlichkeit abgenommen haben, der Wohlfahrtsstaat aufs Üppigste ins Kraut schießt".

Röpke schrieb das 1957/58, also genau zu der Zeit, als in der Bundesre­ publik die Renten dynamisiert und endgültig auf das Umlageverfahren umge­ stellt wurden, was uns heute angesicbts des demographischen Wandcis zuneh­ mend größere Sorgen bereitet. Doch war damit das Ende der sozialstaatlieben Wohltaten noch lange nicht erreicht. Beispidsweise wurde ebenfalls 1957 die Altershilfe für sdbständige Landwirte eingeführt. Seit 1960 gibt es das Wohngdd. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre wurde die allge­ meine Ausbildungsförderung eingeführt, 1985 das Erziehungsgdd und 1995 die Pflegeversicherung''. Die Entwicklung der Sozialausgaben insgesamt zeigt die Tabelle auf Seite 372. Von 1950 bis 2000 erhöhten sieb die realen Wochenlöhne auf das Vier­ fache" - bis 1973 hatten sie sich bereits verdreifacht, was noch einmal den Unterschied zwischen dem Wachstumsboom des Wirtschaftswunders und der Zeit danach deutlieb werden läßt. Die realen Sozialleisrungen je Einwohner stiegen in demsdben halben Jahrhundert jedoch, wie die Tabelle zeigt, auf gut das Elffache. Entgegen den Vorstellungen der Ordoliberalen, wonach entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip mit wachsendem privatem Wohl­ stand die öffentlichen Sozialleistungen pro Kopf hätten zurückgehen müssen, geschah dies nicht. Vielmehr wuchsen diese sogar fast dreimal so schnell wie die Einkommen. Hatte die Sozialquote - das ist der Anteil der Sozialausgaben am Sozialprodukt- 1950 rund ein Sechstd betragen, stieg diese bis 1970 auf ein Viertd an, obwohl die Ausgaben für die Kriegsopferversorgung, die in der unmittdbaren Nachkriegszeit einen sehr wichtigen Posten darstellten, rdativ stark an Bedeutung verloren. Gerade um die Wende zu den siebziger Jahren erhidt das Wachstum der Sozialleistungen durch die Regierung der sozial-liberalen Koalition aber noch

28 W. Röpke, Gefahren des Wohlfahrtsstaates; zitiert nach: K. Hobmann u.a. (Hrsg.), Grundtexte der Sozialen Marktwirtschaft, Bd. 2: Das Soziale in der Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart 1988, S. 255. " Siehe für alle genannten und weitere Sozialleistungen]. Frerich Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 3.

I M. Fre-y,

" Berechnet mit den Angaben aus: StatistischesJahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1990, S. 502; ebd., 2001, S. 584, 636.

372

Christoph Buchheim

Sozialbudget in Deutoddand 1950-2000 (Mrd. DM)*

1. Sozialausgaben gesamt darunter: a) Rentenversicherung b) Krankenversicherung c) Pflegeversicherung d) Unfallversicherung e) Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung f) Beamtenversorgung g) Lohnfortzahlung h) Kindergeld i) Erziehungsgeld j) Kriegsopferversorgung k) Wohngeld I) Jugendhilfe m) Sozialhilfe 2. Sozialausgaben je Einwohner in DM 3. Sozialausgaben je Einwohner, real (DM von 1995) 4. Sozialquote

1950

1970

1980

1990

16,8 3,9 2,5

169,2 51,8 25,2

449,8 141,6 88,8

0,6

3,9

9,4

673,8 1261,3 227,5 425,2 150,6 258,4 32,7 12,8 21,1

1,9 2,5 0,5 0,05

3,5 15,8 12,7 2,9

22,9 32,9 28,6 17,2

2,1 1,0

7,4 0,6 2,0 3,3

334 1.264 17,1



2000

13,3 2,0 8,4 13,3

51,4 44,0 39,3 14,5 4,6 12,8 3,9 13,4 29,1

127,1 65,5 49,1 62,0 7,2 9,8 8,4 33,2 50,3

2.774 7.416

7.295 11.003

10.573 12.366

15.355 14.418

25,1

30,6

27,8

31,8

* bis einscbließlich 1990 nur Westdeutschland. Quellen: Institut der deutschen Wirtschaft, Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, verschiedeue Jahrgänge; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 2001, S. 639; Internet: www.bma.de.

einmal einen Impuls. Versprach doch Bundeskaozler Willy Braodt in seiner Regierungserklärung 1969 runfassende Reformen sowie einen Ausbau der sozi­ alen Sicherung''. So kam es, daß die realen Sozialausgaben pro Kopf in jenem Jahrzehnt mit einer jährlichen Rate von vier Prozent weiter zunahmen, wohin­ gegen das Wachstum des realen Sozialproduktes pro Kopf auf durchschnittlich 2,6% absank. Die Folge war, daß die Sozialquote 1980 die Höhe von einem knappen Drittel erreichte. Obwohl die Abgabenquote sich von 1970 gut 34 auf 1980 gut 40% ehenfalls beträchtlich erhöhte, explodiette die Verschuldung der öffentlichen Haod förmlich von 126 Milliarden DM 1970 auf knapp 470 Milliarden 1980 und gut 670 Milliarden DM 1983. Die Schuldenquote stieg im gleichen Zeitraum von 18,6 über 31,6 auf 40,0%32•

" Vgl. H. U. Behn, Die Regierungserklärungen der Bundesrepublik Deutschlaud, München 1971, S. 205-235. " Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft, Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland 1988, Tabellen 1, 21, 39, 43.

Vom W1rtSchaftswnnder zur Krise des Wohlfahrtsstaats in (West-)Deutschland

373

Ex post betrachtet stellten die Jahre zwischen 1973/74 und 1983/84 ein Jahrzehnt der Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslogjgkeit und hoher Infla­ tion dar. Letztere war ein klarer Ausdruck dessen, daß man über seine Verhält­ nisse lebte. Im Jahr 1982 kam es denn auch zur bundesdeutschen Wende". Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff forderte in einem Papier, benannt .Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslogjgkeit", unter anderem eine Haushaltskonsolidierung und die Überprüfung der Finanzierbarkeit des Systems der sozialen Sicherung zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen". Dies führte zum Bruch der sozial-liberalen Koalition und zum Sturz der Regierung Helmut Schmidt durch ein konstruktives Mißtrauensvotum. Nach Bestätigung der neuen christlich-liberalen Koalition unter der Führung von Helmut Kohl durch die Wahlen im März 1983 gdang in der Tat eine Teilkonsolidierung. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik war in den achtziger Jahren das Wachstum der Sozialausgaben geringer als das des Sozialprodukts. Die Sozialquote sank wieder- auf unter 28% 1990-, bevor sie infolge der Wieder­ vereinigung und der hohen Sozialtransfers in die neuen Bundesländer erneut emporschnellte. •

Heute kann man wohl nicht, wie in den siebziger Jahren, von einer generellen Wirtschaftskrise sprechen, wohl aber von einer gravierenden Strukturkrise des Wohlfahrtsstaates - mit allerdings höchst negativen Wirkungen auf die wirt­ schaftliehe Entwicklung. Der Wohlfahrtsstaat unterminiert in mancher Hinsicht seine eigene Existenz. So ist es absehbar, daß die dynamisierten Renten mit dem bisherigen Umlagesystem nicht mehr finanzierbar sein werden. Die Wirtschaft wächst zwar nach wie vor, aber die Arbeitslosigkeit wird nicht absorbiert. Dies liegt nicht zuletzt am Fortfall der Niedriglohngruppen für wenig qualifizierte Arbeitnehmer durch eine sozial motivierte Tarifpolitik, an einem System sozia­ ler Transferleistungen an Arbeitslose, das die Anreize zur Arbeitsaufnahme entscheidend vermindert, sowie an einem aus sozialen Rücksichten heraus strikt gehandhabten Kündigungsschutz, der die Arbeitgeber bei Neueinstellungen vorsichtig agieren läßt. Jedoch gibt es als Folge der fortschreitenden europä­ ischen Integration zunehmend äußeren Druck in Richtung einer Anpassung des Wohlfahrtsstaats. Die gemeinsame Währung läßt die inflationäre Finanzierung von Sozialausgaben nicht mehr zu, der europäische Stabilitätspakt begrenzt die Verschuldung des Staates. Gleichzeitig steigt durch Binnenmarkt und Euro die Konkurrenz und erzwingt eine Verbesserung der Bedingungen für Produktion und Investition. Die Abgabenbdastung muß daher mittdfristig sinken, die Arbeitsmärkte müssen flexibler werden, wenn Deutschland gegen-

" Vgl. J. Seherner, Lambsdorff, Otto Graf, in: R. Vierhaus I L. Herbst (Hrsg.), Bio­ graphisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949-2002, Bd. I, München 2002, S. 479.

374

Christoph Buchheim

über seinen europäischen Partnern nicht weiter ins Hintertreffen geraten soll. Das alles aber bedeutet, daß die wohlfahrtsstaatliehen Leistungen an verschie­ denen Stellen gestutzt, die sozialstaatliehen Regulierungen zurückgefahren werden müssen.

Die italienische Wirtschaft 1948-1963 Von der Aufholjagd bis zum Ende des "Golden Age"* Von Giorgio Mori

I. nlt's a long way to lipperary ..." 1.

Das .Goldene Zeitalter": Definition, absolute und relative Zahlen, die italienische Sonderstellung

There is no special reason to doubt that underlying trends of gtowth in the early and middle 1970s will continue much as in the 1%0s . . . the growth objectives and the capacity of governments broadly to achieve them, have not altered s.ignificantly and no special influence can now be foreseen which would at all drastically change the extemal environment of the European economies«�. •

Kaum ein Jahr war seit dieser selbstsicheren Prognose vergangen, als mit der ersten Ölkrise ein traumatisches Ereignis eintrat, das durch das kurz zuvor besiegelte Ende des Systems von Bretton Woods noch verschärft wurde'. Noch im gleichenJahr mußte man anband der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukt pro Kopf' fast einhellig feststellen, daß eine Phase wirtschaftlichen Wachsrums *

Aus dem Italienischen von Petra Kaiser.

United Nations, Economic survey of Europe in 1971, Part 1: The European Economy from the 1950s to the 1970s, New York 1972, S. 125. 2 A. Glyn I A. Hughes I A. Lipietz I A. Singh, The Rise and Fall of the Golden Age, in: S A. Marglin IJ.B. Schor (Hrsg.), The GoldenAge of Capitalism, Oxford 1990, s. 101 f. .

' Dazu siehe N.FR Crafts, The GoldenAge ofEennomic growth in Western Europe 1950-1973, in: The Eennomic History Review, 48 (1995), S. 429447; G. Toniolo, Europe's Golden Age 1950-1973: Speculations from a Long-run Perspective, in: The Economic History Review, 51 (1998), S. 252-267; aber auchSA. Marglin I].B. Schor (Hrsg.), The Golden Age of Capitalism. Dieser seit langetn alJgetnein anerkannte Indikator birgt jedoch etliche grundlegende Berechnungs- und Homogenisierungsprobleme, die noch lange nicht gelöst und vielleicht auch unlösbar sind. Dazu siehe P. Hudson, History by Numbers. An Introduction to Quantitive Approaches, London 2000, hier S. 191-217. Kritisiert wird vor allem, daß es aufgrund seiner Ökonomistischen Sichtweiae nicht in der Lage ist, die komplexen Dynamiiren abzubilden, die die Wirtschaftsentwicklung beeinilussen. Daher war es auch kein Zufall, daß die UNO wegen der praktischen Bedeutung des Problems vor einigen Jahren eine Fachkommission einsetzte, zu der auch der zukünftige Nobelpreisträger Amartya Sen gehörte, um die Widersprüche,

Giorgio Mori

376

zu Ende gegangen war, wie es sie in der Geschichte des Alten Kontinents (aber

auch in der übrigen Welt, mit einigen auffälligen Ausnahmen wie Afrika, Süd­ amerika und einige kleinere asiatische Staaten)4 noch nie gegeben hatte und auch danach nicht wieder geben sollte; eine Phase, die im Jahr 1950 begonnen hatte, als nach allgemeiner Auffassung der Wiederaufbau nach dem Krieg beendet war. Von den Ökonomen der unterschiedlichsten "Schulen" wurde diese Phase, wenn auch mit abweichenden Interpretationen, als "golden age" bezeichnet - eine offenkundige Anspielung auf den etwas abgenutzten, aber deshalb nicht weniger überzeugenden griechischen Mythos. Zu Recht wurde dieser Begriff auch in der Sozial- und Politikgeschichte übernommen. Eine Koryphäe der Zunft, nicht gerade ein begeisteuer Anhänger des realen Kapita­ lismus, widmete ihm in seinem Meisterwerk "Das Zeitalter der Extreme" sogar ein Kapitel, das mit dem unmißverständlichen Abschnitt endet: .. Das Goldene Zeitalter ... hat die dramatischste, schnellste und tiefgreifendste Revolution in den menschlichen Beziehungen und im Verhalten des Menschen begonnen und weitgehend auch vollzogen, von der die Geschichte weiß"'. Fest steht jedenfalls, daß die Forschung auf diesem Gebiet wesentlich erleich­ tett wurde durch die "monströse" und oft geplünderte Bestandsaufnahme der Weltwirtschaft, die Maddison für den Zeitraum von 1000 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vorgelegt hat und in deren letzter Auflage (2001) er sich nicht scheute, sie als a millenium perspective"6 auszugeben, obwohl die Vorbehalte dagegen zum Teil bis heute mehr als gerechtfertigt sind. Es soll jedoch nicht unterschlagen werden, wie sehr die Untersuchungen zum "golden age" von seinen Vorarbeiten auf der Basis neuester ökonometrischer Verfahren profi­ tierten'. Außerdem kam es dadurch zu einer Belebung der zunächst verbissen, ..

offenen Fragen und möglichen Alternativen zu untersuchen. Daraus entstand ein Forschungsprogramm, das im Jahrbuch ..Human Development Report" veröffentlicht wurde. Darin wurde ein Human Development Index (HDI) vorgestellt, der aus den drei Faktoren Lebenserwartung, Bildungsniveau und BIP pro Kopf, gemessen in Kaufkraft, zusanunengesetzt wurde. Dazu F. Volpi, Art. Sviluppo economico, in: Enddopedia delle Scienze Sociali (künftig ESS), Bd. 8, 1998, S. 471-725. 4 Einen guten Überblick zu diesem Thema liefert A. Gauthier, L'economie mon­ diale depuis Ia fin du XIX siede, Paris 1995. Da die Literarur zu diesem Thema jedoch schier unbegrenzt ist, kann hier nur auf eine der vorhandenen Bibliographien verwiesen werden.

'

E.]. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München 1998, S. 362. A. Maddiron, The World Economy. A Millenial Perspective, Paris 2001. Siehe auch die vorherige Ausgabe: A. Maddison, Monitorlug the World Economy 18201992, Paris 1995. Zur neoklassischen Kritik dieser Arbeiten siehe B. Van Ark I N.F.R. Cra/ts (Hrsg.), Catch-up, Convergence and the Sources of Post-war Europeon Growth, '

Cambridge 19%, S. 12-14. 7 Diese Ansicht vertrat M. Abramowitz bereits 1986. Vgl. M. Abramowitz, Cat­ ching up, Forging ahead, and falling behind, in: The Journal of Econmnic History, 46 (1986), s. 386.

Die italienische Wutschaft 1948-1%3

377

später entspannt, aber keineswegs weniger intensiv geführten Diskussion über die dem vorherrschenden neoklassischen Modellper definitionem wesensglei­ che Konvergenztheorie, die sich einer noblen Herkunft erfreut' und von der These ausging, daß sich bei stationärer Wirtschaft in allen Volkswirtschaften ein ähnliches Einkommens- und Produktivitätsniveau einstellen würde'. Allerdings stellte sich bald heraus, daß sich das Goldene Zeitalter" in dieser Hinsicht als äußerst komplexes Phänomen erwies. Denn im Zeitraum von 1870 bis 1950 war- mit Ausnahme der großen Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren- der Abstand zwischen den Vereinigten Staaten, die inzwischen zur Weltmacht aufgestiegen waren, und Westeuropa stetig gewachsen und hatte 1950, auch aufgrund der unterschiedlichen Kriegsfolgen, seinen historischen Höchststand erreicht. Ab diesem Zeitpunkt kam es dann zu einer Trendwende, von der auch Italien herroffen war, wie die folgende Tabelle zeigt. •

Tabelle 1

Konvergenz des BIP pro Kopf in Westeuropa und Italien im Verhiilmis zu den Vereinigten Staaten (1820-1973) in US-$, 1990 USA

1820 1870 1900** 1913 1929** 1938** 1950 1958 1963 1973

Westeuropa *

Italien

absoluter Wert (1)

absoluter Wert (2)

%von USA (3)

absoluter Wert (4)

%von USA (5)

%von Westeuropa (6)

1.257 2.445 4.096 5.301 6.907 6.135 9.561 10.631 12.242 16.689

1.270 2.086 3.092 3.388 4.385 4.719 5.013 7.177 8.461 12.159

101 85,3 75;5 69,6 63;5 76,9 52,4 67;2 69,1 72,9

1.117 1.499 1.746 2.564 3.026 3.244 3.505 5.360 7.255 10.643

88,9 61,3 42,6 48,4 43,8 52,9 36,7 50,4 59,3 63,8

88 71,9 56;5 69;5 69 68,7 69,9 74,7 85,7 87;5

• 12 Länder: Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Westdeutschland, Italien, Holland, Norwegen, Schweden, Schweiz, Großbritannien.

** Aus A. Mßddison, Monitaring the World Economy. 1820-1992, Paris 1995, S. 224.

8 Spätestens seit A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Per­ spective, in: B.F. Hosefitz (Hrsg.), The Progress of Underdevdoped Areas, Chicago IL 1952, S. 2-29. Im Kern wurde diese These bereits 1791 von Alexander Hamilton in seinem "Report on Trade" vertreten und von Friedrich List in seinem Werk ,.,Outlines of american political economy", Pbiladdphia 1828, theoretisch verallgemeinert. Eine aktuelle ktitiscbe Aufarbeinmg des Themas findet sieb bei R Giannetti, Globalizzazione, crescita economica e convergenza (1870-1988), in: Rivista di Storia Economica (künftig RSE), 18 (2002), S. 193-216, mit einem Anbang von M. Velucchi. '

B. Van Ark I N.F.R Cra/ts (Hrsg.), Catcb-up, S. 17.

Giorgio Mori

378

In diesem Szenario sinkt das BIP pro Kopf in Italien im 19. J ohrhundert sowohl im Vergleich zu den USA als auch zu Westeuropa; von 1900 bis 1950 weicht es von beiden ab, holt aber im ersten Jahrzehnt auf. In den Jahren des .Goldenen Zeitalters" hat Italien bis 1963 im Vergleich zu den USA bereits 23 Punkte, im Vergleich zu Westeuropa 16 Punkte gut gemacht. Im folgen­ den Jahrzehnt verlangsamt sich das Wachsturn so stark, daß man nun davon ausgehen kann, daß das Ende des .Goldenen Zeitalters" in Italien nicht erst 1973, wie für Europa allgemein angenommen wird10, sondern bereits 1963 erreicht wurde". Im dritten Teil soll diese T hese belegt werden, einmal durch den Verweis auf nationale Besonderheiten, die die genannte Verlangsamung hinreichend erklären, zum anderen durch einen, wenn auch approximativen Vergleich im Lichte der .endogenous growtb tbeory", die zu ganz anderen Ergebnissen kommt als die neoklassischen Theorie".

2.

Eine historische und historiographische Lücke, die geschlossen werden muß

Ein wirkliches Verständnis dieser bemerkenswerten Phase in der Nationalge­ schichte erfordert jedoch einen kurzen, aber keineswegs fakultativen Einschub, um wenigsten in ökonomischer Hinsicht eine korrekte Beurteilung vornehmen zu können. Obwohl uns durchaus bewußt ist, daß bei Periodisierungen ein großer Spielraum zugestanden werden muß, sind wir doch fassungslos angesichts der Tatsache, daß unter Ökonomen und Soziologen, aber auch unter Histo­ rikern die Unsitte weit verbreitet ist, das Italien der Nachkriegszeit als reines Agrarland oder alleufalls als weitgehend agrarisches, kaum industrialisiertes Land vorzustellen". Diese Darstellung führt zu einer völligen Verkehrung der

10 N.F.R Cra/ts, The Golden Age, S. 429 . 11 Diese These ist nicht neu und wird seit längerem vertreten von M. Salvati, Economia e politica in Italia dal dopoguerra a oggi, Mailand 1984, S. 60-61, sowie V Castronovo, Economia e classi sociali, in: V.C. Torni (Hrsg.), L'Italia contemporanea. 1945-1975, Tutin 1976, S. 29. Zweifel daran hegen A. Graziani, Aspetti strutrurali dell'economia italiana nell'ultimo decennio, in: A. Graziani (Hrsg.), Crisi e ristruttura­ zione nell'economia italiana, Tucin 1975, S. 6-10; N. Rossi I G. Toniolo, Italy, in: N.F.R. Crafts I G. Toniolo, Economic Growth in Europe since 1945, Carnbridge 1996, S. 44. Über die Urspriinge der Entwicklung in den achtzigerJabren inuner noch emp­ 12 fehlenswert P.M. Romer, The Origins of Endoger10us Growth, in:Journal of Economic Perspectives, 8 (1994), S. 3-22. " Dazu siebe beispielsweise den Aufsatz eines Ökonomen wieM. Roccas, Problemi relativi alla impostazione di una politica commerciale a medio termine, in: G. Carli (Hrsg.), Sviluppo economico e strutture finanziarie in Italia, Bologna 1977, S. 430, oder eines Historikers wie P. Ginsborg, Storia d'Italia dal dopoguerra ad oggi, Tucin 1989, nach dessen Meinung .Italien Mitte der fünfzigerJahre in vieler Hinsiebt noch ein unterentwickeltes Land war . . Die Industrie war im wesentlichen auf die nord.

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Tatsachen, denn sie ignoriert, daß Italien bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine heftige Industrialisierungswelle erlebte- immerhin rangierte Italien 1913 mit Blick auf den absoluten Wert des Industriepotentials schon an 8., mit Blick auf die Pro-Kopf-Zahlen an 13. Stelle-, und degradiert diesen Zeitraum zu einem bedeutungslosen archäologischen Fundstück14• Dabei war dies eine entscheidende Phase, in der Italien - etwa zeitgleich mit Japan und Rußland - aus dem langanhaltenden Dunkel der Geschichte heraustrat und das Fundament legte15 für den zweiten, völlig unerwarteten Sprung nach vom, der den Strukturwandel zur Industriegesellschaft vollendete und schließlich ins .golden age" führte. 3.

Internationale Stabilisierung und Regierbarkeit im Inneren

Zwei grundlegende politische Gegebenheiten schufen die Voraussetzungen dafür, daß dieses Entwicklungspotential sich tatsächlich entfalten konnte. Bereits unmittelbar nach Kriegsende, während die Welt im Begriff war, sich in zwei gegeneinander abgeschottete, unversöhnliche Blöcke" zu spalten, blieb dem Land keine andere Wahl, als sich in das von den USA angeführte Lager einbinden zu lassen17• Das hinderte die an der Regierung beteiligten Linkspar­ teien jedoch nicht, auf ein Fortbestehen der .merkwürdigen Allianz " von USA westlichen Regionen beschräokt und verfügte in der komplexen Volkswirtschaft nur über ein relatives Gewicht", S. 283.

14 P Bairoch, International Industrialisation Levels from 1750 to 1980, in: The Journal of European Economic History, 11 (1982), S. 299. " Zu diesem Übergang verweise ich auf meinen Artikel "Un passage imprevisible. I.:Italie entre Ia fin du X!Xe e Je debut du X:Xe siecle, veritable miracle economique (1888-1907)", in: G. Chastagaret (Hrsg.), Crise espagoole et nouveau siecle en Medi­ terranee: politiques publiques et mutations structu:relles des economies dans l'Europe mediterraneentte, fin XIXe - debut Xxe siede, Actes du Colloque de la Casa de Velaz­ quez, Madrid 25.-27. Mai 1998, Madrid 2000.

1' .Die Entscheidungen der italienischen Wirtschaftspolitik wurden in ,Abhän­ gigkeit' von der internationalen Politik getroffen. Der Begriff ,Abhängigkeit' wird hier wertfrei verwendet und soll nur hervorheben, daß die italienische Wirtschaftspolitik auf bestimmte ,Verpflichnmgen' (oder besser ein System von Verpflichtungen) Rücksicht nehmen mußte. Diese ,Abhängigkeit' äußerte sich ... mehr oder weniger darin, daß das Land nicht bloß zu den ,Besiegten' gehörte, sondern weitgehend aus strategischen Gründen zu einer der beiden ,Einflußzonen' gehörte", P. Barucci, Ricostruzione, pia­ nificazione, Mezzogiomo, Bologna 1978, S. 31. 17 Die Literatur zu diesem Thema ist unübersehbar und noch lange nicht abge­ schlossen. Daher beschränke ich mich hier darauf, von den neueren Werken nur einen ausgewogenen, gut dokumentierten und überzeugenden Titel zu nennen: M. Leffler, A Preponderance of Power, Palo Alto CA 1992. Lefller ist der erste, der den Zusam­ menhang von ökonomischen Zielen und .national security" der größten Weltmacht herausarbeitet.

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und UdSSR zu setzen und noch im Dezetnber 1946 vorbchaldos detn Beitritt Italiens zum Abkommen von Bretton Woods zuzustimmen". Damit waren die Würfel gefallen, die Entscheidung für den Westen wurde unumkehrbar: Erst der Marshallplan, dann der Beitritt zum Adantischen Bündnis, so ging es Schritt für Schritt weiter, bis schließlich die gesamte Außenpolitik vom Westen diktiert wurde; und zwar um so entschiedener, je mehr sich der Konflikt zuspitzte, den der hervorragende Politologe Walter Lippmann bereits hellsichtig als .kalten Krieg" definiert hatte: Weder Krieg noch Frieden, dafür Rüstungswetdauf, Stellvertreterkriege in peripheren Gebieten mit kontrolliertetn Risiko für die Fühtungsmächte, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Innenpolitik der .abhängigen" Staaten. Der andere Umstand war der überwältigende Wahlsieg der DC vom 18. April 1948, der durch tatkräftige Unterstützung der katholischen Kirche und vielfältige, nicht selten mit Drohungen einhergehende Interventionen seitens der USA erzielt wurde". Eine größere Rolle spielte dabei jedoch, daß die DC es verstanden hatte, die antikommunistische Einstellung großer Bevölkerungs­ kreise aufzugreifen und für ihre Interessen zu nutzen. Unfreiwillige Schützen­ hilfe leistete dabei allerdings auch der politische Gegner, die Kommunistische und die Sozialistische Partei (PCI und PSI), weil sie den kommunistischen Staatsstreich in Prag begrüßten oder sogar enthusiastisch feierten, den Mar­ shallplan ablehnten und in der Frage der Zukunft von Triest eine verdächtig ambivalente Haltung einnalunen. Als die neue Regierung (das vierte Kabinett De Gasperi, an detn die Linksparteien wie in anderen westlichen Ländern zum erstenmal nicht mehr beteiligt waren) ihre Arbeit aufnalun, verfügte sie über eine komfortable parlamentarische Mehrheit, die eigentlich ein sorgloses Regieren erlaubt hätte, sah sich aber gleich mit einetn grundlegenden Probletn koufrontiert, das schon lange schwelte: einer galoppierenden Inflation, die im Frühjahr 1946 eingesetzt und im Sommer 1947 bereits dreisteilige Raten erreicht hatte'". Die Inflation mußte bekämpft werden, darin waren sich alle einig. Auch die amerikanischen Behörden forderten durchgreifende Maßnalunen, da sie

18 Protokolle des Ministerrates (Consiglio dei Ministti, künftig CM), VII, 2, Sit­ zung vom 30. Dezember 1946: Verabschiedung einer Gesetzesvorlsge über den Beitritt Italiens zu dem internationalen Abkommen von Bretton Woods; im Anhang findet sieb der Gesamttext, der die Organisation, ihre Funktionen und die Verpflichnmgen des Landes erläutette, S. 1119 und 1121-1131. Das Gesetz wurde dann am 23. März 1947 verkündet.

" F. Romero, Gli Stati Uniti e l'Italis: il Piano Marshall e il Patto Adantico, in: Storia dell'Italia repubblicana, Bd. 1: La costrozione della democrazia, Turin 1994, s. 257. 20 S. Ricossa, Inttoduzione, in: S. Ricossa I E. Tuccimei (Hrsg.), La Banca d'Italis e il risanamento post-bellico. 1945-1948, Bari 1992, S. 39. Italien hatte die höchste Infla­ tionsrate in Westeuropa. Siehe dazu United Nations-Department o/ Economic Affairs, A Survey of the Economic Situation and Prospect of Europe, Genf 1948, S. 79.

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angesichts der auf Null zusanunengeschmolzenen Devisenreserven21 sonst die Finanzhilfen zum Import dringend benötigter Lebensmittel und Rohstoffe verweigert hätten. In der Zwischenzeit harte die Inflation die Verschuldung der öffentlichenHaushalte von 70% desBIPimJahre 1938 auf20% im Jahre 1947 gesenkt". Für die Staatsfinanzen bedeutete das zwar eine spürbare Entlastung, doch zugleich wurden Hunderttausende von kleinen Sparern, die sich auf den staatlichen Schurz ihres Geldes verlassen harten, um ihre Ersparnisse gebracht und die Kaufkraft der Realeinkommen wurde ausgehöhlt". Eine bedrohliche Entwicklung, auf die wir nun ausführlicher eingehen wollen, um das Vorge­ hen der Regierung und die entsprechenden Resultate einschätzen zu können. Unter den gegebenen Bedingungen war es nur allzu verständlich, daß man den amtierenden Notenbankpräsidenten Luigi Einaudi zum Finanzminister- und stellvertretenden Ministerpräsident- ernannte, wobei er durch Ad-hoc-Dekret ermächtigt wurde, seinen Posten bei der Banca d'ltalia beizubehalten". Diese Entscheidung war richtungsweisend für einen möglichen Ausweg aus der Krise, und Einaudis fachlich ebenso brillante wie einschneidende Maßnahmen erzielten sofort durchgreifende Wirkung". Dennoch wird kein Experte, auch nicht die Befürwortet von Einaudis Vor­ gehen, in Abrede stellen, daß schon die beiden vorhergehenden Regierungen, an denen die Linksparteien noch beteiligt waren, alles hätten tun müssen, und dies 21 Dazu siehe die alannierende Einschätzung von P. Ba/fi, Studi sulla moneta, Mailand 1966, S. 189. Andererseits schrieb der italienische Botschafter in Washington Tarchiani an Sforza, daß von amerikanischer Seite angemerkt wurde, während die italienische Regierung über absoluten Devisenmangd jammere, seien die Dollargut­ haben italienischer Privatkunden bei amerikanischen Banken weit davon entfernt zu sinken, sondern vidmehr gestiegen. Offenbar bezweckten die Amerikaner damit, die italienische Regierung zu einer strengeren Devisenkontrolle zu nötigen Zitiert bei A. Giovagnoli, Le ptemesse della Ricostruzione, Mailand 1982, S. 434. •

•.

22

Istituto per gli studi di economia, Annuario della congiuntura economica italiana,

1938-1947 (künftig CEI), Florenz 1949, S. 504. "

Ebd., S. 131, 134.

CM, IX, 1, Sitzung vom 4. Juni 1947, S. 8. Menichella bdtidt den Posten des Generaldirektors der Banca d'Italia und übernahm damit die Funktion des Gouver­ neurs. 24

" Der Wechsellcurs Lira-Dollar wurde von 225 auf 589 angehoben, um das Kapiral aus dem Ausland zurückzuholen; die Preise för Brot und andere Grundnahrungsmittd sowie för einige Dienstleistungen wurden erhöht; eine Sondersteuer auf Vermögen wurde eingeführt, die zum großen Teil tatsächlich reiche Immobilienbesitzer traf; die Banken wurden aufgefordert, in Staatspapiere zu investieren, dem Schatzministerium oder der Banca d'Italia 20% aller Einlagen zu überweisen, die das zdmfache ihres Eigenkapitals überstiegen, sowie 40% der Einnalunesteigerung nach dem 10. Oktober; außerordentliche Vorauszaltlungen der Banca d'Italia an das Schatzministerium mußten durch Gesetz autorisiert werden; der offizielle Diskontsatz wurde sogar von 4 auf 5,J% erhöht. Siehe dazu V. Zamagni, Dalla periferia al centro. La seconda rinascita economica dell'Italia (1861-1990), Bologua 1993, S. 414.

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auch gekonnt hätten, um die Inflation zu stoppen. Ebenso wie - unabhängig davon - der Präsident der Banca d'Italia, dem durch ministerielle Verfügung vom 14. September 1944 die Aufsicht über die Kreditinstitute übertragen worden war''. Das heißt die Kontrolle über jene Kreise, die die Inflation erst richtig anheizten, denn bis zu diesem Zeitpunkt war die Inflation eher rückläu­ fig, weil mit dem Regierungserlaß vom 17. Mai 1946 die während des Krieges erlassene Vorschrift abgeschafft worden war, wonach die Finanzgesellschaften höchstens 6,3% der Gewinne auf das eingezahlte Kapital an ihre Aktionäre ausschütten durften. Mit massiver Unterstützung des Bankensystems27 wurden dadurch- auch wegen der Angst vor einer Währungsreform- die Börsenkurse angeheizt. Wie Paolo Baffi später ungewohnt kritisch ausführte, .forcierten die Banken den Preisauftrieb, indem sie Kredite zu einem Zinssatz von ca. 7,5% ,jährlich' vergaben, der noch unter der ,monatlichen' Inflationsrate lag"28• Zu diesem Zweck zogen sie ab Sommer 1946 Rücklagen bei der Banca d'Italia ab (deren Bestände von 141 Mio. im August 1946 auf 58 Mio. im Juli 1947 zusammenschmolzen) und verwendeten sie in großem Umfang dazu, die Spekulation an der Börse anzuheizen. Von April bis November 1946 stieg der Aktienindex von 337 auf 1.059 und erreichte im April 1947 mit 3.354 schwindelerregende Höhen". Von den Wertpapieren griff die Inflation rasch auf die Warenpreise über und beschleunigte sich unaufhaltsam, wobei die Regierung und die Banca d'Italia tatenlos zusahen. Zwar schrieb Einaudi im Dezember 1946 einen Brief an den Schatzminister und schlug dabei einige Maßnahmen vor, wie man die hemmungslose Politik der Banken einschränken könnte, aber offensichtlich wurde der Brief nie abgeschickt. In einem zweiten Schreiben wandte er sich direkt an die Banken mit dem .dringenden Appell, von ihrer Politik der leichtfertigen Kreditvergabe Abstand zu nehmen", was jedoch offensichtlich keinerlei Wttkung zeigte. Im Jahresbericht der Banca d'Italia vom 31. März 1947 räumte er ein, mehr habe er nicht tun können, schließlich sei er als ein­ gefleischter Liberaler der Ansicht, die Inflation hänge mit der ungebremsten Erhöhung der öffentlichen Ausgaben zusammen. Tatsächlich unternahm auch die Regierung nichts. Außer Pietro Nennis Aufforderung vom September 1946, 26 CM, III, Sitzung vom 1. September 1944, S. 185 und 207-208 (Art. 1 und 2). Sogar ein gutwilliger Kritiker erinnerte ihn daran, daß "er in der ersten Phase seiner Amtszeit mit seiner ganzen Autorität dafür eingetreten war, abzuwarten und nichts zu tun". B. Foa, Monetary reconstruction in Italy, New York 1949, S. 104. 27 CM, VI, 2, Sitzung vom 16. Mai 1946, S. 1160, 1199-1200. Eine Beschreibung der Operation sowie deren Folgen findet sich in CEI, S. 86-89. 28 Die Erinnenmgen von Baffi in: P. Ba/fi, ll primo anno di Menichella alla direzione della Banca d'Italia, in: Donato Menichella. Tesrimonianze e studi raccolti dalla Banca d'Italia, Rom I Bati 1986, S. 115. " CEI, S. 89.

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sich eingehender mit der Spekulation zu beschäftigen, geschah nichts; man diskutierte lang und breit über den wirtschaftlichen Verfall und verschleierte das Problem weitgehend durch improvisierte Maßnahmen wie die Erhöhung der Steuern auf Spitzeneinkommen, die Einfrierung der Löhne und die Senkung der Kredite für gemeinnützige Aufgaben". Erst Ende März 1947, angesichts einer Situation, die das Land inzwischen an den Rand des Ruins getrieben hatte, fühlte sich die Regierung schließlich bemüßigt, energischer aufzutreten. Tief besorgt diskutierte man in endlosen Sitzungen darüber, ob man die tägliche Brotration auf Lebensmittelmarken von 230 Gramm herabsetzen soll, wobei die Armen eventuell geschützt, der Preis aber erhöht werden sollte, um den Haushalt zu endasten". Schließlich verabschiedete das Kabinett arn 23. April einen Regierungserlaß über die Einrichtung eines ressortübergreifenden Aus­ schusses für den Schutz der Spareinlagen und die Regulierung des Kreditwesens, der sich vielleicht auf Drängen der Minister der Linken, aber auch einiger Christdemokraten (Vanoni, Carnpilli) vornahm, Einaudi von seiner Vorsicht" abzubringen und ihn zu einer anderen Politik zu bewegen. Im Übrigen war das Verhältnis zwischen den Parteien zu diesem Zeitpunkt ohnehin bereits derart zerrüttet, daß jede ernsthafte Diskussion zum Bruch der Koalition geführt hätte, der von De Gasperl schließlich im Frühjahr 1947 heraufbeschworen wurde" und bei den Unternehmerverbänden sowie in den USA natürlich auf große Zustimmung stieß. •

Nachdem die Linksparteien ausgeschaltet waren, konnte die neue Regie­ rung - das vierte Kabinett De Gasperl - in wenigen Wochen die Operation Einaudi durchführen, der nun keinen Augenblick mehr zögerte, den Banken die strengen Auflagen zu machen, die er zuvor noch für undenkbar gehalten hatte. Die Maßnahmen lösten große Unruhe aus, vor allem weil nicht nur die Arbeitszeit verkürzt wurde, sondern viele Fabriken sogar ganz geschlossen wurden, da nun seit Monaten geplante Endassungen in Kraft traten. In Mailand waren die Reaktionen so heftig, daß sich der Präfekt gezwungen sah, Vertreter der Carnera del Lavoro und des Industriellenverbandes zu einer gemeinsamen Sitzung einzuberufen, denn beide Verbände hatten ihn dazu aufgefordert, bei der Regierung Kredite zu beantragen, um viele kleine und mitdere Unternehmen vor dem Untergang zu retten. Die kommunistische Gewerkschaft CGIL schlug sogar vor, "mit den Industriellen ein Bündnis gegen die Politik von Einaudi zu schließen"". Derweil stieg die 1947 bereits rückläufige Zahl der Arbeits· " CM, VII, Sitzung vom 16. September 1946, S. 346-355; VIII, Kabinettssitzung vom 23. April 1947, S. 633-635. " CM, VIII, Sitzung vom 12. Mai 1947, S. 746. " CM, VIII, Sitzungvom 12.Mai 1947, S. 749.Amfolgenden Tagwurde das Ende der Regierung offiziell bekanntgegeben.

" S. Colarizzi, La seconda goerra mondiale e Ia Repubblica, Turin 19�, S. 524529; C. Daneo, La politica economica della Ricostruzione 1945-1949, Turin 1975.

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losen bis Ende 1948 erneut auf 2.160.000, während die Industrieproduktion (1938=100) 1947 zwar auf 93 gestiegen war, in den folgenden Monaten aber sank und ebenso wie die Investitionen erst im Frühjahr 1949 wieder die Quote von 100 erreichte''. Durchaus verständlich, daß ein eingefleischter Wtrtschaftsliberaler wie Ein­ audi die dramatischen Konjuukturzahlen als heilsames Wtrken der .unsichtbaren Hand" interpretierte und die allgemeine Empörung als ein Zeichen sah für .den unversöhnlichen Haß der Industriellen und der von diesen getäuschten Sparer ... [und für] .. . die Meinung der Arbeiter und Angestellten, ich sei ihr schlimmster Feind", wie er ein paar Monate später in einem leidvollen Brief an seinen Sohn Giulio schrieb". Ebenso verständlich ist allerdings, daß sich eine katholische Volkspartei wie die DC mit Einaudis Politik nicht identifizieren konnte, da sie .in einer raschen kapitalistischen Entwicklung den effizienten Weg sah, um die Armut zu bekämpfen und den Lebensstandard zu heben"". Außerdem war Einaudis langfristig angelegter Kurs nur schwer zu vereinbaren mit den keynesianischen Vorstellungen, die in gut informierten Parteikreisen seit geraumer Zeit kursierten. Derartige Meinungsverschiedenheiten traten seit September 1947 immer dann auf, wenn der Ministerrat kurzfristig umfang­ reiche Finanzspritzen zur Förderung der privaten und staatlichen Industrie beschloß, um die drückendsten Belastungen durch die restriktive Geldpolitik zu mildern". Einaudi bedauerte dies sogar öffentlich und tat dann alles, um ihre Durchführung zu verzögern, jedoch ohne Erfolg''. Dennoch läßt sich an

" Daten zur Arbeitslosigkeit: Rassegno di statistiche del lavoro, 1 (1949), 5, S. 534.Daten zur Industrieproduktion: G. Gualerni, Ricostruzione e industria, Mailand 1980, S. 66. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern kam die Industrieproduk­ tion wesentlich später wieder in Gang, dazu A.S. Milward, Reconstruction of Western Europe. 1945-1951, London 1984, S. 11. Zum Rückgang der Investitionen zwischen 1947 und 1950 siehe N. Rossi I A. Sorgato I G. Toniolo, I conti economici degli italiani: una ricostruzione statistica 1890-1990, in: RSE, 10 (1993), 1, S. 25. " Der Brief vom 12. April 1948 wird zitiert bei R. Faucd, Einaudi, Turin 1986, S.377. .36 A. Giovagnoli, Le premesse della Ricostruzione, S. 449. " Dazu gehörte auch die Gründung des FIM (Fondo per il linanziamento delle industrie meccaniche), dem 40 Mrd. Lire zur Verfügung gestellt wurden; Zuschüsse an die süditalienischen Bauken zur Industrieförderung bis zu 10 Mrd; 20 Mrd. für Klein­ und Mittelbetriebe; ein Kredit der Ex-Import-Bauk über 100 Mio. Dollar für die IRI und zugunsren der großen Privatunternehmen. Zu dieseilerzten siehe M. Doria, Note sull'industrializzazione meccanica italiana nella Ricostruzione, in: RSE, 4 (1987), S. 35M 75; G. Raimondi, La Confederazione Generale dell'industria italiana, in: F. Peschieri, Sindacato, lndustria e Stato nel dopognerra, Florenz 1976, S. 309; zum Darlehen der Ex-Import-Bank siehe M. Salvati, Stato e industria nella ricostruzione, Mailand 1982, S. 302, 305; zur IRI G. Be/la, I:IRI nel dopoguerra, Rom 1985, S. 219. " Zu seinen ebenso eleganten wie polemischen .Äußerungen" siehe drei Artikel aus dem .Corriere della Sera" vom 19.und 26. Oktober sowie vom 9. Dezember 1947,

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der taciteischen Prosa der Protokolle ablesen, daß man die stürmischen Pro­ teste im Land durchaus zur Kenntnis nahm, sich zu Änderungen jedoch nicht bereit fand, obwohl man der tnit Verve vorgetragenen Position des Finanz­ tninisters im Ansatz eigentlich ablehnend gegenüberstand. Datnit bahnte sich eine strategische Auseinandersetzung an, die schließlich eine Wende in der Wirtschaftspolitik herbeiführte, welche dann sowohl das "Wmschaftswunder" einläutete als auch das frühzeitige Endes des .Goldenen Zeitalters" bewirkte, wovon bereits die Rede war". Deshalb ist es hier angebracht, Profil, Umfang und Ziele jener nicht immer kompakten gegnerischen Lager zu skizzieren, die bei dieser Auseinandersetzung die Hauptrolle spielten. Auf der einen Seite sammelten sich all jene, die aus durchsichtigen, wenn auch nicht explizit genannten Gründen der Auffassung anhingen, die Industrie sei der Ausbund allen Übels und müsse bekämpft werden40• Neben den Großgrundbesitzern gehörten dazu auch viele konser­ vative Kräfte, die sich - in unvereinbarem Widerspruch dazu - die Zukunft des Landes auf der Grundlage mittlerer und kleiner Betriebe vorstellten, was sie jedoch nicht daran hinderte, die unmäßigen Forderungen der Großgrund­ besitzer nach protektionistischen Maßnahmen zu unterstützen; unter diesen abgedruckt in: L. Einaudi, ll buongoverno, Bari 1955, S. 335-354. Er leistete erbitteneo Widerstand gegen diese unverantwortliche Ausgabenpolitik und versuchte auch in den Kabinettssitzungen seine p rivilegierte Position zu nutzen, um dem entgegenzuwirken; CM, IX, Sitzung vom 6. September 1947, S. 737-738, 742-743 (mit Anhang); CM, IX, Sitzungvom 14. November 1947, S. 1138-1185; CM,IX, Sitzung vom 25. Novem ber 1947, S. 1228, 1237-1241, wo Einaudis Einflußnahme wiederholt eindeutig zu Tage tritt. " Siehe oben, S. 381-383. 4° Ihre Genese kann bis auf die industriefeindliche Haltung katholischer wie libe­ raler Kreise im 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden. In Luigi Einaudi fand sie einen noblen Exponeoten. Dazu siehe seine leidenschaftliche und .unvorsichtige" Rezension des damals berühmteo Buches von W Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwatt, Erlenbach I Zürich 1942. Im gleichen Jahr erschien die Rezension in der .Rivista di Storia Economica", die Einaudi im Jahr 1936 als erste wittschaftswissenschaftliche Fachzeitschrift in Italien gegrüodet hatte. Dario schildett er seinen Besuch in .einer riesigen neuen Industrieanlage bei Chicago" im Jahre 1926. Aus diesen Zeilen spricht seine Vertrautheit mit den "dark satanic mills" und der Vorstellungswelt eines William Blake: .Bei Sonnenuntergang leuchteten die großen Fenster der Fabrik, und in der Feme sah man Wolken aus den hoch aufragenden Schornsteinen des quahnenden, dröhneoden Ungeheuers aufsteigeo. Furchterregend hoben sich flanunendes Rot und rußiges Schwarz von der untergehenden Sonne ab. Spontan riefen mein Freund und ich: Das irdische Abbild von Dantes Hölle!". Und er schloß mit der feierlichen Erklä­ rung: .klassifizieren und etikettieren wir also nicht denjenigen, der Etiketten, Schulen und Mythen verschmäht und im klassischen Kap italismus und im Kommunismus den schlimmsten ureigeneo Ausdruck des 19. Jahrhunderts erkeunt: die Verherrlichung des Großen, Kolossalen, der Maschine und der Technik, der geringen Kosten, des kollektiven Guten, das zu einem Lebensideal wird, zum Ideal eines Lebens, das uns Menschen auf einen Ameisen- und Tennitenhaufen reduziert", in: RSE, 7 (1942), S. 71-72.

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Kräften waren viele Kleinbauern, die unter der Ägide der DC von Paolo Bottomi in der Federazione dei coltivatori diretti organisien wurden, ferner führende Industrielle wie Angelo Costa, Präsident des Unterneluuerverbandes Confindustria, der bereits 1946 behauptet hatte, daß "es für das Land nicht gut ist, die Industrialisierung noch weiter voranzutreiben"; und führende Politiker wie De Gasperi, über den der katholische Intellektuelle Acbille Ardigo später schrieb: "Weil er an der Schwelle ,der Vergesellschaftung', an der Schwelle zur modernen Großindustrie stehengeblieben ist, fehlte ihm das Verständnis dafür, daß der ntit der Industrialisierung einhergebende soziale Wandel notwendiger­ weise zwei unterschiedliebe polirische Positionen hervorbringt"". Auf der Gegenseite tummelten sieb die Heerscharen kleiner und ntitt­ lerer Industrieller, die das Wiedererwachen der animal spirits verspünen, insbesondere nach dem 18. April, als große Kapitalmengen, die seinerzeit ins venrauenswürdige Ausland transferien worden waren, ins Land zurückzu­ fließen begannen". Diese Gruppe hängte sich an die Großindustrie, die das Erbe der ersten Industrialisierung entschlossen zu nutzen gedachte und sieb eifrig daran machte, alles für die Vermählung ntit dem Staat vorzubereiten, der sieb, wie bereits erwähnt, ebenfalls vorbereitete. Mit welchem Resultat werden wir noch sehen. Allerdings rückte man im Guten wie im Schlechten von der fascbisriscben Aufrüstungspolitik der dreißiger Jahre ab" und schlug- ganz im Sinne Norditaliens - den gleichen Weg ein wie ein halbes Jahrhunden zuvor44• Dieser Kurs fand zahlreiche Unterstützet: der mäcbrige Chef der Banca Commerciale Italiana Raffaele Mattioli, die grands commis d'etat wie Mattei, Sinigaglia, Reiss Romoli, Saraceno und Paratore, führende Persönlichkeiten wie Merzagora, Tremelloni, Luigi Morandi, die Führer der Regierungspar­ teien Togni, Dossetri, Vanoni und La Malfa. Bald darauf meldeten sich auch maßgebliche Funktionäre der Econontic Cooperation Adntinistration (ECA), 41 Costas Meinung, in: Ministernper la costituente, Rapporto della Conunissione Economica, Bd. 2: Industria. Appendice alla relazione (interrogatori), Rom 1946, S. 7980. Zwei Jahre später behauptete Costa, es sei "bekannt und offensichtlich, daß die Großindustrie, insbesondere die Staatsbetriebe, die Basis der Kommunisten in Italien darstellt und mittelständische Unternehmen die beste Vetteidigung gegeo den Kom­ munismus bilden", A. Costa, Scritti e discorsi, Mailand 1980, Bd. 1, S. 536. Ardigos Einschätzung von De Gasperl in: A. ArdigO, Classi sociali e sintesi politica, in: ll Convegno di S. Pellegrino, Atti del I convegno nazianale di studio della Democrazia Cristiana, Rom 1962, S. 141. 42 Wie seinerzeit auch der Präsident der Confindustria einräumte, A. Costa, Scritti e discorsi, Bd. 2, S. 183-184. 43 Diese Option hatte Mussolini persönlich Ende 1934 in einem Brief an die mili­ tärischen Befehlshaber erläutert: .Die Rüstungsaufträge sollen ab sofort als Impulsgeber funktionieren, um den durch Rohstoffmangel und Exportrückgang verursachten nega­ tiven Einfluß auf die Beschäftigung auszugleieben", F. Gußmeri, Battaglie economiche fra le due gnerre, Bologna 1988, S. 508.

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Ca/agna, ll Nord nella storia d'Italia, Bari 1962, S. 357.

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der Behörde zur Durchführung des Marshall-Plans, zu Wort, die Roosevelts Lehren beherzigten. Grundsätzliche Zustimmung kam auch von der CGIL, die zwar die politische Instrumentalisierung kritisierte, allerdings 1950 selbst ein "Beschäftigungsprogramm" keynesianischer Prägung propagierte, und von den Kommunisten, die auf den Kampf gegen die Konzentration industrieller und finanzieller Macht setzten. 4. Zwischen Verschärfung und Entspannung

Seit dem 18. April waren noch keine drei Monate vergangen, als der Außen­ handelsminister Merzagora seinen Kollegen Pella, der nach Einaudis Wahl zum Staatspräsidenten dessen Nachfolge im Schatz- und Finanzministerium angetre­ ten hatte, erneut scharf kritisierte; anstatt private und öffentliche Investitionen zu fördern, so warf er ihm vor, beharre er auf einer restriktiven Kreditvergabe und verwende sogar die Mittel aus dem Marshallplan, um die öffentlichen Haushalte zu endasten und die Reserven zu erhöhen. Bekanntermaßen erreichte die Arbeitslosigkeit zu diesem Zeitpunkt ein alarmierendes Ausmaß, während das Land zugleich von einer Streikwelle erfaßt wurde - sogar die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes streikten nach 1948 zum zweiten Mal-, bei der 1949 3,5 Mio. Menschen in den Ausstand traten, 132 Mio. Arbeitsstunden verloren gingen und damit ein historischer Rekord aufgestellt wurde, der lange unübertroffen bleiben sollte". Schließlich spitzte sich die Lage derart zu, daß einige Minister und Staatsse­ kretäre wie Fanfani, Campilli, La Pira und La Malfa aufgerüttelt wurden und De Gasperl sich veranlaßt sah, die bisherige Linie zu überdenken. Dabei bestand die heikelste Aufgabe darin, jeglichen Bruch in der Front der Besitzenden zu vermeiden, denn in einem sozial und politisch zweigeteilten Land hätten sich daraus unabsehbare Konsequenzen ergeben können. Diese Aufgabe übernahm der 3. Parteitag der DC, der im Juni 1949 in Venedig stattfand. Unter dem Schlagwort .die dritte Phase" wurden dort programmatisch die Weichen gestellt für eine politische Linie, die auf zwei unveräußerlichen Grundsätzen basierte und von mir andernorts als .ängstlicher Reformismus" bezeichnet wurde. Zum einen wollte man die darniederliegende Wirtschaft wieder in Schwung bringen, indem man sich für eine Förderung der privaten, aber auch der staat­ Iichen Industrie aussprach. Diese Entscheidung war um so bemerkenswerter, als das vom Staat kontrollierte Istituto per Ia Ricostruzione Industriale (IRI), eine riesige Holdinggesellschaft damals von der Privatindustrie, aber auch von maßgeblichen Teilen der DC-Führung angefeindet wurde und in einer Art " L. Bordogna I G. Provasi, ll movimento degli scioperi in Italia (1881-1973), in: G.P. Cella (Hrsg.), n movimento degli scioperi nel XX secolo, Bologna 1979, S. 188. Zum .Arbeitsplan" vgl. E. Vianello (Hrsg.), ll piano del lavoro alla CGIL 1949-1952,

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Koma dahindänunerte. Hauptkritikpunkte waren der Personalüberhang, der bei der anstehenden Konversion von Rüstungs- auf Friedensproduktion abge­ baut werden mußte, und die damit einhergehende Verschwendung, der keine der bisherigen Regierungen Einhalt zu gebieten vermocht hatte. Aus diesem Grund war man bei der IRI über einen hektischen Austausch der führenden Mitarbeiter- vier Kommissare und zwei Präsidenten von 1945 bis 1948- nicht hinausgekommen, was man als fahrlässige Selbstzerstörung bezeichnen könnte. So war es auch kein Zufall, daß die IRI im Jahre 1948 ministerieller und par­ lamentarischer Kontrolle unterworfen wurde46•

Es versteht sich von selbst, daß der neue, eindeutig auf Industrialisierung zielende Kurs seinen Niederschlag in einem Bündel von Gesetzen, Anweisun­ gen und Maßnahmen fand, das die Regierung im Laufe der Legislaturperiode auf den Weg brachte. Obwohl es diesem Maßnahmenbündel an Homogenität fehlte, darf man seine tatsächlichen Folgen nicht unterschätzen". Diese teils unerwarteten, teils durch Umsttukturierungen auf Unternehmensebeneverdeck­ ten Folgen wurden von der linken Opposition kaum wahrgenommen, weil sie vollauf mit den konkreten Folgen des anderen Grundsatzes beschäftigt war: Sie mußte nämlich fürchten, daß sich die Diskriminierung der Funktionäre und Aktivisten von PCI und CGIL am Arbeitsplatz und im Privatleben, wie sie von staatlicher Seite systematisch betrieben und von den Unternehmern imitiert wurde oder umgekehrt, negativ auf die Organisations- und Kampfbereitschaft der Arbeiter auswirken könnte. Insgesamt mußte die Linke eine ganze Serie von negativen Ereignissen hinnehmen: Zuerst der Wahlsieg der DC am 18. April, dann die Niederlage in einigen innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, vor allem aber die von den USA mit Nachdruck betriebene" Abspaltung der christlichen Fraktion", die nach dem Attentat aufTogliatti aus der CGIL aus•

46 Bereits im Juli 1947 mußte sich das Kabinett erneut mit dem Schieksal der IRI befassen, weil der Konunissar Giuseppe Paratore zurückgetreten war, vor allem aber wegen der Angriffe der Opposition, die die Unsicherheit der neuen Regierung als Zeichen für die baldige Auflösung der IRI ansah, welche im Übrigens von privaten Unterneh­ mern sowie von englischen und amerikanischen Wirtschaftskreisen bereits unmittelbar nach Kriegsende gefordert worden war. Dazu siehe A. Giovagnoli, Le premesse della Ricostruzione, S. 245 ff. Zu den Diskussionen des Ministerrates siebe CM, IX, Sitzung vom IO.Juli 1947, S. 310-312; CM, IX, Sitzung vom !!.Juli 1947, S. 351, 358·359, die mit der Ernermung eines neuen Kommissars endete. Nur sieben Monate später berief man einen neuen Aufsichtsrat und benannte den leitenden Angestellten der RAS Enrico Marebesane zum Präsidenten, dazu siebe CM, IX, Sitzung vom 19. Februar 1948, S. !959, 1961. Und ein paar Tage fröber wurde das neue Statut verabschiedet, siebe CM, IX, Sitzung vom 6. Februar 1948, S. 1801, 1813·1815. DerTextfindet sich in: Ministero dell'industria edel commercio, L'lstituto per la Ricostru2ione Industriale, Bd. 3, Turin !956, s. 391-397. 47 Dazu siebe den folgenden Abschnitt. " Zum Rüekgang der Streiks nach 1949 siebe L. Bordogna I G. Provasi, ll movi­ mento degli scioperi, S. 187. Mit der Spaltung und dem nicht bloß geistigen Druek,

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trat, und schließlich die Niederlage bei den Betriebsratswahlen bei Fiat in den Jahren 1955 und 1957. Daß diese Entwicklung in ultrakonservativen Kreisen, wenn auch aus anderen Gründen als bei den Industriellen, ntit Erleichterung aufgenommen wurde, steht wohl ebenso außer Frage wie die Tatsache, daß der Konflikt zwischen beiden Gruppen daraufhin abflaute. Die Linke hingegen sah sich - im wahrsten Sinn des Wortes - mit einem janusköpfigen Ungeheuer kaufrentiert und hielt die nicht selten in Repression umschlagende systematische Diskriminierung für die Kehrseite eines fortschrei­ tenden ökonomischen Malthusianismus, den man mit allen zur Verfügung stehenden Kräften bekämpfen mußte. Mag eine derartige Beurteilung kurz­ fristig noch verständlich sein, so verwandelte sie sich später in unerklärliche Blindheit gegenüber der machtvollen, wenn auch ungleichzeitigen Entwicklung der Volkswirtschaft. Das wird deutlich an der Parlamentsrede eines eigentlich verständigen Politikers wie Togliatti, der im Juli 1953 immer noch erklärte: "Tat­ sache ist, daß wir es, und das ist vielleicht die schwetwiegendste wirtschaftliche Tatsache, ntit einem offenen Verfall der italienischen Industrie, und damit unse­ res gesamten Wirtschaftslebens, zu tun haben". So seine polemische Antwort auf De Gasperis Ankündigung, daß die Industrieproduktion in den folgenden fünf Jahren um 40% und die Agrarproduktion um 15% wachsen würde. Tatsächlich entsprach das mehr oder weniger den Daten der nationalen Statistikbehörde ISTAT für das Jahr 195849• Es sollte noch einige Jahre dauern, bis es der kom­ munistischen Opposition gelang, die Lage richtig einzuschätzen und sich mit einer Wttklichkeit zu befassen, die alle ihre Vorhersagen Lügen strafte.

II. Tipperary kommt näher 1. Der »ängstliche Reformismus" am Werk Obwohl sich die Regierung in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre um eine einheitliche Politik bemühte, zeugten die koukreten Maßnahmen doch von einer grundlegenden Ambivalenz, die sich in den ursprünglichen Gesetzestexten wie in den Nachhesserungen der Umsetzungsphase ebenso unverkennbar äußert wie auch im Widerstand derjenigen, die um ihren eigenen Status fürchteten und diesen zu erhalten suchten. Ein typisches Beispiel in dieser Hinsicht war die neue Wohnungsbaupolitik. An sich handelte es sich dabei um eine Reaktion auf den durch Kriegszerstörungen, aber auch durch Drosselung der Bautätig-

der von verschiedenen amerikanischen Kreisen ausgeübt wurde, beschäftigt sich sehr materialreich RI. Filippelli, American Labour and Postwar Italy, 1943-1953. A Study of Cold War Polities, Palo Alto CA 1989, hier vor allem S. 33-89. " Togliattis Rede und Oe Gasperis Antwort sind abgedruckt bei B. Bottiglieri, La politica economica dell'Italia centtista (1948-1958), Mailand 1984, S. 204. Die statisti­ schen Daten in: Aunuario di contabilita nazianale (künftig ACN), 2 (1972), S. 18.

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keit in der Zeit von 1931 bis 1951 verursachten WohnungsmangeL Zugleich jedoch lösten Wohnungsbauprogramme für die Unterschicht (Plan Fanfani) und für die Mittdschicht (Aldisio und Tupini), die mit erheblichen öffentlichen Mittdn gefördert wurden, sowie das - gewiß nicht zufällige''- Fehlen von Flächennutzungspliinen und Vorschriften über das zulässige Bauvolumen eine frenetische Bauspekulation aus. Einerseits wuchs dadurch die Zahl der gebauten Räume von 37 Mio. im Jahre 1951 auf 47 Mio. im Jahre 1961, wodurch die Nachfrage nach Material und Arbeitskraft sprunghaft anstieg und praktisch die gesamte italienische Industrie auslastete'', die dadurch wenn auch indirekt in den Genuß öffentlicher Mittd kam. Andererseits führte dieser Boom zu einem "wissenschaftlichen" Angriff auf die Zentren vider kleiner und großer Städte, die dadurch unwiederbringlich zerstört wurden. Darüber hinaus profitierte die Industrie von einer überbordenden Gesetz· gebung, die ab 1950 umfangreiche Ressourcen mobilisierte, um das sogenannte .Problem des Südens" in Angriff zu nehmen. Dabei ging es vor allem darum, die ausufernden und bisweilen chaotisch verlaufenden Aktionen von Landarbei­ tern und armen Bauern unter Kontrolle zu bringen, die allein durch repressive Polizeiaktionen nicht mehr einzudämmen waren. Zugleich wollte man, getreu einem Grundprinzip des katholischen Denkens, durch eine Bodenreform Großgrundbesitz und brachliegende Grundstücke enteignen und dieses Land an landlose Bauern verteilen. Allerdings wurde ein entsprechender Gesetzent · wurf (Segni) aus dem Jahre 1949 durch den vehementen Protest der Groß­ grundbesitzer- 21.000 von erwa 8 Mio. Landbesitzern, die damals 40% der landwittschaftlichen Fläche des Landes besaßen- zu Fall gebracht, wobei eine Gruppe monarchistischer und DC-Abgeordneter Schützenhilfe leistete. Daher wurde das ursprüngliche Vorhaben auf ein .Rumpfgesetz", wie es offizidl und zu recht genannt wurde, zusammengestrichen. Danach wurde weniger Land verteilt als im Rahmen des kurz zuvor aufgdegten Förderprogramms für Kleinbauern (Cassa per Ia formazione ddla piccola proprietil contadina) vor· gesehen war52• Dennoch waren die indirekten Auswirkungen eher positiv, weil " L. Bortolotti, Storia della politica edilizia in Italia, Rom 1978, S. 249-259. Das Städtebaugesetz vom 17. August 1942 blieb wertlos, weil die Ausführuogsbestimmuugen fehlten. Über den Plan Fanfani liegt nunmehr eine sehr detaillierte Studie vor, P. Di Biagi, La grande ricostruzione. ll piano INA-Casa e l'Italia degli aoni '50, Rom 2001. 51 Stahl und Textilien, Beton und Ziegelsteineo, Elektrizität, Glas und Möbel, Sanitäreinrichtungeo und Breoostoffe, Keramik, Plastik und Farben. Der Wert des Grundbesitz stieg in Mailand-Stadt - möglicherweise ein Grenzfall, aber trotzdem bezeichnend- von 3.844 Mrd. im Jahre 1956 auf 9.745 Mrd. im Jahre 1962; im Hin­ terland von 1.192 auf 4.655 und in den Stadtrandbezirke von 905 auf 3.396, F. Sullo, La scandalo urbanistico, Florenz 1964, S. 292-293. 52 Die Daten zum Grundbesitz finden sich bei G. Barone, Stato e Mezzogio­ rno (1943-1960), in: Storia dell'Italia Repubblicana, S. 340. Zum .Rumpfgesetz" siehe G. Fabiani, I:Agricoltura in Italia tra sviluppo e crisi 1945-1977, Bologna 1979,

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der Inunobilienmarkt in Bewegung geriet und dadurch mit der Zeit das Ende des bereits im Niedergang befindlichen Großgrundbesitzes besiegelt wurde. Außerdem tätigte die 1950 gegründete Cassa per il Mezzoglama Investitionen, um die Infrastruktur der traditionell unterentwickelten Gebiete auszubauen und den neugegründeten Betrieben eine bessere Ausstattung mit fixem Kapital, Dienstleisrungen und Hilfsmitteln zu ermöglichen. Den größten Anteil davon lieferten Fiat (Landwirtschaftliche Maschinen) und Montecatini (Düngemittel)", mithin ein weiterer Vorteil für die Industrie (wieder einmal des Nordens). In die gleiche Richtung zielten, abgesehen von Rüstungsausgaben, die seit dem Koreakrieg von den USA finanziert wurden, und direkten staatlichen Subventionen, zwei weitere Gesetze: das Zollgesetz und die Steuerreform. Da das Zollgesetz von 1950 in Zusanunenarbeit mit der Confindustria erarbeitet wurde, trug es stark protektionistische Züge und bezog sich auf Zölle ad valorem, so daß es auch bei Preisschwankungen wirksam war; offensichtlich hatte man dabei das eigene .Bekenntnis zum Liberalismus" schlichtweg "vergessen "54• Die Steuerreform von 1951, die vor allem auf Betreiben des zuständigen Ministers Vanoni durchgeführt wurde, beruhte auf dem für Italien neuartigen Prinzip der jährlichen Einkommenssteuererklärung''. Von der unterschiedli­ chen Berechnungsgrundlage für natürliche und juristische Personen profitier­ ten vor allem letztere, da sie nun außer den .normalen" Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung auch durch die Berechnung der steuerpflichtigen Beträge bevorzugt wurden. Dadurch kamen sie in den Genuß zusätzlicher Mittel, die sie zur Selbstfinanzierung einsetzen konnten und daher kaum auf Bankkredite angewiesen waren56. S. 123-124. Dennoch kommt Fabiani in seiner differenzierten Analyse zu dem Ergebnis, daß durch die Reform und die entsprechende Gesetzgebuog (ebd., S. 123-130) Ver­ besseruogen nicht nur in der Landwirtschaft erzielt wurden. Diese Einschätzung wird auch von Bevilacqua geteilt, der seine vielfältige, systematische Forschungsarbeit um ein gerüttelt Maß an intellektuellem .Sektierertum" ergänzte und zu einer .populär­ wissenschaftlichen" Abhaodlung zusanunenfaßte, P. Bevilacqua, Breve storia dell'Italia meridionale dell'Ottocento a oggi, Rom 1993, hier S. 95-134. " Aufgrund der technischen Eotwicklung und der Emeueruog der Energieversor­ gung sind die Daten nur schwer vergleichbar, vgl. Annuario Staristico Italiano, 1951, 1958, 1%3. " Dies hiog auch mit der Expansion und derwenn auch langsam voranschreitenden Liberalisierung des Handels zusammen, wie sie von supranationalen Institutionen wie dem General Agreement an Tariffs and Trade (GATT), das am 30. Oktober 1947 in Genf unterzeichnet wurde, verlangt wurden. Siehe dazu M.L. Cava/canti, La politica commerciale italiana 1945-1952, Neapel 1984, S. 8. Über die Zölle ebd., S. 183-198. " M. G. Rossi, ll problema storico della riforma fiseale in Italia, in: Italia contem­ poranea, 170, 1988, S. 7-20. " M. Bagella, Gli istituti di credito speciale e il mercato finanziario ( 1947- 1962), Mailand 1986, S. 174, 195. Dort wird belegt, daß die Investitionen Mitte der fiinfzige r Jahre einige Jabre lang zu 79% aus Eigenmitteln finanziert wurden.

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Giorgio Mori 2. Pro und Contra: Die Frage der Staatsindustrie spaltet die Industrielobby

Gleichgültig wie massiv,gezielt und symptomatisch diese Maßnahmen zur Förderung der Industrie auch gewesen sein mögen,der entscheidende Auslöser für die .zweite Vermählung" von Staat und Großindustrie,wie sie von der DC mit äußerster Sorgfalt in Szene gesetzt wurde, war die zunehmend unverhoh­ lener betriebene Lancierung der großen Staatsherriebe wie der AGIP unter Fiihrung von Enrico Mattei und der IRI-Gruppe (im Unterschied zu AGIP wurde hier ein Teil der Aktien von Privaten gehalten, die bei besonderen Gelegenheiten durchaus versuchten, ihren Einfluß geltend zu machen). Die erste,für die Wiedergeburt der IRI jedoch entscheidende Etappe fiel ins Jahr 1948, als auch die neuen Statuten verabschiedet wurden. Damals setzte der Fiat-Manager Valletta alles daran, damit das stark zerstörte Stahlwerk Comig­ liano, das ihm 50% seiner Bleche zum Produktionspreis liefern sollte,wieder aufgebaut wurde. Im Gegensatz zu Oscar Siuigaglia, der sich seit langem für einen Wiederaufbau engagiert hatte, gelang es Valletta, die Vorbehalte im In­ und Ausland auszuräumen und die Finanzierung zu sichern, nachdem Italien der Montanunion beigetreten war, die 1951 gegründet wurde und 1953 in Kraft treten sollte. Doch schon 1959 beschloß die Regierung trotz des harmäckigen Widerstan­ des seitens der IRI und der privaten Stahlindustrie,einen "vierten Stahlkomplex" in Taranto zu errichten. Inzwischen stieg die italienische Stahlproduktion von 2,33 Mio. Tonnen im Jahre 1950 auf 8,46 Mio. Tonnen im Jahre 1960 und erreichte schließlich mit 12,68 Mio. Tonnen im Jahre 1965" den siebten Platz unter den stahlproduzierenden Ländern. Aber die IRI beschränkte sich nicht auf die Stahlindustrie: Sie reaktivierte ihre im Krieg zerstörten und 1952 in der Finelettrica zusammengefaßten Kraftwerke, reorganisierte die rückstän­ dige Telekommunikationsbranche und setzte an die Spitze einen erlahrenen, entschlossenen Manager wie Reiss Romoli; sie engagierte sich umfassend im Werftsektor mit wechselndem Erlolg -,in der Konversion der Metalliudustrie, in der fast ein Drittel des Mehrwertes des gesamten verarbeitenden Gewerbes erwirtschaftet wurde und der damit eine Schlüsselstellung zukam; aufgrund des Autohalmgesetzes aus dem Jahre 1955 übernahm sie mit der Autohalm Mailaucl-Neapel das spektakulärste, aufwendigste Teilstück des gesamten Autobahnnetzes; neben zahlreichen kleineren Projekten, die hier unerwähnt -

" G.L. Osti, L'industria di stato dall'ascesa al degrado. Conversazioni con R Ranieri, Bologna 1993, S. 325 ff. Über die herausragende Persönlichkeit Sinigaglia siehe G. Toniolo, Oscar Sinigaglia (1877-1953), in: A. Mortara (Hrsg.), I protagonisti dell'intervento pubblico in Italia, Mailand 1984, S. 405-430. Über das Stahlwerk in Taranto, M. Pivigallo, Storia di una citti e di una "fabbrica promessa": Taranto e la nascita del IV Centro siderurgico (1956-1961), in: Analisi storica, 7 (1989), 12-13, S. 61170.

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bleiben, darf nicht vergessen werden, daß auch die RAI, die am 3. Januar 1954 den Sendebetrieb aufnahm, zur IRI gehörte''. Eine ähnliche Erfolgsgeschichte, allerdings noch spektakulärer, erlebte die AGIP. Nach der Entdeckung einiger vielversprechender Erdgasvorkommen in der Poebene hatte der zuständige Regierungskommissar Enrico Martei, ein Kleinindustrieller aus den Marken, während des Krieges Kommandant einer katholischen Partisanengruppe im Norden, die AGIP handstreichartig zu neuem Leben erweckt und die Produktion von 54 Mio. m3 im Jahre 1946 auf5 Mrd. m3 im Jahre 1958 gesteigert. Obwohl das Verteilernetz- die Rohre stammten aus Comigliano- damals nur eine Länge von 5.000 km hatte und auf den Norden beschränkt war, trugen die Erdgaslieferungen doch dazu bei, die nationalen Ausgaben für den wachsenden Energiebedarf merklich zu senken. Geschickt aufgebauscht, nutzte Mattei diesen Erfolg, um sofort neue ehrgeizige Pläne zu schmieden. Trotz massiver Widerstände gelang es ihm 1953- dank seiner freundschaftlichen Beziehungen zu De Gasperl und Vanoni sowie einer Finanzierungszusage von Mattioli'' -, im Parlament die äußerst umstrittene Gründung der ENI durchzubringen; in dieser Holding wollte man alle neugegründeten Unternehmen des Energiesektors zusammenfassen, um .jede Initiative rund um Erdöl und Erdgas zu fördern". Die ENI erhielt das Exklusivrecht, den Untergrund der Poebene zu erforschen und auszubeuten, was durch das Bergbaugesetz von 1957 abgesichert wurde". Weil man von der vermeintlichen Gewißheit ausging, daß in diesem Gebiet ein enormes Vorkommen des .schwarzen Goldes" läge, war das Gesetz äußerst umstritten und rief die Privaten auf den Plan, die gegen seine Verabschiedung Sturm liefen, woran sich auch die damaligen Weltmarktführer, die .Serte Sorelle" genannten Energiekonzerne, beteiligten. Durch den virtuellen Erfolg gestärkt, beschloß Mattei, die Konkurrenz auf offenem Feld herauszufordern, denn er " Siehe dazu die wichtigste Abhandlung zur Telekonununikation, B. Bottiglieri, Stet. Strategia e struttura delle telecomunicazioni, Mailand 1987. Zum Thema Auto­ bahnen N. Despicht, Diversification and Expansion: the State as Entrepreneur, London 1972, S. 138-146. Zum Thema IRI allgemein M. V. Posner I S.]. Woolf, Italian Public Enterprises, Cambridge MA 1967. " Ein wichtiger Beitrag zur Geseltiehte der AGIP, die 1926 dank der Unerschrok­ kenheit von Mattei gegründet wurde, ist das Buch von Colitti, das auch deshalb von besonderem Interesse ist, weil der Autor die aufregenden und abenteuerliehen Weeh­ selfälle des Unternehmens an der Seite Matteis selbst ntiterlebt hat, M. Colitti, Energia e sviluppo in Italia. La vicenda di Entico Mattei, Bari 1979. Siehe jetztA. Giuntini I D. Pow (Hrsg.), Energia per il territorio. Enrico Mattei e l'industria del metano in Italia, Lodi 2003. Nieht weniger aufregend und abenteuerlieh war die Geseltiehte der ENI, die bei Sapelli und Carnevali eine kritische Würdigung fand, G. Sapelli I F. Carneuali, Uno sviluppo tra politica e strategia. ENI 1953-1985, Mailand 1992. Das Gerücht, Raf. faele Mattioli habe Mattei zur Griindung der ENI ermutigt und ilun dafür 1 Mrd. Lire vorgeschossen, ist nie widerlegt worden, G. Galli, Mattioli, Mailand 1991, S. 106.

"' M. Colitti, Energia e sviluppo in Italia, S. 185-186.

