Ferne Nachbarn: Vergleichende Studien zu Deutschland und Italien in der Moderne 9783412508272, 9783412507879

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Ferne Nachbarn: Vergleichende Studien zu Deutschland und Italien in der Moderne
 9783412508272, 9783412507879

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Italien in der Moderne herausgegeben von Gabriele Clemens Christof Dipper Oliver Janz Sven Reichardt Wolfgang Schieder Petra Terhoeven

Band 23

Christof Dipper

Ferne Nachbarn Vergleichende Studien zu Deutschland und Italien in der Moderne

2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Carlo und Karin-Giersch-Stiftung der Technischen Universität Darmstadt und der Frankfurter Stiftung für deutsch-italienische Studien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: „La grenouille et le bœuf “ (Karikatur auf den Dreibund: Deutschland als Ochse, Italien als Frosch). Aus: Le Petit Journal, Dez. 1893 © akg-images

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Korrektorat: Ute Wielandt, Baar-Ebenhausen Satz: büro mn, Bielefeld Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50787-9

Inhalt Vorwort  .. ......................................................................................................................... 

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Einleitung  .. ..................................................................................................................... 

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Revolution und Reaktion im Jakobinismus Die Agrarprogramme der italienischen und deutschen Jakobiner  .........................  27 Deutscher und italienischer Adelsliberalismus ........................................................  59 Revolution und Risorgimento Italien 1848/49 aus deutscher Perspektive   ..................................................................  87 Helden überkreuz oder das Kreuz mit den Helden Wie Deutsche und Italiener die Heroen der nationalen Einigung (der anderen) wahrnahmen   .........................................................................................  103 Stationen der Verrechtlichung und Professionalisierung in Deutschland und Italien  .........................................................................................  137 Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze  ..........................................................  153 Faschismus und Moderne Gesellschaftspolitik in Italien und Deutschland  .......................................................  167 Nationalsozialistische und faschistische Wissenschaftspolitik  .............................  203 Unversehens in Feindesland Deutsche und Italiener 1943 bis 1950  . . ........................................................................  243 Traditionen des Italienbildes in Deutschland  .. ........................................................  265 Uguali e diversi Zwei Fallstudien zur Moderne in Deutschland und Italien  ....................................  285 Gleichgewicht oder Asymmetrie? Die deutsch-italienischen Beziehungen vom Zweiten Weltkrieg bis heute  ..........  305

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Inhalt

Ferne Nachbarn Deutschland und Italien 1860 – 1960  . . .........................................................................  323 Publikationsnachweis  .. .................................................................................................  357 Abkürzungen  .................................................................................................................  359 Sachregister  ....................................................................................................................  361

Vorwort „Gegenwärtiges Buch kam mir freilich, wie ich nur bekennen will, ehe es gedruckt ward, vollkommener vor, als nun, nachdem es gedruckt ist. Indessen rechne ich auf geneigte Leser, die weniger auf seine Mängel, als auf seine etwaigen Tugenden aufmerksam sind“. Diese Worte stellte Leopold Ranke 1824 seinem Erstlingswerk, den Geschichten der germanischen und romanischen Völker, voran, und diese captatio benevolentiae, um es im Rankeschen Stil auszudrücken, trifft auch, obwohl ich alles andere als ein Kenner und Liebhaber Rankes bin, mein Empfinden ganz und gar im Augenblick des Abschlusses der Fahnenkorrektur. Der Grund ist ein wenig anders als beim „werdenden Historiker­ fürsten“ (Gangolf Hübinger). Es handelt sich ja nicht um eine Monographie, die den ‚geneigten Lesern‘ völlig Neues bietet, sondern um die Zusammen­stellung von einem Dutzend Momentaufnahmen, die in den letzten Jahren an den verschiedensten Stellen erschienen, aber einem gemeinsamen Thema verpflichtet sind: dem deutsch-­italienischen Vergleich unter dem Vorzeichen der Asymmetrie. Sie bilden einen wesentlichen Teil des Ertrags meiner mehr als vierzigjährigen Beschäftigung mit Italien ab. Von den zwölf Beiträgen sind acht unverändert, einer ist völlig neu, die restlichen drei wurden erheblich umgearbeitet bzw. aktualisiert. Nur einer ist vor 2000 erschienen, die Hälfte wurde 2010 oder ­später veröffentlicht. Bücher erblicken nicht von alleine das Licht der Welt und außer dem Verfasser bedarf es vieler anderer Personen, die es auf dem Weg dahin begleiten. Einigen von ihnen sei hier namentlich gedankt: An erster Stelle Kirsti Doepner vom Böhlau Verlag, die diesen Band immer machen wollte und sich in ganz außerordentlicher Weise für sein Gelingen engagiert hat; dankbar bin ich auch ihrer Kollegin Julia Beenken für den zügigen Fortgang des Herstellungsprozesses. Die freischaffende Lektorin Ute Wielandt hat sich des Manuskripts ebenfalls weit mehr angenommen, als ich es erwartet habe. Wolfgang Schieder begleitete das Projekt mit großem Interesse und hat es tatkräftig unterstützt. Der Carlo und Karin Giersch-­Stiftung an der TU Darmstadt danke ich für einen namhaften Beitrag zum Druck. Kanzler Manfred Efinger, dem auch sonst an meiner fortgesetzten Tätigkeit als Historiker sehr viel liegt, trug zu dieser in Zeiten der Negativzinsen, unter denen zumal die Stiftungen zu leiden haben, besonders erfreulichen Entscheidung wesentlich bei. Weitere Unterstützung kam von der Frankfurter Stiftung für deutsch-­italienische Studien, der dafür ebenfalls an dieser Stelle gedankt sei. Als Titelbild schien mir die so viel Harmonie ausstrahlende Italia und Germania des Deutschrömers Friedrich Overbeck von 1828 unpassend, auch in karikierender Verfremdung. Stattdessen fand sich eine französische Karikatur von 1893, La grenouille et le bœuf, die den Tenor dieser Abhandlungen recht genau trifft, nämlich die Asymmetrie im Verhältnis beider Länder zueinander. Vorlage war eine Fabel Jean de La Fontaines von 1688, die der Zeichner des Petit Journal, damals eine der

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Vorwort

auflagenstärksten Pariser Tageszeitungen, zur Kritik an Italien benutzt hat: Wie in der Fabel bläst sich der Frosch auf, um mit dem Ochsen auf einer Stufe zu stehen, aber das Ergebnis ist selbstverständlich lachhaft. In Zeiten des Dreibundes sind die Nationen natürlich in Uniform: der italienische Frosch als Bersagliere, der Elitetruppe, der preußisch-­deutsche Ochse als hochdekorierter, aber tumber Infanterieoffizier, der Pfeife rauchend alles niedertrampelt, auch die am Boden liegende, schmächtige Figur der Italia, eigentlich seine Verbündete. Genug der Vorrede. The proof of the pudding is in the eating. Darmstadt im Januar 2017

Einleitung Mit keinem anderen Land, von Österreich allenfalls abgesehen, haben die Deutschen so enge Beziehungen wie mit Italien. Seit Jahrhunderten ist die Halbinsel Ziel von Pilger-, dann Bildungs- und zuletzt Erholungsreisen. Zwischen 1933 und 1938 war das Land erstaunlicherweise für ein paar Tausend vom Nationalsozialismus Verfolgter, überwiegend Juden, Zufluchtsland; einige von ihnen schafften es sogar, dort zu überleben, nachdem auch Mussolini mit der Judenverfolgung begonnen hatte. Zwar reisen inzwischen mehr Deutsche nach Spanien, aber sie belegen auf der Apenninenhalbinsel trotzdem seit den 1960er Jahren mit Abstand den ersten Platz bei Übernachtungen von Ausländern. Entsprechend umfangreich ist das Angebot an Reiseführern und Bildbänden in deutschen Buchläden. Seit zweihundertfünfzig Jahren leben auch Deutsche in namhafter Zahl im Land: von Südtirol abgesehen vor allem in Mailand, wo sie allerdings weniger wahrgenommen werden als in Rom, wo der Deutschrömer längst zu einer vertrauten Sozialfigur geworden ist. Groß ist die Zahl deutscher wissenschaftlicher Institute in Florenz und Rom (einstmals auch in Neapel), oftmals zu Beginn großzügige Schenkungen deutscher Italienliebhaber bzw. -liebhaberinnen mit wissenschaftlichen Ambitionen wie Anton Dohrn oder Henriette Hertz. Eng sind seit langem auch die wirtschaftlichen Kontakte. Es begann mit Kaufleuten und Textilfabrikanten, die sich vorwiegend im Norden niederließen. Später kamen Rohstofflieferungen, Kohle und Stahl vor allem, hinzu, während in den 1890er Jahren deutsche Großbanken wesentlich an der Gründung jener zwei Kreditinstitute beteiligt waren, die bald eine beherrschende Stellung im Lande einnehmen sollten. Der Erste Weltkrieg unterbrach wie so vieles auch die Wirtschaftsbeziehungen, die nach dessen Ende längst nicht mehr die alte Höhe erreichten, auch nicht in den Zeiten der Achse. Neue Zeiten kündigten sich im Boom der 1950er Jahre an, alles schnellte in vorher für unerreichbar gehaltene Höhen: Warenlieferungen, Kreditbeziehungen, Direktinvestitionen. Es gibt momentan fast dreitausend deutsche Firmenniederlassungen auf der Apenninenhalbinsel. Deutschland ist weiterhin mit Abstand Italiens wichtigster Handelspartner, umgekehrt liegt Italien an sechster Stelle für Deutschland. Die deutsche Handelsbilanz ist traditionell positiv, aber seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 nimmt der deutsche Überschuss ab. Umgekehrt, aus italienischer Perspektive, sehen die Dinge anders aus. Zunächst einmal: Von Deutschen glaubt man sich im Süden seit Jahrhunderten beherrscht, früher politisch, heute eher wirtschaftlich. Schon deshalb kann von sentimentalen Bindungen keine Rede sein. Andere Ursachen verhindern die spiegelbildliche Erwiderung deutscher Praktiken wie die lange Tradition des Reisens, der Ansiedlung wissenschaftlicher Institute oder Firmen, von Kapitalexport oder Rohstofflieferung. Italiener in Deutschland − das waren lange Zeit in erster Linie Arbeitsuchende oder Kriegsgefangene bzw. von 1943 bis 1945 Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter. Inzwischen hat sich das stark geändert, aber die Masse der in Deutschland lebenden Italiener macht noch immer

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Einleitung

die ungefähr halbe Million (inzwischen überwiegend ehemaliger) ‚Gastarbeiter‘ und ihrer Angehörigen aus; es ist nach Argentinien die zweitgrößte italienische Gemeinde im Ausland. Sie ist ausgesprochen stark in Vereinen und Selbsthilfegruppen organisiert, vermutlich sehr viel besser als ihr deutsches Pendant in Italien – und als ihre Landsleute zu Hause, wo Familie, Freunde, Nachbarschaft und Sozialstaat das Fortkommen in guten und schlechten Zeiten sicherstellen. Die Krise in Italien sorgt dafür, dass die Zuwanderung neuerdings wieder wächst: Mehrere Zehntausend gut ausgebildete junge Italiener zieht es von Jahr zu Jahr nach Deutschland – 2014 kamen 73.000, 34.000 zogen wieder weg −, derzeit ist es das beliebteste Zielland der Jungen. Sie finden nicht mehr vorwiegend in der deutschen Industrie eine Beschäftigung – kein Wunder, wenn dort die Normalarbeitsverhältnisse abnehmen −, sondern im Dienstleistungssektor. Nicht wenige kommen dabei in der sogenannten ethnischen Ökonomie unter, wo vor allem der Weltruhm ihres Landes in Küche und Design die entscheidende Ressource darstellt. Aber natürlich ‚exportiert‘ Italien derzeit nicht nur arbeitslose Nachwuchshoffnungen, sondern als viertgrößte Volkswirtschaft Europas selbstverständlich und vor allem Güter, und das in wachsendem Umfang, obwohl der Euro dem Land die früher oft gebrauchte Zuflucht der Abwertung genommen hat. Bedarf es angesichts dieser, wenngleich grobmaschigen Tatsachenaufzählung für die These der Asymmetrie noch eines Buches, das sich ihr widmet? Zeichnen nicht politische und Wirtschaftskrise und ihre offen zutage liegenden strukturellen Ursachen ein hinreichend deutliches Bild tiefer Unterschiede? Ginge es lediglich um diese Gegenstände, also um Beziehungen und Bilder vom jeweils anderen, wäre d ­ ieses Buch in der Tat nur eines auf dem inzwischen recht dicken Stapel zu diesen ­Themen und wohl entbehrlich. Beziehungen und Bilder spielen hier jedoch ganz bewusst nur eine Rolle am Rande. Im Mittelpunkt stehen Fallstudien des Vergleichs. Sie folgen keinem Plan, sondern sind die Frucht jahrzehntelanger Beschäftigung, entsprangen unterschiedlichsten Anlässen und fügen sich dennoch zu einem Gesamtbild. Im Buchtitel wird es auf den Begriff gebracht. Deutsche und Italiener sind in der Tat ferne Nachbarn, d. h. Nachbarn zwar, die aber wenig Genaues übereinander wissen, obwohl sie vom Gegenteil überzeugt sind. Die einen, die Deutschen, weil sie sich der Illusion hinzugeben pflegen, die jahrhundertealten Beziehungen und Kontakte sorgten schon für hinreichende, vielleicht gar substantielle Kenntnis des Südens, und die anderen, die Italiener, weil sie der als dominierend empfundenen europäischen Zentralmacht bzw. ihren Angehörigen ohnedies im eigenen Land fast täglich begegnen. Hinzu kommt die weitverbreitete Ansicht, Brüsseler Bürokratie und Globalisierung bewirkten sowieso einen Rückgang hergebrachter Unterschiede und ersetzten sie durch rasche Angleichung der Lebensumstände, Konsummuster und Werthaltungen. Das ist natürlich nicht rundheraus falsch, wird aber dem hier angeschnittenen Thema nicht wirklich gerecht. Von der Moderne werden alle europäischen Gesellschaften erfasst, aber sie gehen damit auf unterschiedliche Weise um und gestalten sie entsprechend verschieden.

Einleitung

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Das ist der Leitgedanke d ­ ieses Buches. Die Unterschiede sind das Thema, sie erfassen sämtliche Lebensbereiche und sie sind historisch wohl (mindestens) ebenso relevant wie die Faktoren der Vereinheitlichung, denn Vielgestaltigkeit und Ungleichzeitigkeit sind das Merkmal aller geschichtlichen Entwicklung. Wie geht man mit den Unterschieden um? Sie ins Deutungskorsett von Fort- und Rückschrittlichkeit zu zwängen, ist unangebracht. Sie sind auch keine Residualkategorien, jedenfalls nicht nur, nur weil das Gewicht der Tradition eine große Rolle spielt. Denn sie werden auch immer wieder neu geschaffen, sind sie doch das Ergebnis des schöpferischen Umgangs der Gesellschaften mit den auf sie einwirkenden Prozessen und Ereignissen. In der Moderne nehmen die Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und -beschreibung der Gesellschaften zu und damit auch die Möglichkeiten ihrer Steuerung. Ordnungsmuster, Interessenlagen, Traditionen sowie endlich kontingente Umstände verhindern, dass daraus der von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik verheißene Optimierungs- und Angleichungsprozess hervorgeht. Es wird nicht immer besser, aber jedenfalls anders. Die Kultursoziologie spricht neuerdings von multiple modernities, die Historiker reden gelegentlich von ‚lauter Sonderwegen‘. Beiden Kategorien verweigert sich d ­ ieses Buch, weil hinter ihnen normative Vorstellungen vom geschichtlichen Verlauf im Verborgenen zu schlummern pflegen. Hier geht es um ein gutes Dutzend Momentaufnahmen, die zeigen wollen, wie unterschiedlich die Italiener und die Deutschen mit den Herausforderungen der Moderne umgegangen sind: mit der sozialen Frage um 1800, mit der nationalen Frage fünfzig Jahre ­später, mit dem Thema des ‚Neuen Menschen‘ bei Faschisten und Nationalsozialisten, mit Familie und Technik in den beiden von Industrialisierung und Massenwohlstand erfassten Gesellschaften, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Der erste Beitrag, mit Revolution und Reaktion im Jakobinismus überschrieben, verdankt seine Entstehung der Auseinandersetzung mit der marxistischen Historiographie, die stets nach revolutionärem Potential suchte und es deshalb oft auch bei Gruppen zu finden vermeinte, die bei weniger voreingenommener Sicht andere Ziele verfolgten. Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft und dem Verschwinden der von ihr gelenkten Geschichtswissenschaft mag das überholt klingen. Insofern hat der Aufsatz tatsächlich an Interesse eingebüßt. Dagegen bleibt die Frage aktuell, wie unter Bevölkerungsdruck geratene Agrargesellschaften mit der für sie zentralen Frage, der Bodenverteilung, in Zeiten der utopische Hoffnungen hervorbringenden Revolution umgingen. Die Jakobiner, oder wer dafür gehalten wurde, machten es sich zur Aufgabe, diese Frage zu lösen, und legten entsprechend zahlreiche Programme vor. Diese werden hier untersucht, nicht die Agrarpolitik selber, denn eine ­solche gab es damals weder auf der Apenninenhalbinsel noch im Reich. Der entscheidende Unterschied bestand darin, dass in Deutschland die Bauern von ihren enormen feudalen Lasten befreit werden sollten, während es südlich der Alpen gar keine Bauern im deutschen Sinne gab und diese mittels einer lex agraria überhaupt erst geschaffen

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Einleitung

werden sollten. Der lateinische Begriff zeigt schon die Langlebigkeit ­dieses Themas an; noch glaubte man, aus der Geschichte direkt lernen zu können. Sie hätte freilich auch lehren können, dass im Süden noch immer die Großgrundbesitzer gesiegt haben. Das wird auch im 19. Jahrhundert so bleiben. Deren politische Rolle beleuchtet der Beitrag zum Adelsliberalismus, ein Thema, das viele im Zusammenhang mit Deutschland nicht vermuten dürften. Er war denn hierzulande auch kurzlebig und verdankte sich zwei historischen ­Ausnahmesituationen, d. h. den Versuchen, Deutschland zu einigen – ein im Ursprung genuin liberales Projekt, das eine Antwort auf die Partizipationskrise der politischen Moderne darstellte und in vielen Ländern erfolgreich war. In Deutschland war beim zweiten Anlauf, 1866 bis 1871, der liberalen Bewegung längst das Steuer aus der Hand genommen, aber ohne sie hätte Bismarck sein Ziel trotzdem nicht erreicht. 1848 sah es dagegen kurzfristig so aus, als könne die kleine Adelsfraktion im Liberalismus die Führung übernehmen und ­zwischen ‚bürgerlicher‘ Bewegung und Monarchen vermitteln. Das schlug bekanntlich fehl. Grundverschieden war die Lage in Italien, wo dem liberalen Adel Ober- und Mittelitaliens gemeinsam mit der bürgerlichen Oberschicht eine, wenn nicht die entscheidende Rolle bei der nationalen Einigung zukam und er darum auf nationaler Ebene bis 1878, lokal noch deutlich länger an der Macht blieb. Im Ursprung handelte es sich um Widerstand gegen den Umbau der Staaten zu einer modernen Verwaltungsmonarchie, der Monarchia amministrativa, wie es damals hieß, die den Grundbesitzern ihren jahrhundertealten Einfluss in Stadt und Land nehmen wollte. Dass der Widerstand in den italienischen Nationalstaat, so gesehen fast eine Sturzgeburt, mündete, war gar nicht vorgesehen, sondern dem Versuch geschuldet, ein für alle Mal die Habsburger, die entschiedensten Modernisierer, loszuwerden. Die Lawine, die die Moderati, die liberal-­konservativen Grundbesitzer, dabei lostraten, begrub 1859/60 in kürzester Zeit die politische Ordnung der Halbinsel. Überspitzt könnte man sagen, der italienische Nationalstaat gehört aus adlig-­großbürgerlicher Perspektive in die Abteilung unintended consequences, während die Anhänger Mazzinis ihn bekanntlich von Anfang an mit gewaltsamen oder friedlichen Mitteln herbeizuführen versuchten, bürgerliche Kreise im Verein mit Cavour ihn pragmatisch vorantrieben und der Guerillakämpfer Garibaldi bald schon seinen Frieden mit der Monarchie, jedenfalls mit Vittorio ­Emanuele II., machte. Wieder andere Motive hatten die süditalienischen Baroni und die bürgerlichen Eliten. Das Königreich Italien besaß bei seiner Gründung darum einen auf sehr vielen Schultern ruhenden Kompromisscharakter, der manches seiner weiteren Geschichte erklärt. Damit sind Dinge angesprochen, die in den nächsten beiden Kapiteln eine wichtige Rolle spielen werden. In Revolution und Risorgimento werden die Gründe für das beiderseitige Missverständnis im ‚tollen Jahr‘ vorgestellt. Die Männer der Paulskirche hielten die Italiener für unreif für einen eigenen Staat, die oberitalienischen Aufständischen hatten dagegen als oberste Priorität die Vertreibung der Österreicher zum Ziel und empfanden sich darum als natürliche Verbündete der Paulskirche, die sie um Hilfe

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baten. Das ist der erste Unterschied. Der zweite machte die Distanz z­ wischen deutscher und italienischer Einigungsbewegung noch weit größer. Die oberitalienischen Aufständischen standen z­ wischen zwei Fronten und das hat ihren Handlungsspielraum sehr eingeschränkt: Auf der einen Seite das österreichische Militär, auf der anderen die ‚Bauern‘, d. h. die Kleinpächter und Landarbeiter, die in der aufständischen Oberschicht, nicht aber in den Österreichern ihren Feind sahen und die kurze Phase politischer Instabilität zu Landbesetzungen nutzten und damit gewissermaßen instinktiv das zu verwirklichen suchten, was die Jakobiner fünfzig Jahre vorher vergeblich vorgeschlagen hatten. Die schmale Schicht der national Bewegten, überwiegend zugleich Grundbesitzer, geriet dadurch in derartige Panik, dass sie rasch kapitulierte. Sie lernte aber ihre Lektion und so nahmen die nächsten beiden Unabhängigkeits- bzw. Einigungskriege, zumal nachdem sich die Nationalbewegung durch die Annexion der Legationen 1860 auch noch den Papst zum Feind gemacht hatte, geradezu die Züge eines Klassenkampfs von oben an. Die autoritären und sozial exkludierenden Bestimmungen der Verfassungs- und Verwaltungsordnung des neuen Königreichs − die italienische Nationalbewegung hätte ihr eigenes Grab geschaufelt, wenn sie ein Wahlrecht wie das der Paulskirche beschlossen hätte − haben hier ihre Wurzel; sie wirkten weit ins 20. Jahrhundert. Das alles sorgte dafür, dass seit den 1840er Jahren die deutsche Aufmerksamkeit für die Vorgänge auf der Apenninenhalbinsel rapide zunahm. Um 1865 befand sie sich auf einem Allzeithoch, das erst wieder im Faschismus erreicht wurde. Unbeeinflusst davon blieb die Asymmetrie. Bismarcks Preußen genoss nicht nur in Süddeutschland, sondern auch bei der italienischen Nationalbewegung, die sich als Lehre von 1848 an das Frankreich Napoleons III . gebunden hatte, keinen guten Ruf. Das Kreuz mit den Helden bestand, kurz gesagt, darin, dass der zeitgenössische Heldenbedarf in Deutschland kein brauchbares Angebot fand, umso mehr jedoch in Garibaldi, denn dieser verkörperte wie kein zweiter Freischärler- und Heldentum sowie Barrikadenmythos – alles Dinge, die zwar militärtechnisch, jedenfalls in Preußen, wo Professionalität auf allen Ebenen, vom Grenadier bis zum Generalstab, dank Roons und Moltkes Reformen Standard geworden war, überholt, aber in den Aufständen der Griechen, Ungarn, Franzosen, Belgier und nicht zuletzt der Deutschen 1848 zum Tragen gekommen waren und das nationalpatriotische Publikum immer aufs Neue begeisterten. Unabhängig von den politischen Entwicklungen nahm daher dank einer Fülle von Presseartikeln, Broschüren und Büchern der Garibaldikult in Deutschland Ausmaße an, die nur noch bei dessen Besuch in England 1864 übertroffen wurden. Etliche beließen es nicht bei der Lektüre, sondern zogen über die Alpen, um als Freiwillige in Garibaldis Truppen einzutreten. Ja, Damen aus den besten Kreisen organisierten Geldsammlungen, schmuggelten Waffen und Sprengstoff und waren im höchsten Glück, wenn sie Zutritt zum ‚Helden zweier Welten‘, bekanntlich alles andere als ein Frauenverächter, erlangten. Mit dem 1870er Krieg, als Garibaldi mit einer Freischar nach Burgund zog und dort den Deutschen entgegentrat, war der Kult allerdings schlagartig zu Ende. Patriotismus und Nationalgefühl waren eben doch stärker als Guerillaromantik.

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Einleitung

Die beiden folgenden Beiträge nehmen die Geschichte der Moderne selber in den Blick, indem sie maßgebliche Stationen ihrer Durchsetzung in beiden Ländern analy­ sieren. Zur okzidentalen Moderne gehört der Rechtsstaat und dieser wiederum setzt eine bestimmte, jedenfalls moderne Rechtskultur einschließlich des sie pflegenden Personals voraus. Verrechtlichung und Professionalisierung verliefen in beiden Gesellschaften sehr ungleich, ein klarer Hinweis, dass die Moderne bei aller Einheitlichkeit ihrer trendmäßigen Entwicklung ganz verschiedene Gesichter aufweist. Während die Professionalisierung die überlieferten bürgerlichen Gesellschafts- und Wertvorstellungen respektieren musste, die bei allen Unterschieden z­ wischen Nord und Süd manche Gemeinsamkeiten aufwiesen, verlief die Verrechtlichung kategorial verschieden. Dabei hatte in der Aufklärung noch große Nähe geherrscht, denn beide Rechtskulturen kämpften entschieden gegen das römische im Namen des Naturrechts. In der Revolution trennten sich dann die Wege. Napoleon oktroyierte der Apenninenhalbinsel den Code Civil, den die meisten Staaten nach 1815 im wesentlichen beibehielten, so dass die Rechtsmoderne auf modernem positivem, an den Universitäten gelehrtem Recht basierte. In Deutschland gab es rechts des Rheins dazu kein Pendant. Savigny setzte sich mit seiner Ablehnung jeglicher Kodifikation durch, weshalb auf den Universitäten das herrschende Recht gar nicht gelehrt wurde. Stattdessen gründete die Rechtskultur weitgehend auf der Auslegung der Pandekten als Leitwissenschaft, aus der schließlich der Allgemeine Teil des BGB hervorging, ein hochgradig selbstreferenzielles System, zu dem es in keiner anderen europäischen Rechtskultur eine Entsprechung gibt. Das war nur gelungen, weil sich in Deutschland der Rechtsprofessor als Leitfigur der Professionalisierung gegen die Richter durchgesetzt hatte; die Anwälte waren hierzulande damals noch schwach und hatten in ­diesem Vorgang darum keine Stimme. Umgekehrt im Süden. Obwohl in Italien geschriebenes Recht herrschte, fand namentlich im tonangebenden Neapel, einer wohl auf die Gründerzeit der europäischen Universität zurückgehenden Tradition folgend, die juristische Ausbildung, auch soweit es sich um die theoretischen Fächer handelte, in Privatschulen und Kanzleien statt. Sie war also außeruniversitär wie in England, und wie dort war darum der Advokat die Leitfigur des Professionalisierungsprozesses. Soweit er zugleich ein politisches Mandat besaß, galt er in Italien gar als die komplette bürgerliche Persönlichkeit schlechthin. Zur okzidentalen Moderne gehört natürlich auch die Industrialisierung, die als Prozess wie als Ergebnis von Land zu Land Unterschiede aufweist, die besonders gut sichtbar werden, wenn man die Perspektive erweitert. Dann kann man von mediterraner Industrialisierung sprechen (während sich für die nordalpinen Fälle kein spezieller Begriff eingebürgert hat – vermutlich weil die englische und von dort den nordwesteuropäischen Kontinent erfassende Industrialisierung als Standardmodell gilt) und einen Katalog von Merkmalen zusammenstellen. Das ist auch hier der Fall. Es werden nicht die beiden völlig unterschiedlichen Industrialisierungsprozesse in Deutschland und ­Italien samt Spanien miteinander verglichen, sondern die beiden mediterranen Beispiele der 1950er Jahre werden mit der gleichzeitigen Industriegeschichte der Bundesrepublik verglichen.