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sah es als seine "Mission" an, das Land in der Energieversorgung unabhängig zu machen und damit einen Wohlstand zu begründen, der Italien für sein Jahrhunderte langes Elend entschädigen sollte. Erste Erfolge erzielte er 1957 mit einer Bohrkonzession für Erdöl im Iran; als er daraufhin 75% der Gewinne als Tantiemen an den Staat abführte, im Gegensatz zu den sonst üblichen 50%, war das für die großen Ölkonzerne eine echte "Provokation", die jedoch kein Selbstzweck war'', sondern der erste Schritt eines ehrgeizigen Vorhabens und zudem nicht ungefährlich, obwohl Mattei mehrmals ein gentlemen's agreement versuchte. Tatsache ist, daß er die ENI im Sinne des Gesetzes führte und dabei in einem Jahrzehnt zahlreiche Projekte ins Leben rief: die Bandbreite reichte von der Rohölverarbeitung, wobei nicht nur iranisches, sondern auch Erdöl aus vielen anderen außereuropäischen Ländern verarbeitet wurde, bis zum Abschluß eines bilateralen Vertrages mit der UdSSR, der in einer Pause des Kalten Krieges zustande kam und von den großen Ölkonzernen in Italien und den USA aufs schärfste verurteilt wurde, über Erdöllieferungen weit unter dem Weltmarktpreis, die durch Exporte seiner Firmen und vieler anderer, insbesondere von IRI-Unternehmen, gedeckt wurden. Später ließ er zahlreiche Raffinerien errichten, eine Branche, die zuvor fast ausschließlich in Privatband war, und überzog das ganze Land mit einem dichten Netz von Tankstellen, die alle das berühmte Kennzeichen von dem Hund mit den sechs Ffoten trugen. Aber das war noch nicht alles: Er übernahm das krisengeschüttelte Unterneh­ men Pignone, das zusammen mit SNAM Schürfmaschinen und entsprechendes Zubehör produzierte; er rüstete die ENI mit einer Tankerflotte aus und gründete ein Laboratorium und eine "Hochschule zum Studium der Kohlenwasserstoffe"; er baute Hotels und Feriendörfer für sein Personal und begann schließlich in Latina mit dem Bau eines Atomkraftwerkes, das 1963 in Betrieb ging. Es wäre sicher übertrieben, hier die Redensart vom "Staat im Staate" zu bemühen, doch ganz von der Hand zu weisen ist sie nicht. Allerdings nahmen die Finanz­ und Managementprobleme kurz vor seiner Ermordung derart Überhand, daß eine Reorganisation bzw. Verkleinerung des Konzerns unumgänglich schien. Daher muß man wohl der Aussage zustimmen, "daß von Matteis Saat nur die schlechten Körner aufgingen, während die guten mit ihm in den brennenden Trümmern seines abgestürzten Flugzeugs zugrunde gingen "62• 61 A. Nouschi, Luttes pettolleres au Proehe Orient, Paris 1970, S. 89-90. Über Matteis Offensive auf dem internationalen Markt vgl. A. Simpson, The Seven Sisters: the Great Oil Companies and the World they Made, London 1975, S. 201-206.

62 E. Scal/ari I G. Turani, Razza padrona: storia della borghesia di Stato, Mailand 1974, S. 43. Seinen mysteriösen Tod hat auch die neuerliche Untersuchung nicht aufzuklären vermocht. Als der stellvertretende Staatsaowalt von Pavia Vincenzo Calia am 20. September 1994 seinen Untersuchungsbericht vorlegte, konnte auch er nur die Einstellung des Verfahrens beaotragen. Zwar war es ilun anband von Zeugen-, Urkun­ den- und Logikbeweisen gelungen, den Kontext zu rekonstruieren, aus dem heraus das Verbrechen geplaot wurde, aber die Beweise gingen über Verdachtsmomente und Schlußfolgerungen nicht hinaus und reichten nicht, um die Täter oder die Aufttaggeber

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Nicht unerwähnt bleiben datf auch in einem kurzen Überblick, welche Bedeutung das System der Staatsunternehmen in Schlüsselbereichen inzwischen erlangt hatte. Als Indikator mag genügen, daß ihr Anteil an den Gesamtinve­ stitionen von 17,4% im Jahre 1957 auf 25,5% 1962 gestiegen war. Allerdings waren diese Ergebnisse unter Bedingungen zustande gekommen, die alles andere als idyllisch waren. Abgesehen davon, daß der Kalte Ktieg sich zuneh­ mend entspannte und die Angriffe der Opposition an Schätfe zunahmen, obwohl der .ängstliche Reformismus" den Grundsatzstreit nicht unwesentlich abgeschwächt hatte, mußte die fortschreitende Ausweitung des Staatssektors auch die Confindustria auf den Plan rufen. Dies galt um so mehr, als die ENI 1953 auf Initiative der DC aus der IRI-Holding herausgelöst und 1956 ein eigenes Ministerium für Staatsbeteiligungen eingerichtet wurde. Das gab dem alten Konflikt neue Nahrung und verschärfte die Auseinandersetzung, die nun zunehmend aggressiver geführt wurde. Zwar war der Einfluß der Großgrundbesitzer und der von Bonomi orga­ nisierten Kleinbauern rückläufig, doch die wirkliche Neuigkeit bestand in der Spaltung der Industrielobby. Denn im Unternehmerverband Confindustria, wo bis dato bürgerlich-konservative Kreise- Assolombarda, Falck, Pesenti, Borasio und der mächtige Elektrokonzern Edison -den Ton angegeben hatten, änderten sich 1955 die Mehrheitsverhältnisse und Alighiero De Micheli wurde zum Präsidenten gewählt. De Micheli machte sich sofort daran, eine Art Super­ partei der Unternehmer zu organisieren. Er arbeitete mit der Confcomrnercio und der Confagricoltura zusammen und sicherte sich die Unterstützung der liberalen Partei unter Malagodi, um direkt in die politische Auseinandersetzung eingreifen zu können - eine Beteiligung an den Wahlen wurde nicht ausge­ schlossen- und gegen die nunmehr rückhaltlos betriebene Förderung der Staatsindustrie seitens der DC zu Felde zu ziehen. Diese Koalition, an der sich Großunternehmen (Fiat, Montecatini, Pirelli und Olivetti) ebenso beteiligten wie eher Gemäßigte, die einer grundsätzliche Ablehnung der Regierungspolitik nur widerwillig zustimmten, verständigte sich auf Positionen, die zunächst einvernehmlich schienen, sich jedoch bald als konfliktträchtig erweisen sollten. In diesen Chor stimmten auch einige liberal-demokratische Intellektuelle ein, die sich zu den .Amici del Mondo" zusammentaten und nach ihrem Austritt aus der liberalen PLI die Radikale Partei gründeten". Andererseits waren zu benennen. Dennoch gab es genügend Hinweise, wn Personen und Kreise explizit zu benennen, vgl. F. La Licata I G. Ruotolo, Mattei, un complotto italiano, in: La Stampa, 6. Juni 2003. Die Daten über die Investitionen der Staatsbetriebe in: V Posner/ S.]. Woolf, Italian Public Enterprises, S. 158. " D. Speroni, ll romanzo del1a Conlindusrtia, Mailand 1975, S. 71-80. Zur Geschichte der Confindusrtia, ihre internen Machtverhältnisse uod dem wechselhaften Verhältnis zur Regierung in der Nachkriegszeit unverzichtbar, L. Mattina, La Confindusrtia e Ia democrazia, Bologna 1991. Zur Geschichte der Uberalen: ACN, II, 1972, S. 18. Von der Geschichte der .Amici del mondo" handelt der nostalgische, autobiographische Bericht

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die Tage der Mitte-Koalitionen ohnehin gezählt, deno inzwischen waren die Regierungen so krisenanfällig und folglich handlungsunfähig, daß die Zahl der Kabinettsumbildungen von drei in der ersten Legislaturperiode auf sechs in der zweiten anstieg. Daher zögerte Giovanni Gronchi nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten nicht, neue Wege zu beschreiten und sich auf informellem Wege energisch für ein Mitte-Links-Bündnis einzusetzen. Dies war schon lange sein Wunsch. Dabei stützte er sich auf einige Führungskräfte der DC-Linken und vor allem auf den neuen Potentaten der Staatsindustrie Enrico Mattei, dem er bei seinen ersten ausländischen Unternehmungen wiederholt konkrete Hilfen zukommen ließ. Verbündete suchte er aber auch in ganz anderen Kreisen, zum Beispiel bei seinem Freund Valletta 1 (der jedoch von Valletta 2, der mit eiser­ ner Hand gegen die Fiat-Arbeiter vorging, nicht zu trenoen war). Aufmerksam beobachtete er die Entwicklung der Sozialistischen Partei, die eine ähnliche, weno auch nicht identische Strategie verfolgte und sich zunehmend von den Kommunisten abgrenzte, ein Prozeß, der sich nach den bahnbrechenden Ereignissen auf dem XX. Parteitag der KPdSU noch beschleunigte. 3. Wirtschaftliche Entwicklung unter den Mitte-Regierungen Aus Tabelle 1 wissen wir, daß sich das BIP pro Kopf im Jahre 1958 bereits den europäischen und amerikanischen Vergleichszahlen angeglichen hatte. Ana­ lysiert man nun das Wachstum des BIP von 1951 bis 1958- durchschnittlich 5,01% pro Jahr-, kann man feststellen, daß dabei die Landwirtschaft mit 0,56, die Industrie mit 2,64, der Diensdeistungssektor mit 1,71 und die öffentliche Verwaltung mit 0,47% zu Buche schlugen. Damit ist belegt, daß die Industrie auch in dieser Hinsicht der Motor des Aufschwungs und des Sttukturwandels in der italienischen Wirtschaft war. Eine herausragende Rolle spielte dabei die Bauindustrie, die mit einem jährlichen Zuwachs von 11,3% ein atemberauben­ des Tempo vorlegte und damit im Vergleich zu anderen Branchen (Bergbau, verarbeitendes Gewerbe, Energie), die 6,8% erreichten, fast doppelte so schnell wuchs, womit sich wieder einmal das alte französische Sprichwort .quand le bätiment va, tout va" bewahrheitete. Einen weiteren Beleg für diese These liefert die scharfsinnige Berechnung von Zanetti, wonach .die Wirtschaft um 163.886 Lire wächst, wenn die Nachfrage im Baugewerbe um 100 Lire steigt"64• Daran wird aber auch deutlich, daß die kapitalintensiven Wirtschaftszweige- Metall­ industrie, Verarbeitung nichtmetallhaltiger Mineralien, Chemie, Gummi- mit einem jährlichen Durchschnittswachstum von 11,6% gegen 5,2% in anderen Zweigen am meisten zum Florieren der Wirtschaft beitrugen. Derartige Erfolge lassen sich jedoch nur durch den Einsatz neuer Produktionstechnik und von E. Scal/ari, La sera andavamo in Via Veneto: storia di un gruppo dal «Mondo» alla «Repubblica», Mailand 1990, S. 79-129.

64 G. Zanetti, Art. Edilizia, in: ESS, Bd. 3, 1993, S. 444. Siehe oben, Arun. 50.

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Managementmethoden erklären, die dank umfassender Finanzhilfen aus dem Marshallplan bald ins Land kamen. Dabei machte man sich die amerikanischen Erfahrungen zunutze, wählte geeignete Verfahrenstechniken aus und paßte sie an die italienischen Verhältnisse an. Zurückgegriffen wurde auch auf ältere Produktionsmethoden mit ähnlichen Zielen wie sie in gewissem Umfang in den zwanziger und dreißiger Jahren in Italien eingeführt, aufgrund der Pro­ teste seitens der faschistischen Gewerkschaften bald aber wieder abgeschafft worden waren; doch all diese Versuche, wie beispielsweise das damals berühmte .System Bedaux", zielten in erster Linie darauf, die Arbeitsproduktivität zu steigern oder - um es deutlicher zu sagen - die Ausbeutung zu intensivieren, und nicht so sehr auf technische Innovation". Ein derartiger Strukturwandel warf jedoch das Thema der Industriekon­ zentration auf, welches bei Ökonomen und Statistikern äußerst umstritten ist und zwangsläufig auf die Politik zurückverweist. Schon unmittelbar nach Kriegsende hatte eine Fachkommission der Verfassungsgebenden Versamm­ lung die Konzentrationstendenzen in der Wtrtschaft untersucht und vor einem wachsenden Einfluß der Großkonzerne auf die Politik gewarnt. Allerdings kommt der Vergleich der Betriebsstättenzählungen von 1951 und 1961 zu wesendich weniger spektakulären Ergebnissen und verweist eher auf eine zentripetale Tendenz. " Dieses Thema wurde in den IetztenJahren eingehend untersucht, vgl. V Zamagni, The Italian .Economic Mirade" Revisited. New Markets and American Technology, in: Power in Europe?, 2 Bde., Berlin I New York 1992, hier Bd. 2: E. Di Nol/o (Hrsg.), Great Brirain, France, Germany and Italy and the Origins of the EEC, 1952-1957, hier zitiert nach der italienischen Ausgabe E. Di Nolfo I RH. Rainero I B. Vigezzi (Hrsg.), I:Italia e Ia politica di potenza in Europa. 1950-1960, Mailand 1992. Zu einer detaillierten Analyse nach Branchen siehe E Grassini, ll progtesso tecnico dell'industtia dopo Ia secondo guerra mondiale, in: G. Pud (Hrsg.), Lo sviluppo economico in Italia, Bd. 3, Mailand 1969,S. 241-273; P Rnsenstein Rodan, TechnicalProgress andPost-War Rate of Growth in ltaly, in: Centro nazianale di preventione e difesa sociale (Hrsg.), TI progresso tecnologico e Ia societi italiana, Bd. 1, Mailand 1962. Ausführlicher und spezieller die neuen Untersuchungen von M. Vasta, TI cambiamento temologico nel macchinario elettrico di grande potenza, sowie G. Paoloni, I:esordio del nudeare, beide in: Storia dell'industria elettrica in Italia, 5 Bde., Rom I Bari 1992-1994, hier Bd. 4: V Castronovo (Hrsg.), Da! dopoguerra alla nazionalizzazione, 1945-1962, Rom I Bari 1994, S. 363-382 und 383-408. Zum gleichen Thema in früheren Zeiträumen: D. Preti, I:economia italiana in periodo faseista, in: Ricerche storiche, 4 (1975),S. 42-52, wo das Problem zum erstenmal auf verschiedenen Ebenen und mit gegebener Vorsicht behan­ delt wird. Zum Bedaux- System siehe außer Preti heute D. Bigazzi, Modelli e pratiche organizzative nell'industrializzazione italiana, in: F. Amatori ID. Bigazzi IR. Giannetti I L. Segreto (Hrsg.), I:Iodustria ( Storia d'Italia. Aonali, 15), Turio 1999, S. 948-951, der auch die Untersuchungen und Versuche kritisch analysiert, jene Techniken während des Faschismus in Italien einzuführen. Eine allgemeinere Bewertung in: R. Giannetti, ll progresso tecnologico, in: E Amatori I D. Bigazzi IR. Giannetti I L. Segreto (Hrsg.), I:Iodustria, S. 387-440, insbesondere die Schlußfolgerungen aufS. 438-440.

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Tabelle 2 Industriekonzentration nach Zahl der Mitarbeiter (1951-1961)

insgesamt

1951 1961

3.449.210 4.495.563

�10 Einheiten

11-100

101-500

;::501

Einheiten

Einheiten

Einheiten

32,07% 27,99%

22,13% 28,93%

20,40% 21,69%

25,40% 21,49%

Dieses Gesamtbild werden Experten noch für realistisch halten, auch wenn sie sicher darin übereinstimmen, daß bei anderen Parametern (Umsatz, Fixkapi­ tal, Auslastung, Profite) oder wenn man das Verhältnis zwischen Industrie- und Finanzunternehmen sowie die geographische Verteilung untersuchen würde, ganz andere Ergebnisse zustande kämen".

m_ Das kurze Lehen der Euphorie (1959-1963) 1. Die drei Facetten des. Wirtschaftswunders" Vermutlich war diese per/ormance der Grund dafür, daß sich englische Journalisten im Jahre 1960 verwundert die Augen rieben und diese rasante wirtschaftliche, soziale und kulturelle Modernisierung, die das Gesicht des Land grundlegend veränderte, (als erste?) als "Wtrtschaftwunder" bezeichneten, ein Begriff, der zunächst für Italien galt, dann aber zum Allgemeinplatz wurde. Zudem hatte die Lira erst kurz zuvor den begehrten Währungs-Oscar erhalten, der von Experten der renommierten Financial Times verliehen wurde. Eine größere Auszeichnung härte sich das Land nicht wünschen können, zumal die Feiern zum 100jährigen Bestehen des italienischen Einheitsstaates anstanden und man vor lauter Euphorie sogar dazu überging, vergangene und gegen­ wärtige Führungseliten über den grünen Klee zu loben. Warum auch nicht, schließlich hatte man Außerordentliches vollbracht: von 1959 bis 1962 war die Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe durchschnittlich um 9,98% jährlich gestiegen (in den kapitalintensiven Zweigen sogar um 17,3%) und mit einem 66 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch R. Valcamonici, Struttura di mercato, accumulazione e produttivita del lavoro nell'industria manifatturiera italiana, 1951-1971, in: G. Carli (Hrsg.), Sviluppo economico e struttuse linanziarie in Italia, Bologna 1977, S. 226-229. Abweichende, skeprische und auch heftig ablehnende Meinungen vertritt S. Battilossi, L'ltalia nel sistem.a economico intemazionale, Mailand 19%. Bemerkens­ wert die jüngsten Arbeiten zur interlocking directorates technique, zuletzt A. Rinaldi I M. Vasta, The Structure of Italian Capitalism. New Evidence Using LD. T., Modena I Siena 2003, die den Rückgang der Konzentration nicht für bewiesen halten (S. 34 f.). Zumindest bis 1962 lassen Branchen wie Elektro-, Auto- und Chemieindustrie daran tatsächlich wenig Zweifel.

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Wachstum des BIP von 6,56% hatte man alle bisherigen Rekorde gebrochen. Und eine Verlangsamung war nicht in Sicht, denn in diesen vier Jahren stiegen die Investitionen in Maschinen durchschnittlich um 13,4% jährlich (1951-1958 waren es 4,8%)67• Unterdessen waren auch die anderen Branchen nicht untä­ tig. Der Diensdeistungssektor ver2eichnete einen Zuwachs von Beschäftigten, der aufgrund von Zuordnungsproblemen vielleicht überschätzt wurde, aber die zukünftige Bedeutung des tertiären Sektors bereits erahnen ließ. Selbst die Landwinschaft, deren Wachstumsraten zwar von 3,13 auf 1,08% gefal­ len waren, tat das ihre, denn sie befand sich mitten in einem tiefgreifenden Umwandlungsprozeß: Die Besitzverhältnisse wurden revolutionien, die Zahl der Beschäftigten sank von 1951 bis 1961 von 9 auf 6 Mio., während das fixe Kapital (unterschiedlichste Maschinentypen, Vieh, Ausrüstung) und der Einsatz von Industrieprodukten (chemische Düngemittel, Brennstoffe) rasant zunahm. Dies äußerte sich in einem Anstieg der Wertschöpfung von 321.000 im Jahre 1951 auf 626.000 Lire (in Lire 1963) pro Kopf im Jahre 196168• Allerdings er2äldt eine derarrige Bilanz nur die eine Hälfte der Geschichte, weil sie bestimmte andere Aspekte außer Acht läßt, die Licht- und Schatten­ seiten, Potentiale und Inkongruenzen deutlich hervonreten lassen. Da wären zum einen die allgemein mittelmäßigen, oft aber auch schlechten sozialen und rechtlichen Bedingungen. Obwohl sich insgesamt eine Verbesserung abzeich­ nete, war doch die Lage in Süditalien weiterhin dramatisch. Vor allem die junge Generation sah sich- zum zweiten Mal im 20. Jahrhunden- gezwungen, in Norditalien oder in den reichen europäischen Ländern ihr Auskommen zu suchen. Dieser Prozeß war in doppelter Hinsicht unheilvoll, weil dadurch sowohl der Arbeitsmarkt in den Industrieregionen aus den Fugen geriet, als auch die Heimatregionen der Migranten das Potential verloren, das sie zu ihrem Aufbau eigentlich dringend benötigt hätten. Darüber hinaus war das Pro-Kopf-Einkommen in den südlichen Regionen und auf den Inseln - wo 67 Daten zur Industrieproduktion und ihrer kapitalintensiven Zweige: ACN, 2

(1972), s. 18-30.

68 Ein komplexer Zusammenhang, typisch für hochentwickelte Länder: eigentlich müßte man dieWertschöpfung der Landwirtschaft dadurch berechnen, daß man zu den direkten Einkommen die indirekten hinzurechnet, die durch die Nachfrage der Land­ wirtschaft in anderen Sektoren der Volkswirtschaft ausgelöst werden. Und zwar heim Input, d.h. der Nachfrage nach Technologie und Ausrösrungen ( Chemie, Maschinenbau, Energie usw.) zur Erhöhung der .natörlichen" Fruchtbarkeit; und heim Output, d.h. Verarheirung und Vermarkrung des Endproduktes. Dazu G. Di Sandro, Agticoltura e sviluppo economico, Mailand 2002, S. 39-48. Zu den theoretischen Grundlagen dieser Position H.]. Davis I RA. Golde/berg, A Cuncept of Agrihusiness, Camhridge 1958. Offenbar wird dieser Ansatz von italienischer Seite nicht angemessen heröcksichtigt. Dazu siehe auch M. De Benedictis, Economis e politica agraris, in: ESS, Bd. 3, S. 2639. Der Begriff.Wmschaftswunder" wurde zum erstenmal in einem anonymen Artikel im «Econornist» und von R Bayley in "The Director" verwendet, hier zitiert nach der italienischen Ü bersetzung in: Monda economico, 47, 1960.

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ca. 38% der Bevölkerung lebten-, das bereits 1951 weit unter dem nationalen Durchschnitt gelegen hatte, bis 1961 im Verhältttis noch weiter gesunken.

Tabelle J Pro-Kopf-Einkommen (in Lire 1963) in den Makroregionen und Italien insgesamt und regionale Unter schiede (in%), (1951-1961)69

1951 1961

1

2

3

4

5

NordWesten

NordOsten

MittdItalien

Süden undlosdn

Italien insgesamt

436,1 794,5

301,5 569,1

334,2 561,1

207,8 319,3

305,9 535,4

4/1

4/2

4/3

4/5

47,7 40,2

68,9 56,0

62,2 56,9

67,9 59,6

1958 waren 7% der Bevölkerung war so arm, daß sie von der Gemeinde unterstützt werden mußten; die Kindersterblichkeit lag bei 50%o, hinter Spanien und Portugal eine der höchsten in Europa; zwar war 196ldie Zahl der Analphabeten auf 8% zurückgegangen, aber 85% der Italiener hatten nur die Grundschule besucht; nur 10% der Familien besaßen ein Auto, 16% einen Kühlschrank, 13% konnten sich einen kurzen Urlaub leisten; 13% hatten eine Wohnung tttit Bad; 50% der Erwachsenen besaßen eine Armbanduhr70• Ein weiterer wichtiger Aspekt ergab sieb daraus, daß aufgrund der unge­ brochenen Investitionslust die Nachfrage nach Arbeitskräften weiterhin hoch blieb, die Erwerbslosenrate bis 1962 auf 3,4% sank und das Land datttit auf eine. Vollbeschäftigung" zudriftete71• Diese völlig neue Lage sorgte dafür, daß sich die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit umkehrten. Datttit ging eine lange Schwächephase der Gewerkschaften zu Ende, die nicht nur auf die " ACN, 2 (1972), S. 125 f. Tabelle 3 zeigt, daß sieb die regionalen Unterschiede

in diesem Zeitraum noch vergrüßetten. Diese Entwicklung stand in auffälligem Wider­

spruch zu der vielleicht voreilig als Williamson-Gesetz" bezeichneten Annalune, in der Anfangsphase werde die winscbaftliche Entwicklung wachsende Ungleichgewichte hervorbringen, die jedoch später verschwänden. J.G. Williamron, Regional Ioequality and the Process of National Devdopment, in: Economic Devdopment and Cultural Change, 13 (1965), S. 3-84. Zum Thema Migration aus Süditalien siehe G. Mottura I E. Pugliese, Obse1VStions on Same Characteristics of ltalian Emigration in the Last Fifteen Years, in:lotemational Review of Community Devdopment (1972), 27-28, S. 8: von 1959 bis 1969 verließen 2,6 Mio. Menschen den Süden, davon gingen 39% ins Ausland, 61% in andere Regionen Italiens. •

'0 Compendio statistico italiano (künftig CSI), 1%9 und 1970; P Luzzatto Fegiz, ll volto sconosciuto deli'Italia. Dieci anni di sondaggi Doxa, 2. Folge: 1956·1965, Mailand

1966. 71 Bekanntermaßen wurde dieser Begriffvoo Pasquale Saraceno geprägt. Die Zahleo stanunen aus: F. Barca, Campromesse senza rifonne nel capitalismo italiano, in: F. Barca (Hrsg.), Storia dd capitalismo italiano dal dopoguerra ad oggi, Rom 1997, S. 39.

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von Unternehmerseite erzwungene repressive Regierungspolitik zurückzuführen war, sondern auch mit einer gewissen Verunsicherung in den eigenen Reihen zu tun hatte; denn nicht selten hatten die Gewerkschafter Mühe, sich auf die veränderten Produktionsbedingungen und einen ganz neuen Arbeitertypus ein­ zustellen. Thren konkreten Ausdruck fand die Umkehrung der Machtverhälmisse in einer Bewegung, die es sich zum Ziel serzte, bei den seit langem stagnierenden Löhnen-während ein Arbeiter 1950 noch 40,5% eines Angestelltengehaltes verdiente, waren es 1960 nur noch 35,8%-nun endlich einen Durchbruch zu erzielen. Zu den Aktivisten der Bewegung gehörten vor allem die .neuen" Industriearbeiter, zumeist junge, unqualifizierte Arbeiter aus dem Süden, die eine derartige T ätigkeit nicht gewohnt waren und denen festgeschriebene Regelo ebenso fremd waren wie die eingefahrenen Praktiken der Gewerkschaft. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit dieser Gruppe, die zunächst einge­ schüchtert war, sich später dann aber oft wild" gebärdete, kam es schließlich doch zu einer gegenseitigen Annäherung mit den .Alten"; ein konfliktreicher Prozeß ohne dauerhaftes Ergebnis, der schon 1959 zu einem Wiederaufleben der Streikaktivitäten führte, die sich 1963 noch verdoppelten". •

Tabelle 4 Streikteilnehmer und verlorene Arbeitsstunden (1958 bis 1963) Streikteilnehmer

1958 1959 1960 1962 1963

1.283.000 1.900.000 2.338.000 2.910.000 3.694.000

verlorene Arbeitsstunden

33.000.000 56.250.000 46.280.000 91.160.000 104.717.000

Der dritte Aspekt war die Bildung einer DC-Regierung unter Tambroni im Jahre 1960, die mit den Stimmen der Neofaschisten gewählt wurde, wobei es zu Unregelmäßigkeiten kam die noch ein jahrelanges Nachspiel haben sollten und erst mit dem dritten Kabinett Fanfani endgiiltig aus der Welt geschafft wurden. Fanfanis dringlichste Aufgabe bestand darin, die Beziehungen zwischen den Parteien zu klären. Doch niemand täuschte sich darüber hinweg, daß es eigentlich um eine grundlegende politische Wende ging, d.h. um eine Öffnung nach links. Diese Wende war mehr als überfällig, weil die Regierung Tambroni abgewirtschaftet hatte und bei weiten Bevölkerungskreisen auf offene Ablelmung stieß, weil es zudem keine andere Alternative gab und-nicht zuletzt -weil das ,

12 L. Bordogna I G. Provasi, fl movimento degli scioperi in Italia, S. 178. Zum Thema des unterschiedlichen Niveaus von Löhnen und Gebältero in dieser Periode siehe G. Gagliani, I:andamento della distribuzione del reddito dipendente tra salari e stipendi in Francia, Germania, Inghilterra e Italia, in: Note economiche, 6 (1977), 5-6.

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Land mit seiner überschäumenden wirtschaftlichen Entwicklung eine starke Führung brauchte. Bahnbrechend in dieser Hinsicht war der Parteitag der DC im Januar 1962 in Neapel. Schon in seiner Eröffnungsrede verzichtete der Parteivorsitzende Moro auf das übliche kryptische und barocke Gerede und kam gleich zur Sache: .Als mögliche Perspektive sehe ich, ohne in leichtfertigen Optimismus zu vetfallen, nur eine Zusammenarbeit ntit jenen Kräften, Interessen und Ide­ alen, die sich im Gravitationsfeld der Sozialistischen Partei bewegen"73• Eine entschiedene Aussage, deren Gewicht allerdings dadurch relativiert wurde, daß der Christdemokrat Segni, einmal mehr ntit den Stimmen der Rechten, zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Das änderte jedoch nichts daran, daß die neue Programmatik im .Schlußantrag" formuliert und auf dem Parteitag mit großer Mehrheit angenommen wurde. Schon im Februar erfolgte die Umsetzung: Fanfani bildete eine Koalitionsregierung aus DC, PSDI und PRI, die mit der nicht ganz wohlwollenden Enthaltung der Sozialisten gewählt wurde, vermutlich jedoch nur zustande kam, weil der amerikanische Präsident Kennedy im Juni 1961 .vorsichtige Sympathie" geäußert hatte (und auch ein­ flußreiche Vatikankreise stillschweigendes Einverständnis signalisierten)". Im Gegensatz zum unentschlossenen Lavieren ihrer Vorgängerio bekräftigte die neue Regierung den Führungsanspruch der Politik und legte ein Programm vor, das mit Ausnalnne des 1957 vertraglich festgelegten Beitritts zur Europäischen WirtSchaftsgemeinschaft in allen Bereichen einen grundlegenden Politikwechsel anvisierte. Was sich durch die Enthaltung des PSI bereits angekündigt hatte, wurde für den aufmerksamen Beobachter angesichts der einzelnen Programm· punkte vollends zur Gewißheit. Zwar hielt man entschieden am Grundsatz einer antikommunistischen und Nato-freundlichen Politik fest, plante jedoch zugleich die Verlängerung der Schulpflicht bis zum 14. Lebensjahr, die Besteuerung von Akrienbesitz, die Wahl regionaler Räte, die Abschaffung der Halbpacht, die Verstaatlichung der Energieindustrie und eine Reform des Städtebaus. Waren diese Punkte an sich schon ungewöhnlich, so bestand die wabre Sensation darin, daß sie als organische Bestandteile einer konzertierten Wirtschaftspolitik vorgestellt wurden, die parteiübergreifend auf Zustimmung stieß. Hauptziel, so heißt es in der .Zusatznote" zum Haushalt 1962, die Finanzntinister La

" G. Tambu"ano, Storia e cronaca del Centro-Sinistra, Mailand 1990, S. 13. 74 Das vorsichtige, aber eindeutige Einverständnis von Kennedy wird von Schlesinger, einem seiner engsten Berater, erwähnt. A.M. Schlesinger Jr., A Thonsand Days.John F. Kennedyin the WhiteHouse, BostonMA 1965, S. 871. Ebensowie .der endlose Kampf" davor und danach, der geführt werden mußte, um den anhaltenden, von Segni ermunterten Widerstand in der Verwaltung zu überwinden, ebd., S. 874. Eine gute Übersicht über die lange ablehnende, dann jedoch geänderte Haltung des Vatikans findet sich bei P. Scoppola, La Democrazia Cristiana, in: G. Pasquino (Hrsg.), La politica italiana, Rom I Bari 1995, S. 221-222.

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Malfa schon drei Monate nach Amtsantritt vorlegte, sei die Überwindung der althergebrachten Ungleichgewichte, die dem Land das Leben schwer machten, und um dieses Ziel zu erreichen, werde man eine gezielte Einkommenspolitik betreiben, um den privaten und öffentlichen Konsum verstärkt zu fördern. 2.

Politische Kräfte, so:dale Klassen, öffentliche Meinung und Mitte-Links-Regierung

Obwohl die vorhandenen oder aus gegebenem Anlaß aufbrechenden Mei­ nungsverschiedertheiten anläßlich der Verttauensfrage im Parlament eigentlich nur angedeutet wurden, kam darin doch der Konflikt zwischen den politischen Richtungen deutlich zum Vorschein, der im übrigen die kontroversen Meinun­ gen und die wachsende Spannung im Land getreulich widerspiegelte. Damals erhitzte die Tagespolitik die Gemüter weiter Bevölkerungskteise, überall wurde leidenschaftlich diskutiert und zahlreiche Berufsgruppen traten in den Streik. Im ganzen Land führten diese Arbeitskämpfe wiederholt zu Spannungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei, insbesondere jedoch anläß­ lich der Tarifverhandlungen in der Metallindustrie, die Anfang 1962 begannen, sich mehr als ein Jabr hinzogen und nach Aussage der Gewerkschaft mit einer Lohnerhöhung von 32%, aber auch mit der umstrittenen Aufspaltung der Tarifverhandlungen in eine nationale und eine betriebliche Ebene endeten". Bis dahin war diese Trennung sowohl bei der Confindustria als auch bei den Einzelbetrieben auf gtundsätzliche Ablehnung gestoßen, weil sie Auswirkun­ gen auf die bis dahin stabil hohen Profitraten fürchteten". Fatalerweise hatte dieser Abschluß Signalwirkung, wurde vielerorts übernommen und leitete eine lange Phase ein, auf deren Auswirkungen wir noch zurückkommen werden. Ein gravierendes Problern stellte dieser Abschluß vor allem für die Regierung dar, weil damit ihr schönes Projekt einer planmäßigen Steuerung der wirt­ schaftliehen Entwicklung in Frage gestellt wurde, nachdem sie im August 1962 bereits eine Kanunission aus Vertretern der Sozialpartner und Experten mit der Ausarbeitung entsprechender Richtlinien beauftragt hatte. Weitaus gravierender als alle wirtschaftspolitischen Erwägungen war jedoch der Umstand, daß diese Arbeitskämpfe den Auftakt zu einer Art belturn omnium contra omnes bildeten, denn noch bevor die Regierung überhaupt entsprechende Gesetzentwiirfe ins Parlament einbringen konnte, ging die Wtrtschaftslobby in die Offensive und

" S. Turone, Storia del sindacato in Italia. 1943-1%9, Rom I Bari 1973, S. 363. 76 Im Unterschied zu anderen volkswirtschaftlichen Größen blieb die Profitrate in den größten kapitalistischen Ländern auch nach 1%3 mebs oder weniger konstant; vgl. S.A Marglin I A Bhaduri, Profit Squeeze and Keynesian Theory, in: S.A. Marglin I J.B. Schor (Hrsg.), The GoldenAge of Capitalism, S. 178. Nach F. Barca, Compromesso senza riforme nel capitalismo italiano, S. 50, sank sie bei Industriebetrieben mit mehr als 200 Beschäftigten drastisch.

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entfesselte eine Propagandaschlacht ohnegleichen. Bereits am 4. Januar 1962 veröffentlichte die Zeitung .24 ore" eine Stellungnahme der Confindustria, die sich - in einem Land mit strenger Westorientierung und einer Wählerschaft, die zu zwei Dritteln antikommunistisch wählte- wie die Ausgeburt einer kran­ ken Phantasie ausnahm. Im Hinblick auf die Wmschaftsplanung wurde darin behauptet, daß .kleine und mittlere Unternehmen sich bald in der gleichen Situation wiederfinden könnten wie ihre tschechoslowakischen, ungarischen und chinesischen Kollegen im Jahre 1950". In einer wahren .Medienschlacht", an der sich maßgebliche Presseorgane ebenso beteiligten wie Provinzblätter, wurde dieses Argnment- mehr oder weniger abgewandelt- inuner wieder vorgetragen. Erklärtermaßen wurde damit das Ziel vetfolgt, die Massen gegen die Regierung zu mobilisieren: Zehntausende von .enteigneten" Kleinaktionären der Strom­ konzerne"; Hunderttausende, die durch die Aktiensteuer ihrer Hoffnungen .beraubt" waren; Wohnungseigentümer, die wegen der.Verstaatlichung", dem Eckpfeiler der Städtebaureform, angeblich um ihre Wohnung fürchten mußten. Durch diese maßlosen Übertreibungen wurde der Konflikt inuner weiter ange­ heizt. Noch tiefer wurde die Kluft zu einem nennenswerten Teil der privaten Großindustrie sowie den Staatsbetrieben (ausgenommen IRI), als die Regierung mit Zustimmung von Fiat, Montecatini und der .Nationalen Vereinigung der Stromverbraucher", in der die betroffenen Industriebetriebe organisiert waren, die Verstaatlichung der Stromindustrie beschloß. Doch Valletta ging sogar noch weiter. Nachdem er Ende Juni 1962 in einem Zeitungsinterview zunächst der Mitte-Links-Regierung seine Unterstützung zugesagt und die Gewerkschaften erneut scharf kritisiert hatte - wenige Monate später schloß er mit ihnen einen Vertrag, der die Einheitsfront der Industrie sprengte -, stellte er dann der Confindustria ein echtes Ultimatum: .Ich habe den Eindruck, daß gewisse Kreise der Confindustria die Regierung unter Druck setzen, ... damit sie von ihren strengen Prinzipien abtückt". Auch Angelo Costa sparte privat nicht an Schelte für das Verhalten der Energiekonzerne78• Diese prekäre, unübersichtliche Gemengelage stellte auch das politische Leben vor eine Zerreißprobe. Für heftige Debatten sorgten dabei nicht so sehr die Konflikte zwischen den Parteien, als vielmehr Richtungskämpfe innerhalb 77 Zu diesem Thema siehe G. Mori, La nazionalizzazione in Italia: il dibattito politico economico, in: La nazionalizza.zione dell' energia elettrica: 1' esperienza italiana e di altri paesi europei. Atti del convegno internazianale di srudi, 9.-10. November 1988 per il XXV anniversario dell'istituzione dell'ENEL, Rom I Bari 1989, S. 101-106, sowie G. Tambu"ano, Stotia e cronaca del Centro-Sinistra, S. 167-176. Die negative Einstel­ lung der IRI zur Nationalisierung spricht deutlich aus der Erklärung des Präsidenten Giuseppe Pettilli, veröffentlicht in: Atti della Commissione pariamenrare di ineltiesta sui limiti posti alla concorrenza nel campo economico, Rom 1985, hier Bd. 2: Resoconti degli interrogatoti consultivi, Sitzung vom 21. November 1962, S, 371.

78 D. Speroni, TI romanzo della Confindustria, S. 84; A. Costa, Scritti e discorsi, Bd. 4, S. 599.

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der einzelnen Parteien. Der rechte Flügel der DC, ungefähr hundert Abgeord­ nete unter Führung von Scelba und Gonella, setzte sich dafür ein, das Gesetz über die Verstaatlichung zu Fall zu bringen oder wenigsten in der Kammer zu blockieren, und drohte sogar mit Abspaltung: Keine leere Drohung, werm man bedenkt, welche Konsequenzen dieses Verhalten nur wenige Monate später haben sollte. In einer ähnlichen Situation befanden sich auch PCI und PSI. Amendola bezeichnete die "Zusatznote" als "lang ersehnte Wende", während Ingrao und andere führende Politiker das Gesetz als hinterhältigen Versuch werteten, die Arbeiterklasse zu vereinnalunen und in ein modernisiertes kapi­ talistisches System einzubinden. Diese parteiinterne Spaltung konnte bis zur Auflösung des PCI (und auch danach) nie wieder überwunden werden. Auch die Sozialisten blieben von einer vergleichbaren Zerreißprobe nicht verschont, was dazu führte, daß der linke Flügel, der den Entscheidungen der Mehrheit kompromißlos gegenüberstand, zwei Jahre später die Partei verließ. Zwar konnten drei Gesetze aus dem Regierungsprogramm - Schulpflicht, Aktiensteuer und Verstaatlichung- bis zum November verabschiedet werden, die beiden letzteren sogar mit Zusrinunung des PCI, aber in einem solchen Klima hätte selbst ein zweiter Candide nicht auf eine glückliche Reise des Regie­ rungsschiffs gewettet- zumal bald Wahlen vor der Tür standen. Unterdessen kamen zu der Offensive der Confindustria die Attacken des PCI hinzu, derm die "besondere Opposition", die Togliatti auläßlich der Vertrauensfrage des fünften Kabinetts Fanfani unter anderem zur Beschwichtigung parteiinterner Kritiker angekündigt hatte, wurde schon bald von systematischen Angriffen auf die Regierung, den PSI und dessen wiederholte "Einbrüche" überlagert. Schützenhilfe kam dabei auch von der CGII., die die "Zusatznote" für einen Vorwand hielt, um der Arbeiterklasse und ihren berechtigten Forderungen Zügel anzulegen". Kaum waren die Weihnachtsferien zu Ende, als das Schiff sein Ziel erreichte. Nach einem abermaligen Austausch scharfer Angriffe beschlossen PSI und DC, ihre Zusammenarbeit zu beenden, ohne daß jedoch die Regie­ rung zurückgetreten wäre, derm schließlich stand der Wahlkampf vor der Tür und nach den Wahlen würde man über eine Fortsetzung der Zusammenarbeit gegebenenfalls neu verhandeln. 3. 1963: Das Jahr der

Überraschungen

Die erste Überraschung intellektueller Art kam von den Wtrtschaftsexper­ ten, denn um den Trend des BIP pro Kopf in Italien zu analysieren, stützten sie sich ausschließlich auf einschlägige Studien der Pioniergeneration (E.E. Denison, R.C.O. Matthews, Angus Maddison u.a.), die sich ihrerseits an 79 Anfang 1964 schien die CGIL für ein paar Monate von ihrer unnachgiebigen Haltung Abstand zu nehmen, S. Turone, Storia del sindacato in Italia, S. 592 f.

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dem neoklassischen Modell von Solow orientierten: "Capital accumulation is subject to diminishing retums such tbat in tbe long run, tbe rate of growtb is independant of tbe rate of investment and tbus of policies which influence investment". Als bestimmender Faktor galt vielmehr der - per definitionem exogene - technische Fortschritt, wobei das generierte Wachsturn als .total factor productivity" (TFP) oder "residuo" (R) gemessen wird. Dieser Ansatz wird auch heute noch vertreten, obwohl Abramovitz darin schon in den fünf­ ziger Jahren .das ganze Ausmaß unserer Unkennmis" zu erkennen glaubte und neuere Forschungen anregte, die schließlich zur .endogenous growtb tbeory" führten. Allerdings lassen die erzielten Etgebnisse immer noch zu wünschen übrig80• In gewisser Hinsicht trifft diese Erkenntnis auch auf die .endogenous growtb tbeory" zu, wo die TFP (die Differenz zwischen dem Mittelwert des Produktionswachstums und dem Mittelwert des Wachstums der Einzelfaktoren Kapital und Arbeit) keine entscheidende Rolle spielt. Dieser grundsätzliche Unterschied zur neoklassischen Schule veranlaßte Rohert Solow bereits 1994, sich eingehend mit der .endogenous growth tbeory" auseinanderzusetzen und die daraus resultierenden grundlegenden Probleme für seinen Ansatz zu erörtern. Danach belebte sich die Diskussion zusehends und drehte sich vor allem um die Tendenz der neoklassischen Schule, ihr System um einige, nicht unwesentliche Ergebnisse der Gegenseite zu ergänzen. Danach ist das Prokopfeinkommen nicht von einem exogenen Faktor wie dem technischen Fortschritt abhängig, sondern von den Investitionen im weitesten Sinn, wozu außer dem physischen Kapital auch das Humankapital und Aufwendungen für angewandte und Grundlagenforschung gehören; folglich haben wir es dabei mit einer Größe zu tun, die das Einzelunternehmen ebenso betrifft wie die Wirtschaftspolitik, d.h. direkte und indirekte Maßnahmen des Staates, der dadurch die Entwicklung des Prokopfeinkommens beeinflussen konnte, und zwar in Italien mehr als anderswo. Die Daten der folgenden Tabelle sprechen für die Richtigkeit dieser Annahme und können als Beleg für eine Reihe weiterer .realer" Überraschungen inter­ pretiert werden, von denen noch zu reden sein wird.

80

Diese These wird vertreten von Mokyr in seiner brillanten Abhandlung über

die vexata quaestio: "Economists have remained loyal to total factor productivity ana­ lysis, perhaps more than concept deserves", ]. Mokyr, Accounting for the Industrial Revolution, in: R. Floud I P. Johnson (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Modem Britain, 3 Bde., hier Bd. 1: Industrialisation, 1700-1860, Cambridge 2004, S. 7. Die beiden vorherigen Zitate inN.ER. Cra/ts, The GoldenAge, S. 430, sowie M A. Abramovitz, Resources and Output Trends in the United States, in:American Economic Review, 46 (1956), S. 3-23. Für das folgende Zitat R. Solow, Perspectives in Growth Theory, in: Journal of Eoonontic Perspective, 8 (1994), S. 45-54. .

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Tabelle 5 Durchschoittliches Jahreswachstum der drei Makroindihtoren (in Lire 1963) 1951-1958 Bruttoinvestitionen insgesamt Pro-Kopf-BIP Industrieproduktion

8,07 5,01 7,58

1959-1962 12,65 6,56 9,98

1963-1973 2,47 3,91 5,35

Daraus geht eindeutig hervor, daß die Investitionen ab 1963 einbrechen und die rückläufige Entwicklung des BIP pro Kopf das Ende des Goldenen Zeitalters" anzeigt". •

Die Ursache für die erste tatsächliche .Überraschung" war die Wieder­ aufnahme der Arbeitskämpfe, die diesmal jedoch -verglichen mit den Lohn­ kämpfen von 1959 -ganz andere Ausmaße annahmen und ab 1962 wie ein Wirbelsturm über die Wirtschaft des Landes hereinbrachen. Das galt vor allem für die Industrie, das .Herzstück" des "Wirtschaftwunders", wo die Lohnsrück­ kosten von 1959 bis 1964 um 44% stiegen. Möglicherweise war allein diese Kostensteigerung für die Unternehmen schon untragbar. Verschärft wurde der Kostendruck jedoch noch dadurch, daß nun -nach einem weitgehenden Abbau der Handelsbeschränkungen, der auf Druck der USA von der OEEC gefördert wurde -eine neue Handelsrichtlinie der Europäischen Wirtschafts­ gemeinschaft (EWG) in Kraft trat. Danach sollten die Zölle zwischen den sechs Mitgliedsländern ab 1959 in drei Phasen abgeschafft werden. In Italien, wo die Zölle am höchsten waren, bedeutete das für die einbeimischen Unternehmen das Ende des besonderen Wettbewerbsvorteils auf dem Binnenmarkt: Eine vorhersehbare, aber deshalb nicht weniger folgenreiche Entwicklung. Ebenso folgenreich wie das sprunghafte Ansteigen der Lohnkosten, denn in den anderen Ländern gab es keine derartige Kostenexplosion, weil dort die Lohnentwicklung nach dem sogenannten postwar settlement durch regelmäßige Tarifabschlüsse gesteuert wurde, bei denen Inflationsrate und Produktivitätsfortschritt ebenso berücksichtigt wurden wie die Abgaben zur Arbeitslosenversicherung". 81 Dazu F. Janossy, La fioe dei miracoli economici, Rom 1974, der ein gaoz beson­ deres Modell konstruiert und nicht so sehr dessen Ende wie dessen Unhaltbarkeit theo­ retisiert. Und er möchte zeigen, wie das quantitativ außergewöhnlicheWachstum dieser Jahre in den drei Ländern, die die Protagonisten in diesem Aufsatz sind - keineswegs zufallig Deutschlaod, Italien uod Japao, die Verlierer des Zweiten Weltkrieges -, den Anschluß an ihre Langzeittrends zur Folge hatte. In Tab. 5 wurden die Berechoungen auf den Werten von ACI, 2 (1972), S. 78, 5, 18 (Preisniveau 1%3) aufhauend berechner.

" Zu den vorhergehenden Ausführungen siehe F. Porte, La congiuotura in Italia. 1961-1965, Turin 1%6, Tab. 16, S. 429. Zum Abbau der Haodelsbeschränkungen, d.h. der graduellen Reduzierung der non tari/f barriers (aber nicht der Impottzölle) sowie dem entsprechenden Drängen der USA siehe A.S. Mi/ward, The Reconstruction ofWestem Europe 1945-1951, S. 56 ff. Ein Vergleich der Schutzzölle in den verschie-

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Die zweite Übetraschung, die jedoch weoigsteos zum Teil mit der etsteo zusammenhing, ergab sich daraus, daß die Confindustria immer weiter io die Offensive giog, je problematischer die Haltung der Regietung wurde. Bald beschränkte sie sich nicht mehr auf publizistische oder parlamentarische Attacken, sondern verlegte sich auf destabilisiereode Aktionen, die quasi einem .Kapitalboykott", so Salvati, gleichkamen. Eioerseits setzte eine wahre .Kapi· talflucht" ein - schließlich hatte man mit Auslandsanlageo nach dem Ersteo Weltkrieg schon eiomal gut verdieot -, von 1959 bis 1972 wurdeo eoorme Geldmengen ios Ausland transferiett (bis 1963 belief sich die Summe auf 914 Mrd. Lire) und ab Ende 1963 kam es zu einem regelrechteo lnvestitionsboy· kott. Andererseits griff man, um die Profitmarge zu gewährleisteo, die sich im Übrigeo durchaus mit andeteo großen Industrieländern messen konnte, auf Untetneluneosebeoe zu einem hiotethältigeo, abet wirksameo Mittel, iodem man die Lohnerhöhungeo auf die Preise abwälzte. Daraufbio stieg der Preisiodex (1953=100) von 112,5 (1959) auf 144,1 Ende 196483 und löste eineo wahren Inflationsschub aus, det die Regietung vor graviereode Probleme stellte. Nicht weniger problematisch war der massive Anstieg der Importe, dereo durch­ schnittlicher Anteil von 9,2% (1951-1958) auf 18,6% (1959-1963) pro Jahr zunahm, zum großen Teil verursacht durch die wachseode Nachfrage sowie die Durchlässigkeit des Bioneomarktes für ausländische Wareo. Dies wirkte sich sofort negativ auf die Handels- und die Zahlungsbilanz aus: Der ÜbetSchuß von fast 600 Mrd. Lire aus dem Jahre 1959 vetwandelte sich schlagartig io ein Defizit von 780 Mrd. Lire im Jahre 1963. Eioeo nicht unetheblicheo Anteil daran hatte auch die erwähnte Kapitalflucht. Darübet bioaus war das Vethalteo det Regierung und det Banca d'Italia io diesetFrage nicht getade vorbildlich, was, wie Porte schreibt, .mit einet Reihe von Grändeo zusammenhing, die mit det politischen Instabilität im Jahre 1963 zu tun harteo "84• Die dritte Überraschung war das Wahlergebnis vom April 1963, welches sich als .politischer" Triumph der Confindustria eotpuppte, denn det klare Gewionet wareo die Liberalen, die mit 7% ihreo Stimmeoanteil von 1958 (3,5%) vetdoppeln konnten. Die DC büßte gut 4% der Stimmen ein, währeod denen Ländern: C.M. Pierucci I A. Ulizzi, Evoluzione delle tariffe doganali italiane di prodotti manufatti nel quadro della integrazione economica italiana, in: Contributi alia ricerca economica del Servizio Srudi della Banca d'ltalia, 3 (1973), S. 274, 276. Eine allgemeine Darstellung des "post-war settlement" in den verschiedenen europäischen Ländern mit umfangreicher Bibliographie: G. Herrigel, Industrial Constructions. Tbe Sources of GermanIndustrial Power, Garnbridge 1996, hier vor allem S. 208 f. und s. 376 ff.

" M. Salvati, Economia e politica, S. 89. R. All e n I A. Stevenson, lntroduction to italian economy, London 1974 (zitiert nacb der italienischen Ausgabe, Bologna 1976, S. 144-146); F. Porte, La congiuntura in Italia, Tab. 3, S. 445; Tab. 4, S. 417; Tab. 5 7, S. 472; Tab. 63, S. 480. 84

Ebd., S. 148, zur Zahlungsbilanz siebe Tab. 3, S. 445.

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sich der PSDI- die Bremser in der Regierung- von 4,6 auf 5,1% verbessern konnte. Der PCI gewann 2,6% hinzu und der PSI verlor 0,4%. Damit war das Ende der reformorientierten Mitte-Links-Koalition offiziell besiegelt (tatsächlich war der Bruch zwischen DC und PSI wegen unüberbrückbarer Differenzen bereits vor Monaten erfolgt, wurde jedoch lange hartnäckig geleugnet), obwohl ihre konsequentesten Anhänger sie gerade erst am Anfang sahen. Daran ver­ mochten auch vollmundige Beschwörungen und eine Flut von Papieren über die neuartige Wittschaftsplanung, die nicht selten an den Hof in Byzanz erin­ nerten", nichts zu ändern. Dennoch war die Bilanz aus Sicht des Historikers durchaus nicht zu verachten. Denn außer der Modernisierung der Wirtschaft gehötten dazu auch Vorhaben wie das Städtebaugesetz, das von der DC und den entsprechenden Interessengruppen verhindert wurde, und die langsame Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens, insbesondere ein liberaleres Vorgehen von Behörden und Institutionen bei Arbeitskämpfen. 4.

Das Ende des .Goldenen Zeitalters" und seine Hinterlassenschaft

Die auffälligste Hinterlassenschaft des .golden age" war die Abschaffung des .niedrigen Lohnniveaus", ein Durchbruch, der, wie Vera Zamagni hervor­ gehoben hat, nur als historisch bezeichnet werden kann. Dies kann nicht oft genug betont werden. Zwar war der Anteil des Einkommens aus unselbstän­ diger Arbeit von 1951 bis 1959 nur von 48,6 auf knapp 50% des Nationalein­ kommens gestiegen, erreichte aber in den folgenden fünf Jahren 58%86 und 1971 sogar 62%. Dieser sprunghafte Anstieg ist eindeutig auf die gewachsene Kampfbereitschaft der Arbeiter zurückzuführen. Doch in die .klassischen" Forderungen der Gewerkschaften nach Lohnerhöhungen, Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und Ausbau der Bürgerrechte mischten sich bald neue Töne, mit denen sich eine Veränderung der Bedürfnisse ankündigte; wie in allen kapitalistischen Ländern begann damit der unaufhaltsame Siegeszug dessen, was von J.S. Duesenberry in seinen Untersuchungen zum Konsumverhalten als .demonstration effect" bezeichnet wurde". Danach entwickelte sich die Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern wie Kühlschränken, Fernsehern, Autos, Waschmaschinen und Möbel, die bis dahin den mitderen und hohen Einkommen vorbehalten waren, zu einem Massenphänomen. Die Konsumge­ wohnheiten ändetten sich, auch Geringverdienende verlangten nach diesen Gütern, selbst wenn sie sich dafür bei den Grundbedürfnissen einschränken mußten, und zwar um so mehr, je mehr die Löhne stiegen. Italien war gera" Die Bilanz eines fachkundigen politischen Protagonisten: M. Carabba, Un ven­ tennio di programmazione 1954-1974, Rom I Bari 1977. 86

ACN, 2 (1972), S. 45. J.S. Duesenberry, Income Saving and the Theory of Consumer Behaviour, Cambridge 1949. trl

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dezu ein Lehrbeispiel für dieses Phänomen. Wurden 1951 noch 3,2% der Gesamtausgaben für langlebige Konsumgüter aufgewendet, waren es 1959 schon 4,4%. Bis 1963 stieg der Anteil auf 7,6% und blieb dann bis etwa 1972 stabil. Dabei reichen wenige empirische Daten, um die Verläßlichkeit dieser Aussage zu belegen. Von 1961 bis 1973 stieg die Anzahl der angemeldeten Fernsehgeräte von 1,6 auf beinahe 11 Mio. an, die Zahl der Autos wuchs von 1962 bis 1972 von 3 auf 13 Mio. Da sich die Zahl der Haushalte nach der Volkszählung 1971 auf ca. 15 Mio. belief, kann daraus geschlossen werden, daß fast jede Familie einen Fernseher und ein Auto besaß, also auch die abhängig beschäftigten Lohnempfänger. Symptomatisch ist auch der Umstand, daß die Quote derjenigen, die sich einen Urlaub leisten konnten, von 1959 bis 1975 von 13,2 auf 35,4% gestiegen war". Es herrschte eine allgemeine Aufbruchstimmung, die sich allein mit dem .de­ monstration effect" nicht erkliiren läßt; das Land war auf dem besten Wege, sich in eine .Gesellschaft des Massenkonsums" zu verwandeln; eine Entwicklung, die grundsätzlich nicht - faktisch aber schon - im Widerspruch stand zu den Vorstellungen einer wirtschaftlichen, sozialen und kulturelle Erneuerung, wie sie unter dem Slogan vom .italienischen Weg zum Sozialismus" vom PCI, aber auch von einer Minderheit des PSI vertreten wurden (im PSI-Wahlprogramm 1963 heißt es .die politische Planung ist eine Etappe auf dem italienischen Weg zum Sozialismus")".

Dieser Weg hätte Italien durchaus in eine spätkapitalistische Industriege· sellschaft führen können, in eine Zukunft, wie sie in dem berühmten Pirelli­ Bericht, der 1970 von der Confindustria in Auftrag gegeben wurde, vorgeführt wurde. Dieser Bericht knüpfte an frühere Vorstellungen einer mitbestimmten Wirtschaftsplanung an, verband diese mit den grundlegenden Werten der Verfassung und den Erfordernissen einer gerechteren Einkommensverteilung und entwarf so das Bild einer Gesellschaft im Wandel, in der sich ganz neue Möglichkeiten eröffnet hätten. Gleichwohl traf der nüchterne, problemori­ entierte, bisweilen auch abstrakte Bericht, in dem sich auch die gespaltenen Reaktionen einer schockierten Öffentlichkeit auf die Tumulte der Arbeiter­ und Studentenbewegung widerspiegelte, bis 1975 auf keinerlei Widerhall". Es steht wohl außer Frage, daß PCI und CGIL bis dahin das Ihre zur völligen .Entgleisung" des ökonomischen Systems beigetragen hatten. Unverkennbar fehlte es Politik und Wirtschaft in dieser schwierigen Übergangsphase an den erforderlichen Führungsqualitäten, um - wie in anderen demokratischen 88 CSI, 1962, 1973 und 1974. Zum Thema Urlaubsreisen sieheP. Battilani, Vacanze di pochi, vacanze di tutti, Bologna 20()1, S. 239.

89 G. Tambu"ano, Storia e cronaca del Centro-Sinistra, S. 128. 90 Der Pirelli-Bericbt ist abgedruckt in: D. Villari, ll capitalismo italiano del Nove­ cento, Bari I Rom 1972, S. 692-705, S. 692-705.

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Ländern längst geschehen - eine Reformpolitik einzuleiten und auf vielleicht unerwanete, aber keineswegs übertriebene Lohuforderungen einzugehen. Viel­ mehr spielte man sich, wie die verhaltene Reaktion auf die Regierung Faufani zeigte, als herrschende Klasse auf. Man setzte alles daran, die eigene Position durchzusetzen, was nur mit Mühe und um einen hohen Preis gelang. Läßt sich damit vielleicht erklären, warum .68" in Italien nie zu Ende geht?

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung Auswirkungen auf das industrielle Wachstum in den italienischen Regionen* Von Patrizia Battilani und Francesca Fauri

Die meist erforschten Faktoren des italienischen Wirtschaftswachstums sind die internationalen Hilfsprogramme, dank derer die Produktion wieder ange­ kurbelt und der Produktionsapparat des Landes modernisiert werden konnte, ohne daß sich das Fehlen einer stabilen Währung negativ ausgewirkt härte; die Öffnung für den Freihandel, die der italienischen Regierung erlaubte, sich gleichberechtigt in die internationalen Handelsbeziehungen einzugliedern, und den Unternehmen, ausländische Märkte zu erobern'. Auch wir werden auf diese Themen eingehen, dabei allerdings einen anderen Schwerpunkt setzen: Wtt he­ handeln die Auswirkungen der beiden Faktoren auf die regionale Verteilung und die Betriebsgröße der italienischen Industrie. Zunächst werden wir den Umfang der Hilfsprogramme (I.), ihre regionale Verteilung (III.) sowie die fortschreiten­ de Liberalisierung des Handels (II.) erläutern, um dann anband ausge­ wählter Regionen näher auf die regionalen Unterschiede einzugehen (N.-VI.).

I. Die italienische Industrie und die internationalen Hilfsprogramme nach dem Zweiten Weltkrieg

1. Die ersten Hilfspliine (1944-1945) Im Jabre 1944 teilte die alliierte Kommission (Suhcommission Industry and Commerce) der italienischen Regierung mit, daß sie ab Juni 1945 über den Kredit, den die USA (als Gegenwert für einen Teil der von den Amerikanern * 1

Aus dem Italienischen von Petra Kaiser.

Zu diesetn Thema siehe folgende Arbeiten: P. Ciocca IR. Filosa IG.M. Rey, Inte­ grazione e sviluppo dell'economia italiana dell'ultimo ventennio: un riesame critico, in: Contributi alla Ricerca Economica, 73 (1973); P. Alessandrini, Note sull'apertura dell'economia italiana: dalla ricostruzione allo SME, in: Rassegna Economica, 1 (1983); V Zamagni, The Italian .Economic Miracle" Revisited: New Markets and American Technology, in: Power in Europe?, 2 Bde., Berlin I New York 1986-1992, Bd. 2: E. Di Nol/o (Hrsg.), Power in Europe? Great Britain, France, Gennany, and Italy and the Origins the EEC, 1952-1957, S. 197-226.

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Patrizia Battilani und Francesca Fauri

ausgegebenen Am-Lire) eingeräumt hatten, verfügen könne, um Rohstoffe und andere lebenswichtige Güter zu importieren'. Zu diesem Zweck sollten Regieruog und Confindustria gemeinsam festlegen, welche Güter die italieoische Wirtschaft zu diesem Zeitpunkt am nötigsten brauchte. Da der Krieg noch andauerte, handelte es sich, so wurde der Plan auch genannt, um eine Art .Erste Hilfe", die sich in erster Linie auf die Reaktivierung der Transportssysteme und der entsprechenden Industtiebetriebe bezog . •zur Zeit belaufen sich die Transpottmöglichkeiten im befreiten Italien auf ein Zehntel der Vorkriegska­ pazität und auf ein Achtel dessen, was Landwirtschaft und Industrie aktuell benötigen." Der zweite Teil des Planes richtete sich auf die Bereitstellung einer hinreichenden Energieversorgung Die Untersuchungen haben ergeben, daß im befreiten Italien die Produktionskapazität der bestehenden Anlagen auf den Inseln zu 100% und auf dem Festland zu 50 % wiederhergestellt werden kann, bis Juni allerdings nur zu 37%." Dabei konzentriette man sich auf den Energiebedarf der vorhandenen Anlagen, da man, wie hervorgehoben wurde, nicht in der Lage war, den Alliierten Bedarfslisten für die Ausstattung neuer Kraftwerke vorzulegen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt über den Mar­ shall-Plan ins Land kamen (direkt aus den USA wurden große thermoelektri­ sche Kraftwerke importiert, mit denen man bereits 1951 doppelt soviel Strom erzeugen konnte wie vor dem Krieg)'. .



Außerdem basierte der Plan auf Schätzungen des Bedarfs in Mittel- und Süditalien sowie im noch besetzten Norditalien, da man davon ausging, daß während seiner sechsmonatigen Laufzeit das gesamte Land befreit werden würde. Dieses Hilfsprogramm für das zweite Halbjahr 1945 sah keinen Wie­ deraufhau zerstörter Anlagen vor, sondern nur die Reparatur und Wiederin­ betriebnahme erhaltener Betriebe und konzentrierte sich, wie bereits erwähnt, auf den Transportsektor. Um die Durchführung dieser ersten Hilfsphase zu begleiten, wurde von der Regierung Bonomi im April 1945 in Washington eine Fachkommission (Deltec) eingesetzt, die als Vermittlungsstelle zur ame­ rikanischen Regierung fungieren sollte, die Entscheidungen über Lieferungen häufig ohne Rücksprache traf4• In den Jahren 1945 und 1946 wurde Italien durch spedal contributions der Vereinigten Staaten mit Dollarkrediten und lebenswichtigen Gütern versorgt. ' Archivio Storico Confindustria (künftig ASC), Fondo ERP, 47 1/3: Fabbisogno di prodotti e di m.ateriali di importazione per un piano di prima aiuto dell' economia italiana. ' Die Stromproduktion stieg von 14,580 kwlh im Jahre 1938 auf 26,350 kwlh im Jahre 1951; im gleichen Zeitraum stieg die Produktion von thennoelektrischer und geoelektrischer Energie von 964 auf 2,850 kwlh. Siehe Comitato Interministerialeper Ia Ricostruzione (künftig CIR), The Development of Italy's Economic System in the Framework of European Recovery and Cooperation, Rom 1952, S. 167-170.

4 G. Maione, Teenocrarid e mercanti. L'industria italiana tra dirigismo e concor­ renza intemazionale 1945-1950, Mailand 1986, S. 16.

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2.

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Das Hilfsprogramm UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration)

Parallel dazu legten auch die Vereinten Nationen bei Kriegende ein Ad­ hoc-Programm auf (im wesentlichen von den USA finanziert). Diese von der UNRRA bereitgestellten Mittel (425 Mio. Dollar) "legten den Grundstein für den Wiederaufbau und verhioderten so den vollständigen wirtschaftlichen, monetären und sozialen Zusammenbruch Italiens"'. Nach Auffassung der UNRRA-Experten6 hiog die zukünftige Wiederaufnalune der Produktion von einer konstanten Versorgung mit einer wachsenden Menge importierter Grundgüter ab7• Tatsäeblich wirkte der Mangel an Kraft- und Rohstoffen .paralysierend" auf die industrielle Produktion: Obwohl sich die Schäden an den Industrieanlagen in Grenzen hielten (nach neuesten Schätzungen beliefen sie sich auf knapp 10%)8, war der Grund für die ungenügende Wiederauf­ nalune der Produktion in den fehlenden Möglichkeiten des Landes zu suchen, die erforderlichen Rohstoffe aus dem Ausland zu besorgen. Italien befand sich in einem Teufelskreis: Da die erforderlichen Rohstoffe nicht importiert werden konnten, kam die Industrie nur schleppend in Gang, was wiederum dazu führte, daß nicht genügend exportiert werden konnte, um die für den Import von Rohstoffen erforderlichen Devisen zu erwirtschaften. Die ersten Hilfslieferungen umfaßten Kohle, Erdöl und Erdölderivate, Roheisen, Stahl, nicht eisenhaltige Metalle und andere Rohstoffe wie Baumwolle und Wolle, über die das Land selbst nicht verfügte. Dennoch schätzte man schon damals, daß die geplanten Hilfsgüter nur 46% des italienischen Importbedarfs decken würden. Angesichts eines angenommenen Gesamtbedarfs von 1.430 Mio. Dollar, blieb bei einem Exporterlös von 550 Mio. Dollar ein Defizit von 880 Mio. Dollar. Dieses Defizit wurde nicht ausgeglichen, da die amerikanischen Zahlungen vor allem im Jahre 1946 besonders gering ausfielen. Dies war zum einen darauf zurückzuführen, daß man die politische Lage in Italien für instabil und wenig vielversprechend hielt, schließlich waren die Linksparteien an der Regierung beteiligt, vor allem aber, so Salvati, auf das wenig effektive Verhalten der Regierung bei der Beantragung und Verteilung der Hilfsgüter'. ' '

CIR, l:economia italiana nel 1947, Mailand 1946, S. 7. UNNRA, Economic Recovery in the Countries Assisted by UNNRA, Washington

DC 1946, S. 129. ' s

Ebd., S. 132.

V Zamagni, Un'analisi macroeconomica degli effetti della guerra, in: V Zamagni (Hrsg.), Come perdere Ia guerra e vincere Ia pace, Bologna 1997, S. 37. 9 .In denJahren 1945-46 demonstrierte die italienische Regierung ganz offen ihren ,Unwillen' oder zumindest mangelnde Initiative, ausländische Finanzmittel zu besorgen, praktisch die einzige Möglichkeit, eine unabhängige Industriepolitik zu begründen", M. Salvati, Stato e industria nella ricostruzione. Alle origini del potere dernocristiano ( 1944- 1949), Mailand 1982, S. 149.

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3. Die Wende von 1947 Eine nennenswerte Verbesserung trat erst ein, als sich De Gasperl imJanuar

1947 bei einem offiziellen Besuch in den USA persönlich wn das Problem der amerikanischen Hilfsleistuogen künunerte. Die Reise wurde als .ein Erfolg in Public Relations" gefeiert, da es ihm gelang, von der Export Import Bank die Zusage für einen Kredit in Höhe von 100 Mio. Dollar zu bekommen10• Schon seit 1945 lag dieser Institution ein allgemeiner Bedarfsplan der italienischen Behörden vor, aber erst nach De Gasperis Besuch änderte sie ihr Verhalten; sie gewährte jetzt einigen Schlüsselbranchen der italienischen Industrie einen Kredit in Höhe von 100 Mio. Dollar. Die Regierung übernahm die Bürgschaft, uod IMI (Istituto Mobiliare Italiano) trat als Vertragspartner auf". Durch den Kredit der Eximbank sollten die italienischen Unternehmen in die Lage versetzt werden, Rohstoffe, Maschinen (25% der gesamten Importe) uod technisches Gerät einzukaufen, wn die Exportindustrie wieder in Gang zu briogen12• Wie aus Tab. 1 hervorgeht, waren die Empfänger einerseits große öffentliche Unter­ nehmen wie ILVA, Alitalia uod Terni, andererseits große private Unternehmen wie Fiat, Montecatini uod Pirelli.

Tabelle 1 Kredite der Eximbank in Mio. Lire Staatsbetriebe IRI-Betriebe ILVA Alitalia Terni Dalmine Privatbetriebe FIAT Montecatini Pirelli s. p.A. Acciaierie e Ferriere Lombarde Falck S.p.A.

2.704,7 19.320,9 5.230,5 3.262,3 2.355,8 2.282,5 41.721,9 6.469,5 3.312,0 2.300,8 1.758,3

insgesamt

63.747,5

Quelle: Eigene Berechnungen nach G. Lnmbardo, I:Istituto Mobiliare Italiano li. Centralili per Ia ricostruzi.one 1945-1954, Bologna 2001, S. 663-693.

10 Detaillierte Ausführungen dazu bei ].E. Miller, Gli Stati Uniti e le elezioni ita­ liane del1948, in: A. Vtzrsori (Hrsg.), La politica estera italiana nel secondo dopoguerra (1943-57), Mailand 1993, S. 171- 172.

11 G. Maione, Tecnocratici e mercanti, S. 214. 12

Istituto per gli studi di economia (künftig ISE), Annuario della congiuntura eco­

nomica italiana 1949, S. 57.

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

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Ähnliches gilt für den Maschinenbau: Hier wurden die von der Regierung im September 1947 zur Produktions- und Exportförderung bereitgestellten Mittel durch den F1M (Fondo Industria Meccanica) auf drei große Unterneh­ men verteilt: an Fiat gingen 12, an Breda 10 und an Caproni 8 Mio. Lire (47 kleinere Unternehmen erhielten zusammen ganze 4 Mio. Lire)". Die wichtigste Veränderung auf politischer Ebene trat im Mai 1947 ein, als De Gasperl die Zusammenarbeit mit den Linksparteien endgültig abbrach und damit das Ende der Regierungen der nationalen Einheit besiegelt war, was bei italienischen Unternehmern und ihrem Verband Confindustria auf allgemeine Zustinunung stieß14• Am 31. Mai bildete De Gasperl eine DC­ Minderheitsregierung, und am 2. Juni versprachen die USA dieser Regierung offiziell ihre Unterstützung. Drei Tage später kündigte Marsball in einer Rede in der Harvard University an, daß seine Regierung bereit sei, ein Programm zum wirtschaftlichen Wiederaufbau in Europa zu finanzieren15• 1948 wurde das vierjährige Hilfsprogramm durch den European Assistance Act verabschiedet und die ECA (Economic Cooperation Administration) mit der Überwachung beauftragt. Am 16. April 1948 wurde in Paris die OEEC (Organization for European Economic Cooperation) gegründet und mit der Durchführung des Marsballplanes beauftragt. Die sechzehn europäischen Mitgliedsländer sollten, wie es in Art. 1 des Vertrages hieß, eng zusammenarbeiten und ein gemeinsames Wiederaufbauprogramm ausarbeiten16• 13 G. Lombardo, L'Istituto Mobiliare Italiano. Centralit3 per Ia ricostruzione 19451954, Bologna 2000, S. 368. Dazu siehe auchA. ]acoboni, L'industria meccanica italiana, Rom 1949, S. 13, sowie ISE, Annuario, S. 60. 14 Über die Krise der Drei-Parteien-Regierung und die Verhandlungen, die zur Bilduog des 4. Kabinetts uoter De Gasperl führten, sieheA. Gambino, Storia del dopo­ guerra. Dalla liberazione al potere DC, Bari 1975, S. 355-360. 15 Die Ziele waren - mehr oder weniger explizit - folgende: den völligen Zusam­ menbruch des Handel und der internationalen Zahluogen zu verhindern; die soziale Stabilität zu fördern, um den kommunistischen Einfluß einzudämmen uod die strate­ gischen Interessen der USA in Europa zu waluen; Deutschland durch eine Politik des Wiederaufhaus in den europäischen Kontext einzubinden uod schließlich die wirt­ schaftliche uod militärische Integration zu fördern. Gimbel hebt den Umstand hervor, daß es auch zu den Zielen des Marshallplanes gehörte, die deutsche Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, ohne die heikle Frage der Kriegsschulden erneut zu diskutieren. Dazu]. Gimbel, The Origins of the Marshall Plan, Stanford CA 1976. Zum Marshallplan siehe auch M.J. Hogan, The Marshall Plan, Cambridge 1987. Weitere sehr interessante Beiträge über den Marshallplan und den europäischen Wiederaufhau sind D. W Ellwood, Rebuilding Europe. Western Europe, America and Postwar Reconstruction, Essex 1992; A.S. Mi/ward, The Reconstruction of Western Europe 1945-1951, London 1984. Zum Thema, welche Intentionen die USA mit dem Marshallplan verfolgten, siehe J.M. Jones, The 15 Weeks: an Inside-accouot of the Genesis of the Marshall Plan and its Meaning, Ithaca 1955, ein halboffizieller Bericht des Srate Department. 16

L. Levi I U. Morelli, L'unificazione europea. Cinquant'anni di storia, Turin 1994,

s. 55-56.

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418

Insgesamt wurden über den Marsballplan Güter im Werte von 12.384 Mio. Dollar nach Europa geliefert. Den größten Anteil erhielt Großbritannien (23,2%), gefolgt von Frankreich (20,8%) und Italien (10,9%)17• Für Italien kam der Marshallplan in einem kritischen Moment, als die Produktion zwar stieg, gleichzeitig jedoch die Reserven zur Bezahlung lebenswichtiger Importe erschöpft waren18• Das Comitato Interministeriale per Ia Ricostruzione (CIR) beschrieb die damalige Lage der italienischen Wirtschaft folgendermaßen: "Während die Nachfrage nach Produkrions- und Konsumgütern aufgrund der langen Kriegsperiode sprunghaft anstieg und entsprechende Importe erfor­ derlich machte, war die Zahlungsfähigkeit . . . durch den dollar gap in Frage gestellt"". Von 1948 bis 1951 flossen durch das European Recovery Program (ERP) 1.347 Mio. Dollar nach Italien, die für den Erwerb von 18 Mio. Tonnen lebenswichtiger Güter verwendet wurden (Lebensmittel, Brennstoff, Rohstoffe und Maschinen). Art und Menge der nachgefragten Güter wurden in spezifischen]ahrespliinen zusammengestellt, die das Ministerium für Industrie und Handel in Absprache

mit dem italienischen Unternehmerverband Confindustria erarbeitete. Betriebe und Privatpersonen, die in den Genuß der Güter kamen, waren gehalten, diese dem Staat in italienischer Währung zu bezahlen. Diese Zahlungen flossen in den Fondo Lire (664,4 Mrd. Lire), den die Regierung in Absprache mit ECA für dringende Öffentliche Arbeiten, den Eisenbahn- und Wohnungsbau ausgab. Ein geringerer Teil (52,2 Mrd. Lire) wurde auch für die Anschaffung von Industriemaschinen verwendet: 10 Mrd. für Klein- und Mittelbetriebe, 10 Mrd. für süditalienische Betriebe, 14,2 Mrd. für die Stahlindustrie und 20 Mrd. für andere Branchen"'. Bis 1949 nutzten die italienischen Unternehmer- sei es wegen bürokrati­ scher Hindernisse, sei es wegen der schleppenden Erholung der Märkte - den Marshallplan fast ausschließlich zur Beschaffung von Rohstoffen, wie die Expertenkommission im Januar 1949 feststellte: "Hier in Washington wundert man sich darüber, daß aus Italien nur nach Brenn- und Rohstoffen gefragt witd, 17

2001.

Dazu F.

Fauri, I:ltalia e l'integrazione economica europea 1947-2000, Bologna

" Milward behauptet, daß die Zahlungsschwierigkeiten imJabre 1947 nicht auf die Verschlechterung der wirtschafeliehen Lage in Europa zurückzuführen waren, sondern auf die außergewölmliche Schnelligkeit und den unerwarteten Erfolg bei der Erholung der europäischen W irtschaft, die durch ein nennenswertes Wachstum der Importe aus den USA gekennzeichnet war, A.S. Mi/ward, The Reconstruction of Western Europe, S. 465.