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Dadurch kommen bemerkenswerte Übereinstimmungen – „Wirtschaftswunder“ – wie bleibende Differenzen – Strukturmerkmale bzw. Leitsektoren – zum Vorschein. Letztere lassen es fraglich erscheinen, ob für den Süden die Rede von ‚Industrialisierung‘ die Sache im streng wirtschaftlichen Sinne überhaupt trifft, denn der klassische sekundäre Sektor wurde niemals dominant. Hingegen spielen Bauwirtschaft und Tourismus eine bis heute tragende Rolle. Andererseits haben sich Lebensformen, Konsummuster und wohlfahrtsstaatliche Institutionen so stark an die Beispiele der früher industrialisierten Gesellschaften angenähert, dass aus soziologischer Perspektive durchaus mit Recht von mediterranen Industriegesellschaften gesprochen wird. Das ist ein weiterer Beleg für die weiter vorne getroffene Feststellung, dass von der Moderne alle europäischen Gesellschaften erfasst werden, diese aber damit auf unterschiedliche Weise umgehen und sie entsprechend verschieden gestalten. Diese Unterschiede bleiben auch in der Epoche des hier nicht mehr behandelten Gemeinsamen Marktes bzw. der Europäischen Union, die mit einigem Erfolg daraus sich gegenseitig ergänzende Volkswirtschaften zu machen versucht, erhalten. Auch die seit mehr als dreißig Jahren unaufhaltsam scheinende Globalisierung konnte daran nichts Grundsätzliches ändern. Die gemeinsame Währung hat dann allerdings Strukturprobleme offengelegt, für deren Überwindung bis heute kein Rezept gefunden worden ist. Mit ­diesem Beitrag sind bereits erhebliche Teile des 20. Jahrhunderts in Sicht gekommen, das jedoch ohne den Blick auf den Faschismus kaum zu verstehen ist. Dem tragen die nächsten beiden Aufsätze Rechnung. Die beiden Faschismen verdankten ihre zeitweilige Attraktivität dem Umstand, dass ihre Antworten auf die Wirren ihrer Zeit in den Augen vieler Menschen verheißungsvoller waren als die ihrer Konkurrenten. Die zwei Jahrzehnte ­zwischen den beiden Kriegen waren bekanntlich von einer ganzen Reihe schwerer Krisen gekennzeichnet, die aus dem 19. Jahrhundert mitgeschleppt worden waren, sich nun aber überlagerten und entsprechend steigerten. Zu ihnen zählen vor allem Territorialkonflikte, Klassenkämpfe und Kapitalismusstörungen. Die Faschisten versprachen deren Lösung durch bedingungsloses Vertrauen in einen Führer ganz neuer Art, der Gewaltaktionen predigte und sie mit einem radikalen, rassistisch konditionierten Nationalismus rechtfertigte. Dabei sollten die demokratischen Errungenschaften – scheinbar – nicht nur nicht gefährdet, sondern gesteigert, das Privateigentum nicht beseitigt, sondern gegen Anfechtungen aller Art überhaupt erst gesichert und die irritierende Spaltung der Gesellschaft ein für alle Mal überwunden werden. Das war für damalige Verhältnisse ein eminent modernes Programm, das durch die den faschistischen Bewegungen eigene Dynamik zusätzliche Attraktivität erlangte. Aus dem gewaltigen Panorama des Faschismus sollen lediglich zwei zwar nicht zusammenhängende, freilich alles andere als nebensächliche Politikfelder herausgegriffen werden – das erste unter expliziter Rückbindung an das Thema ‚Moderne‘, das zweite im Blick auf die Rolle von Technik- und Naturwissenschaften mit dem Schwerpunkt auf Selbstmobilisierung und Organisationsgeschichte. Noch 2005, als der erste Text bei

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einer Tagung am DHI Rom vorgetragen wurde, war es ein Wagnis, von Faschismus und Moderne in einem Atemzug zu sprechen, vor allem wenn das nicht im Tonfall des von vornherein Indiskutablen geschah. Der sogenannte Historikerstreit nochmals zwanzig Jahre früher hatte ja gerade mit dem Sieg jener geendet, die aus identitätspolitischen Motiven einer Historisierung des „Dritten Reiches“ mit einer Moralisierung Einhalt gebieten wollten; das war ihnen nicht zuletzt wegen der teils fragwürdigen, teils nur ungeschickten Argumentation ihrer Gegner gelungen. Heutzutage ist die Lage ganz anders. Historisierung einerseits, cultural turn andererseits haben einen sehr viel vollständigeren, realistischeren Blick auf den Nationalsozialismus ermöglicht: Ohne dass die Menschheitsverbrechen namentlich in den osteuropäischen killing fields von der Forschung vernachlässigt worden wären, ist auch das Nebeneinander von ‚Schauder und Idylle‘ (Gudrun Brockhaus) ein nicht mehr wegzudenkender Aspekt der Geschichte des „Dritten Reiches“. Die Gesellschaftspolitik in Italien und Deutschland ist wie so vieles andere z­ wischen diesen Skalenextremen angesiedelt, berührt aber beide, besonders natürlich in Deutschland, wo schon seit der Jahrhundertwende Naturwissenschaftler und am Rande ihres Faches angesiedelte Philosophen über Mittel und Wege eines Neuaufbaus der, wie sie meinten, von der Moderne verdorbenen Gesellschaft nachdachten. Gesellschaftspolitik umfasste daher im Faschismus mehr bzw. anderes als heute und verfolgte andere Ziele. Sie stand im Zeichen ­­ von Versuchen, den ‚Neuen Menschen‘ (ein seit Nietzsches radikaler Kulturkritik die Europäer faszinierendes Projekt) durch Auslese und ‚Ausmerze‘ zu verwirklichen, um endlich über die an so vielen Fronten benötigten Kämpfer zu verfügen, und wollte auf dieser Grundlage die ‚Massen‘ zu einem geeinten und gehorsamen ‚Volk‘, wie die gesellschaftspolitischen Schlagworte damals hießen, zusammenfügen, um die als dekadent erachteten Demokratien und den für die Hauptgefahr gehaltenen Kommunismus zu besiegen. Das war ein ziemlich voraussetzungsreiches Vorhaben: Um überhaupt Ziele identifizieren und Wege dorthin entwerfen zu können, mussten erstens die Anhänger des hergebrachten, letztlich christlichen M ­ enschenbildes von den Schaltstellen verdrängt und durch Vertreter des rassenbiologischen Ideals ersetzt werden. Zweitens benötigte man zur Umsetzung einen leistungsfähigen Staatsapparat und erhebliche Geldmittel, ganz zu schweigen von der dritten Voraussetzung, der totalitären Herrschaft auf allen politischen Ebenen. Diese Bedingungen waren in keinem der beiden Regime vollständig gegeben, aber das faschistische Italien war von ihnen erheblich weiter entfernt als das nationalsozialistische Deutschland. Die deutsch-­italienischen Unterschiede liegen aber nicht nur auf der Ebene des Könnens, sondern auch des Wollens. Mussolini kam schon nach so kurzer Zeit an die Macht, dass Programmfragen situativ behandelt wurden und noch gar nicht über das Stadium der Vorläufigkeit hinausgekommen oder gar zum Gegenstand konkurrierender Fachleute geworden waren. Wolfgang Schieder spricht denn auch von „nachgelagerter Ideologie“ als dauerhaftem Merkmal; viel wichtiger sei Idee bzw. Ausgestaltung des Korporativismus gewesen, mit dessen Hilfe der Klassenkampf überwunden werden sollte.

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Die größten Anstrengungen galten daher ­diesem Projekt und der Weg dazu sollte nicht über eine Integration des Fabrik- und Landarbeiterproletariats in den Staat, sondern über Ausdehnung und Konsolidierung der ceti medi, der ‚Mittelklassen‘, führen. Damit kam der Faschismus ziemlich weit voran, Teile seiner sozialpolitischen Erbschaft kennzeichnen die italienische Gesellschaft bis heute. Der ‚Mittelstand‘, wie man in Deutschland schon lange vor und auch noch lange nach 1945 zu sagen pflegte, war sozial etwas reichlich anderes. Er spielte zwar auch im Nationalsozialismus eine prominente Rolle, vor allem natürlich rhetorisch, aber in der Praxis hätte eine auf die (schmale) Mitte der Gesellschaft beschränkte Politik der Förderung seinen Zielen geschadet. Die bemerkenswerte Differenz der beiden Gesellschaftspolitiken kann man auch mit Hilfe des Dahrendorf-­Paradoxons von 1965 verstehen: Während die Nazis die deutsche Gesellschaft unwillkürlich so erheblich modernisiert haben, dass nach 1945 eine Wiederkehr des Nationalsozialismus unmöglich wurde, hat der Faschismus die italienische Gesellschaft viel weniger verändert, was die Erfolgschancen der demokratischen Nachkriegsordnung erheblich vermindert hat. Auch wenn dabei die mit der deutschen Niederlage verbundenen enormen sozialen Konsequenzen und die sehr unterschiedlich weit reichenden Säuberungen der Staatsapparate ausgeblendet bleiben, leistet d ­ ieses Paradoxon gute Hilfe für einen nüchternen Blick aus der Vogelperspektive des Gesellschaftsvergleichs und bietet zugleich Anschauungsmaterial für die unterschiedlichen Wege, die die deutsche und die italienische Moderne nach 1945 eingeschlagen haben. Derselbe Befund ergibt sich, wenn man die nationalsozialistische und faschistische Wissenschaftspolitik vergleicht. Beim Versuch, die Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen samt DFG gleichzuschalten und von Berlin aus zu steuern, scheint das italienische Vorbild für kurze Zeit eine Rolle gespielt zu haben, in einzelnen Disziplinen wie der Praktischen Mathematik auch länger. Als die Gleichschaltung fehlschlug, beschritten die interessierten Funktionäre andere Wege. Grundsätzlich jedoch war aber schon die Ausgangslage in beiden Ländern sehr verschieden: Hier ein institutionell seit langem abgesicherter Weltruf von Technik- und Naturwissenschaft, dort eine an Mittelknappheit, organisatorischen Schwächen und professoraler Verweigerung leidende Forschungslandschaft. So formierte sich in Deutschland dank kontinuierlich steigender Mittel etwas ganz Neues, nämlich ein „militärisch-­industriell-­ wissenschaftlicher Komplex“ (Wolfgang Schieder), der im Dienste von Autarkie, Aufrüstung und Kriegsforschung enorme Leistungen hervorbrachte und 1945 auf einigen Gebieten noch immer eine Spitzenstellung einnahm, die die Kriegsgegner durch Wegführung bzw. Abwerbung von Spezialisten abzuschöpfen versuchten. Italiens Industrie betrieb dagegen noch so gut wie gar keine wissenschaftsbasierte Entwicklungsarbeit, so dass die nationalen Forschungsinstitute nicht viel mehr als „totalitäre Netzwerke“ (Pier Giorgio Zunino) knüpfen konnten, während Mussolini aus gesellschaftspolitischen Gründen vornehmlich die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung inner- und außerhalb der Universitäten enorm ausbaute; die Wissenschaft zehrte jahrzehntelang davon, teils sogar noch heute. Im Gegensatz dazu gehörten in Deutschland die

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entsprechenden Disziplinen nach Säuberungen und Selbstgleichschaltungen zu den anfälligsten für die Übernahme nationalsozialistischer Weltanschauungsziele und büßten erheblich an Leistungsfähigkeit ein; sie mussten 1945 darum erneut gesäubert werden. Das hat die Behauptung, die Nationalsozialisten s­ eien wissenschaftsfeindlich gewesen, glaubhaft gemacht, was wiederum den Professoren der Natur- und Technikdisziplinen an Universitäten und ­Kaiser-­Wilhelm-­Instituten die Beteuerung erlaubte, nur Grundlagenforschung betrieben zu haben. In beiden Ländern erlitten die Universitäten durch Faschismus bzw. Nationalsozia­ lismus einen erheblichen Verlust an Autonomie, im Grunde wurden sie zu nachgeordneten Staatsanstalten. Nur in Deutschland gelang ihnen nach 1945 eine Kehrtwendung, während die italienischen Universitäten wie die gesamte Verwaltung (und andere Bereiche) nach Kriegsende der lottizazione (Postenverteilung) durch die die Resistenza tragenden politischen Richtungen unterworfen wurden, was paradoxerweise der Wissenschaft zunächst genützt hat, weil der wenig dogmatische Marxismus keine Denkverbote aussprach und so das Spektrum an Fragen und Antworten deutlich erweiterte. Der hoch angesehene Historiker Delio Cantimori, ein profunder Kenner der deutschen Kultur, erst Mitglied der Faschistischen, dann der Kommunistischen Partei, ist vielleicht das beste Beispiel für eine in West- oder in Ostdeutschland kaum vorstellbare Universitätskarriere. Nur einmal während der hier in den Blick genommenen gut zweihundert Jahre war ein enges deutsch-­italienisches Verhältnis offizielles, vertraglich abgesichertes Ziel der Politik und das legt es nahe, neben den hier im Zentrum des Interesses stehenden Vergleichen das Thema der Beziehungen wenigstens kurz anzusprechen. Denn es wäre ein Irrtum anzunehmen, es habe sich dabei um bilaterale Beziehungen gehandelt, wie sie unter Staaten auch sonst in den 1930er Jahren üblich waren. Das hat weniger damit zu tun, dass sie wegen des politischen und wirtschaftlichen Übergewichts Deutschlands radikal asymmetrisch waren, sondern mit der Art und Weise, wie Faschisten Politik verstanden und betrieben haben. Wenn überhaupt auf eine Periode die Rede von den fernen Nachbarn in ihrer Doppelbödigkeit voll und ganz zutrifft, so ist es die Zeit ­zwischen 1933 und 1945, also genau jene zwölf Jahre, in denen der Mussolini­ bewunderer Hitler an der Macht war und seiner Partei, den staatlichen und militä­ rischen Dienststellen und überhaupt den Deutschen die Vorbildrolle des italienischen Faschismus predigte, zugleich aber rücksichtslos seine eigenen Ziele ansteuerte. Partei und Staat schickten eine Delegation nach der anderen über die Alpen − Deutsche waren schon seit der späten Weimarer Republik die mit Abstand zahlreichsten ausländischen Besucher von Mussolinis Audienzen −, die Deutschen hielt man zu italienischen Sprachkursen an und offerierte ihnen durch die KdF zahlreiche Kurzreisen in den Süden. Arthur Moeller van den Brucks Parole Italia docet (Italien lehrt) von 1922 wurde zum offiziösen Auftrag an die Politik, die dem auf manchen Feldern Folge leistete, anfangs vor allem. Faschistische Politik geriet jedoch immer wieder mit sich selbst in Widerspruch, denn für zwei Regime, die nach außen hin Seite an Seite auftraten,

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ihren Völkern jedoch zugleich einhämmerten, sie, also die Italiener bzw. die Deutschen, ­seien das von der Geschichte auserwählte, zur Führung berufene Volk, musste loyale Zusammenarbeit und Bündnistreue ein Fremdwort bleiben. Gerade in der internatio­ nalen Politik suchten sich Hitler und Mussolini unentwegt zu übertrumpfen und informierten deshalb den Partner oft erst buchstäblich in der allerletzten Minute von bevorstehenden Aktionen, selbst bei Feldzügen. Die materielle Ungleichheit erklärt zwar vieles, aber der Nationalsozialismus wollte sich ganz grundsätzlich weder binden noch ernsthaft militärisch zusammenarbeiten, selbst wo sich Vorteile ergeben hätten. Für den Faschismus gilt grosso modo dasselbe, nur mit der Einschränkung, dass er je länger, desto weniger in der Lage war, zu handeln, wie es seiner Natur entsprochen hätte. „Kooperation als Machtkampf“ (Malte König) ist die angemessene Beschreibung des Verhältnisses für beide Seiten. Auf deutscher Seite waren die Widersprüche ­zwischen Propaganda und Wirklichkeit besonders auffällig: Je zahlreicher die Kontakte wurden, je besser man den faschistischen Verbündeten kennenlernte, desto größer wurden die Vorbehalte. Nach Kriegsbeginn schlugen sie in regelrechte Verachtung um – nicht etwa nur in privat geäußerte, sondern in offiziell praktizierte. Wie anders soll man verstehen, dass die Wehrmacht die Heirat von Italienerinnen durch deutsche Soldaten zu verhindern suchte, während die SS sie ihren Angehörigen rundheraus verbot? Die vom Sicherheitsdienst zusammengestellten Meldungen aus dem Reich berichten Anfang 1942 indigniert, dass deutsche Frauen sich nicht scheuten, mit „Fremdvölkischen“, zu denen auch die offiziell befreundeten Italiener zählten, „Geschlechtsverkehr“ zu haben, wodurch „die Gefahren der blutlichen Unterwanderung des deutschen Volkes immer größer“ würden. Zur Rede gestellt, beriefen sich die Frauen darauf, „daß die Italiener ja unsere Verbündeten und Freunde wären und daß ein privater Verkehr mit ihnen nur erwünscht sein könne“. Im militärischen Bereich sah es nicht besser aus. Auf dem Balkan, den beide Regime als eigenen Einflussbereich betrachteten, führten sie einen Parallelkrieg, was natürlich zu permanenten Konflikten führte; nur wenn Mussolini selber bei Hitler protestierte, gab dieser nach und desavouierte lieber seine Generäle. In Nordafrika entfielen aufgrund der Kriegslage s­ olche Rücksichten und das OKW gewährte Rommel auch schriftlich volle Handlungsfreiheit, obwohl er formal dem italienischen Oberbefehlshaber unterstand. Auch im Besatzungsalltag auf dem Balkan sorgten die polykratischen Strukturen laufend für italienische Irritationen, auf die Hitler nur einzugehen bereit war, wenn Mussolini direkt bei ihm intervenierte. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr unterschieden sich Gesten der Gleichberechtigung von der Wirklichkeit des Alltags. Trotz aller Irritationen, ja Zuwiderhandeln der militärischen, zivilen und wirtschaftlichen Instanzen hielt Hitler am Duce fest und sorgte nicht nur für dessen Befreiung, sondern überzeugte den Zögernden auch persönlich, noch einmal den faschistischen Staat – den die Nationalsozialisten bereits ins Leben gerufen hatten, bevor Mussolini überhaupt befreit worden war – zu regieren, soweit davon überhaupt unter den seit dem 8. September 1943 veränderten Bedingungen die Rede sein konnte.

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Hitlers Kalkül war, dass nur der Duce den Italienern die von Krieg und deutschen Ansprüchen verursachten Zumutungen abverlangen konnte; er unterstützte ihn sicherheitshalber in besonderer Weise beim Aufbau von Polizei und Geheimdienst. Insofern ist es verwunderlich, dass er, kurz bevor er sich das Leben nahm, in den sogenannten Bormann-­Diktaten eingestand, „daß meine unwandelbare Freundschaft zu Italien und zum Duce auf das Konto meiner Irrtümer gesetzt werden kann“. Falls dieser Text überhaupt authentisch ist, kann man nicht ausschließen, dass Hitler seine Aussage selbst in d ­ iesem Moment aus taktischen Motiven gemacht hat. Jedenfalls hatte er Mussolini beim letzten Zusammentreffen am 20. Juli 1944 – ausgerechnet für diesen Termin war ein Treffen anberaumt − beim Abschied das Gegenteil versichert: „Ich bitte Sie, mir zu glauben, daß ich Sie als meinen besten und einzigen Freund ansehe, den ich in der Welt habe“. Auch das war bei aller Sentimentalität taktisch, denn Mussolini war kein Freund, sondern das wichtigste politische Vorbild Hitlers. Schließlich hatte er die Führerdiktatur erfunden und durchgesetzt und von 1932 an war Mussolini von den zerfallenden Parteien und Bünden der deutschen Rechten abgerückt und auf die Nationalsozialisten zugegangen. Damals begann, was Hitler 1945 fälschlicherweise als verfehlte Gelegenheit bezeichnete: die „brutale Freundschaft“ (Frederick W. Deakin). Wie sich angesichts dieser Lage nach 1945 die nachbarschaftlichen Kontakte und Beziehungen gestalteten, ist Gegenstand des nächsten Beitrags. Im Mai jenes Jahres befanden sich Hunderttausende Italiener und Deutsche unversehens in Feindesland und wollten nach Hause, eine viel geringere Zahl jedoch nicht. Die Untersuchung zeigt, dass beim Blick auf die Menschen viel mehr Fortsetzung im Spiel war als Neuanfang und dass die Vorstellung einer Stunde Null, eines totalen Abbruchs jeglicher Kontakte im Jahre 1945 mit anschließendem ‚Niemandsland‘, das vier Jahre dauerte, ein Irrtum ist, den unser auf die Institutionen fixierter Blick zu verursachen pflegt. Er ist womöglich auch von Roberto Rossellinis populärem Berlin-­Film Germania anno zero bekräftigt worden. Die Wiederanknüpfung der Nachbarschaft lässt drei Zeitstufen erkennen: Im vorpolitischen Raum persönlicher, wissenschaftlicher und wirtschaft­licher Kontakte wurden die Beziehungen schon sehr bald wieder aufgenommen – fortgesetzt, könnte man in vielen Fällen sagen. Die zweite Stufe umfasste die grenzüberschreitenden politischen Beziehungen und beginnt zwangsläufig erst nach Gründung der Bundesrepublik, also nicht vor 1950, dann aber auf der soliden Grundlage geheimer Gespräche christdemokratischer Politiker seit mehreren Jahren, vorzugsweise in der neutralen Schweiz. Es mag erstaunen, dass die Kultur, und zwar in ihrer offiziellen, politiknahen Gestalt, erst auf der dritten und letzten Stufe in Erscheinung trat, aber die in Italien die öffentliche Meinung beherrschenden Kreise hatten die größten Vorbehalte gegenüber der jungen Bundesrepublik; für viele von ihnen war die DDR das bessere Deutschland. Hinzu kamen komplizierte Eigentumsfragen an den von Italien beschlagnahmten Institutsgebäuden und ihren Bibliotheken, so dass erst ab 1953 ihre Wiedereröffnung stattfinden konnte.

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Die in ­diesem Beitrag zitierten Erinnerungen und Reiseberichte sind natürlich Manifestationen deutscher Italienbilder, die im folgenden Aufsatz über die letzten zweihundertfünfzig Jahre untersucht und nach Kategorien geordnet werden. Die Untersuchung beschränkt sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf Italiendia­gnosen aus historischer oder politischer Feder, was allerdings nicht schon grundsätzlich eine größere Nähe zur Wirklichkeit garantiert, denn vielfach sind ‚Italien‘ bzw. ‚Italie­ ner‘ die „asymmetrischen Gegenbegriffe“ (Reinhart Koselleck), mit deren Hilfe sich die Deutschen selbst deuten. Es lassen sich drei zeitliche Höhepunkte beobachten, die 1780er und nach den 1860er erst wieder die 1920er Jahre. Durchgängig weisen die politisch grundierten Italiendiagnosen zwei alternative Deutungsmuster auf, nämlich ‚das Andere‘ (deutsche Über- bzw. italienische Unterlegenheit) und ‚das Verwandte‘ (Parallelen, Italien ist Vorbild). Es sind natürlich absichtsvolle Konstruktionen, die neben ihrem genuinen Auskunftswert in der Regel auch unausgesprochenen politischen Zielen in Deutschland dienen: etwa ­zwischen 1848 und 1866 der Rolle Österreichs im Deutschen Bund, z­ wischen 1922 und 1933 der Übertragbarkeit von Mussolinis neuartigem Regierungssystem. Das erklärt auch das Wechselspiel ihrer Konjunkturen und die deutsche Schlagseite, denn Italiener verorten das Vorbild Deutschland, das eine durchaus erhebliche Rolle spielt, anderswo. Im Nationalsozialismus und dann wieder ab den 1950er Jahren bis zur Jahrtausendwende spielte das Interpretament der Parallelgeschichte eine große Rolle. Vor 1945 war es regimeoffiziell, in der christdemokratischen Phase diente es der Unterfütterung der wirkmächtigen ‚Abendland‘-Ideologie, ­später erlangte es im ­­Zeichen der modernisierungstheoretischen Vorstellung zunehmender Annäherung Glaubwürdigkeit und seit der ältere Begriff der ‚Parallele‘ durch den modisch-­kulturwissenschaftlichen der ‚Verflechtung‘ ersetzt werden kann, finden sich auch italienische Beispiele für d­ ieses Geschichtsbild. Seit Tangentopoli und seinen Folgen ist sowohl ­dieses Bild verschwunden als auch der letzte Rest des in den 1960er Jahren von den Salonlinken, besser bekannt als Toskanafraktion, aus der Versenkung geholten Bildes ‚Modell‘. Zwischen beiden Ländern ist der Abstand hinsichtlich politischer Stabilität, wirtschaftlicher Leistungskraft, Seriosität von Parteien und politischem Personal u. a. m. momentan so groß, dass das ganz alte, schon in der italienischen Aufklärung geschaffene Narrativ der ‚Dekadenz‘ – die Rede vom Risorgimento, Auferstehung, war schon sprachlich eine Antwort darauf − kaum zu vermeiden ist. Es folgt ein weiterer Beitrag zum deutsch-­italienischen Vergleich. Er erfasst bewusst zwei sehr verschiedene Gegenstände – Familie und Technikkultur − und soll damit gegen die verbreitete Vorstellung von der Uniformität der Moderne die These von der Unterschiedlichkeit der Gesellschaften bzw. ihres Umgangs mit der Moderne illustrieren. Früher hätte man vom Nationalcharakter gesprochen, der schon per definitionem länderspezifisch ist. Das ist jedoch aus zwei Gründen irreführend: Erstens fördern die beiden Beispiele zugleich enorme Unterschiede innerhalb der beiden Nationen zutage und zweitens lässt der Fall der Familie bei oberflächlicher Betrachtung eine – scheinbar – einheitliche Physiognomie in beiden Ländern erkennen, nämlich vor allem den

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Trend zur Einkindfamilie. Bei näherem Zusehen fallen jedoch viele Unterschiede auf. Sie erklären sich weitgehend mit der unterschiedlichen Bedeutung dieser Institution in beiden Kulturen. In Italien ist sie so zentral, dass viele andere Personengruppen bis hin zur K ­ irche ebenfalls als ‚Familie‘ bezeichnet zu werden pflegen. Der anhaltend hohe Wert der Familie ist keine bloße, aus der Vergangenheit mitgeschleppte Sentimentalität, sondern der Überlebensstrategie in einem Staat geschuldet, dessen dürftige Dienstleistungen notorisch sind. Die von außerordentlich hoher Jugendarbeitslosigkeit – nur sechs von zehn jungen Menschen hatten im Mai 2016 eine, wie auch immer bezahlte Arbeit, in der Bundesrepublik waren es über neun − gekennzeichnete Krise hat ihre Schutzfunktion eindrucksvoll bestätigt. Hierzulande dagegen ließ sich bereits bald nach Bismarcks Einführung der Sozialversicherung eine räumliche Trennung der Generationen beobachten, der ­später auch eine sentimentale gefolgt ist. Eine Spätfolge davon, der bei uns zu beobachtende starke Trend zur sogenannten Patchworkfamilie, findet südlich der Alpen kaum eine Entsprechung. Was nun die Technik betrifft, so sind bereits im Aufsatz über die mediterrane Industrialisierung die chronologischen, inhaltlichen und sozialen Differenzen vorgestellt worden. Das hatte natürlich Folgen für die Technikkultur. Im Kohlezeitalter fehlte der italienischen Industrie alles Zyklopische, ja sie hat eigentlich nie wirklich das Kohlezeitalter durchgemacht, denn das rohstoffbasierte 19. Jahrhundert wurde gewisser­maßen übersprungen, weil die Elektrizität von Anfang an eine erhebliche Rolle gespielt hat. So gesehen kam Italien früher und weniger belastet im 20. Jahrhundert an. Wohl auch deshalb hat der von Geschwindigkeit und Fliegen faszinierte Futurismus in Deutschland kein Gegenstück. Die Differenzen in der Technikkultur im engeren Sinne, also beim Konstruktiven, haben andere Gründe. Der vielleicht wichtigste liegt im Bildungswesen. Die Technischen Hochschulen verdanken ihren Aufstieg der Schaffung des Diplom-­ Ingenieurs, der, ganz anders als sein italienisches Gegenstück, dank seiner wenig theorie­ lastigen, breiten und gründlichen Ausbildung schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert in den Fabriken eine Anstellung fand. Folglich gelten die deutschen Konstruktionsgrundsätze als ingenieurbasiert, techniklastig und aufwandverliebt. Der Vorwurf des over-­engineering wird gelegentlich gegenüber deutschen, nicht jedoch italienischen Produkten erhoben. Diese sind eher Klasse und Eleganz verpflichtet und bilden damit geradezu das Lebensgefühl der immer schon urbanen Italiener ab. Der vorletzte Aufsatz, Gleichgewicht oder Asymmetrie?, überträgt das Thema ­dieses Buches auf die politischen Beziehungen beider Länder nach dem Zweiten Weltkrieg. In anderen Texten dazu, namentlich in deutschen, liest man vornehmlich von Zusammen­ arbeit, Harmonie, Gemeinsamkeiten, und das alles in steter Zunahme begriffen. In ­dieses Bild einer Idylle passen jedoch nicht die neuerdings aus Italien zu uns kommenden Signale. Dort ist seit 2006 von „Angst vor Deutschland“ als italienischer Grunderfahrung bzw. von „schleichender Entfremdung“ als neuem Phänomen die Rede – eine Tagung darüber in Trient im Jahre 2007 erregte große Aufmerksamkeit in Deutschland −, während Ministerpräsident Renzi Ende letzten Jahres scheinbar

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unvermittelt gegen die „Kultur der Unterordnung“ protestierte, in die sein Land schon lange von uns Deutschen gedrängt, was von Kanzlerin Merkel jedoch noch einmal verstärkt worden sei und mit der es nun ein Ende haben müsse. Es ging dabei natürlich wieder einmal um die Einhaltung des Stabilitätspaktes in der Euro-­Zone, dessen mehrfache Verletzung durch die Bundesrepublik zu Anfang des Jahrtausends längst vergessen ist, hierzulande jedenfalls, während ihr Finanzminister im Verein mit einigen wenigen Kollegen und der Europäischen Zentralbank die krisengeschüttelten Länder Südeuropas unnachsichtig zur Respektierung der Regeln auffordert. In der Tat hat der Euro die Unterschiede der mit ihm bezahlenden Volkswirtschaften und der sie tragenden Kulturen nun auch den Laien sichtbar gemacht. Ein vorurteilsloser Blick auf die deutsch-­italienischen Beziehungen zeigt jedoch, dass die Differenzen und daraus resultierenden Spannungen weder neu noch allein wirtschaftlich verursacht sind. Die erste Klage von italienischer Seite über Zurücksetzung stammt aus dem Jahre 1954 – da war die Bundesrepublik noch nicht einmal souverän – und bezog sich auf die von ihrer geopolitischen Schlüsselstellung herrührende Bedeutung. Der italienische Minderwertigkeitskomplex trat auch ­später mit gewisser Regelmäßigkeit bei den verschiedensten Anlässen zutage und ebenso regelmäßig suchte die Bundesregierung ihn mit Kompensationen zu besänftigen, was, wie Psychologen wissen, ihn gerade nicht zum Verschwinden bringt. 1989/90 verschoben sich die Gewichte in Europa dann jedoch massiv. Das wirkte sich natürlich auch auf die deutsch-­italienischen Beziehungen aus. Bei den internationalen Verhandlungen zur Wiedervereinigung verzichtete Außenminister Genscher auf Gesten der Beschwichtigung und wies Italien die Tür. Am nächsten Tag stand das in der Weltpresse. Kompensationen gibt es seither nicht mehr, was nur heißt, dass Deutschland die Selbstanerkennung als regionale Großmacht vollzogen hat. Italiener sprechen jetzt offen von deutscher Hegemonie. Es sollte bei alledem aber nicht übersehen werden, dass die als Krise wahrgenommene Neujustierung der Gewichte nur die Ebene der Politik betrifft. In den Bereichen von Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und bei den persönlichen Verbindungen waren die Beziehungen niemals enger als heute. Damit sind wir beim letzten, titelgebenden Aufsatz d ­ ieses Sammelbandes, Ferne Nachbarn. Er enthält, ausgehend von einer Kritik der vorherrschenden Beschreibungsmodi der deutschen und italienischen Verhältnisse und Kontakte, eine ausführliche Begründung der leitenden Idee und liefert anschließend Beispiele aus dem Bereich der kulturell erweiterten Sozialgeschichte in dem Jahrhundert ­zwischen 1860 und 1960, als der Nationalstaat seine klassische Gestalt besaß. Der Vergleich bringt die erheblichen, man ist geneigt zu sagen: wesenhaften Unterschiede bei den wichtigsten sozialen Gruppen an den Tag: Adel, Bürgertum und Arbeiterschaft. Am stärksten ausgeprägt ist das bei der kulturell produktivsten Gruppe, dem Bürgertum. Es unterlag beim Übergang in die Moderne derart großem Wandel, dass seine Bezeichnungen, genannt ­seien nur borghesia, ‚Bildungsbürgertum‘, ‚Staatsbürger‘, ceti medi und ‚Mittelstand‘, in anderen Sprachen keinen rechten Sinn ergeben. Indirekt sind damit zugleich