19 CIR, The Development of Italy's Economic System, S. 41. Dazu G. Hildebrand, Growth and Structure in the Economy of Modem Italy,

20

Cambridge 1%5, S. 18-36, sowie GR, The Development of Italy's Economic Systetn, s. 140-143.

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

419

während es hinsichtlich industrieller Investitionsgüter und der Modernisierung von Anlagen offenbar an klaren Vorstellungen und Tatkraft mangelt"". Tatsäch­ lich illustrieren die Daten diese Lage: Von April 1948 bis Juni 1949 entfielen von den über ERP finanzierten Importen 39% auf Getreide, 36% auf Kohle und Brennstoffe, 17% auf Baumwolle und nur 8% auf Maschinen22• Zur Erklärung wurden die unterschiedlichsten Gründe angeführt. Eine wichtige Rolle spielte sicherlich die Langsamkeit der bürokratischen Apparate und eine gewisse Desinformation der Unternehmer selbst". Auf jeden Fall war der chronische Mangel an Rohstoffen - angesichts der geringen Zerstörung von Anlagen und Ausrüstungen- der Hauptgrund für die anhaltende Minder­ auslastung der Produktionskapazitäten. Vor dem Hintergrund der unsicheren wirtschaftlichen Situation setzten die Unternehmer in erster Linie darauf, die Produktion durch den Import von Roh- und Brennstoffen wieder anzukurbeln. Sie verschoben neue Investitionen und Rationalisierungsmaßnahmen, die auch aufgrund der hohen Arbeitslosenrate und entsprechend geringer Lohnkosten nicht erforderlich schienen, auf einen späteren Zeitpunkt. Erst zu Beginn der fünfziger Jahre, als das Vertrauen in einen stabilen Aufschwung des internationalen Handels (die Zeit der Rationierung und der Versorgungsengpässe schien überwunden) zu wachsen begann und sich eine Erholung der Binnen- und Außennachfrage, und damit auch ein Wiedererstar­ ken der gefürchteten internationalen Konkurrenz, abzeichnete, entschlossen sich die Industriellen, ihren Produktionsapparat mit Hilfe von ERP-Mitteln zu erneuern. Von lächerlichen 8% im Jahre 1949 stieg der Anteil der Maschinen im zweiten Halbjahr 1950 auf 25% aller Importgüter"'. Bis 1950 waren es vor allem die Stahlindustrie und die Energieversorger, die mit ERP-Mitteln Maschinen und Anlagen beschafften". Ab 1950 wurden die meisten Fördettnittel für die Maschinenindustrie bewilligt. Kennzeichnend ist hier das Beispiel Fiat, wo man sofort auf die Erneuerungsmöglichkeiten setzte, 21 .Investitions- und Modemisierungsvorhaben" einer italienischen Expertende­ legation vom 31. Jaouar 1949, zitiert in G. Maione, Tecnocratici e mercanti, S. 221. 22 Con/ederazione Generale dell'Industria Italiana, Annuario 1952, S. 219. " Maione glaubt, die Verspätung beim Import von Maschinen sei auf .die Unfa­ higkeit der Unternehmer zu langfristiger Plaoung" zurückzuführen, G. Maione, Tecno­ cratici e mercanti, S. 250. Der gleichen Ansicht ist Salvati: .Bei den Verhandlungen ntit der amerikanischen Regierung muß ntit der angeborenen Unfähigkeit der italienischen Industrie gerechnet werden, umfassende Einkaufspläne zu formulieren", M. Salvati, Stato e industria nella ricostruzione, S. 243. Dagegen ist Valerio der Meinung, die Ver­ späntngen seien auf die .Langsamkeit der öffentlichen Organe bei der Gewährung von Krediten für Ausröstungsgegenstiinde" zuröckzuföbren, dazu siebe G. Valerio, I:ERP e gli investimenti in Italia, in: Rivista di Politica Econontica, 1 (1950), S. 21. 24 CIR, The Development of Italy's Economic System, S. 106. " G. Gualerni, Ricosrruzione e indusrria, Mailand 1980, S. 51.

Patrizia Battilani und Francesca Fauri

420

die der Marshallplan anbot. Bereits 1948 war Valletta nach Washington gefab. ren und hatte dort einen detaillierten Plan der Investitionsgüter vorgelegt, die Fiat über das ERP·Programm aus den USA zu importieren gedachte (im Wert von insgesamt 35 Mio. Dollar)". Valletta erhielt schließlich Maschinen und technisches Gerät im Wert von 30 Mio. Dollar und konnte so sein Unter· nehmen mit der neuesten amerikanischen Technik ausrüsten. Die Branchen, die am meisten von den Krediten für den Erwerb amerikanischer Anlagen profitierten, waren die Stromerzeugung (62 Mio. Dollar), gefolgt von der Maschinen· (58 Mio.) und der Stahlindustrie (53 Mio.)27• Kredite über 15.000 Dollar mußten einschließlich 5% Zinsen an IMI, alle kleineren Kredite an die ARAR-SPEI (Azienda tilievi alienazioni residuati-Societa per le esportazioni ed importazioni) zurückgezahlt werden.

Tabelle 2 Empflioger von ERP-Krediten überS Mio. Lire ERP Dollar (in Mio. Lire)

ERP Lire

insgesamt

Staatsbetriebe Soc. Mineraria Carbonifera Sarda IRI-Betriebe Acciaierie di Cornigliaoo ILVA Soc. Idroelettrica Piemonte LAI (Linee Aree Italiane) S.p.A Terni Gemeindebetriebe Privatbetriebe FIAT EDISON Montecatini Termoelenrica Veneta S.p.A. ARAR-SPEI* Soc. Meridionale di Elenricita Manifatture Cotoniere Meridionali S.p.A.

6.030,0 2.187,0 37.507,0 17.326,0 4.427,0 4.061,0 2.687,0 955,0 2.260,0 107.803,0 20.955,0 15.064,0 2.002,0 4.058,0 3.142,0 6.177,0 1.168,0

500,0 0,0 4.558,0 0,0 0,0 4.000,0 0,0 0,0 232,0 13.283,1 865,0 0,0 0,0 4.000,0 4.516,6 0,0 1.500,0

6.530,0 2.187,0 42.065,0 17.326,0 4.427,0 8.061,0 2.687,0 955,0 2.492,0 121.086,1 21.820,0 15.064,0 2.002,0 8.058,0 7.658,6 6.177,0 2.668,0

insgesamt

153.600,0

18.573,1

17.2173,1

* Die ARAR-SPEI handhabte die Finanzierung kleiner und mittlerer Unternehmen. Quelle Eigene Berechnungen nach G. Lombardo, I:lstituto Mobillaxe Italiaoo, S. 663.693.

" Nach Bairati war die Fiat-Pianung eine Ausnalune, die als einzige nicht von der harschen Kritik des Marshall-Beauftragten Hoffinan an den italienischen Projekten betroffen war; P. Bairati, Valletta, Turin 1983, S. 213-217.

27 CIR, Tbe Development of Italy's Economic System, S. 156.

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

421

Wie aus Tab. 2 hervorgeht, waren es vor allem die großen staatlichen und privaten Unternehmen wie Fiat, Edison und die zur IRI gehörenden Firmen (24% aller ERP-Kredite), die die Möglichkeit nutzten, ihren Produktions­ apparat mit Hilfe amerikanischer Technologie komplett zu erneuern. Eher selten waren die Fälle, in denen mittlere oder kleine Unternehmen das Risiko einer Verschuldung in Kauf nahmen, um in Besitz neuester amerikanischer Technologie zu kommen". Ab Friihjahr 1950 stellte die Regierung Mittel aus dem Lire-Fonds zur Verfügung, um für mittelständische Betriebe aus Industrie, Handwerk und Landwirtschaft, die weder über Kontakte in den USA noch über die Voraus­ setzungen für ERP-Kredite verfügten, einen Anreiz zum Erwerb von Investi­ tionsgütern in Italien und im Ausland zu schaffen (FLAM [Fondo Iire per l'acquisto macchinari] I und II, FAS [Fondo acquisti in lire-sterline] für den Geltungsbereich des englischen Pfundes)". Im Rahmen des Förderprogramms FLAM I erhielten die Banken den Auftrag, Anträge anzunehmen und deren Förderungswürdigkeit zu prüfen. Dieses Programm zur Vorfinanzierung von Maschinenkäufen im In- und Ausland lief nur sehr schleppend an, weil es offen­ bar wenig bekannt war und auch die Banken daran wenig Interesse hatten, da es ihnen außer geringen Gewinnen vor allem hohe Risiken einbrachte. Erst als IMI das Programm bekannt machte, wurden schließlich alle Mittel abgerufen (93 Operationen im Wert von 1,3 Mrd. Lire), bevor die amerikanische Verwal­ tung besrinunte Branchen von der Förderung ausschloß". Ende 1950 änderten die Amerikaner nämlich die Auswahlkriterien und führten drei unterschied­ liche Prioritätsklassen ein. Vorrang sollten solche Investitionen bekommen, die .durch Herstellung militärischer Güter zur Stärkung der europäischen Verteidigungsbereitschaft beitrugen und Engpässe in der Rüstungsindustrie beseitigten"31• Diese Kriterien, die sogar Branchen mit .negativer Priorität" wie Lebensmitteliudustrie, Raffinerien, Verlage und Strumpffabriken enthielten, mußten bei den Programmen FLAM II und FAS berücksichtigt werden (an staatliche Betriebe gingen 27.490,2 Mio. Lire [26%], an private 78.778,3 Mio. 28 Äußerst interessant in diesem Zusammenhang sind die Finnen Necchi (Näh­ maschinen) und Piaggio (Motorräder), deoen es durch die Einführung amerikanischer Technologie gelang, die arbeitsintensiven Produktionsmethoden der Vorkriegszeit abzuschaffen und dadurch die Produktivität enorm zu steigern, S.H. Wellisz, Studies in the Italian Light Mechanical Iodustrie, I: The Motorcycle Iodustry; 2: The Sewing Machine Iodustry, in: Rivista internazianale di scienze economiche 11-12 (1957).

29 G. Lombardo, I:Istituto Mobillore ltaliano, S. 194, sowie Art. I und 2 des Ge­ setzes vom 18. April 1950: Gewährung von Krediten zum Erwerb von Maschineo, Ausrüstungsgegenständen und anderen Hilfsmitteln. " Ebd., S. 289 ff.

31 Mit dieser eindeutigen Begründung lehnte Dayton in einem Brief an !MI (8. Mai 1951) sechs Anrräge auf Finanzierung ab. Abgedruckt ebd., S. 611.

422

Patrizia Battilani und Francesca Fauri

Lire [74%]). Der Marshallplan wurde also zunehmend für Verteidigungs­ zwecke im Rahmen der NATO vereinnahmt32• Dennoch bewirkte der Einsatz amerikanischer Hilfsgüter in der Rüstungsindustrie und die direkte Lieferung von Rüstungsgütern eine Form der Wu-tschaftshilfe, insofern er .increased guns without consuming butter". Dank dieser Hilfen kamen die Verbraucher in den Genuß einer größeren Menge von Konsumgütern, einer geringeren Steuerbciastung und größerer nationaler Sicherheit".

ß. Freihandci und Wirtschaftswunder

Ende der vierziger Jahre ging die italienische Regierung dazu über, den Handci zu liberalisieren und die internationale Kooperation zu fördern. Diese Politik erwies sich als weiteres Stimulans für jene Industrien, die bereits Mittci aus dem Marshallplan in Anspruch genommen hatten, um ihren Produktions­ apparat zu erneuern und damit ihre internationale Konkurrenzfähigkeit zu steigern. Als in ganz Europa im Verlauf weniger Jahre alle Handcisbeschrän­ kungen abgeschafft oder reduziert wurden (Kontingentierungen, Zölle und nicht-konvertible Währungen), wuchsen Nachfrage und Exporte in Italien, Deutschland und den anderen europäischen Ländern (siehe Tab. 3) derart sprunghaft an, daß man von einem Wu-tschaftswunder sprach. Die eindeutige empirische Korrciation von hohen Wachsrumsraten im Exportsektor und hohem Wirtschaftswachstum (in Italien und Deutschland wuchs das BIP in diesem Zeitraum um durchschnittlich 6,2 bzw. 7,3%, der Exportanteil um 13,9 bzw. 12,1%) deutet auf die entscheidende Rolle der wachsenden Liberalisierung des Handcis hin. Die Tatsache, daß die Exporte schndler wuchsen als der private Konsum, vor allem der innereuropäische Handci nahm rasant zu (in Italien stieg der Exportanteil von 46% im Jahre 1948 auf 62% im Jahre 1957), spricht zweifdlos für die zentrale Bedeutung 32 Ch.P Kindleberger, Power and Money: the Economies of International Politics and the Politics of International Economies, London 1970, S. 99. " T Geiger I L. Sebesta, National Defense Policies and the Fallure of Military Integration in Nato: American Military Assistance and Western European Rearmament, 1949-1954, in: F.H. Heller I ].R. Gillingharn (Hrsg.), The United States and the Inte­ gration of Europe, Legacies of the Postwar Era, New York 19%, S. 270-271. Wenn die italienischen Streitkräfte nicht durch amerikanische ,end-item' Hilfen ausgestattet worden wären (die sich bis Januar 1955 auf I Mrd. Dollar beliefen), hätten die italieni­ schen Verteidigungsaufgaben nicht die Eigenschaft von Zivilhilfen annehmen können, wie es tatsächlich geschah", dazu L. Sebesta, Ametican Military Aid and European Reattnament: The Italian Case, in: F.H. Heller I ].R. Gillingbam (Htsg.), NATO: the Founding of the Atlantic Ailiance and the Integration uf Europe, New York, S. 296, sowie L. Sebesta, L'Europa indifesa, Florenz 1991. •

423

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

der Liberalisierung als grundlegendem Motor des italieniseben W!rtsebafts­ waebstums in diesem Zeitraum". Tabelle 3 Reales Wachstum der Nachfrage 1950-1962 (%jährlich)

Deutschland Italien Frankreich Niederlande Dänemark Norwegen USA Belgien Großbritannien

BIP

Privatverbrauch

öffentlicher Verbrauch

Bruttokapitalbildung

Expott

7;28 6,15 4,72 4;28 3,80 3,76 3,40 3;29 2,51

6,51 5,32 4,43 3,41 3,14 3;21 3,40 2,05 1,85

5,80 6,15 4,12 4;28 5,15 4,46 6,95 3;29 3,00

9,43 8.83 6;25 4;28 5,15 4,06 2,58 5,54 4,99

12,14 13,85 5,32 8,57 6;20 7,37 5,31 9,83 3,46

Quelle: OECD, National Accounts, verschiedene Jahrgänge.

1.

Die Industriellen und die Liberalisierung des Handels

Die mutige Etttsebeidung der italienischen Regierung zur Öffnung der Märkte war von der Confindustria scharf kritisiert worden. Das betraf die Etttsebeidung von La Malfa vom Oktober 1951, bei 99,7% der Importe von Privaten aus den OEEC-Ländem jede Mengenbeschränkungen aufzuheben, sowie eine weitere Senkung der Zölle um 10%herbeizuführen (naebdem Vanoni die neuen hohen Zolltarife aus dem Jahre 1950 bereits entschärft hatte)". Dureb letztgenannte Maßnahme, die bei der Industrie besonders unbeliebt war, sanken die üblieben Zölle weit unter die gesetzliebe Höhe, was tatsäeblieb 34 Dazu ausführlich F. Fauri, Strutrura e orientamento dd commercio italiano negli anni Cinquanta: alle origini dd boom economico, in: Studi Storici, 37 (1996), S. 191225.

" Noch bevor der neue Zolltarif in Kraft trat, wurden am 8. Juli 1950 .vor­ übergehend vorrangig anzuwendende Nonnen" verabschiedet, die dessen Schutzwir­ keng abschwächten. Daraus ergab sich ein vorläufiger Jahrestarif, der die automa­ tische Absenkung aller Zölle über 11% vorsah, zu berechnen nach einer empiri­ schen Fottnd, der sogenarmten "Varmoni-Fottnd": je höher der Zoll, desto größer die Senkung. Die Fottnd zur Berechnung der neuen verringerten Zölle lautete also: Zoll

=

Zoll nach allg. Tarif- 11

2

Dazu K. Holbik, Italy in International Cooperation, Padua 1959, S. 88, sowie C. Zacchia, Features of the Present Italian Customs Tariff, in: Banca Nazionale Quarterly Review,

26 (1953), s. 166.

Patrizia Battilani und Francesca Fauri

424

zu einer Öffnung des italienischen Marktes für die ausländische Konkurrenz führte: Die Zölle sanken durchschnittlich von 24,4 auf 14,5%36• Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß über die Gestaltung der Zölle und die Freigabe des Handels auch in Industriekreisen unterschiedliche Meinun­ gen existierten. Wie der Präsident der Confindustria Costa bei einer Sitzung im Dezember 1952 sagte: "Wtr werden [bei dem Treffen mit den Ministern] auch darauf hinweisen, daß aus der Tatsache, daß in Unternehmerkreisen sowohl streng liberalistische wie streng protektionistische Positionen existieren, nicht auf grundlegende Meinungsverschiedenheiten geschlossen werden kann: Die Wahrheit ist, daß die Dinge je nach Standpunkt ganz anders aussehen". Nach dieser eigentlich ziemlich diplomatischen Aussage hob Costa jedoch hervor, daß .die Kollegen bei dem Treffen [mit den Ministern] T hemen vermeiden sollen, die zwischen den Branchen umstritten sind"". Diese Meinungsverschiedenheiten verschärften sich im Laufe der Jahre und spitzten sich noch weiter zu, als die ersten Pläne für eine europäische Wtrtschaftsgemeinschaft aufkamen. Begrüßt wurden diese Pläne von den Branchen mit schnellem Produktivitätsfortschritt und rascher Expansion auf den ausländischen Märkten (Maschinen, Trans­ pottmittel, Näh- und Schreibmaschinen, Präzisionsinstrumente, Marmor- und Baustoffindustrie, Holz, Leder, Schuhe, Konfektion, Baumwoll- und Kunstfaser, Werkzeugbau), während Branchen wie Chemie, Elektrotechnik und Optik eher skeptisch oder gar feindselig reagierten, weil sie vor allem die deutsche Konkurrenz fürchteten. Das geht eindeutig aus einer Umfrage privater Institute hervor, bei der die Einstellung zu einem zukünftigen gemeinsamen europä­ ischen Markt erfragt wurde''. Trotz der Kritik seitens der Confindustria nahm die Regierung ihre Entscheidung nicht zurück und erneuerte jedes Jahr die Maßnahmen zur Öffnung des italienischen Marktes, bis schließlich im Jahre 1957 durch die Unterzeichnung der Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ins Leben gerufen wurde.

2.

Voraussetzungen für den Wirtschaftsboom

Zweifellos war die Entscheidung, das Land für die ausländische Konkurrenz zu öffnen, das Ergebnis einer Politik, die einerseits darauf bedacht war, Ita­ lien in den Prozeß der europäischen Einigung und Kooperation einzubinden, andererseits aber auch daran interessiert war, die ausländischen Märkte für die " Zur Berechnung der gängigen Zolltarife siehe F. Fauri, La fine dell' autarchia: Ie prime tappe del processo di liberalizzazione del commercio estero italiano nel secondo dopoguerra, in: Rivista di Storia Economica, 3 (1995), S. 331-336. "

ASC, Fondo Giunta, Protokoll der Sitzung vom Dezember 1952.

" Die Ergebnisse dieser Umftage aus dernJabre 1954 finden sich bei G. Bergman, Buropa senza dogane. I produttori itallani bauno scelto I'Europa, Bari 1956.

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

425

italienische Exportindustrie, deren Wachstmnsraten damals zu den höchsten der westlichen Wdt gehörten, dauerhaft zu erschließen. Folglich fand das ita­ lienische Wirtschaftswunder im glücklichen Zusanunentreffen verschiedener Ereignisse einen fruchtbaren Nährboden: -

eine solide industrielle Basis mit jahrzehntdanger Tradition (wenn auch regional sehr stark differenziert);

-

die Hilfen aus dem Marshallplan, die das Problem des dollar gap lösten, die Betriebe in die Lage versetzten, die Produktion wieder anzukurbdn, und vor allem den Großunternehmen ermöglichten, ihre Produktionsanlagen mit amerikanischen Maschinen zu erneuern. Diese Hilfen waren in quali­ tativer Hinsicht (sie lieferten die erforderlichen Güter und Ausrüstungen im richtigen Augenblick) weit wichtiger als in quantitativer.

- eine einzigartige Produktivitätssteigerung, die in der verarbeitenden Indu­ strie bei 7,2% jährlich (die höchste europäische Rate der fünfziger Jahre) und auf das Engste mit den Investitionen in neue Technologjen verknüpft war. Dieser Produktivitätsfortschritt ermöglichte eine geringe Erhöhung der Lohnstückkosten und garantierte so die Koukurrenzfähigkeit der ita­ lienischen Produkte auf den ausländischen Märkten. - Aufgabe der Autarkiepolitik des vorherigen Jahrzehnts und Entscheidung der italienischen Regierung, Italien als vollwertiges Mitglied in die inter­ nationalen Handcisbeziehungen zu integrieren, dauerhafte Liberalisierung des Handcis auch gegen den Widerstand eines Teils der Unternehmer. Der fortschreitende Abhau von Handdsheschriinkungen war der Motor, der eine sprunghafte Entwicklung von Handd und Einkommen auslöste, eine Entwicklung, die ihrerseits zum weiteren Abbau von Handcishindernis­ sen führte und dadurch den Warenaustausch und den Wohlstand in Europa förderte. Einige Jahre hatte es den Anschein, als hätte eine Ära gesicherten Wachstmns begonnen, wie es sie nie zuvor gegeben hatte (und auch zukünf­ tig nicht mehr geben sollte). Der Optimismus war so groß, daß diese Zeit als .goldenes Zeitalter" des italienischen und europäischen Wirtschaftswachsrmns in die Geschichte einging.

m. Die regionale Verteilung der Hilfen Nunmehr wollen wir uns dem Problem zuwenden, wdche Effekte die Finanzhilfen auf das regionale Ungleichgewicht hatten. Dazu muß die regio­ nale Verteilung der ERP-Mittd sowie der Infrastrukturinvestitionen aus dem Lire-Fonds untersucht werden. Tab. 4 zeigt den Industrialisierungsindex der Regionen vor dem Zweiten Wdtkrieg und die jeweiligen Finanzhilfen in Form von Krediten und Haus-

17,0

33,4 24,8 23,7 16,9 15,6 13,8 12,9 12,6 11;3 10,4 10,0 9; 3 8,9 6,7 6,5 5,8

Industrialisierungsiodex 1936*

244.401

100,0

6,1 3,5 4,4 7,2 7;3 1,0 9;3 15,4 6,5 7,4 2,9 4,7 11,8 4,7 4,8 3,0

%

14.872 8.560 10.688 17.596 17.923 2.423 22.739 37.638 15.843 18.178 6.997 11.532 28.939 11.390 11.739 7.344

Lire-Fonds

Lire-Fonds in Mio. Lire**

244.662

54.679 58.184 44.129 7.316 12.054 2.093 11.792 21.541 353 20.547 202 3.790 6.666 258 1.045 13

Kredite io Tausend$

152.916

34.175 36.365 27.581 4.573 7.534 1.308 7.370 13.463 221 12.842 127 2.369 4.166 161 653 8

Kredite io Mio. Lire

100,0

22,4 23,8 18,0 3,0 4,9 0,9 4,8 8,8 0,1 8,4 0,1 1,6 2,7 0,1 0,4 0,0

%

Kredite

Für Tätigkeiten in Landwirtschaft, Bauwesen und Öffentlichen Vorhaben, Eisenbahn, Ausbildung, Werften, Telekommunikation und Tourismus.

Quelle: Eigene Berechnungen nach MSA, ERP in Italia, Rom 1952, sowie V. Zamagni, A Century of Change: Trends in the Composition of the Italiao Labour Force, 1881-1981, in: Historical Research, 12 (1987), S. 36-97.

**

* Der Industrialisierungsindex errechnet sich aus dem Verhältnis von Industriearbeitern (d.h. der Swrune aller Industriebranchen mit Ausnahme des Bauge­ werbes, Gas, Wasser und Strom), deren Zahl in der Industriezählung ermittelt wurde, zur Gesamtzahl der Erwerbsbevölk.erung, die sich aus der Volkszählung ergibt.

Italien iosgesamt

Abruzzen und Molise Basilikata

Kalabrien

Kampanien Apulien Latium Marken Sardinien Sicilia

Umbrien Emilia Romagna

Piemont und Aostatal Ligurien Toskana Venetien, Friaul, Trentioo

Lombatdei

Regionen

Regionale Verteilung der ERP-Kredite und der Lire-Fonds-Mittel

Tabelle 4

§.

:.'

iln �•

p. ."

§

§, !!.

Ii!'

�:

"

"' "'

...

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

427

haltsmitteln in Lire, um zu prüfen, ob ein regionaler Umverteilungseffekt vorliegt. Wie aus Grafik 1 hervorgeht, profitierten von den Krediten weitgehend die traditionellen Industriegebiete. Dank der dort ansässigen Großunterneh­ men flossen große Geldmengen in diese Regionen, die für Wiederaufbau und Modemisierung verwendet wurden und dadurch die regionalen Unterschiede noch verschärften. Unterentwickelte Regionen konnten diese Möglichkeiten nicht nutzen, Regionen im Mittelfeld erhielten nur bescheidene Summen. Das lag jedoch in der Natur der Sache, denn Kredite in Form von Maschinen und Rohstoffen konnten nur an bereits arbeitende Betriebe vergeben werden. Verwunderlich dagegen ist die Verteilung der In&astrukturmittel, denn damit hätte man einen Umverteilungseffekt erzielen können. Dennoch weist Grafik 2 keine negative Korrelation zwischen Industrialisierungsgrad und Verteilung der Haushaltsmittel auf. Nun könnte man annehmen, daß die Mittel aus dem Lire-Fonds nach den erlittenen Schäden veneilt wurden. Die Regionen können in drei Gruppen eingeteilt werden: Die erste umfaßt die traditionellen Industriegebiete wie Piemont, Lombardei und Ligurien, die dank einer hohen Konzentration von Industriebetrieben die ERP-Mittel voll ausschöpfen konnten, um veraltete Produktionsanlagen zu erneuern; zur zweiten Gruppe gehören die Regionen Kompanien, Latium, Venetien, Emilia und Toskana, denen beide Arten von Finanzhilfen in nennenswertem Umfang zuteil wurden; die dritte Gruppe besteht aus den restlichen Regionen, die fast nichts erhielten". Bei der letzten Gruppe ist offensichtlich, daß der Marshallplan überhaupt keine Auswirkungen hatte. Für die beiden anderen Gruppen hingegen stellt sich die Frage, welche Effekte dort erzielt wurden. Zu diesem Zweck wollen wir uns die drei Regionen Piemont, Emilia Romagna und Kompanien genauer ansehen.

IV. Der Fall Emilia

Romagna

Im Jahre 1945 zählte die Emilia Romagna zweifellos zu den strukturschwa­ chen Regionen. Daran äoderte auch die Tatsache nichts, daß ihre Entwicklung bereits zu Zeiten Giolittis begonnen hatte und in den zwanziger und dreißiger Jahren viele neue Unternehmen, bisweilen auch in innovativen Industriezwei­ gen, entstanden waren. Einige Betriebe der Metall- und Lebensmittelbranche waren während des Zweiten Weltkrieges stark gewachsen. " Eigentlich gibt es noch eine vierte Gruppe, zu der nur Sizilien gehört, das nur wenige Kredite erhielt, aber zusammen mit Kompanien Hauptnutznießerirr der Mittel aus dem Lire-Fonds war.

Patrizia Battiliiili und Francesca Fauri

428 40.000

Piemont und Aoctatal

3,.000

� ;:3 --d � � ..

1



30.000 25.000

20.000

tS.OOO 10.000 ,,000

0 10

'

0

1'

20

2.S

.30

.35

Inclustrialisieruda 1938 Qrglle: Eigene Berechnungen nach .MSA, ERP in Italia, Rom 1952, sowie V. 'ZIIm��glfi, A Century of Change, S. 36-!17.

Grafik 1: Vergleich Industrialisierungsindex von

1938 und Unternehmenskredite

40.000

� ..



� §



J

35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 0

5

10

15

20

25

30

35

40

Industrialisierungsrate Qrglle: Eigene Berechnungen nach MSA, ERP in Italia, sowie V. 'ZIIm��pi, A Century of Change, s. 36-!17.

Grafik 2: Vergleich Industrialisierungsgrad und Investitionsmittd aus dem Lire-Fonds

429

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

Als der Marshallplan in Kraft trat, befand sich die Region in folgender Lage: Erstens bemühte man sich schon seit 1911 darum, den Vorsprung der industrialisierten Regionen einzuholen, so daß die jährliche Wachstumsrate der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe höher lag als in der Lombardei; zweitens verfügte man über eine wichtige Kerngruppe mittelgroßer Betriebe und eine große Zahl kleiner Betriebe; die Landwirtschaft war weiterhin dominant ( 1961 waren 27,6% der Beschäftigten in der Emilia Romagna in der Industrie tätig, in der Lombardei waren es 44,4%). Nach Kriegsende konzentrierte sich der Wiederaufbau auf die Infrastruktur, die stark in Mitleidenschaft gezogen war: 5.000 Straßenkilomerer, 500 Brücken, 300 km Wasserleitung und Kanalisation waren außer Betrieb, 20.000 Räume in öffentlichen Gebäuden, Kirchen und Schulen, 500 Krankenhausräume und 500.000 Zimmer waren unbewohnbar. Am schlimmsten hatte es die Eisenbahn getroffen: 50% der Bahnhöfe, 80% der Elektro- und 70% der Dampflokomo­ tiven, 80% der Güter- und Personenwaggons waren zerstön. Diese Situation verändene sich so rasch, daß bereits zu Beginn des neuen Jahrzehnts 90% der Schäden an öffentlichen Gebäuden und Wohnraum, bei der Eisenbahn sowie in Industrie und Landwirtschaft beseitigt waren. Dabei spielten die Mittel aus dem Lire-Fonds eine zentrale Rolle, von denen, wie Tab. 5 zeigt, ein großer Teil för die Instandsetzung der Eisenbahnanlagen, för öffentliche Arbeiten und den Wohnungsbau verwendet wurde. Denn die Emilia Romagna erhielt 9,3% der Fondsmittel und gehöne damit nach Kampanien und Sizilien zu den größten Nutznießern. Tabelle 5

Verwendung der Fondsmittel in der Emilia Romagna (in Mio. Lire) Verwendung des Lire-Fonds Instandsetzung Schienennetz Öffentliche Arbeiten Wiederaufbau von Wohnraum Landgewinnung und Flurbereinigung Fanfani-Casa Hotelbau (Kredite und Zuschüsse a fonds perdu) Aus- und Weiterbildung Aufforstung und Bergbefestigung Telekommunikation

Emilia Romagna insgesamt Quelle: MSA, I:ERP in Italla, S.

86-125.

Mittel

in%

8.423,6 3.689,2 3.391,1 3.003,6 2.627,2 488,3 441,3 368,7 305,5

37,05 16,22 14,91 13,21 11,55 2,15 1,94 1,62 1,34

22.738,50

100,00

Patrizia Battilani und Francesca Fauri

430

8,423 Mrd. Ure wurden für die Instandsetzung der zerstörten Eisenbahn­ anlagen verwendet, während 3,689 Mrd. in öffentliche Einrichtungen flossen: 522 Kindergärten und Wohlfahrtseinrichtungen, 12 Waisenhäuser, 119 Bröcken, 204 Straßen, 70 Krankenhäuser, 33 Wasserleitungen, 26 Abwasserleitungen, 188 Schulen sowie zahlreiche öffentliche Gebäude in verschiedenen Kom­ munen. Für den privaten Wiederaufbau von Wohnraum wurden 3,391 Mrd. aufgewendet, die auf Antrag der zuständigen Ämter in den Provinzen vergeben wurden. Neben diesen Maßnahmen des Ministeriums für Öffentliche Arbeiten legte auch das Arbeitsministerium ein Programm (.Fanfani-Casa") auf, um den sozialen Wohnungsbau und die Beschäftigung zu fördern40• Diese Form des Wohnungsbaus wurde aus Mitteln des Lire-Fonds (2,627 Mrd. für die Emilia Romagna), Beiträgen der Arbeiternehmer (0,57% des Jahreseinkommens) und Arbeitgeber (1,15% des jeweiligen Jabresbruttoeinkommens) finanziert. Daröber hinaus wurden mehr als 3 Mrd. in Maßnahmen zur Landgewin­ nung und Flurbereinigung, in den Bau von Deichen, Wasserleitungen, Straßen, Bröcken und Entwässerungskanälen investiert (zur Bewässerung [200.000 Hektar] und zur Trockenlegung [150.000 Hektar]). Aufforstung und Befesti­ gung von Wildbächen dienten nicht nur der Landschaftspflege, sondern auch der Steigerung der Holzproduktion insbesondere an den Apenninhängen bei Forli (über die wasser- und forstwittschaftlichen Effekte hinaus wurden dort ca. 5.000 ländliche Arbeitslose beschäftigt).

441 Mio. Lire aus dem Lire-Fonds wurden in Aus- und Weiterbildung investiert (Tischler, Maurer, Mechaniker, Elektriker, Steinmetze, Schneider, Öl- und Weinbauern, Buchhalter und Stenografen) und 488 Mio. Lire für den Hotelbau an der Küste (vor allem Rimini und Riccione profitierten davon). Während die Mittel aus dem Lire-Fonds zweifellos eine wichtige Finanz­ quelle für den materiellen Wiederaufbau der Region darstellten, erzielten langfristige Unternehmenskredite dagegen kaum Wttkung. Tatsächlich flossen diese Mittel zu 79% in das Kraftwerk von Edison in Piacenza, womit zwei neue Turbo-Generatoren mit einer Leistung von 120.000 kw angeschafft wurden41• Die Liquidität der Unternehmen in der Region wurde dadurch folglich nicht verbessert. Die restlichen Investitionsgüter im Wert von 2,5 Mio. Dollar verteil­ ten sich auf 155 Firmen, so daß nur eine Firma (Officine Meccaniche Reggiane) einen nennenswerten Kredit (knapp 1 Mio. Dollar) erhielt, vier andere es auf 35.000 und 50.000 Dollar brachten, während die anderen 149 sich jeweils mit mickrigen 5.000 Dollar begnügen mußten (siehe Tab. 6).

40 I:ERP in Italia, Emilia, Biblioteca CCIA Forli, Veröffentlichung ohne Aogabe von Erscheinungsort, -jabr oder Seitenzahlen. 41

88.

.MSA (Amministrazione per Ia sicurezza mutua), L'ERP in Italia, Rom 1952, S. 87-

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

4}1

Tabelle 6 Dollarkredite an Firmen in der Emilia Romagna (über$ 35.000) Betrieb

Bereich io

Edison (E-Werk Piacenza) Officioe Meccaniche Reggiaoe ICO soc. ital. AFIM An. Fioruzzi RadioRAl Calzificio Emiliaoo Summe der 6 größten Kredite Summe der weiteren 149 Kredite insgesamt

Elektrizität Maschinenbau Maschinenbau Lebensmittelind. Kommuoikation Teztilind.

Beträge Tausend$

in%

9.323 975 56 53 46 35

79,0 8,3 0,5 0,4 0,4 0,3

10.488

88,9

1.304

11,1

11.792

100,0

Quellec MSA, I:ERP in Italla, S. 86-89.

Noch bezeichnender ist der Umstand, daß der Hauptnutznießer des Mar­ shallplans in der Emilia Romagna, nämlich die Officine Reggiane, die Nach­ kriegskrise nie überwand. Es ist lohnenswert, auf diesen interessanten Fall einer Firmengeschichte näher einzugehen.

1901 von dem aus Modena stantmenden Ingenieur Rarnano Righi gegrüo­ det, nahm die Firma 1904, als man Güter für die Eisenhalm zu produzieren begann, den Namen Officine Reggiane an. In wenigen Jahren entwickelte sich die Werkstatt, in der zunächst 62 Arbeiter tätig waren, zum wichtigsten Indu­ striestandort der Region und beschäftigte 1914 bereits 2.000 Angestellte. Zu ersten Schwierigkeiten kam es während der Krise im Jahre 1929, als die Firma in die Versuche der öffentlichen Hand zur Rertung des Bank- und Industrie­ systems verwickelt wurde und 1936 schließlich an die Gruppe Caproni verkauft wurde. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre und den ersten Kriegsjahren wurde die Produktion auf Rüstungsgüter für die Luftfahrt umgestellt (80% des Umsatzes im Jahre 1941), der Betrieb florierte und entwickelte sich zum Großbetrieb mit mehr als 11.000 Beschäftigten im Jahre 1941. Als bei Kriegs­ ende die Rüstungsaufträge ausblieben, geriet die Firma in eine schwere Krise, die aufgrund der starken Beschädigungen durch Luftangriffe noch verschärft wurde (80% der Produktionsanlagen waren zerstört). Um zu retten, was zu retten war, schränkte die Geschäftsführung die Produktionskapazitäten drastisch ein und wandte sich der Herstellung von Eisenbahnbedarf zu, ohne jedoch die gewohnte Produktion von Industriemaschinen völlig aufzugeben. Da dieser Versuch nicht den erhofften Erfolg brachte, gerieten die Officine Reggiane Jahr um Jahr weiter in die roten Zahlen, bis sie 1951 von der FIM [fondo per il finanziamento dell'Industtia Meccanica =Fonds zur Finanzierung der Maschinenindustrie] abgewickelt wurde. Im folgenden Jahr wurde das, was

432

Patrizia Battilani und Francesca Fauri

an Anlagen und Aufträgen noch übrig war, in eine neue Gesellschaft mit dem Namen Nuove Reggiane Officine Meccaniche ltaliane eingebracht, die nur noch ein paar Dutzend Beschäftigte hatte. Mit anderen Worten: eine Firtna, die den größten ERP-Kredit der Emilia Romagna erhalten hatte, schaffte es nicht, den Bankrott zu vermeiden, und verwandelte sich in einen mittelstän· dischen Betrieb42• So läßt sich also sagen, daß der Lire-Fonds den Wiederaufbau und den Ausbau der Infrastruktur in der Emilia Romagna erleichtert und somit dazu beigetragen hat, die langfristige, schon zu Giolittis Zeiten begonnene Akku­ mulation von materiellem, menschlichem und sozialem Kapital erfolgreich zu vollenden. Im Gegensatz dazu waren die ERP-Kredite wenig erfolgreich, sie brachten kaum Fortschritte in der Industrialisierung, der größte Nutznießer (Officine Reggiane) ging sogar Bankrott. Abschließend kann festgestellt werden, daß der Marshallplan zwar dazu bei­ getragen hat, die Voraussetzungen für eine Entwicklung der Region zu schaffen, diese allerdings nicht zu beschleunigen vermochte, unter anderem weil es nicht gelang, die potentiellen Leistungsträger auszumachen. Entscheidend für den Absatz des wachsenden Angebotes an Produktionsgütern sowie Textilien und Nahrungsmitteln, welche das Rückgrat der entilianischen Industrie bildeten, waren letztendlich die durch Marshallplan und Handelsliberalisierung verän­ derten volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen des WirtSchaftswunders auf die Nachfrage nach persönlichen Dienstleistungen, wie zum Beispiel im Tourismus, einer weiteren Schlüsselbran­ che für die Entwicklung zumindest der östlichen Provinzen der Region.

V. Beschleunigtes Wachstum im Piemont

Die Region Piemont war die größte Nutznießerio der ERP-Mittel, sie erhielt im Vergleich zur nationalen Bedeurung ihrer Industrie einen überpro­ portionalen Anteil. In dieser Region war es kein Problem, für die ERP-Mittel geeignete Unternehmen zu finden. Nicht zufällig entfielen im Piemont nur 78% der Kreditmittel auf die 6 größten Betriebe, während es in Kampanien 95 und in der Emilia Romagna 94% waren. Diese Zahlen belegen, daß es hier einfach viel mehr Großbetriebe gab. Außerdem kamen diese Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen, vom Maschinenbau über die Papier- und Textilindustrie bis zur Stromerzeugung. Doch das Hauptmerkmal ist, daß alle 6 Empfangerbetriebe in den nachfolgenden Jahren erfolgreich tätig waren. 42 Da die Bibliographie über die Geschichte der Officioe Reggiaoe sehr wnfang­ reich ist, verweisen wir nur auf die wichtigsten Titel: S. Sprea/ico, Un'industria, una cittä. Cinquant'anni delle officioe reggiaoe , Bologoa 1%8, sowie G.L. Basini I G. Lugli, I:affermazione dell'industria. Reggio Emilia 1940-1973, Bari 1999.

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

Sicherlich war es der Einfluß von Fiat, der die Kreditsummen in die Höhe trieb. Fiat allein erhielt 53% aller Kredite in der Region. Entscheidend für den späteren Erfolg von Fiat war, daß man nach und nach die veralteten Maschinen­ parks ersetzen, die Stückkosten senken und mit der internationalen Konkurrenz Schritt halten konnte. Hinzu kam das Wachstum des nationalen Marktes, auf dem Fiat bald eine beherrschende Position eroberte. Mit Hilfe der ERP-Mittel konnte der Turiner Konzern ganze Abteilungen von Mirafiori, Perriete und Fonderie modernisieren und dabei Güter einsetzen, die zu zwei Dritteln aus Amerika stammten". Wie andere Unternehmen der Elektrizitätsindustrie erhielt auch die SIP umfangreiche ERP-Mittel im Rahmen des nationalen Programms zur Förderung der thermoelektrischen Energie, welches darauf zielte, ameri­ kanische Teclmik zu importieren, um die Lücke zwischen Energiebedarf und vorhandenen Kapazitäten zu schließen. Zu diesem Zweck wurden alle großen Elektrizitätsfirmen gefördert, darunter eben auch die SIP, die in Chiasso zwei Aolagen mit 70 MW errichtete, und die Turiner Stadtwerke. Von Bedeutung waren auch die Mittel für die Papierindustrie, einige der größten nationalen Unternehmen wie Cartiere Burgo und Cartiera Italiana hatten ihren Sitz im Piemont. Bereits 1918 waren die 1905 in Verzuolo in der Provinz Cuneo gegründeten Cartiere Burgo zum italienischen Branchenführer aufgestiegen. Im Zeitraum von 1950 bis 1980 führte das Unternehmen ein umfangreiches Modernisierungs- und Rationalisierungsprogramm durch und differenzierte seine Produktpalette: Gründung des Werkes in Mantua (1964), Übernahme der Cartiera del Sole in Sora (1977), Gründung der Comecart, einer Gesellschaft zur Konstruktion und Herstellung von Maschinen für die Papierindustrie (1980). Auch in den folgenden zwei Jahrzehnten expandierte das Unternehmen weiter, erwarb zahlreiche Papierfabriken in ganz Italien und errichtete eine Recycling-Aclage in Mantua sowie eine neue Beschichtungsanlage in Verzuolo. In den neunziger Jahren setzte man auf Internationalisierung und eröffuete Handelsvertretungen in Deutschland, Frankreich, den Bendux-Staaten und Spanien. Die Cartiera Italiana gehörte zu den ältesten Papierhersteller in Italien, denn ihre Ursprünge gingen auf das Jahr 1600 zutück. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und wuchs in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen auf die Größe eines mittelständischen Unternehmens an. Durch die ERP-Mittel wurden beide Unternehmen in die Lage versetzt, amerikanische Qualitätstechnologie zu erwerben und ihre Anlagen vollständig zu erneuern. Für die piemontesischen Unternehmen stellten die ERP-Mittel insgesamt ein wichtiges Mittel dar, um ihre Produktionsaolagen zu modernisieren und Entwicklungsstrategien für die folgenden Jahre festzolegen. 43 V Castronovo, Dalla resistenza alla ricostruzione, in: ders., ll Piemonte (Storia d'Ita!ia. Le regioni dall'Unita ad oggi, 1), Tutin 1977, S. 607.

Patrizia Battilani und Francesca Fauri

434

Tabelle 7 Doßarkredite an Firmen im Piemont (über $3.5.000) Betrieb

Bereich

Beträge in Tausend$

in%

Maschinenbau Elektriziät Elektriziät Papierind. Papierind. Textilind.

30.686 6541 3517 1.650 1.644 1500

52,7 11,2 6,0 2,8 2,8 2,6

Summe der 6 größten Kredite

45538

78,3

von den verbliebenen 32 Unterndunen erhaltene Summe

12.646

21,7

Untemelunenskredire der Region Piemont insgesamt

58.184

100,0

Fiat Soc. Idroelettrica Piemonte Azienda Elettrica Municipale di Torino Cartiere Burgo Cartiera ltaliana Magnoni und Tedeschi

Quelle. MSA, I:ERP in Italia, S. 61-85.

Äußerst begrenzt blieb dagegen der Beitrag des Lire-Fonds, der im Piemont vor allem für den Wohnungsbau und die Instandsetzung von Brücken und Schienennetz verwendet wurde. Im Bereich der Öffentlichen Arbeiten wurden 11 Straßen und 8 Brücken reparien, 59 Schulen wurden wiederaufgebaut und neu eingerichtet und zahlreiche Maßnahmen zur Uferbefestigung durchgefühn. Insgesamt jedoch waren diese Maßnahmen äußerst bescheiden, wie auch der Umfang der bereitgestellten Mittel zeigt.

Tabelle 8 Verwendung der Lire-Fonds-Mittel im Piemont (in Mio. Lire) Zuweisung des Lire-Fonds

Beträge

in%

Instandsetzung Schienennetz Öffentliche Arbeiten Wiederaufbau von Wohnraum Landgewinnung und Flurbereinigung Wohnungsbau (Fanfani-Casa, Gesetz zur Bauförderung) Hotelbau (Kredite und Zuschüsse a fonds perdu) Aus- und Weiterbildung Aufforstung und Bergbefestigung Telekommunikation

2.627,6 1.765,4 500,0 0,0 2.972,6 257,9 332,9 79,1 24,0

30,7 20,6 5,8 0,0 34,7 3,0 3,9 0,9 0,3

Piemont insgesamt

8559,5

100,0

Quelle. MSA, I:ERP in Italia.

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

4}5

Allgemein erlüllte der Marshallplan im Piemont die Funktion, für die er ursprünglich konzipiert worden war. Mit seiner Hilfe wurden die Produkti­ onsanlagen auf den neuesten Stand gebracht und die Betriebe wieder konkur­ renzfähig. Die Existenz zahlreicher gut geführter Firmen mit entsprechenden Marktstrategien machte es möglich, die potentiellen Ressourcen optimal zu nutzen. Das Gleiche gilt für die Liberalisierung der Märkte, die sich als echte Ergänzung zur industriellen Erneuerung erwies. Hier darf allerdings nicht vergessen werden, daß die Öffnung der Märkte zeitlich auf die Fortschritte der großen Unternehmen abgestimmt wurde. Daher ging die Abschaffung des Protektionismus in der Autoindustrie langsamer vor sich, damit Fiat genügend Zeit hatte, um den veralteten Maschinenpark zu ersetzen.

VI. Verlangsamte Entwicklung in Kampanien

Die Region Kampanien profitierte am meisten von den Zuwendungen aus dem Lire-Fonds und rangierte bei den ERP-Mirteln an vierter Stelle. Im Gegensatz zu vielen anderen süditalienischen Regionen hätte der Marshallplan in Kampallien in der Wirtschaftsförderung eine wichtige Rolle spielen können. Trotzdem war gerade die Zielrichtung, in die die regionale Entwicklung auch durch den Marshallplan kanalisiert wurde, der Grund für den mangelnden wirtschaftlichen Erfolg der Region.

1945 zählte die Region Kampallien zu den strukturschwachen Gebieten, auch wenn sie unter den süditalienischen Regionen unumstritten den Spitzenplatz einnahm, weil sie bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Industrialisierung erlebt hatte und über die größten Industriestandorte des gesamten Südens verfügte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich vor allem die Baumwoll­ und die Metallindusttie. Die Metallindusttie, die sich um Neapel konzentrierte, verdankte ihren Ursprung britischen Investitionen (The Armstrong Pozzuoli Ltd., Officine Guppy, Pattison-Werke)44, während die Baumwollverarbeirung auf Schweizer Industrielle (Wenner, Egg, Vonwiller, Escher, Mayer, Zublin) zurückging. Seit Ende des 19. Jahrhunderts befand sich das Zentrum der kampanischen Industrie in der Provinz Neapel, die diese Vorrangstellung das gesamte 20. Jahrhundert hindurch beibehielt und damit dauerhaft über die Hälfte der kampanischen Industriebeschäftigten stellte.

44 L. De Rosa, lnizi.ativa e capitale straniero nell'industria metalmeccanica del Mezzogiomo 1840-1904, Neapel!968.

Patrizia Battilani und Francesca Fauri

436

Beherrschend für die unmittelbare Nachkriegszeit war die Umstellung auf die Produktion ziviler Güter, wobei man es jedoch nie schaffte, den Grundstein für ein Wirtschaftswunder" zu legen. Obwohl die Zahl der Beschäftigten von Mitte der 50er bis Mitte der 70er Jahre beträchtlich zunahm und die Region ihre Spitzenstellung in Süditalien behaupten konnte, waren die Wachstumsraten doch durchgängig geringer als in Norditalien. Allerdings ging dieses unbefriedigende Ergebnis mit einem tiefgreifenden Sttukturwandel der regionalen Industrie einher, die sich im Niedergang typischer, traditionell an lokale Märkte gebun­ dener Industriezweige (Lebensmittel, Textil, Bekleidung, Leder und Schube, Holz und Einrichtungen) und dem Wachstum neuer, kapitalintensiver Branchen wie Stahl, Transportmittel, Gummi und Plasrik, Petrochemie äußerte. •

Hauptursache für diesen Strukturwandel war in erster Linie die Konkurrenz norditalienischer Unternehmen, die zunehmend auf dem nationalen Markt aktiv wurden und dadurch mit den süditalienischen Unternehmen in Wettbewerb traten. Dadurch verschwanden zahlreiche Handwerkerviertel, die bis dahin die Unternehmens- und Industriestruktur der Region bestimmt hatten". Dennoch kam es nicht zu einer allgemeinen Deindustrialisierung, sondern vielmehr zu .einem Aufschwung von Unternehmen und Produktionszweigen ,made in Italy' in einigen Gebieten des Südens" 46, darunter speziell einige Bezirke in Kampanien, wie Giaufranco Viesti erst kürzlich durch seine Untersuchungen belegt hat. Der zweite Faktor, der den Strukturwandel in Kampanien nachhaltig beein­ flußte, waren enorme Investitionen durch Staatsbetriebe, die riesige Werke der Schwerindustrie errichteten. Ziemlich einhellig ist man der Meinung, daß diese Industrialisierung von außen nicht die gewünschten Ergebnisse erzielte und den Unternehmergeist eher blockierte, denn dadurch entstanden in der Mehrzahl .fiktive Unternehmen, die von Zentren verwaltet wurden, welche keinerlei Bezug zur regionalen Wirtschaft hatten"47• Der aufsehenerregendste Fall war der Konkurs von Alfasud in Pomigliano d'Arco48•

Es stellt sich die Frage, inwieweit der Marsballplan zu diesem Strukturwan­ del beigetragen oder ihn beschleunigt hat. Aus der Analyse der ERP-Kredite " Dazu S. Brusco I S. Paba, Per una storia dei distreni industriali italiani da! se­ condo dopoguerra agli anni novanta, in: F. Barca, Storia dd capitalismo italiano dal dopoguerra a oggi, Rom 1997; G. Viesti (Hrsg.), Mezzogiomo dei distretti, Cosenza 2000, sowie ders., Come nascono i distreni industriali, Rom I Bari 2000. 46 Ebd., S.159. 47 M. D'Antonio, L'industria in Campania tra politica e mercato, in: P. Macry I P.

Vitlani (Hrsg.), La Campania (Storia d'ltalia. Le regioni dall'Unita ad oggi, 9), Turin 1990.

48 Zum Fall Alfasud siebe A. Vitello, Come nasce l'industria suhalterna: il caso Alfasud a Napoli, Neapel1973.

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

4}7

geht hervor, daß diese tatsächlich an nur 6 Unternehmen vergeben wurden (95% der Kredite), von denen nur eins, die Cotonerie Meridionali nämlich, einer arbeitsintensiven Branche angehörte (siehe Tab. 9). Folglich erweist sich der Marshallplan in dieser Hinsicht als eines der ersten Instrumente für die Konversion der süditalienischen Industrie zur Schwerindustrie. Von einem gewissen Interesse ist weiterhin der Umstand, daß vier der geförderten Unternehmen, llva, Industria Meccanica Napoletana, Metalmec­ canica Meridionale und Sme (Societii. Meridionale di Elettricitä.) Staatsbetriebe waren und ein weiteres, die Manifatture Cotoniere, ausgerechnet zu Beginn der fiinfziger Jahre in Staatsbesitz überging. Einzig und allein die Cantieri Metallurgici Italiani waren und blieben in Privatbesitz: Seit 1924 gehörten sie zur Gruppe Falck, die auf dem Stahlsektor und in der Energiegewinnung aus Wasserkraft tätig war. Daraus muß gefolgert werden, daß der Marshallplan zu einer Umorientierung auf Staatsbetriebe beitrug.

Tabelle 9 Dollarkredite an Firmen in der Region Kampaoien (in Tausend Dollar) Betrieb

Bereich

SME

Elektrizität

ILVA

Eisenind. Eisenind. Textilind. Maschinenbau Maschinenbau

Cantieri Metallurgici italiani Cotonerie Meridionall Ind. Meccanica Napoletana Metalmeccanica Meridionale Summe der 6 größten Kredite von verbliebenen 32 Unternehmen erhaltene Summe Unternehmenskredite der Region Kampanien insgesamt

Beträge in% in Tausend$

9.575 5.404 2.152 1.955 749 550

44,5 25,1 10,0 9,1 3,5 2,6

20.385

94,6

1.156

5,4

21.541

100,0

Quelle: MSA, I:ERP in ltalls, S. 61-85.

Auch im Fall Karopaoien ist es sinnvoll, die größten Empfänger von ERP­ Mitteln näher zu betrachten, um ihren Einfluß auf die Entwicklung des Indu­ striestandortes herauszuarbeiten. Die größte Summe ging an die Sme49, die damit das Kraftwerk in Neapel um zwei Turbogeneratoren von 45 und 60 MW erweiterte und ihre Kapazität verdoppelte. Das 1899 urspriinglich mit ausländischem Kapital gegriindete Unternehmen, dessen Aktien jedoch zu einem nennenswerten Teil von gemischten Banken gehalten wurden, gehörte 49 F. Di Pasquantonio, La nazionalizzazione dell'industria elettrica, Rom 1962.

438

Patrizia Battilani und Francesca Fauri

seit 1933 zur IRI, die das Unternehmen unter Führung von Giuseppe Cenzato finanziell sanierte und als ersten Baustein eines umfassenden Industrialisierungs­ programms für den Mezzogiorno ansah, weil sie davon überzeugt war, daß der Energieverbrauch nur durch Industrialisierung steigen würde. Der Krieg änderte nichts an dieser Strategie, auch das Management (technisch qualifi­ zierte Ingenieure, die alle iunerhalb des Monopolbetriebes ausgebildet wurden und von wirtschaftlichen Aspekten wenig verstanden) sowie das Kerngeschäft (Monopol auf Elektrizitätserzeugung in Süditalien) blieben unangetastet. Die Wende kam 1963 mit der Nationalisierung der Energieversarger durch die erste Mitte-Links-Regierung, in deren Gefolge die Sme eine Finanzierungsgesellschaft wurde, die den Großteil der staatlichen Mittel in den Agrar- und Lebensmittel­ sektor, in eine große Handelskette und viele kleinere unbedeutende Bereiche investierte. Die Sme hätte eine Triebfeder für die Industrialisierung des Südens sein können, verlor jedoch an Durchschlagskraft, als sie nicht immer erfolgreich in den Lebensmittelsektor investierte und damit ihre Ressourcen verzettelte. In den neunziger Jahren wurde das Unternehmen privatisiert. Die zweite große Nutznießetin war die 1905 gegründete llva, die über große Anlagen in Bagnoli verfügte. Im Ersten Weltkrieg zu einem Großbetrieb mit 50.000 Beschäftigten aufgestiegen, wurde sie in den dreißiger Jahren anläßlich der Rettungsaktionen im Bankenwesen in die IRI eingegliedert. Das Werk in Bagnoli wurde mit ERP-Mitteln vollständig modernisiert, allerdings auf der Basis einer relativ veralteten Technik (Thomson-Öfen). In den sechziger und siebziger Jahren wurde mehrmals die Schließung erwogen, die jedoch erst im Jahre 1990 erfolgte, nachdem nochmals etliche Milliarden öffentlicher Mittel geflossen waren'0. Die beiden anderen staatlichen Unternehmen gehörten zum Imperium der Finmeccanica, einer Finanzierungsgesellschaft, die 1947 von IRI gegründet worden war, um den umfangreichen Besitz an Maschinenbauunternehmen zu rationalisieren. Im Rahmen dieser Reorganisation konzentrierte sich die Industria Meccanica Napoletana auf den Bau von Leichttnotorrädern, Mopeds, Mahlwerken, Radarteilen und Maschinen für die Kunststoffbeschichtung, während die 1947- bei der Ausgliederung der Abteilung für Flugzeugmotoren von Alfa Romeo - entstandene Metalmeccanica Meridionale Motorgetriebe für Mopeds baute. Insgesamt war die Lage der Metallindustrie in der Region Neapel wegen .der mangelnden Zusammenarbeit mit den Zentren im Norden und vor allem wegen der schwachen Stellung auf den Märkten für Zubehör und Endprodukte"" ziemlich schwierig. Das war auch einer der Gründe, warum

" G. Lupo Osti, l:industria di stato dall' ascesa al degrado. Trent'anni del gruppo Finsider, Bologna 1933. " G. Lombardo, l:Istituto Mobiliare Italiano, S. 386.

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

4}9

die Betriebe der Finmeccanica in Süditalien immer auf öffentliche Aufträge angewiesen waren. Als einziges Unternehmen außerhalb der Schwerindustrie profitierte der Baumwollhersteller Manufattiere Cotoniere Meridionali (MCM) in nennenswer­ tem Umfang von den ERP-Krediten, die zum Wiederaufbau der durch Kriegs­ handlungen und den Ausbruch des Vesuv im Jahre 1944 fast völlig zerstörten Produktionsanlagen verwendet wurden. In der Zeit zwischen den beiden Welt­ kriegen hatte sich das traditionsreiche Unternehmen mit 15.000 Beschäftigten zu einem der größten Zentren der Textilindustrie in Italien entwickelt. Da die Produktionsstätten nach dem Zweiten Weltkrieg unbrauchbar waren, konnte das Unternehmen nicht vom allgemeinen Aufschwung der italienischen Textilin­ dustrie bis 1951 profitieren. Außerdem wurde es 1951152 von der Korea-Krise in Mirleidenschaft gezogen, weil diese mit einer Phase der Umsttukturierung und einer starken Verschuldung zusanunenfiel. Tatsächlich konnte MCM nur durch massive Hilfen aus dem Marshallplan und die 1957 erfolgte Übernahme durch die Öffentliche Hand überleben (ENI übernahm die meisten Anteile), was jedoch nicht zu einem Ende der chronischen Defizite führte. Hier muß daran erinnert werden, daß MCM nur deshalb in den Besitz der Öffentlichen Hand überführt wurde, um 8.000 Arbeitsplätze zu erhalten. Tatsächlich gelang es allein den zur Falck-Gruppe gebärenden Cantieri Metallurgici, sich eigenständig auf dem Markt zu behaupten. Bettachtet man die Empfänger der größten ERP-Kredite in Kampanien, wird deutlich, daß durch den Marshallplan vor allem die Schwerindustrie gefördert wurde, wobei es nicht gelang, Unternehmen auszumachen, die eine regionale Entwicklung hätten anführen können. Die Mittel aus dem Lire-Fonds wurden in erster Linie für die Eisenbahn ausgegeben (fast ein Drittel des Gesamtbetrages), insbesondere für den Bau von 30 Lokomotiven und 285 Personenwaggons, in den gut 8 der bereitgestellten 11 Mrd. Lire flossen. An zweiter Stelle rangierten Infrasttukturmaßnahmen (21% der Mittel): Instandsetzung von 169 Straßen, 19 Brücken, 40 Wasserleitungen, 23 Kanalisationen, 20 Kindergärten, 5 Waisenhäusern und 74 Schulen; der größte Teil (2 990 Mrd. Lire, 8% der bereitgestellten Summe) wurde für den Wiederaufbau des Hafens von Neapel aufgewender. Ein weiteres Drittel (30,6%) floß in den Wiederaufbau und die Repara­ zerstörten Wohnraums und den Bau von Sozialwohnungen für Arbeiter (Piano Fanfani) und Wohnungslose. Weniger bedeutsam waren die Ausgaben für Flurbereinigung, Wiederaufforstung und Boden- und Wegbefestiguog in bergigen Gebieten. tur

Hauptkennzeichen der Investitionen aus dem Lire-Fonds war ihre Kon­ zentration auf die Provinz Neapel (mit Ausnahme der 8 Mrd. Lire für Eisen-

Patrizia Battilani und Francesca Fauri

440

bahnwaggons wurden dort 56% der Investitionen getätigt), wodurch die Infrastruktur dieser Provinz erheblich verbessert wurde.

Tabelle 10 Verwendung der Mittelaus dem Lire-Fonds in Kampanion (in Mio. Lire) Zuweisung des Lire-Fonds

Kampanien

in%

Instandsetzung Schienennetz Öffentliche Arbeiten Wiederaufbau von Wohnraum Landgewinnung und Flurbereinigung Wohnungsbau (für Obdachlose, Fanfani-Casa, Gesetz zur Bauförderung) Hotelbau (Kredite und Zuschüsse a fonds perdu) Aus- und Weiterbildung Aufforstung und Bergbefestigung Telekommunikation

11.947,6 7.892,4 3.275,0 4.393,6

31,7 21,0 8,7 11,7

8.247,6 726,6 660,0 192,4 303,0

21,9 1,9 1,8 0,5 0,8

Kampanien insgesamt

37.638,2

100,0

Kredite an regionale Unternehmen zum Maschinenimport

21.541,0

Quelle: MSA, I:ERP in Italia, S. 61-85.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Hilfen aus dem Marshallplan eine große Chance darstellten, die von der Region nicht voll genutzt wurde, aber dennoch die industrielle Entwicklung der folgenden Jahre beeinflußte. Als die Mittel aus dem Marshallplan verteilt wurden, waren die grundlegen­ den Entscheidungen zugunsren der Schwerindustrie und der öffentlichen Unternehmen bereits gefallen. Außerdem war die Wtrkung von vornherein dadurch begrenzt, daß die Mittel an Unternehmen vergeben wurden, deren Marktaussichten unsicher waren und die deshalb stets von öffentlichen Mitteln abhängig blieben. Zum Schluß wollen wir noch kurz darauf eingehen, welche Folgen die Libe­ ralisierung der Märkte hatte. Es ist offensichtlich, daß die Region Kampanien als Industriestandort davon nicht profitieren konnte, sondern die Krise vieler Unternehmen dadurch noch verschärft wurde.

Vll. Schlußfolgerungen Der Marshallplan und die Liberalisierung der Märkte wirkten sich auf die italienische Industrie höchst unterschiedlich aus, die Kluft zwischen traditionel­ len Industrieregionen und strukturschwachen Gebieten wurde noch verschärft. Tatsächlich profitierten vor allem Großunternehmen davon. Sie konnten die

Marshall-Plan und Handelsliberalisierung

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Investitionen zur technologischen Erneuerung nutzen, neue Strategien entwik­ keln und Marktanteile erobern, wodurch sie ihren Heimatregionen - wie im Piemont - weitere Impulse zur wirtschaftlichen Entwicklung gaben. Ziemlich begrenzt, um nicht zu sagen nichtig, war die Wirkung in schwach industriali­ sierten Regionen, weil man dort vergeblich nach leistungsstarken Gesellschaften suchte, die den Industrialisierungsprozeß hätten anführen können. In einigen Fällen flossen umfangreiche Hilfen auch an Unternehmen mit unsicherer Perspektive, die jedoch wie in Kompanien aufgrund ihrer Größe und Bran­ chenzugehörigkeit gut in die nationalen Entwicklungsprogramme paßten. In anderen Fällen wurden die Mittel nach dem Gießkannenprinzip auf viele kleine Unternehmen verteilt, von denen kaum eines in den sechziger Jahre erfolgreich wurde'': das trifft vor allem auf die Emilia Romagna zu. Anders liegen die Dinge beim Lire-Fonds, denn unter bestimmten Umstiinden haben diese Mittel tatsächlich zu einer Verbesserung der Infrastruktur und des Humankapitals beigetragen (man denke nur an den Wiederaufhau der Schulen). Wichtiger als der Marshallplan war für diese Regionen jedoch das neue internationale Klima, denn dadurch entstanden neue Märkte und damit neue expottorientierte Unternehmen. Die unterentwickelten Regionen mußten andere Wege finden, um diese Möglichkeiten zu nutzen. Abschließend soll hervorgehoben werden, daß der Marshallplan und die Liberalisierung des Handels weder die regionalen Wege zum Wachsturn noch die vorhandene Industriestruktur veränderten. Gerade aus diesem Grund wurden die bestehenden Unterschiede durch den Marshallplan eher noch verschärft. Tatsächlich erwies er sich als probates Mittel, um die Produktion wieder in Gang zu bringen, allerdings nur für bereits industrialisierte Länder'' oder besser noch für hochentwickelte Regionen in den Industrieländern.

'2 Untersuchlttlgen über die wirtschaftliche Entwickllttlg einiger Provinzen wie beispielsweise Forll haben gezeigt, daß kleine Betriebe, denen ERP-Mittel zuteilwurden, gerade nicht zu denen gehörten, die sich durch besondere Erfolge auszeichneten. Vgl. F. Fauri, Lo sviluppo industriale della provincia di Forll-Cesena, Forll 1996. " V Zamagni, The Italian .Economic Miracle" Revisited, S. 197-226.

Fünfter Teil 1989 und die Folgen

Die Revolution in Deutschland 1989 Von Klaus-Dietmar Henke

I. Die Beantwortung der deutschen Frage Die demokratische Revolution in Deutschland 1989 war die Voraussetzung für die endgültige Beantwortung der deutschen Frage', die beinahe zweihundert Jahre lang auf der politischen Tagesordnung Europas gestanden hatte. Viel mchr als lediglich eine Frage der nationalen Selbstorganisation oder der staat· Iichen Einheit, umfaßte die deutsche Frage in der neueren Geschichte immer drei Elemente zugleich: die Frage der äußeren Gestalt, der außenpolitischen Orientierung sowie der inneren Ordnung; die deutsche Frage war also auch eine Demokratiefrage. Die Revolution in Deutsc:hland 1989 öffnete den Weg zur gleichzeitigen Beantwortung aller drei Teilfragen. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesre· publik auf der Grundlage des "Vertrages der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutsc:hlands" vom 31. August 1990' und mit dem lokrafttreten des am 12. September 1990 unterzeichneten "Vertrages über die absc:hließende Regelung in bezug auf Deutschland"', dem 2+4-Vertrag, war der seit der Reichsgriin­ dung 1871 umkämpfte Verlauf der Außengrenzen verbindlich geklärt. Nach der monströsen Verschärfung des deutschen Problems durch den nationalso­ zialistischen Weltanschauungskrieg, der erzwungenen Ostbindung des kom­ munistischen Ostdeutschlands und der allmählichen Westbindung der alten Bundesrepublik gelang nach 1990 wie selbstverständlich die Integration des 1 0. Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, 3. Auf!., München 19%; S. Ha/fner, Die deutsche Frage 1950-1961. Von der Wiederbewaffnung bis zum Mauerbau, Berlin 2002; W.D. Gruner, Die deutsche Frage. Ein Problem der europäischen c;.,.chichte seit 1800, München 1985. 2 Vgl. auch ]. Rösler, Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Versuch einer historischen Einordnung, in: Deutschland-Archiv, 32 (1999), S. 431-440. 3 Siehe K. Kaiser, Deutschlands Vereinigung. Die internationalen Aspekte. Mit den wichtigen Dokumenten, bearbeitet von K. Becher, Bergisch-Gladbach 1991, S. 256 f. und S. 258-260; R Müller, Der .2+4"-Vertrag und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Frankfurt a.M. 1997.

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vereinten Deutschlands in die europäische Gemeinschaft und das westliche Vertrags- und Bündnissystem. Und zugleich glückte es nach einem sehr langen "Weg nach Westen"4 schließlich doch noch, in prononcierter Distanzierung zu den autoritär-konservativen oder totalitären Gegenentwürfen vorhergehender Epochen einen stabilen demokratisch-zivilgesellschaftlichen inneren Ordnungs­ rahmen aufzuspannen. Der gewaltige historische Effekt der Umwälzung in Ostdeutschland legt es nahe, hier vor allem auf die Voraussetzungen und auf die eigentliche Ent­ scheidungsphase der Revolution, ihren Durchbruch zwischen August und November 1989, zu blicken.

II. "Revolution"? Welche Gründe die noch inuner anzutreffende Zögerlicbkeit auch haben mag, die Revolution in Deutschland 1989 eine .Revolution" zu nennen- einer davon ist gewiß in der landläufigen Vorstellung zu suchen, Blut und Gewalt gehörten zum Wesen von Revolutionen. Kriterium für die Qualifizierung einer so einschneidenden Umwälzung kann aber nur deren historische Funktion, nicht ein äußeres Merkmal sein. Versteht man unter .Revolution" einen histo­ rischen Prozeß, durch den in einer Massenmobilisierung gerade jene neuen Verhältnisse dauerhaft etabliert werden, die vom alten Regime ausgeschlossen wurden, dann wird man nicht zögern, den Umbruch in Deutschland 1989 unter diese Kategorie zu subsumieren. Eine Skizze auf der Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstandes5 soll zeigen, daß die SED-Diktatur nicht einfach zusammenbrach, sondern in einem ebensolchen Mobilisierungsprozeß von innen aufgebrochen wurde.

4 H.A. Wink/er, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000. ' Diese sehr gedrängte Skizze basiert vor allem auf M.R Lepsius, Die deutsche Vereinigung: Ereigoisse, Optionen, Entscheidungen, in: W. Schluchter I P.E. Quint, Der Vereiniguogsschock. Vergleichende Betrachtungen 10 Jahre danach, Weilerswist 2001, S. 39-63; die beste Deutuog des Umbruchs von 1989, die politikwissenschaftliche, soziologische und zeitgeschichtliche Ansätze gleichermaßen einbezieht, gibt W. Süß, Von der Ohnmacht des Volkes zur Resignation der Mächtigen: Der Aufstand von 1953 und die Revolution von 1989, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 52 (2004), S. 441477. Sie konnte für diesen Abriß nicht mehr berücksichtigt werden. Siehe auch C.S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt a.M. 1999; W. Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999; H.-H. Hertle, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Opladen 19%; S. Meuschel, Legiti­ mation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt a.M. 1992.

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m. Die Voraussetzungen Der ostdeutsche Staatssozialismus war immer ein System ohne freie Legiti­ mierung durch seine Bürger. Die rein weltanschauliche Herrschaftsbegründung, das kommunistische Teildeutschland habe gegenüber dem demokratischen nicht nur die bessere Vergangenheit, sondern auch die bessere Gegenwart und Zukunft für sich, trug nie sehr weit. Ohne sowjetisches Eingreifen wäre das Regime bereits im Juni 1953 untergegangen, ohne den Bau der Berliner Mauer im August 19616 ebenfalls. Diese totale Außenabschottung stabilisierte die Diktatur und ließ den meisten Bürgern wenig Alternativen, als in "äuße­ rer Systeruförtnigkeit bei gleichzeitiger innerer Distanzierung" zu leben'. Die Amtszeit Erich Honeckers8 seit 1971 war eine einzige große Anstrengung, die fehlende demokratische und die verbrauchte ideologische Legitimation durch eine soziale Legitimation zu ersetzen, also: massive Ausweinmg und Subven­ tionierung des Konsums; ein gigantisches Wohnungsbauprogramm und eine großzügige Ausweitung der sozialen Leistungen. Wachsender Wohlstand und eine wachsame Geheimpolizei sorgten dafür, daß die SED-Spitze bis in die achtziger Jaltre hinein keinen Zusammenbruch der Massenloyalität zu fürchten brauchte. Wohlverhalten gegen Wohlergehen, lautete der ungeschriebene Gesell­ schaftsvertrag zwischen Volk und Führung der DDR'. Diese labile Konstruktion konnte aber nur solange tragen, wie mindestens vier Voraussetzungen stabil gehalten werden konnten: die Sozial- und Konsumpolitik mußte finanzierbar bleiben; die Bevölkerung mußte ausreichend dankbar bleiben; die Abgrenzung gegenüber dem wesdichen Schlaraffenland mußte aufrechterhalten bleiben; die Sowjetunion mußte als Regimesicherung verfügbar bleiben. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre existierte keine dieser Voraussetzungen mehr. Die erste Voraussetzung - Finanzierbarkeit - existierte nicht mehr, weil sich bis 1989 die Devisenverschuldung des ostdeutschen Weltanschauungsstaa­ tes in etwa verfünfundzwanzigfacht hatte. Der gesamte J abresexport reichte nicht einmal mehr entfernt für den Schuldendienst, geschweige denn für die notwendigen Investitionen in eine ohnehin innovationsträge und Ieistungs-

' V gl. B. Eisenfeld IR Enge/mann, 13. August 1961: Mauerbau: Fluchtbewegung und Machtsicherung, Berlin 2001; R. Steininger, Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958-1%3, München 2001. ' D. Pollack I D. Rink, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Zwischen Vetweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970-1989, Frankfurt a.M. 1997, S. 7-29, hier S. 8. ' Als erste biographische Versuche J.N. Lorenzen, Erich Honecker, Reinbck b.H. 2001; N.F. Pötzl, Erich Honecker. Eine deutsche Biographie, Stuttgart I München 2002; A. Reinhold, Nach dem Sturz. Gespräche mit Etich Honecker, Leipzig 2001. ' So R Schröder, Was nicht vergessen werden darf. Rückblick auf die DDR, in: H.-J. Vogel (Hrsg.), Gegen Vergessen- für Demokratie, München 1994, S. 37-47, hier s. 41.

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schwache Staatsplanwirtschaft. Um allein die galoppierende Verschuldung stoppen, hätte der Lebensstandard in der DDR um 25-30% abgesenkt werden müssen10• Von so einem selbsttnörderischen Sanierungsversuch hielt die SED nichts. Sie bekam auch keine Chance dazu, weil die Revolution sie schon vorher weggefegt hatte.

zu

Die zweite Vorausserzung - Legitimitätsglaube - begann sich seit Anfang der achtziger Jahre ebenfalls zu verflüchtigen. Mindestens so sehr wie mit den alltäglichen Engpässen in der Güterversorgung hing das mit dem Gene­ rationenwechsel zusammen. Im Schatten der Mauer war inzwischen eine Generation herangewachsen, die von den sogenannten Errungenschaften der DDR weniger beeindruckt war als ihre Eltern oder gar die auf die Weimarer Notjahre fixierte alte Garde im Politbüro11• Die Jüngeren fanden sich schwerer mit den Konsumdefiziten und vor allem der Aussicht ab, bis zum Rentenalter eingemauert zu sein. Obendrein waren die meisten sozialen Aufstiegskanäle durch die noch recht rüstigen Gründereliten der DDR verstopft. Überdurch­ schnittliche Frustration war ein Merkmal dieser "posttnuralen"12 Generation. Auch die dritte Voraussetzung - Abgrenzung - erwies sich als illusorisch. Die rapide Verschuldung erhöhte die politische Druckempfindlichkeit der DDR erheblich und schränkte ihren Handlungsspielraum gegenüber dem kapitali­ stischen Ausland so zunehmend ein. Als Unterzeichner der KSZE-Schlußakte konnte sie ihre menschenrechtliche Verpflichtungen immer weniger offen mit Füssen treten13• Das Image als freiheitsfeindliche Diktatur war geschäftsschä­ digend. Mit den zahlreichen Voneilen der Verständigungspolitik von Willy Brandt hatte Ostberlin auch ihre Gefahren in Kauf nehmen müssen. Den kommunistischen Hardlinern und namentlich dem Staatssicherheitsdienst galt die sozialliberale Ostpolitik ohnehin immer als Trojanisches Fferd. Die DDR­ Spitze versuchte die unerwünschte Annäherung zwischen den Bürgern beider deutscher Staaten durch eine verschärfte ideologische und nationale Abgtenzung zu neutralisieren, doch die Bevölkerung folgte dieser Abgrenzung nicht. Sie interessierte sich weiterhin sehr für die westdeutsche Vergleichsgesellschaft. to

Dok.7: Gerhard Schürer, Gerhard Beil, Alexander Schalck, Ernst Häfner, Arno Donda, Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen. Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED von 30.10.1989, in: H.-H. Hertle, Der Fall der Mauer, S. 448460. 11 Vgl. S. Prokop, Das SED-Politbüro. Aufstieg und Ende 1949-1989, Berlin 1996. 12 Bischof Chrlstoph Demke, Magdeburg, auf eioer Konferenz der Evangelischen Kirchenleirungen in der DDR am 6.n. Oktober 1989, zitiert nach W Süß, Staatssicher­ heit am Ende, S. 318. " Vgl. P. Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Wtrkung eioer internationalen Institution, Frankfurt a.M. 1999; W Loth, Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abröstung, München 1998.