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Unterschiede bezüglich Einkommensquellen, Bildung, Professionalisierung, Selbstorganisation u. dgl. angedeutet, vom Selbstverständnis ganz zu schweigen. Im Vergleich dazu scheinen die Differenzen beim Adel – in Italien stadtsässig und regional überwiegend patrizischen Ursprungs – und bei der Arbeiterschaft – in Italien lange Zeit mehrheitlich im Agrarsektor anzutreffen und daher eher vom Anarchismus ansprechbar als vom Kommunismus oder gar der Sozialdemokratie, die beide kein überzeugendes Agrarprogramm hatten – eher gering zu sein, aber das kann man mit guten Gründen auch anders sehen. Weil der Holocaust die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts so sehr aus der Geschichte der anderen Nationen heraushebt und er deswegen auch den Vergleich von Faschismus und Nationalsozialismus stark bestimmt – ja, lange Zeit den Vergleich in den Augen vieler und prominenter Forscher geradezu ausgeschlossen hat −, geht ein erheblicher Teil des Aufsatzes ­diesem Thema nach. Aus der Vielzahl der Faktoren, die den Nationalsozialisten die Ermordung der europäischen Juden ermöglicht haben, wurden ohne Anspruch auf Vollständigkeit drei herausgegriffen, für die der Vergleich besonderen Ertrag verspricht: Gewalt, Antisemitismus bzw. Judenfeindschaft und gebildete Eliten. Erstens: Gewalt war konstitutives Merkmal beider Faschismen, der italienische squadrismo hat ihn ganz wesentlich geprägt, aber weil Mussolinis Herrschaft nicht über die Stufe der Vermittlungsdiktatur hinausgekommen ist, blieb sie nach dem Marsch auf Rom eingehegt – im Inland jedenfalls −, während Hitler nach Hindenburgs Tod und dem sogenannten Röhmputsch keine gewalthemmenden Mitinhaber der Regierungsgewalt mehr fürchten musste. Unter gänzlich anderen Randbedingungen kam es dann in der RSI ebenfalls zu einer entfesselten Terrorherrschaft der Faschistischen Partei. Zweitens: Judenfeindschaft war in Italien massenhaft verbreitet und kam aus zweierlei Wurzeln: der katholischen und der auf vollständige Assimilation zielenden liberalkonservativen. Was weitgehend fehlte, war der rassenbiologische Hass, weil zu seiner Akzeptanz ein mindestens vulgärwissenschaftliches Weltbild mit Evolutionstheorie, Rassenhygiene und biopolitischer Ermächtigung nötig war. Diese Bedingungen waren hingegen in Deutschland bereits um die Jahrhundertwende massenhaft gegeben. Hier hatten die Natur- und Humanwissenschaften eine ganze Reihe neuer Disziplinen hervorgebracht, für die von vornherein Eingriffe in den Menschen, ja in die menschliche Gesellschaft selbstverständlich waren. Ferner schuf der Zerfall des Protestantismus Raum für eine Reihe naturwissenschaftsbasierter Religionen, die die Erlösung der Menschheit im Diesseits propagierten. Und schließlich war überhaupt der Fortschrittsgedanke um 1900 in hohem Maße sozialdarwinistisch oder naturphilosophisch geprägt. Drittens: Eng damit in Beziehung stand ein damals nur in Deutschland entwickelter Denkstil, der eine auf wertende Unterscheidung, Abgrenzung und Klassifikation angelegte Sicht auf die Gesellschaft bevorzugte und sich vor allem gegen die Juden als die grundsätzlich Anderen richtete. Das war für viele Gebildete eine ungeheuer attraktive Alternative zu den verfallenden Philosophien des Idealismus und Hegelianismus und zur populären, aber von Antisemitismus

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freien Lebensphilosophie Rudolf Euckens. Lange vor der Machtergreifung existierte daher eine Disposition zur Ausgrenzung der Juden gerade unter vielen Gebildeten, die deshalb dem nationalsozialistischen Programm mit Wohlwollen begegneten und teilweise beim Schritt zur Tat besonders prominent mitwirkten. Ein letzter Vergleichsgegenstand gilt der mittel- bis langfristigen Hinterlassenschaft der beiden Faschismen in der italienischen und deutschen Gesellschaft. Dazu sei nochmals an die Dahrendorf-­These erinnert, die 1965 einen paradoxen Kausalzusammenhang ­zwischen faschistischer Radikalität und Chance zum Neubeginn herstellte. Bestrafung, Säuberung, Umerziehung und institutioneller Umbau, also das Programm der Alliierten, namentlich der Amerikaner, hat dieser These zufolge nicht so viel bewirkt wie die ‚Revolution‘, der die deutsche Gesellschaft durch die nationalsozialistische Herrschaft und durch die Folgen ihres Zusammenbruchs ausgesetzt war und die sie unwillkürlich derart modernisiert hat, dass eine Wiederkehr des Nationalsozialismus ausgeschlossen ist. Diese These erklärt auch die italienische Nachkriegsgeschichte, die viel mehr Kontinuitäten mentaler und institutioneller Art aufweist und deshalb so sehr anders verlief als die deutsche, obwohl die sich als Sieger betrachtende Resistenza größere Gewähr für eine gedeihliche Entwicklung zu bieten schien als die von den Siegern aus Trümmern, Zuchthäusern oder dem Exil geholten ersten Nachkriegspolitiker in den vier Besatzungszonen. Gibt es denn, so die abschließende Frage, eine die Einzelbeiträge überwölbende bzw. zusammenfassende Gesamtbilanz? Lehren vielleicht die vielen Geschichten etwas, das zur Einsicht in ‚die‘ Geschichte verhilft? Leopold von Ranke hat sich in seinem 1824 erschienen Erstlingswerk, den Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, diese Frage auch schon gestellt. Er sah, wie „diese Völker sich in Einheit und gleichartiger Bewegung“ entwickelt haben, und schilderte in den beiden Bänden, wie diese mittelalterliche Gemeinschaft dann zerbrach und dem neuen, die Geschichte letztlich bis auf seine Tage bestimmenden Staatensystem Platz gemacht hat. Im Vorwort war er sich über den Ertrag seiner Arbeiten nicht ganz sicher und warnte deshalb den Leser mit der berühmt gewordenen Einschränkung: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos [sic!] zeigen, wie es eigentlich gewesen“. Diese schon damals nur fingierte Naivität verbietet sich heutigentags von vornherein. In dieser Einleitung und in den meisten Beiträgen d­ ieses Buches fällt immer wieder das Stichwort ‚Moderne‘. Das ist weder Unachtsamkeit noch modischem Sprachgebrauch geschuldet, sondern lässt einen Erklärungsansatz erkennen, der die neuere europäische Geschichte aus ihrer besonderen, sich permanent steigernden gesellschaftlichen und kulturellen Dynamik und aus den Problemen, oft Konflikten, die daraus folgen, herleitet. Dieses Wechselspiel wurde eingangs knapp erklärt. Ein Gang durch die letzten zweihundertfünfzig Jahre italienischer und deutscher Geschichte bietet hinreichend Anschauungsmaterial für die unterschiedlichen Wege in die Moderne.

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Schon die Ausgangslage in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Dynamik einsetzte, war nördlich und südlich der Alpen sehr verschieden; man denke nur an Agrarstruktur, Religionsverfassung und politische Verhältnisse. Das hatte natürlich Folgen für den Umgang mit den damals aktuellen alternativen Angeboten an Ordnungsmustern, nämlich Vernunft und Offenbarung. Die Aufklärung besaß in beiden Gesellschaften jedenfalls sehr unterschiedliche Reichweite und auch deshalb erlebten beide Gesellschaften dann die Revolution völlig unterschiedlich und entwickelten in der Folge ein fast schon entgegengesetztes Verhältnis zum Nachbarn Frankreich. Die Wege in die Moderne differierten auch im 19. Jahrhundert, was beispielsweise Industrialisierung, Staatsausbau und Nationsbildung betraf, teils weil man sich der neuen Ordnungsmuster Beharrung und Bewegung unterschiedlich bediente, teils weil die materiellen Voraussetzungen ihre Umsetzung nur in Grenzen erlaubten. So traten die beiden Gesellschaften ungleich vorbereitet in die ab 1880 das westliche Europa erfassende Phase der Industriemoderne. In Italien blieben die Mächte der Beharrung bestimmend, erlagen freilich, da ihnen die Kraft zur beharrlichen, lange Zeiträume voraussetzenden Steuerung fehlte, in vielen Fällen der utopischen Dynamik: Futuristen überrannten ab 1900 die bedächtige Kunst des 19. Jahrhunderts, Faschisten ab 1921/22 das ohnmächtige System der Politik. In Deutschland gewannen hingegen die Mächte der Bewegung in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik die Oberhand, bis auch hier die Utopie der Nationalsozialisten den krisengeschüttelten Liberalismus überwand und sich dank der hier viel größeren Ressourcen an die rassenbiologische Umgestaltung des gesamten Kontinents machte – mit tragischem Erfolg. Nachdem beide Utopien von den Alliierten niedergerungen waren, trat an ihre Stelle eine friedliche Moderne, die sogleich ein niemals zuvor erlebtes Wirtschaftswachstum hervorbrachte. Seit den 1970er Jahren macht sich jedoch erneut eine Reihe von Krisen bemerkbar, mit denen die beiden Gesellschaften unterschiedlich gut zurechtkommen. In der Gegenwart hat es den Anschein, als entfernten sich wieder einmal die Wege. Werden alle Unterschiede der schlichten Alternative von Fortschritt und Rückstand zugeordnet, bringt man sich um das Verständnis vieler Differenzen, selbst wenn der Rückstand mit Nachsicht registriert, weil Italien als ‚das Land zum Buch‘ wahrgenommen wird. Deutschland und Italien sind zwei Beispiele für unterschiedliche Wege in die Moderne. Um es mit zwei markanten Buchtiteln zu sagen, die aufeinander Bezug nehmen und so ein weiteres Mal die besondere Aufmerksamkeit deutscher Gebildeter für die italienische Kultur dokumentieren: Christus kam nur bis Eboli, aber auch Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Dieses Buch möchte erklären, weshalb.

Revolution und Reaktion im Jakobinismus Die Agrarprogramme der italienischen und deutschen Jakobiner Jakobinismus in der neueren Geschichtsschreibung Trotz aller „Grenzen des Jakobinerstaates“ 1 besteht in der internationalen Forschung seit jeher Einmütigkeit darüber, dass in den theoretischen Konzepten und im politischen Alltag das Engagement der Anhänger Robespierres zugunsten bisher vernachlässigter gesellschaftlicher Gruppen in Stadt und Land Vorrang hatte. Aber gilt dies auch für die gleichsam ‚abgeleiteten‘ Jakobinismen außerhalb des ‚Mutterlandes‘, die nicht nur in vergleichsweise rückständigen, sondern vor allem kleinräumigen und außerordentlich verschiedenartigen Territorien entstanden und nur mit französischer Hilfe zur Regierung gelangt sind? Musste nicht angesichts der Macht der angestammten Herrschaft und ihrer beamteten Träger und des zählebigen Widerstands gegen das Neue durch die Mehrheit der Bevölkerung das ganze Augenmerk auf Verfassungsfragen und politische Erneuerung des zum Souverän berufenen ‚Volkes‘ verwandt werden? Und hatte dies nicht zur Folge, dass wirtschaftliche Belange allenfalls unter spezifisch politischen Aspekten behandelt wurden, worüber die Berücksichtigung der ökonomischen Eigengesetzlichkeiten oft ins Hintertreffen geriet? Andererseits war mit den neuen Regimen auch der Fall eingetreten, dass man glaubte, endlich die vielfach schon seit Jahrzehnten diskutierten agrarischen (und gewerblichen) Reformvorhaben verwirklichen zu können, bei denen dann zwar nach wohlüberlegten wirtschaftspolitischen Grundsätzen verfahren wurde, die aber gerade deshalb nicht jakobinisch im Sinne der vom Konvent 1793/94 verwirklichten Maßnahmen waren. Schließlich ist zu fragen, ob dort, wo in Italien oder Deutschland ein revolutionärer Umbau der herrschenden Eigentumsverfassung verlangt wurde, dem wirtschaftlichen Fortschritt gedient oder ob damit nicht gerade den ersten Anzeichen eines sich modernisierenden Gesellschaftssystems Einhalt geboten werden sollte. Damit sind die Grenzen der vorliegenden Untersuchung abgesteckt, die im internationalen Vergleich eines trotz seiner eminenten Bedeutung für die Zeitgenossen bisher stiefmütterlich behandelten Gegenstandes der Frage nachgehen will, worin das spezifisch Jakobinische der damaligen Agrarprogrammatik besteht und inwieweit deren vielberufene Fortschrittlichkeit einer kritischen Überprüfung standhält. Während die deutschen Jakobiner erst jetzt nach einem mehr als hundertjährigen Dornröschenschlaf dem Vergessen und Verschweigen entrissen worden sind und gegenwärtig in bisher nie gekanntem Ausmaß untersucht und ediert werden, scheint es fast,

1 So der Titel eines bekannten Aufsatzes von Walter Markov von 1955. Jetzt in: Ders., ­Volksbewegungen in der Französischen Revolution, hg. v. Manfred Hahn, Frankfurt, New York 1976, S. 17 –57.

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als sei es in jüngster Zeit um das italienische Pendant wieder stiller geworden, nachdem Cantimori mit seinen „Utopisti e riformatori italiani“, die nicht zufällig unmittelbar nach dem Sturz Mussolinis erschienen,2 eine sich über mehr als zwei Dezennien hinziehende lebhafte Debatte ausgelöst hatte. Trotz der unterschiedlichen Forschungskonjunktur in beiden Ländern liegen aber ihre jeweils aktuellen Bezüge deutlich zutage. Solange in Deutschland die Revolution als Anschlag auf die bewährte Methode der ‚Revolution von oben‘ galt, bestand wenig Anlass oder Neigung, nach Frühformen politischen Aufbegehrens zu suchen, und es mochte genügen, die schon zeitgenössische Diskreditierung der Jakobiner zu übernehmen. Trotz verschiedentlicher Ansätze zur Zeit der Weimarer Republik 3 und unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 4 hat erst die in den sechziger Jahren einsetzende Theoriediskussion mit ihrer Eröffnung neuer Perspektiven und Themenbereiche den Blick auch auf diesen bislang vernachlässigten Gegenstand gelenkt. Nicht wenige Historiker der Bundesrepublik machten sich daraufhin an die Suche nach den freiheitlich-­demokratischen Traditionen der deutschen Geschichte, zu der sie auch von namhaften Repräsentanten des Staates ermuntert worden sind. Mit dieser Wende war das Interesse zugleich auf einen Gegenstand gefallen, der im sorgfältig gepflegten Geschichtsbild der DDR schon länger eine wichtige Rolle gespielt hatte. Beide wählen den Jakobinismus vorwiegend als Identifikationsmuster für das eigene Weltbild und als Rechtfertigung ihrer als „demokratisch“ bezeichneten politischen Wertsetzungen und Ziele.5 Eine nicht minder ideologisierte Rolle spielt die Jakobinerfrage in der italienischen Historiographie.6 Hier wurde sie zwar niemals totgeschwiegen, da man das Risorgimento als italienische Form der bürgerlichen Revolution ansah und dessen Wurzeln schlechterdings nicht ignorieren konnte. Umstritten aber blieb die Beurteilung der Jakobiner. Nachdem sie jahrzehntelang aus antifranzösischem Affekt als Vertreter einer 2 Delio Cantimori, Utopisti e riformatori italiani, Florenz 1943. 3 Siehe vor allem die unersetzliche Quellenedition von Joseph Hansen, Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780 – 1801, 4 Bde., Bonn 1931 – 1938. Schon 1908 jedoch erschien das wichtige Buch von Justus Hashagen, Das Rheinland und die französische Herrschaft, Bonn. 4 Jacques Droz, L’Allemagne et la Révolution française, Paris 1949 (deutsche Übersetzung 1955). Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770 – 1815, ­München 1951; unveränd. Ndr. Kronberg/Ts., Düsseldorf 1978. 5 Hier ­seien lediglich die Arbeiten von Walter Grab genannt, beginnend mit: Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-­Holstein zur Zeit der E ­ rsten Französischen Republik, Hamburg 1966, sowie von Axel Kuhn, Jakobiner im Rheinland, Stuttgart 1976. Von seiten der DDR vor allem Heinrich Scheel, besonders mit seiner monumentalen Editionsreihe Die Mainzer Republik, 3 Bde., Berlin (DDR) 1975 – 1989. Ein italienisches Beispiel dieser Art von Sympathiegeschichtsschreibung: Nicolao Merker, Alle origini dell’ideologia tedesca. Rivoluzione e utopia nel giacobinismo, Rom, Bari 1977 (deutsche Übersetzung 1984). 6 Hierzu jetzt die nützliche Zusammenfassung von Ivan Tognarini, Giacobinismo, rivoluzione, Risorgimento. Una messa a punto storiografica, Florenz 1977.

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vom Ausland angeblich unbeeinflussten Nationalstaatsidee gewürdigt worden waren, wurde nach dem Ende des Faschismus Gramscis Verdikt bekannt, der im Gefängnis bei der Suche nach den Gründen für die Machtergreifung Mussolinis auf die unterbliebene Agrarrevolution im Risorgimento gestoßen war.7 Da das seinerzeitige Kräfteverhältnis sich bereits im „triennio“ von 1796 – 99 abgezeichnet hatte, war es nur ein logischer Schritt, auch die Rolle der Jakobiner neu zu überdenken.8 So entdeckte man in diesen plötzlich hellsichtige Kritiker der Agrarverfassung ihrer Zeit, ja gelegentlich sogar Frühsozialisten, die von der bürgerlich-­adligen Koalition der großagrarischen Moderati schon damals und erneut im Risorgimento verraten worden ­seien und deren Vermächtnis heute durch eine politische Beteiligung der Linksparteien und durch eine konsequente Entwicklungspolitik im Mezzogiorno realisiert werden sollte. Die Gegner der in den 50er Jahren proklamierten apertura a sinistra (Öffnung nach links) überprüften diese Perspektive kritisch und gelangten nun ihrerseits zu einer Einschätzung der Jakobiner als einer Gruppierung, bei der allenfalls das nationalstaatliche Engagement einer kritischen Überprüfung standhielt, während die gesellschaftspolitischen Vorhaben als ebenso schädlich und dubios galten wie die dermaligen Programme der Linken.9 In der Folgezeit hat sich im Zuge der innenpolitischen Gewichtsverlagerung die Diskussion wieder entkrampft – auch wenn im Anschluss an De Felices editorische Aktivitäten 10 die Kontroversen immer wieder auflebten −, so dass heute die vermittelnde Position Venturis 11 weithin akzeptiert scheint, der das Ausblenden der jeweils als ‚unpassend‘ erachteten Richtung, der Radikalen oder Gemäßigten, als unhistorisch verworfen hat.12 7 Antonio Gramsci, Quaderni del carcere. Edizione critica, 4 Bde., Turin 1975. 8 Den Anfang machten Alessandro Galante Garrone, Buonarroti e Babeuf, Turin 1948, und Armando Saitta, Filippo Buonarroti. Contributi alla storia della sua vita e del suo pensiero, 2 Bde., Rom 1950/51. Von französischer Seite Jacques Godechot, Les Jacobins italiens et Robespierre. In: Annales historiques de la Révolution française 30/III (1958), S. 65 – 81, und Albert Soboul, L’Italie jacobine et napoléonienne ou la „révolution agraire manquée“. In: Annali dell’Istituto storico italiano per l’età moderna e contemporanea 23/24 (1971/2 [1975]), S. 45 – 63. Jetzt auch in: Ders., Problèmes paysans de la révolution 1789 – 1848, Paris 1976, S. 373 – 392. 9 Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Rosario Romeo, Risorgimento e capitalismo [1959], Bari 41974. Ders., Il Risorgimento. Realtà storica e tradizione morale [1961]. Jetzt in: Ders., Dal Piemonte sabaudo all’Italia liberale, Rom, Bari 1974, S. 279 – 321. Ders., Problemi storico-­sociali del movimento nazionale in Italia. In: Peter Burian / Theodor Schieder (Hg.), Sozialstruktur und Organisation europäischer Nationalbewegungen, München, Wien 1971, S. 29 – 47. 10 Renzo De Felice (Hg), I Giornali giacobini, Mailand 1962. Delio Cantimori / Renzo De Felice (Hg), Giacobini italiani, Bd. 2, Rom, Bari 1964. Siehe dazu bes. Armando Saitta, La questione del „giacobinismo“ italiano. In: Critica storica 4 (1965), S. 204 – 249. 11 Franco Venturi, La circolazione delle Idee. In: Rassegna storica del Risorgimento 41 (1954), S.  203 – 222. 12 Furio Diaz, La questione del „giacobinismo“ italiano [1964]. Jetzt in: Ders., Per una storia illuministica, Neapel 1972, S. 465 – 495. Vittorio E. Giuntella, L’esperienza rivoluzionaria. In: Nuove questioni di storia del Risorgimento e dell’Unità, Bd. 1, Mailand 1969, S. 311 – 343. Ders., La rivoluzione francese e l’impero napoleonico. In: Bibliografia dell’età del Risorgimento in onore

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Sollte sich dieser Konsensus allgemein durchsetzen, so hätte die italienische Forschung einen Stand erreicht, von dem die deutsche weiter denn je entfernt ist. Noch immer steht hierzulande der Streit um die Definition im Vordergrund und es ist nicht nur wegen des diffusen Sprachgebrauchs der Zeitgenossen keine allseits überzeugende Lösung in Sicht. Vielmehr haben die begrifflichen ‚Klärungsversuche‘ häufig die Aufgabe, die Fronten innerhalb der Historiker abzustecken. So soll beispielsweise die Scheidung des echt ‚radikaldemokratischen‘ Jakobinismus von jenen ‚liberalen‘ Gegnern des Feudalsystems, die als Interessenvertreter der Bourgeoisie die volksnahe Programmatik der kleinbürgerlich-­bäuerlichen Sachwalter schon damals erfolgreich sabotiert haben, die klassenbedingte Unzuverlässigkeit des Besitzbürgertums untermauern.13 Diese von politischen Gegenwartspositionen bedingte Rückprojektion von Verhältnissen, die in Deutschland allenfalls ab 1830 sichtbar wurden, lässt eine Verständigung derzeit fast als aussichtslos erscheinen. Trotzdem soll hier ein pragmatisch angelegter Versuch zur Überwindung steriler Fixierungen gewagt werden. Die Diskussion in Italien (1760 – 1799) Die Zusammenhänge der europäischen Politik verhinderten, dass Italien als Ganzes in den Konflikt mit Frankreich hineingezogen wurde, solange dort Robespierre an der Macht war. Der italienische Jakobinismus formierte sich anfangs fast ausschließlich im Exil. Zu einem der wichtigsten Zentren wurde der Distrikt von Oneglia, eine von Frankreich besetzte piemontesische Exklave an der Küste, in der der Toskaner Filippo Buonarroti, der nachmalige bekannte Mitverschwörer Babeufs, im April 1795 Zivilkommissar geworden war. Buonarroti kann ohne Zweifel als der interessanteste italie­ nische Jakobiner bezeichnet werden, auch wenn in der Forschung gelegentlich sein späterer Kommunismus unkritisch zurückdatiert wird. In der Praxis jedenfalls wandte er sämtliche wirtschaftslenkenden Maßnahmen der französischen Jakobiner an, enteignete den Besitz der Emigranten und suchte ihn den Bedürftigen zu verkaufen. „Con

di Alberto Maria Ghisalberti, Bd. 1, Florenz 1971, S. 77 – 118. Stuart J. Woolf, I giacobini. In: Ruggiero Romano / Corrado Vivanti (Hg.), Storia d’Italia, Bd. 3: Dal primo Settecento all’Unità, Turin 1973, S. 166 ff. 13 Vgl. die Diskussion der Thesen Walter Grabs bei Inge Stephan, Die demokratische Bewegung in Mitteleuropa im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Ein Tagungsbericht. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz 13 (1977), S. 521 – 529. Siehe auch dies., Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789 – 1806), Stuttgart 1976. – Kritisch zu dieser methodisch wie sachgeschichtlich ebenso problematischen Interpretation Georg ­Kaiser, Über den Umgang mit Republikanern, Jakobinern und Zitaten. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur und Geistes­geschichte 49. Sonderband „18. Jahrhundert“ (1975), S. 226*–242*. Ebenso Karl-­Georg Faber, Wo steht die rheinische Jakobinerforschung heute? In: Rheinische Vierteljahrsblätter 42 (1978), S.  503 – 515.

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la emigrazione dei nobili e dei ricchi, una felice uguaglianza di condizioni economiche si è stabilita nel paese“.14 Trotzdem finden wir ihn schon im Juli bei der Niederschlagung eines Aufstandes von Bauern im Gebiet von Acqui, Alba und Mondovì, die sich gegen die antikirchlichen Maßnahmen und gegen die Ablieferungspflicht der knapp gewordenen Nahrungsmittel zu Niedrigstpreisen wehrten. Als Buonarroti kurz nach dem 9. Thermidor den Besitz eines einflussreichen genuesischen Adligen beschlagnahmte und ebenfalls an die Bauern veräußerte, ließ ihn das Direktorium nach langem Zögern im März 1795 verhaften und nach Paris überführen. Damit schied Buonarroti, der jetzt im Gefängnis zum Anhänger vergemeinschafteten Grundbesitzes werden sollte, aus dem italienischen Jakobinismus aus. Einige seiner engsten Mitarbeiter von Oneglia entwarfen im Frühjahr 1796 für das besetzte Piemont eine Verfassung, die sie im ‚befreiten‘ Gebiet von Alba und Cuneo am 28. April praktisch erproben wollten. Auch wenn Bonaparte dem Experiment ein rasches Ende bereitete, ist das Projekt von großem Interesse. Wie schon Buonarroti als Zivilkommissar aus Gründen des Schutzes kleinbürgerlicher Interessen gegen ein das Privateigentum permanent verletzendes Militärregime plädiert hatte, so begnügte sich auch der Verfassungsentwurf in seinen wirtschaftspolitischen Paragraphen mit der Aufhebung des Feudalregimes und der Zehnten sowie der Enteignung der Emigranten und des Klosterbesitzes. Der noch jungen Institution der Großpacht, die die bäuerlichen Halbpächter ihres Landes beraubt und zu einer verbreiteten Pauperisierung geführt hatte, wurde hingegen lediglich eine – weit gesteckte – Obergrenze verordnet. Nur die Erbpachtbauern sollten ihren Besitz allodifiziert erhalten. War dieser offensichtliche Respekt vor bürgerlichen Eigentumsvorstellungen, der sich schon in der Devise des neuen Staates niederschlug,15 rein taktischer Natur oder gehörte er zu den Grundsätzen jakobinischer Politik in Italien? Die 57 Zuschriften, die auf die im September 1796 von der neuen lombardischen Zivilverwaltung unter Sommariva, einem radikalen Mailänder „Patrioten“, ausgeschriebene Preisfrage – „Quale dei Governi liberi meglio convenga alla felicità d’Italia?“ – einliefen, vermögen diese Frage zu klären helfen.16 Kein einziger der überlieferten Vorschläge wollte das Privateigentum beseitigen, obwohl fast alle, die sich überhaupt mit sozialpolitischen

14 „Dank der Emigration der Adligen und der Reichen hat sich eine glückliche Gleichheit im Land eingestellt“. Bericht vom 5. Piovoso III [25. 1. 1795]. Zit. Pia Onnis, Filippo Buonarroti commissario rivoluzionario a Oneglia nel 1794 – 95. In: Nuova Rivista Storica 23 (1939), S. 385. 15 Artikel 1 der Verfassung lautete: „Li diritti dell’Uomo posto in società sono la libertà, l’egua­ glianza, la sicurezza, la proprietà“ („Die Rechte eines Bürgers im Staat bestehen in Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Eigentum“). Abgedr. bei Amando Saitta, Struttura sociale e realtà politica nel progetto costituzionale dei giacobini piemontesi [1796]. In: Società 5 (1949), S. 46. Saitta hat auch Buonarrotis Einfluss bei den Vorgängen in Alba untersucht: Filippo Buonarroti e la municipalità provvisoria di Alba. In: Belfagor 3 (1948), S. 587 – 595. 16 „Welches Regierungssystem ist für das Glück Italiens das beste?“ Die Texte sind abgedr. in: Armando Saitta (Hg), Alle origini del Risorgimento. I testi di un „celebre“ concorso [1796], 3 Bde., Rom 1964.