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Welche Eigenlegitimierung das SED-Regime auch anstrebte - den Utopie-, den Antifa- oder den Gratifikationsstaat -, es blieb ihr immer versagt, zur Stabilisierung ihrer Alleinherrschaft die ,nationale' Legitimation zu aktivieren. Dieser Ausweg war der Politbüro-Diktatur bei Strafe der Wiedervereinigung und des eigenen Untergangs versperrt. Unmittelbar gefährlich im innerdeut­ schen Verhältnis war vor allem die Tatsache, daß jeder Ostdeutsche einen im Grundgesetz verankerten Rechtsanspruch auf die westdeutsche Staatsbürger­ schaft hatte, alle DDR-Bürger waren potentielle Bundesbürger. Auch die vierte Voraussetzung für eine dauerhafte Diktatursicherung- die Sowjetunion - entfiel bekanntlich Ende der achtziger Jahre im Zuge der Reformpolitik Gorbatschows, mit der er die UdSSR modernisieren und letztlich von den nicht mehr tragbaren Hegemonialkosten in Ostmitteleuropa befreien wollte14 Seine Liberalisierungspolitik bedeutete noch mehr Durchlässigkeit zwischen Ost und West. Und seit 1987 gab Moskau zunehmend deutlicher zu verstehen, daß die sowjetischen Panzer keine Stütze der Orthodoxie mehr sein würden. In Ungarn begann sich seit 1988 die alte Parteiherrschaft aufzulösen, in Polen war im Juni 1989 mit dem Wahlsieg der Solidarnase der Durchbruch zur Demokratie erreicht". Die Weigerung der betagten SED-Führung, sich dem sowjetischen Reformkurs anzuschließen, verschlechterte das ohnehin schon mürrische Klima in der Bevölkerung. Hinzu kamen Schwächezeichen. Das Regime mußte im Mai 1989 ersttnals die Aufdeckung von Wahlfälschungen durch Bürgerrechtler hinnehmen". Noch ehe die Krise der DDR zum Aus­ bruch kam, herrschte in der Bevölkerung, aber auch bis in die höheren Etagen von Partei und Staat hinein die Überzeugung, daß es .so nicht weitergehen könne". Aber wie dann? _

IV. Der Durehbrueh 1. Massenflucht Die Revolution in Deutschland entzündete sich an dem ältesten Gebrechen der SED-Diktatur: an der Entschlossenheit allzu vieler Menschen, der DDR 14 Siehe H. Adomeit, Imperial Overstrech: Germany in Soviet Policy from Stalin to Gorbachev, Baden- B aden1998, S. 191 ff. " Vgl. H. Kiihn, Das Jahrzehnt der Solidarnosc. Die polirische Geschichte Polens 1980-1990, Berlin 1999; A. Horvtith I A. Szakolczai, The Dissolution of Communist Power. The Case of Hungary, London u.a. 1992; PH. O'Neil, Revolution from within. The Hungarian Socialist Worker's Pany and the Collapse of Commwrism, Cbdtenbam 1998 . 16 Vgl.]. Müller, Symbol89 . Die DDR-Wahlfalschungen und ihre strafrechtliche Aufarbeitung, Berlin 2001; H.M. Kloth, Vom .Zettdfalten" zum freien Wählen. Die Dernokratisierung der DDR1989/90 und die Wablfrage", Berlin2000. •

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den Rücken zu kehren. Ungefähr 10.000 Übersiedler dmften in den siebziger Jahren jährlich in die Bundesrepublik ausreisen". Die Genehmigungen dazu wurden vom Staatssicherheitsdienst in freier Willkür erteilt, die Antragsteller zuvor kriminalisiert, der sozialen Ächtung und der geheimpolizeilieben Ver­ folgung preisgegeben. Doch alle Versuche, dieses wachsende Unruhepotential zu beseitigen oder den Drang nach Westen zu brechen, scheiterten. Je mehr Emigrationswilligen die Übersiedlung verwehrt wurde, desto größer wurde das Unruhepotential. Öffnete die SED-Führung das Ventil am Druckkessel DDR wie z.B. 1984 und 1988 dagegen etwas weiter, dann erzeugte sie selbst einen nur noch stärkeren Ausreisedruck".

Im Sommer 1989 geriet der Exodus außer Kontrolle. War die SED im Juli noch halbwegs Herr des Verfahrens gewesen, als Hunderte ihre Aus­ reise durch Flucht in die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik in Warscbau, Prag, Budopest und Ostberlin erzwangen, so wurde sie im August zur Getriebenen. Tausende von Menschen strömten nach Ungarn, um sieb über die inzwischen stacbeldrahtfreie, aber noch bewachte Grenze zu Österreich in die Bundesrepublik durchzuschlagen. Nach einigen Wochen weigerte sieb die ungarische Reformregierung, weiterhin als Hilfsgrenzpolizist der DDR aufzutreten". Am 10. September öffnete sie die Grenze zu Österreich, über die binnen sieben Wochen 50.000 Übersiedler nach Westdeutschland gelangten. Den Zögerlichen zu Hause übermittelten die bewegenden Bilder des westdeut­ sehen Fernsehens vor allem eine Botschaft: Jetzt oder nie! Die Handlungslähmung Ostberlins wurde durch die Abwesenheit des erkrankten Generalsekretärs zwischen AufangJuli und Ende September sowie die fanatische Entschlossenheit der SED-Spitze noch gesteigert, der Welt zum 40. Griindungsjubiläum der DDR am 7. Oktober ein gefestigtes Staatswesen vorzugaukeln20• Dafür mußte sie unbedingt die abträglichen Zustände berei­ nigen, die inzwischen in den von Ausreisewilligen belagerten westdeutseben Botschaften in Warschau und Prag entstanden waren. Kurz vor den Staatsfei­ erlichkeiten in Ostberlin verließen tatsächlich 14.000 Botschaftsflüchtlinge in verriegelten Sonderzügen Polen und die CSSR in Richtung Bundesrepublik. Sofort danach sperrte die DDR ihre Grenze zur Tscbecboslowakei und damit auch zu Ungarn. Alle, die den Sprung nicht gewagt hatten, sahen sieb in der Falle sitzen, doch ihre Protestbereitschaft wuchs dadurch nur. Als Zeichen 17 Vgl. H.-H. Lochen (Hrsg.), Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Inneren, Köln 1992.

18 Hierzu B. Eisen/eid, Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung, Berlin 1995. 19 Im einzelnen siehe H.-H. Hertle, Der Fall der Mauer, S. 91 ff. 20

Als Beispiel vgl.: 40 Jahre DDR Erkundungen zu einem erfolgreichen Weg, hrsg. vom Kulturbund der DDR, Potsdom 1989.

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ihrer Handlungsfähigkeit und um die Übersiedler selber förmlich aus ihrer Staatsbürgerschaft zu entlassen, ließ die SED-Führung die Flüchtlingszüge über das Territorium der DDR leiten. Man solle diesen Elementen - Brüder, Söhne, Enkel der Zurückgebliebenen - "keine Träne nachweinen", schickte der ultraorthodoxe Erich Bonecker ihnen zur Empörung der Bevölkerung hinterher. Ostberlin hoffte, daß mit diesem Abtransport der Albtraum endlich vorüber sei. Das war eine Fchlkalkulation. Ohne die Massenflucht aus dem Land wäre es nicht zu den Massenprote­ sten im Lande gekommen, die sich jetzt entfalteten. Die Staatsfeierlichkeiten in Gegenwart Michall Gorbatschows und im orthodoxen Ritus am 7. Oktober wirkten nur noch wie ein weltfremder Mummenschanz. Die herrschende Ideo­ logie in den Festreden war .auf das Niveau von Kinderversen degeneriert"". Es lag offen zutage, daß der SED nun nichts mehr geblieben war, um ihre Alleinherrschaft zu legitimieren. 2.

Bürgerbewegung

Ganz im Gegensatz zu den Übersiedlern war es das Ziel der regimekritischen Intelligenz, aus der DDR ein Land zu machen, in dem man leben konnte". Mit dem Heranwachsen der Mauer-Generation und dem Aufschwung der interna­ tionalen Ökologie-, Friedens- und Menschenrechtsdebatte hatten sich seit den siebziger Jahren zahlreiche Bürgerrechtsgruppen herausgebildet, die inuner nur wenige tausend Anhänger zählten und von der Durchschnittsbevölkerung sozio-kulturell meilenweit entfernt waren. Auch nach ihrer Vernetzung in den achtziger Jahren bedrohten die Gruppen die Stabilität der Diktatur nicht. Zu ihrem Selbstverständnis als politische Opposition fanden sie im Grunde erst, als Bonecker ab 1987 die ostdeutsche Reformunwilligkeit demonstrativ herausstrich. Kleinster gemeinsamer Nenner der Bürgerrechtler war das Ziel, entgegen dem Totalitätsanspruch der SED die Herrschaftsausübung in der DDR zu demokratisieren und die Gesellschaft zu pluralisieren. Fast alle Oppositionsgruppen hatten sich im kirchlichen Raum gebildet, der einzigen weitgehend staats- und parteifreien Sphäre des Landes. Der durch seine Armee von Spitzeln wohlinfortnierte Staatssicherheitsdienst hatte Mitte 1989 etwa 160 .feindlich-negative Zusammenschlüsse" mit ungefähr 2500 Mitgliedern im Blick. 60 Personen davon galten als .unbelehrbare Feinde des Sozialismus""- unter ihnen die großen Namen des revolutionären Herbstes: 21 W. Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 748.

22 Ein guter Überblick bei D. Pollack I D. Rink (Hrsg.), Zwischen Verweigerung und Opposition. 23 K. Schroeder unter Mitarbeit von St. Alisch, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 313.

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Bärbel Bohley>', eine Berliner Malerin; die Pastoren Markus Meckel", Rainer Eppelmann26 und Hans-Jochen Tschiche"; das Ehepaar Ulrike'' und Gerd Poppe'', Physiker wie Sebastian Fflugbeil''; der robuste Reinhard Schult" und der hochintellektuelle Jens Reich"_ 24 Bärbel Bohley, geh. 1945, Malerin, Gründungsinitiatotin des unabhängigen Netz­ werks .Frauen für Frieden" 1982, Mitbegründerin der Oppositionsgruppe .Initiative Frieden und Menschenrechte" (IFM) 1985/86, Mitbegründetin der Bürgerbewegung .Neues Forum" (NF) 1989, bis 1999 EU-Beauftragte in Sarajevo für die Rückkehr von Flüchtlingen und den Wiederaufbau der Bürgerkriegsgebiere. 25 Markus Meckel, geh. 1952, Theologe und Politiker, Mitbegründer und Mitglied des Vorstands der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) 1989, Außenminister und Vertreter der DDR bei den 2+4-Verhandlungen 1990, Sprecher der SPD-Fraktion in den beiden Enquere-Kommissionen des Bundestages zur Aufarbeinmg der DDR­ Geschichte; Vorsitzender des Stiftungsrats der .Stiftung zur Aufarbeinmg der SED­ Diktatur", Berlin; MdB (SPD). 26 Rainer Eppelmann, geh. 1943, Theologe und Politiker, Gründungsmitglied und später Vorsitzender der Partei .Demokratischer Aufbruch" (DA) in Ost-Berlin 1989, Minister für Abrüstung und Verteidigung im Kabinett de Maiziere, Vorsitzender der Enquete-Kanunissionen zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte; Vorsitzender des Vorstands der .Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur; MdB (CDU). 7:1 Hans-Jochen Tschiche, geh. 1929, Theologe und Politiker, Mitglied des Fort­ setzungsausschusses des Netzwerks .Frieden konkret" 1986-1988, Mitbegründer des .Neuen Forums" (NF) 1989, MdL Sachsen-Anhalt 1990, Vorsitzender der Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Landtag Sachsen-Anhalt 1994-1998.

" Ultike Poppe, geh. 1953, Politikerin und Bürgerrechderin, Mitbegründetin des Netzwerks .Frauen für Frieden" 1982, Unterzeichnerin des Gründungsaufrufs der Bürgerbewegung .Demokratie Jetzt" (DJ) 1989, Auszeichnung mit dem Gustav­ Heinemann-Preis 2000. 29 Gerd Poppe, geh. 1941, Physiker und Politiker, Mitbegründer der Oppositions­ gruppe .Initiative Frieden und Menschenrechte" (IFM) 1985/86, Obmann in der Enquete-Kmnmission .Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" 19901998, Menschenrechtsbeauftragter des Auswärtigen Amtes 1998-2002; MdB (Bündnis 90/Die Grünen) 1994-2002. " Sebastian Pllugbeil, geh. 1947, Bürgerrechder und Minister, Studium der Physik, Verweigerung der Promotion wegen polirisch mißliebiger Äußerungen (Promotion erfolgte 1990), Mitbegründer des .Neuen Forums" (NF) 1989, NP-Vertreter am Berliner und am Zenttalen Runden Tisch 1989, Minister ohne Geschäftsbereich in der zweiren Regierung Modrow 1990. " Reinhard Schult, geh. 1951, ab 1986 Mitglied der Menschenrechtsgruppe .Ge­ gensrinunen", Teilnahme an der Aufdeckung der Manipulation der Kommunalwahler­ gebnisse 1989, Mitbegründer des .Neuen Forums" (NF) 1989. " Jens Reich, geh. 1936, Molekularbiologe und Arzt, Mitbegründer und Teilnehmer des privaren oppositionellen .Freitagskreises" 1969nO, Veröffentlichung DDR-kritischer Artikel unter dem Pseudonym "Thomas Asperger" in der Zeitschrift "Lettre Internatio­ nal" 1988, Koauror des Aufrufs .Aufbruch '89- Neues Forum" 1989, Auszeichnung mit dem Theodor-Heuss-Preis stellvertretend für die Bürgerrechder der ehemaligen DDR 1991.

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Alarmiert durch das Flüchtlingsdrama, entschloß sich die Bürgerbewegung Mitte September zu dem hochriskanten Schritt, aus dem Schut2 der Kirche in die Öffentlichkeit herauszutreten. Die Halsstarrigkeit der Politbüro-Riege schien die Existenz der DDR selbst aufs Spiel zu setzen, die es doch gerade zu reformieren und als politisch-gesellschaftliche Alternative zur Bundesrepublik zu bewahren galt. In einem wahren Griindungsboom entstanden - selbstver­ ständlich ungenehmigte- Organisationen wie der "Demokratische Aufbruch", die "Initiativgruppe Sozialdemokratische Parrei in der DDR", "Demokratie Jeut", eine "Vereinigte Linke"". Die wichtigste Bürgerrechtsgruppe aber war das "Neue Forum"", als deren Köpfe bald Bärbel Bohley und Jens Reich in Erscheinung traten. "Dialog" lau­ tete seine ebenso einfache wie massenwirksame Forderung in dem berühmten Aufruf vom 12. September. "In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestött", hieß es darin. "Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. Fluchtbewegungen dieses Ausmaßes sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns keine Rede sein." Die lähmenden Widersprüchlichkeiten in Staat und Gesellschaft seien so groß und zahlreich, daß es jetzt eines "demokratischen Dialogs" bedürfe und darauf ankomme, "daß eine größere Zahl von Menschen am gesellschaftlichen Refonnprozeß mitwirkt, daß die vielfältigen Einzel- und Gruppenaktivitäten zu einem Gesamthandeln finden." Deswegen werde eine gemeinsame "politische Platrfonn" gebildet: "Wir rufen alle Bürger und Bür­ gerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglieder des NEUEN FORUM zu werden. Die Zeit ist reif"". Hundentausende bekannten sich binnen weniger Wochen zu Manifesten wie diesem. Dennoch waren die Bürgerrechder nicht die Organisatoren oder gar Programmatiker der ebenfalls im September einsetzenden Massendemonstra­ tionen. Davon wurden sie genauso überrascht wie zuvor von der Massenflucht. Aber weil sie sich durch ihren Mut eine hohe moralische Legitimation erworben hatten, wurden sie von der Bevölkerung "an die Spitze des Protests geschoben"'6•

" V gl. u.a. S. Kammradt, Der "Demokratische Aufbruch". Profil einer jungen Pattei am Ende der DDR, Frankfun a.M. 1997; W Grö/, "In der frischen Tradition des Herbstes 1989". Die SDP/SPD in der DDR. Von der Gründung über die Volks­ kammerarbeit zur deutschen Einheit, Bonn 1996. " Siehe E. Neubert, Geschichte der Opposition 1997, s. 825 ff. "

in

der DDR 1949-1989, Bonn

H. Müller-Enbergs (Hrsg.), Was will die Bürgerbewegung?, Augsburg 1992,

S. 24 ff. 3• D. Pollack, Bedingungen und Möglichkeiten des politischen Protests in der DDR. Der Volksaufstand von 1953 und die Massendemonstrationen 1989 im Vergleich, in: D. Pollack I D. Rink (Hrsg.), Zwischen Verweigerung und Opposition, S. 303-331, hier s. 311.

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Damit gewannen sie für einige Wochen die Deutungshoheit über die DDR-Krise und wurden zu Symbolen des Widerspruchs gegen das alte Regime. 3.

Massenprotest

Der von niemandem vorhergesehene oder gar geplante Massenprotest begann überall nach den sogenannten Friedensgebeten, die in der Leipziger Nikolaikirche schon seit 1981 stattfanden". Leipzig war auch deshalb ein besonders wirkungsvoller Kristallisationspunkt des Massenprotests, weil es hier zwischen den Ausreisewilligen und den Bürgerrechtlern nicht diesdbe Konfrontation gab wie anderswo. Die einen skandierten: "Wir wollen raus!", die anderen: Wir bleiben hier!" Jetzt ändern wir die Dinge hier, hieß das. Gemeinsam riefen die Bürger: W1r sind das Volk!" Damit wurde der Führung die 40 Jahre lang immer nur angemaßte Legitimation entzogen, für das Volk zu sprechen. 6.000 Menschen zogen am 25. September über den Leipziger Ring. Immer mehr wagten sich auf die Straße. Das verlangte von jedem einzdnen Teilnehmer sehr vid Mut. Es war zumindest unsicher, ob die Sympathie des Regimes für eine .chinesische Lösung", die der Sicherheitschef im Politbüro Egon Krenz" öffentlich zu erkennen gegeben hatte, noch immer bestand. Zwischen Anfang September und Anfang Oktober gingen die Sicherungskräfte jedenfalls überall mit großer Härte, Massenverhaftungen und Mißhandlungen gegen die Demonstrierenden vor. •



Ein ganzes Bündd von Voraussetzungen und Beweggründen führte zu der explosionsartigen Sdbstmobilisierung der DDR-Bevölkerung im Herbst 1989: Zu der Frustration über den seit Jahren spürbaren Niedergang einfachster Wirtschafts- und Verwaltungsfunktionen des Staates trat nun die heftige Besorgnis über den Verlust zehntansender Verwandter und Bekannter. Daraus ergab sich die Empörung über die Unfähigkeit der SED-Führung in der Staats­ krise und die Enttäuschung über ihre Unbeweglichkeit trotz des Tauwetters ringsum. Die überraschenden Konzessionen gegenüber den Botschaftsflücht­ lingen galten als neuerliches Zeichen von Schwäche und weckten - falls man jetzt nicht locker ließ - die Hoffnung auf grundlegende Veränderung sogar in der DDR Schon früher hatten Konzessionen der Parteidiktatur den Protest im Staatssozialismus erst recht angefacht, so 1953 in der DDR, 1956 in Polen und Ungarn.

" Vgl. K Czok (Hrsg.), Nikolaikirche-offenfür alle. Eine Gemeinde im Zentrum der Wende, Leipzig 1999. " Egon Krenz, geh. 1937, Politiker, Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der SED 1974-83, Wahl zum Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED 1983, Nachfolger Erich Boneckers im Amt des Generalsekretärs des ZK der SED Oktober/ Noverober 1989, Verurteilung zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und sechs Monaren 1997.

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Eine große Mehrheit der Bürger konnte sich im Herbst 1989 mit der maß­ vollen Forderung nach einem Dialog zwischen Volk und Führung identifizieren, zumal es völlig unumstritten war, daß niemand anderes als die alleinherrschende Partei die Verantwortung für die Misere trug. Die ergreifenden Fernsehbilder von der furchdosen Selbstermächtigung der Ausreisewilligen, der Bürgerrechder und der eigenen Nachbarn taten das ihre, um die Verwandlung vom folgsamen zum selbstbestimmten Bürger zu beschleunigen. Die strikte Friedfertigkeit der Demonstranten war dabei die entscheidende Voraussetzung dafür, dem Regime keinen Vorwand für ein Blutbad zu liefern. Aus allen Milieus floß nun der Protest ineinander. Rocksänger, Kirchenleitungen, Gewerkschaftsmitglieder, Schauspieler - alle forderten den Dialog. Sogar aus den SED-frommen Block­ parteien war zu hören, daß es so nicht weitergehen könne''. Bis zum Frühjahr hatte es das Regime nur mit Übersiedlern und Bürgerrechdem zu tun gehabt. Im Herbst kündigten jedoch Hunderttausende öffentlich ihre Folgebereitschaft, Millionen taten es innerlich. Der Protest war von den Rändern in die Mitte der Gesellschaft gewandert. Jetzt war der seit der kommunistischen Dikta­ turdurchsetzung nach dem Zweiten Weltkrieg40 immer schütterer werdende Legitimitätsglaube der Bevölkerung an die Weltanschauungsdiktatur der SED endgiiltig erschöpft. Deswegen hatte die Revolution aber noch nicht gesiegt. Weshalb verteidigte das alte Regime sein Herrschaftsmonopol dann nicht mit all den Machttnitteln, die ihm immer noch zur Verfügung standen, als es 1989 tatsächlich um die Jeninsehe Machtfrage ging? Weil es durch den Druck von unten bereits zu weit in die Defensive gedrängt war und im Herrschaftsapparat selbst inzwischen eine Aushöhlung von innen eingesetzt hatte. Seit dem Sommer mußten sich auch linientreue Kader eingestehen, daß Zehntausende von Flüchtlingen und Demonstranten unmöglich weiterhin in die gängige Schablone von Subversion und Konterrevolution gepreßt werden konnten. Mit einem plausiblen Feindbild konnte das Politbüro aber auch nicht dienen. Diese ideologische und praktische Hilflosigkeit wiederum brachte auch die Parteisoldaten gegen die eigene Führung auf. Die meisten SED-Genossen waren von der doppelten ideologischen Abgrenzung gegenüber dem Westen und dem Osten ohnehin schon länger überfordert. Ein neuerlicher Waffenein-

" Vgl. P.J Lapp, Ausverkauf. Das Ende der Blockparteien, Berlin 1998; M. Walter, .Es ist Frühling, und wir sind (so) frei". LDP(D), NDPD, DFP und FDP der DDR 1989/90, Würzburg 1998. 40 Siebe K.-D. Henke, Die Trennung vom Westen. Der Zusammenbruch der Anti­ Hider-Allianz und die Weichenstellung für die kommunistische Diktaturdurchsetzung in Ostdeutschland, in: R Bebring IM. Schmeitzner (Hrsg.), Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommtutistischen Herrschaft 1945-1952, Dresden 2003, s. 327- 373.

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satz gegen das eigene Volk 36 Jahre nach dem 17. Jun.i41 war auch für einen hartgesottenen Kommunisten die denkbar schlimmste Bankrotterklärung. Für die Parteiführung war ein Blutbad der sicherste Weg, sich aus dem Kreis der zivilen Staaten hinauszukatapultieren und jede Aussicht auf weitere finanzielle Unterstützung durch die Bundesrepublik zu verspielen. Einer der schärfsten Hardliner war freilich Erich Honecker selbst. Ende September befahl er, alle Bürgeraktionen im Keim zu ersticken42• Aber die waren dem Keimstadium längst entwachsen. Auch die entscheidende Mon· tagsdemonstration am 9. Oktober in Leipzig sollte nach seinem Willen durch aggressive Einschüchterung und mit mehr als 10.000 Mann von vornherein unterbunden werden. Als die Scharfmacher der Partei und die ohnehin von Selbstzweifeln geplagten Einsatzkräfte dann aber 70.000 besonnenen Bürgern aus allen Gesellschaftsschichten gegenüberstanden, da sank ihnen der Mut. Der Durchbruch zur Vernunft erfolgte nicht in Berlin, sondern in den revolutionären Zentren Leipzig und Dresden, wo die regionalen SED·Spitzen der Forderung ihrer öreliehen Bürgerschaft nach einem Dialog nachgaben. In Dresden erreichte es am Abend des 8. Oktober eine ohne jede Absprache spon· tan entstandene "Gruppe der 20"43, den reformgeneigten Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer44 zu einem Dialog zu bewegen, der sich rasch institutionali· sierte. Hans Modrow", 1. Sekretär der SED·Bezirksleitung und von November 1989 bis April 1990 Ministerpräsident der DDR, deckte diese Öffnung. An dem entscheidenden 9. Oktober, als sich am Leipziger Ring Demonstranten und bewaffnete Einsatzkräfte gegenüberstanden, trug der über Stadt·Laut· sprecher verbreitete "Aufruf der Sechs" mit dazu bei, der die Entspannung der gefährlichen Situation einzuleiten. Er war von drei angesehenen Bürgern, darunter dem Gewandhauskapellmeister Kurt Masur46, und drei Funktionären des SED·Bezirkes unterzeichnet: "Wtr alle brauchen freien Meinungsaustausch 41 Siehe u.a. K. W. Fricke IR Enge/mann, Der "Tag X" und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953- Reaktionen und Konsequenzen im DDR.Machtapparat, Bremen 2003; dort weitere Literaturangaben. 42 Minutiös dazu W. Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 301 ff. " Vgl. K. Urich, Die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90, Köln 2001. 44 Wolfgang Berghofer, geh. 1943, Oberbürgermeister von Dresden, stellvertre· tenderVorsitzender der SED/PDS 1989, Austritt aus SED/PDS 1990, Verurteilung zu einer einjährigen Haftstrafe auf Bewährung wegen gemeinschaftlicher Anstiftung zur Wahlfalschung bei den DDR·Kommunalwahlen vom Mai 1989. " Hans Modrow, geh. 1928, Politiker, Mitglied des ZK der SED 1%7·1989, Wahl zum stellvertretendenVorsitzenden der SED/PDS 1989,Vorsitzender des Ministerrates der DDR 1989/90, Abgeordneter der PDS im Europäischen Parlament 1999. 46 Kurt Masur, geh. 1927, Dirigent, Kapellmeister des Gewandhausorchesters Leipzig 1970·1996, Berufung zum Chefdirigenten und Musikdirektor der New Yorker Philharmonie 1990.

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über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land", stellten sie fest und versprachen, ihre Autorität dafür einzusetzen, "daß dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird"47• Egon Krenz, seit langem "Kronprinz", deckte diese lokale Deeskalation und beschleunigte bis zum 17. Oktober mit der großen Mehrheit der Parteifüh­ rung den Sturz Erich Honeckers. Doch die Wende zu mehr Flexibilität, die ausgerechnet eine so kompromittierte Figur wie Krenz anführte, war nur eine kosmetische Operation. Sie sollte keineswegs die geforderte Demokratisierung einleiten, sondern die Alleinherrschaft der Partei retten. So hielt die Selbstmobilisierung der Massen bis November an, und auf jeden Schritt, den die Massen auf der Strasse nach vorne taten, wich das taumelnde Regime einen Schritt zurück. Am 23. Oktober demonstrierten in Leipzig 250.000 Menschen. Vier Tage später erfolgte eine Amnestie für alle Festgenommenen. Am 4. November fand auf dem Berliner Alexanderplatz mit einer halben Million Menschen die erste genehmigte Demonsttation in der Geschichte der DDR statt. Das Spektrum der Redner reichte von dem gemäßigten Politbüro­ Mitglied und 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Günter Schabowski48, bis zu Jens Reich. Das offenbarte, daß "die Basis des Regimes bis auf einen kleinen Kernbestand weggebrochen war"". Drei Tage später demissionierte die DDR-Regierung, am 8. November trat das Politbüro der SED zurück. Mit der Zulassung des Neuen Forums wurde eine Hauptforderung des Massenprotests erfüllt. Zugleich häuften sich die Fehlleistungen des srürzenden Regimes so grotesk, daß es selber maßgeblich mit zum unbeabsichtigten Fall der Berliner Mauer am 9. November beitrug".

4. Mauerfall Es entbehrt nicht einer tieferen Logik, daß der Einsturz der Grenzmauern engstens mit dem immerwährenden .Staatsproblem"51 der DDR, der Verweh­ rung der Freizügigkeit für ihre Bewohner, zusammenhing. Nach dem Mauerbau im August 1961, bis zu dem bereits mehr als drei Millionen Menschen ihre Heimat verlassen hatten, war eine Übersiedlung aus dem zweiten deutschen 47 Zitiert nach W. Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 310. 48 Günter Schabowski, geh. 1929, Politiker, Mitglied des ZK der SED 1981-1989, Mitglied des Politbüros 1984, Sekretär des ZK 1986, Verurteiluog zu drei Jahren Haft wegen Totschlags io dtei Fällen an der iooerdeutschen Grenze 1999, Begnadigung und Haftentlassung 2000. " W. Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 749. " Erschöpfend rekonstruiert bei H.-H. Hertle, Der Fall der Mauer. 51 Ebd., S. 76. Zwn folgenden siehe ebd., S. 76-87, S. 138-143, S. 164-176 und s. 210-230.

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Staat in Richnmg Bundesrepublik odet Westbetlin nut noch unter Lebensgefahr oder mit ausdrückliehet Genehmigung det DDR-Behörden möglich. In ihren Bemühungen um mehr als eine Viettelmillion Familienzusammenführungen und den Freikauf von annähernd 34.000 Häftlingen setzte die Bundesregietung zwischen Mauetbau und Mauerfall insgesamt mehr als 3,5 Mrd. DM ein. Nach Untetzeichnung des Grundlagenvettrages zwischen den beiden deut­ schen Staaten im Dezember 1972 und ihret Zustimmung zum KSZE-Vertrag von August 1975 vervielfachten sich zwar die Reisemöglichkeiten für Bürger aus det DDR, doch eigneten sich Besuche im Westen nur für die wenigsten zur .Republikflucht" (1987 nut 0,23%), weil sie ihre Angehörigen, namentlich die Kinder, als "Geiseln"" zurücklassen mußten. Trotz kleineter Zugeständnisse gab es kein wirklich einklagbares Recht auf Besuchsreisen. Dasselbe galt für die rasch anschwellende Zahl von Bürgern, die ihrem Land für immer den Rücken kehren wollten und deren Druck auf das SED-Regime nach Helsinki immet größet wutde. Die Stellung eines Antrages auf Wohnsitzverändetung nach dem Ausland" vetlangte viel Mut, denn die Ausreisewilligen wurden in engem Zusammenspiel von Partei, Staat und Staatssicherheit nach Kräften stig­ matisiert, schikaniert und ktiminalisiert. Dennoch gelang es jährlich zwischen zehn- und zwanzigtausend Menschen, auf diesem Wege überzusiedeln. 1987 lagen bei rasch steigendet Tendenz weit übet 100.000 Ausreiseanträge beim Ministerium für Staatssicherheit, 90% von Bürgern untet 40 Jahren. •

Die Ergebnisse des KSZE-Folgeprozesses von Anfang 1989 verschärften die Lage der DDR weiter, da die Staaten des beschleunigt verfallenden Ostblocks in det Hoffnung auf wirtschaftliche Hilfe aus dem Westen nicht umhin konnten, sich auf die Einführung rechtlicher Verfahren in allen Fragen der Menschen­ und Freiheitsrechte zu vetpflichten. Im Sommer stand Ostberlin wegen seiner weiterhin restriktiven Praxis bereits international am Pranget. Die ungarische Grenzöffnung im Septembet und die verzweifelten Versuche det SED-Führung im revolutionären Oktober, diesen Durchschlupf nach Westen zu schließen, bauten freilich einen derartigen Handlungsdruck auf, daß das Politbüro den verzweifelten Vetsuch untetnahm, det Lage mit einet großzügigen Neuregelung Hetr zu wetden. Das Reisegesetz, das am 6. Novembet vorlag, wäre einen Monat frühet noch als sensationelle Libetalisietung begrüßt worden, enthielt jedoch so viele Vetsagensgründe und so einengende Devisenbestimmungen, die nach det gewaltigen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz zwei Tage zuvor niemand mehr akzeptieren wollte. Am Nachmittag des 9. Novembet beschloß das Zentralkomitee der SED jenseits aller Normalverfahren und in vollständigem bürokratischen Chaos eine Revision, die sehr viel weitet gehende Reisemöglichkeiten .ohne Vorliegen von

" Ebd., S. 77; die Zahlenangaben S. 79 und S. 84.

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Voraussetzungen" über alle Grenzübergangsstellungen nach der Bundesrepu­ blik und Westberlin vorsah. Diese Endastungsmaßnahme geriet freilich außer Kontrolle, als das Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer internatio­ nalen Pressekonferenz den Versuch machte, die ihm völlig unvertraute Materie inhaldich zu erläutern. Als die ersten Agentunneldungen herauskamen und das westdeutsche Fernsehen seine Hauptnachrichten um 20 Uhr mit der Meldung "DDR öffnet Grenze" aufmachte, kam eine Menschenlawine ins Rollen, der an den Grenzübergangsstellen nichts entgegen zu setzen war. Tausende skan­ dierten auf der Bornholmer Briicke in Ostberlin "Tor auf! Tor auf!". Eine gute Stunde vor Mitternacht des 9. November 1989 war es soweit; in den friihen Morgenstunden des folgenden Tages hatten bereits Zehntausende Westberlin ihren ersten Besuch abgestattet. Mit der Grenzöffnung verlor die SED-Diktatur ihr letztes wirksames Herr­ schaftsmittel. Der Anfang vom raschen Ende der DDR war gekommen, eine Stabilisierung als eigenständiger Teilstaat unmöglich geworden. Nachdem die Menschen in Ostdeutschland ihre Selbstbefreiung durchgesetzt hatten, riefen sie zur Enttäuschung der rasch marginalisierten Bürgerbewegung: "Wtt sind ,ein' Volk!" Zur Freiheit sollte die Einheit treten. Nicht, daß der Untergang der DDR und die deutsche Wiedervereinigung bereits mit dem Mauerfall unausweichlich geworden wären, der Zerfall der diskreditierten SED-Diktatur war es allerdings schon. Mit der Einrichtung des in Polen erprobten Modells des Runden Tisches Anfang Dezember 1989, dem Beschluß, im Friihjaltt 1990 in Ostdeutschland freie Wahlen abzuhalten - eine Forderung des Westens seit den vierziger Jahren -und namendich dem offensiven Angebot von Bun­ deskanzler Helmut Kohl von Anfang Februar, zwischen der Bundesrepublik und der DDR eine Wtttschafts- und Währungsunion zu errichten, war der innenpolitische Weg zur deutschen Einheit vorgezeiclmet. Der entscheidende außenpolitische Durchbruch zu einer bis dahin für undenkbar gehaltenen NATO-Mitgliedschaft des ganzen Deutschlands erfolgte am 31. Mai 1990 in Washington in den Verhandlungen zwischen dem amerikanischen Präsidenten George Bush und Michall Gorbatschow, dem Oberhaupt einer vom Untergang bedrohten, dringend auf wesdiche Wtttschaftshilfe angewiesenen UdSSR''. In einem singulären historischen Moment, dank des Glücks und des Geschicks der Beteiligten, wurde mit der demokratischen Wiedervereinigung nicht einmal ein Jahr nach der Revolution in Deutschland die deutsche Frage endgültig beantwortet.

" Vgl. P. Zelikow I C. Rice, Sternstuode der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, S. 366-384.

Michail Gorbatschow, Helmut Kohl und die Lösung der deutschen Frage 1989/1990 Von Wllfried Loth

Die treibende Kraft bei der Lösung der deutschen Frage 1989/90 war das Volk der DDR Seine politische Rolle muß im Mittdpunkt jeder Betrachtung der deutschen Vereinigung von 1990 stehen. Politiker haben diese Vereinigung nur ,mit' -gestaltet, und das auch nur soweit, wie sie bereit waren, rechtzeitig auf die Bewegung in der untergehenden DDR einzugehen. Im wesentlichen waren es zwei Politiker, die diese Chance genutzt und damit den Einigungsprozeß geprägt haben: Hdmut Kohl, der deutsche Bundeskanzler, und Michall Gorbatschow, der Generalsekretär der KPdSU und letzte Staatspräsident der Sowjetunion. Thr jeweils spezifischer Anteil an der Lösung der deutschen Frage soll hier in den Blick genommen werden'.

I. Der Kontext Ein erster wesentlicher Schritt in dem Prozeß, der zur deutschen Einheit geführt hat, war am 9. Oktober 1989 gemacht: mit der Leipziger Montagsde­ monstration der 70.000, die ohne den befürchteten Eingriff der Sicherheitskräfte blieb. Daß die Sicherheitskräfte nicht eingriffen, war zunächst dem Appell 1 Die Studie knüpft an eine allgemeine Untersuchung zum Ende des Ost-West­ Konflikts an: W. Loth, Overcoming the Cold War. A History of Detente, 1950-1991, Basingstoke 2002. Grundlegend zur Politik Helmut Kohls sind die Studien von D. Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialuninn. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regelo, Stuttgart 1998; W. Jäger, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90, Stuttgatt 1998; W. Weiden/eid, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgatt 1998. Eine pointierende Bilanz bietet W. Loth, Kohl und die Einheit: Eine Bilanz, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 45 (2000), S. 1384-1393. Zur Politik Gorbatschows siebe R Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Faderborn 1997; W. Loth, Die Sowjetunion und das Ende der DDR, in: K.H. ]arausch IM. Sabrow (Hrsg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 119-152; V.M. Zubok, Gorbachev and the End of the Cold War. Perspeetives on History and Personality, in: Cold War History,

2 (2002), 2, s. 61-100.

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der besonnenen Kräfte vor Ort zu verdanken und dann und vor allem der Tatsache, daß es in der Berliner Zentrale niemanden gab, der bereit gewesen wäre, die Verantwortung für einen solchen Eingriff zu übernehmen. Danach begriffen die Menschen, daß sie keine Angst mehr zu haben brauchten; und diese Befreiung von der Angst serzte ungeheure Energien frei, die Kosten für eine Niederschlagung der Volksbewegung stiegen ins Unermeßlicbe. Man kann daher im Nachbinein sagen, daß mit dem 9. Oktober 1989 die Diktatur in der DDR zu Ende ging'. Von da an stand die Demoktatisiertmg der DDR auf der Tagesordnung, die Machthaber konnten nur noch mit letzter Anstrengung der Entwicklung der Volksbewegung folgen und kamen dabei regehnäßig zu spät. Die Demoktatie ist dann zügig vetwirklicht worden. Wichtige Etappen waren dabei die Einrichtung des zentralen ,Runden Ttscbes" am 7. Dezember 1989 und dann die Vereinbartmg vom 28. Januar 1990, mit der die Vertreter der Oppositionsgruppen in die Regiertmg von Hans Modrow (SED/PDS) eintraten und der Termin für Neuwahlen der Volkskammer auf den 18. März vorgezogen wurde. Unterdessen ging es freilieb schon nicht mehr um die Demokratisierung der DDR, sondern um die deutsche Einheit und damit um das Ende der DDR. .Die Geduld der Massen ist erschöpft", hidt der Ostberliner Soziologe Heinz Kallabis in diesen Tagen, also EndeJanuar 1990 in seinem Tagebuch fest. ,Sie wollen keine neuen sozialen Experimente mehr. Sie wollen den Lebensstandard wie ihre Brüder und Schwestern in der BRD. Sie wollen das heute und nicht erst morgen. Sie wollen nicht allein die ,Karre aus dem Dreck ziehen"''. Der sowjetische KGB-Chef berichtete am 26. Januar in einer Besprechung der wichtigsten Moskauer Entscheidungsträger, ,daß die SED ,als solche' bereits nicht mehr existiere und die staatlieben Strukturen der DDR sich auflösen würden". In der anschließenden, insgesamt vierstündigen Diskussion ,sind wir zu dem Ergebnis gekommen", so Gorbatscbow, .daß eine Situation heranreift, die zur Wiedervereinigung führt"'. Zwei Erfahrtmgen waren für diese Entwicklung in erster Linie verantwort­ lich: Zum einen der Eindruck, den die Anschauung des real existierenden Kapitalismus auf die DDR-Bürger machte. Zehn Millionen DDR-Bürger reisten in den Wochen nach der Maueröffnung in den Westen, die übetwiegende 2 Besonders präzis in der Analyse D. Pollack, Der Zusanunenbruch der DDR als Verkenung getrennter Handlungslinien, in: K.H. Jarausch IM. Sabrow (Hrsg.), Weg in den Untergang, S. 41-81.

H. Kai/abis, Ade, DDR! Tagebuchblätter, 7. Oktober 1989 bis 8. Mai 1990,

Berlin 1990, s. 132 f.

4 Zitate (1) aus den Erinnerungen von Gorbatschows Chefberater A. Tschemjajew, Die iet2tenJahre einer Weltmacht. Der Kreml von inoen, Stuttgart 1993, S. 296 f.; (2) Gorbatschow in: E. Kuhn (Hrsg.), Gorbatschow uod die deutsche Einheit. Aussagen der wichtigsten russischen und deutschen Beteiligten, Bonn 1993, S. 102.

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Mehrheit zum ersten Mal und viele mehr als einmal, und was sie sahen, verursachte sowohl starkes Begehren als auch das Gefühl, den westlichen Lebensstandard wohl kaum aus eigener Kraft erreichen zu können, jedenfalls nicht so schnell. Zum anderen machte .Glasnost" in der DDR mit einem Mal deutlich, daß die wirtschaftlichen Probleme der DDR wesentlich gravierender waren, als man bis­ lang angenommen hatte. Als sich der Rat für Gegenseitige Wtrtschaftshilfe (RGW) entschied, zu harter Währung überzugehen, befand sich die Planwirtschaft mit 20,6 Milliarden US-Dollar an Auslandsschulden am Rande des Bankrotts, und dies wurde nun offenkundig. Gleichzeitig diskreditierten die fortwährenden Enthüllungen über Machenschaften der Staatssicherheit und den Lebenswandel der Spitzenfunktionäre die bisherigen Machthaber auch moralisch, während das Erscheinungsbild der Sprecher der Dissidentengruppen notwendigerweise diffus blieb und ernsthafte Reformer in der SED/PDS ebenso notwendigerweise zwischen alle Stühle gerieten.

D. Kohls Engagement Helmut Kohl hat diesen Prozeß beschleunigt, aber nicht ausgelöst; und er ist von der Entwicklung der Stimmung in der Bevölkerung der DDR auch dazu gerrieben worden, weiter zu gehen, als er urspriinglic h im Sinn hatte. Der Zehn-Punkte-Plan vom 28. November 1989, mit dem der Bundeskanzler seinen Koalitionsparmer ebenso überraschte wie seine westlichen Verbündeten und seinen bisherigen Sicherheitspartner in Moskau, beschrieb die deutsche Einheit immer noch als eine ziemlich ferne Vision: "Wie ein wiedervereinig­ tes Deutschland schließlich aussehen wird", so Kohl am 28. November im Deutschen Bundestag, "das weiß heute niemand". Einigermaßen konkret anvisiert wurden mit dem Zehn-Punkte-Plan nur .konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland", das hieß weitere Vereinbarungen zwischen DDR und BRD und gemeinsame Institutionen, allerdings, so hieß es in bewußt nebulöser Formulierung, .mit dem Ziel, eine Föderation, d.h. eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen"'. Wenn man Horst Teltschik, dem damaligen Berater Kohls, glauben darf, ging der Bundeskanzler zu diesem Zeitpunkt davon aus, daß es wohl noch zehn bis fünfzehn Jahre dauern würde, bis dieses Ziel erreicht sein würde. Freilich: Mit dem Zehn-Punkte-Plan ging Kohl zu einer operativen Wie­ dervereinigungspolitik über. Als Ziel der Vertragsgemeinschaft wurde aus­ drücklich die Wiedervereinigung genannt, und in ihrer Ausgestaltung machte

' Bundespresse- und Informationsamt (Hrsg.), Deutschland 1989, Bonn 1991, Bd. 5, S. 1 ff.

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der Bundeskanzler weitere Unterstützung der DDR ausdrücklich von eioem .grundlegenden Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems" abhän­ gig, worunter er nicht nur die .Brechung des SED-Machtmonopols", son­ dern auch die "Eiofiihrung marktwirtschaftlicher Bedingungen" verstand'. Die Bundesrepublik arbeitete damit mit ihrem ökonomischen Gewicht auf die WiedervereiDigung hin und nicht nur, wie bislang, auf die sogenannten .menschlichen Erleichterungen", die Aufrechterhaltung der Verbindungen und die Liberalisierung des SED-Regimes, und Kohl bot sich den DDR-Bürgern als eio Führer in den Wirren des Umbruchs an. Ironischerweise ist diese Aktion durch eio Manöver des damaligen sowje­ tischen ZK-Sekretärs für internationale Beziehungen, Valentin Falin, ausgelöst worden, mit dem das, wozu sie letztlich führte, nämlich die WiedervereiDigung im Rahmen der NATO, gerade verhindert werden sollte. Falin war wie die mei­ sten ausliindischen Beobachter sensibler für die Möglichkeiten zur Reaktivierung der deutschen Frage, die in der Situation nach dem 9. November 1989 steckten, als die Deutschen selbst. Und so schickte er, um rechtzeitig Bedingungen für die WiedervereiDigung zu schaffen, mit denen die Sowjetunion leben konnte, am 21. November Nikolai Portugalow mit der dubiosen Botschaft zu Teltschik, daß man in Moskau "über alles Mögliche, sogar quasi Undenkbares" nach­ denke; zugleich stellte er die Frage, wie es die Bundesrepublik denn mit der Neutralität eioes wiedervereiDigten Deutschlands halten würde'. Falin, der hier eigenmächtig handelte und sich nicht etwa mit Gorbatschow abgestimmt harte, ging offensichtlich davon aus, daß die Neutralität eio Preis seio würde, den die Deutschen im Westen für die WiedervereiDigung zu zahlen bereit seio würden, jedeufalls dann, wenn man ihnen diese Möglichkeit rechtzeitig eröffnete. In Bonn nahm man freilich nur wahr, daß die Dinge in Bewegung geraten waren. Teltschik berichtet immer wieder, daß Portugalows Eröffnung ihn "elektrisiert", und daß der Bundeskanzler ihn daraufhin beauftragt habe, "etwas" daraus zu machen. Dabei war Kohls Motivation, wie Teltschik freimütig einräumt, zu eioem guten Teil innenpolirisch bestimmt: Es galt, etwas zu unternehmen, um aus dem permanenten Stimmungstief herauszukommen, in dem sich der amtierende Bundeskanzler befand; und es galt auch, eioem möglichen deutschlandpoli­ tischen Profilierungsversuch seioes Außenministers Hans-Dietrich Genscher von der FDP oder eioer Aktion des SPD-Ehrenvorsitzenden Willy Brandt zuvorzukommen. Kohl beklagte sich Aufang Februar 1990 im Gespräch mit Gorbatschow darüber, Brandt .ziehe jetzt wie eio alter Bischof oder Metropolit durch die DDR, mit segnender Hand und als Ehrenvorsitzender der SPD", während Kurt Biedenkopf, innerparteilicher Opponent Kohls, am 7. März '

Ebd.

'

H. Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 42 ff.

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1990 in seinem Tagebuch festhielt: .,Die Art, wie Kohl auftritt, erinnert viele an das Auftteten Wilhelms II. vor dem Ersten Weltkrieg"'. Insofern relativiert sich die Rolle Kohls im Prozeß der deutschen Vereinigung: Wenn ,er' sie nicht wahrgenommen hätte, hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit ein anderer gespielt; und es ist schlicht ein Stück politischer Erfolgsgeschichte, daß er sie wahrgenommen und damit seine Kanzlerschaft für lange Zeit gesichert hat. Die deutsche Einheit, soviel kann man als Ergebnis der Analyse bis hierhin festhalten, wäre 1990 auch ohne Helmut Kohl gekommen; aber daß sie so gekommen ist, in der Form, wie wir sie erlebt haben, das hat nun entscheidend mit der operativen Politik des amtierenden Bundeskanzlers zu tun.

Kohl selbst ist von der Entwicklung, die er beschleunigen half, überrannt worden. Im Gespräch mit Hans Modrow am 19. Dezember 1989 in Dresden fand er sich zu wesentlichen Zusicherungen über engere Bindungen bereit, die eine weitere Existenz der DDR voraussetzten. Als die Menge vor der Ruine der Frauenkirche ihm dann aber zurief: .Helmut, Helmut, wir brauchen Dich", da ließ er es zu, als Anwalt und Führer einer raschen Vereinigung interpre­ tiert zu werden. Am 12. Januar sprach er öffentlich von der Notwendigkeit, der DDR-Bevölkerung .eine Perspektive zu geben"; und drei Tage später begann er, sich von dem Konzept der .,Vertragsgemeinschaft" zu distan­ zieren: Der Vertragsentwurf, den der Arbeitsstab .Deutschlandpolitik" im Bundeskanzleramt hierzu ausgearbeitet hatte, wurde gestoppt'. Kohl wollte, wenn überhaupt, dann nur noch mit der frei gewählten Regierung nach den Volkskammerwahlen am 18. März über die Verttagsgemeinschaft verhandeln, nicht mehr mit der Regierung Modrow.

m. Ein Kampf um Deutschland

Mit dieser Entscheidung begann gleichzeitig der Machtkampf um die Art der Vereinigung, um die Gestalt und die internationale Position des vereinten Deutschlands, und darin eingeschlossen war nun auch Kohls Kampf um den eigenen Machterhalt, der, das darf man nicht übersehen, zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs entschieden war. Wichtigster Gegenspieler war dabei zunächst Hans Modrow, der sich EndeJanuar entschloß, mit einem Plan zur stufenwei­ sen Vereinigung der beiden deutschen Staaten an die Öffentlichkeit zu gehen, und sich dann von Gorbatschow am 30. Januar dazu bestimmen ließ, ihn um die Forderung zu ergänzen, daß die Bundesrepublik aus der NATO austreten müsse und das vereinte Deutschland neutral zu sein habe. 8 Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. von H.J. Küsters, München 1998, S. 801; K. Biedenkop/. Ein deutsches Tagebuch 1989-1990, Berlin 2000. '

W. Jäger, Die Überwindung der Teilung, S. 92.

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Modrows Vorschlag, am 1. Februar unter der Überschrift "Deutschland, einig Vaterland" vorgetragen, trieb nun wiederum Kohl zu einer weiteren Beschleunigung der Entwicklung. Aus dem Umstand, daß Modrow seinen Vorschlag nach einem Besuch bei Gorbatscbow vorgetragen hatte, zog der Kanzler den Schluß, daß, die staatliche Einheit noch schneller kommen kann, als wir alle bisher angenommen hatten"10• Gleichzeitig sah sieb Kohl dem Vorwurf der Untätigkeit ausgesetzt, er fürchtete abermals, daß politische Rivalen ihm zuvorkommen wiirden. Ebenso meinte er, daß die Forderung nach Neutralität des vereinten Deutschlands durchaus auf Resonanz stoßen könnte. Eine Vereinigung um den Preis eines amerikanischen Rückzugs aus Europa aber, die zudem zu einer strukturellen Dominanz der vereinten Linken aus West und Ost zu führen drohte, war für ihn eine Horrorvision, die es mit allen Mitteln zu verhindern galt. •

Das Mittd, zu dem er griff, hatte die finanzpolitische Sprechetin der SPD­ Bundestagsfraktion, lngrid Matthäus-Maier, schon am 19. Januar vorgeschlagen; und als er es am 6. Februar der überraschten CDU/CSU-Fraktion präsentierte, kam er in letzter Minute einer gleichartigen Initiative von Lotbar Späth, ebenfalls ein Parteirivale, zuvor: Es war der Vorschlag einer DM-Währungsunion, die innerhalb eines halben}ahres realisiert werden sollte. Die rasche Währungsunion traf die Stimmung in der DDR-Bevölkerung in geradezu optimaler Weise: Möglichst umgehende Teilhabe an der westdeutseben Wohlstandsgesellschaft, das war es, was die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung jerzt wollte, und mit dem Beitritt zum Währungsgebier dieser Wohlstandsgesellschaft schien diese Teilhabe möglich zu werden; in Meinungsumfragen, die man in Bonn kannte, wurde die Währungsunion darum mdtt als alles andere gewiinscbt. Wer über etwas ökonomischen Sachverstand verfügte, mußte sich freilieb sagen, daß ein solcher Beitritt die Exportmärkte der DDR vernichtete und über eine rasche Angleicbung des Lohnniveaus an westdeutsche Verhälmisse die ohnehin geringe Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Betriebe ins Bodenlose stürzen ließ, mit verhee­ renden Folgen für den Arbeitsmarkt und die Wertschöpfung im Beitrittsgebiet. Der wittscba&licbe Sacbverständigenrat, der sogenannte Rat der fünf Weisen, hat denn auch in einem beschwörenden Brief an die Bundesregierung am 9. Februar vor den Folgen einer Währungsunion gewarnt und statt dessen umfas­ sende W!rtscbaftsreformen, verbunden mit massiver finanzieller Unterstützung aus der Bundesrepublik, angemahnt. Bundesbankpriisident Kar! Otto Pöhl und nahezu alle anderen Experten äußerten sieb in der gleichen Weise. Daß Kohl den Rat der Experten in den Wmd schlug und statt dessen die Stimmung in der DDR-Bevölkerung bediente, sollte für seinen Erfolg entschei­ dend werden. Dabei half ihm, daß sieb die Gegner der Währungsunion nicht 10 Interview vom 3. Februar 1990, zitiert nach: KH. Jarausch, Die unverhoffte Einheit 1989-1990, Frankfurt a.M. 1995, S. 168.

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in genügendem Maß den Realitäten stellten. Die Bütgetrechtsgruppen hingen ihren Träumen von einem Dritten Weg und moralischer Erneuerung nach, ohne den Menschen sagen zu können, wie der Wohlstand westlichen Zuschnitts denn erreicht werden könnte. Oskar Lafontaines Warnungen vor den Kosten der Währungsunion wurden als Verweigerung gesamtdeutscher Solidarität verstanden, ebenso die kategorisch vorgetragene Lehrmeinung der Ökonomen, eine Währungsunion sei erst nach der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse möglich, und die Abscheu vor dem DM-Nationalismus, dieJürgen Habermas und viele andere Repräsentanten der Linken zu erkennen gaben. Wer für eine Vereinigung nach Artikel 146 des Grundgesetzes plädierte, also Vereinigung durch Schaffung einer neuen Verfassung, tat dies in der Regel, ohne sich ver· bindlieh über Zeitpläne und Transferleistungen zu äußern. Diese Versäumnisse rrugen dazu bei, daß die Wahlen zur DDR-Volkskammer am 18. März 1990 so ausgingen, wie es niemand erwartet hatte: mit einem dramatischen Sieg der CDU-nahen .,Allianz für Deutschland", einem Plebiszit für Helmut Kohl und die rasche Einheit durch Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Für Kohl bedeutete dieser Wahlausgang den entscheidenden Durchbruch: Der von ihm vorgeschlagene Weg zur Einheit war durch die DDR­ Bevölkerung legitimiert; das versetzte ihn in die Lage, ihn nach innen wie nach außen durchzusetzen; und um seine Wiederwahl im kommenden Dezember brauchte er sich keine großen Gedanken mehr machen, um innerparteiliche Rivalen schon gar nicht mehr. Als Kanzler der Einheit hatte er endlich zu einer historischen Rolle gefunden.

IY. Gorbatschows Abschied von der DDR Nach dem Sieg der .Allianz für Deutschland" in den Volkskammerwahlen waren nicht nur die rasche Währungsunion und die ebenso rasche staatli­ ehe Vereinigung unausweichlich, sondern auch der Verbleib des vereinten Deutschlands in der NATO oder anders gesagt der Wechsel der DDR vom Warschauer Pakt in die westliche Allianz. Für Michall Gorbatschow war damit eine Situation eingetreten, die weit über das ursprüngliche Progranun der .,Perestroika" hinausging. Weder die Preisgabe des .,real existierenden Sozialismus" in der DDR, noch die Preisgabe der DDR als souveräner Staat und schon gar nicht die Ausweitung der NATO bis zur Grenze an Oder und Neiße waren mit seiner Vision von einem "Gemeinsamen Haus Europa" ver­ einbar. Die Freiheit, über die Entwicklung des eigenen Landes zu entscheiden, die Gorbatschow seinen Verbündeten lassen wollte, bedeutete nicht, daß er an eine Preisgabe des sozialistischen Systems dachte. In der Überzeugung groß geworden, daß der Sozialismus die historisch überlegene Gesellschaftsformation darstellte, ging er davon aus, daß er zumindest eine Chance hatte, sich zu

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behaupten, wenn es denn gelang, Selbstbetrug und administrative GängeJung eliminieren und statt dessen die produktiven Energien des sozialistischen Menschen zu mobilisieren. Die Umgestaltung", die dazu nötig war, sollte für die Bruderländer ebenso gelten wie für die Sowjetunion; sie wiirde, so hoffte er, den Volksrepubliken künftig jene Krisen ersparen, die in der Vergangenheit zum Ruf nach militärischer Intervention gefühtt hatten. In seinem Bericht an den Parteitag vom Februar 1986 forderte er das ,kapitalistische System" zu einem Wettbewerb" um wiirdige, wirklich menschliche materielle und geistige Lebensbedingungen für alle Völker" auf11; und noch im Juli 1989 warnte er in einer Rede vor dem Europarat in Straßburg vor der Vorstellung, ,die Überwindung der Spaltung Europas sei identisch mit der Überwindung des Sozialismus"". zu







Ebenso wenig dachte Gorbatschow daran, die staatliche Existenz der DDR in Frage zu stellen. Wjatscheslaw Daschitschew, wirtschaftlicher Berater Gorbatschows, empfahl seit dem Frühjahr 1987 mit Blick auf die innere Entwicklung in den Volksdemokratien und das, wie er mutmaßte, Einheits­ streben der Deutschen ,die Rückkehr zur Idee der Wiedervereinigung auf der Grundlage der Neutralität Deutschlands". Er fand damit aber wenig Anklang". Gorbatschow war wohl davon überzeugt, daß .Stalin doch bis zuletzt bereit" gewesen war, .seinen Preis für ein neutrales Deutschland zu zahlen". Er .schloß", wie er im Nachhinein bekundete, ,die Wiedervereinigung der deutschen Nation im Prinzip nicht aus, hielt aber die Diskussion über diese Frage auf politischer Ebene für verfrüht und schädlich". Offensichtlich schien ihm das Einheitsstreben der Deutschen nicht so virulent und schätzte er die Reformfähigkeit der Volksdemokratien höher ein. Den Reformern in der DDR ihre Chance zu nelunen, konnte nicht im Interesse der Sowjetunion liegen14• 11 M. Gorbatschow, Reden und Aufsätze 1989, s. 211. 12

zu

Glasnost und Perestroika, Bindlach

M. Gorbatschow, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 739.

13 W Daschitschew, Episoden aus der sowjetischen Deutschlandpolitik der 80er Jahre (Erlebnisse und Erkenntnisse), in: H. Timmermann (Hrsg.), Die Kontinentwerdung Europas. Festschrift für Helmut Wagner zwn 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 553-579, Zitat S. 563. 14 Vgl. M. Gorbatschow, Etinnerungen, S. 701. Schewardnadses nachträgliche Behauptung, .daß sowohl er als auch Gorbatschow 1987 zu der Einsicht gekommen seien, die deutsche Vereinignng sei unvermeidbar" (in: T. Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993, S. 163), paßt nicht zu den tatsächlichen Bemühungen, die DDR zu retren. Aus einer Belobigung Schewardnadses für das Bogomolow-Institut vom 29. Mai 1989 (die Schlußfolgerungen seien .wertvoll für die diplomatische Praxis" und würden .bei der Planung unserer außenpoliti­ schen Schritte gegenüber sozialistischen Ländern berücksichtigt", in: W Daschitschew, Episoden, S. 567) läßt sich allenfalls eine größere Aufgeschlossenheit Schewardnadses für die Überlegungen Daschitschews ableiten.

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Indessen hielt Gorbatschow auch dann noch am .Prinzip der Freiheit der Wahl" fest, als im Laufe des Frühjahrs 1989 deutlich wurde, daß diese nicht notwendigerweise zugunsten des Sozialismus ausfiel. Dagegen mit Gewalt vorzugehen, war vollkommen ausgeschlossen. Nicht nur, daß es nicht half und die Beziehungen zum Westen in untragbarer Weise belastere, wie die Sowjetführer schon seit 1981 wußten. Es drohte auch das Reformprogramm in der Sowjetunion selbst im Keim zu ersticken - jenes Reformprogramm, das nach der festen Überzeugung Gorbatschows und seiner Mitstreiter für das Überleben der Sowjetunion und des Sozialismus unabdingbar war...Wenn wir gezwungen sein sollten, Gewalt anzuwenden", vertraute Außenminister Eduard Schewardnadse am 29. Juli 1989 seinem amerikanischen Amtskollegen James A. Baker an, .,wäre dies das Ende der Perestroika. Wir wären gescheitert. Es wäre das Ende all unserer Hoffnungen auf die Zukunft, das Ende von allem, was wir zu erreichen versuchen"". Gorbatschow schrieb im Nachhinein, der Einsatz sowjetischer Streitkräfte .härte das völlige Scheitern zur Beendigung des Kalten Krieges und des nuklearen Wettrüstens bedeuter. Auch der ganzen Politik der Perestroika in meinem Land wäre ein nicht wieder gutzumachender Schlag verserzt worden, sie wäre in den Augen der ganzen Welt völlig diakre­ ditiert worden"". Es blieb also nur, die Kommunisten, so gut es ging, für den Wettbewerb im demokratischen System zu rüsten, und der Sowjetunion einen möglichst vorteilhaften Platz im .Europäischen Haus" zu sichern, das die antagonistischen Blöcke in Europa ablösen sollte. Wenn das nicht gelang, wenn die Bruderparteien sich nicht aus eigener Kraft behaupten konnten, dann mußte man Osteuropa eben .gehen lassen", wie Schewardnadse nach den Parlamentswahlen in Polen im März 1989 argwöhnte".Juri W. Andropows Diktum vom Dezember 1981, daß die Interessen der Sowjetunion im Zweifelsfall wichtiger seien als das Schicksal der Bruderparteien des Ostblocks", galt mehr denn je. Der Besuch in Ost-Berlin aus Anlaß des 40. Jahrestags der DDR führte Gorbatschow zu der Überzeugung, daß Erleb Honeckers Tage gezählt waren. Nach seiner Rückkehr nach Moskau sagte er seiner Umgebung, daß man sich M.R Beschloss I S. Ta/bott, Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges 15 und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989-1991, Düsseldorf1993, S. 128. Nach Tarasenke (Gespräch mit Timothy Garton Ash am 10. Februar 1992, in: T Garton Ash, Im Namen Europas, S. 185) wurde intern genauso argumentiert. 16 M. Gorbatschow, Wie es war. Die deutsche Wiedervereinigung, Berlin 1999,

s. 84.

17 Moskau habe dazu ..keiue andere Alternative", hieß es auch in der Beranmg bei Sebewardnadse im Juni 1989; vgl. dazu T Garton Ash, Im Namen Europas, S. 186. 18 Vgl. W. Loth, Moscow, Prague and Warsaw. Overcoming the Brezhnev Doctrine, in: Cold War History, 1 (2001), 2, S. 103-118.

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auf die Wiedervereinigung Deutschlands vorbereiten müsse19• Als Egon Krenz am 18. Oktober Honecker ablöste, schöpfte er aber wieder neuen Mut: .Ich hoffte, es werde der neuen Staats- und Parteiführung gelingen, auf der Grundlage wesentlicher innenpolitischer Veränderungen die Ereignisse in der Republik in die Richtung neuer Beziehungen zwischen den ,beiden' deutschen Staaten zu lenken""'.

Den Fall der Mauer am 9. November, von dem er erst am nächsten Morgen erfuhr, begrüßte er als .mutigen Schritt" der neuen SED-Führung. Zugleich beschwor er Bundeskanzler Helmut Kohl, die Erneuerung der DDRnicht durch unverantwortliches Anheizen der Emotionen zu gefährden; ebenso warnte er George Bush, Margret Thatcher und Fran�ois Mitterrand vor den destabilisie­ renden Folgen von .Erklärungen, die auf ein Anheizen der Emotionen im Geist der Unversölmlichkeit gegenüber den Nachkriegsrealitäten, d.h. der Existenz zweier deutscher Staaten, abzielen"21• Gleichzeitig hatte Gorbatschow interne Stimmen zu beruhigen, die auf eine Zurücknahme der Grenzöffnung drängten. Wie Schewardnadse später angab, wurden er und Gorbatschow .sehr alrtiv zur Gewaltanwendung gedrängt". Den Zusammenbruch des Warschauer Pakts vor Augen, rieten Mitarbeiter des Außen- und Verteidigungsministeriums sowie der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees, an der deutsch-deutschen Grenze .Divisionen und Sperranlagen aufzustellen und die Triebwerke der Panzer anzukurbeln"22• Das sowjetische Militär in der DDR reagierte .sehr ungehalten auf den Befehl, in den Kasernen zu bleiben". Gorbatschow hatte große Sorge, aus einem Zwischenfall mit Demonstranten in Berlin könne .eine chaotische Situation mit unübersehbaren Folgen entstehen "24 ein .Blutvergießen, ganz gleich, wo, wie und von wem provoziert", das .das im gesamteuropäischen Bereich Erreichte hinwegfegen" würde". •

-

Für den Erhalt der DDRkämpfte Gorbatschow bis zur dritten Januarwoche 1990. Dann sah er ein, daß der zweite deutsche Staat nicht mehr zu halten war: " So das Zeugnis seines Stabschefs V Boldin, Ten Years that Shook the World: The Gorbachev Ers as Witnessed by His Chief of Staff, New York 1994, S. 143.

"' M. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 712. 21 Botschaften vom 10. Noverober 1989, in: G. -R Stephan (Hrsg.), "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!



Interne Dokumente

Berlin 1994, s. 241-243.

zum

Zerfall von SED und DDR 1988/89,

22 Die Welt, 12. April 1991. V gl. auch die Zeugnisse von Wadim Sagladin und Wjatscheslaw Daschitschew in: R. Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt, s. 236. 23 Zeugnis Nikolai Portugalows in: E. Kuhn (Hrsg.), Gorbatschow und die deutsche Einheit, s. 44. 24 Botschaften vom 10. Noverober 1989, in: G.-R. Stephan, "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!", S. 241-243.

25 M. Gorbatschow, Wie es war, S. 92.

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Die Bevölkerung hatte gegen ihn votiert, und der ametikanische Präsident dachte nicht mehr daran, die deutscheFrage auf dem Kurs einer Vertragsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten zu halten. In der schon zitierten Beratung der wichtigsten Moskauer Entscheidungsträger am 26. Januar gelangte Gorbatschow 26 zu der Schlußfolgerung: .. Die Wiedervereinigung sei unvermeidlich" • Um nicht jeden Einfluß auf die Gestaltung der Einheit zu verlieren, beschloß die Runde, in die Offensive zu gehen. Die Sowjetunion sollte .,die Initiative zu einer Konferenz der ,Sechs' ergreifen, also der vier Siegermächte und der beiden deutschen Staaten". Generalstabschef Sergej F. Achromejew wurde beauftragt, schon einmal .,die Frage des Abzuges unserer Streitkräfte aus der DDR [zu] prüfen"". Noch bevor sich Kohl entschlossen hatte, den Prozeß der Vereinigung mit dem Angebot der Währungsunion zu beschleunigen, hatte die Sowjetführung damit die DDR aufgegeben.

V. Die Durchsetzung der NATO-Lösung Hinsichtlich der äußeren Gestaltung der deutschen Vereinigung argu­ mentierten Gorbatschows Berater Anatolij Tschernjajew und Georgij Schachnassarow in der Sitzung vom 26. Januar, daß der Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht gebiete, sich gegebenenfalls auch dantit abzufinden, .. daß das Vereinigte Deutschland der NATO beitritt". Eine derart konsequente und noble Haltung, davon waren sie überzeugt, werde letztlich auch von den USA und der Bundesrepublik honoriert werden. Dagegen machte ValenrinFalin, Leiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees, unter Berufung auf die ..legitimen Interessen anderer europäischer Staaten und der Friedensordnung in Europa als Ganzem" geltend, es sei .. nicht richtig, eine Ausdehnung der NATO-Sphäre auf Ostdeutschland als quasi fatale Unvermeidlichkeit hinzu­ nehmen". ZK-Sekretär Alexander Jakowlew, einer der wichtigsten Mitstreiter Gorbatschows bei der Entwicklung der .. Perestroika", pflichtete dem .. im Grundsätzlichen" bei".

26 M. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 715. Daß Gorbatschows Chefberater Tschernjajew diese Schlußfolgerung nicht erwähnt (A. Tschernjajew, Die letzteo Jahre, S. 296 f.), berechtigt nicht zu der Annahme, Gorbatschow habe sie nachträglich vor­ datiert (so R. Biermann, Kreml, S. 390). Im Bericht des Gorbatschow-Beraters Georgij Schachnassarow über die Besprechuog vom 26. Januar 1990 (ders., Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows Berater, Bonn 1996, S. 150) wird die Vereinigungsperspektive ebenfalls erwähnt. Die Differeozen Gorbatschows mit Hans Modrow, die Biermann als Beleg heranzieht, bezogen sich nicht auf das Ziel der Wiedervereinigung, sondern auf die Modalitäteo des Modrow-Plans und seiner Präsentation. 27 M. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 715. 28 V Falin, Politische Erinnerungen, München1993, S. 489 f. Falin gibt kein Datum für diese Unterredung an. Die inhaltlichen Übereinstiunnungen lassen jedoch keinen

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Auch Gorbatschow neigte zunächst der Auffassung Falins zu. Er betonte, .die Vereiniguog Deutschlaods soll die NAT O nicht ao unsere Grenze brin­ gen", und forderte alle Beteiligten auf, weiter darüber nachzudenken, wie das bewerkstelligt werden könnte29• Nach Schachnassarow verlaogte er einen .Friedensvenrag, der den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO, zumin­ dest aber den Abzug ausländischer Truppen vorsieht, und eine Entmilitarisierung gaoz Deutschlaods"30• Haos Modrow, seit Mitte November Ministerpräsident einer DDR-Koalitionsregierung, wurde zu einem Besuch eiogeladen; als er am 30. Jaouar einen Wiedervereinigungsplao präsentierte, bestaod Gorbatschow darauf, diesen um die Forderung nach einem NATO-Austritt der Bundesrepublik und der künftigen Neutralität des vereinten Deutschlaods zu ergänzen". Offensichtlich glaubte Gorbatschow, die Deutschen für eine weitgehende Auflösung beider Bündnissysteme im gemeinsamen .Europäischen Haus" mobi­ lisieren zu können. In der Beratung vom 26. Jaouar führte er aus, .mao sollte den Freunden raten, sich über die Chaoce einer Vereinigung der SED und der SPD Gedanken zu machen"". Modrow drängte er, den Wiedervereinigungsplao als eine gemeinsame Initiative aller wesentlichen Kräfte in der DDR zu veröf­ fentlichen; insbesondere die SPD sollte eingebunden werden". Im Gespräch mit Baker am 9. Februar zeigte er sich von der Resonaoz sehr beeindruckt, die das Werben für "kooperative Strukturen der Sicherheit" in gaoz Europa in der Bundesrepublik gefunden hatte"'. Wie Modrow gaoz richtig sah, stellte die Neutralitätsforderung für Gorbatschow jedoch nur eine .Maximalforderung" dar", einen Ausgaogspunkt für die aastehenden Verhandlungen. Mit großem Interesse hörte er, daß Genscher am 31. Jaouar in einer Rede vor der Evaogelischen Akademie in Tutzing öffentlich vorschlug, die NATO in Friedenszeiten nicht militärisch auf das vormalige Gebiet der DDR auszudehnen und während einer längeren Übergaogsperiode auch keine deutschen NATO-Truppen dorthin zu verlegen.

Zweifd, daß es sich um die gleiche Sitzung handdt, von der Gorbatschow, Tschemjajew und Schachnassarow berichten. 29 Ebd., S. 490. 30 G. Schachnassarow, Preis der Freiheit, S. 150. 31 Berichtet von Schewardnadse im Gespräch mit Baker 2. Februar 1990, ame­ rikanische Mitschrift, zitiert in: P. Zelikow I C. Rice, Gennany Unified and Europe Transfonned. A Srudy in Statecraft, Cambridge MA 1995, S. 181- 184. " G. Schachnassarow, Preis der Freiheit, S. 150. 33 Vgl. Modrow in: E. Kuhn (Hrsg.), Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 101. Daß Gorbatschow seinem Plan nicht vorbchaldos zustinunte, hatModrow als Unentschlossenheit interpretiert. Tatsächlich hatte er nur etwas andere Vorstellungen, wie die Vereinigung organisiert werden sollte. .34 P. Zelikow I C. Rice, Germany Unified, S. 183. " H. Modrow, Aufbruch und Ende, Harnburg 1991, S. 123.

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Als Baker diese Idee aufgriff und bei einem Besueb in Moskau am 9. Februar etwas verklausuliener aobot, auf eine Ausdehnung der .NATO-Jurisdiktion für die Streitkräfte der NATO" auf die bisherige DDR zu verziebten, griff Gorbatschow sogleieb zu: "Was Sie mir da über Ihre Heraogehensweise und Ihre Präferenzen gesagt haben, ist sehr realistisch. Lassen Sie uns also darüber nachdenken"". Gegenüber Kohl, den er am 2. Februar eingeladen hatte, äußerte er tags darauf,

.er wisse, daß für rrdch [Kohl] eine deutsche Neutralität nicht nur unannehmbar sei, sondern daß sie auch das deutsche Volk erniedrige ... Trotzdem sähe er ein vereintes Deutsehland außerhalb der Büodnisse - rrdt nationalen Streitkräften, die für die nationale Verteidigung ausreichten"37• Der Eindruck von Kanzlerberater Horst Teltsebik, .das ist der Durebbrueb"", war allerdings verfrüht. Zwar war seit dem Treffen Bakers mit Sebewardnadse und Gorbatschow am 9. und 10. Februar verabredet, daß die Repräsentaoten der vier Siegermächte und der beiden deutschen Staaten gleiebberechtigt über die äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung verhaodeln würden; Genscher hatte dafür die Formel .Zwei-plus-Vier"-Verhaodlungen durchge­ setzt''. Die westliebe Seite rückte jedoch von der Vorstellung einer Begrenzung der NATO-Jurisdiktion, die Gorbatschows Interesse gefunden hatte, alsbald wieder ab. Präsident George Bush stimmte am 11. Februar der Forderung von NATO-Generalsekretär Maofred Wömer zu, das Angebot auf einen niebt näher definierten .besonderen militäriseben Status" des Territoriums der vormaligen DDR innerhalb der NATO zu besebränken. Bei einem Treffen am 24. und 25. Februar stimmte aueb der Bundeskanzler dieser Formel zu"'. Anfaog April fügte er hinzu, daß das DDR-Gebiet niebt entmilitarisiert werden dürfe. Truppen der Bundeswehr sollten aueb auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden, und die Wehrpfliebt sollte ebeufalls auf dieses Gebiet ausgedehnt werden41• Die Verhärtung des westlieben Standpunkts hatte zur Folge, daß sieb Gorbatschow ebeufalls wieder verschloß. Das Naebdenken über eine Kom­ promißlösung kam nicht reebt in Gaog beziehungsweise zu keinem klaren

Zelikow I C. Rice, Germany Unilied, S. 184. " H. Kohl, .Ich wollte Deutsehlands Einheit", dargestellt von Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth, Berlin1996, S. 273. V gl. auch das deutsche Protokoll der Unterredung in: Deutsche Einheit, S. 795- 807. " H. Teltschik, 329 Tage, S. 141. 39 Im Gespräch mit Baker am 4. Februar 1990; vgl. R Kiesster I F. Eibe, Ein runder Tisch rrdt scharfen Eckeo. Der diplomarische Weg zur deutschen Einheit, Badeo- Baden 1993, s. 87 f. 40 V gl. R Biermann, Kreml, S. 497 f. 41 Siebe Verhandlungsrunde im Kanzleramt am 2. April1990. Vgl. H. Teltschik, 329 Tage, S. 190. "

P.

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Ergebnis. Nur zögernd und in allgemeiner Form brachte Gorbatschow den Gedanken vor, die Vereinigung Deutschlands mit der Schaffung eines neuen Sicherheitssystems zu verknüpfen, in dem die bisherigen Bündnisse aufgehen sollten42• Statt einen plausiblen Vorschlag zur Handlungsfähigkeit eines sol­ chen Sicherheitssystems zu entwickeln, betonten die sowjerischen Vertteter in den nächsten Wochen nur immer wieder, daß eine NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands nicht hingenommen werden könne. Die Sympathie der Deutschen für eine Ablösung der Militärorganisationen ließ sich auf diese Weise nicht gegen Bush und Kohl mobilisieren. Nachdem die Volkskammer­ Wahlen am 18. März einen großen Sieg der auf Kohl hin orientierten .Allianz für Deutschland" gebracht hatte, mußte Genscher in der Frage der NATO­ Ausdehnung nachgeben. Seit der Fesdegung der deutschen Verhandlungs­ position für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen am 2. April sprach auch er nicht mehr von einem Aufgehen der Bündnisse in einer europäischen Sicher­ heitssttuktur. Der erste, der daraus Konsequenzen zog, war Eduard Schewardnadse. Ende April ließ er sich von Sergej Tarassenko einen Vertragsentwurf erarbeiten, der eine NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands zumindest für eine Übergangszeit bis zur Schaffung gesamteuropäischer Sttukturen vorsah. Er gewann dafür die Zustimmung von Verteidigungsminister Dimitrij Jasow und KGB-Chef Wladimir Krjutschkow". In einer Politbüro-Sitzung am 3. Mai, in der der Vorschlag abgesegnet werden sollte, machte jedoch nicht nur das Politbüromitglied Jegor Ligatschow gegen das .Heranrücken der NATO an die Grenzen der Sowjetunion" Front. Auch Gorbatschow sprach sich vehe­ ment gegen eine NATO-Mitgliedschaft Deutschlands aus: .Eher nehme ich das Scheitern der Wiener KSZE-Verhandlungen und des START-Vertrags in Kauf, aber das lasse ich nicht zu "44• Schewardnadse mußte beim ersten Ministertreffen der .Zwei plus Vier" am 5. Mai in Bonn darauf beharren, daß in der Übergangsperiode bis zur Etablierung des neuen Sicherheitssystems die alliierten Rechte in Deutschland aufrecht erhalten werden sollten". Wie er im Nachhinein eingestand, hoffte Gorbatschow zu diesem Zeitpunkt noch, sich bei der Ablehnung einer vollen NATO-Integration des verein­ ten Deutschlands .auf die Position anderer europäischer Länder stützen zu 42 Erstmals in einem Telefongespräch mit Bush am 28. Februar 1990, öffentlich in der Prawda, 6. April1990; vgl. dazu P. Zelikow I C. Rice, Germany Unified, S. 217 und 225. " Bericht von Gorbarschows Chefberater Anatolij Tscherojajew 14. April 1994 bei R Biermann, Kreml, S. 562 f.; vgl. auch Tarassenk.os Äußerungen in: Die Zeit, 4.Mai 1990. 44 A. Tschernjajew, Die letztenJahre, S. 297. Gemeint sind die Wiener Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa. " Vgl. R Biermann, Kreml, S. 570-573.

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können"". Um so unangenehmer überrascht war er, als der tschechoslowaki­ sche Außeruninister Jiri Dienstbier Mitte Mai für eine vorläufige Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO plädierte, wenig später gefolgt von Polens Premier Tadeusz Mazowiecki und Ungarns Außenminister Gyula Horn. Als ihm dann am 25. Mai auch noch Mitterrand bei einem Besuch in Moskau sagte, er sehe nicht, wie man die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands noch verhindern könne, wurde ihm vollends klar, daß er mit dieser Hoffnung auf verlorenem Posten stand47• Gorbatschow zögerte nun nicht, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Als Bush beim nächsten amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen am 31. Mai in Washington auf der NATO-Mitgliedschaft beharrte, ließ er mit einem Mal deutlich werden, daß er seine Position revidieren könnte. Seine Forderung, Vereinigung und Etablierung des neuen Sicherheitssystems synchron zu orga· nisieren, reduzierte er schon im Laufe des Gesprächs auf die Bedingung, .eine Reformierung der Blöcke selbst in organischer Verknüpfung mit dem Wiener und dem gesamteuropäischen Prozeß folgen" zu lassen. Und als Busb ihn mit dem Vorwurf konfrontierte, den Deutschen nicht genügend zu vertrauen, erklärte er zum Entsetzen seiner Mitarbeiter plötzlich, Deutschland solle .selbst entscheiden, in welchem Bündnis es sein möchte"". Den Vorschlag, diesen Grundsatz in einer gemeinsamen Erklärung festzuhalten, nahm er nach einer Besprechung der sowjetischen Delegation wieder zurück. Er erhob aber keinen Einwand, als Bush dies in einer anschließenden Pressekonferenz als gemein­ same Überzeugung bezeichnete" Man kann davon ausgehen", schrieb er neun Jahre später, .daß von diesem Augenblick an die durch die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges entstandene deutsche Frage zu existieren aufhörte"". . •

Am 5. Juni, zwei Tage nach Abschluß des Washingtoner Gipfels, bestä· tigte Schewardnadse Baker am Rande eines KSZE-Treffens in Kopenhagen insgeheim, die Sowjetunion könne sich auf eine Wiedervereinigung bei freier Bündniswahl bis Ende des Jahres einlassen, wenn die USA die unterdessen ange­ botenen Sicherheitsgarantien kodifizierten: Stärkung des KSZE-Prozesses und Verhandlungen über Truppenabbau und Kutzstreckenraketen, Überprüfung" der NATO-Strategie, Übergangsphasen für den Abzug der sowjetischen und das Nachrücken der NATO-Truppen, Beschränkung der künftigen deutschen Armee und wirtschaftliche Unterstützung für die Sowjetunion, nicht zuletzt •

46 M. Gorbatschow, Wie es war, S. 119. " Siebe ebd., S. 135 f. Zur Entwicklung der Haltung Mitterrands vgl. T Schabert, W1e Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgatt 2002. " M. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 723. 49 Vgl. R Biermann, Kreml, S. 604 f. 50 M. Gorbatschow, Wie es war, S. 138.

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bei der Rückführung ihrer Truppen". Gorbatschow hatte erkannt, daß mehr nicht herauszuholen war, wenn er die langfristige Kooperation mit den westli· chen Demokratien nicht gefährden wollte. Am 11. Juni wurde Kohl zu einem Besuch in der zweiten Julihälfte eingeladen. Bis dahin, so sein Kalkül, war der 28. Parteitag der KPdSU vorüber, mögliche Kritik am Einlenken in der NATO·Frage wäre abgebogen, und er konnte dann den Bundeskanzler mit seiner definitiven Einwilligung stärker verpflichten. Nach außen wurde der Eindruck des Einlenkens darum bis zum Besuch Kohls sorgsam verwischt. Beim nächsten Treffen der .Zwei-plus-Vier"­ Außenminister am 22. Juni im Ost-Berliner Schloß Niederschönhausen legte die sowjetische Delegation sogar einen Vertragsentwurf vor, der die Aufhebung der alliierten Rechte noch einmal an eine spätere Verständigung über die neue Friedensordnung binden wollte und für fünf Jaltte eine Doppelmitgliedschaft Deutschlands in beiden Bündnissen vorsah". Schewardnadse erklärte aber gleich im Anschluß an das Treffen in einer Pressekonferenz, daß dies .nicht der Weisheit letzter Schluß" sei''; und nach der einmütigen Zurückweisung durch die westlichen Außenminister konnte er den Maximalisten in Moskau sagen, daß größere Zugeständnisse unumgänglich waren. Letzteres konnte Kohl freilich nicht wissen. So war seine Überraschung groß, als er am 15. Juli, unmittelbar nach Beendigung des Parteitags, in Moskau eintraf und Gorbatschow ihm seine Zugeständnisse präsentierte: Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO, Beschränkung des Stationierungsverbots für NATO-Truppen anf dem bishe­ rigen Gebiet der DDR auf eine Übergangsperiode, Aufhebung der alliierten Rechte schon zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des .Zwei-plus-Vier"-Vertrags". Tags darauf wurden im nordkaukasischen Erholungsort Archys die weiteren Einzelheiten ausgehandelt.

Vl. Machtverlust und Selbstbe&eiung Die Vereinbarungen zwischen Kohl und Gorbatschow wurden von der überwiegenden Mehrheit der sowjetischen Führungselite mit Erbitterung aufgenommen. Gorbatschow, so sahen es nicht nur die .Germanisten" im Außenministerium und der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees, harte sich, von dem Dilettanten Schewardnadse schlecht beraten, von Kohl

" Vgl. M.R Beschloss I S. Ta/bott, Auf höchster Ebene, S. 304. " Text in: J.A. Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinneruugen eines Diplomaten, Berlin 1993, s. 41-45. " R Biermann, Kreml, S. 630. "' V gl. Gesprächsprotokoll in: M. Gorbatschow (Hrsg.), Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit, Berlin 1993, S. 162-177; deutsches Protokoll in: Deutsche Einheit, s. 1340-1348.

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über den Tisch ziehen lassen. Ein .,Sommerschlußverkauf", befand Falins Mitarbeiter Nikolaj Ponugalow''. Gorbatschows Zugeständnisse trugen wesent­ lieh zu seiner Isolierung und damit letztlich auch zu seinem Sturz bei. .,Die Tatsache", erläuterte Alexander Bessmertnych, Schewardnadses Nachfolger als Außenminister ein Jahr später,

.,daß er die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands akzeptierte, war eine der meistgehaßten Entwicklungen in der Geschichte der s�etischen Außenpolitik, und sie wird es für die nächsten Johrzehnte auch bleiben"' . Kohl und Bush war damit schließlich doch unterlaufen, was sie ursprünglich hatten vermeiden wollen: Aus Furcht vor einer Neutralisierung Deutschlands hatten sie Gorbatschow mehr strapaziert, als mit einem glatten Verlauf der "Perestroika" vereinbar war. Freilich war nach den Voten der DDR-Deutschen und der Regierungen von Prag, Warschau und Budopest wohl kaum mehr zu erreichen, als Gorbatschow in den Verhandlungen mit Kohl durchsetzte. Der Einsatz von Markus Meckel, Außenminister der letzten, frei gewählten DDR-Regierung, für ein gesamt­ europäisches Sicherheitssystem wurde von der eigenen Bevölkerung kaum mitgertagen und konnte so leicht übergangen werden". Angesichts des raschen Vollzugs der inneren Einheit drohte Gorbatschow bei weiterem Zuwarten in eine Situation zu geraten, in der alle Welt ein Nachgeben von ihm erwartete. Die Aussichten, sich dann noch dauerhafte Unterstützung durch die Bundesrepublik und die USA einzuhandeln, waren weitaus ungünstiger. Wenn Gorbatschow Versäumnisse vorzuhalten sind, dann betreffen sie eher die Zurückhaltung bei der Entwicklung und Propagierung eines operativen Sicherheitsmodells, das der einseitigen Selbstauflösung des Warschauer Paktes Rechnung trug. Indessen stellte dies allein schon konzeptionell eine außeror­ dentlich schwierige Aufgabe dar. Angesichts der mentalen Schwierigkeiten, die die Verwalter der Moskauer Außenpolitik mit dem offenkundigen Machtverlust hatten, und der vielen sonstigen drängenden Probleme, mit denen sich Gorbatschow im Moment des Durchbruchs der .,Perestroika" konfrontiert sah, war sie kaum zu bewältigen. So fiel der Preis, den die Sowjetführung für Jahrzehnte der Unterdrückung selbstbestimmten Denkens und Handeins zu zahlen hatte, doch höher aus, als Gorbatschow mit seinem Werben für das .,Europäische Haus" im Blick hatte. Daß er ausgerechnet von jenem Politiker entrichtet werden mußte, der die Aufhebung der Unterdrückung durchsetzte, entbehrt nicht einer gewissen Tragik.

" Zilien nach E. Kuhn (Hrsg.), Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 147; für den allgerneinen Tenor vernichtender Urteile R. Biermann, Kreml, S. 700 f. " M.R. Beschloss I S. Ta/bott, Auf höchster Ebene, S. 317. 57 Vgl. U. Albrecht, Die Abwicklung der DDR Die .2+4-Verbandlungen". Ein Insiderbericht, Opladen 1992.

Nationalgeschichte und historische Europäisierung Bemerkungen zum Gegenwartswandel der Geschichtsschret"bung Von Martin Sabrow

I. Narrative der Nationalgeschichte Die Rede von der Europäisierung ist zu einem Schlagwort geworden. Nicht weniger als 17.800 mal war der Terminus Anfang 2003 in der bekann­ testen Suchmaschine des Intemets verzeichnet, und bis Ende 2004 ver­ fünffachte sich die Zahl der Einträge gar auf 87.700. Man spricht heute von einer Europäisierung der Politik wie schon lange von einer europäi­ sienen Winschaft, von einer Europäisierung des Rechts, ja selbst von einer Europäisierung der Tarifverhandlungen und der Ministerialverwaltungen. Das Won .Europäisierung" ist eine Neuschöpfung unserer Jahre; es spiegelt das politische und mentale Zusammenwachsen der Länder eines Kontinents, die erst die Frontstellungen zwischen mittel- und westeuropäischen Allianzen beseitigt und dann die Ost-West-Polarität des Kalten Krieges übersprungen haben, um nun sogar die jahrhundertealte Entgegensetzung von Orient und Okzident zu relativieren Europäisierung" meint zunächst vor allem auf die Angleichung regionaler und nationaler Einrichtungen an gemeinsame Standards in der größer gewordenen Europäischen Union. Insofern ist der Terminus eher technischer Natur. Zugleich aber hat er auch eine kulturelle Dimension. Er berühn grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses; er zielt auf das Gemeinsame und das Trennende der europäischen Staatenwelt und steht im Kontext eines Spannungsbogens, der von der Nationalisierung über die Europäisierung biszur Globalisierung reicht. .



Politische und kulturelle Entwicklungen einer jeweiligen Gegenwatt haben immer auch eine historische Wttkungsdimension; sie tragen zur Formung der großen Erzählungen bei, in denen soziale Gemeinschaften sich ihre geschicht­ liche Gewordenheit bewußt machen. Im europäischen Kulturkreis ist ein ent­ scheidender Grundzug der unterschiedlichen Bilder von der Vergangenheit für fast ein Jahrhunden gleichgeblieben, nämlich die Hegemonie eines nationalge­ schichtlichen Paradigmas, das Geschichte in einem auf der Idee der Nation grün­ denden Denkrahmen schrieb und im Laufe des 19. Jahrhundens Alleingeltung erlangte. Im deutschen Fall stellte sich dieses Narrativ seit den 1870er Jaltten als

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eine nationale Aufstiegserzählung zu deutscher Größe dar, die vom Tiefpunkt eines verheerten und zerrissenen Landes nach dem Dreißigjährigen Krieg zur Wiedergeburt der Nation aus einem im 18. Jahrhundert zielstrebig zur Großmacht gewachsenen Preußen reicht, um mit der Reichseinigung von 1871 in den Weg zur .deutschen Sendung" und zur Weltgelnmg der geeinten Nation ein· zumünden. Nicht der nationalgeschichtliche Rahmen, wohl aber der aufstiegsge· schichtliehe Erzähldukrus dieses Narrativs zerbrach im 20. Jahrhundert, in dem die Kriegsniederlage von 1918, das Versailler Diktat der Siegermächte und die Turbulenzen der Weltwirtschaft nach dem Intermezzo einer unreifen Republik die Herrschaft Hiders heraufbeschworen und geradewegs in die .Katastrophe" des Zweiten Weltkriegs geführt hätten. Aus ihr sei schließlich eine geläuterte, von ihrem verhängnisvollen Sendungsbewußtsein befreite, wenngleich politisch geteilte Nation hervorgegangen, die der Vollendung ihrer Einheit in Freiheit entgegensehe oder aber in der politisch erzwungenen Doppelstaatlichkeit .die Nation als dialektische Einheit zu praktizieren" gelernt habe'. Die .zwölf dunklen Jahre" erscheinen in dieser nationalgeschichtlichen Prägung als atavi­ stische Anomalie, als Einbruch einer dem deutschen Nationalcharakter in seiner geschichtlichen Gewordenheit letztlich fremden Macht, die ihre Herrschaft mit "Verführung und Gewalt"' errichtet und unter mißbräuchlicher Berufung auf die historische Tradition etwa eines Preußenturns befestigt habe, das .in Wahrheit" weit weniger für Machtstaatlichkeit und Militarismus als vielmehr für Toleranz und Herrscherbescheidenheit gestanden habe'. Aus der kritischen Reflexion auf die mörderischen Folgen des übersteigerten Nationalismus gewann seit den sechziger Jahren eine stark von der Entwicklung der Sozialwissenschaften in den USA beeinflußte und modernisierungsge· schichtlieh angelegte Strömung der Gesellschaftsgeschichte an Einfluß, die die bisherige Dominanz der Politikgeschichte in Frage stellte. Die sogenannte .Bielefelder Schule" bot mit dem Paradigma des deutschen Sonderwegs eine strukrurelle Erklärung für die nationalsozialistische Katastrophe an, die im sich wandelnden Zeitklima der westlicher gewordenen Bundesrepublik auf wachsende Akzeptanz traf. Mit der "Umgriindung" der Bundesrepublik in den 1 K.D. Erdmann, Drei Staaten- zwei Nationen- ein Volk? Überlegungen zu einer deutschen Geschichte seit der Teilung, in: Geschichte in W!Ssenschaft und Unterricht, 36 (1985), S. 671-683, hier S. 679. 2 H.-U. Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin (W)

1986.

Wre stark diese Vorstellung einer von gewissenlosen Volksverführern mißbrauch­ ten Preußentcadirion auch noch in die Gegenwart hineinstrahlt, ließ sich im Frühjahr 2003 an der öffentlichen Diskussion über den ,.,Tag von Potsdam" vom 21. März 1933 ablesen, an dero sich Hindenburg und Hitler aus Anlaß der Reichstagseröffnung in der Potsdamer Garnisonkirche zu einem Häodedruck am Grabe Friedrichs des Großen zusanuoenfanden. V gl. R. Blasius, Weder Treu noch Redlichkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.März 2003.

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sechziger und siebziger Jahren nahm das vorherrschende Bild der deutschen Vergangenheit immer deutlicher die Züge einer Läuterungsgeschichte an, die die bundesdeutsche Gesellschaft gerade dank ihrer erfolgreichen westeuropä­ ischen und transatlantischen Einbindung gerettet und auf ihrem langen Weg nach Westen angekommen sah'. Die Ereignisse von 1989/90 haben das Sonderwegskonzept in den Hinter­ grund gedrängt und zumindest kurzzeitig der älteren Sicht neue Impulse ver­ liehen, die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im Lichte eines schließlich erfolgreichen Nationskonzepts zu schreiben. In diesem erneuerten Narrativ einer nationalen Aufstiegserzählung stellt sich die Geschichte von 1949 bis 1990 rückblickend als kurze Abweichung von einem historisch vorgezeichneten Weg dar und die 1991 abgelöste Banner Republik als vielleicht sympathischer, aber vor allem provinzieller und .machtvergessener" Teilstaat im Wmdschatten der Weltpolitik. Die deutsche Vereinigung hingegen erscheint aus dieser Perspektive als Wieder-Vereinigung im eigentlichen Sinne, als Wiederherstellung einer 1945 zerstörten Normalität, die den wiederhergestellten deutschen Nationalstaat wieder zu einem globalen Faktor machen und den wirtschaftlichen Riesen aus seiner politischen Zwergenrolle befreien wird'. Spätestens aber mit der Abschaffung der D-Mark zugunsten des Euro, der Osterweiterung der Europäischen Union oder der anhaltenden Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei, aber auch der ergebnislosen Debatte um die allge­ meinverbindliche Substanz einer deutschen .Leitkultur" hat sich die Erkenntnis öffentlich durchgesetzt, daß nationsgebundene Denkmuster, gleichviel ob in aufstiegs- oder katastrophengeschichtlicher Prägung, bei weitem nicht mehr alle Fragen beantworten können, die die Gegenwart an die Vergangenheit richtet. Das politische und ökonomische Zusammenwachsen der EU-Länder begründet offenkundig ein starkes Bedürfnis, den supranationalen Staatenbund mit Facetten einer eigenen Identität auszustatten, die auch in die Geschichte zurückstrahlt6• Unübersehbar ist aber auch, daß diese Entwicklung in den 4 H.A. Wink/er, Der lange Weg nach Westen, 2. Bde., München 2000. Gegen das WlZulässig g]änende Bild einer nonnativen Westemisierung und ihres Ü berschusses an .Entnationalisierung" siehe K. ]arausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004.

' H.-P. Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994; H. Möller, Die Relativität historischerEpochen: DasJabr 1945 in der Perspektive des Jabres 1989, in: Aus Politik und Zeitgesehichte, Beilage B 18/19 (1995), s. 3-9. 6 Ein aufschlußreiches Beispiel bieten hier die Geldscheine der 2002 eingeführten europäischen Wäbrtmg. Sie bilden durchweg eindrucksvolle Bauwerke europäischer Baukunst ab, die aber sämtlich fiktiv und rticht historisch sind, um keine nationale Überlagerung der europäischen Tradition in Gründung zuzulassen.ln dieselbe Richtung zielte eine im März 2003 von den Zeitungen .La Stampa", .EI Pais" und .Le Monde" initüerte Tagung zum Thema "Du bon usage des grands hommes enEurope", die sich

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einzelnen europäischen Ländern überaus divergent verläuft und namentlich die .Europäisierung Osteuropas" in den Transformationsgesellschaften des ehemaligen Ostblocks sogar zu einer förmlichen Renaissance des Nationalen führen konnte'. In Deutschland hingegen scheint die Idee der Nation mehr und mehr auf dem Rückzug, gleichviel, ob von der .Krise des Nationalstaates" oder von der Hoffnung auf Vollendung der europäischen Einheit die Rede ist'. Wer wie Martin Walser auf einem historisch begriindeten Nationalgefühl beharrt, das einer .Schicksalsgenossenschaft" der Deutschen entspräche, bewegt sich in unserer Zeit nicht nur am Rande des intellektuellen Diskurses, sondern streift die Grenze des gegenwärtig gesellschafdich überhaupt noch Verstehbaren9• Uneingeschränkt lebendig ist das Denken in nationalen Kategorien im Grunde nur noch auf sportlichem Gebiet im Kräftemessen von Nationalteams und wird auch dort gerade in den publikumswirksamsten Mannschaftssportarten auf Clubebene infolge international zusammengesetzter Mannschaften immer weiter zurückgedrängt - schon lange taugt der der Militärsprache entlehnte Begriff des national indifferenten .Legionärs" nicht mehr, um ins Ausland abwandemde Sportheroen zu etikettieren. Wie aber verändert der gegenwärtig unaufhaltsam scheinende Abschied von der Nation unseren Blick auf die Vergangenheit der Nation? Die .Geschichte Europas" ist ein gängiger Buchtitel geworden" und die .Rückkehr der Erinnerung mit den Ergebnissen einet in seebs europäiseben Ländern durebgefübrten Untersuebung übet .Les petsonnalires et !es petsonnages historiques representant I'idenrite europeenne" besebäfrigte, in: Le Monde, 11. April 2003.

7 W Höpken, Gewalt·Grenzen. Über Kultur, Feindbilder und Gewalt auf dem Balkan, in: M. Sabrow (Hrsg.), Grenz·Fälle, Leipzig 2000, S. 45·66; G. Brunner (Hrsg.), Osteuropa zwiseben Nationalstaat und Integration, Berlin 1995; S. Troebst, Ethnien und Nationalismen in Osteuropa. Drei Vorüberlegungen zur vcrgleiebenden historisehen Forschung, in: Österreichische Zeitschrift für Geschiebtswissenschaft, 5 (1994), 1, s. 7-22. 8 In einer interessanten Überlegung hat Hans·Peter Sebwarz das Zusanunenwaebsen Europas als Ausrlruck eines weltweit zu beobaebtenden .Niedergang des Staates" interpretiert, H.·P. Schwarz, Fragen an das 20. Jahrhundert, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschiebte, 48 (2000), S. 1·36, hiet S. 31. 9 Naebdern Marrin Walser in einem Streitgespräeb mit Bundeskanzler Gerhard Sehröder am 8. Mal2002 .Über ein Geschiebtsgefühl" gesproeben und die Deutseben unter Verweis auf Auschwitz zu einer Schicksalsgemeinschaft erklärt hatte, erwi­ derte Sehröder dem Beriebt eines Zeitungsredakteurs zufolge unter dem Beifall des Auditoriums: .leb kann mir unter ,Schicksalsgerneinsebaft' niebts vorstellen Er wisse, was eine Genossenschaft ist" - abet die Vcrbindung mit dem .Schicksal" (im Sebatten von Auschwitz) sei ihm "rational nicht zugänglich", siehe P. von Becker, Schicksal und Genossen. Gerhard Sehröder und Martin Walser versueben, am 8. Mai in Berlin über das deutsehe Nationalgefühl zu streiten, in: Der Tagesspiegel, 10. Mai 2002. •.



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W Schmale, Geschichte Europas, Wien I Köln I Weintat 2000.

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nach Europa" ein vertrauter historischer Imperativ11• Historiker diskutieren einerseits .Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung"" und machen auf das Mythendefizit Europas aufmerksam13, aber sie warnen ande­ rerseits auch vor dem unvermeidlichen ,Europazentrismus" einer europäischen Geschichte" und der Gefahr, Bausteine für eine historische Identitätsproduktion Europas zu liefern, die auf eine Wiederkehr des Nationalstaates in europä­ ischem Gewand hinauslaufen könnte". Keine Antwort auf die Frage nach der ,europäische[n] Bestimmung" kommt ohne geschichtliche Grundlegung aus"; und ein Konsortium von fünf großen europäischen Verlagshäusern legt unter dem Titel .Europa bauen" eine Buchreibe auf, die die Erhe!Iung der europä­ ischen Geschichte zur Voraussetzung der europäischen Einheit in der Zukunft erklärt17• Auch die rasante Zunahme komparatisrischer Untersuchungen im europäischen Rahmen18 deutet darauf hin, daß die nationale Meistererzählung immer stärker in der Konkurrenz mit einer post-nationalen Sicht steht, die sich mit dem europäischen Gedaoken verbindet und gebieterisch verlangt, ,nach den n A. Grunenberg, Die Lust an der Schuld. Von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart, Berlin 2001, S. 168. 12 G. Stourzh unter Mitarbeit von B. Haider I U. Harnuzt (Hrsg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002.

13 W Schmale, Scheitert Buropa an seinem Mythendefizit?, Bochum 1997. Wie zur Bestätigung der Frage Schmales stellte ein aus einer Berliner Ausstellung hervor­ gegangener Sammelband zur ,Mythenbildung Europas" ausschließlich die nationalen Mythen von 18 europäischen Ländern vor, M. Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München I Berlin 1998.

14 J. Osterhammel, Buropamodelle und imperiale Kontexte, in: Journal of Modem European History, 2 (2004), S. 157-182. " A. Eckert, Europäische Zeitgeschichte und der Best der Welt, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 1 (2004), S. 416-421. 16 Zu dieser europäischen Bestimmung "gehört, daß es eine Erzählung vom Europäischen auf dem Hintergrund einer christlichen Prägung gebe, die die Menschen im Kern als ihre Geschichte begreifen können", argumentierte etwa der Schweizer Schrift­ steller Adolf Muschg. V gl. M. Jeismann, Barbaren Was ist europäisch?": Adolf Muschg denkt in Essen nach, in: Frankfurter Allgemeine Zeituog, 18. November 2004. . •

17 Die funktiooalistische Nutzung des historischen Blicks in diesem Verlagskonzept verdeutlicht das Vorwort Jacques Le Goffs: "Europa wird gebaut. Getragen von großen Hoffnungen. Doch erfüllen werden sie sich nur, wenn sie der Geschichte Rechnung tragen. Ein geschichtsloses Buropa wäre ohne Herkunft und ohoe Zukunft ... Daß dieser Kontinent in seinem Streben nach Einheit so manch internen Zwist, so manchen Konflikt, so manches Trennende und Widersprüchliche erst überwinden mußte, soll in dieser Reihe nicht verschwiegen werden, denn wer sich auf das Untemeltmen Buropa einlassen will, muß die gesamte Vergangenheit kennen und eine Zukunftsperspektive besitzen", H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, S. 5. 18 J. Paulmann, Internationaler Vergleich undinterkultuteller Transfer, in: Historische Zeitschrift, 267 (1998), S. 649-685.

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verbindenden Elementen in der Geschichte Europas zu suchen"". Die Frage nach den Kernelementen einer europäischen Zeitgeschichte nach 1945 und einer gesamteuropäischen Perspektive nach dem Eode der europäischen Spaltung, aber auch den Dilemmata eines europäischen Gedächtnisses prägen die aktu· ellen Theoriedebatten der Zeithistoriker'0• Offenbar vollzieht sich vor unseren Augen ein tiefgreifender Umbruch der geschichtlichen Orientierungsmuster, der sich als historische Europäisierung fassen läßt und dessen Folgen für unser Verständnis der Vergangenheit noch gar nicht absehbar sind: Geht mit ihm vor allem eine Erweiterung von überkommenen und zu eng gewordenen Sichtachsen einher, die weg von der deutsch·deutschen Nabelschau, weg von der bloßen Verlängetung nationaler Staatenkonkurrenz auf das Schlachtfeld der Geschichte führt? Oder bedeutet er im Gegenteil einen Verlust an historischer Verantwortung für die ganze deutsche Geschichte, an dessen Eode die bequeme Entsorgung einer unbequemen Vergangenheit stehen könnte? Historiographiegeschichtlich ist es allerdings gar kein historisches Novum, daß die nationalgeschichtliche Sicht auf die deutsche Geschichte von kon· kurtierenden Geschichtsbildern in ihrer Geltung angegriffen wird. Bis 1914 und wieder nach 1918 gab es eine zunächst sozialdemokratische, dann auch kommunistische Gegenerzählung, die dem nationalen Imperativ ein interna· tionalistisches Credo entgegensetzte und sich etwa mit dem Namen Franz Mehrlugs verbindet. Nach 1945 wiederum provozierte der katastrophale Ruin des deutschen Machtstaatgedankens in Ost und West eine bittere Abrechnung mit der Vergangenheit, die unter ungebrochener Wahrung der nationalge· schichtliehen Perspektive im Osten durch Alexander Abusch als .Irrweg einer Nation"21 und im Westen 1946 durch Friedrich Meinecke als Weg in die "deut· sehe Katastrophe"" erschien. Im Osten Deutschlands mußte die von Abusch konzipierte sogenannte .Misere·Theorie" bald einem bemühten Rekurs auf Nationalgeschichte in kommunistischer Perspektive weichen, mit der Ulbricht den Anspruch der SED-Diktatur auf nationale Alleinvertretung zu untermauem 19 J. Elvert, Vom Nutzen und Nachteil der Nationalhistorie in Europa, in: Universitas, 57 (2002), (hnp.//www.hirzel.de/universitas/archiv/elvert.pdf). 20 A. Nützenadel I W Schieder (Hrsg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004; KH. ]arausch, Zeitgeschichte zwischen Nation und Europa. Eine transnationale Herausforderung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage B 39 (2004), S. 3-10; J. Dül/fer, Europäische Zeitgeschichte - Narrative und historiographische Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen/Srudies in Conternporary History, 1 (2004), S. 51-71; G. Thum, .Europa" im Ostblock. Weiße flecken in der Geschichte der europäischen Integration, ebd., S. 379-395; H. Rousso, Das Dilemma eines europäischen Gedächtnisses, ebd., S. 363378. 21 A. Abusch, Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte, Berlin (0) 1946. 22 F. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946.

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trachtete. Zwar verschwand nach Ulbrichts Sturz 1971 das Zwei-Linien-Konzept des .sozialistischen Patriotismus" wieder in der Versenkung und wurde in den Folgejahren durch die Erfindung einer .DDR-Nation" abgelöst. Aber bis zum Ende des SED-Staates stand im Mittelpunkt der zweiten deutschen Geschichtswissenschaft unangefochten die deutsche nationalgeschichte, die für die Zeit bis 1945 in die beiden Stränge einer fortschrittlichen Tradition" im engeren und eines umfassenden nationalen "Erbes" im weiteren Sinne unter­ teilt wurde und für die Zeit ab 1945 Geschichte und Vorgeschichte der DDR urnfaßte, während die westdeutsche Entwicklung in der Zeit der Teilung auch institutionell dem Bereich .allgemeine Geschichte" zugeschlagen und damit aus dem genuinen Forschungsfeld der deutschen Geschichte ausgelagert wurde. •

In der entstehenden Bundesrepublik hingegen entwickelte sich schon bald aus der hier stiirker konservativen Distanzierung von der ruinierten deutschen Nation neben dem kleindeutschen ein- allerdings nie Hegemonie erlangen­ des-katholisch gefärbtes Geschichtsbild, das in der Rückbesinnung auf den mit­ telalterliehen Reichsgedanken an das Paradigma eines christlichen Abendlandes jenseits nationaler Grenzen anknüpfte und eine erste Europäisierungsphase einleitet". Der damalige Abendlanddiskurs der fünfziger und sechziger Jahre unterschied sich freilich von der heutigen Buropadiskussion in vielerlei Hinsicht: Er trug ausgeprägt antiamerikanische und rechtskonservative Züge, und er setzte Europa mit .dem Westen" gleich. Nicht die Menschenrechte waren seine zentrale Bezugsachse, sondern ganz im Gegenteil die Frontstellung gegen Liberalismus und Parlamentarismus. Sein Ziel war, pointiert gesprochen, ein Europa .vor" und nicht .nach" den Vaterländern, und nicht zufällig knüpfte er auf der politischen Ebene auch an die Tradition der Habsburgermonarchie an24• Der Abendlanddiskurs versuchte die Idee der deutschen Nation und ihrer kulturellen Sendung zu retten, indem er sich von ihr distanzierte und ihren ideellen Kern als wesdiche Wertegemeinschaft" umformulierte - in Abgrenzung vom osteuropäischen Bolschewismus und vom transadantischen Amerikanismus zugleich. Die politische und kulturelle Dominanz der USA und der ausgreifende Ost-West-Konflikt enthüllten diesen .Dritten Weg" eines konservativen Abendlandes allerdings bald als Sackgasse und machten den Prozeß des europäischen Zusammenwachsens zu einem technokratischen Projekr ohne normative und kulturelle Kraft". •

23 S. Conrad, Auf der Suche naeh der verlorenen Nation. Gesehiehtssehreibung in Westdeutschland und Japan, 1945-1960, Göningen 1999, S. 59 ff. 24 P. Gassert, Die Bundesrepublik, Europa und der Westen. Zu Verwestlichung, Demokratisierung und einigen komparatistischen Defiziten der zeithistorischen Forsehung, in:]. Baberowski I E. Conze I P. Gassert IM. Sabrow, Gesehiehte ist inuner Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Sruttgart I Münehen 2001, S. 67-89, hier S. 81. 25 V gl. A. Schildt, Zwischen Ahendlsnd und Amerika. Studien zur westdeutseben Ideenlandschaft der 50er Jahre, Münehen 1999.

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486 II.

Facetten der historischen Entnationalisierung

Der neue historische Abschied von der Nation trägt in vieler Hinsicht ganz andere Züge als der konservative Abendlanddiskurs der bundesrepu­ blikanischen Frühgeschichte. Im Gegensatz zu diesem changiert er zwischen Europäisierung und Globalisierung'6 und ist in seinen Leitwerten universal ausgelegt; er ist freiheitsorientiert statt illiberal, und er argumentiert demokra­ tisch statt hierarchisch. Nicht der abendländische Wertekanon ist sein Bezug, sondern der Menschenrechtskatalog'7, nicht ein deutscher Sonderweg auf westeuropäischer Ebene sein Ziel, sondern ein gesamteuropäischer Beitrag zu globalem Frieden und universaler Wohlfahrt im Schulterschluß mit den USA. Seine historiographische Entsprechung findet der neue Buropadiskurs weniger in der gestiegenen Zahl von Buchtitelo zur europäischen Geschichte, als viel­ mehr darin, daß die Frage nach den Umrissen einer europäischen Geschichte auch die fachhistorische Theoriedebatte zu erfassen begonnen hat''. Die neue Europäisierung geht über die Parallelisierung nationaler Geschichten in einem 26 M. Gehler, Zeitgeschichte zwischen Europäisierung und Globalisierung, in: Aus Parlament und Zeitgeschichte, Beilage B 51-52 (2002), S. 23-35, hier S. 34 f.; E. Conze, Nationale Vergangenheit und globale Zukunft. Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Herausforderung der Globalisierung, in: ]. Baberowski I E. Conze I P. Gassert IM. Sabrow, Geschichte ist inuner Gegenwart, S. 43-65;M. Midde/1, Europäische Geschichte oder global history- master narratives oder Fragmentierung? Fragen an die Leittexte der Zukunft, in: K.H. ]arausch IM. Sabrow (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Görringen 2002, S. 214252. In einer vielbeachteten Rede umriß der deutsche Außenminister Joschka Fischer 2000 das Ziel seiner Europapolitik so: .Diese drei Reformen: die Lösung des Demokratieproblems sowie das Erfordernis einer grundlegenden Neuordnung der Kompetenzen sowohl horizontal, d.h. zwischen den europäischen Institutionen, als auch vertikal, also zwischen Europa, Nationalstaat und Regionen, werden nur durch eine konstitutionelle Neugrändung Europas gelingen können, also durch die Realisierung des Projekts einer europäischen Verfassung, deren Kern die Verankerung der Grund-, Menschen- und Bürgerrechte, einer gleichgewichtigen Gewaltenteilung zwischen den europäischen Institutionen und einer präzisen Abgrenzung zwischen der europäischen und der nationalstaatliehen Ebene sein muß. Die Hauptachse einer solchen europä­ ischen Verfassung wisd dabei das Verhältnis zwischen Föderation und Nationalstaat bilden". ]. Fischer, Vom Staatenverbund zur Füderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Rede vom 12. Mai 2000 in der Humboldt-Universität zu Berlin (http://www.europawoche.saarland.de/medien/allgemein!humboldt -rede. pdf). Zl

im Jahr

" Daß dabei auch ein geschichtspolitisches Moment mitschwingt, ist offenkundig, wie einschlägige Grundsatzüberlegungen zeigen: "... the uni:fication process needs historical arguments in respect to both the future perspective and its foundations and historical experiences", A. P6k I]. Rüsen I]. Scherrer, European History: Challenge for a Commun Future. An Introduction, in: A. P6k I]. Rüsen I]. Scherrer (Hrsg.), European History: Challeuge for a Commun Future, Harnburg 2002, S. 9-19, hier S. 9.

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territorialen "Container" namens Europa weit hinaus'', und sie begnügt sich auch nicht mit der Identifikation gesamt- oder teileuropäischer Traditionen griechisch-römischer oder christlicher Provenienz im Rahmen einer histori­ schen "Europäistik."30• Der Europadiskurs unserer Zeit zielt auf ein "weites" Europa, das auch den europäischen Osten jenseits der latinitas einschließt", wenn er nicht überhaupt Europa ganz jenseits geopolitischer Zuordnungen als eine kulturelle Größe auffaßt, die als historisch gewachsene Werteordnung in Erscheinung tritt oder auch nur als diskursiv konstituierter Vorstellungsraum". Gegenwärtige Plädoyers für eine transnationale Geschichtsschreibung erinnern an Rothfels' Diktum, daß auch Nationalgeschichten nur aus einer uuiversalen Konstellation heraus begriffen werden können, und sie definieren Europa uicht substantialistisch, sondern als einen kategorialen Raum, in dem Verbindendes und Trennendes gleichermaßen Platz findet''. Der europäische Blick setzt bekannte Ereignisse in ein neues fachliches Licht, wie sich etwa am Wandel der Historiographie zur Revolution von 1848 zeigen läßt'4• Über 150 Jahre vor allem als Teil der einzelnen Nationalgeschichten in Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich und Ungarn dargestellt, erschien sie zum 150jäbrigen Jubiläum 1998 in auffälliger Weise vor allem im Gewand 29 Obwohl auch heute noch das Schlagwort "Europa" oft nur die Zusanunenschau getrennter Entwicklungsstränge betitelt. Esemplarisch: M. Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama, sowie C. Lenz I]. Schmidt I 0. von Wrochem (Hrsg.), Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS­ Vergaogeoheit, München 2002. 30 Hierzu näher: W. Schmale, Die Komponenten der historischen Europäistik, in: Stourzh (Hrsg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, S. 119139, besonders S. 133 ff. G.

31 G. Stourt.h, Statt eines Vorworts: Europa, aber wo liegt es?, in: ders. (Hrsg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, S. IX-XX. " So verfährt Schmale: .Im ersten Augenblick mag es ungewohnt sein, sich von der gegenständlichen Definition Europas einmal abzuwenden und statt dessen zu schauen, was passiert, wenn man Europa als das Ergebnis von Diskursen und performativen Akten interpretiert. Aber wer sich auf dieses Experiment einläßt, wird sehen, daß es sehr spannend ist", W. Schmale, Geschichte Europas, S. 15. 33 "Eine europäisierte Geschichtsschreibung kann nicht nur über Verbindendes, sondern muß auch über Trennendes berichten. Es karm nicht nur um ,Integration' gehen; ,Desintegration' war im 20. Jahrhundert mindestens ebenso bedeutsam, wenn nicht geschichtsmächtiger", M. Gehler, Zeitgeschichte zwischen Europäisierung und Globalisierung, S. 35. 34 Vgl. etwa Reinhart Kosellecks Vorbemerkung zu zwei Essays zur Neueren Geschichte: "Nationale Erinnerungsorte und deren Geschichten sind zur Genüge beschrieben und beschworen worden. Nicht daß sie überflüssig würden. Aber es könnte sein, daß es wichtiger wird, die vielfaltigen Konflikte der europäischen Nationen als ihre gemeinsamen wahrzunehmen und ihre Kontraste und Konvergenzen zu sichten, die sie aufeinander verweisen", R. Koselleck, Europäische Umrisse deutscher Geschichte. Zwei Essays, Heidelberg 1999, S. 7.

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eines gemeineuropäischen Breigoisses - und dies trotz des Umstandes, daß die Aufstände sich io allen betroffenen Ländern an staatlichen Mißständen entzündeten oder einem nationalen Impetus folgten". In bezug auf den Ersten Weltkrieg hat die Öffnung eines bisher nationalgeschichtlich verengten Blicks von den alten Debatten um die deutsche Kriegsschuld weggeführt, die io den zwanziger und wieder io den sechziger Jahren mit der sogenannten .Fischer· Kontroverse" die fachhistorische Bühne beherrscht hat. Heutzutage wird der Erste Weltkrieg im Sione von George Kennans Diktum vor allem als die große Ur.Katatstrophe Europas erforscht, deren Zustandekommen und Fernwirkungen sich erst aus europäischer Perspektive ganz erschließen. Unaufhaltsam auf dem Vormarsch scheint die historische Europäisierung auch io bezug auf territorial sehr viel begteoztere Ereigoisse. Eio gutes Beispiel bieten der wissenschaftliche und der geschichtspolitische Umgang mit dem Aufstand des 17. Juni 1953, der einzigen blutigen Revolte der ostdeutschen Bevölkerung gegen das SED·Regime bis zum Zusammenbruch der kommuni· stischen Herrschaft 1989. Bis zur deutschen Vereinigung war der .17. Juni" Ausdruck einer umkämpften Erinnerung und wurde io der Fachliteratur der DDR einhellig als .faschistischer" oder doch zumiodest .konterrevolu· tionärer Putsch" perhorresziert:'6• In der Bundesrepublik biogegen wurde der Aufstand noch unter dem Eiodruck des Ereignisses selbst zum Tag der deutschen Eioheit" erhoben, um als .Symbol der deutschen Eioheit io Freiheit", wie es io der Gesetzespräambel hieß, an den gesamtdeutschen Willen zur Wiedervereinigung zu erinnern. Über Jahrzehnte galt er biofort im offiziellen Gedächtnis als .geschichtliches Zeugois des unzerstörbaren •

3' "Das wirklich Neue dieses revolutionären Zusanunenhanges war, daß die ein­ zelnen Unruheherde, die sich zu Aufständen entfachten und Revolutionen aus sich hervortrieben, gleich spontan über ganzEuropa verstreut waren. Die Ursachen waren zwar allesamt regional oder staatlich oder national gebündelt. Aber überall handelte es sich wn spontane, genuine Revolutionen, deren Strukturmerkmale . . . gesamteu­ ropäisch waren. lnsofem sind es die Revolutionen von 1848/49, die erstmals und ... auch letztmalig den Namen einer großen europäischen Revolution tragen können", R. Kose/leck, Wie europäisch war die Revolution von 1848/491, ebd., S. 9·36, hier S. 17. Zur Rezeption der 1848er Revolution im Jubiläumsjahr 1998: W. Siemann, Die Revolution von 1848/49 zwischenErinnerung, Mythos und WISsenschaft: 1848·1998, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), S. 272·281; M. Gailus, Deutsche Revolution sfeierlichkeiten 1998. Zwischenbemerkungen zu Politik und Kultur derErinnerungen 1848, in: Werkstatt Geschichte, 20 (1998), S. 59·68; D. Langewiesche, Populare und professionelle Historiographie zur Revolution von 1848/49 im Jubiläumsjahr 1998, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 47 (1999), S. 615·622; M. Hettling, DieJagd nach dem demokratischen Anfang. Rückblick auf das Jubilä=jahr zu 1848, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 51 (2000), S. 302·312.

" H. Mohr, Der 17. Juni als Thema der Literatur in der DDR, in: K. Lamers (Hrsg.), Die deutsche Teilung im Spiegel der Literatur der DDR Beiträge zu Literatur und Germanistik, Stuttgart 1978, S. 43·84, hier S. 45-48.

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Einheitsbewußtseins"", wenngleich seine gesellschaftliche Aneignung schon nach wenigen J abren mehr vom Bedürfnis nach privater Erholung als von öffentlicher Anteilnahme besrimmt war''. Die schleichende Auszehrung eines Mythos, .der sich selbst überlebt hatte"", führte zur Formulierung einer erin­ nerungspolitischen Gegenthese, die im Einklang mit den Erkenntnissen der zeithistorischen Forschung40 die sozialen und ökonomischen gegenüber den nationalen Motiven der Aufständischen herausarbeitete". Seither konkurrierten beide Deutungsmuster auch in der fachlichen Diskussion", bis sie nach dem Ende der deutsch-deutschen Teilung ergänzt und überlagert wurden durch die auf geschichtspolitische Diktaturverarbeitung zielende Auseinandersetzung um die Frage, ob der 17. Juni als .Arbeiteraufstand" oder aber als "Volkserhebung" zu bewerten sei". Zum vierzigsten J abrestag des Aufstandes 1993 stand das historische Gedenken vor allem im Zeichen der demokratischen Tradition. Die Bundestags·Enquete·Kommission .Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" veranstaltete am Vorabend des 17. Juni 1993 eigens eine öffentliche Anhörung, bei der Rita Süssmuth als Präsidentin des Deutschen Bundestags eine gerade Linie von 1953 zu 1989 zog. Aus dieser

" E. Wo/frum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschlaud. Der Weg zur buadesrepublikanischen Erinoeruog 1948-1990, Darmstadt 1999, S. 77. " .Lebensgeschichtlich ging der Inhalt des Aufstandes vom 17. Juni 1953 an der Welt der Bundesbürger zusehends vorbei. Das Ereignis eotfaltete immer weniger eioe symbolische Stärke", ebd., S. 206 f. " R Augstein, 17.Juoi-Kapitulation, Aufstand oder was sonst?, in: Der Spiegel, 24. Juni 1%5, Beiheft, S. 2-12, hier S. 2.

40 Prägend wurde hier besonders die 1%5 erschienene Studie von A. Baring, Der 17. Juni 1953, 2. Auf!., Stuttgart 1983. 41 "Es war kein Volksaufstand, der von sowjetischen Panzern im Blut erstickt worden ist. Es war eine nicht gezielte, nicht geplante Demonstration für bessere, freiere Lebensbedingungen, die melu verlosch, als daß sie unterdrückt worden ist", R Augstein, 17. Juni, s. 12. 42 Vgl. resümierend L. Niethammers Einführung zu eioer Podiumsdiskussion des Forschungsschwerpuoktes Zeithistorische Studien Potsdam .Der 17. Juni -vierzig Jahre danach", in:]. Kocka IM. Sabrow (Hrsg.), Die DDR als Geschichte. Fragen­ Hypothesen- Perspektiven, Berlin 1994.

" A. Mitter, Der "Tag X" und die .Innere Staatsgsündung" der DDR, in: I..S. Kowalczuk I A. Mitter I S. Wolle (Hrsg.), Der Tag X- 17. Juni 1953. Die .Innere Staatsgriindung" der DDR als Ergebnis der Krise 1952154, Berlin 1995, S. 9-30, hier S.11 ff. Diese Sichtsetzte siehin den folgendenJahren zumindestin Überblicksdarstellungen weitgehend durch. V gl. V. Koop, Der 17. Juni 1953. Legende und Wttklichkeit, Berlin 2003, S. 343; T. Flemming, Der 17.Juni 1953, Berlin 2003, S. 154. In der Forschungsliteratur hingegen herrscht eine gewisse Unentschiedenheit vor: "Die generelle Frage nach ,Arbeiteraufstand' oder ,Volkserhebung' ist keioeswegs eiodeutig beantwortet worden", C. Kleßmann I B. Stöver, Das Krisenjaltt 1953 und der 17. Juni in der DDR in der historischen Forschung, in: C. Kleßmann I B. Stöver (Hrsg.), 1953 -Krisenjaltt des Kalten Krieges in Europa, Köln I Weimar I Wien 1999, S. 9-28, hier S. 22.

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Sicht erschien der Aufstand von 1953 nun als Teil einer gesamtdeutschen Demokratietradition und der Sturz des Regimes im Herbst 1989 als Ausdruck einer über mehr als dreißig Jahre durchgehaltenen Oppositionshaltung der Protagonisten von 195344• Hinter dieser Auffassung, die noch mit der Aufwertung des Aufstandes zu einer- gescheiterten- Revolution untermauert wurde45, deuteten sich allerdings schon Interpretationslinien an, die über den nationalen Kontext hinausführten, wenn nämlich Rita Süssmuth die beiden ostdeutschen Erhebungen von 1953 und 1989 in eine Beziehung zu anderen oppositionellen Bewegungen innerhalb des sowjetischen Lagers zwischen 1956 und 1980 setzte". In den Folgejahren rückte der 17. Juni innner stärker in den osteuropäischen Kontext einer Ktise des kommunistischen Systems, in der die Lage der DDR nur mehr .den deutlichsten Sonderfall" markierte", während die geschichtspolitische Verbindung zwischen 1953 und 1989 ungeachtet ihrer suggestiven Kraft in der Forschungsliteratur als sachlich unhaltbare Mythenbildung zurückgewiesen wurde". 44 "Ich denke, es ist wichtig, heute Abend noch einmal gemeinsam mit den Teilnehmern des Podiums deutlich zu machen, was tatsächlich geschah und was es bedeutet hat für den Fortgang der Entwicklung in Deutschland. Das sollte auch die Fragestellung einbeziehen, wie enttäuscht die Beteiligten damals waren, daß sie keine Unterstützung von außen erhielten, daß sie sich alleingelassen fühlten. Wie haben sie damals, als einzelne oder in Gruppen, über die Jahrzehnte hin durchgehalten? Wie ist es dann doch wieder zu einer neuen Massenbewegung gekommen, die nicht nur eine lange Vorgeschichte hatte, sondern auch äußerer Zeichen bedurfte, die deutlich machten, daß es nicht nur im eigenen Land, sondern auch außerhalb Menschen gab, die ähnlich dachten, die als Oppositionelle erwas anderes wollten?", Materialien der Enquere-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. II/1, Baden-Baden 1995, 42. Sitzung .Der Volksaufstand am 17. Juni 1953", S. 746-802, hier S. 748. " "Es handelte sich um eine gescheitette Revolution. Bis zum Herbst 1989 blieben die Ereignisse imJuniJJul i 1953 ein ständiges Trauma für die Pattei- und Staatsführung der DDR", ebd., S. 767.

46 Ebd., S. 747. 47 C. Kleßmann I B. Stöver, Das Krisenjahr 1953 und der 17. Juni in der DDR, s. 18. 48 "Die naheliegende und insbesondere von der polirischen Klasse oft beschwo­ rene Verbindungslinie zwischen 1953 und 1989 ist zu suggestiv, als daß sie einer kritischen historischen Prüfung standhielte. Sowenig wie 1918 die Vollendung der bürgerlichen Revolution von 1848 war, läßt sich über dreieinhalb Jahrzehnte hinweg die Herbstrevolution von 1989 als Erfüllung der Forderungen und Hoffnungen von 1953 interptetieren, sosehr auch die Forderung nach politischer Freiheit in beiden Konstellationen eine zentrale Rolle spielte", ebd., S. 26. Vgl. dagegen als Beispiel eines methodisch rellektierten Vergleichs von 1953 und 1989, der Gemeinsamkeiten und Differenzen gegeneinander abwägt, statt Kontinuität zu behaupten: H. Wentker, Arbeiteraufstand, Revolution? Die Erhebungen von 1953 und 1989/90 in der DDR: ein Vergleich, in: Deutschland Archiv, 34, 2001, S. 385-397.

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Erst zum 50. Jahrestag 2003 geriet auch dieser ursprünglich ausschließlich national kaunotierte Gedenktag in den Sog einer historischen Umdeutung, die den nationalen Ortungsrahmen mehr und mehr aufgegeben und durch ein post· nationales Paradigma ersetzt hat, in dem Regionalisierung und Europäisierung gleichermaßen Platz finden. Im Vorfeld der Jubiläumsveranstaltungen erklärte der Leiter der Bundeszentrale für Politische Bildung, Thomas Krüger, den 17. Juni 1953 zu einem historischen .Beispiel für Zivilcourage und politischen Protest"49 und führte damit eine Wertungsdimension ein, die den Aufstand jenseits der alten Dichotomien von Arbeiteraufstand versus Volkserhebung und nationalem versus sozialem Ursprung verortet. Offenbar ist auch für den 17. Juni die .Chance zur Neubetrachtung"" herangereift, die den Aufstand in eine westliche Wertewelt ohne staatliche Grenzen überführt und den in den Ländern des sowjetischen Satellitengürtels über Jabtzehnte erprobten Willen zur zivilgesellschaftlichen Selbstbehauptung als genuinen osteuropäischen Beitrag zum europäischen Gemeinerbe betrachtet.

In diesem Sinne stand die zentrale Tagung der deutschen Zeithistoriker zum 50. Jahrestag des 17.Juni 2003 im doppelten Zeichen einer Verlagerung der kon­ kreten Forschung auf regionale Aspekte und einer Einbindung ihrer Ergebnisse in einen historischen Europäisierungstrend". Von einem europäischen Narrativ her gedacht, tritt die enge Verbindung zwischen dem ostdeutschenJuniaufstand 1953 über die Erhebungen in Ungarn undPolen 1956 und denPrager Friihling 1968 bis zur Charta 77 und der polnischen Solidarnosc-Bewegung von 1980/81 hervor und erscheinen die Tage der Auflehnung in der DDR als erste Etappe auf dem Wege zu einer politischen Kultur des vereinten Europas, an dem der Osten gleichgewichtig beteiligt ist Die Aufstände in den ,realsozialistischen' Ländern als Teil der europäischen Demokratiegeschichte" hieß das T hema der öffentlichen Podiumsdiskussion auf dieser Konferenz, die sich ausdrücklich .



einer .stärkere[n] europäische[n] Kontextualisierung der DDR-Geschichte" verpflichtet sah und für die Kar! Schlögel in seinem Einleitungsvortrag die 49 Der Grundwert der Freiheit", soKrüger, .ist von unschätzbarem Wertund ohne Zivilcourage und Engagement unerreichbar", ]. Kixmüller, Exempel der Zivilcourage. Historiker undJournalisten erarbeiten Ansätze zum 17.Juni 1953, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 13. Februar 2003. .

" I. Röd, Chance zur Neuberracbtung. Abschlußvortrag zum 17. Juni 1953, in: Märkische Allgemeine Zeitung, 15. Februar 2003.

" M. Küpper, Erinnerung an eine Revolution. Zum 50.Jahrestag des 17.Juni wird der Aufstand europäisch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Aptil 2003. Ebenso konunentierten auch andere Beobachter: .ln der Forschung gibt es derzeit eine überra· sehende Verschiebung der Perspektive auf den 17.Juni . . Der 17.Juni 1953 war nicht der Tag der Deutschen, als der er lange gefeiert wurde. Er war ein Tag Europas", R. Ide, Aufstand auf offener Bübne. Der niedergeschlagene Protest vom 17. Juni 1953 ist für Historiker kein rein deutsches Ereignis mehr, in: Der Tagesspiegel, 7. Aptil 2003. .

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Europäisierungsforderung an eine künftige Geschichtsschreibung der soziali­ stischen Systemkrisen formuliene: Es gehe, so Schlögel, .um die Rekonstruktion des Erfahrungs- und Handlungshorizonts, der für mehr als eine, ja mehr als zwei Generationen prägend, bindend geworden ist: den Erfahrungs­ und Handlungshorizont des geteilten Europa. Bei allen Unterschieden teilen die Ereignisse von 1953, 1956, 1968, 1970 diesen Horizont. Die Geschichte vom . .. Scheitern dieser Anläufe der Emanzipationsbewegungen von Berlin, Warschau, Prag, Budapest gehön damit nicht nur in die Verfallsgeschichte des Sozialismus, sondern ins Zentrum einer europäischen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundens"52•

Die tektonische Verschiebung der geltenden Deutungsrahmen betrifft allerdings keineswegs nur die geschichtswissenschaftliehe und geschichts­ politische Verarbeitung einzelner Ereignisse. Auch die musealen Speicher des historischen Gedächtnisses lösen sich seit längerem mehr und mehr von ihren nationalgeschichtlichen Bildweiten. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet hier das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin, dem von seiner Griindung her die Aufgabe, deutsche Nationalgeschichte zu repräsentieren, förmlich eingeschrieben war. Gleichwohl versteht es seinen Auftrag als Darstellung .deutscher[r] Geschichte von der Fröhzeit bis zur Gegenwart im europä­ ischen Kontext". Tatsächlich ist die leitende Fragestellung des DHM nicht in einen nationalgeschichtlichen, sondern einen europäischen Denkrahmen eingebettet; sie beruft sich nicht auf einen tertitotialen Raum oder auf eine ethnische beziehungsweise eine historische Gemeinschaft, sondern griindet in einer übergreifenden politischen Emanzipationsidee: .Das 1987 gegröndere DHM will besonders die Entwicklung der Freiheitsrechte, die Geschichte von Menschenwörde und Menschenrechten erzählen, will erzählen von Anpassung und Widerstand wie von Unterdrückung, will zeigen, wie Menschen gelebt und gelitten, wovon sie geträumt haben. Dabei muß über den Tellerrand nationaler Grenzen geschaut und auch gezeigt werden, wie Deutschland und die Deutschen jenseits der Grenzen wahrgenommen wurden und werden "'3• " K. Schlägel, Der 17. Juni 1953 und die Krisengeschichte des sozialistischen Sy­ stems. Vonrag auf der wissenschaftlichen Kouferenz .Der 17. Juni und die Ktisen­ geschichte des ,realsozialistischen' Systems" des Instituts für Zeitgeschichte München/ Berlin und des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, Berlin, 3./4. April 2003. Freilich warnte Schlögd im gleichen Zusammenhang auch davor, die historische Europäisierung der Herrschaftsktisen im sowjetischen Machtbereich zu weit zu treiben: .In unserem Falle ist die Versuchung gegeben, die Geschichte der Ktisen möglicherweise als Lernprozess des Systems und die Geschichte des Widerstands zu einer Evolution der civil society umzudeuten", ebd.

" B. Asmuss, Zur Präsentation der NS-Geschichte im Deutschen Historischen Museum. Überlegungen zum Rezeptionsverhalten der Besucher im 21. Jahrhunden, in: Die Zukunft der Vergangenheit. Wie soll die Geschichte des Nationalsozialismus in Museen und Gedenkstätten im 21. Jahrhunden vermittdt werden?, hrsg. von den Museen der Stadt Nürnberg, Nürnberg 2000, S. 29-42, hier S. 30 f. Auch das Banner Haus der Geschichte hat am 25./26Januar 1999 ein Symposion zum Thema .Europäische

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ill. Der Holocaust als europäisches Gründungsereignis Kein Ereignis der jüngeren Geschichte aber bildet eine größere Heraus­ forderung für das Programm einer historischen Europäisierung als die natio­ nalsozialistische Gewaltherrschaft und hier besonders der Holocaust, der noch in der Mitte der neunziger Jahre in der Lesart des amerikanischen Historikers Daniel Goldhagen als genuin deutsches Projekt eines elimina­ torischen Antisemitismus interpretiert und so von einem breiten Publikum auch akzeptiert worden war. Johrzehntelang stellte das nationalsozialistische Völkerverbrechen eine vielfach verdrängte und relativierte, aber auch kaum erträgliche Belastung des bundesdeutschen Selbstverständnisses dar, die sich in vielerlei Gestalt zeigte: in einem über Johrzehnte virulenten Schweigekonsens und in der Verdrängung einer Vergangenheit, die nicht vergehen will; in den leidenschaftlichen Verjährungsdebatten des Deutschen Bundestags und in den Historikerkonttoversen um die "Singularität" der Judenvemichtung; vor allem aber in einer beschwiegenen Elitenkontiuuität, die zahllosen Trägem und Werkzeugen der NS-Diktatur den Weg zu sozialer Integration und politischer Karriere in der Bundesrepublik ebnete, während die Opfer der nationalsozialisti­ schen Verfolgung sich vielfach am Rand der Gesellschaft wiederfanden. Gerade durch den auch vom generationellen Wandel getragenen Richtungswechsel in den sechziger und siebziger Johre von einer schuldabwehrenden "Vergangenbei tsbewältigung" hin zu einer schuldannehmenden "Vergangenbeitsaufarbeitung" aber könnte diese Hypothek getilgt sein, wie insbesondere Michael Jeismann argumentiert: "Nicht Schuldabwehr oder Verdriingung, sondern die totale Schuldannahme wirkte wie eine Befreiung ... Nichts war vergessen, aber die Gegenwärrigkeit der deutschen Vernichtungspolitik wurde nun eine andere"". Mit diesem Paradigmawechsel einer "Normalisierung durch Erinnerung", so Jeismann, ging eine Befreiung des nationalsozialistischen Genozids aus seinem nationalen Bezugsrahmen einer genuin deutschen Verantwortung einher, die sich fallweise als "Amerikanisierung des Holocaust"" oder als "Universalisierung des Bösen"" darstellt und hierzulande in erster Linie als historische Europäisierung. Geschichtskultur im 21. Jahrhundert" veranstaltet, vgl. Europäische Geschichtskultur im 21. Jahrhundert, hrsg. vom Haus der Geschichte, Bonn 1999.

"' M. ]eismann, Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, Sturtgart I München 2001, S. 9. Als Beispiel eioes emphatischen Plädoyer für das Bekenntnis in der biographischen uod öffentlichen Verarbeitung des Nationalsozialismus, G. Schwan, Politik und Schuld. Die zerstörecisehe Macht des Schweigens, Frankfurt a.M.1997. " V gl. D. Junker, Die Ametikanisierung des Holocaust, in: Frankfurter Allgemeioe Zeitung, 9. September 2000.

'6 "Nach dem Ende des kalten Krieges wurden die , Lehren' des Holocaust zu einer moralischen Leitschnur. Losgelöst von seinem nationalen und ethnischen Container, diente diese Herstellung der Vergleichbarkeit des Holocaust bzw. der Erinnerung an

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Bildet also der Holocaust heute so etwas wie einen negativen Gründungsmythos der Europäischen Union, .das konstituierende, grundlegende Ereignis einer gemeinsamen europäischen Erinnerung"?".

In der Tat sprechen viele Anzeichen für eine solche These So ist Dachau ein Teil der europäischen Geschichte", setzt ein im Jahr 2000 erschienener Beitrag über die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Dachau ein, der davon ausgeht, daß es .politische Häftlinge aus Deutschland, vor allem aber aus den besetzten Ländern Europas" waren, die hier litten und starben". Anders als - zumindest im Rückblick - der Kniefall des deutschen Bundeskanzler Willy Brandt 1970 in Warschau konnten nationalstaatliche Versöhnungsriten unter Bundeskanzler Kohl in den achtziger und neunziger Jahren nicht ohne peinlichen Beigeschmack in Szene gesetzt werden, wie die distanzierte öffent­ liehe Aufnahme seines Händedrucks mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand auf den Gräbern von Verdun im Herbst 1984 lehrte und mehr noch im Jahr darauf der von Mißtönen begleitete Besuch von Kohl und OS­ Präsident Reagan auf dem Bitburger Soldatenfriedhof im Vorfeld des vierzigsten Jahrestag der deutschen Kapitulation vom 8. Mai 1945". .



Im Gefolge der deutschen .Schuldannahme" und der gleichzeitigen Univer­ salisierung des Holocaust erfaßte eine mächtige Selbsterforschungswelle Deutschlands Feind- und Opferstaaten aus dem Zweiten Weltkrieg, und die detaillierten Untersuchungsergebnisse über das nationalsozialistische .Raubgold" in Schweizer Banken, über die tätige Kollaborationsbereitschaft in Frankreich oder Holland, über Schwedens Geschäfte mit der deutschen Rüstung oder ihn dazu, moralische Leitmotive zu schaffen, durch die uoter anderem politische und militärische Interventionen legitim wurden", D. Levy I N. Sznaider, Erinnerung im globaleo Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001, S. 149. " So die pointierte Formulieruog bei D. Diner, Der Holocaust in deo politischen Kulturea Europas: Etiuoeruog und Eigeotum, in: K.-D. Henke (Hrsg.), Auschwitz. Sieben Essays zu Gescheheo uod Vergegeowärtigung, Dresden 2001, S. 65·73, hier s. 71. " L. Biber, Die Neugestalnmg der KZ-Gedenkstärte Dachau. Aunäheruogen an einen historischen Ort, in: Die Zukunft der Vergangenheit, S. 65-86, hier S. 65. " Urspriinglich hatte Kohl dem amerikanischen Präsidenten zugleich auch einen Besuch der KZ-Gedenkstätte in Dachau vorgeschlagen, diesen Gedanken dann aber selbst wieder verworfeo. So markierte der Bitburg-Besuch .das endgültige Scheitern konservativer Versuche, die Holocaust-Erinnerung zugunsten von nationalpatrioti­ schen Argumentationsformen zurückzudrängen", ].H. Kirsch, "Wir haben aus der Geschichte. gelernt". Der 8. Mal als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln I Weinuu I Wien 1999, S. 93. Freilich klafften in diesem Fall öffentliche Reaktion und soziale Akzeptanz deutlich auseinander: Einer Alleosbach-Umftage zufolge hielten 1985 68% der Buadesbürger den Bitburg-Besuch für ein .schönes Zeichen der Versöhnung" und nur 12% für uopassend, ebd. Zu den Hintergriinden P ReicheI, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München I Wieo 1995, S. 280 ff.

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über den Österreichischen Willen zum Anschluß an das nationalsozialistische Deutschland zerstörten viele Mythen über die nationalen Grenzen von Gut und Böse. Eine kawn mehr zu überblickende und ständig weiter wachsende Zahl von Untersuchungen befaßt sich mit der erinnerungskulturellen und vergangenheits­ politischen Verarbeitung von Diktatur und staatlichem Terror im internationalen Vergleich, die die nationalsozialistische Gewaltherrschaft als eine unter anderen behandeln"' und den Holocaust nicht wegen seiner Einzigartigkeit, sondern wngekehrt wegen seiner Wiederholbarkeit zu einem .Ereignis von universeller Tragweite" erklären61• Erst mit der Befreiung aus dem Denkgefängnis einer nationalgeschichtlichen Zuordnungs- und Aufrechnungsmentalität, die in der Auseinandersetzung mit Weltkrieg und Holocaust die eigene Verantwortung mit dem Hinweis auf die Schuld .der anderen" zu relativieren suchte, wurde die gründliche Beschäftigung mit bislang tabuisierten T hemen möglich, wie etwa den alliierten Terrorhandlungen gegen die deutsche Zivilbevölkerung oder der Ermordung jüdischer Bürger durch ihre polnischen Nachbarn unter den Augen der deutschen Besatzung". Die den Golfkrieg von 1991 begleitenden Vergleiche zwischen Hussein und Hider und die während des Balkankrieges zur Rechtfertigung des NATO­ Einsatzes gezogenen Parallelen zwischen Srebrenica und Auschwitz münzten den geschichtskulturellen Trendwandel hin zu einer Universalisierung des

"' B. Gruppo I C. Schind/er (Hrsg.), Erinnerung an Diktatur und Verfolgung im internationalen Vergleich, Leipzig 2001; H. König IM. Kohlstruck IA. Wöll (Hrsg.), Ver­ gangenheitsbewältigung sm Ende des zwanzigsten Jahrhunderts (Leviathan Sonderheft, 18), Köln 1998. 61 .Der Holocaust war eine bestinunte Fonn von Genozid. Das macht ihn vergleich­ bar mit anderen Genoziden, und deshalb ist er ein Ereignis von universeller Tragweite. Er gebt alle Menschen an, da er nicht von einem Gott oder einem Teufel verursacht wurde, sondern von Menschen an Menschen. Er kann sich, wie alles Menschliche, wiederholen, natörlich nicht in derselben Form wie bei den Nazis. Andere Genozide haben ja seit 1945 immer wieder stattgefunden und finden statt", Y Bauer, Mord als Ziel. Der Holocaust war ein rein ideologisch motivierter Völkermord. Das macht ihn, trotz vieler andeter Genozide, einzigartig, in: Die Gegenwatt der Vergangenheit. Die Spiegel-Serie über den langen Schatten des Dritten Reichs, Spiegel Special, 1/2001, S. 30-35, hier S. 33.

" J. T Gross, Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001. 1n einem "Nachwort an meine deutschen Leser" gibt Gross allerdings zu erkennen, daß er sein Buch nicht vor der falschen Lesatt eines tradierten Denkens in nationalen Kategorien gefeit weiß: .So wäre es denn auch gelinde gesagt, vermessen, würde ein deutscher Leser die mörderische Grausamkeit des polnischen Pöbels in Jedwabne in irgendeinem Sinne als Endostung empfinden. Das Schicksal, das den europäischen Juden von ihren Miteuropäern bereitet wurde, sollte uns für alle Zeit eine grausige Mahnung sein. In der westlichen Zivilisation reichen die Wurzeln der gegenseitigen Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens wahrlich nicht tief. Wenn wir eine gemeinsame Zukunft haben wollen, müssen wir die Erinnerung an unser gemeinsames Versagen stetig wach­ halten", ebd., S. 123.

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Holocaust in politisches Argumentationskapital um. In diesen und anderen Fällen mutierte .Auschwitz" von einem singulären Menschheitsverbrechen in deutscher Verantwortung zu einem europäischen Anwendungsfall, wie etwa Bundesverteidigungsminister Scharping im Mai 1999 hervorhob: "Die inneren Wunden, die der Faschismus in Europa geschlagen hat, und die daraus gezogenen Konsequenzen begegnen uns bis heute. Sie gehören auch in den Begriindungszusammenhang der Aktionen gegen den Völkermord in Jugoslawien"". Auschwitz ist heute ein ortloser Etinnerungsort"64 und zugleich eine Metapher für das Böse der modernen Welt an sich undfelix culpa unserer Zeit, die als säkularisierte Form der erlösten Schuld als die gemeinsame Identität des neuen Europa verbürgt. Die Holocaust-Konferenz von 22 europäischen Regierungschefs in Stockholm Ende Januar 2000 läßt sich folgerichtig als Initialziindung einer .europäischen Etinnerungsgemeinschaft" deuten, in deren Zentrum die Vernichtung der europäischen Judenheit steht. Daß aber auch eine solche erinnerungspolitische Offerte ungewollt den Verwerfungslinien der europäischen Binnenteilung der Zeit nach 1945 folgt, lehrt eindrucksvoll das Aufsehen, das die ehemalige lettischen Außenministerin Sandra Kainiete im Frühjahr 2004 zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse mit ihrer Rede über KZ und GULag verursachte, als sie die die totalitären Regime des Nazismus und des Kommunismus .gleichermassen verbrecherisch" nannte65• •

Zu einem besonders sichtbaren Element dieser anf den Holocaust kon· zentrierten europäischen Erinnerungsgemeinschaft verspricht das von Peter Eisenman realisierte Holocaust-Denkmal im Regierungsviertel von Berlin zu werden66• Ausdrücklich als Mahnmal zur Erinnerung an die .Ermordung " Zitier nach M. Jeismann, Auf Wiedersehen Gestern, S. 33. Vgl. auch G. Jacob, Die Meraphem des Holocaust während des Kosovokrieges, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 15 (2000), S. 160·184, sowie H. Kühne, Rot·Grün als Retter vor einem neuen Faschismus. Wie Sehröder und Fischer mit der Vergaogenheit Politik machten, in: M. Agethen I E. ]esse I E. Neubert (Hrsg.), Der mißbrauchte Antifaschismus. DDR·Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Unken, Freiburg I Basel I Wien 2002, S. 354·360. 64 P. Reiche/, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS·Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 209. Vgl. auch ders., Auschwitz, in: H. Schulze I E. Franf')is (Hrsg.), Deutsche Etionerungsorte, 3 Bde., Müncheo 2001, hier Bd. 1, S. 600·621.

65 R Herzinger, Geteilte Etionerung, in: Die Zeit, 1. April2004. Zum etiunerungs­ politischen Ost-West-Gefalle und die .asynunettische Erinnerung" vgl. auch J. Güntner, Unkennmis und ungleiches Gedenken. Gulag und Holocaust- Nachbetrachrungen zum Eklat von Leipzig, in: Neue Zürcher Zeitung, 3. April2004. 66 Zur Entwicklung der Mahrunalprojekts von seiner ersten Vorstellung 1988 bis zur schließliehen Einigung des Deutschen Bundestags auf den ( dritten) Entwurf von Peter Eisenman am24. Juni 1999: F. von Butt/ar I S. Endlich, Das BerlinerHolocaust-Denkmal. Ablauf des Wettbewerbs und Stand der Diskussion, in: Akademie der Künste (Hrsg.), Denkmale und kulturelles Gedächmis nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation.

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der europäischen Judenheit" konzipiert, hat es einen quälend langen, von tiefer Unsicherheit über den angemessenen Umgang mit der nationalso­ zialistischen Vernichtungspolitik geprägten Weg der geschichtspolitischen Auseinandersetzung um das Für und Wider durchlaufen müssen, um schließ­ lich in einen relativen gescbichtspolitischen Konsens zu münden, der bewußt davon absieht, daß die Verfolgten eben nicht nur Juden waren, sondern sich auch und vielleicht sogar in erster Linie als jüdische Polen, Russen, Franzosen oder Holländer verstanden".

Iv. Die Grenzen der Europäisierung

Geschichtskulturelle Achsenverschiebungen vollziehen sich nicht rei­ bungslos. Die nicht zuletzt generationell ausgetragene Differenz zwischen nationalgeschichtlicher und postnationaler Sicht tritt offen zu Tage, wenn die kollektive Erinnerung der Zeitgenossen nicht mit dem öffentlich sanktionier­ ten Bild zusanunenpassen will, daß sich die Nachwelt macht. Die Jahrestage des Kriegsendes von 1945 sind ein solches Erinnerungsdatum, an dem dieser Gegensatz in Erscheinung tritt. Über mehr als ein Vierteljahrhundert hinweg wurde der 8. Mai in der Bundesrepublik, die staatsrechtlich die Nachfolge des .Dritten Reiches" angetreten hat, wie selbstverständlich als Tag der Kapitulation bewertet. Dies stand -wie oft übersehen wird -durchaus im Einklang mit der Sprachregelung der alliierten Siegermächte, die einer kollektiven Flucht vor der Verantwortung mit der amerikanischen DirektiveJCS 1067 vom 26. April1945 entgegentraten, der zufolge Deutschland nicht zum Zweck seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat besetzt werde. Erst mit dem allmählichen Eintritt des Ereignisses in das kulturelle Gedächtnis einer nachgeborenen Generation wurde das Datum der Niederlage zögerlich zugleich auch als Tag der Befreiung verstanden - eine Etikettierung, die nicht zuletzt damit belastet war, daß sie eine in der DDR geltende Sprachpraxis aufnahm. Es dauerte bis 1985, bis ein deutscher Bundespräsident-Richard von Weizsäcker-diese Sicht Dokwnentation der internationalen Fachtagung vom 18. bis 22. November 1998 in Berlin, Berlin 2000, S. 305-328.