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Überlegungen befassten, für eine Umverteilung des Bodens zugunsten kleiner oder landloser Bauern plädierten. Die Landreserve, mit der man die in den letzten Jahrzehnten verelendeten Bauern ausstatten und damit an das neue Regime binden wollte, sollte vielmehr aus dem Kirchengut entnommen werden. Einige verlangten dafür außerdem die Aufteilung der Gemeindeländereien und teilweise die Enteignung der Großgrundbesitzer. Die Rechtsgrundlage für den Eingriff in diese keineswegs nur Adligen vorbehaltene Domäne bot die schon aus der Scholastik stammende, jüngst von Autoren wie Rousseau, Brissot, Linguet, Morelly und Mably wieder populär gemachte Unterscheidung des Besitzes in einen „notwendigen“ und einen „überflüssigen“ Bestandteil. Dieser letztere stehe in Notfällen in der Verfügungsgewalt der Allgemeinheit. So konnte sich mit dem Lob der einer Demokratie förderlichen bescheidenen Lebensführung durchaus Enteignungsbefugnis und Privateigentumsgarantie verbinden. „Non si contiene la povertà fra gli uomini, che facendo loro depositare il superfluo nel pubblico erario“.17 Der schon aus Frankreich bekannte antizivilisatorische Radikalismus begegnet auch in Italien gerade bei den jakobinischen Agrarprogrammen, ohne dass doch allgemeine Gleichheit befürwortet wurde. Botta versicherte, dass es bei der von ihm avisierten „specie di Repubblica agronoma“18 „non si tratta di ridurre le facoltà di ciascun cittadino della Lombardia ad una perfetta uguaglianza“,19 und Fantuzzi, der immerhin vom „terribile diritto di proprietà“ sprach und für alles „Überflüssige“ nur noch Nutznießung an Grund und Boden anerkennen mochte, verlangte, dass alle Einwohner – „bensì a differenti misure“ – Landbesitzer werden müssten.20 Interessant ist, dass die Kommission, in der neben den letzten noch lebenden Häuptern der Mailänder Aufklärung, Pietro Verri und Alfonso Longo, mit Crespi, Birago, Porro und Pelegatti auch entschiedene Anhänger der Revolution saßen, einmütig das Werk von Melchiorre Gioia prämiierte, das sich für Behutsamkeit anstatt revolutionärer Eile aussprach.21 Gioia plädierte zwar für die Abschaffung der Adelstitel, der Fideikommisse und Primogenituren und für die 17 „Armut unter den Menschen lässt sich nur beschränken, wenn man sie veranlasst, das Überflüssige dem Staatsschatz abzuliefern“. Giovanni Fantoni, Risposta al quesito „Quale die governi liberi meglio convenga alla felicità dell’Italia“. In: Saitta (Hg.), Alle origini (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 199. 18 „Eine Art Bauernrepublik“. Carlo Botta, Proposizione ai Lombardi di una maniera di governo libero. Ebd., S. 119. 19 „Es geht nicht um die Reduktion der Möglichkeiten jedes Bürgers der Lombardei auf den Stand vollständiger Gleichheit“. Ebd., S. 113. 20 Das „schreckliche Eigentumsrecht“ darf nicht verhindern, dass die Einwohner Land „in unterschiedlichem Umfang“ besitzen können. G. Fantuzzi, Discorso filosofico-­politico sopra il quesito proposto dall’Amministrazione Generale della Lombardia. Ebd., S. 222, 257. 21 „L’impazienza di far del bene ha sollevato alcune volte degli ostacoli al bene istesso, e dei progetti i meglio concertati sono caduti in disprezzo, perché la fretta di edificare si oppone alla stabilità dell’edificio“ („Die Ungeduld, Gutes zu tun, hat gelegentlich Hindernisse für das Gute aufgerichtet und von den Entwürfen wurden die besten abgelehnt, weil die Eile beim Aufbau sich nicht mit der Stabilität des Gebäudes verträgt“). Melchiorre Gioia, Dissertazione sul problema dell’Amministrazione generale della Lombardia. Ebd., Bd. 2, S. 104.

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Enteignung der ­Kirche, tastete aber den Großgrundbesitz nicht im mindesten an. Die Landreform blieb somit auf die Verteilung des Kirchenguts an die Armen beschränkt, das für drei Generationen unveräußerlich sein sollte. Dabei wies er ausdrücklich auf die schlechten Erfahrungen Frankreichs mit seiner Versteigerung der Nationalgüter hin.22 Damit war Gioia bereits radikaler als die meisten Abgeordneten des „Consiglio dei Juniori“ der Cisalpinischen Republik, in dem die Verwendung des säkularisierten Kirchen­gutes Gegenstand zahlreicher Debatten bildete. Die enorme Geldverlegenheit, in der sich der junge Staat durch die harten Auflagen des Pariser Direktoriums befand, machte alle eigentumspolitischen Vorsätze zunichte. Dennoch war sich die ‚Linke‘ über die absolute Notwendigkeit der Stärkung des Kleinbesitzes durch Parzellierung einig und setzte in der von ihr beherrschten Zweiten Kammer den Antrag durch, dass die Güter „anche in dettaglio ed a piccole partite ai maggiori offerenti“ verkauft werden.23 Diesem Beschluss lag die Überzeugung zugrunde, „che i maggiori progressi farà quella Repubblica democratica ove possibilmente sono più divise le fortune, ed ove i possidenti sono in maggior numero“.24 Daher gingen einige Abgeordnete noch weiter und wollten nicht nur die Versteigerungen,25 sondern überhaupt die Abtretung als frei verfügbares Land verbieten. In dem von extremen sozialen Gegensätzen geprägten Italien, woran schon die im Spätmittelalter begonnene Zurückdrängung des geteilten Eigentums wesentlich beteiligt war, musste es paradoxerweise im Zuge der bürgerlichen Revolution als Vorteil erscheinen, die Parzellen nur gegen die altertümlichen Erbzins- oder Livellarverträge zu vergeben. Bossi nannte es „un progetto veramente democratico di assegnare una parte dei fondi nazionali a titolo di livello“26 und Curti Petarda lobte die Vorzüge der Emphyteuse: „Prima di tutto esclude l’aggiotaggio, apre un campo sì al povero che al ricco, favorisce l’agricoltura ed assicura coi canoni gl’interessi dei creditori dello Stato. Inoltre conserva il dominio diretto alla Nazione“.27 22 Was nicht für Pensionszwecke benötigt werde, „deve interamente essere distribuito ai poveri in terre forse inalienabili fino alla terza generazione“ („muss vollständig unter die Armen verteilt werden, und zwar als Landbesitz, der vielleicht bis zur dritten Generation unveräußerlich sein sollte“). Ebd., S. 92, Anm. 23 Versteigerung der Güter „auch in kleinen Einheiten und parzellenweise an die Meistbietenden“. Beschluss vom 22. 12. 1797. Camillo Montalcini / Annibale Alberti (Hg), Assemblee della Repubblica Cisalpina, Bd. 1, Bologna 1917, S. 481. 24 „Die größten Fortschritte wird jene demokratische Republik machen, in der die Vermögen am stärksten geteilt und wo folglich die Eigentümer in der Überzahl sind“. Rede des Abg. Luini, 17. 6. 1798. Ebd., Bd. 5, Bologna 1927, S. 554. 25 „I monopoli delle aste tolsero anzi tutt’i vantaggi che si volevano procurare al povero“ (“Die Ausschließlichkeit der Versteigerungen brachte alle Vorzüge zum Verschwinden, die doch dem Armen helfen sollten”), klagte der Abg. Dehò am 27. 5. 1798. Ebd., S. 106. 26 „Ein wahrhaft demokratisches Projekt, einen Teil des Staatslandes in Livellarpacht [ähnlich der Erbpacht] zu vergeben“. 16. 7. 1798. Ebd., Bd. 6, Bologna 1927, S. 261. 27 „Vor allem vermeidet sie Wucher, eröffnet sowohl dem Armen wie dem Reichen Möglichkeiten, begünstigt den Ackerbau und sichert mit den Zinszahlungen die Interessen der Staatsgläubiger.

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Die Beiträge in den jakobinischen Zeitschriften Oberitaliens bewegen sich in dem bereits abgesteckten Rahmen. Ein anonymer Journalist versicherte im damals wichtigsten Blatt der Lombardei gleich zu Anfang der französischen Herrschaft, als die meisten sich noch Illusionen über die Italienpolitik des Direktoriums hingaben, dass zwar zum Wesen einer Republik „l’amore dell’eguaglianza e della frugalità“ gehöre, es könne aber „un equilibrio […] regolato di fortune“ nicht durch gewaltsame Umverteilung hergestellt werden, sondern nur durch eine Progressivsteuer auf ‚Überflüssiges‘.28 Ein anderer Vorschlag befürwortete ebenfalls „leggi indirette“ wie Handelsfreiheit, gleiches Erbrecht, Abschaffung der Testierfreiheit usw., lehnte aber ein Ackergesetz ausdrücklich ab: „Le leggi agrarie sono non solo insufficienti a quest’oggetto, ma talvolta funeste“, wie Sparta und Rom zeigten.29 Ungleich schärfere Töne erklangen erst 1798, als sich die Radikalen in einer Serie von Staatsstreichen der Gemäßigten zu entledigen suchten, weil diese den französischen Erpressungsmanövern allzu willfährig Folge leisteten. Im Oktober erklärte Foscolo, „che l’eguaglianza di diritto senza l’eguaglianza di fatto non è che nome“. Aber er selbst zögerte vor der letzten Konsequenz. Theoretisch hielt er aufgrund der Erfahrungen der Antike das Ackergesetz für erlaubt und nützlich, doch s­ eien nicht alle Spekulationen des Geistes praktikabel. So hielt Foscolo lediglich das von der Natur gewollte Existenzrecht eines jeden dem Eigentumsanspruch der Minderheit entgegen und verlangt, „che il bene comune sia anteposto al bene degli individui“.30 Das Gewicht des Sozialgehalts im jakobinischen Freiheitsbegriff stieg nicht nur mit wachsender Enttäuschung des radikalen Flügels über den Eigennutz der Franzosen, die nicht die mindesten Ansätze zu einer sozialen oder gar nationalen Revolution duldeten, es nahm auch zu, je weiter die Verfasser aus dem Süden der Halbinsel stammten. Das unsagbare Elend der weitgehend zu bettelarmen Landarbeitern verkommenen Bauern, die riesigen Ödländereien und der exzessive Reichtum einer winzigen Oberschicht latifun­dienbesitzender Adliger oder bürgerlicher „mercanti di campagna“ oder „galantuomini“ machten jegliche Hoffnung auf Erfolge durch Reformen zunichte.

Außerdem erhält sie dem Volk das Obereigentum“. 17. 7. 1798. Ebd., S. 272. 28 Zum Wesen einer Republik gehört „die Liebe zur Gleichheit und Bescheidenheit“, aber „ein geregeltes Gleichgewicht des Besitzes“ kann nur durch progressive Besteuerung erreicht werden. Idea di un piano sopra il riparto delle tasse. Massime fondamentali [in: Termometro politico della Lombardia, Anf. Aug. 1796]. In: I Giornali (wie Anm. 10), S. 153. 29 „Ackergesetze sind dazu nicht nur ungeeignet, sondern manchmal schädlich“. „Indirekte Eingriffsf­ ormen […] genügen, um in kurzer Zeit alle Besitzungen fast auf gleiches Niveau zu bringen“. „Ciò sarà sufficiente a livellar quasi in ragion di eguaglianza tutte le proprietà in uno spazio brevissimo“, versichert Matteo Galdi, Massime repubblicane [in: Giornale de’ patrioti d’Italia, Mai 1797]. Ebd., S. 138. 30 „Rechtsgleichheit ist ohne tatsächliche Gleichheit nur ein leerer Begriff“. „Das Gemeinwohl muss dem Einzelwohl vorgehen“. Ugo Foscolo, Istruzioni politico-­morali, cap. II [in: Genio democratico, Okt. 1798]. Ebd., S. 76, 78.

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Nach dem Einmarsch des Generals Berthier in Rom Anfang Februar 1798 kam es daher zu heftigen Diskussionen z­ wischen Reformern und Anhängern von weitergehenden Eingriffen in die Wirtschaftsverfassung. Die alten aufgeklärten Maximen schlug Milizia an, der trotz seiner Einsicht in die trostlosen Zustände eine wirklichkeitsfremde Agraridylle zeichnete 31 und die enormen Missstände ausschließlich durch das Verbot der ‚widernatürlichen‘ Gesetze (z. B. Fideikommiss, Majorate etc.) beseitigen wollte. Von Gleichheit hielt er nichts 32 und seine Aufforderung an die Armen – „si arricchisca pure chi sa e può col lavoro e l’industria“33 – weist auf das „Enrichissez-­vous“ Guizots voraus, auch wenn man Milizia bewusste Klassenpolitik nicht unterstellen kann. Ebenfalls gemäßigt, aber weitaus realistischer sah Paganos Rede vor der römischen Ökonomischen Gesellschaft die Vergabe des Kirchenguts an Bauern gegen Erbpacht, die Beseitigung von Fideikommiss, Primogenitur und Testierfreiheit und die Einführung einer progressiven Besteuerung und Residenzpflicht der „mezzani possidenti“ auf ihren Gütern vor. Sein Ideal war keinesfalls die grande culture der Physiokraten, sondern – wie bei deren französischen Kritikern – der Mittelstand, der allein im Besitze politischer Freiheit sein sollte. „La mediocre fortuna ischiva i vizi degli anzidetti due estremi, ed abbraccia insieme i loro vantaggi“.34 Für die Situation in Rom sind andere Schriften jedoch weitaus typischer. C ­ laudio della Valle polemisierte in seiner unter Pseudonym erschienenen „Grammatica repubbli­cana“ offen gegen Monarchen und Adel („i tiranni ed i nobili“) sowie gegen das Großbürgertum („i ricchi“), die es zu enteignen gelte, weil sie von ihrem Nutzungsrecht an Grund und Boden unangemessenen Gebrauch gemacht haben. Nicht nur aus politischen Gründen wie so viele andere ‚Demokraten‘ ist „Nicio Eritreo“ gegen den Großgrundbesitz, sondern weil Wirtschaft und Bevölkerung darunter

31 Die Landwirtschaft sei „il fuoco sacro della virtù. Negli agricoltori non si è mai veduto corruzione: eglino formano la miglior classe de’ cittadini, la più proba, la più sana, la più faticosa, la più parca, la più innocente; senza speranza d’arricchir mai soffrono ogni disagio e miseria, né lasciano ai loro figli altra eredità che l’abituazione al travaglio“ (“das heilige Feuer der Tugend. Bei den Bauern sah man nie Niedertracht, sie sind der beste Teil der Bürgerschaft, der rechtschaffenste, der gesündeste, fleißigste, sparsamste, unschuldigste; ohne Hoffnung, jemals reich zu werden, erleiden sie jedes Ungemach und jede Armut und hinterlassen ihren Nachkommen nichts als die Gewöhnung an Arbeit“); Francesco Milizia, Economia pubblica [Rom, a. VI (1798)]. In: Giuseppe Giarizzo / Gianfranco Torcellan / Franco Venturi (Hg.), Illuministi italiani, Bd. 7: Riformatori delle antiche repubbliche, dei ducati, dello Stato pontificio e delle isole, Mailand, Neapel 1965, S. 571. 32 „Non perciò si han tutti i cittadini a ridurre ad un’eguaglianza perfetta di fortuna“ („Deshalb müssen nicht gleich alle Bürger auf vollständige Eigentumsgleichheit herabgezwungen werden“). .Ebd., S. 579. 33 „Möge sich jeder durch Arbeit und Fleiß so viel bereichern, wie er kann“. Ebd. 34 „Mittelmäßiger Besitz verhindert die Laster der beiden vorhin benannten Extreme und vereinigt ihre Vorzüge“. Mario Pagano, Sulla relazione dell’agricoltura, delle arti e del commercio allo spirito pubblico [20. 9. 1798]. In: Giacobini italiani (wie Anm. 10), S. 373.

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leiden. Daher bleibt nur „il far rinascere i popoli mediante una savia distribuzione di terreni e mediante una legge agraria che tale distribuzione conservi“.35 Die Rückkehr zum glücklichen Naturzustand ist versperrt, aber eine demokratische Gesellschaft kommt ihm am nächsten. – Ein ausgesprochen utopisches, gewerbe- und städtefeindliches Programm verfolgte seit längerem L’Aurora, dessen gleichzeitige Revolutionsbereitschaft und Billigung des Terrors an den frühen Babeuf und an Saint-­Just erinnert: ­Kirchen- und Grundbesitz, Gold, Schmuck und Edelsteine sind zu konfiszieren, die Staatsländereien und der geduldete Restbesitz von Privatleuten ist an unkündbare Siedler auszuteilen; „in questa forma essi nulla perderanno e i poveri profitteranno moltissimo“.36 Anders als die französischen Jakobiner, deren Politik er im Exil verfolgt hatte, dehnte L’Aurora seine sozialpolitischen Ambitionen, wie hier schon angedeutet, auch auf die Armut aus. In seiner Rede vor dem Mailänder Circolo costituzionale wurde sein proletarischer Volksbegriff besonders deutlich: „Popolo italiano […]: La rivoluzione è fatta per te. Sì, o popolo italiano, se la rivoluzione non si è fatta che per quel picciolo numero di ambiziosi e di ricchi, se tu devi essere sprezzato ed avvilito, svégliati, corona i tuoi diritti e fa’ che la rivoluzione sia fatta per te; la riforma del mondo è venuta, il tempo dei re, dei nobili e dei ricchi è passato“.37 Darum sollte das Kirchengut in dreifacher Weise verwendet werden. Ein Drittel ist kostenlos für die Armen, „i padri di famiglia dei cittadini mendichi e poveri giornalieri e contadini dei quali la giornata non è sufficiente a nutrire la loro famiglia“; ein Drittel geht an verdiente Bürger und ein Drittel kann eine Bevölkerungsschicht zu günstigen Bedingungen ersteigern, die man als Sansculotten und ihre Sprecher bezeichnen möchte: „ai cittadini poveri, ai letterati ed gli altri che saranno nel bisogno“.38 Dieser Ruf blieb in Rom nicht ohne Echo. Im Jakobinerclub erklang die Aufforderung: „Fate, o repubblicani, rivivere le leggi agrarie, dettate da vero amore per la patria, fate che l’agricoltura sia l’oggetto delle 35 Daher bleibt nur, „die Wiedergeburt der Völker mittels einer klugen Verteilung des Grundbesitzes und eines Ackergesetzes, das diese Verteilung für die Zukunft sichert, zu ermöglichen“. N. Eritreo [Claudio della Valle], Grammatica repubblicana [Rom a. VI (1798)]. In: Delio Cantimori (Hg), Giacobini italiani, Bd. 1, Bari 1956, S. 154. 36 „Auf diese Weise verlieren sie nichts und die Armen gewinnen besonders viel“. [E. M. L’Aurora] All’Italia nelle tenebre L’Aurora porta la luce [Mailand 1798]. Ebd., S. 188. 37 „Volk von Italien […]: Die Revolution wurde für dich gemacht. Ja, Volk von Italien, wenn die Revolution nur für jene kleine Zahl von Ehrgeizlingen und Reichen gemacht worden sein sollte, wenn du verachtet und niedergeschlagen sein musst, wache auf und vollende deine Rechte und mache, dass die Revolution für dich gemacht ist; die Reform der Welt ist gekommen, die Zeit der Könige, des Adels und der Reichen ist vorbei“. Ders., Indirizzo del cittadino L’Aurora ai Rappresentanti del popolo italiano sopra l’aristocrazia ed i mali dell’Italia [Mailand o. J. (1797)]. Ebd., Bd. 2 (wie Anm. 10), S. 473. 38 Ein Drittel „für die Familienväter unter den bettelarmen Bauern und armen Tagelöhnern und für jene Bauern, deren Tagelohn nicht zur Ernährung ihrer Familie genügt“, und das letzte Drittel „für die armen Städter, die Literaten und die anderen Menschen in Not“. Ebd., S. 490.

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vostre premure e della vostra stima“!39 Und im Tribunat, dem von den Franzosen eingesetzten Parlament, wiederholte Corona sein altes Projekt der Wiederherstellung der Campagna, nun freilich in einer „traduzione in termini giacobini“:40 geistlicher und weltlicher Großbesitz soll „a colonie perpetue ed ereditarie“, d. h. in dauerhaften und vererbbaren Kleingütern an Pächter übergeben werden. Die herkömmlichen Zehnten, Grundzinsen und Fronen sind abgeschafft.41 Auch in der kurzlebigen Parthenopäischen Republik waren die Parteigänger Frankreichs zerstritten, was besonders an ihren wirtschaftspolitischen Aussagen deutlich wurde. Der nach Neapel zurückgekehrte Pagano schreckte vor dem angeblich vorgesehenen „Ackergesetz“ zurück, dem drei Viertel des adligen Grundbesitzes zum Opfer fallen sollten (nicht wenige Baroni standen auf seiten des neuen Regimes) und verlangte statt dessen, in Anlehnung an die Beschlüsse der Assemblée nationale von 1789/90, Allodifikation der Lehen, gleichmäßige Aufteilung der umfangreichen Gemeinheiten z­ wischen Grundbesitzern und Gemeinden und die Ablösung der bäuerlichen Verpflichtungen. „Tutto abolire e tutto lasciare ai baroni sarebbe ugualmente ingiusto“.42 Mit dieser vermittelnden Position stand er aber in der von Massen­elend und breitem bäuerlichen Widerstand gekennzeichneten Lage fast alleine. In der Gesetzgebungs- und Verfassungskommission der Republik traf er auf die entschiedene Gegnerschaft der Feinde des Großgrundbesitzes, Lauberg, Paribelli und Cestari. Letzterer fragte die Gemäßigten: „Chiamerete proprietà legittima quella, la quale altra origine non conosce, salvo che la forza, la violenza, la frode, l’usurpazione, l’editto di un tiranno? Io non conosco altra proprietà, se non quella, che deriva dal diritto naturale comune a tutta l’umanità“.43 Die hier anklingende Idealisierung des kleinen, selbstgenügsamen Grundbesitzers – nicht zufällig erschien in Neapel bereits Anfang Mai die Übersetzung von Mablys Des droits et des devoirs du citoyen, in dem diese Gedanken zum Programm erhoben waren und die auch im französischen Jakobinismus nach ihrer Veröffentlichung im 39 „Republikaner, lasst die von wahrer Vaterlandsliebe diktierten Ackergesetze wieder aufleben, macht den Ackerbau zum Gegenstand eurer Mühen und eurer Hochachtung“. Cristoforo D’Alos; zit. Renzo De Felice, La politica agraria della Repubblica romana del 1798 – 1799. In: Ders., Aspetti e momenti della vita economica di Roma e del Lazio nei secoli XVIII e XIX, Rom 1965, S. 170. 40 „Übersetzt in jakobinische Begriffe“, so der Kommentar Venturis. In: Illuministi italiani (wie Anm. 31), S. 679. 41 Abg. N. Corona, 10. 5. 1798. In: Vittorio E. Giuntella (Hg), Assemblee della repubblica Romana (1798 – 1799), Bd. 1, Bologna 1954, S. 247. 42 „Alles abschaffen und alles den Grundbesitzern lassen, wäre gleichermaßen ungerecht“. ­Francesco Mario Pagano, 7. 3. 1799. In: Franco Venturi (Hg), Illuministi italiani, Bd. 5: Riformatori napoletani, Mailand, Neapel 1962, S. 830. 43 „Nennt ihr legitimen Besitz jenen, der keinen anderen Ursprung kennt als Macht, Gewalt, Raub, Usurpation, Gebot eines Tyrannen? Ich kenne nur jenes Eigentum, das sich vom allen Menschen gleichermaßen zustehenden Naturrecht herleitet“. Mario Battaglini (Hg), Il Monitore Napoletano, 1799, Neapel 1974, S. 384 f.

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Jahre 1790 eine große Rolle gespielt hatten – steigerte sich in Russos Pensieri politici zu einer Apotheose der „contadini filosofici, felici elementi di democrazia“, wie er sie im Schweizer Exil beobachtet haben will. Das Eigentumsrecht umfasst nur noch „quello che ci fa d’uopo pel soddisfacimento dei nostri attuali bisogni […]. Appena le cose sono superflue, non possono più essere una proprietà“.44 In der mit Hilfe eines Ackergesetzes geschaffenen neuen Gesellschaft, in der es nur noch den „piccolo possidente“, den Kleinbesitzer, nicht jedoch Handel und Manufaktur geben wird, ist endlich wieder die natürliche Freiheit hergestellt. „Il solo possidente è libero, perchè egli è indipendente“.45 Der italienische Jakobinismus verfügte, wie diese Übersicht zeigt, über kein geschlossenes Programm zur Agrarpolitik. Man war sich zwar einig in der Absicht, durch gezielte Maßnahmen den Mittel- und Kleinbesitz zu stärken, und wollte zu ­diesem Zweck vor allem das umfangreiche Kirchengut heranziehen. Über die Fortexistenz des privaten Großgrundbesitzes herrschten jedoch gegensätzliche Ansichten. Wer die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die agrotechnischen Sachzwänge, etwa in den künstlich bewässerten Zonen der Niederlombardei und der Emilia, nicht aus den Augen verlor,46 mochte auf jene Betriebe nicht verzichten, die vor allem für den Markt produzierten und sich dem landwirtschaftlichen Fortschritt öffneten. Wo dagegen die Latifundien wenig zum Wohlstand beitrugen und eher noch durch ihre bloße Existenz die Mehrheit der Bevölkerung dem Hunger preisgaben, schien ein politischer und wirtschaftlicher Umbau des Landes radikale Lösungen zu verlangen, zu denen nur ein vollkommen demokratisierter Agrarstaat mit weitgehend nivellierten Besitzeinheiten führen konnte. Das Ackergesetz, dessen Propagierung von den französischen Jakobinern gemeinsam mit den Girondins am 18. März 1793 unter die todeswürdigen Verbrechen gereiht worden war, wurde also in Italien mehr oder weniger offen diskutiert – und dies zu einem Zeitpunkt, als in Paris das Direktorium Babeuf den Prozess gemacht hatte. Unter solchen Umständen war es völlig unwahrscheinlich, dass jene maximalis­ tischen Zielsetzungen je die Chance einer Realisierung erhalten würden. Aber selbst die weit bescheideneren Intentionen der Gemäßigten kamen angesichts der französischen 44 Das Eigentumsrecht umfasst nur noch, „was wir zur Befriedigung unseres momentanen Bedarfs benötigen […]. Sobald die Dinge überflüssig sind, können sie kein Eigentum sein“. ­Vincenzio Russo, Pensieri politici [Rom a. VI (1798)]. Zit. Cantimori, Utopisti (wie Anm. 2), S. 114, Anm. 14, S.  116 f. 45 „Nur der Besitzer ist frei, weil er unabhängig ist“. Ebd.; zit. Cantimori, Giacobini italiani (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 307. 46 Der Abg. Glissenti berichtete am 17. 6. 1798 empört, dass ein Wasserlauf getrennt von den davon bewässerten Grundstücken versteigert worden sei, weshalb die Wiesen jetzt nur noch weit unter ihrem Wert verkauft werden könnten; Montalcini / Alberti (Hg.), Assemblee (wie Anm. 23), Bd. 5, S. 554. Der getrennte Erwerb von Wasserrecht und Grundstück war ein ‚Trick‘, mit dem der Großgrundbesitzer beides zusammen billiger erwerben konnte.

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Besatzungspraxis und der von den Großagrariern beherrschten italienischen Verwaltungen nicht zum Zuge. Die Kirchengüter gelangten im „triennio“ überwiegend in die Hand einer kleinen Gruppe kapitalkräftiger adliger und großbürgerlicher Interessenten, die alsbald zu einer neuen Oberschicht verschmolzen. Die Besitzverfassung Italiens war damit nach der Revolution sogar noch ungleichmäßiger als vorher. Kein Wunder, dass 1799 nach den militärischen Niederlagen der Franzosen nicht nur die abziehenden Besatzungstruppen von einer breiten Volkserhebung des Sanfedismus 47 verfolgt wurden, sondern dass die städtischen und ländlichen Unterschichten die materiellen Gewinner des Besatzungsregimes, also die reichen Landkäufer großen Stils, als „Jakobiner“ brandmarkten und verfolgten. „Chi tene pane e vino, ha da esser giacubbino“, sangen die neapolitanischen Lazzaroni nach dem Sieg der Truppen des Kardinals Ruffo.48 Da es hier jedoch weniger um die praktischen Ergebnisse jakobinischer Agrarpolitik gehen soll, kann sowohl der seit Beginn des 19. Jahrhunderts diskutierte Vorwurf der Weltfremdheit des italienischen Jakobinismus außer Acht bleiben als auch die im Verhältnis zu Frankreich so andersartige Rolle der Klassen in der Revolution. Vielmehr ist hier nach dem Traditionszusammenhang der oben skizzierten Agrarlehren mit denen der vorangegangenen Zeit zu fragen, um der möglichen Originalität jakobinischen Denkens auf die Spur zu kommen. Schon eine kurze Übersicht lenkt den Blick auf die fundamentale Tatsache, dass mindestens seit Beginn des Reformzeitalters in Italien, d. h. seit der Jahrhundertmitte die Frage der landwirtschaftlichen Besitzgröße zum meistdiskutierten Problem der Ökonomen geworden war.49 Des weiteren fällt auf, dass kein einziger der namhaften Reformer den Großgrundbesitz unangetastet lassen wollte. Die herrschende Besitzverfassung war also schon eine ganze Generation vor dem Auftauchen des Jakobinismus von den Theoretikern verworfen worden. Die Pauperisierung der Landbevölkerung, die sich in Italien ein halbes Jahrhundert früher bemerkbar machte als in Deutschland und deren Ursachen man in der 47 Der Sanfedismus (ein von seinen Gegnern geschaffener Begriff, seine Anhänger pflegten sich als ‚Legitimisten‘ zu bezeichnen) war eine von Süditalien ausgehende Aufstandsbewegung ländlicher, aber auch städtischer Armer, die sich unter meist geistlicher Führung (an der Spitze Kardinal Ruffo) zur Armata Cristiana e Reale della Santa Fede in Nostro Signore Gesù Cristo formierte und die Franzosen 1799 zu vertreiben half. 48 „Wer Brot hat und hat Wein, muss ein Jakobiner sein“. Zit. Woolf, I giacobini (wie Anm. 12), S. 187. Ein anderer Zweizeiler lautete: „A li suono de li violini / Sempre morte a’ Giacobbini“ („Beim Klang der Violinen / alleweil Tod den Jakobinern“). Zit. ebd., S. 175. 49 Eine beispielhafte Zusammenstellung der zeitgenössischen Diskussion innerhalb einer geschlossenen Region vermittelt noch immer Antonio Anzilotti, Piccola o grande proprietà nelle riforme di Pietro Leopoldo e negli economisti del sec. XVIII [1915]. Jetzt in: Ders., Movimenti e contrasti per l’unità italiana, hg. v. Alberto Caracciolo, Mailand 21964, S.  33 – 64. Bezüglich der tatsächlichen Reformergebnisse wurde Anzilotti jedoch von Mirri widerlegt; Mario Mirri, Proprietari e contadini toscani nelle riforme leopoldine. In: Movimento operaio 7 (1955), S.  173 – 230.

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brutalen Abmeierung der Halb- und Livellarpächter erblickte, war für die frühzeitige Bereitschaft zur Agrarreform ebenso ausschlaggebend wie die verhängnisvollen Folgen der althergebrachten Annonarpolitik zugunsten der Städte. Nach einem ersten zaghaften Vorstoß der Mailänder Aufklärung in Gestalt eines Artikels von Longo im Caffè gegen die Fideikommisse, die zu nichts taugten außer „ad accrescere la diseguaglianza delle fortune tra i cittadini“ 50 und die deswegen schon im alten Rom „continuamente […] una nuova distribuzione delle terre“ mit Hilfe von Ackergesetzen nach sich gezogen hätten,51 vertieften seine Mitstreiter das angeschlagene Thema. Pietro Verri propagierte den „mediocre possessore“, denn „laddove la proprietà delle terre sia ammassata in grandi porzioni, ivi l’agricoltura sicuramente sarà negletta“. Ein Ackergesetz lehnte er jedoch ab, da „le leggi dirette possono allontanare i delitti, ma non mai animare l’industria“,52 wie sein erfahrungsgesättigter Skeptizismus ihm riet. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen: Beccaria, G. Vasco, Gorani, Gianni, Fabbroni, Ricci, Genovesi, Filangieri, Pagano, Fortis, Corona – um nur die wichtigsten zu nennen.53 Einhellig verlangte man die Beseitigung der Fideikommisse und Primogenituren, Abschaffung oder wenigstens Einschränkung der Feudalprivilegien und der Testierfreiheit sowie Amortisationsgesetze zur Verminderung des kirchlichen Grundbesitzes. Die offenkundigen Krisensymptome im italienischen Agrarsektor des 18. Jahrhunderts, von denen weniger die Landwirtschaft als vielmehr die Ernährungsseite betroffen war, haben die aufgeklärten Reformer nicht nur nicht beseitigen können, sondern durch ihre Maßnahmen ungewollt sogar noch verschlimmert. Dieses fast tragisch zu nennende Scheitern wurde vor einigen Jahren am Beispiel der Toskana deutlich gemacht, wo trotz Meliorationen, Ablösung von Servituten, Parzellierung und „allivellazione“, d. h. Aufteilung von Krondomänen und sogar Schuldenerlass schließlich Adel und Stadtbürgertum im Kampf um die Landanteile den 50 Fideikommisse taugen „nur zur Steigerung der Vermögensungleichheit unter den Bürgern“. Alfonso Longo, Osservazioni su i fedecommessi [Il Caffè, Jg. 1, H. 10, 1764]. In: Sergio ­Romagnoli (Hg), Il Caffè. Nuova edizione, Mailand 1960, S. 90. 51 Im alten Rom musste „kontinuierlich eine neue Verteilung der Ländereien“ mittels Ackergesetzen vorgenommen werden. Ebd., S. 95. 52 Verri propagierte den „mittelgroßen Grundbesitzer“, denn „wo das Bodeneigentum sich in großen Einheiten ballt, wird der Ackerbau mit Sicherheit vernachlässigt“. Allerdings „können direkte Gesetze zwar Verstöße verhindern, aber niemals den Fleiß anregen“. Pietro Verri, Meditazioni dell’economia Politica [Mailand 11771]. In: Ders., I „Discorsi“ e altri scritti degli anni Settanta (Edizione nazionale delle opere di Pietro Verri, Bd. 3, hg. v. Giorgio Panizza), Rom 2004, S. 316 f. 53 Ausführliche Quellenauszüge finden sich in den drei von Venturi betreuten Bänden der Illuministi italiani. Der deutschsprachige Leser sei auf die umfangreichen Zitate bei Robert Michels, Die Verelendungstheorie [1928], Ndr. Hildesheim 1970, und bei Sigmund v. Frauendorfer, Agrarwirtschaftliche Forschung und Agrarpolitik in Italien. Entwicklung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1942, verwiesen.

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Sieg davongetragen haben.54 Derselbe Effekt stellte sich bei der vom zeittypischen individualisme agraire 55 verlangten Aufteilung der Allmende in Oberitalien seit den 1770er Jahren ein.56 Die enttäuschten Reformer spalteten sich angesichts der allgemein fortschreitenden Verarmung bei gleichzeitiger Prosperität der großen Grundbesitzer in zwei Lager. Die einen wandten sich deutlich vom Ideal des Kleinbesitzes ab, ohne deshalb jedoch die Latifundien zu billigen. Die kapitalistisch betriebene Großpacht nach dem Muster der von den Physiokraten empfohlenen grande culture war die Losung ­dieses Flügels. Den Weg dazu hatte Beccaria bereits 1769/72 in seinen Vorlesungen gewiesen, als er eine Agrarwirtschaft, „intrapresa dai ricchi fittabili, che portano sulla terra un nuovo capitale e tutte le loro scorte“,57 pries. Freihandel und eine Hochpreispolitik schlossen sich als logische Folge d ­ ieses Konzepts an und außerdem verlangte Beccaria die Schaffung zusätzlicher (neben-)gewerblicher Arbeitsplätze auf dem Lande. Der andere Flügel der Aufklärer besann sich in der Spätphase der Reformbewegung auf radikalere Eingriffe in die Besitzverfassung, die bis zum bisher allseits geschmähten „Ackergesetz“ reichten. 1782 stellte der Toskaner Ristori angesichts des sich abzeichnenden Scheiterns der dortigen Agrarreformen die rhetorische Frage: „Quando questa disuguaglianza di fortune è condotta all’eccesso, sarebbe egli così biasimevole il pensare di riprodurre le Leggi Agrarie?“58 Im Königreich Neapel lehnten Filangieri und Pagano das „Ackergesetz“ aus praktischen Erwägungen ab, erörterten aber seinen Nutzen

54 Mirri, Proprietari (wie Anm. 49). Vgl. dazu in deutscher Sprache Adam Wandruszka, Leopold II., Bd. 2, Wien 1965, S. 180 ff. 55 Eine Prägung Marc Blochs: La lutte pour l’individualisme agraire dans la France du XVIIIe siècle. L’œuvre des pouvoirs d’Ancien Régime [1930]. Jetzt in: Ders., Mélanges historiques, Bd. 2, Paris 1963, S. 592 – 637. Ein außerordentlich eindrucksvoller Beleg für den Kampf der italienischen Reformer gegen die alten Kollektivpraktiken ist das Buch von F[rancesco] Gemelli, Rifiorimento della Sardegna proposto nel miglioramento di sua agricoltura [Turin 1776]: „La comunanza o quasi comunanza delle terre genericamente considerata, è proprio la radice infetta che il suo vizio comunica a ogni ramo della sarda agricoltura“ (“Rechtlicher oder faktischer Gemeinbesitz am Boden ist, grundsätzlich betrachtet, die vergiftete Wurzel, die ihr Übel auf die gesamte sardische Landwirtschaft überträgt“); Giarizzo / Torcellan / Venturi (Hg.), Illuministi italiani, Bd. 7 (wie Anm. 31), S. 907. 56 Vgl die Fallstudien eines Dorfes von Franco Catalano, Aspetti della vita economico-­sociale lombarda nel sec. XVIII [1954]. Jetzt in: Ders., Illuministi e giacobini del Settecento italiano, ­Mailand, Varese 1959, S. 77 – 105. 57 Eine „von reichen Pächtern betriebene“ Agrarwirtschaft, „die neues Kapital und ihr ganzes Inventar in den Boden investieren“. Cesare Beccaria, Elementi di economia pubblica [1769/72]. In: Ders., Scritti economici (Edizione nazionale delle opere di Cesare Beccaria, Bd. 3, hg. v. ­Gianmarco Gaspari), Mailand 2014, S. 186. Ebenso Alfonso Longo (Beccarias Lehrstuhlnachfolger), Istituzioni economico-­politiche [1773]. In: Illuministi italiani, Bd. 3: Riformatori lombardi, piemontesi e toscani, Mailand, Neapel 1958, S. 277 f. 58 „Wenn diese Vermögensungleichheit bis zum Äußersten getrieben wird, wäre es dann so schändlich, ans Wiederaufleben der Ackergesetze zu denken?“ Zit. Carlo Capra, Giovanni Ristori. Da illuminista a funzionario, 1755 – 1830, Florenz 1968, S. 87.

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theoretisch.59 Als „Ackergesetz“ gaben schließlich Cacherano und Corona ihre Projekte zur Wiederbesiedelung der römischen Campagna aus und Corona spielte auf die intensive Diskussion d ­ ieses Themas in seiner Zeit an, wenn er davon sagt: „Questo mezzo è ormai tanto decantato e ripetuto che non più ferisce l’orecchio; ma questo ha pur l’onore di esser l’unico“.60 So schließt sich im Bereich der Agrartheorie der Jakobinismus in Italien fast nahtlos an die Aufklärung an, denn die Lage der Landwirtschaft hatte sich seither nicht geändert und die Spaltung in Gemäßigte und Radikale kündigte sich seit den 1780er Jahren an. Auch war 1796 in Italien der Rückgriff auf Gemeindeland und Kirchengut durch den Staat kein Novum mehr 61 und freilich ebensowenig die Erfolglosigkeit aller damit verbundenen Bemühungen um Mehrung des Klein- und Mittelbesitzes. Beide Generationen scheiterten an den harten Realitäten der Eigendynamik, die das Eindringen des Kapitalismus in die Landwirtschaft seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entfaltete, und beide mussten daher mit Bitterkeit feststellen, dass die Landbevölkerung sich enttäuscht von ihren potentiellen Wohltätern abwandte. Nicht erst der Jakobinismus fand, wie oben schon angedeutet, sein Ende auch in der massenhaften Empörung landhungriger Bauern und Tagelöhner: In der Lombardei rissen besonders im Gebiet von Como seit 1767 die Unruhen kaum noch ab, weshalb 1792 Pietro Verri die herrschende Sozialordnung zutiefst bedroht sah,62 und in der Toskana brachen just nach der Abreise Leopolds im Jahre 1790 die ersten reformfeindlichen Tumulte in Stadt und Land aus, die sich von nun an alljährlich wiederholten. Objektiv und subjektiv traten daher die italienischen Jakobiner in den Bereichen von Agrartheorie und -politik in weit größerem Maße das Erbe der 59 Vgl. Gaetano Filangieri, La scienza della legislazione [Neapel 1780 ff.]. In: Illuministi italiani, Bd, 5 (wie Anm. 42), S. 69 ff. Francesco Mario Pagano, Saggi politici [Neapel 1783]. Ebd., S. 885 ff. 60 „Dieses Mittel ist nun derart abgeklärt und häufig angesprochen, dass es das Ohr nicht mehr verschreckt, sondern die Ehre hat, das einzige zu sein“. N[icola] Corona, Riflessioni economiche, politiche e morali sopra il lusso, l’agricoltura, la popolazione, le manifatture e il commercio dello Stato Pontificio [Rom 1795]. In: Illuministi italiani, Bd. 7 (wie Anm. 31), S. 307. Vgl. G[iovanni] F[rancesco] Cacherano di Bricherasio, De’ mezzi per introdurre ed assicurare stabilmente la coltivazione e la popolazione nell’Agro Romano [Rom 1785]. Ebd., S. 621 ff. 61 In Neapel verkaufte die 1784 gegründete Cassa Sacra Kirchengut zur Beseitigung der süditalienischen Erdbebenschäden. Dazu Augusto Placanica, Alle origini dell’egemonia borghese in Calabria. La privatizzazione delle terre ecclesiastiche (1784 – 1815), Salerno, Catanzaro 1979. In Oberitalien waren Antikurialismus und Josephinismus die Motive zu Beschlagnahme und Veräußerung von Klostergut. Zu Venedig siehe Marino Berengo, L’agricoltura veneta dalla caduta della Repubblica all’Unità, Mailand 1963, S. 3 f. Die Lombardei behandelt Ugo Marcelli, La vendita dei beni nazionali nella Repubblica Cisalpina, Bologna 1967, S. 21 ff. 62 „La plebe nostra che, senza morale, senza principi, senza lumi, crede che la rivoluzione francese porti la comunione de’ beni“ („Unser Volk, ohne Moral, ohne Grundsätze, ohne Verstand, glaubt, dass die Französische Revolution die Gütergemeinschaft bringt.“). Brief an Alessandro Verri vom 24. 10. 1792. Zit. Silvia Cuccia, La Lombardia alla fine dell’Ancien Régime, Florenz 1971, S. 53, Anm. 30.

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Aufklärung an, als sie dies selbst wahrnahmen und als es die moderne Forschung wahrhaben möchte. Neu war allerdings, dass einige von ihnen dem aufgeklärten Dilemma ­zwischen Wirtschaftsfreiheit und Staatsintervention zu entgehen suchten, indem sie den Akzent mehr auf das Recht zu massiven Eingriffen im Namen der Freiheit aller legten. Aber gerade das Gesellschaftsziel d ­ ieses radikalen Jakobinerflügels vom Staat als einer Gemeinschaft von Eigentümern wies – wie noch zu zeigen sein wird – am allerwenigsten in die Zukunft. Agrarkritik in Deutschland (1790 – 1820) War schon in Italien, wie übrigens auch in Frankreich, trotz allseits kritisierter ländlicher Besitzverhältnisse das auf eine allgemeine Nivellierung zielende Ackergesetz keinesfalls zur „Gretchenfrage der Revolution“ 63 geworden, so gilt dies erst recht für Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Eine Änderung der Eigentumsverfassung schied angesichts des hohen bäuerlichen Landanteils 64 vollkommen aus, auch wenn sich in einzelnen Regionen – in der Pfalz, in Rheinhessen und Schlesien sowie im Umkreis großer Städte – gewisse Anzeichen von Landhunger bemerkbar machten, von dem aber weniger die Bauern im engeren Sinne betroffen waren. Die Stabilität der deutschen Agrarverfassung hat im Verein mit Schutzmaßnahmen der Landesherren ein als Bauernbefreiung getarntes „Bauernlegen“ verhindert – sofern der Adel westlich der Elbe jemals ­solche Aspirationen gehegt hat. In Landbesitz investiertes städtisches Kapital existierte in nennenswertem Umfang ohnedies nur entlang des Rheins, der Hauptader des Handelsverkehrs. Ein von Scheel als „Jakobiner“ bezeichneter bayerischer Flugschriftenverfasser lobte denn auch ausdrücklich die herrschende Besitzverfassung und machte sie zum Ausgangspunkt seiner Forderung nach politischer Repräsentation der Landleute: „Der Bauer in Bayern baut kein fremdes Feld als Mietling für den Eigentümer; er bauet und erntet für sich selbst und nähret damit sowohl den übrigen fleißigen als größtenteils müßigen Teil der Nation. Nur unter seiner Existenz ist die Subsistenz der Sauger, Fresser und Verschlinger möglich, und doch sollen nur diese Müßiggeher und nicht der Bauer zur Nation gehören“.65

63 Markow, Grenzen des Jakobinerstaats (wie Anm. 1), S. 44. 64 Je nach Region belief sich der bäuerliche Landanteil z­ wischen 60 und 88 Prozent. Näheres dazu bei Christof Dipper, Die soziale Verteilung des Grundeigentums in Deutschland am Ende des Ancien Régime. In: Jahrbuch/Annali dell’Istituto storico italo-­germanico in Trento 5 (1979), S.  507 – 516. 65 Die ­­Zeichen der Zeit oder die letzten Zuckungen des Adels und der Pfaffen in Bayern [Köln (München), Jahr IX (1800)]. In: Heinrich Scheel (Hg), Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1965, S. 407.

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Etwas anderes war die Frage der hohen bäuerlichen Leistungs- und Abgabepflichten an Adel, K ­ irche und Landesherrn, die nicht nur dem agrarischen Fortschritt im Wege standen – was damals noch eher selten gesehen wurde –, sondern vor allem als eine mit dem Naturrecht nicht zu vereinbarende, unwürdige „Knechtschaft“ und „Sklaverei“ vielen ein Dorn im Auge waren. Jeder Jakobiner, der sich für die Landbevölkerung interessierte, hat gegen die Fortdauer des „Lehnswesens“, wie die Zeitgenossen sagten, scharf protestiert. Vom Elsass aus verkündete Clauer einen den Franzosen abgeschauten Maßnahmen­ katalog, der unter anderem die Abschaffung der Kirchengüter, Zehnten und Frondienste verlangte. Sollten Adel und Bürgertum (!) nicht freiwillig Verzicht leisten, so habe das Volk ein Recht auf Revolution: „Ein gerechter Aufstand von einer ungerechten Unterdrückung, also – eine Gott und allen Engeln und Menschen wohlgefällige Empörung“.66 Im Zuge der ersten Besetzung Rheinhessens erlangten in Mainz die Jakobiner durch ihre Klubgründung ein Sprachrohr, mit dem sie die Bauern massiv für eine Parteinahme zugunsten der neuen Ordnung bearbeiteten. Es scheint aber, dass ihnen erst die politische Verweigerung der Stadtbewohner den Blick für die bäuerlichen Probleme geöffnet hat, da die entsprechenden Initiativen erst nach der Ablehnung der Konstitutionsvorschläge durch die Mainzer Kaufmannschaft im November 1792 belegbar sind. „Können Sie im Ernst darüber lachen, wenn der arme Bauer, der drei Tage von vieren für seine Herrschaften den Schweiß seines Angesichts vergießt und es am Abend mit Unwillen trocknet, fühlt, ihm könnte, ihm sollte besser sein? Von d ­ iesem einfachen Gesichtspunkt gehn wir aus“, schrieb Caroline Böhmer am 17. Dezember 1792.67 Im Klub, der zunächst als politische Bildungsanstalt fungierte, befassten sich mehrere Redner mit dem Agrarproblem. Einen ersten Vorstoß unternahm Ohler, der alle unrechtmäßigen Güter des Adels und allen überflüssigen Kirchenbesitz enteignen wollte.68 Weit weniger radikal gab sich Cotta bei seinem Versuch, die Bauern politisch zu mobilisieren. Im detailliertesten Agrarprogramm des Klubs, das auf dessen Kosten gedruckt und in zahllosen Exemplaren an die Lehrer und die Dorfschultheißen verteilt worden ist, verhieß Cotta den Landleuten im Falle ihrer Zustimmung zum neuen Regime Befreiung von Leibeigenschaft, Kopfsteuer, Fronen, ­Weideservituten, Wildschäden, Zöllen, Maut, Akzise, Konskription und Zehnten.69 Obwohl die Abstimmungsergebnisse beim folgenden Referendum auf den Dörfern 66 Karl Clauer, Sendschreiben an alle benachbarten Völker Frankreichs, zum allgemeinen Aufstand [19. 6. 1791]; abgedr. bei Hans-­Werner Engels, Karl Clauer. Bemerkungen zum Leben und zu den Schriften eines deutschen Jakobiners [1973]. Jetzt in: Helmut Reinalter (Hg), Jakobiner in Mitteleuropa, Innsbruck 1977, S. 190. 67 Caroline. Briefe aus der Frühromantik; nach Georg Waitz vermehrt von Erich Schmidt, Bd. 1, Leipzig 1913, S. 278. 68 Johann Jakob Ohler, Von denen aus dem Privatinteresse entspringenden Ursachen verschiedener Menschenklassen, für oder gegen die Konstitution sich zu erklären [Rede vom 9. 11. 1792]. Abgedr. in: Scheel, Die Mainzer Republik, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 162 ff. 69 Friedrich Christoph Cotta, Wie gut es die Leute am Rhein und an der Mosel jetzt haben können [Rede vom 30. 11. 1792]. Ebd., S. 323 ff.

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mehrheitlich positiv ausfielen,70 hielt die am 19. November eingesetzte Provisorische Administration ihre Zusage nicht ein. Der Klubist Metternich erklärte sich daraufhin zum Sachwalter bäuerlicher Interessen: „Wir hoffen aber, daß die Generaladministration uns länger nicht als bis Neujahrstage zu unseren alten Abgaben noch bei so harten Kriegslieferungen nur darum anhalten werden wolle, um jene Dienerschaft aus einigen Ämtern zu besolden, ­welche vor einen schwelgenden Hof und ein großes Land angenommen worden. Die Bürger am Ruder zu Mainz“, die aus „Eigennutz“ für die „alte Konstitution“ gestimmt haben, sollen endlich entmachtet werden.71 Ein letztes Mal wurde Ende Februar die Agrarreform in Wedekinds Erläuterung der Menschenrechte theoretisch hergeleitet und begründet: Der „Begriff von Gleichheit“ verlange, dass „Fronden und Adel […] also nun feierlich aufgehoben und die Auflagen […] nun gleichförmig ausgeteilt werden“, so dass fortan nur noch eine „rechtmäßige, niemand beeinträchtigende Eigentumsordnung“ herrscht, die auch den adligen Restbesitz zu garantieren hat.72 Von diesen weitgespannten Zielsetzungen ist außer der Beseitigung der Patrimonialgerichtsbarkeit nichts erreicht worden. Trotz der Proklamation des Nationalkonvents vom 15. Dezember, die „die Abschaffung der Zehnten, der Lehnsverfassung, der herrschaftlichen Rechte sowohl auf Lehn- als Erbzinsgütern, der fixen sowie der zufälligen herrschaftlichen Gebühren, der Zwangsrechte, der Fronen, der Salzsteuer, der Weg- und Brückenzölle“ usw. verhieß,73 wurde mit der Bauernbefreiung nicht Ernst gemacht. Forster musste bei Rundreisen aus Anlass der bevorstehenden Wahlen noch Ende Februar 1793 die Anwendung ­dieses Dekrets befehlen – vergeblich!74 Auf die Abgaben und Kriegskontributionen konnten Administration und Heer nicht verzichten, auch fehlte ein Kataster als Bemessungsgrundlage für neue Steuern als Ersatz. Dieselbe Konstellation ergab sich nach der zweiten Eroberung der Rheinlande, als die Bevölkerung wiederum aufgefordert war, sich für den Anschluss an Frankreich auszusprechen. Als Belohnung winkte abermals die Beseitigung des Feudalsystems, das 70 „Es ist eine Schande, daß es die Dörfer der Stadt zuvorgetan, freilich gewinnen erstere bei der neuen Ordnung ungleich mehr als die Städter“; Franz Falciola an Friedrich Dumont, 27. 11. 1792. Briefe aus der Mainzer Republik, hg. u. erläutert von Franz Dumont. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 3 (1977), S. 323. 71 [Matthias Metternich], Beschwerdeführung eines Landmannes über die langsame Entschließung der Bürger zu Main [Rede vom 21. 12. 1792]. In: Scheel, Die Mainzer Republik, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 460, 458. 72 Georg Wedekind, Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers [Rede vom 26. 12. 1793]. Ebd., S. 745 f. 73 Abgedr. ebd., S. 430. 74 „Da nun die Volkswahlen vor sich gehen müssen, […] ersuche [ich] Sie daher, 1.) auch in Eckels­ heim die Dekrete vom 15ten […] Dezember vollziehen zu lassen“; Brief vom 20. 2. 1793. „[…] sind alle bestandenen Abgaben […] gänzlich und für immer aufgehoben“; Brief vom 28. 2. 1793. Abgedr. bei Heinrich Scheel, Unbekannte Zeugnisse aus der revolutionären Tätigkeit Georg Forsters in und um Mainz 1792/93 [1973]. Jetzt in: Reinalter (Hg.), Jakobiner in Mitteleuropa (wie Anm. 66), S. 164.

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entgegen mannigfacher anderslautender Erlasse zumindest faktisch noch in Kraft war, wenn auch infolge zerstörter oder verschleppter Archive die Leistungspflichten häufig nicht mehr nachgewiesen werden konnten. Vielleicht liegt hierin der Grund, dass unter den zu Cisrhenanen gewordenen ehemaligen Jakobinern das agrarpolitische Engagement stark nachgelassen hatte. Einzig Metternich, der schon 1792/93 in Mainz sein Interesse an den Bauern gezeigt hatte, forderte jetzt die Landbevölkerung unter Hinweis auf „Italiens neue Republiken“ mit ihren von den Franzosen gebrachten Segnungen zum Anschluss an Paris auf: Dann „seid ihr zehnden-, zinsen- und frondenfrei“, dann „wird der Landmann nicht mehr Tagelöhner der Adelichen und Geistlichen, sondern leicht selbst Besitzer der Güter werden können“.75 Mit dem zuletzt geäußerten Hinweis war die Umgestaltung der Besitzverteilung durch die Nationalgüterverkäufe angesprochen, die bisher bei den Parteigängern Frankreichs ein bemerkenswert geringes Echo gefunden hatten. Trotz allem sozialpolitischen Interesse nahmen aber auch jetzt noch verfassungspolitische Probleme unbestritten den ersten Rang ein, so dass die tatsächliche Beseitigung des Feudalsystems am 26. März 1798 ohne die Beteiligung deutscher Republikaner zustande gekommen zu sein scheint. In den anderen Gebieten Deutschlands, wo sich jakobinische Aktivitäten nachweisen lassen, war die Lage eher noch ungünstiger für das Entstehen eines überzeugenden agrarpolitischen Programms. Norddeutschland, fern dem Einflussbereich der Revolutionstruppen, erlebte nur schwache Ansätze oppositioneller Klubs und Geheimbünde. Außerdem blieben alle diese Bewegungen auf die Städte beschränkt. In den dänischen Herzogtümern war auf den königlichen Domänen seit zwei Jahrzehnten eine Agrarreform im Gange, die zwar Kätner und Insten ihrer letzten Landreserve beraubte, den Bauern aber persönliche Freiheit und volles Eigentum zu günstigen Bedingungen gewährte. Unter diesen Bedingungen verwundert es nicht, wenn im Norden agrarpolitische Projekte vollständig fehlen. Auch in den eigentumstheoretischen Diskussionen jener Jakobiner wurde nur auf die Rechtsgleichheit abgehoben. Würzer betonte 1793, „eine ­gleiche Verteilung der Reichtümer ist unmöglich“, und nannte es eine „Ungerechtigkeit“, einen Teil seines „wohlerworbenen Reichtums abzutreten unter dem Vorwande, daß die Güter gleich verteilt sein müßten“.76 Auch der radikaler eingestellte Flensburger Meyer betonte, „es wäre töricht, die Möglichkeit einer absoluten Gleichheit behaupten zu wollen“, und plädierte stattdessen vorsichtig für „eine Gleichheit des Vermögens, soweit sie ohne Kränkung des Eigentums anderer möglich ist“.77 Im Verbot des Zunftwesens sah er eine wichtige Chance für ­dieses Ziel. 75 [Matthias Metternich] An die Bewohner des linken Rheinufers [Juli 1797]. In: Axel Kuhn, Linksrheinische deutsche Jakobiner, Stuttgart 1978, S. 105. 76 Heinrich Würzer, Revolutionskatechismus [Berlin 1793]. In: Walter Grab, Leben und Werke norddeutscher Jakobiner, Stuttgart 1973, S. 174 f. 77 Georg Conrad Meyer, Moralische und politische Betrachtungen über die Zünfte und Handwerker [Der Neue Mensch, Jg. 1, 1796]. Ebd., S. 258 f.

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Die österreichischen Jakobiner sahen sich in ihren Umsturzplanungen, die hier weiter als irgendwo sonst im deutschen Sprachraum vorangekommen waren, von den in den Augen der Bauern offenbar erträglichen, jedenfalls durch Herkommen legitimierten Agrarverhältnissen beeinträchtigt. Riedel bekannte im Verhör, dass dank der von ­Kaiser Joseph II. eingeleiteten Reformmaßnahmen die Bauern für eine Revolution nicht zu haben ­seien. Ihr Zorn richte sich ausschließlich gegen die aristokratischen Grund- und Gutsherren und deren Verwaltungspersonal.78 Mit den Bauern hat sich daher Riedel in keiner seiner Schriften befasst. Anders der „Aufruf an das Landvolk“ (1794) des aus Böhmen stammenden Rúzsitska, in dem die antiaristokratischen Hassgefühle der Bauern authentisch wiedergegeben sind. Nicht wie die Mainzer Jakobiner, die auch dem Adel das „rechtmäßige“, d. h. bürgerliche Eigentum garantieren wollten, verlangte Rúzsitska die vollständige Enteignung der Aristokraten. „Dabei gehört dem Adel der Boden gar nicht, sondern nur denjenigen, die ihn bearbeiten. Der Adel ist parasitär, aber vor Gott sind alle Menschen gleich“. Daher riet er den Bauern: „Gebt ihnen keinen Zehent, kein Geld! Tut ihnen keine Robot, so werden sie ohne Euch wie die Fische ohne Wasser von selbsten bald hin werden“.79 Mit der Berufung auf das göttliche Gesetz, der Vertrauenserklärung für den toten Monarchen,80 mit dem bäuerlichen Weltbild ohne die Stadt und ihre Bürger, vor allem aber im Verzicht auf den Entwurf einer künftigen (modernen) Herrschaftsordnung weist dieser Aufruf keineswegs, wie in der Literatur fast regelmäßig versichert wird, auf Büchners Hessischen Landboten voraus. Vielmehr erinnert er stark an Flugschriften aus dem österreichischen Bauernkrieg, etwa an Michael Gaismairs Tiroler Landesordnung von 1526. Das eigentlich Jakobinische, nämlich der Versuch einer taktischen Allianz ­zwischen dem radikalen Bürgertum und der unzufriedenen Bauernschaft, wie sie gleichzeitig in Frankreich zur Verteidigung der Republik einerseits und entschädigungslosen Befreiung der Bauern andererseits bestand, fehlt hier bezeichnenderweise vollkommen. Nicht minder archaisch mutet das Lied des Kärntner Bauernsohnes Pöllinger von 1797 an, das die ewigen Plagen der Landbevölkerung – Militärdienst, Fronen und Abgaben – beklagt, den ­Kaiser in Schutz nimmt und dabei versichert, es „muß ja alles Rebellisch wern“.81 Das Dokument gehört eindeutig in die traditionelle bäuerliche Protestliteratur, deren jahrhundertealte Tradition erst in der 1848er Revolution untergegangen ist. Hebenstreits Gedicht Homo hominibus ist der einzige Fall, dass im deutschen Sprachraum sich ein Jakobiner zur Gütergemeinschaft bekannt hat. Diese Haltung, die Riedel im Verhör erstaunlicherweise als „Hebenstreitismus oder Kommunismus“ 78 Alfred Körner, Die Wiener Jakobiner, Stuttgart 1972, S. 121. 79 Georg Rúzsitska, Aufruf an das Landvolk. Zit. ebd., S. 43 f. 80 „Hätte ­Kaiser Joseph bis jetzt gelebt, so wären sie [die Soldaten]schon ohnedem mit den Edelleuten ausgerottet“. Ebd., S. 44. 81 Johann Pöllinger, Lied. Ebd., S. 52.