67 Wie weit diese Entnationalisierung gehen kann, demonstrierte Jean-Fran�ois Forges am Beispiel der vergessenen Opfergruppe nicht-jüdischer Franzosen in Auschwitz: .zum Beispiel ist es in Frankreich kawn bekannt, daß 4.500 nichtjüdische Franzosen in Auschwitz interniert, mit einer Nummer versehen und tätowiert wurden. Die mei­ sten von ihnen sind tot. Sie dürfen dermach nicht vergessen werden. Nach eigenem Bekunden werden die nichtjüdischen Ü berlebenden von den meisten Menschen sters für Juden gehalten, wenn sie ihre Tätowierung aus Auschwitz sehen", ].-F. Forges, Über die Lager und die Shoab: Gedächtnis und Geschichte, in: B. Sauzay IR. von Thadde n (Hrsg.), Gedenken im Zwiespalt. Konflikdinien europäischen Etinnerns, Göttingen 2001, S. 109-116, hier S. 105.

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mit staatlicher Weihe versah, zum Urunut vieler Konservativer, die mit Alfred Dregger keinen Sinn darin sahen, einen Tag der nationalen Schmach auch noch öffentlich zu begehen". Bis heute ziehen sich die Auseinandersetzungen zwischen beiden Interpretationen zu jedem Jahrestag des 8. Mai durch die Leserbriefspalten der deutschen Tageszeitungen, wenngleich die verstörten und empörten Wortmeldungen der historischen Beteiligten naturgemäß mehr und mehr verstummen, die keine Brücke zwischen dem von Massentod und Kriegsgefangenschaft geprägten Empfinden der eigenen Niederlage und der aus europäischer Perspektive erwachsenden Gegendeutung als Befreiung von der nationalsozialistischen Weltgeißel zu schlagen vermögen. Das allgemeine Problem hinter diesem Beispiel liegt in der paradigmatischen Differenz zwischen Zeugnis und Interpretation, also in der Kluft zwischen dem nationalen Begriindungskontext historischer Ereignisse und ihrer europäischen Deutungsperspektive in unserer Zeit. Diese Kluft ist das tägliche Geschäft des Historikers; zum Problem wird sie vor allem, wo die Vergangenheit in Gestalt von Erinoerungsorten und Zeitzeugenäußerungen unmirtelbar in die Gegenwart ragt. Selbst ein so entschiedener Repräsentant der europäischen Verstiindigung wie Rudolf von Tbadden zeigt sich überzeugt, daß eine .Internationalisierung des historischen Gedächtnisses, der ,memoire historique', ... nicht unbegrenzt möglich" sei; die Nation werde als .Erinoerungsgemeinschaft" ihre zentrale Bedeutung auch in der Zukunft bewahren". Ist das so gewiß? Für eine solche Vermutung scheint inunerhin der große Publikumserfolg zu sprechen, den Hagen Schulze und Etienne Fran�is mit ihrem Versuch erzielten, Pierre Noras Konzept der .lieux de memoire" auf den deutschen Fall zu übertragen". Bemerkenswerterweise aber verbirgt sich hinter dem scheinbar streng nationalgeschichtlichen Titel .Deutsche Erinnerungsorte" eine bewußt offen gestaltete Anthologie historischer Topoi, die mit dem .Kampf um Rom" und .Kar! der Große- Charlemagoe" anhebt und mit .Beethovens Neunte[r]" abschließt. Die ausgewählten Erinoerungsorte finden sich zu Stichwörtern gruppiert, die in Gestalt von .Reich" und "Volk" einem prononciert nationalgeschichtlichen Narrativ folgen, mit anderen wie .Zerrissenheit" und .Schuld" oder .Revolution" und .Modeme" aber eher gesamteuropäische Schnittstellen markieren. Folgerichtig verstehen die

68 P. Reichet, Politik mit der Erinnerung, S. 290 ff. Die Geschichte des 8. Mai als Gedenktag zeichnet nach J..ß. Kirsch, Wir haben aus der Geschichte gelernt". •

69 R von Thadden, Deutschland ist nie allein. Gedanken zur deutschen Identität in Europa, in: B. Sauv:ry IR. von Thadden (Hssg.), Europäische Integration- deutsche Desintegration?, Görringen 1997, S. 85·94, hier S. 93. Ähnlich kritisch gegenüber der "'Europäizität' von Erinnerungsorten": ]. Dül/ler, Europäische Zeitgeschichte Europäische Zeitgeschichte Narrative und historische Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, I (2004), S. 51·71, hier S. 67 ff. ·

70 H. Schulze I E. FranfOiS (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte.

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.Deutschen Erinnerungsorte" Deutschland nicht als geschlossenes Ganzes oder mythischen Körper, sondern als in seinen Grenzen diffuses Austragungsfeld einer Spannung zwischen Nationalität und Europäizität71, und sie folgen darin Jöm Rüsen, der als Kernelemente eines .europäischen Geschichtsbewußtseins" einen prozessualen und dezentralen Traditionsbaushalt historischer Gemeinsam­ keiten in einem europäischen Kommunikationszusammenhang verstanden wissen will"_

V. Die Kraft der historischen Umdeutung

Nun unterscheidet sich die Historie von anderen Disziplinen der intellek­ tuellen Verständigung darin, daß sie an die Vetokraft der Quellen gebunden ist. Welch geringen Widerstand aber zuntindest die baulichen Zeugnisse der Vergangenheit der historischen Verständigung einer Nachwelt entgegenzusetzen vermögen, lehrt nicht nur die alltägliche Zerstörung historischer Bausubstanz, sondern vielleicht mehr noch ihr rekonstruierender Erhalt. Um eine nationalge­ schichtliche Totengedenkstätte wie die Neue Wache in Berlin mit einem über Zeit und Ort hinausweisenden Totenmal auszustatten, ließ die Bundesregierung in den neunziger Jahren die beriihmte Pietil von Kätbe Kollwitz in vierfacher Größe nachschaffen, um sie im Maßstab an die Formensprache des nationa­ len Totenkults anzugleichen. Als der englische Architekt Norman Poster in Vorbereittmg des Regierungsumzugs nach Berlin den 1933 ausgebrannten Reichstag rekonstruierte, wählte er bewußt eine Kuppelform, die sich von der wilhelminischenTradition prononciert absetzte. Der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche wird zum 60. Jahrestag ihrer Zerstörung mit der Übergabe des .Nagelkreuzes von Coventry" gewürdigt und macht so unter Verzicht auf eine nationalgeschichtlich geprägte Differenzierung und Hierarchisierung im Sinne von deutscher Aggression und alliierter Reaktion die supranatio­ nale Leiderfahrung und den europäischen Triumph über die Zerstörung zur entscheidenden Botschaft des wiederentstandenen Gotteshauses, das am 71 "Vor allem aber sollte Deutschland nicht in sich geschlossen beschrieben werden, wie Nora dies im Falle Frankreichs tut, sondern wir denken uns Deutschlsnd zu seinen Naehbarn und naeh Europa hin geöffner- nieht nur wegen der dauernden Buktnationen der Grenzen und der Siedlungsräume, sondern aueh wegen der Vielfalt der Regionen und Orte, in denen überJahrhunderte hinweg Deutsehe und Nieht-Deutsche miteinander lebten. Im übrigen sind wir der Meinung, daß . . . die Polarirät zwisehen dem ,europäischen Deutschland' und dem ,deutsehen Europa' zu den dauerhaften Merkmalen der deutseben Geschlehte gehört", H. Schulze I E. Franfois, Einleitung, ebd., Bd. 1, S. 9-24, hier S. 19.

72 J. Riisen, Europäisehes Geschiehtsbewußtsein. Vorgaben, VISionen, Interventionen, in: ders., Kann Gestern besser werden? Essays zum Bedenken der Geschiehte, Berlin 2003. s. 91-106.

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30. Oktober 2005 in einem feierlichen Gottesdienst geweiht und als "Werk der Versöhnung und Mahnung zum Frieden" gewördigt wurde". Nicht weniger deutlich zeigt sich die Kraft einer historischen Umdeutung in europäischer Perspektive in Potsdam. Dort steht seit der deutschen Vereinigung 1990 der Wiederaufbau der 1945 teilzerstörten und 1968 abgetragenen Garnisonkirche zur Diskussion, die als Grablege Friedrich Wtlhelms I. und seines Sohns Friedrichs des Großen wie kein anderes Bauwerk für eine preu­ ßische Tradition in der Verschränkung von Gläubigkeit und Machtbewußtsein stand. Die bauliche Vernichtung der Kirche bedeutete zugleich den Auftakt zu einer historischen Wiederbelebung der Spannung zwischen nationalgeschieht­ lieber und europäischer Perspektive. Den einen Pol markiert eine national­ konservative Gedächmispflege, die für die Rekonstruktion des historischen Glockenspiels sorgte, das nach der deutschen Vereinigung 1990 in Potsdom nahe der alten Garnisonkirche aufgestellt wurde74•

In eine andere Richtung wies eine Willenserklärung der Potsdamer Stadt­ verordnetenversammlung, die im Oktober 1990 den Abriß von 1968 zu einem .Akt kultureller Barbarei" erklärte, mit dem "der Stadt Potsdom eine archi­ tektonische Meisterleistung von europäischem Rang verloren" gegangen sei. Hier klingt zum ersten Mal die Idee einer historischen Neudeutung an, die auf europäische Gemeinsamkeit statt auf nationale Einzigartigkeit setzte und den kunsthistorischen Rang des Bauwerks in den Vordergrund stellte statt den machtpolitischen. Die unterschiedlichen Sichtweisen prallten in der Frage nach dem anzustrebenden Authentizitätsgrad der wiederaufzubauenden Kirche aufeinander. Ein konservativ ausgerichteter Förderverein, der einen Großteil der veranschlagten Summe für die Rekonstruktion bereits gesammelt hatte, verlangte einen.originalgetreuen Wiederaufbau des Turms"- also einschließlich der historischen Wetterfahne, die einen preußischen Adler mit der Umschrift .non soll cedit" zeigt. Dagegen hielt die evangelische Landeskirche, die den Bau trotz gesicherter Finanzierung erst beginnen wollte, wenn auch äußerlich 73 .Ein Werk der VersöhnWJg und Mahnung zum Frieden." Dresdner Frauenkirche geweiht. Zehntausende verfolgten Zeremonie unter freiem Himmel, in: Fraokfurter Allgemeioe Zeitung, 31. Oktober 2005. 74 Bei der Übergabe 1987 fand der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maiziere, unter Bezug auf die Verse des Glockenspiels "Üb' inuner Treu und Redlichkeit und weiche keioen Finger ab von Gottes Wegen" folgende Worte: "Wir haben uns heute versammelt, um Zeuge zu sein, wie dem dank persönlicher Initiativen und zahlreicher Spenden neugeschaffenen ,Potsdamer Glockenspiel' eio vorläufiger Platz in eioem Truppenteil der Bundeswehr zugewiesen wird ... Wenn wir also in diesem Glockenspiel mehr als eioe historische Erinnenmg sehen wollen, ihm vielleicht Symbolkraft für die Tradition in der Bundeswehr zu unterlegen bereit sind, dann sollten wir die dem vertrauen Ton unterlegten Worte dem Aufrrag der Streitkräfte gemäß auslegen", U. de Maiziere, Ansprache anläßlich der Übergabe des Potsdamer Glockenspiels an das Fallschirmjägerbataillon 271 in Iserlohn am 17. Juni 1987.

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eine Mißdeutung des historisch belasteten Ortes ausgeschlossen werde. Diese Voraussetzung siebt sie erfüllt, wenn die wiederaufgebaute Kirche als .intema· tionales Versöhnungszentrum" genutzt und an der Wetterfahne der umstrittene Adler ebenfalls durch ein .Nagelkreuz als Friedenssymbol" nach dem Vorbild der Kathedrale von Coventty ersetzt wird. Die Ironie besteht darin, daß die nicht· kirchliche Traditionsgemeinschaft die rein kirchliche Nutzung der originalgetreu wiederhergestellten Garnisonkirche forderte, um ihre nationalgeschichtliche Deutung der Vergangenheit funktionell und architektonisch zu beglaubigen", während die Kirchenseite eine rein kirchliche Nutzung gerade ablehnt und ein von einem europäischen Friedenssymbol gekröntes Versöhnungszentrum errichtet wissen will. Nicht zufällig scheint sich mittlerweile die Idee eines auf Versöhnung im europäischen Geist gestimmtes Konzeptes durchgesetzt zu haben, nachdem der Traditionsverein einem Kompromißvorschlag zustimmt hatte, der den Erinnerungsort in eine zugleich nationale und europäische Dimension zu rücken erlaubt: Die "Garnisonkirche soll wieder erstehen, weil ihre posi tive Symbolbedeutung zeidos gültig bleibt und deswegen in die Zukunft Deutschlands und der europäischen Einigung weist"". Um die europäische Integration des nationalen Gedächtnisses durch kein Mißverständnis zu belasten, wird die Garnisonkirche nach ihrer Wiedererrichtung innerlich und äußerlich von einer europa-konformen Vergangenheit zeugen. Im April 2002 beschloß die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung mit klarer Mehrheit und unter Einschluß der PDS die Errichtung eines Versöhnungszentrums im historischen Kleid der barocken Garnisonkirche, beglaubigt durch ein Nagelkreuz, um dessen Standort in der Kirche oder auf ihrem Turm noch diskutiert wird. ·

Das Beispiel der Garnisonkirche zeigt bis in ihr Bauschicksal hinein, wie stark geschichtliche Erinnerungsorte unabhängig von sakraler Funktion oder kunstgeschichtlichem Rang durch die Wirkungsmacht historischer Narrative geprägt werden. Die Diskussion um den Wiederaufbau führt eine Tradition der historischen Vereinnalunung weiter, von der sie sich gleichwohl in doppelter Hinsicht unterscheidet: Zum einen ist sie nicht auf den Bereich gezielter staats· oder parteipolirischer Vergangenheitsherrschaft beschränkt, sondern stellt einen Ausdruck der gegenwärtigen Geschichtskultur insgesamt dar; in ihr spiegelt sich die Verfassung des historischen Gedächtnisses der deutschen Gesellschaft nach 1989. Zum anderen macht die historische Europäisierung in gewisser Hinsicht auch vor der Vetokraft des historischen Zeugnisses nicht halt. Ihre Kraft gebt " .Sie soll äußerlich ihre barocke Form einschließlich der historischeo Wetterfahne zurückerhalteo uod ein Ort der Ökumeoe uod der Ionereo Mission sein, in der auch die Militärseelsorge ihreo Platz hat. Wo Kirche drauf steht, muß auch Kirche drio sein; dabei ist der Dreieinige Gott das Koozept", Traditionsverein Potsdamer Glockeospiel e.V., Rundbrief Dezember 2001. " Ebd.

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im Ernstfall über die geschichtspolitische Umdeunmg hinaus und greift in die

vergangenheitspolitische Neugestaltung geschichtlicher Überreste eiu. Ziehen wir eiu Fa2it: In Deutschland wie auch anderswo in Europa läßt sich eiue allmähliche und stetig fortschreitende Ablösung des nationalge· schichtliehen Paradigmas durch eiue europäisierende Meistererzählung beob­ achten, die geschichtskulturelle, ja selbst fachwissenschaftliche Reserven gegen eiue historische Sinnstiftung in europäischer Absicht unter sich zu begraben anschickt. Daß der gegenwärtig vorherrschende Europa-Begriff weder geographisch noch kulturell eiudeutig faßbar ist und sich obendreiu in seiuer mangelnden Trennschätfe je nach Kontext mit Globalisierung und Universalisierung oder mit Verwestlichung und Amerikanisierung nahezu decken kann, spielt demgegenüber keine wesentliche Rolle. Selbst eiue so konservative Einrichtung wie die Konrad-Adenauer-Stiftung bot im Programm 2/2002 unter dem Titel .Meilensteiue europäischer Identität auf dem Weg in die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts" eiue Veranstaltungsreihe an, die von der Gesellschaftskonzeption im Reich Karls des Großen über Friedrich den Großen als .Pluralisierungs-Vordenker oder Expansionsnachdenker" zu Otto von Bismarck als .,Lotse' in schwietiger Zeit" und dem Nationalsozialismus als .Prototyp der Diktatur" reichte, um schließlich die Reihe der Meilensteiue auf dem Weg zur europäischer Identität mit der friedlichen Revolution in der DDR abzuschließen. Es wäre ganz vetfehlt, hier alleiu die suggestive Kraft staatlich verordneter Geschichtspolitik zu vermuten, wenngleich der Nutzen eiuer Entlastung von eiuer drückenden Vergangenheit durch deren Verteilung auf gesamteuropäische Schultern auf der Hand liegt77• Der hier proklamierte Abschied von der Nation als historischem Bezugsrahmen ist vielmehr das gesamtgesellschaftliche Projekt eiues in seiuer staatlichen Identität aufgrund seiuer föderalen Tradition und seiuer beson­ ders katastrophalen Geschichte in besonderem Maße für eiue postnationale Identitätssuche offenen Landes". Die historische Europäisierung erweist sich 77 Hierzu I. Eschenbach, Nationale und postnationale Sprachen des Gedenkens. Theologisierong und Aothropologisierung nach der deutschen Einheit, in: Gedenkstätten­ Rundbrief, 95 (2000), S. 3-10. " Daß im Zeichen Europas freilich auch jahrzehntelang tabuisierte Vertreibungs- und Vernichtungserfahrungen im europäischeo Osten oime nationale Zurechoungskategorien kommunizierbas werdeo, demonstrierte beispielhaft ein Treffeo der drei Literarumobe lpreisträger Günter Grass, Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska im Oktober 2000 in Vllnius, das dem gteoZübergreifeoden Nachdenken über die Zukonft der Erinnerung gewidmet was: "Wie künnen augesichts der überaus leidvollen Erfahrungen im zwanzig­ steoJahrhuodert Litauer, Poleo und Deutsche in der nun gewonoeoen Freiheit bestehen? Soll man sich dabei für die Strategie des Vergesseos entscheiden, um nach den bitteren Erfahruogeo von Diktaturen den Weg für eine versöhnliche Zukunft freizumachen? Geht das überhaupt? Oder liegt die Chance für die Zukunft nicht vielmehr in einer kritischen, aufklärerischeo Eriunerungsbemühung, damit Friede und Freiheit eine

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als ein Entwicklungstrend von paradigmatischer Kraft, der die staatliche Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit ebenso erfaßt wie die gegen­ ständliche Konservierung oder Rekonstruktion historischer Überreste oder die Gedenkstättenkultur und nicht anders auch die Geschichtswissenschaft. Es wäre falsch, diese Entwicklung nur als neue Instrumentalisierung der Vergangenheit zu sehen. Wie jeder Paradigmenwechsel trägt sie ihre eigene Plausibilitäts- und Legitimationskriterien in sich selbst, und indem sie das historische Gedächtnis reorganisiert, legt sie mindestens ebenso viele bislang verschüttete Wege zur Vergangenheit offen, wie sie auf der anderen Seite auch wieder verlegen wird.

Chance haben? Die Frage nach der Zukunft der Erinnerung in unseren Ländern ist im Kern auch die Frage nach der Zukunft Europas", M. Wälde, Das Treffen von Vllnius, in: G. C.ass I C. Milosz I W. Szymborska I T Vene/ova, Die Zukunft der Erinnerung, Göttingen 2001, S. 9-23, hier S. 18.

Angst vor Deutschland Wie man mit der Germanophobie Geopolitik macht* Von Lucio Caracciolo

I. Die Frucht der Angst Ohne die Angst vor Deutschland hätten wir heute keine Europäische Union. Doch solange wir die Angst vor Deutschland nicht völlig überwinden, werden wir Europa nicht aus den Untiefen herausmanövrieren können, in die es nach Moastricht geraten ist. Das Europa des Euro ist nämlich die Frucht einer Vorstellung von Inte­ gration, die auf eine Eindämmung Deutschlands abzielt; und zugleich mar­ kiert es die äußerste Grenze, die einer solchen Konzeption gesteckt ist. Ein Europa, das weiß, was es nicht ist: ein geopolitisches Subjekt; das weiß, was es nicht will: unter der Vorherrschaft Deutschlands oder irgendeiner anderen Kontinentahnacht enden; das aber noch nicht weiß, was es sein will. Mehr noch: es stemmt sich dagegen, es zu wissen. Für Europas Staatsmänner ist es tabu, darüber zu diskutieren. Das geht so weit, daß der deutsche Außenminister Joschka Fischer, als er bei seiner Rede über die .Finalität" der Europäischen Union am 12. Mai 2000 in der Berliner Humboldt-Universität diese Regel zu brechen wagte, meinte, dies als .Privatbürger" tun zu müssen'. Dieses Europa kommt also nicht weiter. Wenn wir nicht das Integrationskriterium ändern, macht es wahrscheinlich sogar Rückschritte. Von der .inuner engeren Union" zur "immer laxeren Union"2. Der Westen jener langen Friedenszeit, die besser unter dem Namen .Kalter Krieg" bekannt ist, ist aus zwei Ängsten entstanden: in erster Linie der Angst vor Sowjetrußland; aber auch der vor Deutschland. Lord Ismay hatte den Sinn der NATO einst auf die glänzende Formel gebracht: .to keep the Americans *

Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt.

'

J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität

der europäischen Integration, am 12. Mai 2000 in der Berliner Humboldt-Universität gehaltene Rede. 2 Der Vertrag über die Europäische Union" verpflichtet die .Hohen Vertrags­ partner" dazu, auf eine "immer engere Union der Völker Europas" hinzuw:irken, Titel 1: Gemeinsame Bestimmungen, Artikel A. •

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in, the Russians out and the Germans down". Und diese Devise läßt sich auch auf die Europäische Gemeinschaft anwenden. Vor allem, wenn man sie mit der Formel eines anderen britischen grand commis, Sir William Strang, ver­ bindet, für den schon im März 1943 das Schicksal des Kontinents klar auf der Hand lag: Besser, Rußland beherrscht Osteuropa, als Deutschland beherrscht Westeuropa. Unser Europa ist das Kind von Truman und Churchill, mehr noch als das Schumans, Monnets, De Gasperis oder Adenauers, und wäre es nur aufgrund der Machtverhältnisse zwischen beiden Seiten des Atlantiks. Nicht, daß der amerikanische Präsident und der britische Premier Anhänger des Europagedankens gewesen wären. Aber dafür hatten sie eine bestimmte Vorstellung von Westeuropa. Das anglo-amerikanische Interesse war darauf gerichtet, aus der "freien" Hälfte des Kontinents ein geopolitisches Ganzes zu bilden, mit dessen Hilfe die Sowjetunion eingediimmt werden sollte. Ein Plan, den Franzosen, Italiener, Niederländer und andere Europäer nur teilen konnten, die einen (die Franzosen) mit einigen Vorbehalten, die anderen (wir Italiener und die übrigen) mit größerem Enthusiasmus. Westdeutschland war aus dieser Sicht ein halber Satellitenstaat, der um so mehr unter Konttolle zu halten war, als er das äußerste Bollwerk gegen die gefürchtete sowjeti­ sehe Aggression bildete. Die europäische Germanophobie wurde durch die Amerikaner also stark gediimpft. Gleichsam spiegelsymmetrisch definierte sich das gegnerische Lager über eine antiamerikanische bzw. antideutsche Haltung. Nach dem Sieg gelangte Stalin zu der Überzeugung, daß ein geeintes Deutschland in 15 bis 20 Jahren wieder zu einer Bedrohung werden würde. Dies war der Grund für die Entscheidung, einen kleinen Teil (Königsberg) zu annektieren, einen Großteil der östlichen Reichsgebiete Polen zuzuschlagen und die mittleren Regionen (die DDR) indirekt zu verwalten; offen gelassen wurde dabei die Perspektive eines auf der Basis der Neutralität geeinten oder eines sogar vollständig dem sowje­ tischen Einflußbereich einverleibten Deutschland. Das sowjetische Pendant zur Doktrin von Strang und Ismay findet sich in dem Ausspruch, mit dem Breschnjews Bevollmächtigter in Ostberlin, Abrassimow, sich 1971 an die Botschafterkollegen der drei westlichen Siegermächte wandte: .Ihr haltet eure Deutschen unter Kontrolle, und wir halten unsere unter Kontrolle". Zu verhin­ dern, daß Deutschland zum Feind überging, hatte für beide Lager Priorität. Am besten ließ sich dies dadurch gewährleisten, daß man es teilte. Russophobie und Germanophobie prägten und prägen zu einem guten Teil bis heute das kollektive Gedächmis der Völker, die dem Imperialismus eines der beiden Länder zum Opfer fielen. Ob Russen oder Franzosen, Italiener oder Polen, Niederländer oder Tschechoslowaken - was die Europäer auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nach dem Zweiten Weltkrieg miteinander ver-

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band, war im Grunde die noch frische Erfahrung des deutschen Jochs. Denn an jene "Vereinigten Staaten von Europa", die-wollte man der deutschen Presse Glauben schenken-im Spätnovember des Jahres 1941 .endlich Wirklichkeit geworden" waren, war niemand so nahe herangekommen wie Hitler. Und heute? Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Angst vor Rußland den Sdbstmord der UDSSR fast ausschließlich in ihren ehemaligen Satellitenstaaten und - was wichtiger ist - in der mittdeuropäischen Diaspora Amerikas und anderen westlichen Ländern überlebt. Im Ansturm der ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts auf die NATO (sprich: Amerika) - noch mehr als auf die Europäische Union- spiegdt sich die Angst, Moskau könne eines Tages wieder zur Bedrohung, zumindest aber zum Hemmnis werden (ein Tag, der durch die Ereignisse nach dem 11. September und durch den geopolitischen Aktivismus Purins gar nicht so weit entfernt scheint), und das Bewußtsein, daß niemand, von vereinzdten Exzentrikern abgesehen, eine solche Rossophobie teilt - weder in Paris oder London, noch in Rom oder Madrid. Schlimmer noch: nicht einmal in Berlin. Die Germanophobie jedoch geht in einer gemilderten, aber zählebigen Form nach wie vor in allen erwähnten Kapitalen um (ja, auch in Berlin). Nach '89 ist sie wieder zutage getreten wie ein Karstfluß, aufgetaucht aus dem Schoß geopolitischer Korrektheit, wo sie in den Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts gebändigt und bagatdlisiert worden war. In den Zeiten des langen Friedens hatte sich die Unduldsamkeit gegenüber den Deutschen lange auf den Sport beschränkt (man denke an gewisse Fußballspide zwischen Deutschland und den Niederlanden oder zwischen Deutschland und England), auf die smoking Iounges der Londoner Klubs und auf die Salons der Rive Gauche. Bei der politischen Elite zeigte sie sich öffentlich nur flüchtig in Gestalt des einen oder anderen improvisierten Aper�s .more britannico sive gallico". Ganz außergewöhnlich war im September 1984 Andreottis öffentliches Eintreten für die Existenz zweier deutscher Staaten, das eine vorübergehende Krise in den deutsch-italienischen Beziehungen heraufbeschwor. Andreotti gab sich über die Reaktion Bonns erstaunt. Er verteidigte sich mit dem Hinweis, er habe lediglich ausgesprochen, was die anderen europäischen Staatschefs dachten. Und das war die Wahrheit. Nach dem Kalten Krieg hatten die heftigsten Äußerungen von Germano­ phobie natürlich mit der völlig unerwarteten Wiedergeburt eines deutschen Nationalstaates (1990) zu tun. Obwohl er der kleinste gesamtdeutsche Staat in der historischen Reihe der Monarchien und der Republiken von 1871 bis heute ist, haben die europäischen Medien (und nicht nur sie) ihn sogleich "Großdeutschland" getauft. Diese Bezeichnung verrät, daß hier der Gegenwart in einem semantischen Kurzschluß die geopolitischen Vorstdlungen einer (freilich nicht allzuweit zurückliegenden) Vergangenheit übergestülpt wurden.

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Viele führende Politiker Europas fürchteten, die neue Bundesrepublik könne zu .groß" werden, um sich noch von der Europäischen Union "bändigen" zu lassen. Der Vergleich bezog sich also nicht auf die früheren gesamtdeutschen Staaten, sondern auf die gegenwärtigen europäischen Staaten, in deren Balance nun der neue deutsche .Koloß" einbrach. Die europatreuen Bekenntnisse Kohls und fast der gesamten deutschen Führungsschicht reichten nicht aus, um so tiefsitzende Befürchtungen - Phobien eben - zu beschwichtigen. Der Germanophobe gründet seine Ängste auf den angeblichen deutschen Nationalcharakter. Mit den Worten der damaligen britischen Premierministerin, Margaret Thatcher: .Allerdings glaube ich an einen Nationalebarakter, der durch eine Reibe komple­ xer Faktoren geprägt ist. Dem tut auch die Tatsache, daß Karikaturen zum Wesen eines Volkes oft absurd und überzogen sind, keinen Abbruch. Seit der Einigung unter Bismarck hat Deutschland - vielleicht zum Teil deswegen, weil die nationale Einheit so spät erfolgte - stets auf unberechenbare Weise zwischen Aggression und Selbstzweifeln geschwankt. Die unmittelbaren Nachbarn, zum Beispiel die Franzosen und die Polen, sind sich dessen eher bewußt als die Briten, von den Amerikanern ganz zu schweigen. Jedoch hält eben diese Sorge die unmittelbaren Nachbarn der Deutsehen auch oft davon ab, klar Stellung zu beziehen, weil dies verletzend wirken könnte. Auch die Russen sind sieh dieser Problematik schärfstens bewußt; ihr Bedarf an deutschen Krediten und Investitionen veranlaßt sie allerdings zum Stillschweigen. Vielleicht sind aber die ersten, die das ,deutsche' Problern erkennen, die aufgeschlossenen Deutschen selbst, von denen die große Mehrheit überzeugt ist, daß Deutschland keine Großmacht werden darf, welche sieh auf Kosten anderer Geltung verschafft. Der wahre Ursprung der deutschen Angst [im Original deutsch] ist die Qual der Selbsterkenntnis"'.

Das Mißtrauen gegen den Nationalcharakter der Deutschen betrachtet in seiner radikalsten Ausprägung Hider als extremes, aber nicht letztes Exemplar einer dämonischen Ahnenreihe, die spätestens mit Friedrich 11. von Preußen, wenn nicht gar mit Arminius beginnen soll. Der Germanophobe gehorcht -wie der Russophobe oder jeder andere, der ein Volk aus Prinzip verabscheut- einem rassistischen Vorurteil. Er beurteilt den Anderen nicht danach, was dieser ist, tut oder sagt, sondern nach dem Blut. In den allermeisten Fällen ist dieser Rassismus in Gestalt einer Völkerpsychologie ziemlich "weich". Wir Italiener wissen, wovon wir sprechen. Wenn er von hinreichend klugen politischen Führern unter Kontrolle gehalten und auf geopolitische Ziele gelenkt wird, kann er beeindruckende Gebilde hervorbringen, wie eben das Westeuropa der Jahre 1948 bis 1990. Unter weniger giinstigen Rahmenbedingungen kann er für Haßkampagnen, Pogrome, ethnisch begründete Massaker instrumen-

' M. Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, München I Düsseldorf 1993, S. 1095 (Originalausg.: The Downing Street Years, London 1993).

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talisiert werden - wie auf dem nicht mehr durch den Druck des bipolaren Gleichgewichts zusammengehaltenen Balkan. Im Unterschied zur Russophobie, die sich immer explizit und oft grob äußert, kleidet sich die Germanophobie gerne - wie ebenfalls von Margaret Thatcher bemerkt - in die Farben scheinheiligster Germanophilie. Vor allem in Frankreich hat der Kult des .deutsch-französischen Paares", gefördert im Namen der Staatsraison von Profis der akademischen Germanophilie (ein Name stehe für alle: Alfred Grosser), eine deutsch-französische Freundschafts­ industrie entstehen lassen, die einen zweifelhaften Einfluß auf die öffentliche Meinung und fragwürdige geopolitische Auswirkungen hat. Dennoch schläft das Paar- wie dies bei Vernunftehen oft geschieht - weiterhin in demselben Bett, träumt aber von verschiedenen Europas.

IT. Von Arminius zu Kohl und zurück Auch wenn sich Germanophobie aus einer gemeinsamen Quelle speist, läßt sich in vollkommen unterschiedlicher Weise von ihr Gebrauch machen. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die Frage, welche geopolitischen Konsequenzen zwei spezifische Ausprägungen der .Angst vor Deutschland" haben, die französische und die britische, ohne dabei eine dritte, ganz ein­ zigartige Germanophobie aus dem Blick zu verlieren, nämlich die deutsche. Die drei Länder sind die Protagonisten des auf den Maastrichter Vertrag basierenden Integrationsprozesses (das Abkommen wurde am 7. Februar 1992 unterzeichnet und trat am 1. November 1993 in Kraft), und sie spielten eine entscheidende Rolle insbesondere bei den Umwälzungen zwischen der Öffnung der Berliner Mauer (9. November 1989) und dem Start des Euro in elf Staaten (1. Januar 1999). Bevor wir eine historische Deutung jenes Jabrzelmts in Angriff nehmen können, sollten wir versuchen, einige Besonderheiten der erwähnten Spielarten von Germanophobie zu verstehen. Bezweckt wird damit keine Soziologie oder gar Psychopathologie der .Angst vor Deutschland". Es geht hier lediglich darum, inwieweit sie die geopolitischen Vorstellungen und Pliine der politisch­ intellektuellen Eliten beeinflußt. Um Entwicklungslinien und Schattierungen dieser Phobie zu erfassen, muß man sie vor der Folie des gemeinsamen Erbes an negativen Stereotypen sehen, die oft bis zu den U rspriingen unserer Geschichte zurückführen, bis zum Aufeinandertreffen von Römern und Germanen, von Römern und Barbaren, wie der Germanophobe sagen wörde. Hier haben wir die drei Ffeiler der Dämonisierung Deutschlands: die Diachronie ist das Mittel; der Zweck ist die Verdammung des deutschen .Primitivismus" (oder der .Unkultur") und der

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deutschen .Kriegslüstemheit" -mit ihrer geopolitischen Konsequenz, dem .Pangermanismus" -, die als unveränderliche Wesensmerkmale der Nation betrachtet werden. Diachron ist die Germanophobie insofern, als sie aus der Geschichte das herausfischt, was ihr am meisten zupaß kommt. Ausgehend vom Dritten Reich, dem Gipfel des Grauens, schließt sie in einer weitausbolenden Geste unbe· kümmert Germanen/Barbaren und heurige Deutsche zusammen, als bestiiode zwischen ihnen eine besondere Blutsverwandtschaft: Nietzsche und Kohl, Wagner und Goebbels, Arminius und Hider. Dieses letzte Paar findet sich oft im britischen Kontext. 1939 wurde es etwa von Ernest Harnbloch heraufhe· schworen, der Hider beschuldigte, er wolle die Ambitionen des .Gauleiters" Arminius verwirklichen, welcher einst im Jahre 9 n.Chr. die Legionen des Varus im Teutoburger Wald vernichtet hatte4• Dieser Hider ist inzwischen posthum zum Referenzpunkt jeder Dämonisierungskampagne aufgestiegen: wenn es darum geht, einen Gegner zu attackieren, raten die PR-Agenturen unseren führenden Politikern, ihn mit dem .Fiihrer" zu vergleichen. So geschehen bei Slobodan Milo�evic (Kriege im ehemaligen Jugoslawien), bei Saddam Hussein (erster Golfkrieg, Vorbereitung des zweiten Golfkriegs), bei Osama bin Laden (Krieg gegen den Terrorismus) - vielleicht als späte Hommage an Faul Darcys T hese (1935), der Deutsche sei der .nordische Mohammedaner", weil von transzendentalem Fanatismus umgetrieben'-und sogar bei Jörg Haider (glück­ licherweise ohne kriegerische Konsequenzen). Auf diese Weise hat man unge­ wollt und en passant eine erschreckende Relativietung des Nationalsozialismus vorgenommen, die viel tiefgreifender ist als jeder historische Revisionismus oder alles Leugnen der Geschichte. Was den deutschen "Primitivismus" betrifft, so begann sich der Mythos auszubreiten, als Cäsar zum ersten Mal den Rhein überquerte, imJahre 55 v.Cht., und fein zwischen Galliern und weit barbarischeren Germanen unterschied, und er schießt noch immer ins Kraut, wenn wir gewissen Teilen der britischen Presse - nicht nur der Boulevardpresse - Glauben schenken wollen, wo für .Deutscher" oft das Synonym .Hunne" gebraucht wird. In den Augen des Wiener Historiker Herwig Wolfram, Verfasser des Werks .Das Reich und die Germanen"', wollte es die antike Konvention, daß die Barbaren .von Natur aus Sklaven" waren; .sie gleichen Tieren eher als Menschen": "Barbaren sind unvernünftige, ,zweibeinige Tiere'". "Wie zäh sich diese Vorstellung erhielt", 4 M. Korinman, "Deutschland über alles". Le pangermanisme 1890-1945, Paris 1999, s. 22. ' Paul Darcy spricht von "mahometisme nordique", sieheM. K.orinman, "Deutsch­ land über alles", S. 11. 6 H. Wolfram, Das Reich der Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter (Siedler Deutsche Geschichte, Das Reich und die Deutschen), Berlin 1990.

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schreibt Wolfram, .zeigt die Tatsache, daß mao noch im 19. Jahrhundert eine Prähistorische Abteilung nicht dem Wiener Kunsthistorischen, sondern dem Naturhistorischen Museum aogliederte; und dabei ist es bis heute geblieben"'. Noch beim Niedergang des Weströmischen Reiches im 5. Jabthundert begegnet uns der Prototyp eines französierenden Germaoophoben in Gestalt des aus Gallien stammenden Senators Sidonius Apollinaris, der darüber klagt, daß sieb kein secbsfüßiger Vers (Hexameter) kunstgerecht zusammenfügen lasse, wenn vor dem Haus ein sieben Fuß großer Burgunder johlt und poltert'. Zwischen Cäsar und Sidonius steht die hochberühmte Abhaodlung des Tacitus.De origine et situ Germaoorum", kurz:.Germania". Luciaoo Caofora hat darao erinnert, daß dieses Werk von einer rassenideologischen Apologetik ausgeschlachtet wurde, die - vor allem, was die Legende vom unvenniscbten Urvolk aogebt- von der völkischen Kultur zum Nationalsozialismus führte. Diese Lesart wird allerdings eingeschränkt durch die weniger freundliche Deutung von Tacitus selbst: Wer würde ferner, ganz abgesehen von der Gefahr, die das sebauderhafte, unbe­ kannte Meer bietet, Kleinasien oder Afrika oder Italien verlassen, um naeb Germanien zu ziehen mit seinen häßlieben Landsebaften, dem rauben Klima, dem trostlosen Äußeren- es sei denn, es ist seine Heimat". •

Die Reizlosigkeit der deutseben Laodscbaft und deren Auswirkungen auf die mores der Einheimischen sind ein Motiv, das bis auf den heutigen Tag maocbe französische und italienische Darstellung Deutschlaods prägt oder gelegentlieb beim Smalltalk tief veraokerte Gefühle durchschimmern läßt. Es gibt nämlich eine Grauzone zwischen Germaoophobie und schlichter Antipathie gegen Deutschlaod. Oft kreuzen sich beide Strömungen, bestä­ tigen einaoder und tragen zur Verstärkung negativer geopolitiscb relevaoter Wahrnehmungen bei. Das Stereotyp der deutseben Kriegslüsternheit und des Primitivismus, das mindestens bis auf Tacitus zurückreicht-.Allen Geschäften öffentlicher und privater Natur aber geben sie in Waffen nach" -, ist zu geläufig, als daß es hier erläutert werden müßte. Es hat sogar in die Alltagssprache Eingaog gefunden: In Italien hießen die deutseben Fußballspieler (als es solche hier noch gab) .Paozer", und eine in den achtziger Jahren ziemlieb bekannte Comicserie mit dem Titel.Sturmtruppen" verspottete die deutseben Soldaten als tumbe Automaten. In ihrer geopolitiscb fruchtbareren Version zielte diese Art der damnatio vor allem darauf ab, eine Kontinnität zwischen preußischem Militarismus und nationalsozialistischem Expaosionsstreben zu behaupten. So stark war dieses Klischee, daß es die vier Siegermächte noch zu Beginn des 7

Ebd., S. 25 und 27.



Ebd., S. 28.

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Kalten Krieges (1947) zu ihrem letzten gemeinsamen formalen Akt zusanunen­ führte: der Abschaffung Preußens per Dekret. Ein einziges ceterum censeo der unermüdlichen Dämonisierer Deutschlands verklingt allerdings allmählich: die antimilitaristische Invektive. Zumindest erweist sie sich als wenig wirkungsvoll in Anbetracht des Umstandes, daß die Bundeswehr inzwischen auf drei Kontinenten im Einsatz ist, und das sogar in Ländern, in denen die deutsche Armee ungute Erinnerungen hinterlassen hat, wie etwa im ehemaligen Jugoslawien. Wenn sie sich auch gtoßzügig im Supermarkt der Alten Geschichte bedie­ nen, sind die europäischen Formen der Germanophobie doch relativ neue Phänomene, die durch die beiden Weltkriege verstärkt wurden. Man sollte allerdings die zeitlichen und substantiellen Unterschiede zwischen französischer und britischer Deutschlandangst nicht außer Acht lassen. Die geopolitische Verwendung dergermanophobiegeht derjenigen der germanophobia voraus. Mit der Abtrennung von Elsaß-Lothringen nach der Niederlage von 1871 begannen französische Politiker und Intellektuelle den Haß auf den Nachbarn jenseits des Rheins zu pflegen, um ihn während des Ersten Weltkriegs bis zum Paroxysmus zu treiben. Ohne diese Kampagne versteht man weder den Clemenceau von Versailles noch den Wunsch nach Teilung des Reichs, der von de Gaulle und fast der gesamten französischen Führungsschicht zwischen 1944 und 1948 gehegt wurde, und auch nicht die panischen Reaktionen Mitterrauds - der beinahe idealtypischen Verkörperung des von Deutschenangst besessenen Pseudogermanophilen - beim Fall der Mauer. In dem halben Jahrhundert zwischen der Niederlage 1870n1 und der Re­ vanche im Ersten Weltkrieg keimt und verfestigt sich die These, der Pangermanismus (institutionalisiert im Jahre 1891 mit der Gründung des Alldeutschen Verbandes infolge der Krise nach dem englisch-deutschen Tausch Helgolands gegen Sansibar) sei dem deutschen Nationalcharakter entsprossen und bilde den geopolitischen Humus des Reichs. Die .Pangermanisierung Deutschlands" läßt eine bestimmte historische Bewegung im mare magnum der mannigfaltigen deutschen Nationalismen unterschiedlicher Epochen untergehen, wie Michel Korinman in seiner grundlegenden Untersuchung zum Pangermanismus zwischen 1890 und 1945, .Deutschland über alles"', zeigt. Nur so konnte Maurice Barres behaupten (1918), daß alle Deutschen Pangermanisten seien. Und der Politologe Georges Blonde! beschreibt (1915) die .Pathologie" des Feindes so: .Der Pangermanismus ist der Zielpunkt alter Vorstellungen, die sich mit gewissen zugleich nebulösen und gewagten Spekulationen verbinden, in denen sich seit dem Mittelalter die teutonischen Köpfe ergehen". Denn, so urteilt (1921) der Toulouser Germanist Hippolyte

'

Vgl. M. Korinman, .Deutschland über alles".

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Loiseau im Kielwasser der Polemik gegen den barbarischen Primitivismus des Volkes, das Gegenstand seioer Forschungen ist: .Der Deutsche ist ... [eio] Meister des Fauxpas, er weiß eiofach nicht die rechte Mitte zu finden zwischen Anmaßung und Plattheit"". Die Briten eriunem sich zwar an die kolonialpolirischen Rivalitäten des 19. Johrhundert und an die Greuel des Ersten Weltkrieges- die Rudyard Kipling am 15. Februar 1918 dazu bewegen sollten, in der Rede von Polkestone die klassische germanophobe Gleichung .deutsch barbarisch schlechthin böse" wieder aufzustellen -, aber zum wahren "Widerstreit der Kulturen" witd es för sie erst 1940 mit der Schlacht um England kommen. Ein Motiv, das noch im Jahr 1992 wieder auftaucht, als die Vereranen der Royal Air Force entschieden, dem Luftwaffengeneral Sir Artbur Harris (.Bomber Harris") eio Denkmal zu errichten, eioem Mann, der den Engländern als siegreicher Held =

=

in Eriunerung ist, den Deutschen jedoch als eioer der Verantwottlichen för das Blutbad an Zivilisten bei der Bombardierung Dresdens. Dem deutschen Vorwurf, es sei wenig förderlich, eioe so schmerzlich entzweiende Vergangenheit auszugraben, entgegnete man in London, es gebe keioen Grund, .den Zweiten Weltkrieg zu vergessen, in dessen Verlauf das Vereinigte Königreich das Gute und Deutschland das Böse repräsentiert hatte". Aber der wesentliche Unterschied zwischen französischer germanophobie und britischer germanophobia ist geopolirischer Natur. Frankreich nutzt die Angst vor Deutschland, um die Macht seioes unmittelbaren Nachbarn eiozu­ diimmen. Der deutsche Nationalstaat war entstanden, indem er Frankreich bezwang (1870/71); und zwei weitere Male, 1914 und 1940, hatte Deutschland versucht, den Rivalen jenseits des Rheios auszuschalten. Auf dem Spiel stand die kontinentale Vorherrschaft. Von 1949 bis 1989 hielten die jeweiligen französischen Regierungen an der Vorstellung fest, ihr Land sei noch immer eioe Großmacht, indem sie eioe Art geopolirischer Schutzherrschaft über die Bundesrepublik hervorkehrten. Noch heute wetteifern Paris und Berlin- wenn auch friedlich- um die Position eioes kontinentalen Dreh- und Angelpunktes und teilen sich diesen Rang. Großbritannien hingegen hat stets in globalen Zusammenhängen gedacht. Auch wenn es nun seit fast einem Jahrhundert keioe Weinnacht mehr ist, ori­ entieren sich seioe geopolitischen Vorstellungen nach wie vor oft am eiostigen Empire. Geändert haben sich vor allem die verfögbaren Ressourcen, viel weniger die Mentalität und die dadurch bedingten Reflexe (dies lehren der Krieg um die Falkland-Inseln, aber auch die jüngsten, eher kläglichen Versuche, zwi­ schen Indien und Pakistan zu vermitteln). Seit dem Zweiten Weltkrieg dient das Verhältnis zu Deutschland London als Maßstab för die Einschätzung des " Zitat ebd., S. 9-11.

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eigenen Einflusses auf die USA. Was die britische Regierung während der deutschen Wiedervereinigung am meisten beunruhigte, war der Eindruck, von Bonn (später von Berlin) in der special relationship zu Washington aus dem Felde geschlagen zu werden. Ein Indiz dafür schien die Formel von der ,partnership in leadership" zu sein, die Kanzler Kohl schon 1989 von Präsident George Bush in Aussicht gestellt wurde. In Großbritannien wird die Angst vor Deutschland folglich dazu benutzt, den Rang eines privilegierten Bindeglieds zwischen Europa und Amerika zu verteidigen. Dieses Selbstbild, das bei den Partnern auf dem Kontinent wenig Anklang findet, spiegelt sich bis heute in Blairs Kampagne für den Euro. Nur wenn sich Großbritannien innerhalb der Zone der ,gemeinsamen Währung", mithin im Zentrum der europäischen Macht befindet, kann London noch glauben, Bindeglied und Bürge des amerikanischen Einflusses auf Europa und umgekehrt zu sein. Sollte sich hingegen Deutschland oder ein mehr oder weniger hegemoniales französisch-deutsches Paar als privilegierter Partner der Vereinigten Staaten durchsetzen, würde das Vereinigte Königreich auf einer Art "Niemandssee" dahintreiben. Denn dann wäre es in der Tat nicht viel mehr als eine Insel, deren Einfluß weder auf die Alte noch die Neue Welt ausstrahlen könnte. Frankreich und England machen also auf zweierlei Weise Gebrauch von der Germanophobie, und dadurch sind sie in ihrer Wahrnehmung Europas unterschiedlich konditioniert. Aber es gibt noch eine dritte Germanophobie, die noch bedeutsamere Auswirkungen hat: die deutsche Angst vor Deutschland. Ein Phänomen, das in der Geschichte seinesgleichen sucht. Seine Ursprünge und Wechselfälle verdienten einen eigenen Aufsatz. In einer im Jahr 2000 erschienenen ,patriotischen Kleinigkeit" hat der 4'tiker und Essayist Hans Magnus Enzensberger auf die "Überproduktionskrise der Selbstkritik" seines Volkes hingewiesen. Eine anscheinend chronische Krankheit. Sie trifft sich im übrigen mit einem anderen Stereotyp, das die Deutschen auf der ständigen Suche nach der Liebe der anderen sieht. Doch wenn sie sich selbst nicht lieben, wie können sie dann geliebt werden wollen? Fazit: ,Alles in allem ist es vielleicht gescheiter, einzusehen, dass die Deutschen nichts Besonderes sind. Selbsdob srinkt, aber ein gewisses Maß an Selbstbewußtsein ist nicht nur für einen selber, sondern auch für die andern leichter zu ertragen als das penetrante Nölen derer, die an ihrer deutschen Herkunft tragen, als handle es sich um ihren Hauptberuf"". 11 H.M. Enzensberger, Ach, Deutschland! Eine patriotische Kleinigkeit, in: Kursbuch: Das Gelobte Laod, 141 (2000), S. 1-4.

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Was die geopolitischen Konsequenzen der deutschen Germanophobie angeht, sei hier nur festgehalten, daß alle westdeutschen Kamler von Adenauer bis Kohl sie in ihre Pläne einbeziehen, wenn nicht gar schüren oder zur Schau tragen mußten. War eine nationale Geopolitik aufgrund der Vorschrift des Grund­ gesetzes hinsichtlich der Wiedervereinigung nicht möglich, so ließ sie sich dadurch erserzen, daß man die Gleichung nationale Interessen europäische Interessen aufstellte (nicht anders als in Italien). Für die Bundesrepublik als .Er­ satznation" (Willy Brandt)12 .war die Europäische Gemeinschaft notwendig, um Deutschland vor sich selbst zu schützen". Eine These, die allerdings auch noch nach der Wiedervereinigung vorgebracht wurde, denn immerhin vertrat 1992 einer der angesehensten deutschen Ex-Diplomaten die Ansicht, daß es der Zweck der deutschen Außenpolitik sein sollte, die Vorherrschaft Deutschlands zu verhindern. Ein in der Geschichte wirklich beispielloses se/f-containment! =

Und noch im Sommer 2002, mitten im Wahlkampf, hat ein kleiner Satz des Kanzlers Sehröder über den .deutschen Weg" in der internationalen Politik- eine Merhode, sich von dem in Deutschland unpopulären amerika­ nischen Kriegsvorhaben im Irak zu distanzieren - einen Sturm in den Medien entfacht; die Mitte-Rechts-Opposition sah darin vor allem einen Ausdtuck der in Deutschland noch immer umgehenden neutralistischen Neigungen.

111. Der Tauschhandel von Maastrieht Wenn die Europäische Union auch durch die Angst vor Deutschland ent­ standen ist, so ist der Euro unmittelbar und ausschließlich auf sie zurückzufüh­ ren. Germanophobie im Reinzustand. Der Studienfallpar excellence, wenn wir Bedeutung und Kraft der soeben beschriebenen geopolitischen Vorstellungen erfassen wollen. Lassen wir die üblichen offiziellen Phrasen über die sogenannte .gemeinsame Währung" beiseite und versuchen wir, ihre geopolitische Substanz zu erfassen: Der Euro ist der Preis, den Deutschland Paris zahlte, um sich die Zustimmung Frankreichs und des restlichen Europa zur Wiedervereinigung zu sichern13• Während der Entstehung von .Großdeutschland" zwischen 9. November 1989 und 3. Oktober 1990 waren die Franzosen von der Angst gepeinigt, end­ gültig vom Pattner jenseits des Rheins deklassiett zu werden. Also forderten und erwirkten sie von Bonn die Preisgabe der Mark und der Bundesbank als Gegenleistung für die Zustimmung der Franzosen und der übrigen Europäer 12 W Brandt, Erinnerungen. Mit den "Notizen zum Fall G.", erweiterte Ausgabe, Berlin I Frankfurt a.M. 1994, S. 14. 13 Ich folge hier vor allem meiner Studie: Euro no. Non morire per Maastricht, Rom I Bari 1997, vgl. insbesondere S. 21-30.

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zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Freilich: Gorbatschow, auf den Mitterrand und T hatcher gezählt hatten, um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten wenigstens zu verzögern, zeigte sich unverhofft nachgiebig; Washington unterstützte das Vorhaben einer beschleunigten Wiedervereinigung, das Kohl vor allem aus innenpolitischen Gründen vorantrieb (seine Wiederwahl zum Kanzler im Herbst 1990 war sicher, wenn er sich als Vater der Einheit" präsentieren konnte). Für eine englisch-französische Sabotage war damit wenig oder gar kein Spielraum geblieben. Die Versicherung/Drohung Kohls gegenüber Mitterrand klang höhnisch: .Ich bin der letzte Kanzler, der sich der Wiedervereinigung widersetzen würde" 14• •

Aber ein neues Deutschland, entstanden ohne die ausdrückliche Zustimmung Frankreichs, Großbritanniens und der übrigen europäischen Parmer, wäre als provisorisch und zumindest nicht gesellschaftsfähig angesehen worden. Überdies vergißt man oft, daß die erste .Osterweiterung" heimlich und ohne Auflagen im September 1990 erfolgte: unmittelbar vor ihrem Beitritt zur Bundesrepublik wurde die DDR in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen. Für wenige Stunden hatten wir also einEuropa der Dreizehn, eine obligatorische Vorleistung bei jenem Tauschhandel zwischen dem vereinigten Deutschland und dem übri­ genEuropa, der sich aus den geopolitischen Umwälzungen des Kontinents ergab. Wie der damalige italienische Außenminister Gianni De Michelis in Erinnerung brachte, war die Losung: .Das neue Deutschland in Europa eingliedern, ehe die Deutschen sich wiedervereinigen und kommandieren"". Daher die Notwendigkeit des Tauschhandels, bei dem auch Italien eine Rolle spielte (unerwartete Intervention Andreotris zugunsten der deutsche Wiedervereinigung auf der außerplanmäßigen Sitzung des Ministerrats in Paris im November 1989; italienisch-französischer Geheimgipfel in Porto Ercole im September 1990). Kaum mehr als ein Jahr nach der deutschen Wieder­ vereinigung sollte die Vereinbarung mit dem in Maastricht am 11. Dezember 1991 verabschiedeten Vertrag über die Europäische Union besiegelt werden. Aus deutscher Sicht war das Opfer der Mark und der Bundesbank - die de facto ja bereits die Währung bzw. die Zentralbank Europas waren - schmerz­ lich, aber unvermeidlich, wollte man die Parmer der eigenen Treue zur Devise vom .europäischen Deutschland" versichern, und zwar besonders diejenigen, die dessen Neigung zu einem .deutschen Europa" befürchteten. (Bis zuletzt versuchte Kohl das Trauma des äußerst unpopulären Verzichts auf die Mark zu mildern, indem er sich einen Verzicht auf die europäische Währung für denFall vorbehielt, daß die sogenannten ökonomisch-monetären .Stabilitätskriterien" nicht erfüllt sein sollten - ohne daß ihm in den Sinn gekommen wäre, diese 14

Zitiert nach: Le Monde, 20. Mai 1987.

15 G. De Michelis, La vera storia di Maastricht, in: LiMes (19%), 3, S. 141.

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angeblichen Garanten der jahrzehntelang von der Bundesbank gepredigten und geübten Tugenden könnten sich eines Tages gegen ihre deutschen Erfinder wenden.) Später versuchten die deutschen Befürwortet des Euro, die Bilanz des Tauschgeschäfts ins Positive zu wenden, indem sie ein .Kemeuropa erfinden, das aus den bereits zwn .Rawn der D-Mark gehörigen und geographisch zentralen Ländern bestehen soll: Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Als im September 1994 die CDU/CSU ein diesbe­ zügliches eigenes Papier veröffentlichte, bekannt als .Schäuble-Lamers-Plan", überzeugten die negativen Reaktionen in Europa die führenden Politiker in Berlin davon, die Idee fallen zu lassen. Und doch ist Kerneuropa nicht tot. Heute mehr denn je durchzieht es wie ein basso continuo die geopolitischen Visionen des deutschen Establishment. Nachdem aber auch Griechenland sich der Eurozone angeschlossen hat, werden Kerneuropa und die Gruppe der Länder mit .gemeinsamer Währung" am Ende nicht deckungsgleich sein können. •



Aus der Sicht Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und der übrigen acht Partner der Gemeinschaft war Moastricht eine Versicherung gegen das Risiko, daß das vereinigte Deutschland Europa wie einen alten Pantoffel wegwerfen könnte. Etwa so, wie das der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber am 22. November 1993 formulierte: .Nach der deutschen Wiedervereinigung wird Deutschland Europa nicht mehr benötigen"" Arrimer l'Allemagne", Frankreichs fixe Idee- von den deutschen Germanophoben mit .Deutschland einbetten übersetzt (ein Verb, das an die Fürsorge der Mutter denken läßt, die ihr unruhiges Kind .zu Bett bringt") - sollte gleich nach dem Fall der Mauer zum europäischen Imperativ werden. Aber auch hier führt die Germanophobie zu Unsrinunigkeiten. .





Der britische Historiker Larry Siedentop hat betont, daß der unerwartete deutsche Durchmarsch zur Wiedervereinigung nicht nur zu einem Ausbruch akuter Germanophobie in den deutsch-französischen und deutsch-briti­ schen Beziehungen geführt hat, sondern auf britischer Seite auch zu bösen Vermutungen über die französischen (und deutschen) Absichten Anlaß gab. Die grande peur, die vom Fall der Mauer entfesselt wurde, bringt nämlich Frankreich dazu, zu glauben, daß .neue institutionelle Bindungen für die deutsche Macht dringend geboten seien und daß Frankreich, wn sicher zu sein, eine Rolle bei der Regierung Deutschlands spielen solle". Daher die Wirtschafts- und Währungsunion, gekrönt von der Europäischen Zentralbank. Laut Siedentop könnten die Institutionen von Moastricht .es Frankreich gestatten, einen eige­ nen formellen Beitrag zwn politischen Entscheidungsprozeß Deutschlands zu leisten. So machten die Franzosen der politischen Führung in Deutschland klar, daß die Währungsunion ein quid pro quo war für die französische ,Akzeptanz' " Süddeutsche Zeitung, 22. November 1993.

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der deutschen Wiedervereinigung". Seine Deunmg, so Siedentop, sei "nicht die herkömmliche": .In den europäischen Medien wird es gewöhnlich so dargestellt, als gehe der Druck hin zu einem stärker integrierten Europa vor allem von Dentschland aus. Insbesondere die britischen Medien werten die anhaltende dentsche Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa als einen Beweis der Tatsache, daß Deutschland für die Beschleunigung des polirischen Buropaprojekts in jüngster Zeit verantwortlich ist. In der konventionellen Deutung wird Dentschland so zum ,Schwarzen Mann'. Ja, einige britische Medien verstiegen sich zu der Vermutung, daß das europäische Projekt die letzte Form des deutschen Expansionismus sei, gewissermaßen eine für die gegenwärtige öffentliche Meinung akzeptable - Wtederherstellung des Dritten Reichs". -

Eine irrige Auffassung. Wenn überhaupt, träfe das Gegenteil zu: mit Maastricht habe Frankreich versucht, den Prozeß der politischen Vereinigung Europas zu beschleunigen, um zu verhindern, daß Deutschland ilun völlig aus der Hand gleite. Frankreich, und nicht Deutschland, habe mit Versuchungen fenig zu werden, die, mutatis mutandis, sehr wohl als neo-imperial erscheinen können. Siedentop erinnert daran, wie .de Gaulle selbst einmal, nur halb im Scherz, bemerkt habe, daß in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Deutschland das Pferd war, während Frankreich der Kutscher war, der den Karren lenkte"". Doch ob die Verantwortung für Maastricht nun bei Frankteich oder Deutschland liegt, für viele Briten, die noch immer mehrheitlich gegen den Euro sind- wie im übrigen auch die Deutschen-, ist die Währungsunion die Vorstufe zu einem .fully fledged Superstate", wie Margaret Thatcher in einem Essay bemerkt". Zehn Jahre danach scheint es klar, daß die französischen und britischen Ängste - die ansatzweise von den übrigen Europäern, aber auch von Sowjets (Russen) und Amerikanern geteilt wurden- überzogen waren, wie es geschieht, wenn man unüberlegt eine in der Vergangenheit wurzelnde Vorstellung der Analyse eines alctuellen Falls überstiilpt. Vor allem ist heute offenkundig, wie illusorisch die Idee war, Deutschland durch Moastrich an Europa zu fesseln. Die Europäische Union besitzt nicht genügend magnerische Kraft, um die geo­ politischen Entscheidungen ihrer Mitglieder zu bestimmen. Dieses Defizit kann von keiner Institution ersetzt werden. Allenfalls hat Maastticht die Grenzen des europäistischen lnstitutionalismus französischer Prägung bestätigt, der glaubt, daß die Form (die Institutionen) den Stoff (die Geopolitik) hervorbringt und nicht umgekehrt. Eine optische Verzerrung, die ihren Ursprung möglicherweise in der historischen Erfahrung mit dem Verhältnis von Staat und Nation in

17 L. Siedentop, Democracy in Europe, London 2000, S. 138-140. Einige Thesen dieses Buches waren allerdings bereits von B.Connolly entwickelt worden: B. Connolly, The Rotten Heart of Europe. The Dirty War for Europe's Money, London I Boston 1995. " M. Thatcher, Statecraft. Straregies for aChanging World, Londnn 2002, S. 351.

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Frankreich hat, wo jener über diese bestimmt. Aber diese Erfahrung läßt sich natürlich nicht mechanisch auf den gesamten Kontinent übertragen und auf dieser Ebene reproduzieren. So sehr sie auch zu Semi-Staaten in einem Semi­ Europa reduziert sein mögen, haben sie die derzeitigen Mitglieder der Union, einschließlich Luxemburgs, letztlich mit einem Maß an Selbsdegitimation erhal­ ten, das hinreichend ist, um die Bindungen an die Gemeinschaft zu umgeben, wie sich vor zwei Jahren am Fall Haider zeigte. Damals jedoch lief die Germanophobie auf Hochtouren. Mitterrand war von der Vorstellung besessen, das Jahr 1989 sei ein zweites 1914. In der deutschen Wiedervereinigung sah er .eine der beiden möglichen Ursachen eines Krieges in Europa"- die andere war die Möglichkeit, daß Deutschland sich in Zukunft in den Besitz von Nuklearwaffen bringen würde. Und er bildete sich ein, daß Deutschland im Begriffe sei, erneut die englisch-französisch-russische Allianz gegen sich aufzubauen. Thatcher gegenüber ließ er sich zu einer impliziten Parallele Kohl- Hider hinreißen: Wtr befinden uns in der gleichen Situation wie die Vorkriegsführer von Großbritannien und Frankreich, die auf nichts reagierten. Die Situation von München darf sich nicht wiederholen!" Und noch am 9. November 1989 war seine private Reaktion auf die Bilder der den Mauerfall feiernden Deutschen: "Diese Leute spielen mit einem Weltkrieg"19• Man kann begreifen, warum der französische Präsident in einem solchen Strudel germanophober Alpträume im Dezember 1989 dem sterbenden DDR­ Regime den ersten und letzten offiziellen Besuch eines Staatsoberhaupts der wesdichen Siegermächte in Ostberlin abstattete. Aber die Schwäche der Sowjetunion und die Entschlossenheit der USA, schließlich den Sieg im Kalten Krieg davonzutragen, hätten jede Bemühung, den Prozeß aufzuhalten, der Lächerlichkeit preisgegeben. •

Wenn überhaupt möglich, trieb die britische Germanophobie 1989/90 noch radikalere Stintrnungen und politische Reaktionen hervor. Da sie auch nicht durch die Riten des panrhenanischen Kultes gezügelt wurde, ja, diese sogar ein wenig verachtete, widerfuhr es der Regierung Threr Majestät mitunter, daß sie öffentlich verlautbarte, was Mitterrand nur seinen Beratern anvertraute20• Die Memoiren Margaret Thatchers sind geprägt von der Angst, das vereinte 1' Vgl. Pb. Zelikow I C. Rice, Sternsrunde der Diplomatie. Die deutsehe Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, S. 19-20 (Originalausg.: Germany Unilied and Europe Transfonned,Cambridge MA 1995). 20 Eine extremer, pathetischer Reflex von Mitterrands Observanz dieses Kultes findet sich in seinem posthum erschienenen Buch: De I'Allemagne, de Ia France, Paris 1996, das er kurz vor seinem Tode beendete. Dort versueht der Autor sieh als Freund Deutscblands oder doch zumindest als nieht Germanophober darzustellen. Vergleiehen muß man seine Aussagen z.B. mit den ziemlich geschwätzigen Tagebüchern seines außenpolitisehen Beraters Jacques Attali (Verbatim, 3 Bde., Paris 1995), die mehr als eine germanophobe Tirade vermerken.

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Deutschland könne in die alten imperialistischen Gewolmheiten zurückfallen. Denn sie war überzeugt, daß .Deutschland, eben aufgrund seiner Natur, eine destabilisierende und keine stabilisierende Kraft in Europa darstellt"". London fürchtete vor allem, daß Berlin sich wie ein Keil zwischen England und die USA drängen und die .besondere Beziehung" beider Länder zer· stören könne. Diese geopolitische Annahme speiste sich allerdings aus den radikalsten antideutschen Klischees, wie sie jene unverdächtige Versammlung von Akademikern hegte, die von der britische Premierministerin im März 1990 auf ihrem Landsitz in Chequers einberufen worden war. Um die tief. schürfenden Fragen zu beantworten, die Cbarles Powell, der diplomatische Berater Thatchers, vorbereitet hatte: •Wer sind die Deutschen?", .Haben sich die Deutschen verändert?", • Wird ein vereinigtes Deutschland nach der Vorherrschaft in Osteuropa streben?" usw., leisteten die Schwergewichte unter den angloamerikanischen Deutschlandkennern der Einberufong Folge: von den Oxforder Nestoren Lord Dacre (Hugh Trevor-Roper) und Norman Stone über den jungen und aufstrebenden Timothy Garton Ash bis zu den hervorragenden OS-amerikanischen Spezialisten Gordon Craig und Fritz Stern. In der vertraulichen und dunkel bedrohlichen Atmosphäre - so, als konsul· tierte die britische Regierung ihre besten Köpfe angesichts einer strategischen Gefahr -ließen sich die Berater gehen. Und sie sagten, was sie von dem Volk, das Gegenstand ihrer Forschung ist, denken-und für gewöhnlich nicht schreiben. Insbesondere, glaubt man dem Bericht, der später in die Presse durchgesickert ist", beschwor die erlauchte Versammlung einige negative Eigenschaften, .die einen unwandelbaren Aspekt des deutschen Wesens bilden: in alphabetischer Ordnung, Aggressivität, Angst, Brutalität, Egoismus, Minderwertigkeitskom· plex, Sentimentalität, Überheblichkeit". Da die Deutschen nach der Vereinigong .anders" denken werden als in der jüngeren Vergangenheit, werde es nötig sein, die KSZE zu stärken, um die deutsche Macht im Zaum zu halten, .last but not least, weil auf lange Sicht . . . die Sowjetunion die einzige Macht sein würde, die imstande wäre, ein Gegengewicht zu Deutschland zu bilden". In der Schlußbotschaft klang ein berühmter Leitgedanke von Noel Coward an: •Wtr sollten nett zu den Deutschen sein." Kann man sich ein besseres Bild des als Germanophilen vermummten Germanophoben vorstellen? So weit die privaten Seminare. Bisweilen jedoch brach die britische Angst vor Deutschland alle Dämme. "The Spectator", das Wochenblatt der rechten Tories, 21 M. Thatcher, Downing Street No. 10, S. 1095. 22 Der Bericht über das Seminar von Chequers wurde am 15. Juli 1990 in: The Independent on Sunday, unter dem Titel What the PM leamt about the Germans" veröffentlicht. GA. Craig, Die Chequers-Affäre von 1990. Beobachtungen 2lUn Thema Presse und internationale Beziehungen, in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 39 (1991), •

s.

611-623.

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veröffentlichte im Juli 1990 einen Artikel von Wirtschaftsminister Niebolas Ridley, einem Zögling der .eisernen Lady". Für ihn ist die Währungsunion .nichts anderes als ein deutscher Trick, um die Hand auf Europa zu legen. Das müssen wir verhindern. Es ist absolut nicht hinzunehmen, von den Deutschen unter so widrigen Bedingungen ruiniert zu werden, und die Franzosen führen sich auf wie die Schoßhündchen der Deutschen ... Da könnten wir ebenso gut unsere Souveränität geradewegs an Adolf Hider abtreren . . In jeder Hinsicht von den Deutschen beherrscht zu werden, würde das Land in einen völligen Aufruhr stürzen, und das wäre nur allzu verständlich". .

Um nur ja jedem Mißverständnis vorzubeugen, brachte das Titelblatt des .Spectator" eine Karikatur Kohls mit schwarzem Schnurrbart und Haarsträhne ii Ia Hider. Der Minister wurde zum Rücktritt gezwungen. Aber noch verräte­ rischer für die tiefverwurzelte britische Germanophobie war die offizielle Note der Regierung zum Fall Ridley. Downing Street beeilte sich, den Bürgern zu versichern, daß .das Deutschland von heute nicht mit dem nationalsozialistischen Deutschland vor fünfzig Jabren vergleichbar ist, ebensowenig übrigens wie mit dem politischen System in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Bundesrepublik wender alle Kraft datan, die Ordnung aufrechtzuerhalten und den Menschenrechten Geltung zu verschaffen, und es besteht kein Grund dafür, daß sich dies nach der Vereinigung ändern sollte ... Die Deutschen haben nicht die geringste Absicht, sich Europas zu bemächtigen, weder mit Gewalt noch mit List".

IV. Die Unmöglichkeit, normal zu sein 1993, im Jahr von Maastricht, gab der Vorsitzende der Europäischen Kommission, Jacques Delors, bei drei Anthropologen, zwei Franzosen und einem Engländer, eine Untersuchung mit dem Titel .Eine anthropologische Annäherung an die Europäische Kommission" in Auftrag". Die Studie wurde zwar abgeschlossen und übergeben, ist bis heute aber nicht veröffentlicht. Es handelt sich um ein exemplarisches Dokument für den Einfluß der Stereotype der V ölkerpsychologie auf die Politik und sogar auf das Alltagsleben der Brösseler Eurokratie. Zunächst bestätigt die Studie .die Existenz der Nord-Süd­ Teilung, oder der Teilung zwischen ,germanischer Welt' und ,lateinischer Welt', zwischen ,Protestanten und Katholiken'" usw. Ferner machte die Untersuchung .zwei grundlegende ,Bezugsrabmen' der Europa-Beamten aus: die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Hauptverwalrung (den ,Ministerien' der Kommission) und die nationale Zugehörigkeit. In beiden Fällen ... handelt es sich um eine

n

V gl. I.I. Gabara I L. Consoli, In Europa tornano i ,caratteri nazionali', in: LiMes

(1997), 2, S. 15-30, hier S. 22-25. Die Verfasser der Studie sind Mare Abe!es (Centre National de Ia Recherche Scientifique), Irene Bellier (Centre Nationale de la Recherche Scientifique) und Maryon McDonald (Brunel, Tbe University of West London).

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Identifikation mit verschiedenen ,Kulturen'." Die Studie ruft zunächst das orthodoxe Prinzip in Erinnerung, daß der europäische Beamte in erster Linie von seinem eigenen Herkunftsland unabhängig sein muß, und betont sogleich die stiindige Verletzung dieses Grundsatzes. Denn die europäischen Beamten werden auf allen Ebenen von den Mitgliedstaaten unter Druck gesetzt, und es liegt ihnen aus Kartieregründen daran, ihm nachzugeben. Einern Beamten zufolge, der von den drei Anthropologen interviewt wurde, "gibt es eine sichere Methode, um zu scheitern: man muß Europäer sein". Nachdem sie den .europäische Geist" der Eurokraten als Fiktion endarvt hat, klassifiziert die Untersuchung die stärksten Vorurteile, die längs der Nord-Süd-Achse auszumachen sind. Zum Norden gehören auf den mentalen Karten der Eurokraten Schweden, Finnland, Dänemark, Irland, das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Deutschland, Luxernburg und Österreich; den Süden bilden Italien, Spanien, Portugal und Griechenland. Nur Belgien steht zwischen beiden Sphären, während Frankreich innerlich in Nord und Süd geteilt ist. Nach der Lesart von Ivo Ilic Gabara und Lorenzo Consoli, die das Dokument analysiert haben, .zeigt sich die Rolle, die Stereotypen innerhalb der Kommission spielen, am deutlich­ sten an den beiden extremen Beispielen, Deutschland und Irland. Die Vereinigung Deutschlands hat alte Ängste vor dem deutschen Willen zur Macht geweckt und damit zum Wiederauileben von Vorurteilen und zur leichtfertigen Verurteilung ,typisch' deutscher Verhaltensweisen geführt. So wird die starre Haltung eines Vorgesetzten deutscher Nationalität von Mitarbeitern anderer Nationalität fast inuner als ,typisch' wahrgenommen. Hingegen ... hat das neugewonnene Gewicht Deutschlands bei den deutschen Beamten aus Angst, ,die Gefühle der Kollegen zu verletzen', fast einen Willen zur Selbstzensur hervorgerufen. Die anthropologische Studie führt das Beispiel eines deutschen Abteilungsleiters an, der keine Sitzungen seiner Abteilung anberaumte, weil ,er sich nicht aufdrängen wollte'. Doch gleichzeitig bewirkte dieses seltsame Verhalten nur, daß die ihm unterstellten Beamten wn so mehr von seiner Bindung an die deutsche Hierarchie überzeugt waren. Kurzum: ganz gleich, was er tat, es war immer falsch. Wie zum Ausgleich dafür werden die Ireo immer positiv wahrgenommen. Gemäß der anthropologischen Studie hat sich ihre nationale Identität seit dem 19. Jahrhundert durch eine Opposition zum Vereinigten Königreich herausgebildet. Ist Großbritannien vernunftberont, so Irland gefühlsbetont. Während Großbritaonien die imperiale und industrielle Rationalität verkörperte, sah sich Irland als rückständige und darum mystische, ländliche und lebendige Gesellschaft. Dieses vom Tourismus gepilegte Image ist zu einer wich­ tigen Komponente der irischen Wutschaft geworden und hat Auswirkungen auch auf die Mentalität der europäischen Beamten. Einer von ihnen hat behauptet .. , daß, auch wenn [der Ire] sich autoritär verhält, ihn dennoch alle för einen sympa­ thischen Kerl halten". .

Es bleibt zu hoffen, daß diese anthropologische Untersuchung eines Tages vollständig veröffentlicht wird (interessant wäre es, wenn imJaltre 2003 Romano Prodi eine entsprechende Studie .zehn Jahre danach" in Auftrag gegeben hätte). Das ausführliche Zitat sollte verdeutlichen, wie Stereotype über den

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.Nationalcharakter" noch immer nicht nur unser gemeinschaftliches Leben, sondern auch politische und ökonomische Weichenstellungen auf höchster Entscheidungsebene beeinflussen. Phobien und Philien sind Gefühle, vor allem aber sind sie mentale Landkarten, an denen sich die Optionen der Bürger wie der politischen Eliten orientieren. Die Politologen neigen dazu, sie zu vemach· lässigen oder als Folklore zu betrachten. Wir haben aber gesehen, wie wenig folklorisrisch die Konsequenzen waren, die die Regierungen in aller Welt aus ihrer Sicht der deutschen Wiedervereinigung zogen, wie sie sich durch die Brille der jeweiligen Germanophobie darbot. Die täglichen Nachrichten liefern uns eine Unzahl ähnlicher Beispiele bei anderen Völkern. Es besteht indes kein Zweifel, daß der deutsche Fall ein ganz besonderer ist, wegen der Bedeutung dieses Landes, wegen der tiefen VerwurzJung der betreffenden negativen Stereotype, vor allem aber wegen des FehJens echter laudatores Germaniae, will man nicht die professionellen Germanophilen dazurechnen. Wie Enzensberger anmerkte: .Eine Suchmaschine, in deren Maske man das Stichwort Deutschland eingäbe, hätte viel zu tun; sie müßte vermutlich Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Titelo auswerfen. Eine Schrift über die Vorzüge Deutschlands wäre nicht dabei ... Über die Griinde für diese Lücke auf einem stark besetzten Feld zu rätseln erübrigt 24 sich: Es hat sich einfach keiner getraut" .