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bezeichnet hat,82 empfahl die Rückkehr zum urchristlichen Gemeinbesitz unter dem „Königtum Christi“83 entweder auf revolutionärem Wege oder aber, „am sichersten, […] durch den Regenten selber“.84 Ein konkretes agrarpolitisches Programm enthält auch dieser nur an gebildete Adressaten gerichtete Text nicht und ebensowenig befasste sich Hebenstreit jemals mit Überlegungen, wie ein solcher Endzustand herbeigeführt werden könnte. Es blieb bei der Utopie. Den österreichischen Jakobinern, gleichsam Verschwörern wider Willen, nachdem ­Kaiser Franz sie beiseite geschoben hatte, war Sozialkritik zwar ein wichtiges Anliegen, wichtiger war ihnen jedoch, wie die Reformpolitik wieder in Gang gebracht werden und konstitutionell abgesichert werden konnte. Die Revolutionspläne blieben daher so dilettantisch, dass der radikalste Entwurf vom polizeilichen Lockspitzel Degen stammt. Im deutschen Süden entstand im Zusammenhang mit dem zweiten Koalitionskrieg 1799/1800 hier und da die Hoffnung, mit französischer Hilfe die Herrschaft der Fürsten zu beseitigen. Die Zeugnisse neojakobinischer Aktivitäten wurden jedoch von denjenigen anderer Gruppen überlagert, die die landständischen Verfassungen Württembergs und Bayerns reformieren bzw. beseitigen wollten. Diese süddeutschen Republikaner ebenfalls als Jakobiner zu bezeichnen, deren politische Mäßigung rein taktischer Natur gewesen sei, ist jüngst als „geschichtswissenschaftliche Fiktion“ überzeugend zurückgewiesen worden.85 Wo von erstrebenswerten „Untertanenrechten“86 die Rede ist und die aristokratische Republik der Eigentümer verlangt wird, wo der Widerstand von Adel und Prälaten als „revolutionär“ gedeutet wird, dem die eigenen Reformabsichten den Boden entziehen sollten,87 wird man nach jakobinischen Ideen auch im Sinne des vergleichsweise bescheidenen Mainzer Vorbilds vergeblich suchen. Dementsprechend traditionell fielen die Projekte zur Bauernbefreiung aus: Sie entwickelten für Bayern die seit den 1770er Jahren begonnen kurfürstlichen Reformmaßnahmen fort und wagten ebensowenig wie diese einen entschlossenen Eingriff in die „Privatverhältnisse“ des Adels und der ihm untertänigen Bauern.88

82 Ebd., S. 255, Anm. 78. 83 Franz Hebenstreit, Homo hominibus [1792]. Ebd., S. 69. 84 Aussage Hebenstreits. Ebd., S. 135. 85 Siglinde Graf, Bayerische Jakobiner? Kritische Untersuchungen sogen. „Jakobinischer Flugschriften“ aus Bayern Ende des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41 (1978), S. 169. 86 Die süddeutschen Untertanen über Krieg und Frieden [München 1800]. In: Scheel (Hg.), Flugschriften (wie Anm. 65), S. 450. 87 „Unsere Leser sehen also ein, wie revolutionär die Bemühungen der Adeligen und Priester sind, da sie den Fürsten von der Annäherung zum Staate unter allen möglichen Lügen und Betrügen zurückhalten, dadurch die Revolution wider den Willen der Nation reift“. Die Zeichen ­­ (wie Anm. 65), S. 440. 88 [Joseph Utzschneider?], Entwurf zu einer neuen Erklärung der Landesfreiheit in Bayern [München 1800]. Ebd., S. 247 ff.

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Umso eindeutiger fielen dafür die radikalen Akzente in dem umfangreichen „Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, wie sie in Deutschland taugen möchte“ vom März 1799 aus, der im Südwesten starke Verbreitung fand. Hier wurde nicht nur die gerade in damaliger Zeit konfliktträchtige Frage nach dem Nutzungsrecht an allen natürlichen Ressourcen in Wald und Gewässern im Sinne der Armen beantwortet,89 sondern darüber hinaus die entschädigungslose Bauernbefreiung sowie das Verbot der Fideikommisse proklamiert. Einen ausgesprochen sansculottischen Zug erhielt das Projekt durch eine Eigentumspolitik, die vom Staat verlangte, jedem Gemeindebürger „einen gleichen Anteil an dem Gemeindegut“ zuzuweisen, und überdies aus ehemaligen Klostergütern eine Landreserve schaffen wollte, die jedermann eine Mindestbesitzgröße garantieren sollte. „Der Staat wird dafür sorgen, daß jeder Bürger, der nicht sechs Morgen Feldes hat, dieselben soviel möglich von den dem Staate gehörigen […] liegenden Gründen erhalte. […] Die Handwerksleute können soviel erhalten, bis ihr Vermögen den Wert von sechs Morgen Feldes beträgt“.90 Sechs Morgen (2,2 ha) bei reiner Dreifelderwirtschaft, d. h. ohne Anbau der Brache, bedeutete bei bescheidenen Nebenerwerbsmöglichkeiten zwar erst die Sicherstellung des Existenzminimums einer Familie, war aber am Ende des 18. Jahrhunderts im deutschen Südwesten keine unrealistische Größe,91 zumal enteignungsfähiges Kirchengut sich in Grenzen hielt. Wie aus anderen Beispielen hervorgeht, waren ­solche spätjakobinischen Überlegungen zur Stärkung der klein- und unterbäuerlichen Schichten kein Einzelfall.92 Sie verließen jedoch wie alle anderen Projekte der deutschen Jakobiner niemals das Projektstadium. Eine Verhaftungswelle im Januar 1800 zerschlug die Reste der Klubs, an denen auch auf französischer Seite nach dem 18. Brumaire keinerlei Interesse mehr bestand. Das Agrarprogramm der deutschen Jakobiner war einheitlicher als das der Italiener: Wer immer sich mit den Bauern befasste, verlangte deren entschädigungslose Befreiung von allen feudalen Dienst- und Abgabepflichten. Eingriffe in die Eigentumsordnung betrafen vorrangig das Kirchengut, ohne dass – außer im Falle des zuletzt genannten Beispiels – über dessen fernere Verwendung räsoniert wurde. Sieht man von Hebenstreits utopischem Entwurf ab, so fehlen in Deutschland alle Tendenzen zur Nivellierung der Besitzverfassung und mit einer Ausnahme wurde nicht einmal über Schutzmaßnahmen für den ‚kleinen Mann‘ im Konkurrenzkampf mit dem Großbesitz nachgedacht. Es ist unbegreiflich, wie Clauers Sendschreiben als Drohung „mit einem agrarkommunistischen

89 Ebd., S. 141 f. 90 Ebd., S. 182. 91 Vgl. die Durchschnittsberechungen bei Albert Ilien / Utz Jeggle, Leben auf dem Dorf. Zur Sozialgeschichte des Dorfes und Sozialpsychologie seiner Bewohner, Opladen 1978, S. 57 ff. 92 Heinrich Scheel, Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 21971, S. 562.

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Konzept“93 ausgegeben oder Meyers Reflexionen über Gleichheit als Ausfluss „der extremen Forderung nach Besitzgleichheit“94 verstanden werden kann. Eigentumspolitische Mäßigung war im Gegenteil die Devise der deutschen Jakobiner, wie nicht zuletzt an Cottas Bearbeitung von Boissels Entretiens du père Gérard zeigt: Aus einer gegen das Privateigentum gerichteten Schrift machte Cotta einen Katechismus, der Sozialkritik durch Arbeitsethos ersetzt hat.95 Die deutschen Jakobiner stehen damit einerseits im Traditionszusammenhang aufgeklärter Reformversuche und Gesellschaftskritik, die nunmehr in Einsichten und Akzentuierungen freilich radikaler geworden ist. Die Kritik bleibt aber theoretisch, die Distanz zum ‚Pöbel‘ der Städte und zu den Bauern wird nur in Ausnahmefällen überwunden. „Es ist aber kein Fall feststellbar, in dem sich ein Demokrat der Gebildetenschicht an die Spitze der unzufriedenen Massen stellte“.96 Insoweit kann man mit Recht den deutschen Jakobinismus als logische Verschärfung bestimmter Positionen der Aufklärung bezeichnen,97 deren konservative Vertreter die sozialen Kosten gesellschaftlicher Modernisierung ja oft ebenso scharf gesehen haben.98 In ihrer glatten Leugnung der „erworbenen Rechte“ von Adel und Klerus gingen die Jakobiner aber andererseits entschieden über die Grenzen hinaus, die vor und nach ihrer Zeit von jener Kraft abgesteckt worden sind, die in Deutschland die Bauernbefreiung 93 Das gleichzeitig auch noch „von physiokratischen Ideen beeinflußt“ sein soll! Engels (wie Anm. 66), S. 178. 94 Grab, Norddeutsche Jakobiner (wie Anm. 76), S. 68. Zwar wundert sich Grab, dass zugleich die Zunftfreiheit verlangt wurde, sucht aber dann nachzuweisen, dass Meyer die Schriften der Babouvisten gekannt haben könnte! 95 „Derjenige Mensch, welcher arbeitet, ist freier, unabhängiger als der, welcher ihm zu arbeiten gibt, denn der Reiche braucht den Arm des Arbeiters, aber der Arbeiter braucht nur die Bezahlung des Reichen, dieser darf s­ olche dem Arbeiter nicht vorenthalten“; Friedrich Cotta, Handwerker- und Bauernkalender des alten Vaters Gerhard [Mainz 1793]. In: Claus Träger (Hg.), Mainz z­ wischen Rot und Schwarz. Die Mainzer Revolution 1792 – 1793 in Schriften, Reden und Briefen, Berlin (DDR) 1963, S. 421. 96 Grab, Demokratische Strömungen (wie Anm. 5), S. 250 f. 97 Elisabeth Fehrenbach, Deutschland und die Französische Revolution. In: Hans-­Ulrich Wehler (Hg.), 200 Jahre amerikanische Revolution und moderne Revolutionsforschung, Göttingen 1976, S. 240. Die materialistische Geschichtsschreibung vertritt ohnedies seit jeher die These von der Revolution als Fortsetzung der Aufklärung. Vgl. dazu etwa Heinrich Scheel, Die Begegnung deutscher Aufklärer mit der Revolution, Berlin (DDR) 1973. 98 So tadelte etwa der Königsberger Gerichtspräsident Morgenbesser die französischen Jakobiner, dass sie den Eigentumsbegriff nicht abgeschafft haben; Valjavec, Die Entstehung (wie Anm. 4), S. 213. Als Beleg für die Bereitschaft zu radikaler Reform in der Spätaufklärung sei Schlözer zitiert: „Gleichheit ist ein menschliches Urrecht. Erbrecht schlägt ihr eine tödliche Wunde. […] Nur sorge künftig der Staat dafür, das Erbrecht (nur ein positives Recht) dem ersteren (einem Urrechte) behörig zu subordinieren. Dann verschwinden Fideikommisse und Klostereigentum: dann wird die Zerteilung großer Güter nicht nur erlaubt, sondern auch das Zusammenfallen allzuvieler Grundstücke gehemmt werden“. August Ludwig v. Schlözer, Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre [Göttingen 1793]. Zit. ebd., S. 212, Anm. 26.

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ersonnen und durchgesetzt hat: der Beamtenschaft.99 Der jakobinische Lösungsvorschlag zum Komplex bäuerlicher Emanzipation entsprang dem dezidiert antifeudalen Selbstbewusstsein einer intellektuellen Elite. Ökonomisches Kalkül hatte für diese Konzeption keine Rolle gespielt (der deutsche Jakobinismus verfügte über keinen einzigen Kenner dieser Materie), denn nirgends wurde die Perspektive einer modernisierten, kapitalistisch betriebenen Landwirtschaft entworfen. Es fehlt nicht nur jeder Hinweis auf das Erbübel der deutschen Agrarverfassung, den tiefen Stand der Landeskultur, um deren Verbesserung die meisten Staaten seit etlichen Jahrzehnten bemüht waren, sondern man hat im Gegenteil den Eindruck, dass eine Republik selbstgenügsamer Grundbesitzer das Ideal war. Der Bauer in Clauers Sendschreiben rief dem Aristokraten zu: „Ich bedarf nur einen kleinen Winkel. Von einer Furche habe ich genug. Dies kleine Feldstück will ich mir selber bauen […], dann wird auch die Ernte mein eigen sein“.100 Auch jener oberdeutsche Verfassungsplaner zielte mit seiner Stärkung des Kleinbesitzes, an dem sogar die Handwerker partizipieren sollten, nicht auf einen expandierenden Agrarsektor. Zumindest für den deutschen Jakobinismus trifft damit die von den Zeitgenossen vehement beklagte Eigentumsfeindlichkeit der Revolution mit dem Höhepunkt der Herrschaft des Konvents, dessen Maßnahmen der Einführung eines „Ackergesetzes“ mit allgemeiner Gleichheit gedient haben sollen, nicht zu.101 Vielmehr entstammen alle damals in Deutschland unterbreiteten Vorschläge zur Umverteilung des Bodens, sofern sie nicht als bloß utopische Entwürfe gedacht waren,102 konservativen Federn. Reichsgraf Soden, fränkischer Gutsbesitzer und Nationalökonom, kritisierte in äußerst scharfen Tönen die herrschende Bodenverteilung und den Feudaladel, weil beide die täglich wachsende Armut steigerten. „Vergebens ist also alles Streben der Völker nach wahrer Freiheit, solange nicht der Ungleichheit des Grundeigentums durch ein weises

99 Vgl. Christof Dipper, Die Bauernbefreiung in Deutschland, Stuttgart 1980, Kap. 1. 100 Clauer, Sendschreiben (wie Anm. 66), S. 186. 101 Dafür spricht beispielsweise das geringe Echo der babouvistischen Verschwörung in Deutschland. Vgl. Walter Markov, Babeuf in Deutschland. In: Werner Bahner (Hg), Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. Werner Krauss zum 60. Geburtstag. Festgabe von seinen Leipziger Kollegen und Schülern, Berlin (DDR) 1961, S. 61 – 77. 102 Beispiele dafür sind [Carl Wilhelm Frölich], Über den Menschen und seine Verhältnisse ­[Berlin 1792], neu hg. v. Georg Steiner, Berlin (DDR ) 1960 (Forster schrieb dazu: „Einiges […] ist meiner Ansicht fremd, besonders seine politischen Ideen von Gemeinschaft des Eigentums“; an Therese Forster aus Paris, 19. 7. 1793; in: Ders., Werke in 4 Bänden, hg. v. Georg Steiner, Bd. 4, Frankfurt/M. 1970, S. 881. Auch in den „Parisischen Umrissen“ nannte Forster das „Ackergesetz […] eine wilde Barbarei“. Ebd., S. 752). Franz Heinrich ­Ziegenhagen, Lehre vom richtigen Verhältnisse zu den Schöpfungswerken …, Hamburg 1792. Franz ­Hebenstreit, Homo hominibus [1792] (wie Anm. 83). Georg Friedrich Rebmann, Hans Kiekindiwelts Reisen in alle vier Weltteile und den Mond [Leipzig 1794], hg. v. Hedwig Voegt, Berlin (DDR ). Ders., Holland und Frankreich, in Briefen geschrieben auf einer Reise … [Paris, Köln o. J. (1797)]. Ebd.

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agrarisches Gesetz unübersteigbare Grenzen gesetzt sind“.103 Allerdings ging es ihm nicht darum, „das dermalige Eigentum in gleichere Teile zu zerschneiden, […] denn das wäre Raub“. Vielmehr müsse durch eine Vielzahl gesetzlicher Maßnahmen die weitere Zunahme übermäßiger Besitzunterschiede verhindert und „die Verminderung dieser Ungleichheit für die Zukunft begünstigt“ werden.104 Soden war nicht der einzige, der mit Hilfe eines „Ackergesetzes“ einer drohenden Revolution entgegenwirken wollte. Die aufkommende Diskussion der Modalitäten einer Bauernbefreiung weckte ebenfalls das Interesse für die altrömischen Besitzverhältnisse und Ackergesetze.105 Von dauerhaftem Einfluss war hier Niebuhr. Er verfasste 1803, von seinem Kieler Lehrer Hegewisch dazu angeregt, eine Geschichte der römischen Staatsländereien, in der er „den ungerechten Besitz“ der patrizischen „Söldlinge des Despotismus“ geißelte 106 und dafür plädierte, den englischen und irischen Bauern das ihnen vom Adel geraubte Land zurückzugeben. Mit unüberhörbaren Seitenhieben auf die Gegenwart hat der nachmalige Berater Steins und ­Vinckes dann in seiner vielgelesenen Römischen Geschichte die Geschichte der Republik als „Zerstörung des Bauernstands“ gedeutet, der der „Predigt vom Mehrertrag der großen Wirtschaften“ zum Opfer gefallen sei.107 Während Niebuhr sich erst nach diesen Feststellungen als preußischer Gesandter in Rom in seinen Vorbehalten gegen den Großgrundbesitz bestätigt sah,108 hatte Arndt schon 1798/99 auf seiner Italienreise

103 Josef Reichgraf von Soden, Das agrarische Gesetz. Beweiß der Nothwendigkeit eines Acker­ gesetzes zu Verhütung der Staatsumwälzungen, Augsburg 1797, S. 14. 104 Ebd., S. 28 f. 105 In Bayern nannte Graf Arco 1809 den Feuerbachschen Entwurf eines auf dem Code Napoléon basierenden Gesetzbuchs eine „lex agraria“; zit. Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974, S. 141. Auch der Königsberger Nationalökonom Hagen bezeichnete die in Preußen im Zuge des Regulierungsedikts 1811 verordnete Landabtretung der Bauern an ihre Gutsherrn als ein „sogenanntes Ackergesetz“, das er als widersinnig ablehnte; Konrad Heinrich Hagen, Über das Ackergesetz und die Anwendung desselben, Königsberg 1814, S. 12. Hingegen waren die Befürworter einer Bauernbefreiung sehr darum bemüht, die altrömischen Ackergesetze wissenschaftlich zu rehabilitieren. Siehe Christian Gottlob Heyne, Leges agrariae, pestiferae et execrabiles. In: Neues Magazin für Schullehrer 2 (1794), S. 269. Dietrich Hermann Hegewisch, Geschichte der Gracchischen Unruhen in der Römischen Republik, Hamburg 1801, S. 3. 106 Zit. Seppo Rytkönen, Barthold Georg Niebuhr als Politiker und Historiker, Helsinki 1968, S. 123. Niebuhr hatte schon 1794 gegenüber Kieler Professoren „die Aufteilung der Ländereien oder ein Ackergesetz“ zur Sprache gebracht; Brief vom 9. 11. 1794. In: Dietrich Gerhard / William Norvin (Hg.), Die Briefe Barthold Georg Niebuhrs, Bd. 1, Berlin 1926, S. 62. 107 Barthold Georg Niebuhr, Römische Geschichte, Zweyter Theil, Berlin 1812, S. 369, 368. N ­ iebuhr schloss: „Glücklich der Staat, wo durch ein licinisches Gesetz die Herstellung einer Nation freier Landleute gesetzmäßig möglich war!“ Ebd., S. 402. 108 „Ich kenne den Landbau in Italien wohl, ich habe mir viel Mühe gegeben, mit allerlei Grundeigentümern bekannt zu werden, namentlich mit den größeren unter ihnen, die den Ackerbau sehr gut verstehen. Diese treiben die Landwirtschaft vortrefflich, sind aber Verderber des Landes;

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die von der außerordentlichen Bodenakkumulation in den Händen einer Minderheit verursachten Schäden beobachten können.109 In Verbindung mit den schlechten Erfahrungen in seiner pommerschen Heimat ergab sich daraus bei dem Sohn eines Leibeigenen die Auffassung, „daß zum rechten Bestand und Wohlsein auch der neuen Staaten Ackergesetze notwendig sind“.110 Aus den Krondomänen (sie nahmen in Preußen damals ungefähr 4,5 % der landwirtschaftlichen Betriebsfläche ein) wollte er die nötigen Reserven entnehmen, „daß zwei Drittel aller Grundstücke immer von Bauern als freiherrlich Eigentum bewohnt würden“. Nur mit Hilfe einer die herrschende Rechtsauffassung über den Grundbesitz radikal bekämpfenden lex agraria lasse sich „ein fester, bleibender Zustand, ein sicheres und allen beliebtes Verhältnis der verschiedenen Stände und ein Kern des Volkes für alle Zeiten einrichten“.111 Die Beispiele ließen sich fortsetzen, insbesondere durch Belege von Romantikern, deren radikale Kritik des modernen Eigentumsbegriffs den Tadel der konservativen Verteidiger der „rationellen Landwirtschaft“, wie man damals die fortschrittliche Wirtschaftsweise nannte, auf sich zog. Gentz kritisierte deswegen Adam Müller, von der herrschenden Besitzverfassung könne „kein Jakobiner verächtlicher sprechen“.112 Die Hinweise mögen aber bereits genügen, um die zunächst paradox erscheinende Verwandtschaft ­zwischen den Argumentationen deutscher Konservativer und radikaler italienischer Jakobiner zu erkennen. Wo Arndt gegen „die neue oder die französische Bauernfreiheit“ polemisiert, die das Land „dem Würfelspiele des Zufalls preisgibt“,113 da unterstreicht ein Mailänder Patriot, wie sehr „la ricchezza si usurpa la libertà de’ poveri, la potenza quella de’ deboli, la nobiltà, la briganteria quella de’ semplici, e de’ plebei“.114 In beiden Fällen ging es darum, das Ziel der Befreiung der Landbevölkerung nicht mit der vollständigen Befreiung des Bodens zu verbinden; die persönliche Freiheit sollte nicht mit neuer ökonomischer Abhängigkeit erkauft werden. dagegen die armen Bauern habe ich wirklich lieb“; zit. Adolf Trende, Barthold Georg Niebuhr, ein Leben für das Bauerntum. In: Odal 8 (1939), S. 815. 109 Ernst Moritz Arndt, Bruchstücke aus einer Reise durch einen Theil Italiens im Herbst und Winter 1798 und 1799, Leipzig 1801. 110 Ders., Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland [1814]. In: Ders., Agrarpolitische Schriften, hg. v. Walter Tersteegen, Goslar 21942, S. 279. Erstmals ist diese Auffassung bei Arndt schon im Jahre 1810 zu belegen. 111 Brief an Dietrich Hermann Hegewisch, 1. 5. 1817. Ebd., S. 433. 112 Brief vom 18. 10. 1820; Jakob Baxa (Hg.), Adam Müllers Lebenszeugnisse, Bd. 2, München, Paderborn, Wien 1966, S. 391. Allgemein dazu Hans Kalls, Die soziale Frage in der Romantik, Köln, Bonn 1974, S. 290 ff. 113 Ernst Moritz Arndt, Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und der Bauern im Sinne einer höheren, d. h. menschlichen Gesetzgebung [1816]. In: Ders., Agrarpolitische Schriften (wie Anm. 110), S. 412. 114 „Der Reichtum bemächtigt sich der Freiheit der Armen, die Macht jener der Schwachen, Adel und Verbrecherbanden jener der kleinen Leute“. Daniele Mainardi, Querele di un patriota contro li riprovatori del „Tribuno del popolo“ [Aug. 1797]. In: De Felice (Hg.), Giornali (wie Anm. 10), S. 349.

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Eigentumskritik als vormoderner Antikapitalismus Hinter dieser gemeinsamen Sorge stand das Bewusstsein, Zeuge eines bis dahin beispiellosen Prozesses zu sein, den man summarisch als Modernisierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft umschreiben kann. Eine rasch wachsende Bevölkerung, ein seine Zuständigkeiten permanent erweiternder Staat, eine von mannigfachen Erschütterungen verunsicherte Elite sowie schließlich eine die dörfliche Autonomie und das traditionelle Gleichgewicht zunehmend einschränkende Intensivierung der Landwirtschaft hatte mannigfache Krisensymptome ausgelöst, die in Frankreich letzten Endes die Revolution mit ausgelöst hatten. In Deutschland und Italien ist es aus vielerlei Gründen dazu nicht gekommen, wobei die Stabilität der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur in Deutschland und das Fehlen einer organisierten bäuerlichen Gesellschaft in Italien eine wesentliche Rolle gespielt haben. Dennoch waren auch hier die Folgen eines mit Hilfe von Gemeinheitsteilungen, Verkoppelungen, verbesserten Anbaumethoden und Investitionen zum Teil erheblicher Kapitalsummen sich modernisierenden Agrarsektors nicht zu übersehen, die in Italien bereits kurz nach der Jahrhundertmitte, in Deutschland erst um 1800 zu beobachten waren. Diese Entwicklung versuchten zwei Gruppen in unkoordinierten Aktionen aufzuhalten: Teile der ländlichen Gesellschaft durch sporadische Ausbrüche aktiven Widerstandes, der in Italien vom Beginn der Reformära bis weit in den geeinten Nationalstaat reichte, in Deutschland wegen der rascheren Industrialisierung jedoch nur von 1790 bis 1848 dauerte – und daneben eine stattliche Reihe von Literaten meist kleinbürgerlicher Herkunft, die in ihren Werken den allgemeinen Fortschritt mit antizivilisatorischem Radikalismus bekämpften und das Bild einer reaktionär-­revolutionären Utopie mit deutlicher Eigentumsfeindlichkeit zeichneten. Erweitert man etwas die räumliche Perspektive, so wird der Zusammenhang von Modernisierung und reaktionär-­revolutionärer Widerstandshaltung und Sozialkritik eher deutlich. Am frühesten trat diese Kombination in England zutage, wo sich der Landwirtschaftssektor schon seit ca. 1500 fundamental zu wandeln begann. Auf dem Höhepunkt der Krise, d. h. ab 1645, wurde das Land nicht nur von einer Woge eigentumsfeindlicher Pamphlete überschwemmt, sondern die Protestbewegung endete schließlich in christlich-­kommunistisch inspirierten Ansiedlungsversuchen der von Winstanley angeführten Diggers.115 Ein Jahrhundert ­später, als in Frankreich ein ähnlicher, nur ungleich schnellerer Entwicklungsvorgang einsetzte, zerbrachen die Reste des Ancien Régime unter dem Ansturm revoltierender, antimodernistisch eingestellter Bauernhaufen, die eine zögernde politische Elite zur Legalisierung ihrer antifeudalen Aktionen zwangen und eine weitere Modernisierung der Agrarwirtschaft für lange Zeit verhinderten. Schon Jahrzehnte vorher war die sich abzeichnende neue Eigentumsordung 115 Aus der Fülle der Literatur sei nur verwiesen auf Gerrard Winstanley, The Law of Freedom, ed. by Christopher Hill, London 1973. Ferner Christopher Hill, The World Turned Upside Down. Radical Ideas During the English Revolution, New York 21973.

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von zahllosen Schriftstellern bekämpft worden, denen ein antiindividualistischer, an den tradierten Wirtschaftsethiken ausgerichteter Ton gemeinsam war.116 Im Zuge der Revolution wurde verschiedentlich, zuletzt von Buonarroti und Babeuf, versucht, die Gesellschaft des Klassenkampfs durch die ‚Wiederherstellung‘ des Zustands sozialer Harmonie gewaltsam zu ersetzen. Die Todesstrafe, mit der die bloße Erörterung der loi agraire seit 1793 geahndet wurde, belegt deutlicher als vieles andere, mit w ­ elchen Widerständen die neue bürgerliche Ordnung zu rechnen hatte. Die eigentumskritischen Theorien und die bäuerlichen Widerstandsaktionen in Italien und Deutschland, die hier nicht noch einmal wiederholt zu werden brauchen, fügen sich in d ­ ieses Wechselspiel von Modernisierung und revolutionär sich gebärdender Reaktion ein. Es ist unter Historikern eine verbreitete Übung, diesen antikapitalistischen Widerstand in die Kategorien von ‚rechts‘ und ‚links‘ aufzuspalten und letztere kurzerhand dem Frühsozialismus zuzuschlagen. Dadurch erhalten die Gesellschaftskritiken jener Zeit einen fortschrittlichen Anstrich, der bei genauerem Hinsehen jedoch problematisch erscheint. Bereits Lorenz von Stein hat 1842 darauf hingewiesen, dass erst in einer kapitalistischen Gesellschaft mit modernem Proletariat von „Sozialismus“ die Rede sein könne.117 Die hier vorgeführten agrarpolitischen Ansichten deutscher Konservativer und italienischer Jakobiner bestätigen Steins These umso deutlicher, als die Eigentumskritik in beiden Ländern, obgleich in der Sache identisch, von gegensätzlichen weltanschaulichen Positionen aus vertreten worden ist. Hier wie dort ist das gesellschaftspolitische Ziel aber ein Staat von Kleinlandwirten, denen durch die institutionelle Garantie ihres Existenzrechts die Sorge vor der Verelendung genommen ist – freilich um den Preis einer im freien Wettbewerb sich durchsetzenden Chance zur Profitsteigerung. ­Hebenstreit etwa glaubte, dass nach Herstellung von Gemeineigentum „jeder Mensch sicher seie, mit mäßiger Anstrengung seiner Kräfte immer für alle Not geborgen zu sein“. Arndt hielt die „Freilassung aller Dinge und Verhältnisse [für] fast ebenso heillos, als die frühere Gebundenheit und Leibeigenschaft“. Russo setzte als Grenze des Landbesitzes „il soddisfacimento del bisogno“ fest.118 116 Ältere, aber unentbehrliche Übersichten bei Armand Lichtenberger, Le socialisme du XVIIIe siècle [1895], Ndr. Genf 1970, und Friedrich Wolters, Studien über Agrarzustände und Agrarprobleme in Frankreich von 1700 bis 1790, Leipzig 1905. Neuere vorzügliche Analysen bei Hans-­Ulrich Thamer, Revolution und Reaktion in der französischen Sozialkritik des 18. Jahrhunderts. Linguet, Mably, Babeuf, Frankfurt/M. 1973, sowie bei Furio Diaz, Filosofia e politica nel Settecento francese, Turin 21962. Die materialistische Geschichtsschreibung umgeht in aller Regel die Urteile von Georges Lefebvre, der von partageux, nicht communistes sprach und der den altertümlichen Charakter von Babeufs Agrarkommunismus unterstrichen hat; Georges Lefebvre, Où il est question de Babeuf [1936]. Jetzt in: Ders., Études sur la Révolution française, Paris 21963, S. 410 f. 117 Lorenz Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs, Leipzig 1842. 118 Franz Hebenstreit, Verhörprotokoll. In: Körner, Wiener Jakobiner (wie Anm. 78), S. 132. Arndt, Brief (wie Anm. 111). Russo sprach von der „Befriedigung des Nötigen“ in: Pensieri politici (wie Anm. 44), S. 294.

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Revolution und Reaktion im Jakobinismus

In ­diesem Ideal einer heureuse médiocrité kommt ohne Zweifel die „Orientierung an einer untergehenden Welt“119 zum Vorschein, die bereits hellsichtigen Zeitgenossen aufgefallen ist. So kommentierte der Polizeispitzel Degen Hebenstreits Gedicht mit dem Hinweis auf dessen Vorbilder in zurückliegenden Jahrhunderten: „Es ist überhaupt eine etwas merkwürdige Erscheinung, am Ende des 18. Jahrhunderts einen literarischen Schnurrbart im Tone eines Johannes von Leyden und Thomas Müntzer auftreten zu sehen“.120 Nicht der Produktion war alle Aufmerksamkeit gewidmet, sondern die Konsumtion sollte möglichst gerecht verteilt werden. Einer solchen, gleichsam statischen Wirtschaftsgesinnung, die gemeinhin als moral economy bezeichnet wird, war jegliche Entwicklungsperspektive in Richtung Industrie und kapitalistischer Agrarreform verschlossen, ja sie stand ihr explizit feindlich gegenüber. Insofern handelt es sich hier um einen vormodernen Antikapitalismus, auch wenn Einzelheiten durchaus moderne Kennzeichen aufweisen.121 Hier wurde für soziale Schichten gekämpft, die unausweichlich vom Verschwinden bedroht waren. Von L’Aurora und Russo führt ebensowenig ein direkter Weg zu Marx wie von ­Hebenstreit und Arndt. Wo bleibt also das spezifisch Jakobinische in der agrarpolitischen Programmatik? Zunächst ist festzustellen, dass die Vorstellungen in beiden Ländern den jeweiligen regionalen Besonderheiten entsprachen oder ihnen doch zumindest gerecht zu werden versuchten. Trotzdem lassen sich die Zielsetzungen auf einen relativ einheitlichen Kanon politischer Grundsätze zurückführen, unter denen Antiaristokratismus, Antikurialismus und sozialpolitisches Engagement hervorragen. Gleichzeitig zeigte sich, dass die Programme überraschend stark in der Tradition aufgeklärter Reformversuche standen, sofern nicht die Gesellschaftsordnung gänzlich umgestoßen werden sollte. Auch die egalitaristischen, eigentumsfeindlichen Konzeptionen sind im engen Zusammenhang mit dem Stand der landwirtschaftlichen Entwicklung und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Differenzierungsprozess zu sehen, so dass – wie der Vergleich mit England und Frankreich zeigte – die Tatsache, dass in Italien der Antikapitalismus von Jakobinern vertreten wurde, eher ein chronologischer Zufall war; in Deutschland, wo die entsprechenden Vorgänge erst zwei Jahrzehnte ­später ansatzweise bemerkt worden sind, fiel die Rolle des vormodernen Antikapitalismus den Vertretern von Reaktion und Romantik zu. Fügt man ­diesem facettenreichen

119 Thamer, Revolution und Reaktion (wie Anm. 116), S. 191. 120 Zit. Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781 – 1795, Frankfurt/M. 1977, S. 416. 121 Vgl. dazu Reinhard Bendix, Modernisierung und soziale Ungleichheit. In: Wolfram Fischer (Hg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin 1968, S. 179 – 246. Ernst Hanisch, Der „vormoderne“ Antikapitalismus der Politischen Romantik. Das Beispiel Adam Müller. In: Richard Brinkmann (Hg.), Romantik in Deutschland. Ein interdiszi­ plinäres Symposion, Stuttgart 1978, S. 132 – 146.

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Bild noch Aussagen über Handel und Gewerbe an, wo der Bogen vom Freihandel über Protektionismus und Verteidigung der Zünfte bis zum schlichten Antiindustrialismus reicht, so wachsen die Bedenken nur noch mehr, die Jakobinerbewegungen außerhalb Frankreichs auch, wenn nicht gar vornehmlich, von ihren wirtschaftstheoretischen Zielsetzungen her zu erfassen und zu definieren, wie dies seit den ersten konterrevolutionären ‚Deutungsversuchen‘ Burkes und Barruels üblich ist. Weitaus uniformer waren dagegen ihre verfassungspolitischen Grundsätze und ihr, oftmals delikates, Verhältnis zur französischen Schutzmacht. So wird man den ‚abgeleiteten‘ Jakobinismen Deutschlands und Italiens eher gerecht, wenn man sie in erster Linie als politische Opposition einer frühreifen und darum umso unpopuläreren geistigen Elite zum monarchischen Absolutismus deutet.

Deutscher und italienischer Adelsliberalismus Adel und Liberalismus ist eine Kombination, die in den verschiedenen Ländern Europas ganz unterschiedliche Assoziationen erfährt. Aus dem englischen Geschichtsbild ist sie nicht wegzudenken, denn in der Gestalt des Whig hat der Adelsliberalismus seine geradezu klassische Gestalt angenommen. Hinsichtlich sozialem Status, politischen Leistungen und folglich auch Selbstverständnis kommen ihm ober- und mittelitalienische Grundbesitzer, ungarische Aristokraten und polnische Magnaten am nächsten, auch wenn sich ihr Wirken, vom italienischen Beispiel abgesehen, auf mehr oder weniger kurzlebige Reformbewegungen beschränkt hat. Grenzfälle bilden die Separation Belgiens vom niederländischen Königreich unter wesentlicher Beteiligung liberaler Grundbesitzer und mehr noch das früheste Beispiel, das gegen Napoleon kämpfende Spanien, dessen Wortführer zugleich ihre Vorbehalte gegen den Absolutismus der exilierten Dynastie der Bourbonen in die berühmte Verfassung von Cádiz gossen. Denn in diesen Fällen kann die Geschichtswissenschaft eher mit Adligen liberaler Denkungsart aufwarten, die in der politischen Krise an entscheidender Stelle standen, als mit einer mehr oder minder ausgeprägten Bewegung, die dem adeligen Liberalismus zu einer gewissen Dauer verhalf. Was alle diese Beispiele vom deutschen Gegenstück unterscheidet, ist ihr unangefochtener Platz in den Geschichtsbüchern. Im deutschen Geschichtsbild sind dagegen Liberalismus und bürgerliche Bewegung so fest zusammengefügt, dass bislang alle Versuche von Fachleuten, daran ein Fragezeichen anzubringen, als gescheitert betrachtet werden müssen. Das Scheitern hat natürlich seine Gründe. Zu sehr stehen dieser Einsicht sowohl das Selbstbild des deutschen Adels als auch die politischen Erfahrungen des Landes im Wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik entgegen, ist doch in beiden Fällen das katastrophale Ende ganz wesentlich vom preußischen Adel mitverschuldet worden. Der deutsche Adelsliberalismus hatte allerdings mit diesen Epochen nichts zu tun, seine Zeit war damals längst abgelaufen. Politisch bewirkt hat er aber auch vorher so gut wie nichts. Das eben unterscheidet ihn fundamental von den anderen Beispielen aus dem Europa des 19. Jahrhunderts. Warum sollte man ihn also mit jenen vergleichen? Warum gar ausgerechnet mit dem italienischen Fall? Dagegen spricht nicht nur seine dürftige Hinterlassenschaft auf der politischen Ebene, sondern auch – kein nebensächlicher Einwand in Zeiten, die der Erfahrungsseite der Geschichte einen prominenten Platz einräumen –, der Umstand, dass die jeweilige andere Nation politisch keine Referenzgröße darstellte, dass also zeitgenössische Urteile zu unserem Thema kaum vorliegen. Italien suchten die adeligen Liberalen wie alle gebildeten Deutschen ‚mit der Seele‘, politisch blieb ihnen der junge Nationalstaat wegen seiner revolutionären Geburtshilfe, d. h. wegen seines Sieges über Habsburg,

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den Papst und die italienischen Monarchen unheimlich.1 Das galt umgekehrt auch für liberale Italiener, die der Paulskirche ihre großdeutschen Ambitionen verübelten und für die das damalige Deutschland das schlimmste Beispiel repressiver Politik verkörperte.2 Bis das geeinte Deutschland auf einigen Gebieten zum Vorbild wurde, sollten noch Jahrzehnte vergehen.3 Wenn es um politische Vorbilder ging, blickten Deutsche wie Italiener natürlich nach England, wo die Whigs nach wechselvoller Geschichte dank ihrer Reformbereitschaft ­zwischen 1830 und 1884, also auf dem Höhepunkt des Industrialisierungsprozesses, sogar eine „erweiterte Adelsherrschaft“4 etablieren konnten, die danach in einer bis 1911 im Oberhaus unangefochtenen Vormacht­stellung der Aristokratie ein nur sehr allmähliches Ende fand. Wenn hier trotzdem ein Vergleich versucht wird, so steht er zum einen natürlich in der langen Tradition deutsch-­italienischer Komparatistik, die freilich nur zu oft vorschnelle Parallelen sehen will, zumal in der politischen Ereignisgeschichte. Um dem zu entgehen, wird hier – das ist der andere Grund – ein Bezugsrahmen herangezogen, der den Vergleich geradezu herausfordert, ohne ihn aber in das Prokrustesbett des traditionellen Geschichtsbilds zu zwingen. Dieser Bezugsrahmen ist die Geschichte der Moderne. Von ihr wurden alle Gesellschaften Europas erfasst, freilich auf unterschiedliche Weise, und eben das macht den Vergleich so interessant. Adel und Moderne In der Vormoderne bestand das Wesen adeliger Existenz in der „Herrschaft über Land und Leute“ (Otto Brunner), und zwar aus eigenem Recht, mögen auch fallweise andere Ursprungsgründe gegeben bzw. behauptet worden sein.5 So gesehen lässt sich die Moderne – gerade aus adliger Perspektive – politisch als ein Bündel säkularer Vorgänge begreifen, die diese überlieferte Herrschaft einschließlich ihrer wirtschaftlichen Grundlage erst zu Privilegien umdeuteten, dann eben deswegen angriffen und schließlich im Laufe des 19. Jahrhunderts beseitigten. Das vollzog sich schubweise und mit je nach den Gegebenheiten unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität, aber die verfassungsgeschichtlich oft als Prozess innerer oder eben moderner Staatsbildung 1 Vgl. Christof Dipper, Revolution und Risorgimento. Italien 1848/49 aus deutscher Perspektive, in ­diesem Band S. 87 – 102. 2 Dazu Gabriele B. Clemens, Deutsche Italienbilder zur Zeit der Nationalstaatsbewegung. In: Norbert Franz / Jean-­Paul Lehners (Hg.), Nationenbildung und Demokratie. Europäische Entwicklungen gesellschaftlicher Partizipation, Frankfurt/M. 2013, S. 63 – 81. 3 Dies betraf in erster Linie die Rechtswissenschaft und die Organisation der Wissenschaft in der Universität. 4 Hans-­Christoph Schröder, Englische Geschichte, München 42003, S. 51 (Überschrift von Kap. 6). 5 Das gilt zweifellos nur cum grano salis. Andere Formen adliger Existenz bleiben hier jedoch ausgeblendet, weil Adelsliberalismus in beiden Ländern von Grundbesitzern getragen wurde.

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bezeichnete Entwicklung bewegte sich europaweit in ähnliche Richtung. Die Unterschiede sind einesteils die Folgen früherer Entwicklungsmerkmale, also Pfadabhängigkeiten, andernteils unterschiedlicher Wertordnungen, Konfliktlagen und daraus resultierender Steuerungsmöglichkeiten, die man zusammenfassend als Ordnungsmuster bezeichnen kann. Dieses Geflecht aus Basisprozessen und Ordnungsmustern entwickelte sich in dem, was man vereinfachend als Italien und Deutschland zu bezeichnen pflegt, im 19. Jahrhundert bei aller Parallelität bekanntlich recht verschieden, auch wenn am Ende beide Male der neugegründete Nationalstaat auf konstitutioneller und privatkapitalistischer Grundlage stand. Für unser Thema sind jedoch die nachmaligen Nationalstaaten die falsche Perspektive. Adel ist überall regional unterschieden, und deshalb kommen hier nur ­solche historischen Regionen in Betracht, die einen Adelsliberalismus hervorgebracht haben. Auf der Apenninenhalbinsel sind das nicht zufällig die bis ins 18. Jahrhundert vom einheimischen Adel überwiegend patrizischer Herkunft unter der Oberhoheit sogenannter landfremder Dynastien regierte Toskana und Lombardei, die vom verfallenden Venedig kaum modernisierte Terraferma sowie die hier nicht weiter berücksichtigten, von Kardinallegaten regierten päpstlichen Gebiete, insbesondere die Emilia und Romagna. Die dort vom Adel seit dem späten 18. Jahrhundert gemachten politischen Erfahrungen spielten für die Ordnungsmuster der nächsten und übernächsten Generation eine wesentliche Rolle und müssen daher weiter unten kurz benannt werden. In Deutschland kam ebenfalls nur ein überdurchschnittlich wohlhabender Adel für liberale Politik in Frage. Ihn gab es einesteils in den ostelbischen Provinzen Preußen und ­später Schlesien, andernteils in Gestalt einiger Standesherren, also in napoleonischer Zeit um ihre landesherrliche Stellung gebrachte Angehörige des Hochadels, die nach 1945 respektvoll als „deutsche Whigs“6 bezeichnet wurden und sich auch selber gerne so sahen – ob zu Recht, wird weiter unten diskutiert. Erhebliche Unterschiede weist auch der Weg in die wirtschaftliche Moderne auf, denn der hier in Betracht kommende Teil Italiens kannte schon lange keine feudalen Bindungen mehr. Im späten 18. Jahrhundert erzwangen die Reformregierungen dann auch das Ende der praktisch seit römischen Zeiten üblichen Annonarwirtschaft, die einem freien Getreidemarkt entgegenstand. Von da an unterlagen die Betriebsformen fast nur noch den wirtschaftlichen Zielvorstellungen der Grundbesitzer, die davon auch 6 Mit ­diesem Begriff verbindet sich heute der Name Gollwitzer. Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815 – 1918. Ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte, Göttingen 21964, S. 163 – 167. Gollwitzer übernahm ihn von Oncken, der 1914 eine Reihe von Miszellen unter d ­ iesem Titel zusammenfasste. Oncken meinte aber eine andere Personengruppe, die nicht einmal durchgängig adlig war, nämlich „jene liberale Oberschicht, die mit fürstlichen Kreisen in Fühlung stand“; Hermann Oncken, Aus dem Lager der deutschen Whigs. In: Ders., Historisch-­politische Aufsätze und Reden, Bd. 2, München, Berlin 1914, S. 265. Nicht zuletzt im Hinblick auf das politische Verhalten dieser „liberalen Oberschicht“ neigt man zu dem Urteil, dass Gollwitzer den Begriff zu Unrecht auf seine liberalen Standesherren übertrug. Er hat sich aber eingebürgert.

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immer öfter Gebrauch machten und vor allem in der Poebene moderne Betriebsformen einführten, was die Bewunderung der europäischen Fachwelt in zunehmendem Maße erregte. Weniger Aufmerksamkeit erregte die Modernisierung der Landwirtschaft in Ostelbien, dem Kerngebiet des Adelsliberalismus, obgleich ihre Leistungssteigerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viel spektakulärer war. Vergleichbar war dagegen das Nebeneinander adliger und bürgerlicher Gutsbesitzer – in West- und Ostpreußen waren letztere gar in der Überzahl – und die ständisch bedingte unterschiedliche Wirtschaftsgesinnung: Selbstwirtschaftende und unternehmerisch handelnde adelige Eigentümer waren nördlich wie südlich der Alpen eher die Ausnahme. Der entscheidende Unterschied lag, abgesehen vom Verhältnis zur Krone, aber im politisch-­administrativen Bereich. Auch nach der Bauernbefreiung ließ die preußische Regierung an der Herrschaftsqualität der Rittergüter nicht rütteln, was Ostelbien bis zum Ende des ­Ersten Weltkriegs ein ganz eigenes, reaktionär-­freiheitsfeindliches Gepräge gab. Die Anfänge des modernen Staates: Mittel- und Oberitalien Eines der grundlegenden politischen Ordnungsmuster und beliebte Selbstbeschreibung im präunitarischen Italien ist die Formel vom Land der „hundert Städte“. Der Mailänder Publizist Cattaneo hat sie, Sismondis monumentales Werk vom Anfang des Jahrhunderts aufgreifend,7 in den 1850er Jahren zur Abwehr der zentralistischen Staatsvorstellungen sowohl der Monarchen als auch Mazzinis republikanisch-­demokratischer Bewegung geprägt (und sich damit schließlich ­zwischen alle Stühle gesetzt).8 Cattaneo behauptete allerdings entgegen allen Quellenbefunden und allem Augenschein, die italienischen Städte s­eien vom Bürgertum regiert worden.9 In Wahrheit

7 Jean-­Charles-­Léonard Simonde de Sismondi, Histoire des républiques italiennes du Moyen âge, 16 Bde., Zürich 1807 – 1815, Paris 1809 – 1818. Italienische Übersetzung Mailand 1817 – 1819, deutsche Zürich 1807 – 1824. Zahlreiche Neuauflagen und Kurzfassungen belegen den ungeheuren Einfluss ­dieses Werks. 8 Carlo Cattaneo, La città considerata come principio ideale delle istorie italiane. In: Il ­Crepuscolo 9 (1858), Nr. 42, 44, 50 u. 52. 9 Der im späten 18. Jahrhundert entstandene Mythos einer bürgerlich-­demokratischen Kommunalverfassung wurde im 19. zum Inbegriff des Selbstverständnisses der lombardischen Liberalen und insoweit sogar des liberalen Adels, weil sich auf diese Weise die Kritik am habsburgischen und wenig ­später am piemontesischen Zentralismus am bündigsten formulieren ließ. Dazu Nicola Raponi, Il mito del buongoverno teresiano nella Lombardia preunitaria. In: Aldo De Maddalena / Ettore Rotelli / Gennaro Barbarisi (Hg), Economia, istituzioni, cultura in Lombardia nell’età di Maria Teresa, Bd. 3, Bologna 1982, S. 269 – 305. Darauf wird ­später zurückzukommen sein. Der Ruf ­dieses Mythos reichte dank Cattaneos Freundschaft zu dem österreichischen Statistiker Karl von Czoernig bis in den deutschen Liberalismus: Carl Czoernig, Die lombardische Gemeindeverfassung nach ihrer Entstehung und Ausbildung, ihrem Verfalle und ihrer Wiederherstellung, Heidelberg 1843 (Ndr. 2013).

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befand sich das Land der „hundert Städte“ in der Hand des Patriziats, waren doch die frühneuzeitlichen Staaten Ober- und Mittelitaliens mit Ausnahme Piemonts eine Ansammlung von Stadtrepubliken, über denen die Päpste bzw. die Monarchen französischer, spanischer oder habsburgischer Herkunft – Venedig hat es erst gar nicht ernsthaft versucht – das Netz einer mehr oder minder modernen staatlichen Organisation spannten. Die Formel schien somit in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch einmal den historischen Führungsanspruch der patrizischen Familien zu untermauern und damit ihren Konflikt mit den Trägern der institutionell-­politischen Moderne zu rechtfertigen, der 1859 ein letztes Mal aufflammen sollte. ‚Herrschaft über Land und Leute‘ meinte in diesen Teilen Italiens, wo Feudalabgaben und -dienste längst verschwunden waren, aber nicht nur die weitgehende politische und wirtschaftliche Kontrolle der Kommunen durch das Patriziat, sondern auch, seitdem diese sich im Spätmittelalter das Umland unterworfen hatten, die Kontrolle der Provinz. Gestützt wurden diese Machtpositionen durch eine auch in den neuzeitlichen Flächenstaaten noch immer die untergegangenen Stadtrepubliken weitgehend abbildende Ämterverfassung in Verwaltung und Justiz, wodurch auch die ständische Repräsentation gesichert war, sowie durch engste Verbindungen zu K ­ irche und Papsttum.10 Solange das Ancien Régime dauerte, blieben die Herrscherdynastien auf den Kompromiss mit dem Adel angewiesen. Erst seit ca. 1760 begannen die Habsburger durch Reformen die Machtverteilung zu ihren Gunsten zu ändern, d. h. eine neuartige Verwaltungsstruktur aufzubauen, die schrittweise die ständische Ämterverfassung aushöhlte und beseitigte, und dafür eine den neuen Bedingungen entsprechende Beamtenschaft heranzuziehen. Die 1760er Jahre bildeten somit in der Lombardei und der Toskana die Wendemarke ­zwischen Ständestaat und moderner bürokratischer Herrschaft. Die wichtigsten Stationen auf d ­ iesem Wege sind rasch aufgezählt. In der Lombardei wurde 1760 der Kataster in Kraft gesetzt, ein gesellschaftspolitischer Meilenstein, weil nunmehr auch Adel und ­Kirche der Grundsteuer unterworfen wurden. Diesen ersten Schritt zur Entmachtung der lokalen Eliten hatte 1755 die Einrichtung der staatlichen Cancellieri del censo (Steuerund Amtsschreiber) vorbereitet, womit die Regierung wenigstens im Grundsatz ein zuvor undenkbares Maß an Kontrolle über das flache Land erlangte; ihm folgte die Wahl der Gemeinderäte, was immerhin theoretisch die Ablösung des Geburtsprivilegs 10 Sehr präzise brachte es ein zeitgenössischer französischer Beobachter, dem dieser Verfassungszustand nach hundertfünfzig Jahren absolutistischer Regierungspraxis im eigenen Land natürlich auffallen musste, auf den Begriff: „La noblesse qui par ce moyen est admise au gouvernement du pays, qui se régit, en quelque sorte, par ses propres lois,[…] se regarde comme formant une sorte de république sous la protection de l’impératrice-­reine de Hongrie“ („Der Adel, der dadurch an der Regierung des Landes teilnimmt und sich in gewissem Sinne mit eigenen Gesetzen selbst regiert, […] betrachtet sich als Schöpfer einer Art Republik unter dem Schutze der kaiserlich-­ königlichen Majestät“), Abbé Richard, Description historique et critique de l’Italie, Nouv. éd., Bd. 1, Paris 1769, S. 278.

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durch das Besitzrecht bedeutete.11 In der Toskana vollzog der Großherzog einen vergleichbaren Schritt 1772. 1786 teilten sich aber die Wege beider Länder. In Mailand beseitigte Joseph II . die trotz zwanzig Jahre währender Reformpolitik noch immer bestehenden Reste der ständischen Selbstverwaltung und errichtete einen neuartigen, zentral verwalteten und uniform gestalteten Staat. Es war damals wohl der modernste Europas. Leopold konnte und wollte in der Toskana ­diesem Schritt nicht folgen, er bevorzugte einen „liberaleren“ Weg, bei dem der Staat weiterhin auf die Kooperation mit den Grundbesitzern angewiesen blieb, die die Landgemeinden beherrschten.12 Nennenswerte rechtliche Privilegien besaß das Patriziat aber nicht mehr. Die nächste und entscheidende Stufe der politischen Moderne kam in Gestalt der französischen Eroberer, die nach einer k­ urzen jakobinischen Phase im Grunde die seit den 1790ern zum Erliegen gekommene Reformbewegung in radikaler Form fortsetzten. An eine Rückkehr zu Gemeindeautonomie und mäßiger Besteuerung von Grund und Boden war nun weniger denn je zu denken, und auch die neuen Repräsentativorgane, in denen der mit anderen Eliten zur Notabilität verschmolzene Adel saß, boten aufgrund der autoritären napoleonischen Herrschaftspraxis keinen Ersatz. Denn das napoleonische Staatsmodell beseitigte die Gemeindeautonomie 13 und sah beamtete, von der Zentralregierung ernannte, kontrollierte und beförderte Fachleute vor, ganz so, wie es Joseph II. schon angestrebt hatte.14 Allerdings betrieb Napoleon seit 1805/06 zugleich eine immer ausgeprägtere Politik der Versöhnung alter und neuer Grundbesitzer mit seinem Regime mit der Folge, dass deren soziale und wirtschaftliche Stellung unangetastet blieb, ja durch Kirchengüterverkäufe sogar noch befestigt wurde. So wurde die Restauration zur großen Hoffnung, die sich nach außen denn auch als die Rückabwicklung der Revolution gerierte, tatsächlich aber deren administrative Ergebnisse – Rechts- und Eigentumsordnung sowie Behördenverfassung – weitgehend anerkannte. Die Toskana war derjenige italienische Staat, in dem die (nur kurze) napoleonische Periode den geringsten Bruch mit der früheren wie der nachrevolutionären Zeit verursacht hatte, weil die herrschende Klasse weitgehend im Amt geblieben war; Vittorio Fossombroni, von 1796 bis zu seinem Tode 1844 in leitender Stellung, ist der Inbegriff dieser Kontinuität einer von absolutistischem Geist getragenen Reformpolitik. In ­diesem kleinen Staat wurden nach 1814 zwar die alten städtischen Ämter dem Schein 11 In der Praxis änderte sich nichts. Näheres zur Lokalverwaltung bei Ettore Rotelli, Gli ordinamenti locali nella Lombardia preunitaria, 1755 – 1859, Milano 1975. 12 Einzelheiten zum Vergleich der beiden habsburgischern Territorien bei Carlo Capra, Habsburg Italy in the Age of Reform. In: Journal of Modern Italian Studies 10 (2005), S. 218 – 233. Von „liberal“ spricht er S. 222. 13 In der Toskana war nun der Vicario das, was in der Lombardei seit Jahrzehnten der Cancelliere del censo war: staatlich eingesetzter Gemeinde- und Steuerschreiber. 14 Für die Präfekten als wichtigster Schaltstelle ­zwischen Regierung und Provinz hat das samt den Beschwerden des Adels Livio Antonielli, I prefetti dell’Italia napoleonica, Bologna 1983, detailliert nachgewiesen.

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nach wieder eingeführt und mit Patriziern besetzt, die Macht lag aber künftig mehr denn je bei den modernen staatlichen Instanzen mit ihrer bürgerlichen oder nobilitierten Beamtenschaft. Die Gemeindeautonomie blieb beseitigt und seit den 1820er Jahren verlor durch neue Vorschriften zur Beamtenlaufbahn das Patriziat auch noch die hergebrachte Patronage im höheren Verwaltungswesen. In der um das Veneto mit ebenfalls lebendiger patrizischer Tradition erweiterten Lombardei ersetzte der Wiener den französischen Zentralismus. Die Schnittstelle ­zwischen Gemeinden, d. h. Grundbesitzern, und Staat bildete auch weiterhin der königliche Beamte, nunmehr Commissario distrettuale (Distriktkommissär) genannt. Anders als in der Toskana wurden hier aber zwei Gegengewichte zur Administration ausgehandelt. Erstens hat Franz I. 1814/15 auf Drängen der Unterhändler Giacomo Mellerio, eines Mailänder Patriziers, und Alfonso Porcia, eines venezianischen Provinzadligen mit habsburgischer Beamtenkarriere, beiden Teilprovinzen ständische Repräsentationsorgane zugestanden, an der Spitze die Congregazioni centrali (Provinzialstände).15 Dass der K ­ aiser bzw. die Wiener Bürokratie dieser Ausnahme von der Verfassungspraxis der Habsburger Kronländer zustimmte, lag am hohen Steuerbedarf des neuerworbenen Königreichs, wegen dem man ein Zugeständnis an die Grundbesitzer jener Provinzen machen zu müssen glaubte, die das größte Steueraufkommen generierten und zugleich infolge fehlender Grundherrschaft als weitaus weniger gefährlich galten, als wenn Wien Vergleichbares nördlich des Brenners zugelassen hätte.16 In den Ständeversammlungen saßen dann tatsächlich, entgegen den Bestimmungen auf dem Papier, fast ausschließlich adlige Grundbesitzer (Patrizier und die seit napoleonischen Zeiten stark angewachsenen Nobilitierten).17 Dasselbe Motiv hatte und in dieselbe Richtung ging, zweitens, die 1819 verfügte Wiederherstellung der theresianischen Gemeindeverfassung von 1755, die, jedenfalls in den fruchtbaren Teilen der beiden Provinzen, den großen Grundbesitzern ein nahezu vollständiges Übergewicht in den Gemeindeversammlungen verschaffte.18 Beide Zugeständnisse waren denkbar schlechte Voraussetzungen für einen oppositionellen Adelsliberalismus, und tatsächlich entwickelte sich dieser in der Poebene erheblich s­ päter als am Arno.

15 Die Verfassung – das Original vermeidet diesen Begriff bewusst – des Königreichs Lombardo-­ Venetien vom 24. 4. 1815 (Patente Imperiale per il Regno Lombardo Veneto) ist abgedruckt in: Jörg Luther (Hg), Documenti costituzionali di Italia e Malta 1787 – 1850, Berlin 2010, S. 583 – 590. Eine deutsche Fassung in: Karl Heinrich Ludwig Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, Bd. 2, Leipzig 21833, S.  394 – 399. 16 So die These in Marco Meriggis bahnbrechender Studie: Amministrazione e classi sociali nel Lombardo-­Veneto (1814 – 1848), Bologna 1983, S. 66. Eine deutsche Zusammenfassung in: Der lombardo-­venezianische Adel im Vormärz. In: Armgard von Reden-­Dohna / Ralph Melville (Hg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780 – 1860, Stuttgart 1988, S. 226 – 236. 17 Einzelheiten bei Marco Meriggi, Il Lombardo-­Veneto, Torino 1987, S. 39 ff. 18 Näheres ebd., S. 60 ff. Das bankrotte Österreich hatte nicht die Mittel, die personalintensive napoleonische Departementalverwaltung zu finanzieren, und entstaatlichte deshalb wieder die unterste Verwaltungsebene.

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Ordnungsmuster des italienischen Adelsliberalismus Wenigstens in Oberitalien schien es also, als ­seien die Spannungen ­zwischen Patriziat und Monarchen, die sich seit den 1770er Jahren bemerkbar machten, ohne allerdings jemals den Grad der zur Rebellion sich steigernden Unzufriedenheit der belgischen oder ungarischen Stände zu erreichen, nach fünfzig Jahren beigelegt. Das wohlhabende und selbstbewusste Patriziat hatte sich gegen Ende des Ancien Régimes in Ober- und Mittelitalien vor die Frage gestellt gesehen, wie es auf seine schleichende Entmachtung bzw. den Reformabsolutismus reagieren sollte. Die ältere Generation verhielt sich rundweg ablehnend, wusste aber angesichts ihrer Loyalität zu den Wiener bzw. Florentiner Habsburgern kein anderes Mittel als Obstruktion und Rechtsverwahrung. Damit sind die Parallelen der beiden Regionen erschöpft. In Mailand war nämlich die Generation der um 1730 geborenen Aufklärer – hier dominierte ein praxisorientierter, politisierter Adel die Aufklärung – in den Staatsdienst eingetreten, um den Reformabsolutismus gegen die ständischen Libertäten zu unterstützen. Als die Monarchen allerdings von der Reform zur Beseitigung der Autonomie des Herzogtums übergingen, begann ein Teil dieser Patrizier, an der Spitze der damals literarisch zu großer Berühmtheit gelangte Pietro Verri, diesen Gang der Dinge zu kritisieren und ab 1789 einen Konstitutionalismus zu entwickeln, der in einer die gemeindliche Selbstverwaltung sowie Freiheit und Eigentum verbürgenden Verfassung die verlässlichste Sicherung der Autonomie erblickte.19 Das deckte sich nicht von ungefähr mit ihren privaten Interessen und wurde zur Geburtsstunde des Moderatismo, d. h. jener politischen Richtung, die in den nächsten hundert Jahren in Italien vorherrschen sollte. Ihr Verfassungsbegriff wies dadurch ebenso liberale wie autoritäre und sozialdefensive Züge auf. Das war der Grund, weshalb diese Kreise 1796/97 den sich ihrer jakobinischen Begleiterscheinungen entledigt habenden französischen Eroberern als Verbündete anboten und, anders als nach 1786/90, tatsächlich bis zur Errichtung des weitgehend ‚gleichgeschalteten‘ Königreichs Italien im Jahre 1805 an führender Stelle mitwirkten.20 Entsprechend große Überzeugungskraft erlangte 1814 der Moderatismo als maßgebliches Ordnungsmuster der oberitalienischen Grundbesitzerelite. Nach den Zugeständnissen K ­ aiser Franz’ I. sah man sich dem Ziel ein gutes Stück näher gekommen. In Wirklichkeit jedoch existierten weiterhin, wie schon seit Jahrzehnten, „zwei Formen des Liberalismus“ nebeneinander, der sozialdefensive

19 Mehr dazu bei Christof Dipper, „Despotie“ und „Verfassung“. Zwei Freiheitskonzepte der Mailänder Aufklärung. In: Helmut C. Jacobs / Gisela Schlüter (Hg.), Beiträge zur Begriffsgeschichte der italienischen Aufklärung im europäischen Kontext, Frankfurt 2000, S. 23 – 59. 20 Francesco Melzi d’Eril, Schwager Verris, war als Vizepräsident der Italienischen Republik der einflussreichste Exponent des lombardischen Moderatismo in jener Zeit. Der bereits genannte Mellerio, dessen Familie erst 1776 in das Mailänder Patriziat aufgenommen worden war, fungierte dann 1815 als dessen Sprecher.