In dem Maße, wie wir uns vom Zweiten Weltkrieg entfernen, dem Gipfelpunkt der Germanophobie, scheinen die Vorurteile gegenüber dem deutschen Volk zu verblassen. Und wäre es nur aus demographischen Griinden, da inzwischen die Gruppe derjenigen, die am eigenen Leib die Grausamkeiten der Nazis erfahren haben, auf eine unbedeutende Minderheit zusammengeschrumpft ist. Arbeitet also die Zeit für unsere Befreiung von dieser Angst? Mag sein. Aber für ihre geopolitische Verwendung scheint die Saison noch nicht zu Ende zu sein. Bis heute bieten sich alte und neue Stereotype zu solchen Zwecken an. Die Germanophobie der Nachkriegszeit hatte nämlich jahrzehntelang drei logische Konsequenzen, die wie die Glieder einer Kette ntiteinander verbunden sind. Erstens: die detemtinistische und rettospektive Lesart der deutschen Geschichte, die von der zwölfjährigen Hider-Diktatur ausgeht, um eine spätestens ntit dem friderizianischen Preußen, wenn nicht gar ntit Lutber beginnende Parabel unausweichlich darauf zulaufen zu lassen. Eine Tendenz, die sogar in der .hohen" Geschichtsschreibung zu erkennen ist. Zweitens: die sich daraus ergebende Auffassung des Nationalsozialismus als eines abso· luten Bösen; eine Vorstellung, die im gesamten Westen stark verbreitet ist, nicht nur bei linken politisch·kulturellen Strömungen, die ein Interesse daran haben, jede Parallele mit anderen sogenannten "Totalitarismen" (ebenfalls eine vollkommen ahistorische Kategorie) zurückzuweisen. Drittens, und wiederum 24

H.M. Enzensberger, Ach, Deutschland!, S. 1.

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als unmittelbare logische Folge, die Tabuisierung der Deportation von 14 Mil­ lionen Deutschen aus den Ostgebieten des Reichs, von denen (mindestens) viele Hunderttausende an Erschöpfung oder durch die Brutalität der Roten Armee starben, und überhaupt die Mauer des offiziellen Schweigens über die Verbrechen, die die Sieger an den Besiegten (Dresden, Kacyn usw.) oder sogar an den eigenen Verbündeten verübten. Das Gemeinsame dieser drei Konsequenzen ist die Weigerung, das Dritte Reich zu historisieren. So, als könne eine kritische, differenzierte, nicht mora­ lische Lesart jener Jahre auf eine Rehabilitierung des Nationalsozialismus hin­ auslaufen. Die Geschichte - ganz recht, die Geschichte - zeigt das Gegenteil. Wie im Jabre 1987 Martin Broszat anmerkte, ließ die normative Darstellung des Nationalsozialismus durch die Sieger die Suche nach der individuellen Verantwortung der Nazi-Verbrecher in den Hintergrund treten: .Man verwarf die NS-Vergangenheit generell und deldamatorisch, auch weil es sehr mißlich war, sie genauer und im einzelnen abzuwägen "25• Das Echo dieser .dämonologischen Deutung des Nationalsozialismus" (Broszat), die in den fünfziger und sechziger Jahren ganz und gar vorherr­ schend war, ist bis auf den heutigen Tag nicht verhallt. Es handelt sich um einen pädagogischen Kurzschluß, ausgelöst durch die typisch germanophobe Überzeugung, die nationalsozialistische Ära lasse sich nicht wie jede beliebige andere Periode im Leben des deutschen Volkes mit dem Instrumentarium der Geschichtswissenschaft erforschen; einen Kurzschluß, der die Propaganda der Geschichtsleugner oder, in subtilerer Weise, gewisse als .Revisionismus" maskierte Apologien begiinstigt hat (wobei der Begriff .Revisionismus" aller­ dings von den .Orthodoxen" zu polentischen, nicht zu heuristischen Zwecken benutzt wird). Doch wie bei jeder Verdrängung: Je länger die Ereignisse geleugnet werden, die doch im kollektiven Gedächtnis von Millionen deutscher Familien noch ganz lebendig sind, desto heftiger das Hervorbrechen des Tabuisierten. In letzter Zeit entdecken die deutschen Medien nicht nur die nach 1945 erlittenen .ethnischen Säuberungen" wieder, sie quellen auch über vor Erinnerungen an die Flucht einiger Millionen Reichsbürger aus dem Osten, deren Schuld in nichts anderem bestand, als eben Bürger des Deutschen Reichs zu sein. In der politischen Debatte kehren in verschiedenen Zusammenhängen Schlüsselbegriffe wieder, die die negativen Instinkte der Germanophoben wachrufen: Abschaffung der .Benes-Dekrete", .Königsberg-Frage", Wiedergeburt Preußens", .deut­ scher Weg" usw. Jeder dieser Begriffe beschwört ganz aktuelle geopolitische Diskussionen herauf: vom Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union bis •

25 M. Broszat I S. Friedländer, Um die .Historisierung des Nationalsozialismus". Vterteljahrshefte für Zeitgeschichte, 36 (1988), S. 339-372, Brief vom 28. Septernbot 1987, S. 342.

Ein Briefwechsel, in:

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zur Frage der russischen Exklave Kaliningrad (sie war ehemals preußisches Territorium), die die Beziehungen Moskaus zu Brüssel und auch zu Deutschen, Polen und Balten vergiftet; von der eher surrealen Debatte über die mögliche Schaffung eines Bundeslandes Preußen bis zur Versuchung, die adantischen Bindungen abzustreifen, um alte nationale Wege zu beschreiten -was zu einer bislang nie dagewesenen Ktise in den Beziehungen zwischen Washington und Berlin geführt hat.

Das Defizit an Historisierung Nazi-Deutschlands erzeugt neue Möglichkeiten für eine geopolitische Manipulation der Germanophobie, innerhalb wie außer­ halb der Bundesrepublik. Die Deutschen wollen als normales Volk in einem normalen Land bettach­ ter werden. Ein berechtigter Wunsch. Seiner vollstiindigen Erfüllung stehen mindestens zwei Umstände entgegen: a) es ist schwierig, zu definieren, was ,normal" ist, einmal angenommen, daß in dem vielfältigen Bestiarium der Nationen und Staaten überhaupt ein Paradigma der Normalität existiert; b) in jedem Fall und per definitionem ist es nicht an den Deutschen, sondern an den anderen Völkern, über die ,Normalität" der Deutschen zu entscheiden- und diese anderen Völker könnten ein Interesse daran haben, den negativen Mythos lebendig zu halten und mit seiner Hilfe die Gegenwart Deutschlands an die weniger rühmliche Vergangenheit zu fesseln. Sollte die geopolitische Instrumentalisierung der Germanophobie - und überhaupt die Manipulation der deutschen Geschichte zu verschiedenen und sogar entgegengesetzten Zwecken -tatsächlich auch die nächstenJahre prägen, so verheißt das nichts Gutes für Europa. Man kann keine wie auch immer geartete politische Union Europas auf der Grundlage der Angst vor ihrem zentralen Land errichten. ZehnJahre nach Moastricht- in seiner esoterischen (germanophoben) Lesart -ist dies die wichtigste Lehre, die wir daraus ziehen können. Abschließend bietet sich ein Rückblick auf die Ursprünge des europäi­ schen Projekts an, das aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs erwuchs. Die Idee von Europa entstand damals im engen Kreis politisch-intellektueller Eliten aus der Konfrontation mit einer gebannten Gefahr - der N azifizierung des Kontinents unter Hider - und einer unmittelbaren Bedrohung - seiner Sowjetisierung unter Stalin. Ein nicht nur geostrategischer und geopolitischer Konflikt. Weit mehr: ein Zusammenprall der Kulturen, um den Ausdruck eines amerikanischen Politologen auf einen anderen Kontext anzuwenden. Man wollte den Triumph der UdSSR verhindern, aber auch die Rückkehr des ewigen ,barbarischen" Deutschland der Germanophoben. Ich möchte dies mit einem etwas endegeneren, aber hoffentlich nicht abseitigen Beispiel erläutern. Zwei große Historiker, der Italiener Federico Chabod und der Franzose Lucien Febvre, betonten in ihren Vorlesungen zwischen 1943 und 1945 im noch

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faschistischen Mailand und im gerade befreiten Patis unermüdlich die freiheit­ lichen und kulturellen Implikationen der Definition Europas Der Begriff von Europa muß sich durch Gegenüberstellung herausbilden", behauptete Chabod zu Beginn seiner Ausfiihrungen. Und der Vater der .Annales" beschloß wenige Monate darauf seine tour deforce durch die Entstehung der europäischen Kultur mit einer leidenschaftlichen Lobeshymne auf das Paneuropa der Vorkriegszeit, als .ein Engländer die Arbeit eines Franzosen weiterführte, ein Deutscher die Arbeit des Engländers fortsetzte, ein Däne seinerseits dessen Entdeckung etwas weiter vorantrieb, ein Amerikaner aus der Ordnung heraustrat, um eine neue Reihe, eine neue Verkettung zu schaffen". Eine Kultur der Wissenschaften und der Künste ohne geographische Grenzen, und doch höchst lebendig, die schließlich vernichtet wurde von Hiders Ehrgeiz, Europa zu schaffen .durch einen einzigen Mann, ein einziges Volk und ein einziges Ideal: das seine". Febvre erwähnt niemals Hider oder den Nationalsozialismus- außer durch die implizite Gegenüberstellung mit dem.Vorkriegs-München, dem München der bildenden Künste, der Musik und des Bieres", mit dem.schönen und liebens­ werten, vom Geigenklang erfüllten Wien" und mit den.großen Universitäten Deutschlands und all den Professoren jenes Deutschland von einst, die wir nicht immer verstanden ..., die uns nicht verstanden und uns nicht folgten ..., aber zu guter Letzt nötigten uns ihre Arbeit, ihre Tatkraft, ihre Metbode Achtung ab". Und er schließt mit dem bitteren Kalauer, mit dem zwanzig Jahre zuvor Henri Pirenne den Titel von Sybels berühmten Vortrag am Vorabend des französisch-preußischen Krieges von 1870nl auf den Kopf gestellt hatte: .Ce qu'il faut desapprendre de l'Allemagne" statt "Was wir von Frankreich lernen können". Gleichsam als wolle er Deutschland jenem .Nicht-Europa" zuteilen, das Chabod als das .polemische Fundament" des Buropagedankens selbst bezeichnete. . •

Heute wird kein europäischer Staatsmann geneigt sein - zumindest nicht öffentlich-, Deutschland in die Ecke des "Nicht-Europa" zu stellen. Aber die Geschichte erinnert uns unermüdlich daran - und sie wird, fürchte ich, auch unsere Urenkel noch daran erinnern-, daß die von den großen kollektiven Ängsten, von den nationalen Stereotypen und den Hassismen hervorgebrachten Strömungen immer wieder die kühlen funktionalistischen Architekturen zu überfluten drohen, mit denen wir die Zukunft zu beherrschen glauben.

Die Außenpolitik der DDR in den Jahren der Agonie 1989/1990 Von Joachim Scholtyseck

Die Reaktionen der DDR auf die politischen Veränderungen in Europa in den Jahren 1989/90 zu beschreiben, erscheint auf den ersten Blick keine allzu schwierige Aufgabe zu sein, weil die Zeitspanne von zwei Jahren überschau­ bar ist. Aber innerhalb dieses Zeitraumes vollzog sich im .zweiten deutschen Staat" nicht nur innen-, sondern auch außenpolitisch eine Revolution. In jenen beiden-erstaunlich gut erforschten'-Jahren der Agonie gab es in der DDR eine Abfolge dreier Regime bzw. Regierungen, deren Akteure jeweils andere ideologische Voraussetzungen hatten, unterschiedlichste Zide verfolgten und über jeweils andere -und dennoch ausgesprochen geringe-Handlungsspid­ räurne verfügten. Im folgenden sollen in Anlehnung an diese drei Regierungen drei Phasen unterschieden werden: die Außenpolitik unter dem Regime Erich 1 Einen umfassenderen Überblick verschafft ein vierhändiges Werk: Geschichte der deutschen Einheit, Bd. 1: K.-R. Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzler­ schaft, Stuttgart 1998; Bd. 2: D. Grosser, Das Wagnis der Währuogs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998; Bd. 3: W. Jäger, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Verei­ nigung 1989190, Stuttgart 1998; Bd. 4: W. Weiden/eid, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjalue 1989190, Stuttgart 1998. Die neuere Forschung zu­ sanunenfassend A. Rödder, Staatskunst srart Kriegshandwerk. Probleme der deutschen Vereinigung von 1990 in internationaler Perspektive, in: Historisches Jahrbuch, 118 (1998), S. 223-260. Vornelnnlic h aus der übergeordneten Perspektive des Ost-West­ Gegensatzes P. Zeükow I C. Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997; R.L. Garthoff, Tbe Great Transition. Ametican-Soviet Relations and the End of the Cold War, Washington D.C. 1994; D. Oberdor/er, From the Cold War to a New Era. The United States and the Soviet Union, 1983-1991, Haitimore MD I London 1998; M.R. Beschloss I S. Talbott, Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989-1991, Dösseidorf u.a. 1993. Der Versuch einer vergleichendeo Geschichte des Zusanunenbruchs der Moskauer Satelliten: S. Saxonberg, Tbe Fall. A Comparative Study of the End of Communism in Czechoslovakia, East Germany, Huogary, and Poland, Amsterdam 2001. Daneben eher deskriptiv z.B. H. Bahrmann I C. Unks, Wu sind das Volk. Die DDR im Aufbruch- eine Chronik, Berlin I Weimar I Wuppertal 1990. Als überarbeitete Neuauflage auch dies., Chronik der Wende, Bd. 1: Die Ereignisse in der DDR zwischen 7. Oktober 1989 uod 18. März 1990, Berlin 1999; Bd. 2: Srationen der Einheit. Die letzten Monate der DDR, Berlin 1995.

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Honecker, dann die Amtszeiten von Egon Krenz und Hans Modrow und schließlich die Regierung Lothar de Maiziere.

I.

Die politisch·ideologischen Voraussetzungen für den Sturz des Regimes Honeeker

Unter KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew hatte die Sowjetunion an Dynamik verloren und war in eine Art von sdbsterhaltenden Stillstand geraten. Das Debakd in Mghanistan, die Entzweiung mit China, eine dogma­ tische Verteidigungsdoktrin, nach der die UdSSR so stark wie jede potentielle Koalition gegnerischer Staaten zu sein hatte, und erst recht der kostspielige Rüstungswetdauf, angeheizt durch Aufstellung von SS-20-Raketen, hatten ihren Tribut gefordert. Durch wachsende ökonomische Schwierigkeiten, den damit einhergehenden .Modernisierungsdruek"2 und die politische Resistenz des Westens war das sowjetische System Mitte der achtziger Jahre auch ideologisch' in eine Krise bis dahin nicht gekannten Ausmaßes geraten. Im Februar 1986 leitete der kurz zuvor ins Amt gekommene Generalse­ kretär Michail Gorbatschow daher auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU eine umfassende Reform ein, was außenpolitische Ruhe voraussetzte. Als er in seiner Begrüßungsrede auf dem XI. Parteitag der SED im April 1986 in Ost-Berlin Sdbstkritik als unerläßliche Bedingung für einen Erfolg anführte, wurden solch ominöse Hinweise von der Ost-Berliner Führung noch über­ hört. SED-Generalsekretär Erich Bonecker hat jedoch recht bald existentielle Gefahren erahnt, die aus Gorbatschows Versuch, das sozialistische Lager auf neuer Grundlage zu konsolidieren, und dem im November 1986 erstmals angedeuteten Verzicht auf die .Breschnew-Doktrin"4 resultierten. Während sich Bonecker weiterhin als Gralshüter der kommunistischen Lehre verstand, erodierte die .Existenzgrundlage der SED-Herrschaft"'. Im nachhinein muß man ihm zubilligen, klarer als die sowjetische Führung erkannt zu haben, daß die Perpetuierung einer gemäßigten Blockkoufrontation eine Existenzbedin2 F. Oldenburg, Eine endliche Geschichte. Zum Verhältnis DDR-UdSSR 1970 bis 1990, in: G. Helwig (Hrsg.), Rückblicke auf die DDR Festschrift für Ilse Spittmann­ Rühle, Köln 1995, S. 163-174, hier S. 172. ' Zur Gewichtung des ideologischen Faktors im Kalten Krieg M. Leff/er, Btingiog it Together: The Parts and the W hole, in: OA. Westad (Hrsg.), Reviewiog the Cold War. Approaches, Ioterpretations, Theory, London 2000, S. 43-63, hier S. 45.

4 Vgl. D. Küchenmeister I G.-R. Stephan, Gorbatschows Entfernung von der Breshnew-Doktrin. Die Moskauer Beratung der Partei- und Staatschefs des Warschauer Vertrages vom 10./11. November 1986, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 42 (1994), s. 713-721. ' R Biermann, Zwischen Kreml und Kanzlerarot. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Faderborn u.a. 1997, S. 109.

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gung der aus dem Kalten Krieg geborenen DDR war, während die von Gor­ batschow favorisierte gesamteuropäische Vision ihre politisch-ideologische Basis in Frage stellte. Für die DDR hätte ein Mittelkurs im Rahmen einer konventionellen .Entspannungspolitik", wie sie in den siebziger Jahren auf einem moderaten Konfrontationsniveau herrieben worden war, wahrschein­ lich die bestmögliche außenpolitische Alternative geboten. Ost-Berlin konnte freilich auf den Gang der Dinge kaum Einfluß nehmen. Die Paradoxie, daß Gorbatschow der DDR außenpolitische Freiräume gewähren wollte, welche die SED kategorisch ablehnen mußte, wenn sie ihre Daseinsberechtigung nicht aufs Spiel setzen wollte, blieb bis zum Ende des .zweiten deutschen Staates" ein Grundproblem. Die DDR war zudem dadurch geschwächt, daß sie an einem planwirt­ schaftliehen System festhielt, das seine Mängel schon genügend oft unter Beweis gestellt hatte. Die .sozialistische Zentralplanwirtschaft", die nicht in der Lage war, Angebot und Nachfrage befriedigend zu regulieren, und nur einen rudimentären marktwirtschaftliehen Warentausch zuließ, hatte seit den späten vierziger Jahren die Wtrtschaft der DDR schließlich so verkrustet, daß die wichtigsten Voraussetzungen für eine leisrungsfähige Ökonomie fehlten'. Zur Erklärung des Endes der DDR reicht die Schwäche des planwittschaftlichen Systems freilich nicht aus. Die DDR hatte bereits eine ganze Reihe gravieren­ der ökonomischer Krisen überstanden, ohne zusammengebrochen zu sein. Erst als der sowjetische Wille zur Dominanz und die Bereitschaft schwand, die DDR zu erhalten, war der zweite deutsche Staat elementar gefährdet. Die diesbezügliche Forschung ist kürzlich wie folgt zusammengefaßt worden: "Grundsätzlich läßt sich feststellen, daß weitgehend einhellig in der Aufgabe der ,Breschnew-Doktrin' die notwendige Voraussetzung für den Zusammen­ bruch gesehen wird, mithin diesem Faktor höchstes Gewicht beigemessen wird. Auch jene Autoren, die den Anteil der diversen innenpolitischen Faktoren stärker gewichten, verweisen im Allgemeinen darauf, daß ohne die Aufgabe des sowjetischen Vormachtanspruchs in Osttnitteleuropa und der DDR ... ein Kollaps des Staatssozialismus zum damaligen Zeitpunkt undenkbar gewesen wäre. Für die DDR bedeutete der Verlust der bedingungslosen sowjetischen Unterstützung den Entzug ihrer wichtigsten, möglicherweise ihrer einzigen, Machtbasis. Daß sie nur so lange existieren konnte, wie die Sowjetunion ihr ... zur Seite stand, wird kaum bestritten"7• ' V gl. 0. Schwarzer, Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ/DDRErgeb­ nisse eines ordnungspolitischen Experiments (1945-1989), Sruttgart 1999; daneben A. Steiner, Die DDR-WlltSchaftsreform der sechziger Jabre. Konflikt zwischen Effizienz­ und Machtkalkül, Berlin 1999; grundsätzlich auch J. Kopstein, The Politics ofEconomic Decline in East Germany 1945-1989, Chapel Hili NC I London 1997. 7

B. Ihme-Tuchel, Die DDR, Darmstadt 2002, S. 76. Allerdings findet vor allem zum innenpolitischen Zusanunenbruch des Regimes zu wenig

in manchen Arbeiten

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Honecker war nach dem Sturz von Walter illbricht derjenige gewesen, der die außenpolitischen Richtlinien der DDR vorgegeben hatte. Seine Bedeutung für die Entscheidungen war schließlich so groß geworden, daß er zusammen mit einigen ihm ergebenen oder von ihm abhängigen Sekretären des ZK und Mitgliedern des Politbüros "alle Möglichkeiten in der Hand" hatte, "vollkom· men selbständig Außenpolitik zu betreiben "8, ohne das Politbüro in wichtige Entscheidungsprozesse einbinden zu müssen. Das ostdeutsche Regime wurde daher Opfer eines paradoxen und "fatalen Zusammenspiels von Gorbatschow und Honecker"'. Die DDR-Führung nahm -durchaus berechtigt-noch eine Zeitlang an, außenpolitisch im Gleichklang mit der UdSSR zu sein, weil Gorbatschow das sozialistische System nicht liquidieren, sondern lediglich modernisieren wolle. Sowohl bei den Abrüstungsverhandlungen als auch bei den diversen Friedensvorschlägen bewegte sich die DDR auf der Linie der Sowjetunion. Die vergleichsweise große Auslegungsfähigkeit der sowjetischen Signale - die offizielle Aufgabe der "Breschnew-Doktrin" erfolgte erst mit dreijähriger Ver­ spätung im Jahr 1989- führte jedoch dazu, daß die Nomenklatur der DDR sich in hermetischer Selbstbezogenheit und im Jahr 1989 in geradezu autistischer Manier auf die konsequente Untersrützung durch die Sowjetunion verließ. Im bürokratischen Apparat der Partei und in wissenschaftlichen Instituten gab es zwar einige Funktionäre, die ein wirklichkeitsgetreues Bild der außenpolitischen Lage der DDR zeichneten, aber die "Aussprachen darüber fanden nur in kleinen Kreisen statt" 10• Die Ansicht, es habe- auf unterer Parteiebene-beispielsweise in Fragen der Sicherheitspolitik eine "politische Erosion" gegeben", ist noch Beachtung, daß "[n]icht nur am Anfang, sondern auch am Ende der DDR ... die internationale Politik" stand, H. Wentker, Die Außenpolitik der DDR, in: Neue Politi­ sche Literatur, 46 (2001), S. 389411, hier S. 401. Der entscheidende Nexus zwischen außenpolitischer Ursache und innenpolitischer Ableitung des Untergangs der DDR wird häufig stillschweigend vorausgesetzt, bisweilen mit eioer salvatorischen Klausel bedieot und mitunter sogar völlig übergaogeo. 8

B.-E. Siebs, Die Außenpolitik der DDR 1976-1989. Strategien und Greozeo, Faderborn u.a. 1999, S. 59. Zur Funktionsweise der Außenpolitik vgl. auch die Beiträge in: H. Modrow (Hrsg.), Das Große Haus. Insider berichten aus dem ZK der SED, 2. Auf!., Berlin 1995. ' G. Wettig, Niedergang, Krise und Zusanunenbruch der DDR. Ursachen und Vorgänge, in: E. Kuhrt u.a. (Hrsg.), Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu eioer Bestandsaufnalune der DDR-Wirklichkeit in deo 80er Jahreo, Bd.l: Die SED-Herrschaft und ihr Zusammenbruch, Opladen 1996, S. 379-458, hier S. 424. Daneben auch P. Moreau, Die SED in der Wende, ebd., S. 289-339. 10

G. Sieber, Schwierige Beziehungen. Die Haltung der SED zur KPdSU und zur Perestroika, in: H. Modrow (Hrsg.), Das Große Haus, S. 71·95, hier S. 94.

11 G.-R. Stephan, Deutsch-deutsche Beziehungen vor dem Hintergrund von "Glas­ nost" und .Perestroika" (1982-1990), in: U. Pfeil (Hrsg.), Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen 1949-1989, Berlin 2001, S. 117-134, hier S. 118.

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nicht quellengestützt nachgewiesen worden. Nur punktuell wurde innerhalb der Nomenklatur das heikle Thema berührt, welche potentiellen Folgen der Verzicht auf die ideologischen Komponenteo im Kampf zwischen Ost und West habeo mußte. Jedoch mchrteo sich seit Anfang 1988 die Anzeicheo, daß Moskau die einstigen strategischen Eckpfeiler Polen und DDR politisch und wirtschaftlich zunehmend als Belasrung empfand. Von grundlegeoder Bedeutung blieb allerdings die deutsche Frage. Als sowjetische Schriftsteller in Westdeutschland im Herbst 1986 die Möglichkeit einer Wiedervereinigung andeuteten, bezeichnete Honecker diesen Auftritt gegeoüber Gorbatschow als ,konterrevolutionär" und legte Wert darauf, "an einer Front und nicht an zwei Fronten kämpfen zu müsseo"12• Bald zeichnete sich immer klarer ab, daß Gorbatschow seine Pläne nicht einmal ansatzweise in die Tat umsetzeo konnte und diese nur noch deo Machrverfall beschleunig­ ten. Die Degeoeration des Ostblocks hatte zwangsläufig zur Folge, daß .der ostdeutsche Staat seine Raison d'ette" verlor''. Während in deo übrigeo Staateo des sowjetischeo Einflußbereichs im Sog von .Perestroika" und "Glasnost" die Gedanken der Erneuerung aufgegriffen wurdeo, um das Hergebrachte zu stabilisieren, blieb dieser Weg der DDR ver­ schlossen: Reformen hätteo die Verhältnisse in der DDR notgedrungeo denen der Bundesrepublik annähern müssen und datnit zugleich die Notweodigkeit eines .zweiteo deutscheo Staates" immer stärker in Zweifel gezogeo. Keine außeopolitische Strategie, so hat einer der besteo Kenner der Außeopolitik Honeckers, Benno-Eide Siebs, geurteilt, hätte zu diesem Zeitpunkt noch den ,baldigen Zusammeobruch der DDR aufschiebeo oder gar verhindern könneo"14• Späteren Anschuldigungen hoher DDR-Funktionäre - etwa der Vorwurf, Moskau habe begonnen, .dem Kind der Sowjetunion" die ,Lebens­ stränge abzuklenunen"" - sind selbst aus der wissenden Rückschau keine überzeugeodeo Alternatiworschläge mitgegebeo worden. Das Tragische aus der Sicht der DDR war, daß es schon ab 1986/87 keine wirkliche Option mehr gab. Je mehr die SED-Führung auf die eigene Autonomie verwies, desto weniger ließeo sich die Forderungeo nach Demokratie zurückweisen; je mehr Diskussion sie zuließ, desto gefährdeter war das Regime, das seine sozialistische

12 D. Küchenmeister (Hrsg.), Honecker-Gorbatschow. Vieraugengespräche, Berlin 1993, S. 161 bzw. S. 164. " D. Staritz, Geschichte der DDR, Frankfurt a.M. 1996, S. 390. " B.-E. Siebs, Die Außenpolitik der DDR 1976-1989, S. 407 f. l5 H. Modrow, Die Perestroika- wie ich sie sehe. Persönliche Erinnerungen Wld Analysen einesJahrzehntes, das die Welt veränderte, Berlin 1998, S. 111. Rückblickend hatJulij Kwizinskij davon gesprochen, das Schicksal der DDR habe sich "irgendwann im Spätsommer 1989" entschieden, als der .Lebensnerv der DDR . . riß oder durch­ schnitten" wurde, J.A. Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993, s. 12 f. .

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Identität nicht aufgeben durfte, weil es, anders als im Falle der anderen sozia­ listischen Staaten des Ostblocks, mit Westdeutschland eine zugleich nationale wie marktwirtschaftlich-demokratische Alternative gab. Honecker griff die sowjetische Politik offen erst an, als sich die Existenz­ frage deutlich am Horizont abzeichnete. Am 29. Dezember 1988 gab er die Losung vom "Sozialismus in den Farben der DDR" aus und distanzierte sich dantit stärker als jemals zuvor von Gorbatschow und der risikobehafteten Mög­ lichkeit, die den Trabanten gewährten neuen Freiheiten zu nutzen. Die DDR billigte im Juni 1989 das Vorgehen Chinas bei der Unterdrückung der dortigen Demokratiebewegung als eine .Niederschlagung einer Konterrevolution"". Gänzlich aus dem Ruder schlug die Außenpolitik in den letzten Monaten des Regimes, als die SED den Schulterschluß mit dem Terrorregime des rumäni­ schen Diktators Ceauscescu vollzog, dessen Solidarität machtpolitisch freilich begrenzte Wtrkung harte. Im Gegensatz zur Zeit des Mauerbaus konnte die DDR jetzt nicht mehr auf die Blocksolidarität bauen. Reformkommunisten in Budopest nutzten bereits seit 1988 die Chancen für radikale politische Verän­ derungen; in Polen verhandelte das Regime mit der im April 1989 legalisierten Gewerkschaft Solidarnosc. Die bereits angeschlagene DDR wurde durch diese Umgestaltungen auch im Inneren erschüttert. Erste Zeichen der Resignation wurden erkennbar, als Honecker am 9. Juni 1989 gegenüber dem sowjetischen Außenntinister Eduard Schewardnadse darauf aufmerksam machte, daß Polen für den Sozialismus nicht verloren gehen dürfe, während in Ungarn der Auf­ lösungsprozeß .wohl schon nicht mehr aufzuhalten" sei". Ungarn, das schon seit vielen Jahren eine sehr liberale Ausreisepolitik praktizierte, hatte bereits am 2. Mai 1989 mit dem Abbau seiner Grenzsper­ ren zu Österreich begonnen und damit neue Fluchtmöglichkeiten aus der DDR eröffnet. Ausreisewillige besetzten die Botschaft der Bundesrepublik in Budapest, die im August zeitweilig geschlossen werden mußte. Der Unmut der SED-Fühtung zeigte sich nicht zuletzt in verbalen Attacken von Außenntini ­ ster Oskar Fischer gegen seinen ungarischen Amtskollegen Gyula Horn, der sich den Vorwurf des Verrats und der Erpressung anhören mußte. Honecker, der im gesamten Sommer 1989 gesundheitlich angeschlagen und politisch immobil gewesen war, intervenierte am 9. September sogar persönlich, aber erfolglos. Als die ungarische Regierung Moskau über die Öffnung der Grenze zu Österreich informierte und zugleich vorsichtig den zu erwartenden Ein­ spruch der DDR ansprach, wies deren Außenntinister Eduard Schewardnadse darauf hin, dies seien keine die UdSSR betreffenden Angelegenheiten". Die 16

Zitiert nach B.-E.

Siebs, Die Außenpolitik der DDR 1976-1989, S. 403. 17 Zitat ebd., S. 404. 18 Siehe V Zubok, New Evidence oo the .Soviet Facror" in the Peaceful Revolutions of 1989, in: Cold War loternational History Project (CWIHP) Bulletin, 12/13 (2001), Washington D.C. 2001, S. 5-23, besonders S. 12.

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ungarischen Behörden ließen am 10./11. September 1989 ohne Absprache mit der DDR-Führung alle Fluchtwilligen, die sich in ihrem Land aufhielten, ausreisen. Es kam daraufhin zu einem Massenexodus, der Erinnerungen an die Zeit vor dem Mauerbau weckte. Auf diesem Weg gelangten bis Ende September 1989 über 25.000 Übersiedler in die Bundesrepublik Auf der Beratung der ZK -Sekreräre für internationale Beziehungen in Warna vom 26. bis 28. Sep­ tember führte dies zu heftigen Wortgefechten zwischen der ostdeutschen und der ungarischen Delegation". Warnungen des Ministeriums für Staatssicherheit angesichts der auch über Prag und Warschau nicht abreißenden Fluchtwelle wurden von Bonecker ignoriert. Die in den vorangegangenen Jahren zuneh­ mende Personalisierung der Außenpolitik auf Bonecker20 schlug nun auf das System zurück. Otto Reinhold, Parteiideologe und Mitglied des Zentralkomitees der SED, befürchtete eine Liquidierung der DDR, betonte den .prinzipiellen Unterschied zwischen der DDR und anderen sozialistischen Ländern" und stellte in diesem Sinn am 19. August 1989 die entscheidende rhetorische Frage: "Welche Exi­ stenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Keine natürlich "21, eine Erkenntnis, die er noch am Nachmittag des 9. November 1989 varüerte: .Ohne Sozialismus in der DDR wird es auf die Dauer keine zwei deutschen Staaten geben"". Diese Tatsache wurde im übrigen bei den europäischen Nachbarn zumeist schärfer erkannt als in Westdeutschland: Viele Bundesdeutsche hatten sich bereits in der Zwei­ staatlichkeit eingerichtet und glaubten, ein .postnationales Stadium" erreicht zu haben, während die Nachbarn Deutschlands nicht aus den Augen verloren hatten, .daß die Nation auch für Deutschland noch eine politisch wirksame Kategorie darstellte"". Als Gorbatschow anläßlich der Feierlichkeiten zum vierzigjährigen Bestehen der DDR am 7. Oktober 1989 nach Ost-Berlin reiste, um Bonecker zu einem reformorientierten Kurs zu drängen, betonte er zwar,

" Vgl. P. Moreau, Die SED in der Wende, S. 293. 20 John Lewis Gaddis hatte in diesem Sinn schon lange zuvor auf die Nachteile einer Politik verwiesen, die der Tendenz nach alle Autorität an die Spitze verlagere: They •

can Iead to bliodness regardiog the shottcomings aod vulnerabilities of friends, aod to deep suspicion of those who would, for whatever reason, seek. to exploit them", J.L. Gaddis, Strategies of Contttioment. A Critical Appraisal ofFostwar Americao National Security Poliey, Oxford u.a. 1982, S. 335.

21 Die ,sozialistische Identität" der DDR. Überlegungen von Otto Reinhold in einem Beitrag für Radio DDR am 19. August 1989 (Auszug), in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 34 (1989), S. 1175.

22 Zitiert nach G.-R. Stephan, Die letzten Tagungen des Zentralkomitees der SED 1988/89. Abläufe und Hintergründe, in: Deutschland Archiv (künftig DA), 26 (1993), S. 2%-325, hier S. 316. " U. Pfeil, Die DDR und der Westen 1949-1989. Eine Einfühnmg, in: U. Pfeil (Hrsg.), Die DDR und der Westen, S. 7-19, hier S. 16.

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für die Sowjetunion seien die DDR, die SED und deren Führung .vorrangige, wichtige Verbündete". In seiner Festrede berief er sich allerdings nur noch auf geopolitische Argumente, um die Mauer zu rechtfertigen. In der atmosphärisch eisigen Stimmung, die von gegenseitigen Vorwürfen begleitet war, ermahnte Gorbatschow die SED-Führung: Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort"". Der sowjetische Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow berichtet in seinen Erinnerungen über eine Bemerkung Gorbatschows vom 7. Oktober 1989 beim Treffen mit den Mitgliedern der Führung des ZK der SED, in der er noch einmal eindringlich die Notwendigkeit einer neuen Politik beschworen habe, ohne daß es allerdings zu irgendeiner Diskussion gekom­ men sei. Nach der Rede seien alle aufgestanden und auseinandergegangen. "Gorbatschow trat mit uns auf den Gang, blieb stehen und sagte: ,Was kann man da noch machen? Als würde man Erbsen an die Wand werfen. Nichts wollen sie annehmen'"". Honeckers Tage waren gezählt. •

II. Eine Diktatur auf Abruf: Die DDR unter Krenz und Modrow Vor einer Routinesitzung des Politbüros wurden von führenden Mitgliedern der SED Schritte zur Absetzung ihres Generalsekretärs besprochen, die am 18. Oktober beschlossen wurde, ohne das schlingernde Staatsschiff dadurch stabilisieren zu können. Neuer Generalsekretär wurde das als Hoffnungs­ träger angesehene langjährige Politbüromitglied Egon Krenz. Schon eine Woche vor dem Sturz Honeckers hatte er gemeinsam mit Günter Schabowski eine Erklärung erarbeitet, die Reformen und eine .DDR mit menschlichem Antlitz" versprochen hatte. Honecker hatte für einen solchen Fall durchaus weitsichtig noch am 11. Oktober vor dem Politbüro zu bedenken gegeben, .daß ein radikaler Wandel größere Probleme mit sich bringen würde, als die Verteidigung des Status quo". Krenz, der Ende Oktober mit Bundeskanzler Kohl telefonisch über die Fortsetzung der Zusammenarbeit beider deutscher Staaten kouferierte, reiste am 31. Oktober nach Moskau. Hier konnte er, der wohl kaum über .eine politische Konzeption bzw. über eine Handlungsstrategie verfügte"", nur mit einer düsteren Situationsbeschreibung aufwarten. Die von Krenz ange­ deutete und alle Erwartungen übersteigende Wirtschaftsmisere bestärkte die sowjetische Führung, die Dinge weiter treiben zu lassen. Zugleich harte Krenz den Eindruck, daß in den Grundfragen der Entwicklung des Sozia-

24 D. Kiichenmeister (Hrsg.), Honecker-Gorbatschow, S. 256. W Kotschemassow, Meine letzte Mission. Fakten, Erinnerungen, Überlegungen, Berlin 1994, s. 111. 26 P. Moreau, Die SED in der Wende, S. 301. .v

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lismus zwischen der Sowjetunion und der DDR .kein Schulterschluß" mehr vorhanden sei. Der bei dieser Gelegenheit abgesprochene innenpolitische Maßnahmenkatalog griff zu kurz, weil zu diesem Zeitpunkt wohl nur noch radikale Reformen die DDR für eine Zeidang hätten retten können. Als Krenz mit seiner Delegation aus Moskau abreiste, wurde er selbst von den Mitarbei· tem des sowjetischen Außemninisteriums nicht mehr als Machtfaktor ernst· genommen. Einige von ihnen frotzelten: .Da geht das Komitee zur Auflösung der DDR"". Außenpolitisch hätte ein Kurs analog zum polnischen und ungarischen Weg eine grundlegende Abkehr von der bisherigen Abschottungspolitik ein· leiten müssen und gerade dadurch die Existenz der DDR aufs Spiel gesetzt. Weil dies nicht vorstellbar war, konnte Krenz auch außenpolitisch nur Sym· ptome beschreiben, nicht jedoch ein schlüssiges Gesundungskonzept vor· legen. Gorbatschow regte eine bessere Abstimmung zwischen beiden Staaten und den aus ökonomischen Gränden ratsamen Ausbau der Beziehungen der DDR zu den westlichen Ländern an. Das Thema Wiedervereinigung stand zwar nicht auf der Tagesordnung, aber der SED glitten die Dinge weiter aus der Hand. Politische Verständigungsprobleme, technische Kommunikationsdefizite und falsche Interpretationen der Weisungen aus Moskau führten am 9. November 1989 zur Öffuung der Mauer. Danach ging es nur noch darum, .ob dieser Staat überhaupt weiter bestehen sollte"". Timothy Garton Ash hat dazu bemerkt, die Vorgänge könnten am besten als eine "Mischung aus gesundem Menschenver· stand und Schlamperei der neuen Parteiführung" beschrieben werden". Die mit dem Fall der Mauer verbundenen Mythen, wie der, die Vorgänge des 9. No· vember seien eine gezielte Rettungsaktion zur Stabilisierung der DDR oder gar eine überlegte Staatsaktion zur Verhinderung einer gewaltsamen Eskalation gewesen, sind überzeugend zurückgewiesen worden. Die an den Entscheidungen beteiligten Institutionen haben den Fall der Mauer ebenso wenig gewollt wie die Akteure; sie wurden vielmehr vom .kumulierenden äußeren und inneren Problemdruck zu Ad·hoc-Entscheidungen jenseits der jahrzehntelang einge· spielten Routinen gezwungen", so daß der Gesamtvorgang als "unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED·Staates" bezeichnet worden ist30•

Zl P. Zelikow I C. Rice, Sternsrunde der Diplomatie, S. 140. " T Garton Ash, EinJohrhundert wird abgewählt. Aus deo Zeotreo Mitteleuropas

1980·1990, Müochen I Wien 1990, S. 393.

29 T Garton Ash, Im Nameo Europas. Deutschland und der geteilte Kontineot, I Wieo 1993, S. 505. " H.B. Hertle, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED·Staates, 2. Auf!., Opladeo I Wiesbaden 1999, S. 299.

Müocheo

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Was sich im Jahr 1990 abspielte, stellt sich rückblickend nur als der Nach­ klang dieser Zäsur dar. Allerdings muß das Ende der DDR unabhängig vom Neuanfang des wiedervereinigten Deutschlands betrachtet werden. Der Unter­ gang des SED-Regimes mußte nicht zwangsläufig in den dann tatsächlich stattfindenden Prozeß der faktischen Eingliederung der DDR in den Gel­ tungsbereich der Bundesrepublik münden. Die SED-Führung vermochte das Dilemma jedoch nicht zu lösen, wie die notwendigen Reformen durchgeführt werden konoten, ohne das Regime zu gefährden. Letztlich gibt es in der Lite­ ratur kaum einen Dissens darüber, daß es Krenz nicht gelang, einen wirklichen politisch-ideologischen Neuanfang zu bewerkstelligen", dessen Erfolg zudem ausgesprochen fragwürdig gewesen wäre. Letztlich lag, so ist geurteilt worden, .die einzige Hoffnung für die SED-Führung ... in der Aussicht, daß man viel­ leicht die Bundesregierung auf lange Sicht zu weit über den bisherigen Umfang hinausgehenden finanziellen Hilfeleistungen veranlassen könoe, ohne dafür die Beseitigung von Regime, System und Staat akzeptieren zu müssen"32• Auf der 10. Tagung des ZK der SED am 8. November trat das gesamte Politbüro zurück, während Krenz in seinem Amt bestätigt wurde. Als Hans Modrow am 13. November zum neuen Regierungschef gewählt wurde, schienen sich der DDR insofern neue Chancen zu eröffnen, als auch dieser als Reformer gehandelt wurde. Seine Regierungserklärung vom 17. November verwies auf schon begonoene Umgestaltungen und erteilte der Wiedervereinigungsdiskus­ sion eine klare Absage. Modrow erwartete för die Zukunft der DDR vielmehr eine .kooperative Koexistenz"" mit der Bundesrepublik in Bereichen, die von Abrüstung und Friedenssicherung bis zu Kultur und Tourismus reichten. Die geplante Vertragsgemeinschaft sollte unter Beibehaltung der bestehenden Abkommen realisiert werden. Beide deutschen Staaten sollten als Stützen des .gemeinsamen europäischen Hauses" eine Existenzberechtigung haben. Noch ungeklärt ist, ob Modrow mit diesem Vorschlag bewußt Forderungen der DDR-Opposition aufnahm, um auf diesem Weg den Wiedervereinigungstenden-

" Beispielsweise W.R Smyser, From Yalta to Berlin. The Cold War Struggle over Germany, New York 1999, S. 339. 32 G. Wettig, Niedergaog, Krise und Zusammenbruch der DDR, hier S. 421. Ähnlich hat Helmut Kohl diese Taktik perzipiert: .Aus den heute bekaonten Unter­ lagen wissen wir ja, daß ohne die deotsche Einheit das DDR-Regime spätestens 1991 aus ökonomischen Gründen total kollabiert wäre, selbst wenn die Sowjetunion weiter bestanden härte ... Das SED-Regime wäre kollabiert, und es wäre natürlich die For­ dertmg erhoben worden, daß die alte Bundesrepublik voll wirtschaftlich eintreten solle, ohne mitgestalten zu können", H. Kohl in: Materialien der Enquete-Kommission .Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Dikrarur in Deutschlaod", hrsg. vom Deutschen Bundestag, 9 Bde. in 18 Tibden., hier Bd. 5/1: Deutschlandpolitik, innerdeutsche Beziehungen und internationale Ralunenbedingungen, Baden-Baden I Frankfurt a.M. 1995, S. 943 f. " H. Modrow, Die Perestroika- wie ich sie sehe, S. 101.

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zen entgegenzuwirken. Der sowjetische Botschafter in Bonn, Julij Kwizinskij,

führt den Vorschlag jedenfalls auf seine Idee zurück, der Bundesrepublik mittels der DDR·Opposition mit eigenen ostdeutschen Vorschlägen zuvorzu· konunen, um zwei eigenständige Staaten mit unterschiedlichen Gesellschafts· systemen zu erhalten". Aber auch der sowjetische Botschafter in Ost-Berlin, Wjatscheslaw Kotschemassow, erhebt den Anspruch, den entsprechenden Entwurf für Modrow erarbeitet zu haben". Nach Bekanntgabe des Zehn·Punkte-Progranuns von Helmut Kohl vom 28. November, das unter anderem ein Ende des Machttnonopols der SED forderte, dem Rücktritt des bisherigen Politbüros am 3. Dezember und nach der Demis· sion von Egon Krenz am 6. Dezember wuchs Modrow, der außenpolitisch auf Kontinuität setzte'', eine Schlüsselrolle zu. Zugleich gewann Gregor Gysi an politischer Statur. Er tdephonierte am 10. Dezember mit Gorbatschow und ttaf in den folgenden Tagen in Ost·Berlin mit führenden sowjetischen Außen. politikern, unter ihnen dem engen Gorbatschow·Berater Alexander Jakowlew, zusammen, um über die Möglichkeiten der Erhaltung einer souveränen DDR zu beratschlagen. Seine Vorschläge präsentierte er sodann auf dem Außeror· dentlichen Parteitag der SED am 17. Dezember 1989. Gysi, inzwischen neuer Parteivorsitzender der SED, plädierte zwar auch für eine Vertragsgemein· schaft", wies jedoch darauf hin, daß erst die Zukunft zeigen werde, ob .diese konföderativen Charakter armdunen könne". Zid blieb die .Eigenständigkeit und Eigenstaatlichkeit" der DDR. Er warnte vor einem .deutschen Sonderweg der Vereinigung" und evozierte die Gefahr konservativer Forderungen nach den ehemaligen deutschen Gebieten in Polen: .Der Friede wäre ernsthaft bedroht". Dieser Versuch, die Ängste der Nachbarn Deutschlands zu schüren, war nicht neu. Schon Erich Bonecker hatte sich immer wieder bemüht, .die Existenz der DDR international als ein Element der europäischen Friedenssta· bilisierung zu propagieren"". Allerdings ist der Versuch, einen westdeutschen Revanchismus ins Feld zu führen, um die Notwendigkeit der Erhaltung der DDR zu ermöglichen, als wenig überzeugend bezeichnet worden". •

Es gelang der DDR·Führung nicht, ihre außenpolitischen Vorstellungen plausibd zu machen. Modrow wiederholte gegenüber Gorbatschow seine in der Regierungserklärung formulierten Ideen und stellte sie in kaum modifizierter Form am 1. Februar 1990 der Öffentlichkeit vor. Ohne einen Zeitplan vor· zulegen, sprach er von einer Vettragsgemeinschaft mit gemeinsamen Organen 34 Vgl. ].A. Kwizinskij, Vor dem Sturm, S. 17. 35 Siehe W Kotschemassow, Meine letzte Mission, S. 214.

" Vgl. E. Crome IR Krämer, Die verschwundeoe Diplomatie. Rückblicke auf die Außeopolitik der DDR, in: WeltTreods, 1 (1993), S. 128·146, hier S. 138. " P. Moreau, Die SED io der Weode, S. 329. " Ebd.

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und Institutionen, der Übertragung von Souveränitätsrechten beider deutscher Staaten an eine zu schaffende "Deutsche Föderation" oder einen "Deutschen Bund" und von der Schaffuog einer neuen Verfassung und eines gemeinsamen Parlaments. Dies setzte nach Modrows Ansicht die Wahrung der Interessen der Vier Mächte, die Erfüllung aller bestehenden Verträge und die militärische Neutralität voraus. Diese wenig präzisen Pläne waren schon deshalb unrealistisch, weil sie das traditionelle Mißtrauen der westlichen Mächte vor einem politisch ungebun· denen Deutschland io der Mitte Europas hervorrufen mußten. Die Rechte der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges wären zudem durch die Schaffuog eines gemeinsamen Parlaments und ebensolcher Verfassungsorgane io Frage gestellt geworden. Modrows Vorstoß war daher letztlich nur ein außenpoliti· scher Schachzug, der der bedrängten DDR vor allem Zeit verschaffen sollte. Denn Modrow und seine strategischen Berater waren zwischen Dezember 1989 und Februar 1990 immer weniger io der Lage, außenpolitische Akzente zu setzen. Die dramatische Schwäche der DDR, deren politische Autorität von Tag zu Tag schwand und deren Wntschaft zusammenzubrechen drohte, einerseits, Gorbatschows zunehmend ambivalente Beurteilungen der deutschen Frage andererseits, trugen dazu bei, daß die außenpolitische Initiative Zug um Zug von Ost-Berlin an Bonn überging. Gorbatschow kam nach eigenen spä­ teren Angaben Mitte Januar 1990 zu dem Schluß, daß die Wiedervereinigung Deutschlands unvermeidlich sei. Im Februar 1990 stimmte er im Gespräch mit Kohl der deutschen Eioheit grundsätzlich zu, ohne jedoch die Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands zur NATO zu konzedieren. Modrow mußte io einem Gespräch mit dem amerikanischen AußenmiDister James Baker schließlich gar zugestehen, daß die Bevölkerung der DDR die Eiobeit - und damit die Aufgabe der DDR- als den kürzest möglichen Weg ansah, um zu vergleichbaren Lebensbediogungen wie io Westdeutschland zu kommen. Bei einem io kühler Annosphäre stattfindenden Besuch Modrows io Bonn am 13. Februar konnte er die gewünschte Fioanzbilfe nicht erreichen, wurde aber bereits mit dem Angebot der Währungsunion und Wirtschafts­ gemeinschaft konfrontiert. Modrow hatte schon bei dieser Gelegenheit den Eiodruck, als zeichne sich die "bedingungslose Übergabe der DDR an die Bundesrepublik" ab". Helmut Kohl hatte bald kein Interesse mehr, "mit einem hilflosen Modrow noch entscheidende Verabredungen zu treffen"40• Jener war kaum mehr io der Lage, außenpolitisch wenigstens noch "moderierend Einfluß" zu nehmen".

39 H. Modrow, Aufbruch und Ende, Harnburg 1991, S. 134. 40 H. Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 145. 41 P. März, Aspekte der Deutschen Wiedervereinigung, in: P. Gietl (Hrsg.), Vom Wiener Kongreß bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. Betrachtungen zu Deutsch-

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Wie gering der Einfluß der DDR inzwischen war, wurde auch dadurch sichtbar, daß es ihr nicht einmal gelang, die in Europa nicht geringen Vorbehalte gegen eine Wiedervereinigung, vor allem in Frankreich, Großbritannien und Polen, nicht zuletzt aber auch südlich der Alpen, für den Erhalt des eigenen Staates wirksam zu instrumentalisieren. Eine konsequente Instrumentalisierung der Bedenken in den Nachbarstaaten hätte möglicherweise das Ende der DDR hinausgezögert; ob es den zweiten deutschen Staat hätte retten können, erscheint angesichts der Eigendynamik des Prozesses weitaus unwahrscheinlicher.

An dieser Stelle interessiert vor allem das Verhältnis zwischen Rom und Ost-Berlin in jenen entscheidenden Monaten zwischen Mauerfall und der Ent scheidung zur Wiedervereinigung. Der Fall der Mauer wurde in Italien bejubelt und eine deutsche Wiedervereinigung als .potentielle Sicherheitsbedrohung", zunächst jedenfalls, nur von wenigen beschworen". Selbst als nach der ersten ehrlichen Freude über das Ende der deutsch-deutschen Teilung die Stimmung nüchterner wurde und als Wechselbad von Besorgnis, Furcht und Hoffnungen" bezeichnet worden ist43, blieb die DDR-Diplomatie jedoch wie gelähmt und konnte die durchaus ambivalente Haltung mancher Italiener in der Frage einer möglichen Wiedervereinigung nicht für sich nutzen. Es gab zwar - gerade im linksintellektuellen Spektrum- durchaus vernehmbare Stimmen der Besorgnis über ein starkes ungeteiltes Deutschland, aber charakteristischerweise bedauerte kaum jemand in Italien den Niedergang der DDR. Zudem war die italienische Öffentlichkeit in den entscheidenden Wochen Ende 1989 vorübergehend durch einen dreitägigen Staatsbesuch Gorbatschows in Italien und im Vatikan abge· lenkt. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei dem Besuch des sowjetischen KP-Generalsekretärs beim Papst geschenkt, einer Audienz, die den seit sieben Jahrzehnten andauernden erbitterten ideologischen Konflikt beendete44• ·



Nun wirkte sich negativ aus, daß das Italienbild der DDR seit Jahrzehnten durch .eklatante Fehlperzeptionen der politischen Lage und der wirklichen Machtverhältnisse"" geprägt gewesen war. Die DDR hatte ihre Kontakte im

land und Österreich im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Huben Rumpel zum 75. Geburtstag, Stamsried 1997, S. 231-285, hier S. 253. 42 J. Lill, Völkerfreundschaft im Kalten Krieg? Die politischen, kulturelleo und ökonomischeo Beziehungen der DDR zu Italien 1949-1973, Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 465. Grundlegeod J. Petersen, Die Einigung Deutschlands 1989/90 aus der Sicht Italiens, in: J. Becker (Hrsg.), Wiedervereinigung in Mitteleuropa. Außen- und Innen­ ansichten zur staatlicheo Einheit Deutschlands, München 1992, S. 55-90. " J. Petersen, Quo vatlis, Italia? Ein Staat in der Krise, München 1995, S. 27. Daneben L. V Ferraris, L'unita della Germania e l'unita dell'Europa, in: Affari Esteri, 90 (1990), s. 19-31. 44 Vgl. D. Oberdor/er, From the Cold War to a New Era, S. 377. ., C. Pöthig, Italien und die DDR Die politischen, ökonomischeo und kulturelleo Beziehungeo von 1949 bis 1980, Frankfurt a.M. 2000, S. 399.

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wesentlichen auf die kommunistische Partei Italiens beschränkt, die in den revolutionären Monaten 1989/90 außenpolitisch wie gelähmt war. Mit Blick auf die italienische Linke ist zutreffend von einer ideologischen .Selbsttäuschung" gesprochen worden". Stellvertretend für das verzerrte DDR·Bild mag die Sichtweise des einflußreichen linken Zeithistorikers Enzo Collotti stehen, dem die DDR in mancher Hinsicht als das bessere Deutschland erschienen war47• Freilich war auch bei den italienischen Linken angesichts des kollabierenden östlichen Bündnisses eine Art resignierte Hellsichtigkeit zu konstatieren. Sergio Segre, einer der führenden Außenpolitiker der KPI und zugleich einer der wichtigsten Sympathisanten des DDR-Regimes, ginganläßlich der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 in einem Artikel der Parteizeittmg .Unitil" gar so weit, das Ende der Mauer zu fordern". Für die außerhalb der Linken angesiedelten politischen Kräfte galt ohnehin, daß ihr Deutschlandbild von der Bundesrepublik bestimmt war, während die DDR lediglich mit einer .marginalen Präsenz" hatte rechnen können49• Das von der Democrazia Cristiana geführte Italien hatte immer die Bundesrepublik als NATO-Staat zum Referenzpunkt gewählt. In den achtziger Jahren hatten die italienischen Regierungen zwar durchaus mit Interesse die Stellungnahmen der DDR zur Kenntnis genommen, die erwa im Zusammenhang der Frage der Stationierung von SS-20 Mittelsteckenraketen und der NATO-Nachrüsttmg aus Ost-Berlin zu hören gewesen waren, ohne daß dies jedoch zu einer wirk­ lichen Vettiefung der Beziehungen beigerragen hätte. Auch der Staatsbesuch Erich Honeckers im April 1985 - Italien war der erste NATO-Staat, der den DDR-Staats- und Parteichef offiziell empfing- hatte zwar den .bislang größten außenpolitischen Erfolg" der DDR in ihren Beziehungen zu Italien dargestellt" und in Italien den Eindruck einer stabilen und selbstsicheren DDR hinterlassen, aber dies hatte kaum langanhaltende Wttkungen gezeitigt. Vor allem der Amtsantritt Gorbatschows, so ist überzeugend argumentiert

46 G.E. Rusconi, Die deutsche Einigung aus italienischer Sicht. Historische Prä­

missen und aktuelle Entwicklungen, in:

S. Wilking (Hrsg.), Deutsche und italienische Europapolitik. Historische Grundlagen und aktuelle Fragen, Bonn 1992, S. 23-37, hier s. 25.

47 Vgl. z.B. E. Collotti, Storia delle due Germanie 1945-1%8, Turin 1968; ders., Quale Germania, in: Nuovi Argomenti, 35 (Juli/September 1990), S. 18-36.

48 Vgl. S. Segre, ll Muro deve cadere, in: Unitii, 8. Oktober 1989. 49 f. Ull, Völkerfreundschaft im Kalten Krieg?, S. 454. Zum italienischen Deutsch­ landbild in den entscheidenden Monaten nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft siehe auch Gian Enrico Rusconi, La riunificazione delle due Gennanie, in: TI Mulino, 320 (Januar/Februar 1990), S. 37-54; E.S. Kuntz, Konstanz und Wandel von Stereotypen. Deutschlandbilder in der italienischen Presse nach dem Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a.M. u.a. 1997, S. 347·369. 50 f. Ull, Völkerfreundschaft im Kalten Krieg?, S. 459.

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worden, hatte dann das Interesse der italienischen Regierung an der Ausgestal­ tung der aktiven Beziehungen zur DDR wieder erlahmen lassen". An ihre Stelle war seit Mitte der achtziger Jahre die Sorge vor einer Destabilisierung der DDR getreten, deren konsolidierende Rolle im europäischen Staatengefüge von nun an betont worden war. In diesem Zusammenhang hatte eine Stellungnahme des italienischen Außenministers Giulio Andreotti am 13. September 1984 Aufsehen erregt, als dieser auf dem Pressefest der kommunistischen "Unitil" ausgeführt hatte: Wir alle sind damit einverstanden, daß es zwischen den beiden deutschen Staaten gute Beziehungen geben muß. Aber man muß nicht übertreiben in dieser Richtung. Der Pangennanismus muß überwunden werden: Es gibt zwei deutsche Staaten, und zwei müssen es bleiben! "52 -Äußerungen, die vom SED-Organ "Neues Deutschland" am 17. September 1984 ausführ­ lich wiedergegeben worden waren. Die verständlichen Bonner Irritationen, die sogar diplomatische Schritte nach sich zogen, haben möglicherweise dazu beigetragen, daß es in der Folge nicht mehr zu einem weiteren Aushau der Beziehungen zwischen Rom und Ost-Berlin kam". •

Auch die Wirtschaftsbeziehungen mit der DDR waren in den achtzigerJahren nicht bedeutend gewesen. Mit einem Anteil von 0,2 Prozent am italienischen Außenhandelsumsatz hatte aus ökonomischer Sicht wenig für römische Treue gegenüber Ost-Berlin gesprochen. Mit Blick auf die bilateralen Wirtschafts­ beziehungen hatte sich damit eine bereits Ende der siebziger Jahre getroffene recht lapidare Bemerkung über die Beziehungen der DDR zu den westlichen Mächten bestätigt, wonach die DDR-da sie nichts zu bieten habe -keineswegs ein attraktiver Ansprechpartner für die westlichen Staaten sei"'. Die auswärtige Kulturpolitik harte zwar für das Bild der DDR südlich der Alpen eine bedeutende Rolle gespielt. Vor allem die starke kommunistische Partei Italiens ließ sich von dem Eigenbild der DDR als das .bessere Deutsch­ land" überzeugen. Dabei waren die auch in Italien verbreiteten Sorgen vor einer starken und wirtschaftlich potenten Bundesrepublik von der DDR ausgenutzt und mit dem Trugbild einer friedliebenden und der Solidarität verpflichteten .demokratischen Republik" kontrastiert worden. Sicherlich hatte aber auch in diesem Zusammenbang der Versuch verstörend gewirkt, sich zwar als Kultur­ nation zu stilisieren, Kulturvermittlung jedoch als .Einbahnstraße" und nicht

" Siehe ebd., S. 458-460. 52 Zitiert nach G. Andreotti, "Es gibt zwei deutsche Staaten, und zwei müssen es

bleiben". Eine Äußerung des italienischen Außenministers im September 1984 und die Folgen, in: Blänerfür deutsehe und internationale Politik, 29 (1984), S. 1265-1269, hier s. 1265 f. " Vgl. ]. Litt, Völkerfreundschaft im Kalten Krieg?, S. 463. "' Siehe]. Kuppe, Die DDR im Westen (III). Die Beziehungen zu den Westmächten, in: DA, 12 (1979), S. 1299-1311, hier S. 1300.

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als Weg zur Schaffung wechselseitiger Beziehungen zu verstehen". Trotz aller temporären Erfolge der auswärtigen Kulturpolitik darfauch ihr Stellenwert nicht zu hoch bewertet werden. Als es Ende der achtziger Jabre um die Existenz der DDR ging, konnten weder die auswärtige Kulturpolitik noch die transnationalen Kontakte zu Italien oder anderen westeuropäischen Staaten den Untergang der DDR verzögern, geschweige denn verhindern. Von der DDR, so hat einer der besten Kenner des Verhältnisses zwischen Ost-Berlin und Rom bemerkt, .blieb in Italien buchstäblich nichts mehr übrig"".

DI. Die Abwicldung eines delegitimierten Staates: Unter de Maiziere und Meckel

Nach der Wahl zur Volkskammer vom 18. März 1990, die einem Plebiszit für die Einheit gleichkam, blieb der neuen Regierung unter dem Christdemo­

kraten Lotbar de Maiziere, die insgesamt außenpolitisch .nur eine unterge­ ordnete Rolle" spielte", nicht viel mehr übrig als die Liquidierung der DDR durchzuführen. Die wichtigsten außenpolitischen Zielsetzungen waren vor dem Hintergrund der anzustrebenden Wiedervereinigung die Anerkennung der polnischen Westgrenze, die deutliche Abrüstung aller deutschen Streitkräfte und die Ablösung der Rechte der Alllierten. Schon Anfang Februar1990 war eine weitgehende Verständigung zwischen der Bundesrepublik, der Sowjetunion und den USA über Verhandlungen zur Wiedervereinigung erreicht worden. Die Voraussetzungen für die sogenannten Zwei-Plus-Vier-Gespräche waren am 13. Februar von den sechs Außenmini­ stern in Ottawa bekannt gegeben worden. Bei den entscheidenden, zwischen Washington, Bonn und Moskau stattfindenden Verhandlungen war die DDR ins zweite Glied verbannt. Schon der Verhandlungsbeginn am 14. März- vier Tage vor der Volkskammerwabl-hatte deutlich gemacht, daß es vergleichsweise unwichtig war, ob hier noch die alte SED-Riege oder demokratisch legitimierte Diplomaten und Beamte am Verhandlungstisch sitzen wörden. Der neue Außen­ minister der DDR, der Sozialdemokrat Markus Meckel, der am 12. April1990 sein Amt antrat und der erste frei gewählte Außenminister seines Landes war, hat dies rückblickend durchaus realistisch als ein Signal gewerter, daß .der DDR von vorneherein keine eigene Rolle eingeräumt wurde"". Meckel wurde " H.-J. Fink, Die DDR im Westen (I).Probleme und Interessen, in: DA, 12 (1979), S. 290-302, besonders S. 300 f. 56 J. Litt, Völkerfreundschaft im Kalten Krieg?, S. 465. 57 K.-R. Kmte, Die Chance genutzt? DiePolitik zur Einheit Deutschlands, Frankfurt a.M. I New York 1994, S. 147. 58 Zitiert nach]. Staadt, Der Mann, der die Nummer zwei vertrat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Mai 2000.

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unmittelbar nach seiner Wahl von Bundesaußenminister Genseber empfangen und mit den Grundlinien der Bonner Politik bekannt gemacht. Auch wenn er hier noch den Eindruck haben mochte, von gleich zu gleich zu sprechen, sollten doch schon die folgenden Wochen zeigen, daß die DDR-Regierung kaum Handlungsspielraum besaß. Meckel hat rückblickend nüchtern festgestellt, man habe im Kreis der Zwei-Plus-Vier-Außenminister weder damit gerechnet noch gewollt, .daß mit der demokratischen DDR noch ein wirklieber Akteur auf das Spielfeld ttat"". Das außenpolitische Ziel der Herstellung der deutseben Einheit war zwar zwischen Bonn und Ost-Berlin unumstritten, aber über die Frage, auf welchem Weg dies erreicht werden sollte, gab es durchaus Meinungsunterschiede. Meckel orientierte sich an pazifistisch-neutralistischen Positionen und sah sieb vor schwierige Aufgaben gestellt. Sein Ministerium war von der Sttukrur und seinem Personal her immer noch kaum mehr als eine Behörde des SED­ Staates. Er arbeitete ohne fuodierte Untersrützung aus der von ihm kritisch beargwöhnten Ministerialbürokratie60 und verließ sieb auf eine Mannschaft von Altkadern, diplomatischen Neulingen aus der Friedens- und Dissidenten­ bewegung und bundesdeutseben diplomatischen Quereinsteigern. Zu ihnen zählten Hans Misselwitz als Parlamentarischer Staatssekretär, Carlchristian von Braunmühl als Politischer Direktor und der Politikwissenschaftler Ulricb Albrecht als Berater. Meckels nicht immer glückliebe Personalwahl wurde von den anderen Mächten im besten Fall als Zeichen mangelnder Professionalität, im schlechtesten Fall als Zeichen der Irrelevanz verstanden. Der West-Berliner Friedensforscher Albrecht hat rückblickend selbstkritisch von .Greenhorns, Aufänger[n] auf diplomatischer Bühne" gesprochen, die von den Bonner Diplomaten "wie irgendwelche Menschen aus Drittstaaten" behandelt worden seien". Tatsäeblieb wirkten Meckel und seine Riege auf dem glatten diplomati­ schen Parkett verloren. Der "Spiegel" schrieb sarkastisch, Meckel gleiche "in seinem schlechtsitzenden Anzug ... einem Dorfschullehrer im Sonntagsstaat, der sieb aufs Gruppenbild mit Ministern mogeln möchte"". Die von Meckel ventilierten Vorstellungen über die Friedensordnung und das zukünftige Deutschland liefen darauf hinaus, den Prozeß der deutseben Einheit so zu gestalten, daß er der Katalysator für die europäische Einigung sein sollte - ein durchaus hoher Anspruch in einer hochkomplizierten Phase

" M. Meckel, Die Außenpolitik der DDR nach der freien Wahl 1990, in: H. Misse/witz IR. Sehröder (Hrsg.), Mandat für deutsche Einheit. Die 10. Volkskanuner

zwischen DDR-Verfassung und Grundgesetz, Opladen 2000, S. 75-90, hier S. 82. 60 Vgl. E. Crome IR. Krämer, Die verschwundene Diplomatie, hier S. 135. " U. AlbrechI, Die Abwicklung der DDR Die "2+4-Verhandlungen". Ein Insider­ Bericht, Opladen 1992, S. 12 f. " "Wer ist Tdtschik?", in: Der Spiegel, 31 (1990), S. 56 f., hier S. 56.

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der Neuformierung der europäischen Staatenwelt. Meckel ging es vor allem darum, Übergangsregelungen zu schaffen, um diesen Prozeß besser steuern zu

können. Während in der Bundesrepublik früh angeregt wurde, angesichts der Labilität der internationalen Konstellation und der unsicheren Verhälmisse in der Sowjetunion vor der Erörterung von Verfassungseinzelheiten .zunächst die staatliche Einheit zu vollziehen"", wandten sich vor allem die westlichen Verbündeten angesichts der möglichen Folgen eines .Offenhaltens" der Lage strikt gegen die außenpolitische Linie der DDR. Letztlich gingen die posma­ tionalen Träumereien des Außenministers aber auch an den Wünschen der eigenen Bevölkerung vorbei, die den möglichst schnellen Vollzug der Einigung wünschte, ohne mit akademischen Visionen behelligt zu werden. Meckel wußte seit einem Besuch in Washington Anfang März 1990, daß es Eckpunkte gab, die für die westliche Führungsmacht USA unumstößlich waren: Hierzu zählte die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutsch­ lands. Meckel und seine Berater waren in dieser Frage flexibler. Sie plädierten für eine Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der NATO, allerdings nur für eine Übergangszeit, weil sie mittelfristig für die Schaffung eines gesamteuro­ päischen Sicherheitssystems und die Auflösung der Blöcke, die das Europa des Kalten Kriegs vierzig Jabre lang bestimmt hatten, waren. Dazu sollte das wiedervereinigte Deutschland auf die Herstellung und den Besitz von ato­ maren, biologischen und chemischen Waffen verzichten. Zugleich sollte die NATO wichtige Strategien modifizieren. Hierzu zählte der Verzicht auf die Vorneverteidigung, die .flexible response" und das Recht auf den nuklearen Erstschlag. Eine erweiterte KSZE statt der NATO sollte die Basis dieser neuen gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur sein. Die DDR sah sich gar als Vorreiter einer so gestärkten KSZE und knüpfte dabei an einen polnischen Vorschlag an, der am12. Juni zusammen mit Polen und der Tschechoslowakei vorgestellt wurde. Regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs der KSZE und ein ständiges Referat mit Sitz in Prag härten der Konferenz eine gewisse östliche Ausrichtung geben sollen. Wenn auch im Prozeß der Einigung die Forderung nach einer .Neutra­ lisierung" Deutschlands keine Rolle mehr spielte, waren diese Wünsche, die im Grundgesetz oder im Einigungsvertrag hätten festgeschrieben werden sollen, noch Zeichen der pazifistischen Grundströmungen der außenpolitischen Akteure in Ost-Berlin. Neben der Erwartung, mit der Europäischen Gemein­ schaft Übergangsregelungen für die Erweiterung des Gemeinsamen Marktes nach Ostmitteleuropa aushandeln zu können, zeigte sich die DDR besonders der Sowjetunion und den östlichen Nachbarn gegenüber sensibel. Da die DDR schon 195 0 die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens anerkannt hatte, wollte die demokratische DDR dieses Erbe übernehmen und neu bestätigen, "

L.

Galt, in: Die Welt, 17. April1990.

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um polnische Zweifel über ein starkes Deutschland in der Mitte Europas zu zerstreuen. In der Tat wirkte die Ost-Berliner Position beruhigend, während Bonner Beschwichtigungen gegenüber Warschau erfolglos geblieben waren. Warschau hatte zeitweilig gar die Wiedervereinigung von einem neuerlichen Grenzvenrag abhängig machen wollen; Premierminister Tadeusz Mazowiecki war dafür sogar bereit, Truppen der UdSSR zur logistischen Unterstützung der sowjetischen Streitkräfte in der DDR in Polen zu belassen. In den Pariser Zwei­ Plus-Vier-Gesprächen im Juli 1990 wurde schließlich eine Kompromißlösung gefunden. Grundsätzlich erschienen jedoch die hochfliegenden Vtsionen der Meckel-Riege den übrigen Verhandlungsteilnehmern als .zierulich weltfremd" (Jochen Staadt). Die luftigen Ideen verstärkten zudem die erheblichen Vor­ behalte gegenüber den Ost-Berliner Positionen. Britische Diplomaten ließen offen erkennen, daß sie die DDR-Außenpoliriker nicht als verhandlungsfähig betrachteten, während ehemalige SED-Diplomaten Meckels Traum von einer souveränen Außenpolitik inzwischen als .kindische lliusion" bezeichneten". Die Bundesregierung war immer weniger bereit, den ostdeutschen Ideen entgegenzukommen. Ein Gespräch Genschers mit Meckel am 17. Juni, kurz vor der zweiten Zwei-Plus-Vier-Außenministerkonferenz, verlief nach Meckels Erinnerung entsprechend .freundlich und unerfreulich"". Letztlich sprach die Tageszeitung "Die Welt" das aus, was sich die westdeutsche Diplomatie von der Rolle Meckels erwartete, daß nämlich .seine einzige reale Aufgabe darin bestehen sollte, die Außenpolitik der DDR auslaufen zu lassen"66•

Es wurde immer offenkundiger, daß die Regierung in Ost-Berlin nicht mehr in der Lage war, gegen den Willen der Bundesregierung zeitliche Vorgaben für die Wiederherstellung der staatlichen Einheit zu machen. Insofern ist der letztlich eingeschlagene Weg von einem der Beteiligten, Hans Misselwitz, rückblickend als "alternativlos" eingeschätzt worden". Auch Meckel hat den unmittelbaren Einfluß der DDR auf die Ergebnisse der Einigungsverhand­ lungen später als .gering" bezeichnet: "Nicht nur wegen mancher Fehler und Unerfahrenheit, sondern insbesondere durch die ... Rahmenbedingungen. Das ,schmale', auf wenige Verhandlungspunkte angelegte Konzept des Westens war strategisch auf einen schnellen Erfolg angelegt und hatte Erfolg"". Richtung und Tempo des Wiedervereinigungsprozesses wurden durch die internationale Konstellation und nicht durch Ost-Berlin bestimmt. Der 64 "Wer ist Teltschik?", S. 57. " M. Meckel, zitiert nach U. Albrecht, Die Abwicklung der DDR, S. 15. 66 B. Conrad, Markus Meckel und die Diplomatie, in: Die Welt, 26. Juli 1990. 67 H. Misse/witz, Die 2+4-Verhaodlungen aus der Sicht eines Zeitzeugen, in: H. Timmermann (Hrsg.), Die DDR- Analysen eines aufgegebenen Staates, Berlin 2001, S. 697-711, hier S. 698. 68 M. Meckel, Die Außenpolitik der DDR nach der freien Wahl 1990, S. 87.

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Handlungsspielraum der DDR tendierte gegen Null. Das sowjetisch-deutsche Gipfeltreffen im Kaukasus am15./16. Juli1990 war nur der Abschluß dieses Prozesses. Entgegen einer weitverbreiteten .Kaukasus·Mär"69 wurde das Ende der DDR von Gorbatschow schon in Washington am 31. Mai 1990 zugesagt, als er dem wiedervereinigten Deutschland die Wahl des Bündnisses freistellte. Diese Absprache zwischen dem amerikanischen Präsidenten und dem sowjeti· sehen Staatschef, die für den weiteren Prozeß der Abwicklung der DDR grünes Licht gab, verwies ein weiteres Mal auf den weltpolitischen Zusammenhang, der der Geschichte der DDR ein Ende setzte. Nur in Einzelfragen gelang es der DDR noch, außenpolitischen Einfluß zu nelunen. Meckel ging es nach eigenen späteren Bekundungen um .eine Berück· sichtigung der sowjetischen Interessen in der Weise, daß die Russen zukünftig aufkeinen Fall das Ergebnis der Zwei·plus-vier-Verbandlungen als Ausnutzung ihrer Schwächesituation und nachträgliche Niederlage des Zweiten Weltkrieges wabmelunen "70• Er rückte dabei bisweilen .closer to Soviet positions"71, was ihm aufgrund seiner Forderung, die .legitimen Sicherheitsinteressen" der Sowjet· union zu beachten, in Ost·Berlin sogar den Vorwurf einbrachte, .russischer ... als die Russen" zu argumentieren". Tatsächlich kam die im August 1990 in Wien festgeschriebene Truppenbegrenzung der Bundeswehr auf 3 70.000 Mann den sowjetischen Sicherheits überlegungen entgegen.

Der von den beiden deutschen Außeoministern und den vier Außenministern der Siegennächte des Zweiten Weltkriegs am12. September 1990 abgeschlos· sene • Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland als Ganzes" war eine friedensvertragliche Regelung, die die Souveränität Deutsch· Iands wiederherstellte. Mit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten am 3. Oktober1990 war dann das Ende der DDR besiegelt.

IY. Fazit Die Frage, ob die DDR in dem hier behandelten Zeitraum überhaupt noch eine Überlebenschance hatte, ist umstritten. Letztlich ist sie, vergleichbar der Frage, wann der Kalte Krieg geendet habe, nur akademisch zu beantworten". 69 A. Rödder, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. September 2000. 7° J. Staadt, Der Mann, der die Nummer zwei vertrat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,

8. Mai 2000.

71 WR. Smyser, From Yalta, S. 374. 72



Wer ist Teltschik?",

S. 57.

" Siebe V Zubok, Wby Did the Cold War End in 1989? Explanations of •The Turn", in: O.A. Westad (Hrsg.), Reviewing the Cold War, S. 343·367; T Blanton, Wben did the Cold War End?, in: CWlliP Bulletin, 10 (1998), Washington D.C. 1998, S. 184-

191.

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In der Forschung wird der DDR der achtziger Jahre rückblickend zumeist eine schlechte Prognose erteilt. Die Ansicht, die DDR hätte sich durch ein rechtzeitiges Einschwenken auf den Kurs Gorbatschows retten können, ist zurückgewiesen worden, weil die DDR beim •Versuch, die Flucht nach vom anzutreten, noch eher zusammengebrochen wäre"74• Die ,letzte Chance" zu einer grundlegenden Neugestaltung wird dabei sogar gelegentlich ins Jahr1968 zurückverlegt, als die DDR den demokratischen Kanununismus des Frager Frühlings hätte veneidigen sollen und statt dessen in eine zwanzig Jahre dau­ ernde Stagnation geraten sei". Wie dem auch sei: Es stellen sich am Ende viele offene Fragen. Wenn die Außenpolitik der DDR tatsächlich als dysfunktional eingeschätzt werden muß, wie es die derzeitige Forschung nahelegt: Warum hat dieses menschenverach­ tende System, das von Beginn an mit kapitalen strukturellen Fehlern behaftet war, dann überhaupt so lange Bestand gehabt? Und warum ist von vielen, wenn nicht sogar den meisten derjenigen, die sich bis 1989/90 wissenschaftlich mit der DDR beschäftigt haben, die innere und äußere Fragilität nicht erkannt worden? Möglicherweise fällt eine Antwott auf die zweite Frage leichter als auf die erste. Es waren wohl auch Verblendungszusammenhänge", die die DDR in der ideologisietten Zeit des Kalten Krieges für viele im Westen in einem so milden Licht erscheinen ließen, daß man die tönernen Füße dieses Kunststaates nicht erkennen wollte. •

74 E. ]esse, Der innenpolitische Weg zur deutschen Einheit. Zäsuren einer atembe­ raubenden Entwicklung, in: E. ]esse I A. Mitter (Hrsg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte -Politik Gesellschaft, Bonn I Berlin 1992, S. 111-141, hier S. 136. 75 H. Weber, DDR Grundriß der Geschichte 1945-1990, Hannover 1991, S. 224. -

Epilog

Deutschland, Italien, Europa: Die virtuelle "Zivilmacht"?* Von Gian Enrico Rusconi

I. Die Bedeutung der neunziger Jahre Der Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen den jugoslawischen Teilrepubliken (Juni 1991) hätte der Europäischen Gemeinschaft und der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) Gelegenheit geben sollen, zu intervenieren und einen positiven Einfluß auf die .neue europäische Ordnung" auszuüben, wie sie aus den demokratischen Revolutionen Osteuropas und dem Prozeß der deutschen Wiedervereinigung hervorgegangen war. Die Charta von Patis, im Dezember 1990 von den 34 KSZE-Staaten feierlich unterzeichnet, ninunt das Ende der Teilung nicht nur Deutschlands, sondern des gesamten alten Kontinents zur Kenntnis und begrüßt die Gebutt eines neuen Europas der Freiheit, der Selbstbestimmung, der Solidarität zwischen den Völkern. Das neue wiedervereinigte Deutschland fühlt sich in dieser Hinsicht beson­ ders verpflichtet. Aber die Krise der jugoslawischen Föderation, ausgelöst vom Willen zur Unabhängigkeit der beiden Republiken Kroatien und Slowenien, straft solche Hoffnungen auf brutale Weise Lügen. Die von den übrigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft widerwillig akzeptierte deut­ sehe Entscheidung, Slowenen und Kroaten in ihren Forderungen gegen die von Serbien de /acto mit sich gleichgesetzte und monopolisierte jugoslawische Föderation zu unterstützen, hat unvorhergesehene negative Konsequenzen. Die wiedergewonnene Autonomie der beiden Republiken führt zu einem Auflösungsprozeß, der Bosnien-Herzegowina ungeheuere menschliche Opfer abverlangt - auch wenn die Ansichten der Historiker über den direkten Kausalzusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen bis heute ausein­ andergehen. Nur aus einer simplifizierenden und verengten Perspektive heraus läßt sich die deutsche Haltung als neo-nationalistisches Vormachtstreben deuten. Tatsächlich sind Miinner wie Hans-Dietrich Genscher (der auch Vorsitzender der KSZE war) subjektiv davon überzeugt, daß die Kriterien der Selbstbestimmung und Demokratisierung, die bei der deutschen Wiedervereinigung funktioniert *

Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt.

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haben, sich auch auf andere geopolitische Zusanunenhänge und Situationen übertragen lassen. Eine lliusion, bei der bona fide im Rückblick die nationalen Spezifika der Entwicklung in Deutschland unterschlagen werden, die sich in anderen Zusanunenhängen nicht wiederholen können. Auch die Prozesse der inneren Demokratisierung und der Sdbstbestimmung Polens und der Tschechoslowakei unterscheiden sich objektiv stark von denen in Jugoslawien, die mit der noch vid komplizierteren Frage der föderativen Struktur verknüpft sind. Hier verfolgt die italienische Regierung zunächst einen anderen Plan als die deutsche: sie möchte nämlich die Einheit der jugoslawischen Föderation aufrechterhalten und gibt sich dabei der IDusion hin, Italien könne eine Vennittlerrolle zwischen den Konfliktparteien spiden. Erst später schwenkt sie auf die Position Deutschlands und der übtigen Länder der Gemeinschaft ein, um am Ende freilich den katastrophalen Ausgang der ganzen Angdegenheit zu beklagen und anzuprangern. In diesem Moment kühlen sich die Beziehungen zwischen Rom und Bonn/ Berlin ab. Die Italiener müssen zudem feststdlen, daß Deutschland bei der Bewältigung der Ktise in Jugoslawien- die zeitlich mit der Vorbereitung des Vertrages von Maastricht zusanunenfällt - mehr an den großen westlichen Partnern Großbritannien und besonders Frankreich interessiert ist als an Italien. Eine bittere Erkenntnis für den italienischen Außenminister Gianni De Michdis, der davon überzeugt war, die besondere Freundschaft und Aufmerksamkeit seines deutschen Kollegen zu genießen. Die Ktise der jugoslawischen Föderation, die den ersten der von 1991 bis 1999 dauernden blutigen Kriege in Jugoslawien auslöst, ist auch aus einem anderen Grund wichtig. Durch diese Krise erhält die noch immer offene Frage der Bildung einer europäischen, von den Strukturen der NATO unabhängigen Streitmacht erneut Aktualität, und sie führt in Deutschland (und in geringerem Umfang in Italien) zu einer breiten politischen Debatte - auch unter verfas­ sungsrechtlichen Aspekten - über die Legitimität und Zweckmäßigkeit mili­ tärischer Interventionen in internationalen Ktisengebieten. Diese Eotwicklung erreicht 1999 ihren Höhepunkt in der Beteiligung Deutschlands und Italiens am Erzwingungsktieg gegen Serbien und für den Kosovo (dem sogenannten .huma­ nitären Krieg") und damit in der Eotsendung von Truppen in die Region.

ll. Das Problem der europäischen Streitmacht EodeJuli 1991 erklären sich die Außemninister der Gemeinschaft in Brüssd bereit, die Anerkennung der Republiken Kroatien und Slowenien in Erwägung zu ziehen, allerdings nur innerhalb eines umfassenden, die föderative Struktur

Deutschland, Italien, Europa: Die virtuelle .Zivilmacht"?

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bewahrenden Rahmens. Sie bekräftigen das Prinzip der Unverletzlichkeit der inneren Grenzen der jugoslawiscben Föderation und bieten gleichzeitig .Friedenstruppen" an, die aus kroatischer Polizei, Volksarmee und serbischen Milizen zusammengesetzte Einheiten bei der Durcbsetzung der Waffenruhe unterstützen sollen. Aber von welchen europäischen Truppen ist hier die Rede? Militärkontingente existieren nur auf dem Vertragspapier der Westeuropäischen Union (WEU), ohne daß man deren Verhältnis zur NATO jemals genau geklärt hätte. Die USA ihrerseits, die mit dem (ersten) Golfkrieg beschäftigt sind, lassen wissen, daß sie nicht die Absicht hegen, sich in die jugoslawiscbe Krise einzumischen, die sie als .einen inneren Bürgerkrieg" ansehen. Für Franzosen und Deutsche bietet sieb die Gelegenheit, endlieb eine starke, von der NATO unabhängige euro­ päische Truppe aufzustellen. Aber Engländer, Niederländer und Portugiesen sind für die Beibehaltung eines festen und organischen Verhältnisses zur NATO und betrachten die WEU nur als eine .Säule" der NATO selbst. Auch Italien ist dieser Auffassung und trifft diesbezüglich eine spezielle Verein­ barung mit Großbritannien1• Das Projekt einer europäischen Militärtruppe gewinnt auf französischer Seite eine Bedeutung, die über den zufälligen Anlaß hinausgeht, stößt aber gerade bei den Deutseben auf starken inne­ ren Widerstand'. Da weder die einen noch die anderen die europainternen Differenzen und Divergenzen verschärfen wollen, löst sieb das Projekt schließ­ lieb in Wohlgefallen auf. Doch unterdessen entwickelt sich vor dem Hintergrund unversöhnlicher Gegensätze zwischen den ehemaligen jugoslawischen Republiken und unter.Großbritannien und Deutschland verletzten zwei ungeschriebene Regeln der Europäischen Gemeinschaft (daß nämlich die Führungsrolle exklusiv Frankreich und Deutschland zusteht und sich Italien stets bemüht, ihnen zu folgen), als sie mit­ einander nach einem gemeinsamen Terrain suchten. Das Verhalten Italiens konnte in diesem Sinne als außergewöhnlieb erscheinen, entsprach aber zwei Grundprinzipien seiner Außenpolitik: daß die Europäische Union aufrechtzuerhalten und das Verteidigungsbündnis mit den Vereinigten Staaten zu bewahren sei", ]. Holmes, La politica estera italiana, in: S. Hellmann I G. Pasquino (Hrsg.), Politica in Italia. I fatti dell'anno e Je interpretazioni, Bologna 1993, S. 187. 2 "Tatsache ist, daß Deutschland den europäischen Partnern eine lnteiVention vor­ schlägt, an der es sieb sowieso nicht beteiligen könnte- nicht nur wegen der Auslegung des Grundgesetzes, die übrigens ein grußerTeil der CDU überwinden möchte, sondern auch aufgrund der Weigerung der Serben, deutsche Blauheltne, Belgrad zufolge also ,Nazis' oder zumindest Verbündete des ,faschistischen' Präsidenten Kroatiens, zu akzeptieren. Die Lage Frankreichs ist diametral entgegengesetzt: theoretisch körmte es sieb an einer solchen Mission beteiligen, aber es würde dann die Kroaten unterstüt­ zen, und dies ist genau das, was es nicht will. Deutschland möchte, kann aber nicht, Frankreich könnte, will aber nicht: also wird nichts daraus", L. Caracciolo, Che cosa cerca Ia Germania inJugoslavia, in: LiMes (1994), 3, S. 125-148, hier S. 138. Vgl. auch M. Dasst), Perehe l'Italia ha fallito nella ex-Jugoslavia, ebd., S. 219-228.

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schiedlicher Auffassungen und Strategien im europäischen und westlichen Lager eio .aotideutscher Reflex": .Also der Verdacht, Deutschland könnte nach der Wiedervereinigung versucht sein, seinen Einfluß auf ganz Mitteleuropa und den europäischen Balkan auszudehnen und seine traditionelle Politik einer wirtschaftlichen und politischen Vorherrschaft in jener Zone wieder aufzunehmen"'.

Schließlich veraalaßt das immer aggressivere Verhalten der Serben die Mitgliedsstaaten der Europäischen GerneiDschaft zu eioem Einschwenken auf die deutsche Position. Auch der Vatikao tritt immer deutlicher für die beiden Republiken eio. Allmählich geben die Zwölf die Vorstellung eioes vereioten Jugoslawien auf. Genscher konstatiert mit Genugtuung die wiederhergestellte ÜbereiDstimmung mit den Fraozosen auch bei der Einsetzung der Badinter/ Herzog-Kommission. Diese soll, ausgehend von den Prinzipien der Demokratie, der freien Selbstbesrinunung, der Minderheitenrechte, die Bedingungen fesde­ gen, unter denen die Unabhängigkeitsforderungen der eiDzeinen Republiken akzeptiert werden könnten. Doch der Verdacht, daß diese Kommission kaum mehr sei als eio .lega­ listisches Feigenblatt", wird durch eioe Erklärung der Minister De Michelis und Genscher bestätigt. Sie versichern 1991 bei eioem Treffen in Venedig öffentlich, Europa werde Slowenien und Kroatien auf jeden Fall aoerken­ nen - selbst wenn die laufenden Verhaodlungen zwischen allen Republiken auf der Grundlage der neuen Kriterien scheitern sollten. Wie der deutsche Außenminister in seioen Erinnerungen schreibt, hat sich der Zerfallsprozeß der jugoslawischen Föderation praktisch schon vollzogen. Es geht nur noch darum, ihn international zu legalisieren, um seioe zerstörerischsten Folgen zu vermeiden. Bonn ist entschlossen, das Recht auf Unabhängigkeit nicht nur Sloweniens und Kroatiens, soudem aller Republiken aozuerkennen, die die Unabhängigkeit wiinschen und über die erforderlichen Voraussetzungen verfügen. Dabei bemüht sich die deutsche Regierung, ihre Initiative stets als Ausdruck des gemeiosamen europäischen Willens darzustellen.

III. Deutsehe Selbstbehauptung, italienischer Möglichkeitssinn Tatsächlich gelingt es Deutschlaod, seioe Strategie der Anerkennung der ehemaligen jugoslawischen Republiken voranzutreiben, weil die aoderen euro' .Diese Ängste, Rivalitäten und Denkmuster aus dem 19. Jahrhundert, die durch das AuseinanderbrechenJugoslawiens und der Tschechoslowakei neue Nahrong erhalten, werden von Slobodan Milosevic geschickt wachgehalten. In seiner Presse entfesselt er eine Propagandakampagne gegen den deutschen Imperialismus und prophezeit den baldigen Anbruch eines Vierten Reichs, dessen gefügiger Vasall, wie schon während des Krieges, Kroatien sein werde",]. Pirjevec, Le gnerre jugoslave 1991-1999, Turin

2001, s. 71.

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päischen Regierungen (namentlich die französische, auf die Bann vor allem Wert legt) diesbezüglich keine klaren Vorstellungen haben. Allerdings gebt die deutsche Politik sehr vorsichtig vor, denn sie befürchtet Auswirkungen auf die Haltung der Gemeinschaft unmittelbar vor der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht. Was Italien betrifft, so sind die beiden Außenminister beim deutsch-italie­ nischen Forum am 22. November 1991 in Venedig vor allem darum bemüht, erneut ihre grundsätzliche Übereinstimmung zu bekräftigen, wenngleich sie unterschiedliche Argumente anführen und verschiedene Probleme in den Mittelpunkt stellen. Genscher gebt von der Notwendigkeit aus, daß sich Europa eine starke Verteidigungs- und Sicherheitsstruktur gibt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die WEU als ein wesentliches Moment des europäischen Einigungsprozesses zu betrachten, wobei die Nordadantische Allianz auch innerhalb der neuen Architektur ein unentbehrlicher Bestandteil bleibt. Über die bei solchen Anlässen üblichen Floskeln hinaus signalisieren Genschers Watte ein Einschwenken Deutschlands auf die Position Englands und Italiens, die darauf bestehen, eine künftige europäische Streitkraft nicht von den Strukturen der NATO zu trennen, wie dies die Franzosen wollen'. Angesichts der jugo­ slawischen Frage zögert Genscher daher nicht, zu erklären: .Deutschland nimmt nicht Partei für die eine oder andere Republik, aber es nimmt Partei für die Opfer und gegen die Aggressoren, und das sind die jugoslawische Volksarmee und die sie unterstützenden politischen Kräfte in Serbien ... Es handelt sich nicht um einen Krieg in Jugoslawien, sandem um einen Angriffskrieg

gegen Kroatien "5.

Die leidenschaftliche Verteidigung der deutschen Position durch Genscher schließt mit einer Vertrauenserklärung für die KSZE: .Die KSZE muß über einen Wertekonsens zu einer Verantwortungsgemeinschaft werden". Der italienische Außenminister betont in seiner Stellungnahme hingegen vor allem die Unvorhersebbarkeit der aktuellen Krise und spricht von der besonde­ ren Verantwortung, die Italien und Deutschland aufgrund ihrer geographischen Lage zukomme. Er äußert sich besorgt über die ethnisch-partikularistischen ' Anfang Oktober war ein imJuni abgefaßtes italienisch-englisches Dokument ver­ öffentlicht worden, das faktisch darauf abzielte, .den Auswirkungen der Enthüllung von Kohls und Mitterrands Projekt der Schaffung einer spezifisch europäischen Verteidigung auf der Grundlage der bereits bestehenden französisch-deutschen Brigade entgegenzu­ wirken.Das italienisch-englische Projekt sah eine europäische Verteidigungsanstrengung innerhalb der WEU vor, die eher eine Ergänzung als eine Konkurrenz zur NATO darstellen sollte",]. Holmes, La politica estera italiana, S. 187.

' H.-D. Genscher, Die Herausforderungen Osteuropas und Jugoslawiens an Europa: Der Beitrag Deutschlands und Italiens, in: S. Wilking (Hrsg.), Deutsche und italienische Europapolitik- Histotische Grundlage und aktuelle Fragen, Bann 1992, s. 76.

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Konflikte, die endang der Donau aufbrechen, und über die Zuspitzung des Nationalitätenprinzips, die erneut zur Katastrophe führen könne. Und den gemeinsamen deutsch-italienischen Bemühungen schreibt er es zu, daß sich Frankreich und Großbritannien an den nordadantischen und europäischen Rahmen angenähert hätten'. Auch hier wird hinter der diplomatischen Phraseologie weniger das Streben nach einer eigenständigen europäischen Streitmacht erkennbar als vielmehr die Besorgnis, es könne über der Frage der Verteidigung und der Sicherheit zu einem Bruch zwischen den Europäern kommen. Am 27. November kommt es von deutscher Seite zu einer unerwarteten Beschleunigung der Dinge. Bundeskanzler Kohl erklärt in einer Rede im Bundestag, Deutschland werde die Selbständigkeit Sloweniens und Kroatiens "[noch] vor Weihnachten" anerkennen, da es sich an keinerlei "Verpflichtung zur Einstimntigkeit" im Verband in der Versantmlung der Zwölf gebunden fühle. Damit wird ein starkerDruck auf Europa ausgeübt. In seinen Erinnerungen bestreitet Genscher immer wieder, daß die Entscheidung, die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens unverzüglich anzuerkennen, den übrigen Mitglieds­ staaten der Gerneinschaft von den Deutschen aufgezwungen worden sei. Als Gegenbeweis führt er auch denItalienerDe Michelis als Initiator der .Hexagon­ gruppe" an, eines Organs zur zwischenstaatlichen Zusanunenarbeit imDonau­ Balkan-Raum. Am 1. Dezember versammeln sich die Außenminister der betei­ ligten Länder in Venedig, und bei eben diesem Anlaß stellt die Hexagongruppe fest, daß die jugoslawische Föderation als solche nicht mehr bestehe (ohne deswegen allerdings Belgrad von der Teilnahme auszuschließen). Das ist also ein Beweis dafür, daß Italien schließlich die deutsche Position akzeptiert. Obwohl die übrigen Regierungen der Gerneinschaft von der deutschen Initiative überrascht wurden, kritisieren sie auf dem Gipfel der Außenntinister am 15. und 16. Dezember die Linie Bonns nicht. Die Sorge, das gerade erst in Moastricht unterzeichnete Abkommen könne gefährdet werden, überwiegt alle anderen Bedenken. Vor allem auf De Michelis geht anscheinend ein neuer Komprontiß zurück, durch den die deutsche Entscheidung für die formale Anerkennung Sloweniens und Kroatiens um einen Monat verschoben wird. ' .Dies geschah in dem Bewußtsein, daß die Sicherheit unseres Kontinents der Komplementarität verschiedener Einrichtungen anvertraut bleibt, und zwar der EWG, der NATO, der WEU und der KSZE. Hierbei handelt es sich um Werkzeuge zur Schaffung eines einheitlichen Sicherheitssystems. Ich möchte hervorheben, daß sowohl das deutsch-französische als auch das britisch-italienische Dokument den Zweck einer festeren Verankerung Frankreichs im Nordatlantikpakt und Großbritanniens in Europa erfüllt haben", G. De Michelis, Die deutsch-italienische Zusammenarbeit zum Aufbau eines neuen Europas, in: S. Wilking (Hrsg.), Deutsche und italienische Europapolitik,

s. 80.

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Aber am Abend des 19. Dezember trifft die Nachricht ein, daß Bonn die beiden ehemaligen jugoslawischen Staaten aoerkennen werde, ohne das Urteil der Kommission abzuwarten, die hätte prüfen sollen, ob die Vorausserzungen für einen solchen Akte gegeben waren. Die Entscheidung wird von einigen als ein schwerwiegendes fait accompli empfunden. In Rom läßt die Nachriebt von der vorweggenommenen deutschen Anerkennung .die italienische Diplomatie vor Wut schäumen und über den ,deutschen Verrat' aufschreien"'. Doch einmal mehr behält die deutsche Selbstbehauptung die Oberhaod über den italienischen Möglichkeitssinn. Die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch Deutschlaod und dann durch die Europäische Gemeinschaft bringt den blutigen Konflikt mit Serbien zu einem Stillstaod, ohne ihn zu lösen. Indirekt aber beschleunigt sie die Krise in Bosnien-Herzegowina. Nachdem eine große umfassende Einigung der ehe­ maligen jugoslawischen Republiken nicht mehr möglich war, blieb eine starke militärische Präsenz der EU das einzige Instrument, um die Greuel des be­ vorstehenden Bürgerkriegs abzuwenden. Doch kein Laod der Europäischen Union ist zu einem solchen Engagement bereit- am allerwenigsten Deutschlaod, das sich auf die von seiner Verfassung gesetzten Schranken berief (das Verbot, deutsche Truppen außerhalb des Bündnisgebietes der NATO einzusetzen) und von der Bühne abtrat, um sich seinen innenpolitischen Debatten zuzu­ wenden.

IV. Welche Rolle spielt Maastricht dabei? "Banns Diplomatie war also zwar realistischer und besser konzipiert als die der verbündeten, aber sie war nicht konsequent: Die Risiken und Kosten ihrer Umsetzung sollten primär andere tragen. Die Bundesrepublik musste ihren Erfolg in der Anerkennungsfrage in anderen Politikbereichen (insbesondere in den Verhandlungen um das Moastrichter Vertragswerk) mit Zugeständnissen hono­ rieren und riskierte zudem eine ernsthafte Belastung der Beziehungen zu seinen wichtigsten Verbündeten"'.

Diese Bemerkung trifft gut das Dilemma der deutschen Politik aogesichts der Jugoslawien-Krise. Über die eigentlichen Absichten und die unbeabsichtig­ ten Folgen dieser Politik sind Historiker und polirische Kommentatoren noch inuner geteilter Meinung. Mao tritt heute der verbreiteten Auffassung entgegen, Deutschlaod habe einen Fehler begaogen, und bestreitet die .Legende vom deutschen Unilateralismus": 7

'

J. Pirjevec, Le guerre jugoslave, S. 105.

H. W. Maul/ I B. Stahl, Durch den Balkan nach Europa? Deutschland und Frankreich in den Jugoslawienkriegen, in: Politische Vierteljahresschrift, 42 (2002), !, s. 88.

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"Von einem rein logischen Standpunkt lallt es schwer zu verstehen, warum einige Beobachter, die sich heute der deutsche Analyse der Situation anschließen, wei­ terhin Deutschland wegen seiner Befürwortung der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens kritisieren"9•

Tatsächlich sind sowohl die Vorwürfe eines wiedererwachten deutschen Strebens nach Hegemonie im Balkan als auch die eines Treuebruchs gegenüber den europäischen Verbündeten in der Rückschau als unhaltbar anzusehen. Die übrigen Europäer, namentlich die Franzosen, hätten, wenn sie gewollt hätten, sehr wohl dem Druck der Deutschen widerstehen oder sie sogar zum Einlenken bewegen können. Das ändert nichts daran, daß das wiedervereinigte Deutschland Gestaltungswillen an den Tag legt. Aber es ist falsch, diese neue Bestimmtheit nach den alten Klischees als .Machtphantasie" zu interpretieren. Es handelt sich hierviehnehr um Anzeichen einerneuen Haltung: Deutschland handelt als .Zivilmacht" aus ideellen Motiven, in diesem konkreten Fall, das Prinzip der Selbstbestimmung, das es idealisiert und auf Gebiete ausdehnt, mit denen Deutschland zweifellos auch kulturelle Verwandtschaft und gemeinsame Interessen besitzt. Aber es hat wenig Sinn, Deutschland zu verdächtigen, es verfolge seine wirtschaftlichen oder strategischen Interessen in egoistischerer Weise als jede andere europäische Nation. Komplizietter ist die Verbindung zwischen der jugoslawischen Ktise von

1991-1992 und dem Vertrag von Maastricht. Es gibt keinen Zweifel daröber, daß hier ein Zusammenhang besteht. Viele sprechen von mehr oder minder geheimen Abkommen und Vereinbarungen. Später fällt Minister De Michelis ein negatives Urteil über das deutsche Verhalten während der Jugoslawien-Krise, er sieht darin eine Verletzung der Spielregeln", einen .schweren Schlag für Europa" und ein .abgekartetes Spiel" zwischen Franzosen und Deutschen". •

Überflüssig zu erwähnen, daß es in Genschers .Erinnerungen" nicht den kleinsten Hinweis auf ein Tauschgeschäft gibt, sondern nur eine leidenschaftli­ che Verteidigung der deutschen Entscheidung. Bei seiner Bilanz der gesamten Angelegenheit räumt der deutsche Minister am Ende dann freilich ein, daß die 9 M. Libal, Umits of Persuasion. Germany and the Yugoslav Crisis, 1991-92, Westport CT I London 1997, S. 160 Angemessener wäre es, die Geste der Anerkennung vom 23. Dezember als angekündigte und geduldete Vorwegnahme einer gemeinsamen Entscheidung zu charakterisieren, die zu Recht -wie sich dano zeigte -als irreversibel erkanot wurde. Die Vorwegnahme einer gemeinsam getroffenen Entscheidung um drei Wochen war vor allem eine Geste für das interne Publikum", ebd., S. 153. . •

10 .Nach meiner Teilnabme an der Konferenz (vom 13. Dezember, bei der Genscher die vorgezogene Anerkennung der beiden Republiken durch Deutschland ankündigt) ist mein Eindruck der, daß Franzosen und Deutsche darin einig sind, uneins zu sein. Genscher uod Dumas spielen ihre Rollen, aber in Wirklichkeit hegen die Franzosen keinerlei Absicht, die Deutschen zu blockieren", G. De Michelis, La vera storia di Maastricht, in: LiMes (1996), 3, S. 142-143.

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europäischen Regierungen und Institutionen - vor allem die KSZE, auf die er so sehr zählte- auf die Ereignisse in Jugoslawien nicht vorbereitet waren. Die fehlende Bereitschaft Deutschlands, militärische Verpflichtungen .out of area" zu übetnehmen, hat Deutschland und indirekt Europa ernsthaft dabei behindert, wirkungsvoll als Stiftet von Demokratie und Sicherheit zu handeln. Genseber bemüht sieb sogleich um eine Änderung dieser Situation und schlägt vor, Deutschland könne an Operationen (auch bewaffneten) teilnehmen, die durch die UNO im Sinne des Art. VII der UN-Charta autorisiert sind. Sein Versuch scheitert damals, schafft aber die Voraussetzungen für den Wandel in der Haltung zum Einsatz militärischer Gewalt bei internationalen Krisen, der sieb im Laufe der neunziger Jahre vollzieht.

V. Der "humanitäre Krieg" im Kosovo - Konvergenzen und Divergenzen zwischen Deutschland und Italien In Deutschland entbrennt eine äußerst lebhafte Polemik über die neue internationale Verantwortung des Landes. Die christdemokratische Regierung unter Kohl möchte unter der Ägide der UNO und der übrigen internationalen Organisationen schrittweise mehr internationale Verpflichtungen übetnehmen, stößt aber auf den massiven Widerstand der Sozialdemokraten, der Grünen und der PDS. Trotzdem entscheidet die Regierung im April 1993, sieb im Rahmen eines UN ·Mandats mit einem bescheidenen Luftwaffenkontingent an der Überwachung des Luftraums über Bosnien zu beteiligen und deutsche Soldaten nach Somalia zu entsenden. Gegen diese Initiativen richten sieb energische Proteste der SPD, die das Bundesverfassungsgericht anruft, weil sie das Vorgehen der Regierung für nicht verfassungskonform hält. Wie es für Deutschland typisch ist, wird eine Frage von großer politi· scher Bedeutung, die erhebliches Potential für innere Konflikte birgt, an die höchstrichterliebe Instanz verwiesen. Das Bundesverfassungsgericht ver· kündet in einem Urteil vom 12. Juli 1994, daß Deutschland, insofern es Be­ standteil eines kollektiven Sicherheitssystems wie der UNO ist, die damit verbundenen militärischen Aufgaben (auch im Rahmen der NATO und der WEU) übernehmen kann, wenn jede einzelne Initiative zuvor vom Parlament gebilligt wird. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts beseitigt die inneren Auseinander­ setzungen, zumindest grundsätzlich, und die deutsche Regierung kann Lufteinsätze in Bosnien und in anderen Krisenregionen beschließen. Doch im Lande und in der öffentlichen Meinung bleiben die moralisch und historisch begründeten Widerstände hartnäckig bestehen, vor allem innerhalb der pazi­ fistischen Bewegungen, die bei den Grünen stark vertreten sind.

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In Italien verläuft die Entwicklung zum Teil ähnlich. Auch hier sind zunächst politische Widerstände im Inneren zu überwinden (die auch einen verfas· sungsrechtlichen Aspekt haben), bevor sich das Land an .&iedenserhaltenden Maßnalunen" nicht nur in Bosnien, sondern auch in anderen Krisengebieren beteiligt. Besonders problematisch ist die Intervention in Somalia (1993 ), die zahlreiche Menschenleben fordert und manche Spannungen mit den amerika· nischenVerbündeten mit sich bringt. Sehr erfolgreich und hoch angesehen ist hingegen die humanitäre Operation .Alba" in Albanien (1997). Der Konflikt im Kosovo bedeutet einen Wendepunkt sowohl für Italien als auch für Deutschland, wo unterdessen ein Regierungswechsel stattgefunden hatte. Die neue rot-grüne Koalition (Bundeskanzler Gerhard Sehröder und Außenminister Joschka Fischer) unterstützt die Anstrengungen aller interna­ tionalen Organisationen, die den Konflikt auf demVerhandlungsweg beilegen möchten, auch die Initiative der Vereinbarungen von Rambouillet. Aber der Bruch bzw. die ausbleibende Unterzeichnung derVenräge durch das Serbien Milosevics wird als hinreichender Grund für die Eröffnung von NATO­ Angriffen gegen Serbien betrachtet, auch wenn diese auf einen Lufteinsatz beschränkt bleiben. Deutschland und Italien geben zögernd ihre Zustimmung zu diesem Unternehmen, weil es nicht ausdtücklich von der UNO autorisiert ist. Überdies befinden sich beide Länder nun in der Situation, daß sie zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg einen Krieg in einer Balkanregion führen, wo noch feindselige Erinnerungen an sie wach sind (und von der serbischen Propaganda aufgefrischt werden). Am 24. März 1999 beginnt die NATO mit ihren Luftangriffen auf militä­ rische Anlagen in Serbien und im Kosovo. Sie ist zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt, daß wenige Tage der Bombardierung genügen werden, bis die Regierung in Belgrad sich zuVerhandlungen bereit erklärt (oder gezwungen sieht). Tatsächlich ziehen sich die Bombardierungen länger hin als vorhergese­ hen und erstrecken sich auch auf die zivile Infrastruktur, ohne daß Milosevic Anzeichen eines N achgebens erkennen ließe, während die Kollateralschäden" an Personen und Sachen zunehmen. Politiker und Kommentatoren in Italien und in Deutschland sehen sich gezwungen, die moralischen und ideellen Motive der Intervention immer lauter zu beschwören. Die Presse spricht mit steigender Emphase von einem .humanitären Krieg", von einem Krieg zur Abwendung eines neuenVölkermords: die Flüchtlingsströme werden von den Massenmedien ohne weiteres als Beweis für einen von den Serben beabsichtigten Genozid dargestellt. Aber die Enttäuschung wächst, und die Debatte wird heftiger. •

Der italienische Ministerpräsident, der ehemalige Kommunist Massimo D'Alema, kann den Dissens in der eigenen Partei bändigen und die Geschlossenheit der Regierungskoalition in der Frage des Einsatzes gegen

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Serbien bewahren, indem er neben den humanitären Gründen darauf verweist, daß Italien dadurch zu einem der Länder wird, die Einfluß auf die Balkanregion haben und im Mittelmeerraum .für Sicherheit sorgen". Im Gegensatz zu dieser Koppelung von nicht nur ideellen, sondern auch strategischen, politischen und wirtschaftlichen Rechtfertigungen, die die ita­ lienische Haltung kennzeichnen, hebt die deutsche Regierung vor allem die ideellen Motive hervor. Seit seiner ersten Erklärung vom 24. März betont Kanzler Sehröder inuner wieder die .systematischen Menschenrechtsverletzungen" durch die Serben und die .humanitäre Katastrophe", die der Bevölkerung des Kosovo drohe, wenn man nicht unverzüglich eingreife. Die notfalls auch gewaltsame Verteidigung der Menschenrechte hat für ihn Vorrang vor dem Grundsatz der Souveränität eines Staates, wenn dieser Staat für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich ist. Die Parole .Nie wieder Auschwitz" tritt an die Stelle von .Nie wieder Krieg". Diese Transfonnation gelingt, weil sie von Mäunern vorangetrieben wird, die in ihrer Jugend (im mythischen Jahr 1968) entschieden gegen jede Form eines autoritären Regierungssystem und gegen den Krieg gewesen waren. Heute ist das Leitkriterium der deutschen Außenpolitik die- auch den Einsatz von Waffen einschließende-Durchsetzung der Menschenrechte im Einklang mit den ande­ ren großen europäischen Nationen. Dieser .militärische Humanismus"" scheint, trotz aller Zweifel, Proteste und kritischen Einwände, zu funktionieren. Am 3. Juni 1999 erfolgt das so lange erwartete Einlenken von Milosevics Serbien - gerade rechtzeitig, um der NATO und der Europäische Union die schwierigere und umstrittenere Entscheidung über den Einsatz von Bodentruppen zu ersparen. Am 10. Juni bringt eine Resolution des ON­ Sicherheitsrats die oberste internationale Organisation wieder ins Spiel, um die Verwaltung des Kosovo zu übernehmen. Die politische Zukunft oder- besser gesagt - der internationale politische Status bleibt jedoch unbestimmt, denn die Resolution spricht lediglich von weitreichender Autonomie" innerhalb der jugoslawischen Föderation. •

Deutschland und Italien gehen aus der ganzen Angelegenheit wohlbe­ halten, aber mit spürbaren Differenzen hervor. Italiens Wunsch nach einer politischen Lösung des Konflikts zwischen Serbien und dem Kosovo auf dem Verhandlungsweg wird von den Deutschen geteilt. Während Außenminister Fischer jedoch mit seiner Initiative, bei der Bewältigung der Balkankrise Rußland einzubinden, Erfolg hat und die Zustimmung der westlichen Partner findet (gemeint ist der .Fischer-Plan" für den Balkan), wecken die Schritte des italienischen Außenministers Lamberto Dini den Verdacht, daß Italien inkonse11 Vgl. U. Beck, Über den postnationalen Krieg, in: Blätter für deotsche und in­ ternationale Politik (1999), 8, S. 984-990.

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quent vorgehe. Mit anderen Worten: während die deutschen Bemühungen als Bestätigung dafür angesehen werden, daß die neue Bestinuntheit Deutschlands mit den gemeinsamen westlichen Interessen in Einklang steht und ein Zeichen seiner Rückkehr zur "Normalität" auch auf internationaler Ebene ist, gelingt es Italien mit seiner Initiative nicht, den traditionellen Verdacht der Unzuverlässigkeit von sich abzuschütteln". Nach dem Kosovo gibt es bei der Frage der deutschen .Normalität"" einen neuen Fixpunkt. Die Debatte über Normalität/Normalisierung verliert jeden .revisionistischen" Beigeschmack einer Relativierung der deutschen Ver­ gangenheit. Das Bewußtsein, daß die deutsche Vergangenheit im negativen Sinn .einmalig" sei, hatte die jüngeren Generationen in der SPD und vor allem bei den Grünen zu einem tigorosen und manchmal militanten Pazifismus geführt. Sie sind der Meinung, daß die Deutschen aufgrund ihrer in Milita­ rismus ausgearteten Geschichte die .Normalität" des Einsatzes militärischer Gewalt beim Umgang mit internationalen Krisen nicht mehr akzeptieren dürfen. Aber die Greuel der neunziger Jahre in einigen Regionen der Erde und im nahen Jugoslawien und vor allem die Qualität des Kosovo-Konflikts verändern die Parameter der Frage. Die offenkundige Verletzung der Menschenrechte bis hin zum drohenden Genozid verleihen dem Einsatz militärischer Gewalt zur Verhinderung und Verhütung derartiger Verbrechen eine neue moralische Plausibilität. Paradoxerweise sehen sich gerade die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte gezwungen, ihr antimilitärisches Präjudiz zu revidieren, indem sie die Dichotomie Normalität/Nichtnormalität überwinden, ja geradezu umkehren und ihre .Macht" -wenn auch nur unter genau definierten Bedingungen -unter .ziviler" Perspektive realrtivieren. 12 .Italy: the Reluctant Ally" ist der Titel von U. Moreltis präziser Analyse der italienischen Beteiligung am Kosovo-Krieg, in: T. Weymouth I S. Henig (Hrsg.), The Kosovo Crisis. The Last American War in Europe?, London I New York 2001, S. 59-82. Der Verfasser spricht von der italienischen Verlegenheit, sich .in den NATO-Kräften an vorderster Front, in der westlichen Diplomatie aber eindeutig in der Nachhut" zu befinden. Siebe ebd. über Deutschland: S.P. Ramet I P. Lyon, The Federal Republic, Loyal to Nato, S. 83-105. In der deutschen Literatur vgl.J. Elsässer (Hrsg.), Nie wieder Krieg ohne uns. Das Kosovo und die neue deutsche Geopolitik, Harnburg 1999, sowie R. Hartmann, .Die ehrlichen Makler": Die deutsche Außenpolitik und der Bürgerkrieg in Jugoslawien, Berlin 1999.

13 Ramet und 4'on schließen ihren Aufsatz mit einem uneingeschränkten Plädoyer zugunsten der These von der "Normalität" Deutschlands: .Die Bonner Republik ist zur Betliner Republik geworden- einem Staat mit freiheitlich-demokratischen Werten und dem Selbsrvertrauen, das einem Mitglied der NATO zusteht", S.P. Ramet I P. Lyon, The Federal Republic, S. 103. Das Problem der deutschen Normalität vor dieser Phase erörtert L. V. Ferraris, Germania o dell'impossibiliti di essere normale, in: Politica internazionale, 25 (1997), 3, S. 71-76.

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VI. Was ist eine "Zivilmacht"? Von der Entstehung der einheitlichen Staatsgebilde Deutschland und Italien bis zum Jabr 1945 folgen die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern -mit ihrer Folge von Kriegen, Bündnissen, Konflikten und Übereinstim­ mungen- der Logik des Machtkampfs der traditionellen Nationalstaaten in einem Europa, das gleichzeitig Rahmen und Objekt dieses Wettstreits war. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt Europa dann - auch dank der Entwicklung Deutschlands und Italiens - selbst zu einem einheitlichen politischen Subjekt zu werden. Ein unvollendeter, stets durch Lähmung oder sogar Rückschritt gefährdeter Prozeß, der aber hinsichtlich der Beziehungen nach außen ein originelles Verhaltensmodell zum Fluchtpunkt hat, für das versuchsweise der Begriff .Zivilmacht" verwendet wird14• Mit .Zivilmacht" ist ein Staat oder Staatenbund gemeint, der auf der Grundlage einer von den Partnern miteinander geteilten Souveränität seine Mittel systematisch für eine Politik der multilateralen Zusanunenarbeit einsetzt. Bei internationalen Konflikten gibt sie der politischen Beilegung durch die internationalen Organisationen Vorrang. Sie wendet Gewalt nur dann an, wenn sie dazu von internationalen Autoritäten (UN) ermächtigt ist, und unterstützt die Organe internationaler Rechtssprechung (zum Beispiel die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs). Diese zur Beschreibung der .besonderen außenpolitischen Identität" des heutigen Deutschland entwickelten Indikatoren lassen sich dann auf die Europäische Union insgesamt übertragen, wenn diese sich institutionelle Strukturen gibt, mit denen sie eine einheitliche Politik zum Ausdruck bringen kann, und wenn sie über angemessene, glaubwürdige militärische Instru­ mente verfügt. Sind diese beiden Voraussetzungen nicht gegeben, bleibt das Modell der .Zivilmacht" virtuell, ein Idealbild, das dem klassischen .Machtstaat" entgegengesetzt wird und heute mit einem Modell von Supermacht kon­ kurriert, wie es in den Vereinigten Staaten der Bush-Administration Gestalt annimmt. Solange sie auf freiheitlich-demokratischen Werten basiert, ist die amerikanische Supermacht nicht mit dem Machtstaat schlechthin gleichzuset14 Vgl. H. W. Mault, Germany and the Use of Force: Still a ,Ovilian Power'?, in: Survival, 42 (2000), 2. Unter den früheren Beiträgen dieses Autors vgl.: Zivilmacht: Die Konzeption und ihre sicherheitspolitische Relevanz, in: W. Heydrich u.a. (Hrsg.), Sicherheitspolitik Deutschlands: Neue Konstellationen, Risiken, Instnunente, Baden­ Baden 1992, S. 771-786; K Kirste I H. W. Mault, Zivilmacht und Rollentheorie, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 3, (1996), 2, S. 283-312. Ein Vergleich der Modelle .Machtstaat", .Handelsstaat" und .Zivilstaat" findet sich bei V Rittberger, Deutschlands Außenpolitik nach der Vereinigung. Zur Anwendbarkeit theoretischer Modelle der Außenpolitik: Machtstaat, Handelsstaat oder ZivilstaatI, in: W. Bergem I W. Ronge I G. Weisseno (Hrsg.), Friedenspolitik in und für Europa, Opladen 1999; vgl. jetzt auch: M. Te/6, Europa potenza civile, Bari 2004.

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der in der Geschichte oft, wenn auch nicht notwendigerweise, autoritäre, antiliberale Züge trug. In der Außenpolitik aber lassen sich beim heutigen Amerika durchaus einige seiner Merkmale erkennen: so ist die Supennacht eifersüchtig auf ihre unanfechtbare ungeteilte Souveränität bedacht, strebt die Maximierung des eigenen Einflusses an, ist zum unilateralen Einsatz von Gewalt bereit, wenn ihre .guten Gründe" nicht die Zustirurnung der internationalen Organe finden. zen,

An dieser Stelle geht es jedoch nicht um einen Vergleich zwischen Europa und Amerika, sondern um das Auftauchen des Modells der .Zivilmacht", das für das Dreieck Deutschland - Italien - Europa anband der traditionel­ len Paradigmen der Souveränität, der Geopolitik und des Krieges analysiert werden soll.

VII. Transformationen der Souveränität Der Vollbesitz der Souveränität bzw. das Monopol des politischen Handeins insbesondere nach außen ist das typische Vorrecht des modernen Staates. Wenn Regierungen Bündnisse eingehen, sich zu einem Krieg entschließen und Maßnalunen zur militärischen Sicherheit ergreifen - oder auch, wenn sie Abkommen zu ihrer wirtschaftlichen oder politischen Integration schließen und innerhalb einer Koalition an einer bewaffneten Intervention zur Verteidigung der Menschenrechte teilnehmen, machen sie Gebrauch von ihrer Souveränität. Aber in den erwähnten Formen deutet sich zugleich die Transfonnation der Souveränität selbst an. Der deutsche und der italienische Staat haben ihre Souveränitätskompetenzen ausgeübt und später modifiziert: von der klassischen Phase des National- und Machtstaats bis zur Phase seiner Transformation durch die europäischen Institutionen seit den Jahren 1945-1950. Denn auch die Selbstbeschränkung ist eine Form staatlicher Souveränitätsausübung. Daher sind nicht nur die Entscheidungen, die zu den beiden Weltkriegen geführt haben, sondern auch die Bestirurnungen, mit denen Anfang der fünfzi­ ger Jahre die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl geschaffen wird, die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft versucht wird und der Nordatlantikpakt entsteht, Formen der Ausübung von Souveränität. Paradoxerweise kommt es dabei zu einer Verbindung sowohl von Staaten, die nach dem Krieg in ihrer traditionellen Souveränitätsausübung erheblich ein­ geschränkt sind (Italien und Deutschland), als auch von solchen, die offenbar volle Souveränität genießen (Frankreich). Die Europäische Gemeinschaft ist der Schmelztiegel für eine neue gemeinsame Souveränität, die in einer Reihe aufeinanderfolgender verbindlicher Abkommen bekräftigt wird, von denen der Vertrag von Maastricht das bislang wichtigste zu sein scheint.

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Italien und Deutschland, deren Souveränität nach der Niederlage des Weltkrieges verloren, aufgehoben, von Besatzungsmächten kontrolliert, jeden­ falls gemäß den traditionellen Kriterien nicht mehr herzustellen ist: diese beiden Länder tragen dazu bei, den neuen Typus einer auf alle europäischen Partner aufgeteilten Souveränität zu definieren und zu fördern. Diese wird auch .Supranationalität" genannt und (Anfang der füufziger Jahre) oft und wohl­ meinend unter dem sehr allgemeinen Etikett des "Föderalismus" präsentiert. Tatsächlich ist der Weg zur gemeinsamen Souveränität lang und steinig. Die Entwicklung ist gekennzeichnet durch starke Asymmetrien zwischen allen Beteiligten und stark belastet durch ausdrückliche wie stillschweigende Vorbehalte. Großbritannien und Frankreich, Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, wollen aus Prinzip nicht auf ihre Souveränität verzichten. Und wenn sie es schließlich doch tun und sich an supranationalen Institutionen beteiligen (wie Frankreich im Falle der EGKS), ist deren Sphäre strikt auf wirtschaftli­ che Zwecke beschränkt. Es ist aufschlußreich, daß der Gründungsvertrag der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die zur Politischen Gemeinschaft hätte führen sollen, im Jahre 1954 vom französischen Parlament nicht ratifi­ ziert wird. In dieser Hinsicht gibt es jedoch ein großes Einvernehmen zwischen Italienern und Deutschen. Kaum zu überschätzen ist nämlich die Untersrützung, die das Italien De Gaspetis dem Deutschland Adenauers gewährt, als es datum geht, dessen Isolierung in Europa nach 1945 zu durchbrechen, ein Gegenge­ wicht gegen die feindliche Haltung Frankreichs zu schaffen und den Westdeutschen- durch die europäische Einigung- eine partielle und indi­ rekte Wiedererlangung von Souveränität zu ermöglichen, auch durch ihren militärischen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung. Als nach Jahrzehnten langwieriger, aber unumkehrbarer Fortschritte bei der europäischen, in erster Linie wirtschaftlichen Integration im Jahre 1990 mit dem Fall der Berliner Mauer unversehens die Wiederherstellung der nationalen Souveränität Deutschlands auf seinem gesamten historischen Territorium auf die Tagesordnung zurückkehrt, muß man sich innerhalb der Europäischen Ge­ meinschaft von neuem mit der deutschen Frage auseinandersetzen. Es ist reiner Zufall, daß Frankreich (Fran�ois Mitterrand) turnusgemäß den Vorsitz der Europäischen Gemeinschaft übernimmt. Es kann dadurch die Doppelrolle einer "Siegermacht" und eines Führers der europäischen Partner Deutschlands spielen. Die traditionelle französische Politik, aus der Kontrolle Deutschlands eine europäische Tugend zu machen, findet Ausdruck im (explizit oder stillschweigend vollzogenen) .politischen Tauschhandel": Deutschland erhält seine nationale Souveriinität zurück und geht dafür die von der Europäischen Gemeinschaft festgelegten monetären und politischen Verpflichtungen ein, die später im Vertrag von Maastricht ihren Niederschlag finden werden.

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Daß der Ausgang dieser Partie seinerzeit vielen Protagonisten ungewiß schien, zeigen die bis in die Mitte der neunziger Jabre geäußenen (und erst in der Rückschau übenrieben wirkenden) Befürchtungen, das neue .Großdeutschland" könne in gewisser Weise wieder versuchen, einen "Sonderweg" zu beschreiten und sich von seinen Bindungen an die Europäische Gemeinschaft lösen. Oder umgekehn-mit einer bemerkenswerten Drehung der Perspektive-: Deutschland könne die Vorherrschaft in der Gemeinschaft und in Europa insgesamt über· nehmen. Nicht zufällig sprach man (in der ersten Phase der Jugoslawien-Krise) von neuen deutschen .Großmacht" -Ambitionen im Donauraum, von der Rückkehr dunkler rassistischer Instinkte (wegen etlicher fremdenfeindlicher Übergriffe). Diese Ängste machten sich auch in Italien bemerkbar, das bei den großen Ereignissen Anfang der neunziger Jahre die Rolle eines wohlmeinenden, aber im Grunde marginalen Akteurs gespielt hatte, um sich dann rasch in eine ernste innenpolitische Krise zu verstricken. Doch bestätigt die An und Weise, in der Deutschland seine Wiedervereinigung vollzieht, daß es die unwiderrufliche Entscheidung getroffen hat, seine Souveränität an die gemeinsamen politischen Institutionen Europas und die militärischen Organe der NATO zu binden. Der 11. September 2001 und die ametikanische Reaktion darauf erschüt­ tern in vielerlei Hinsicht das Paradigma der Souveränität. Die amerikani­ sehe Supermacht erklän (gestützt auch auf die Resolution 1368 des UN­ Sicherheitsrats), daß der Angriff gegen sie eine .Bedrohung für die internationale Sicherheit und den Weltfrieden" darstelle. Daher beansprucht sie für sich das unanfechtbare Recht, die Kriterien und Methoden ihrer Selbstveneidigung zu bestinunen, und erklän sogar einen Präventivkrieg für legitim. Den Regimen der sogenannten "Schurkenstaaten" erkennt siede facto das Recht auf Souve­ riinität ab. In dieser Situation bestätigt die Europäische Union, den Beteuerungen ihrer Verantwonlichen zum Trotz, daß es weder eine gemeinsame politische Linie ihrer Mitglieder gebe noch eine institutionelle Struktur, die eine solche Linie maßgeblich und bindend formulieren könne. Tatsächlich setzt jeder Staat auf den ihm verbliebenen Rest nationaler Souveriinität. Deutschland und Italien erklären eifrig ihre Bereitschaft, eine gemeinsame außenpolitische Linie der Europäischen Union anzuerkennen, in Wahrheit aber verhalten sie sich unab­ hängig und abweichend15• Die vielberufene .gemeinschaftliche Souveränität" Europas erstreckt sich nicht auf die fundamentale Frage des Einsatzes von Gewalt, was lähmende Folgen hat.

15 Natürlich hängt das von der Ausrichtung der amtierenden Regierungen ab. Zu mutmaßen, was geschehen wäre, wenn in Berlin eine christdemokratische Regierung und in Rom eine Mitte-Links-Regierung im Amt gewesen wäre, geht über die Absichten dieses Aufsatzes hinaus. Eine solche Spekulation müßte im übrigen auch Wasbington, London usw. einbeziehen.

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VDI. Die Entwicklung der genpolitischen Achsen Unter Geopolitik verstehen wir die Bedeutung, die geographische Lage und territoriale Ausdehnung eines Staates für die Bestinunung seiner nationalen Interessen, seiner Einflußbereiche und damit seiner Bündnisse haben. Diese objektive Gegebenheit kann zum politischen Bewußtsein und/oder zur politi­ schen Ideologie einer Führungsgruppe werden, indem sie deren strategisches Denken und Handeln konditioniert. Jedenfalls sind ihre Inhalte nicht ein für alle Mal definiert, weil sie nicht von der bloßen Geographie abhängen, son­ dern von einer Mischung verschiedenartiger Bewertungen der Tecbnologien zur Kontrolle des Raumes, der verfügbaren materiellen Ressourcen, der kul­ turellen Eigenheiten, die derartige Bewertungen bestinunen. Dies galt für die klassische (liberale und imperialistische) Ära der Nationalstaaten einschließlieb Deutscblands und Italiens. Durch den Ausgang des Zweiten Weltkriegs ist unwiderruflich jede eurozen­ trische (und germanozentriscbe) Auffassung von Geopolitik obsolet geworden. Es beginnt die Phase der Bipolarität der beiden Supermächte USA und UdSSR Unter militärischem Gesichtspunkt relativiert sieb nun die Frage des Raums/ Territoriums gegenüber dem Problem des nuklearen Vernicbtungspotentials. Der technologische Faktor wird wichtiger als die bloße territoriale Ausdehnung oder Gestalt. Kurz: die Technologie in Form der Möglichkeit gegenseitiger nuklearer Vernichtung reduziert die Bedeutung der alt-europäischen Geopolitik, auch wenn das (geteilte) Deutschland weiterhin ein zentraler Faktor im Ost­ West-Konflikt ist. Im Falle Deutschlands bleibt anfangs die Idee lebendig, seine .zentralen Lage" könne auf der Basis von Neutralität und Entmilitarisierung wiederhergestellt werden. Bis Aufang der füufziger Jahre scheint dies für die Sowjets sogar die Bedingung für eine etwaige deutsche Wiedervereinigung zu sein. Dieser Koppelung von Wiedervereinigung und Neutralisierung widersetzt sieb Adenauer verbissen und erfolgreich und befindet sieb dabei auf einer Linie mit der amerikanischen Politik. Der uneingeschränkte Adantizismus des christdemokratischen Kanzlers und die Bipolarität (NATO und Warschauer Pakt), die das deutsche Staatsgebiet in zwei Teile trennt, geben der Geographie Deutscblands einen neuen Sinn. Der Kalte Krieg, die Atomwaffenarsenale und die von Adenauer initiierte (und von seinen Nachfolgern, allerdings auf andere Weise, fortgesetzte) Politik untergraben jegliche Aussiebt auf ein Deutscbland als .Mittehnacht" Bismarckscber Prägung und mit ihr alle Plausibilität eines deutseben Sonderwegs. Als Aufang der neunziger Jahre, nach der Wiedervereinigung, in der Presse wieder das Schlagwort von einem deutseben "Sonderweg" auftaucht, erkennt man rasch, wie unrealistisch diese Vorstellung ist. Sie gehört zum veralteten genstrategischen Rüstzeug des Macbtstaates, von dem sieb Deutschland ent­ schlossen entfernt, um eine "Zivilmacht" zu werden.

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Ähnlich, wenn auch weniger deutlich, verläuft die Entwicklung in Italien, insofern sich De Gasperis Entscheidung für den Westen und das adantische Biindnis als unumkehrbar erweist. Jahrzehntelang bleibt bei der Linken die ideologische Anti-NATO-Polemik lebendig und lebhaft, politisch allerdings folgenlos. Denn auch in Italien gibt es keinen Raum für Neutralismus oder andere geopolitische Konzeptionen, die in irgendeiner Weise an die der vor­ angegangenen Epoche anknüpfen könnten. Ohne Energiequellen und ohne militärische Autonomie hat Italien keine andere Wahl, als sich vorbehaldos in das westliche und adantische geopolitische System einzufügen. Dabei muß es unter anderem auch jegliche Ambition eines eigenständigen Einflusses im Mittelmeergebiet aufgeben. Von der "Brücke zum Mittelmeerraum" bleibt nur die entsprechende Rhetorik übrig. Durch das Verschwinden der großen geopolitischen Logik des alten Europa relativieren sich auch die kleineren geopolitischen Bezüge innerhalb Europas. Gerneint sind damit die Beziehungen der einzelnen Länder zueinander, die einst geostrategische Bedeutung hatten, während sie heute lediglich gemein­ same Interessen einzelner Länder sind: Deutschland vs. Frankreich vs. Italien vs. Großbritannien. Ein europäisches Land kann abwechselnd auf den einen oder anderen Partner zur gegenseitigen Unterstützung gegenüber einem Dritten zählen und so weiter. Das Ganze geht auf friedliche Weise vonstatten und ohne die gemein­ same Solidarität zu gefährden. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es häufig zu solchen Situationen, wobei die alten Metaphern von der "Achse" Berlin!Paris oder der "Entente" Rom/London usw. oder dem Dreieck Deutschland/Italien/ Frankreich wiederaufgegriffen wurden. Will man angesichts dieser Phänomene noch von Geopolitik sprechen, so handelt es sich bei ihnen doch nur um Residuen der alten Logik europäischer Diplomatie. Nehmen wir das Dreieck Deutschland-Italien -Frankreich, das Anfang der fünfziger Jahre wieder erstarkt, als Bonn sich an Rom wendet, um im Zusammenhang mit der Griindung der EGKS und vor allem der EVG auf Paris einzuwirken. Adenauer selbst spricht bei seinem Besuch in Rom vom Juni 1951 ausdrücklich von einem europäischen "Dreifuß", der von Deutschland, Italien und Frankreich gebildet wird. Diese Konzeption oder Metapher taucht gelegentlich noch heute bei einigen Kommentatoren wieder auf''. Es fragt sich aber, ob und wieviel Italien bei diesen 16 "Sei es im Europa der Sechs, sei es später im Europa der Neun oder der Zwölf: die Präsenz Italiens mit seinem großzügigen Europäismus bietet Deutschland das not­ wendige Gegeogewicht zu den französischen Aosätzen, ein geeignetes Gegengewicht, um eine ausschließliche Konfrontation mit Frankreich zu vermeiden." "Das Dreieck Italien, Deutschland, Frankreich wird niemals gleichseitig sein. Aber die italienische Seite könnte als nütaliche Stützwaod für die beiden aoderen fungieren." Die erste Äoßeruog

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Dreieckskonstellationen und generell bei allen politischen Unternehmungen tatsächlich zählt. Der Verdacht ist legitim, daß Italien von den stärkeren Parmern Frankreich und Deutschland nur als Instrument betrachtet wird. Je nach Gelegenheit und Zweckmäßjgkeit wird innerhalb des Dreiecks Frankreich­ Deutschland- Italien der deutsch-fran2ösischen Achse der bei weitem wich· tigste Platz eingeräume'. Natürlich bleiben auch unter diesen Verhälmissen die Beziehungen zwischen Rom, Paris und Berlin der Form nach gut. Es liegt im Interesse aller, daß Italien nicht ausgeschlossen wird oder vielmehr sich nicht ausgeschlossen fühlt. Traditionell ist die Hauptressource, über die Italien verfügt, der Preis, den die anderen für seinen Ausschluß bezahlen müßten. Folglich ist es die Aufgabe der Parmer, dafür Sorge zu tragen, daß Italien sich als Teilnehmer des Spids fühlt und nicht den Eindruck erhält, übergangen zu werden. Doch zutück zum Kern unserer Fragestellung. Mit der Neuorganisation der Macht Rußlands Anfang der neunziger Jahre verliert die eurozentrische Achse der Geopolitik, auf der historisch die klassische Logik der Machtstaaten basierte und an der sich jahrzehntdang der Ost·West-Konflikt polarisierte, endgültig ihre entscheidende Bedeutung. An ihre Stelle tritt eine globale Achse der Wdt, deren Schwerpunkt in den Vereinigten Staaten liegt; von dort aus wird den einzdnen Regionen der Erde nun ihr unterschiedliches Gewicht zugewiesen. Bei der Bewältigung der Probleme der neuen Wdtordnung ist die "einzige Wdttnacht" Amerika ständig mit der virtuellen "Wdtregierung" der großen internationalen Organisationen konfrontiert, angefangen bei den Vereinten Nationen, auf wdche die europäischen Mächte anscheinend mehr vertrauen als auf die amerikanische Supermacht. In dieser Situation ergeben sich größte Differenzen hinsichtlich des Einsatzes militärischer Gewalt. Geographie und Politik gehen eine mannigfaltige und wechsdvolle Beziehung ein, die nicht nur die eurozentrische Geopolitik und stanunt von V.L. Fe"aris, Gennania o della impossibilit8. di essere normale, in: Politica internazionale, 25 (1997), 3, S. 76; die zweite vom (deutschen) Vizedirektor des Centre for Europeon Political Studies, Daniel Gros, zitiert nach F. Fubini, La grande bonaccia del dopo-euro, in: Limes (2000), 3, S. 26. Der Beitrag führt genauer aus, daß Rom eine wertvolle Gelegenheit gehabt hätte, um Paris nicht allein zu lassen gegenüber einem Berlin, das größeren Einfluß verlangt, und Deutschland nicht allein gegenüber einem Frankreich, das nur widerwillig alle Konsequenzen aus dem Euro zieht. 17 Das war zu erkennen in der ersten Jugoslawien· Krise (1991·1992) im Zusammen· bang mit der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens- also in einem Gebiet, das für die Deutschen von geopolitischem Interesse ist. Die Sorge Deutschlands ist, daß sein Engagement zugunsten der beiden ehemaligen jugoslawischen Republiken das privi­ legierte Verhältnis zu Frankreich in der heiklen Phase der Ausarbeitung des Vertrages von Moastricht nicht beeinträchtige. Dies erkennt man vor alletn während der !rakkrise, als Frankreich und Deutschland den europäischen Gegenpol zur amerikanischen Linie bilden, während Italien auf halbem Wege zwischen Amerika und der neuen .franzö­ sisch-deutschen Achse" stehenbleibt.

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die bipolare Geopolitik des Kalten Krieges, sondern auch die Geographie der ,neuen Kriege" der neunziger Jahre hinter sich läßt.

IX. Traditionelle Kriege, "neue Kriege", Krieg gegen den internationalen Terrorismus War der Krieg zuvor ein normaler Faktor in der traditionellen Politik der Staaten, so vollzieht sich in Europa nach 1945 ein radikaler Wandel dieser Perspektive. Nachdem ein bewaffneter Konflikt zwischen den westeuropäischen Staaten unmöglich geworden ist, wird die Möglichkeit eines Krieges zwischen den beiden Blöcken in Ost und West faktisch durch die im Kalten Krieg getroffenen Vorkehrungen zur gegenseitigen Einschüchterung und nuklearen Abschreckung aufgehoben. Das Problem der militärischen Sicherheit der westeuropäischen Staaten ist durch ihre gemeinsame Zugehörigkeit zur Adantischen Allianz gelöst. Im Falle der Bundesrepublik und Italiens wird diese Zugehörigkeit zu einem wesentli­ chen Faktor ihrer Verwestlichung und Europäisierung. Die vorbehaldose Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die NATO, von vielen Linken als getarnte Fortführung des deutschen Militarismus betrachtet oder rhetorisch als solche denunziert, erfüllt in Wahrheit die entge· gengesetzte Funktion: Deutschland verzichtet auf die Ausübung einer selbststän· digen militärischen Macht und Souveränität. In den achtziger Jahren kommt es zur Entscheidung, die Bundeswehr an keiner militärischen Operation außerhalb des NATO-Bündnisgebiets teilnehmen zu lassen. Diese Selbstbeschränkung wird erst in der zweiten Hälfte der neunzigerJahre aufgegeben (Kosovo-Krieg und anschließende Stationierung von Streitkräften auf dem Balkan und in Afghanistan). Die Absicht Deutschlands, eine interna­ tional Verantwortung übernehmende ,Zivilmacht" zu bleiben, die den Einsatz ihrer militärischen Macht genau definierten ethischen Kriterien und einer internationalen Legitimierung unterwirft, soll damit nicht etwa widerrufen, sondern paradoxerweise bekräftigt werden. Ein ähnlicher Wandel vollzieht sich in Italien, wenn auch über andere politische Wege und ethisch-juridische Rationalisierungsprozesse. In den neun­ ziger Jahren kehrt für Italiener wie für Deutsche die Möglichkeit, ,Krieg zu führen", auf die Tagesordnung zurück. Freilich unterscheidet sich dieser Krieg in seiner Rechtfertigung wie Durchführung von den traditionellen". 18 Vgl. meinen Aufsatz, Guerra e intervento umanitario. L'Italia alla ricerca di una nuova affidabilita internazionale, in: W. Barberis (Hrsg.), Guerra e pace (Storia d'Italia. Annali, 18), Turin 2002, S. 795-838.

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Die wissenschaftliche Literatur spricht von .neuen Kriegen", während die Presse für einen gewissen Zeitraum vor allem für die Kriege in Jugoslawien die Bezeichnung .humanitäre Kriege" bevorzugt. Das ist in Wahrheit eine mißverständliche und verhüllende Bezeichnung für eine militärische Aktion, die im wesentlichen von der Idee der Ahndung eines Verbrechens (nämlich der schweren Verletzung der Grundrechte) bestimmt ist. Diese Ahndung wird ntit Hilfe von Zwangsmaßnahmen durchgeführt, bei denen man ganz bestimmte Kriegsteclmiken anwendet, vor allem unter Einsatz der Luftwaffe. "Erzwingungskrieg" also. Dieser Ausdruck kann Verwirrung stiften, weil Krieg per definitionem stets eine Erzwingungsmaßnabme ist, die den Gegner dem eigenen Willen unterwirft. Aber die Tautologie wird verntieden, wenn man im Clausewitzschen Sinne ptäzisiert, daß in diesem Fall der Zweck der Gewaltanwendung nicht darin besteht, den Gegner militärisch zu vernichten, sondern darin, ihn zur Beendigung von Praktiken zu zwingen, die als illegitim oder als eine Verletzung der Grundrechte betrachtet werden, wobei ihm gleich­ zeitig die Wahrung einiger seiner politischen und militärischen Hoheitsrechte, wenn nicht sogar seine volle Souveränität garantiert wird. So geschah es beim Krieg der NATO für den Kosovo gegen Serbien. Wesentliches Moment eines als Zwangsmaßnahme/Bestrafung verstandenen Krieges ist die Minimierung der Opfer an Menschenleben auf Seiten der lnterventionsmacht. Daraus ergibt sich die zentrale Bedeutung der Technologie oder besser das Streben nach deutli­ cher technologischer Überlegenheit, die es dem zur bewaffneten Intervention schreitenden Staat erlaubt, eine optimale Kosten-Nutzen-Relation zwischen seinen erklärten Absichten und den investierten menschlichen Ressourcen herzustellen. Dieses Wesensmerkmal ist hochgradig ambivalent, weil es einer­ seits einen Krieg charakterisiert, der aus westlicher Sicht als .post-heroisch" bezeichnet worden ist, aber andererseits dem moralischen Kriterium gerecht wird, daß der Krieg, nachdem alle Versuche zu einer politischen Beilegung des Konflikts unternommen worden sind und die Ermächtigung durch die internationalen Organisationen erfolgt ist, die Opfer an Menschenleben gezielt ntinimieren muß. Auch wenn die Konsequenzen der .neuen Kriege" äußerst umstritten sind, löst diese Problematik in den westlichen Gesellschaften, insbesondere zwischen den Regierungen Europas und Amerikas, nicht annähernd die Differenzen oder Spannungen aus, wie sie mit dem Erscheinen des internationalen Terrorismus am 11. September 2001 und der Strategie zu seiner Bekämpfung aufbrachen. Noch einmal wechselt das Chamäleon Krieg sein Aussehen, indem es das Element der Erzwingungsmaßnabme/Bestrafung in neuer Weise wieder ntit dem Prinzip der Vernichtung des Feindes verbindet. Die ametikanische Supermacht ist geneigt, politische Strategie ntit militärischer Schlagkraft gleichzusetzen. Sie stützt sich in ihrem Handeln auf ihre guten Gtünde (um eine internationale

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Ordnung zu schaffen, die voraussichtlich vor dem Terrorismus sicher ist) und setzt sich dabei auch über die ioternationalen Organisationen (namentlich die UN) und deren Initiativen hioweg. Genau an diesem Punkt kommt es zu erheblichen Differenzen zwischen Amerika und Europa (mit Ausnahme von Großbritannien, Spanien und teil· weise Italien), was die politische EiDschätzung der Wurzeln des Terrorismus, die politische Kultur und den strategischen Ansatz betrifft. Die Asymmetrie, die schon für alle "neuen Kriege" charakteristisch war, findet ihren Ausdruck nun nicht allein im Gegensatz zwischen den Angriffstechniken des Terrors und den Techniken zu seiner Bekämpfung oder Verhütung. Sie zeigt sich auch io der Auffassung von ioternationaler Ordnung: "Den europäischen Weg kann man als Versuch verstehen, die unverzichtbaren Minimalvoraussetzungen sym· metrischer Politik wiederherzustellen, währen der amerikanische sdbst auf die Spur der Asymmetrisierung eingeschwenkt ist"19•

X. Vtttuelle "Zivihnaeht" Europa Kehren wir zum Termions "Zivilmacht" zurück. Wie bereits erwähnt, wurde dieser Ausdruck Anfang der neunziger Jahre für Deutschland geprägt, nicht um eine bestimmte politische Linie einer bestimmten Regierungspartei zu definieren, sondern um die Orientierung der Bundesrepublik überhaupt, von ihrer Entstehung an, zu bezeichnen. Der Begriff "Zivilmacht" (oder auch "Zivilstaat") fungiert dabei als retrospektives Erklärungsmodell. Bereits die ersten weitreichenden Entscheidungen der Bundesrepublik (zugunsten des Westens, der Adantischen Allianz und Europas und einer begrenzten und mit den Partnern geteilten Souveränität) und die Außenpolitik der siebziger und achtziger Jahre (namentlich Hans·Dietrich Genschers systematische Bemühung um iotemationale Zusammenarbeit und Multilatetalität) werden nämlich als Grundlagen einer Politik gdesen, die Deutschland auch fortsetzt, nachdem es io den neunziger Jahre den Status eines "normalen" Nationalstaat wiederge· wiunt'0• Die deutsche Außenpolitik hält, trotz ioterner Auseinandersetzungen, 19 "Die Strategie der Europäer im Kampf gegen den internationalen Terrorismus besteht darin, durch die Wiederherstellung von Staatlichkeit, die in innergesellschaft. Iichen wie transnationalen Kriegen zerfallen ist, die Verwurzelungsmöglichkeiten für terroristische Netzwerke systematisch zu minimieren und auf diese Weise die Existenz­ und Operationsbedingungen von Terroristen zu beschränken. Die Amerikaner setzen dagegen offenbar auf einen lange dauernden womöglich permanenten Krieg gegen terro· ciscisehe Organisationen, die sie nach dem Prinzip des Zuschlagens und Verschwindens beständig attackieren, um deren offensive Fähigkeiten immer wieder einzuschränken." So H. Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek b.H. 2002, S. 241. 2o "Das wiedervereinigte Deutschland ist keine ,postnationale Demokratie unter Nationalstaaten', sondern ein demokratischer, postklassischer Nationalstaat unter ande-

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mit der Förderung des kooperativer Multilateralismus und der Suche nach einvernehmlichen politischen Lösungen der internationalen Krisen an einer von Regierung und Opposition gleichermaßen unterstützten Linie fest. Schließlich vollzieht das Land in den neunziger Jahren auch den wichtigen Schritt der bewaffneten Intervention außerhalb des NATO·Gebiets unter der Ägide der internationalen Organisationen. Das militärische Tabu fällt.

Es muß betont werden, daß diese Haltung auch unmittelbar nach dem Terroranschlag auf New York bekräftigt wird, als die rot-gtüne Regierung in Berlin sich mit den USA solidarisiert und auf der Legitimität der Anwendung militärischer Gewalt gegen den Terrorismus insistiert. Erst im Herbst/Winter 2002 mißbilligt Bundeskanzler Sehröder offen die amerikanische Absicht eines unilateralen militärischen Schlags gegen Saddam Husseins Irak, der zur neuen Zielscheibe geworden ist. Die Irakkrise führt zu einer Spaltung innerhalb der Europäischen Union, die sich auch in (sanft ausgetragenen) Differenzen zwischen Deutschland und Italien bemerkbar macht. Die Haltung der Regierung in Rom ist vorsichtig und wird allmählich immer stärker pro-amerikanisch. Der deutschen Festigkeit im Verhältnis zu Amerika steht ein italienischer ,Möglichkeitssinn' gegenüber. Insgesamt ist festzustellen, daß Europa sich während der Irakkrise nicht nur im Innern spaltet, sondern nicht einmal imstande ist, sich als .Zivilmacht" zu behaupten, wie dies den Intentionen derjenigen entsprochen hätte, die es als autonomes Subjekt der Krisenbewältigung sehen wollten. Es gelingt Europa nicht, seine Strategie in Einklang mit den Vereinten Nationen durchzusetzen, wahrscheinlich deshalb, weil es nicht über die erforderlichen militärischen Ressourcen und Mittel verfügt, um einer Erzwingungsmaßnahme gegenüber dem irakischeu Regime Glaubwürdigkeit zu verleihen. Schon die lange Jugoslawienkrise hatte gelehrt, daß es den Europäern allein und ohne den entscheidenden militärischen Beitrag der Amerikaner nicht gelungen wäre, den Konflikt beizulegen. Wenn die USA also fast ausschließlich auf ihre Machtntittel setzen, so setzen die Europäer fast ausschließlich auf die Tauglichkeit des bestehenden Völkerrechts zur Bewältigung der akuten interna·

ren. Die

neue Bundesrepublik ist nicht weniger souverän als aodere Mitgliedsländer der Europäischen Union" -so wird das Deutschland von heute von dem Historiker Wmkler definiert (H.A. Wink/er, Der laoge Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000, hier Bd. 2. S. 655). Der entscheidende Punkt dieser Formulierung ist der Verweis auf die wiedergewonnene staatliche Souveränität, die es gestattet, sich von der weitverbreiteten Auffassung zo verabschieden, Deotschlaod sei eioe .post·nationale Demokratie inmitten vnn Nationalstaateo" (so eioe in den siebziger Jahren von Kar! Dietrich Bracher geprägte Definition). Winkler hat seioe Thesen aoläßlieh des deutseh·italienischeo Treffens in der Villa Vigoni im April2002 in Gegenwart der beiden Staatsoberhäupter Johaones Rau und Carlo Azeglio Ciampi wiederholt. V gl. HA. Wink/er, Die Zukunft Europas: eioe deutsche Perspektive, in: Villa Vigoni. Comunicazioni/Mitteilungen, 6 (2002), S. 2.

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tionalen Krisen; sie überschätzen ihre Überzeugungsfähigkeit und unterschätzen die notwendige Unterstützung durch die militärische Gewalt.

Es ist falsch zu glauben, die Außenpolitik der .Zivilmacht" sei so etwas wie ein "Pazifismus an der Macht" oder müsse es sein. Um in kritischen und hochgradig konfliktträchtigen Situationen, wie sie durch den internationalen Terrorismus oder durch tyrannische Regime herbeigeführt werden, wirksam handeln zu können, muß die politische Entscheidung, Lösungsbemühungen der UNO Vorrang einzuräumen, mit der Fähigkeit zu militärischer Initiative gekoppelt sein, falls eine Auseinandersetzung unvermeidlich wird. Für Europa und seine Nationalstaaten einschließlich Italiens gibt es keine andere Möglichkeit, als sich mit starken Institutionen und angemessenen strate­ gisch-militärischen Instrumenten zu versehen. Nur so kann sich die historische Entwicklung vollenden, die Europa vom System der Machtstaaten hin zur Chance geführt hat, eine große einheitliche .Zivilmacht" zu werden. Es gibt keine Alternative, will Europa nicht seine neue politische Identität verlieren.

Verzeichnis der Autoren Aldo Agosti, Turin Patri'lia Batti/ani, Bologna GiOIJIJnni Bognetti, Mailand Christoph Buchheim, Köln Lucio Caraccio/o, Rom Eckart Conze, Marburg Francesca Fauri, Bologna Filippo Focardi, Rom Norbert Frei, Jena Hermann Gram/, München Maddalena Guiotto, Trient Klaus-Dietmar Henke, Dresden Lutz Klinkhammer, Rom Wil/ried Loth, Essen Charles S. Maier, Harvard Giorgio Mori, Florenz Jens Petersen, Harnburg Paolo Pombeni, Bologna Gian Enrico Rusconi, Turin/l'rient Martin Sabrow, Potsdam Thomas Schlemmer, München ]oachim Scholtyseck, Bonn Pietro Scoppola, Rom Francesco Traniel/o, Turin Hans Woller, München