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‚moderate‘ der Elite und der die ganze Gesellschaft im Blick behaltende der habsburgischen Beamten.21 Das war schon zu Zeiten des aufgeklärten Absolutismus in der Lombardei nicht anders, nur schienen beide jetzt dank des Kompromisses eine gedeihliche Koexistenz eingegangen zu sein. Tatsächlich gerieten auch nicht so sehr diese beiden Ordnungsmuster miteinander in Konflikt, sondern der Beamtenliberalismus verlor seit der Thronbesteigung K ­ aiser Ferdinands I. 1835 seinen Schwung, bis er unter dessen Nachfolger Franz Joseph in der Reaktionsära nach 1849 einem Polizeiregime Platz machte. Die Lücke füllten einerseits der ‚moderate‘ Adelsliberalismus eines Gabrio Casati,22 andererseits der bürgerlich-­demokratische Liberalismus eines Carlo Cattaneo und Cesare Cantù.23 Beide verlangten von Wien politische Zugeständnisse, die vor allem in einer verstärkten politischen Autonomie bestanden; die Bürgerlichen suchten sie mit ausgiebigen historischen Untersuchungen zu begründen.24 Das Ordnungsmuster des toskanischen Adelsliberalismus beruhte auf einer expliziten Sicht auf die Vergangenheit. Seine Leitidee war der stadtrepublikanischen Tradition entsprungen, die im 18. Jahrhundert im Zuge der Machiavelli-­Renaissance wiederentdeckt worden war.25 Mit ihr konnte der großherzogliche Absolutismus angegriffen, ohne dass dessen Leistungen rundweg abgelehnt werden mussten. In der Lesart des Patriziats war die eigene Klasse nur als politisches Wesen denkbar, der „Adel war mit der Aktivbürgerschaft und diese wiederum mit der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ gleich[gesetzt]“.26

21 Marco Meriggi, Der Adelsliberalismus in der Lombardei und in Venetien (1815 – 1860). In: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 369. Meriggi betont mehr als andere italienische Historiker „die Aspekte der Kontinuität […] oder besser gesagt: die Erhaltung in der Erneuerung“ (ebd., S. 367) des oberitalienischen Adelsliberalismus von 1770 bis 1850/60. Was den Beamtenliberalismus betrifft, so gibt es eine auffällige Parallele zu Preußen: Auch in den hier behandelten italienischen Staaten konnte die Beamtenschaft eine Konstitutionalisierung nicht riskieren, weil das ihren zahlreichen Gegnern nur Blockademöglichkeiten verschafft hätte, aber wie in Preußen provozierte sie damit letzten Endes die politische Dauerkrise. Zum preußischen Reformdilemma Reinhart Koselleck, Preußen ­zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 11976, S. 318 ff. 22 Patrizier; von 1837 bis 1848 Bürgermeister von Mailand, 1848 Chef der lombardischen Revolutions­ regierung, danach im Turiner Exil. 23 Cantù geißelte „quel singolare schema di confiscare la libertà dei singoli per produrre la libertà di tutti“ (“jenen einzigartigen Plan, die Freiheit des einzelnen abzuschaffen im Interesse der Freiheit aller”), womit er in der Sprache eines Altliberalen, wie man im Deutschen sagen würde, die institutionelle Dynamik des modernen Staates kritisierte; Cesare Cantù, Storia di Milano, Milano 1857, S. 251 (= Grande illustrazione del Lombardo-­veneto, Bd. 1). Zit. Ettore Rotelli, Fra stato nazionale e stato moderno. Storia della storiografia sulle riforme lombarde del Settecento. In: De Maddalena (Hg.), Economia, istituzioni, cultura (wie Anm. 9), S. 23. 24 Wie Anm. 7 und 8. 25 John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 22003, Teil 3. 26 Thomas Kroll, Die Revolte des Patriziats. Der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento, Tübingen 1999, S. 113. Ich folge hier ganz allgemein im wesentlichen ­diesem Buch.

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Allerdings passte der Wortführer, Gino Capponi, sein Konzept den gesellschaftlichen Gegebenheiten der nachrevolutionären Zeit an, indem er vom „natürlichen Adel“ sprach, der neben dem Geburtsadel die schmale Gruppe bürgerlicher Aufsteiger ein-, die Nobilitierten, vornehmlich Beamte, aber ausdrücklich ausschloss.27 Die Führung sollte aber beim Patriziat wegen seines Prestiges und seiner ländlichen Klientelbeziehungen verbleiben, was damals in der Toskana auch weitgehend anerkannt wurde. Das adlige Ordnungsmuster verband also, ähnlich wie in der Lombardei, begrenzte gesellschaftliche Öffnung mit der Bewahrung patrizischer Denkweisen, sozialer Verhaltensnormen und traditioneller Mechanismen politischer Einflussnahme.28 Nach einer langen Formierungsphase in den adligen Salons und Vereinen und angesichts zunehmender Beschwerden über die Eingriffe der selbstbewusst gewordenen, möglicherweise den Konflikt suchenden Florentiner Bürokratie gerade auf dem Lande,29 die den Machtverlust des Patriziats offensichtlich machten, begann die Mobilisierung des Moderatismo 1846 mit einer Debatte über das toskanische Verwaltungssystem. 1847 folgten Vorschläge zur Dezentralisierung, deren logische Folge die Aufwertung der Gemeinden sein würde. Das Konzept hatte zwei taktische Vorteile. Erstens war dieser modernisierte Municipalismo ein Thema, mit dem auch Konservative ins Boot geholt werden konnten. Zweitens konnte das konsultativ-­munizipal-­ständische „Denkmodell“30 Endstation sein oder gradualistisch gedeutet werden. In ­diesem letzteren Sinne nahm es alsbald rasch an Fahrt auf. Kaum an programmatischer Fahrt hatte lange Zeit der lombardo-­venezianische Adelsliberalismus aufgenommen, weil er wichtige Ziele erreicht hatte und so das Motiv zur Auseinandersetzung mit dem Staat eher schwach ausgeprägt blieb. 1825/26 hatte er in zwei Petitionen an den ­Kaiser die Wiederherstellung der Consulta di Stato, also einer ständisch besetzten und geleiteten Oberbehörde in Mailand, anstelle des Guberniums und vermehrten Zutritt der Söhne der Grundbesitzer zum Staatsdienst verlangt.31 Nicht weniger interessengeleitet waren die Petitionen vom Januar 1848, aber sie verrieten gesteigertes Bewusstsein für das Politische: Stärkung der Rechte der Congregazioni im Sinne

27 In den 1840ern ersetzte man den „natürlichen Adel“ durch Moderato und demonstrierte mit dieser sprachlichen Übernahme zugleich die überstaatliche Verbindung des Adelsliberalismus. 28 Kroll, Revolte (wie Anm. 26), S. 121. 29 Ein drastisches Beispiel ebd., S. 203 f. Die Bürokratiekritik der Moderati sprach von Willkür, Korruption und Ineffizienz, für Kroll Anlass, das herrschende Bild einer „milden“ Toskana nachdrücklich in Frage zu stellen. 30 Kerstin Singer, Konstitutionalismus auf Italienisch. Italiens politische und soziale Führungsschichten und die oktroyierten Verfassungen von 1848, Tübingen 2008, S. 136. 31 Die erste Forderung lief auf die Wiedererrichtung der 1796 definitiv beseitigten Giunta di governo hinaus, in der das Patriziat den Ton angegeben hatte, die zweite reagierte auf den jahrzehntelangen faktischen Einstellungsstopp als Folge der angespannten Finanzlage, der allerdings im Bildungsbürgertum viel größeren Schaden anrichtete, weil er zu verbreiteter Akademikerarbeitslosigkeit und entsprechend revolutionärer Gesinnung führte.

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der Idee der Monarchia consultativa, d. h. der ständisch beratenen Monarchie,32 größere Selbständigkeit der Gemeinden und Rückgabe der Armenverwaltung an die Notabeln; letzteres sollte das durch Massenarmut und Privatisierung der Allmenden in die Krise geratene Klientelsystem auf dem Lande stärken. Neu war nur ein Thema: Milderung der Zensur, was durch ihre Auslieferung an ‚geeignete‘ Personen geschehen sollte. Unter der Oberfläche offen ausgesprochener Forderungen waren allerdings andere und erheblich radikalere Vorstellungen verborgen. Größere Autonomie versprachen sich die Befürworter eines Anschlusses an das Sardinien-­Piemont Karl Alberts, das dank seiner seit Herbst 1847 eingeleiteten Reformpolitik unter vielen Moderati rasch an Ansehen gewann. Zum Jahreswechsel formierten sich in der Lombardei insgeheim die „Albertisten“ unter Gabrio Casati, der noch wenige Monate zuvor die natürlich auch autonomistisch zu verstehenden Petitionen formuliert hatte. Deshalb war auch die Gemeinsamkeit von Adel und gebildetem Bürgertum, wie sie in den Verschwörungen von 1820/21 besonders greifbar war, weithin verschwunden, denn für die Anhänger Cattaneos setzte die Autonomie der Gemeinde diejenige der Region voraus. So kam es, dass, anders als in der Toskana, dem lombardo-­venezianischen Adelsliberalismus ein antibürgerlicher Affekt eigen war. 1848 sollte das zur Eröffnung einer weiteren Front führen. Bevor die Ereignisse von 1848 zur Sprache kommen, die den Adelsliberalismus in eine unvorhergesehene Richtung drängten, ist es angezeigt, ­dieses Ordnungsmuster gewissermaßen im Endstadium seiner autonomen Entwicklung zusammenfassend zu würdigen. Dass 1848 im Frühjahr an vielen Orten Kämpfe ausbrachen, die man besser nicht als Revolution bezeichnet, sondern als Aufstand gegen die ‚Fremdherrschaft‘ und somit, aus postunitarischer Perspektive, als ersten Unabhängigkeitskrieg,33 lag zum allerwenigsten an den Moderati Mittel- und Oberitaliens. Denn ihr Hauptgegner waren weder die fremden Monarchen noch gar, von den beiden Städten Mailand und Venedig abgesehen, das Bildungsbürgertum, sondern die durchaus einheimische Bürokratie. Sie hatte in Lombardo-­Venetien und in der Toskana die politische Elite in einem inzwischen achtzigjährigen Konflikt im Namen des modernen Staates aus allen wesentlichen Entscheidungs- und Führungspositionen verdrängt. Der Adelsliberalismus reagierte darauf typischerweise nicht mit einer theoretisch reflektierten und entsprechend detailliert ausgestalteten Verfassungsbewegung – ­dieses Erbe des ‚Gründervaters‘ der Moderati, Pietro Verri, war längst verschwunden –, sondern mit dem pragmatischen Rückgriff auf die beiden vormodernen Gegenstücke zum bürokratischen Zentralstaat: der Gemeinde einer- und der Monarchia consultativa andererseits.34 Was war daran 32 Deliberative und nicht nur gutachterliche Befugnisse sowie das Recht, den Präsidenten selber zu wählen. Mehr zur „konsultativen Monarchie“ bei Singer, Konstitutionalismus (wie Anm. 30), S.  72 ff. 33 Näheres dazu unten, S. 97 f. 34 Wenn Singer gar die Ansicht vertritt, die Gemeindeverfassung sei „zentrales Programm des Risorgimento“ gewesen, schießt sie wohl über das Ziel hinaus, so berechtigt auch die Entmystifizierung

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liberal? Zunächst einmal war „liberal“ nach zeitgenössischer Auffassung jeder Gegner des bürokratischen Neoabsolutismus, sofern er die Eigentumsordnung respektierte. Sodann war „liberal“, wer den Staat von unten nach oben aufbauen wollte, wer Vertretungskörperschaften verlangte, wer Wahlämter bürokratischer Laufbahn vorzog und zugleich Besitz zur Grundlage der Berechtigung zu solchen Ämtern erklärte; und schließlich war „liberal“, wer die Nation ins Spiel brachte. Ein vom heutigen sehr verschiedener Liberalismus mithin, der sich moderner Begriffe und Techniken bediente, um eine neuständische Gesellschaft herzustellen.35 Die Monarchen waren dabei stets von der Kritik ausgenommen, mit ihnen hoffte man zu einer Einigung über den Kopf der Beamten hinweg zu kommen – wie sich 1848 zeigen sollte, ein schwerwiegender Irrtum. Anders als in Deutschland fanden 1847 in einigen Staaten der Halbinsel entscheidende Reformen statt, die in der Toskana gar einen weit über die Grenzen der Toskana hinaus bekannten Wortführer des Adelsliberalismus als Innenminister in die Regierung brachten, Cosimo Ridolfi. Als die Moderati dort Ende des Jahres ihr Reformprogramm systematisierten und zusammenfassten, kam nun auch die Verfassung als Grundlage der Machtsicherung in den Blick, denn wie die Dinge lagen, hatte der Adel durch Konstitutionalisierung nichts zu befürchten – „im Gegenteil“.36 Das theorieferne Verfassungsdenken zielte auf eine „uneigentliche Verfassung“37, deren Hauptzweck die Ausgestaltung der Repräsentation im Sinne der Eliten war, wodurch den Gemeinden wiederum zentrale Bedeutung zukam; im Vordergrund standen also Dezentralisierung und Munizipalisierung. Tatsächlich sah sich Ridolfi jedoch genötigt, zur Unterwerfung des verhassten Beamtenapparates im Herbst 1847 eine an Frankreich orientierte Reform der Zentralverwaltung durchzusetzen, während im Widerspruch dazu die bis Ende Januar nahezu fertig ausgearbeitete neue Gemeindeordnung die Verwaltung der Kommunen und Provinzen den dort ansässigen Honoratioren an die Hand geben sollte. Ein ausgearbeitetes Programm überreichte Ridolfi Anfang Februar 1848 dem Großherzog. Königstreu waren die Liberalen in ganz Europa, die Schweiz natürlich ausgenommen, aber waren auch die Könige liberal? Großherzog Leopold II . oktroyierte jedenfalls unter dem Eindruck drohender Unruhen am 15. Februar eine nach dem Vorbild der Charte von 1830 von Beamten und Patriziern in vierzehn Tagen ausgearbeitete Verfassung und bevorzugte damit ein völlig anders geartetes politisches Modell.38 Vollkommen davon abweichend war darin jedoch die Provinzial- und Kommunalordnung geregelt: Es handelte sich um die des Risorgimento ist; Singer, Konstitutionalismus (wie Anm. 30), S. 129. 35 Dies die These Meriggis vor allem in Kap. VII seines Buches Amministrazione e classi sociali (wie Anm. 16). 36 Singer, Konstitutionalismus (wie Anm. 30), S. 19. 37 Zum Begriff ebd., S. 134, 449. Die Vorgänge selber S. 261 ff.; Kroll, Revolte (wie Anm. 26), S.  215 ff. 38 Das Folgende nach Kroll, Revolte (wie Anm. 26), S. 245 ff.

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Umsetzung des von Ridolfi seit Herbst vorbereiteten Reformpaketes, das Capponi in der Kommission gegen heftigen Widerstand durchgesetzt hatte. Den vom Großherzog und seinen Beamten geplanten Riesenschritt in die politische Moderne konnten die Moderati noch zusätzlich bremsen, weil sie unter dem inzwischen zum Ministerpräsidenten ernannten Ridolfi ein Wahlgesetz durchsetzten, das im Ergebnis den patrizischen Klientelismus institutionalisierte und damit auch auf ­diesem Weg den in den Gemeinden angesessenen Grundbesitzern die zentrale Rolle im Staat auf Kosten von Großherzog und Bürokratie zuerkannte.39 Zwei Jahre ­später hatte sich der Großherzog noch einmal vollständig durchgesetzt und waren die Verhältnisse wieder die alten. Die Petitionen der beiden lombardo-­venezianischen Kongregationen waren noch unerledigt, als im März 1848 – inzwischen hatten alle anderen Staaten auf der Halbinsel Verfassungen erhalten – nach der Nachricht vom Sturz Metternichs ein Volksaufstand nach fünftägigen Kämpfen die Österreicher aus Mailand vertrieb. Mangels einer weitergehenden politischen Perspektive unterlagen jedoch die Demokraten unter Cattaneo der von Casati angeführten Adelspartei, die dank der Congregazioni provinciali nun außer Mantua das gesamte Land kontrollierte. Zur Absicherung ihrer Herrschaft spielte sie zugleich die Karte der Intervention Sardinien-­Piemonts aus, dessen König am 23. März Österreich den Krieg erklärte. Die vielerorts ausbrechenden Aufstände und der Krieg konfrontierten die Moderati mit der paradoxen Lage, dass sie es im Augenblick ihres Sieges mit einem neuen Gegner zu tun bekamen, der in ihrem Weltbild, obwohl Leser von Giobertis neoguelfischem Schlüsseltext Del primato civile e morale degli Italiani von 1843, keine große Rolle gespielt hatte; die nationale Einheit war bislang vorwiegend von den Anhängern Mazzinis (und einer im Stillen wirkenden Adelspartei um Karl Albert) thematisiert worden. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ebenfalls auf die nationale Karte zu setzen. Allerdings verstand der Mailänder Adel im Unterschied zu Piemontesen und demokratisch inspirierten Freiwilligen unter Garibaldi die ins Spiel gebrachte nationale Karte zunächst rein instrumentell, konnte sich dann freilich ihrer Eigenlogik nicht entziehen. Jedenfalls hielt in Lombardo-­Venetien die politische Moderne gleich in einem Doppelschritt Einzug: Erstens der (noch unvollständige) Nationalstaat und zweitens die Verfassung in Gestalt des piemontesischen Statuto. Nach der Rückkehr der Österreicher spaltete sich jedoch die Adelspartei. Ihre politisch bewusstesten und kompromittiertesten Angehörigen, die im August nach Turin flohen, wirkten dort in den folgenden Jahren am Aufbau eines konstitutionell und parlamentarisch verfassten Landes mit. In diesen Kreisen setzte sich schon bald die von Gioberti in seinem neuen Buch 40 entwickelte These vom Auftrag Sardinien-­Piemonts zur Einigung der gesamten Halbinsel unter dessen Führung durch. Den Munizipalismus der Moderati erklärte er

39 Zur politischen Praxis der an die Macht gelangten Moderati ebd., S. 250 ff. 40 Vincenzo Gioberti, Del rinnovamento civile d’Italia, 2 Bde., Paris, Turin 1851.

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zum größten Hindernis der Einheit und tatsächlich verlor dieser rasch bei all jenen, die auf die Turiner Karte setzten, an Legitimität. In der Toskana suchten die liberalen Ministerpräsidenten Ridolfi und Capponi dagegen Distanz zur nationalen Frage zu wahren. Zunächst verloren die Moderati im Februar 1849 die Macht an die Demokraten. Sie blieben aber Herren in der Provinz und kehrten zusammen mit dem vertriebenen Großherzog im Juli in die Hauptstadt zurück, wo Leopold II. die Verfassung sogleich suspendierte. Beides war offenbar nicht zu haben – der Munizipalismus und die Herrschaft der auf Kontrolle und Entwicklung setzenden Habsburger Sekundogenitur. Die Gegenmoderne des gemeindebasierten Gutsbesitzerliberalismus hatte zwar 1848/49 sämtliche Schlachten verloren, aber das Ordnungsmuster behielt seine Funktion, denn zu ihm gehörte nach wie vor auch die Verteidigung der regionalen Autonomien. Ein Zusammengehen mit Mazzinianern und selbst mit Föderalisten kam deshalb nicht in Frage. Eher suspekt war auch Cavour nach dem Connubio von 1852, d. h. dem Ausgleich ­zwischen Moderati und rechtem Flügel der Demokraten. Zudem verlieh Radetzkys Rache, die besonders dem Adel galt, dessen politischer Haltung zusätzliche Legitimation. Nachdem in Lombardo-­Venetien der Ausnahmezustand aufgehoben war und Ende 1856 in der Ära des Erzherzogs Maximilian erstmals auch wieder die beiden Congregazioni centrali zusammentreten konnten, schien es nur eine Frage der Zeit, bis der Adelsliberalismus wieder so etwas wie His Majesty’s Opposition würde. Das war freilich eine Täuschung. Maximilian resignierte 1858 und ­dieses Signal der Hoffnungslosigkeit bewirkte zusammen mit den international bewunderten Erfolgen Sardinien-­Piemonts ein Umdenken, was den Zusammenschluss mit dem Nachbarstaat betraf. Kurz nach Beginn der Kampfhandlungen Ende April 1859 präsentierte der Mailänder Patrizier Cesare Giulini in Turin die Wünsche der lombardischen Moderati. Besonderen Raum nahm darin die Erhaltung jener (angeblich)41 unter Maria Theresia geschaffenen Machtbalance z­ wischen Grundbesitzern und Monarchie ein. Mit Piemont hoffte man die Institutionalisierung der Adelshegemonie endlich wiederherstellen zu können. Förmliche Zusagen erhielt Giulini nicht, aber am 5. Juni verkündete der Mailänder Stadtrat den Anschluss. Nahezu unbegrenzten innenpolitischen Handlungsspielraum hatten dagegen die Moderati in der monatelang quasisouveränen Toskana, die Außenminister Ridolfi im August 1859 denn auch „una specie di repubblica“ nannte.42 Sie nutzten das unter anderem zur Revision der Gemeindeordnung. Die auf ihrer Grundlage abgehaltenen Wahlen brachten ihnen einen haushohen Sieg und legitimierten die im Ausnahmezustand

41 Der theresianische Mythos gehört zum Zählebigsten der lombardischen Meistererzählung. Erfunden hat ihn Pietro Verri zur Stilisierung seiner Biographie, übernommen hat das im 19. Jahrhundert die vielfach von Adligen betriebene Lokal- und Regionalgeschichtsschreibung, aber sie gehört bis in die Gegenwart zum neuerdings mit guten Gründen bestrittenen Grundbestand der italienischen Politik- und Ideengeschichte. Näheres bei Raponi, Mito (wie Anm. 9). 42 Zit. Kroll, Revolte (wie Anm. 26), S. 366.

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regierenden Patrizier. Die Säuberung und Patronage des Beamtenapparates rundete diesen Teil moderater Innenpolitik ab. Nationalpolitisch mussten die Moderati zwar unter dem Druck der Verhältnisse auf eine föderative Lösung verzichten, doch gelang es ihren nach Turin entsandten Abgeordneten, die Kommunal- und Provinzialordnungen zunächst zu erhalten, so dass man, anders als in der Lombardei, von einem, wie sich zeigen sollte, allerdings „vorläufigen Ausgleich“43 z­ wischen antibürokratischen Zielsetzungen und nationaler Bewegung bzw. z­ wischen Gegenmoderne und modernem Staat sprechen kann. 1859 war anfangs die Lage also wieder ganz dieselbe wie zehn Jahre zuvor, nur dass Aufstände und Feldzüge jetzt ihr Ziel erreichten und die Österreicher bis auf das Veneto von der Halbinsel vertrieben wurden. Aber dem traditionsorientierten, wie man jetzt zur Unterscheidung von den progressiven Anhängern Cavours sagen müsste, Flügel der Moderati erwuchs im Sieg ein neuer Gegner im eigenen Land, und zwar unter den Standesgenossen im Süden.44 Obwohl er in allen Kabinetten mit seinen Führungspersonen vertreten war, scheiterte letzten Endes sein Projekt, weil im größeren Italien den regionalen und lokalen Kräften die Macht nicht anvertraut werden konnte. Per Notverordnung dehnte Ende 1859 der Führer des linken Parlamentsflügels, Innenminister Rattazzi, die piemontesische Gemeinde- und Provinzialordnung auf die bis dahin an Sardinien-­Piemont angegliederten Territorien aus und 1861 scheiterte der Versuch seines Nachfolgers Minghetti, eines Grundbesitzers aus Bologna, die Zentralisierung rückgängig zu machen. Den toskanischen Vorbehalt gab dann sogar Ministerpräsident Ricasoli 1861 im Blick auf den nationalen ‚Notstand‘ im Süden preis. Die ‚Piemontisierung‘ Italiens nahm ihren Lauf, die ober- und mittelitalienischen Moderati verschmolzen mit den übrigen Liberal-­Konservativen zur Destra storica, die bis 1876 regierte, nicht zuletzt weil das vom Adel erprobte Klientelsystem auch im nationalen Parlament bestens funktionierte. Das Arrangement mit der politischen Moderne fiel umso leichter, als die wirtschaftliche ansehnliche Dividenden abwarf, bis dann die Agrarkrise der 1880er Jahre klar machte, dass auch auf ­diesem Gebiet die Bäume nicht in den Himmel wuchsen. Dass der italienische Nationalstaat „in erheblichem Maße auf das Machtstreben des Adels und dessen Konflikt mit dem modernen Verwaltungsstaat zurückging“,45 war in Europa wohl einmalig. Schriftsteller, Gelehrte und piemontesische Beamten sorgten denn auch rasch und mit Erfolg dafür, dass die historischen Tatsachen von der Risorgimentolegende – die nationale Einigung als Ergebnis einer spezifisch italienischen Form der bürgerlichen Revolution – verdrängt wurden; sie zählte bis vor kurzem zum eisernen Bestand des italienischen Geschichtsbildes.

43 Ebd., S. 391. 44 Streng genommen kann von Standesgenossen nicht die Rede sein, denn der mittel- und süditalienische Adel hatte eine völlig andere Geschichte. 45 Kroll, Revolte (wie Anm. 26), S. 405.

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Die Krisen des modernen Staates: Süddeutschland und Preußen Der die innere Staatsbildung vorantreibende Basisprozess verlief in Deutschland ein gutes Stück anders. Von einer schon im Ancien Régime endenden frühneuzeitlichen Herrschaftsstruktur kann keine Rede sein. ‚Herrschaft über Land und Leute‘ war hier in Gestalt der Feudalität noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Alltag, denn auch viele Landesherren regierten ihre Länder zu erheblichen Teilen nach ­diesem altertümlichen Muster, weil sie die Einführung einer bis auf die Dörfer hinabreichenden modernen Verwaltungs-, Steuer- und Gerichtsverfassung teils scheuten – das war vor allem bei den mittleren, kleinen und kleinsten Territorien der Fall, die vor 1803/06 im Westen und Süden des Reiches vorherrschten –, teils nicht durchsetzen konnten. Deutschland war, aus Mailänder Perspektive jedenfalls, rückständig und man sollte sich deshalb Heinz Duchhardts Mahnung zu Herzen nehmen und nicht vorschnell von „Absolutismus“ reden.46 Das muss aber hier nicht weiter ausgeführt werden, weil der deutsche Adelsliberalismus andere Ursachen hatte und andere Ziele vertrat als sein italienisches Gegenstück. Seine Wurzeln reichen auch nicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Von ihrem Selbstverständnis her steht den italienischen Patriziern noch am nächsten jene kleine Gruppe von Standesherren, die im Vormärz liberalkonservative Positionen gegen die deutschen Monarchen vertraten. Es handelte sich bei ihnen um eine europaweite Besonderheit. Zu ihrer Gruppenbiographie gehört, dass ihre Loyalität gegenüber den Landesherren, die sie als Ihresgleichen betrachteten, ­welche lediglich mit mehr Glück oder Skrupellosigkeit die napoleonische Flurbereinigung überstanden hatten, weit weniger ausgeprägt war als bei allen anderen Adelsgruppen. Die ihnen in der Rheinbundund ­später in der Bundesakte zugestandenen Sonderrechte grenzten sie ebenso wie ihr enormer Grundbesitz deutlich vom landsässigen Adel ab und machten sie zu jenem „Mittelding ­zwischen Landesherrn und Untertan, welches“, wie im Sommer 1846 einer ihrer einflussreichsten Sprecher, Karl Fürst zu Leiningen, illusionslos feststellte, „den Keim des Todes bereits bei seiner Geburt in sich trug“.47 Denn als „Unterlandesherren“ (Gollwitzer) bildeten sie ein Hindernis namentlich für die vier süddeutschen Länder auf ihrem Weg zum modernen, seine Bürger auf direktem Wege erreichenden Staat. Mit Hilfe Metternichs, der beim Bundestag regelmäßig intervenierte, blockierten sie jahrzehntelang erfolgreich in ihren ehemaligen Territorien die Beseitigung der

46 Vgl. Heinz Duchhardt, Absolutismus – Abschied von einem Epochenbegriff? In: HZ 258 (1994), S. 113 – 122. Von „sogenannten ‚absoluten‘ Monarchen“ sprechen dann Asch und Duchhardt in ihrer Einleitung zu: Ronald G. Asch / Heinz Duchhardt (Hg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft, Köln 1996, S. 11. 47 Emich Karl Fürst zu Leiningen, Um die Reform des hohen Adels, veröffentlicht in der [Augsburger] Allgemeinen Zeitung Nr. 360 (26. 12. 1847). Abgedr. in: Gollwitzer, Standesherren (wie Anm. 6), S. 382.

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Gerichts- und Grundherrschaft, die letzten und wichtigsten Bastionen ihres Selbstverständnisses und wichtige Quelle ihrer Einkünfte. 1848 erhielten darum auch sie wie vielerorts der Landadel die Quittung in Gestalt lokaler Bauernaufstände und verloren in wenigen Wochen ihre letzten hoheitlichen Befugnisse, freilich gegen Entschädigung. Danach stellte sich für diese Adelsgruppe vollends die Sinnfrage, auf die Leiningen und andere bereits zuvor eine Antwort gesucht hatten. Nun, da „der Staat im Dorf“ (Lutz Raphael) angekommen war, entwarfen ihre einsichtsvollsten Sprecher eine Vision nationaler Führungsrolle, um aus dieser Position den regierenden Fürsten in den Arm fallen zu können. Zu ­diesem Deutungsschema ­später mehr. In Preußen, wo eine modernere Variante des Adelsliberalismus beobachtet werden kann, lagen 1848 die Anfänge des modernen Staates bereits weit zurück. Östlich der Elbe hatten die Reformer neben anderen radikalen Modernisierungsmaßnahmen eine liberale Bodenordnung geschaffen, die dem Adel erhebliche, durch die Agrarkrise der 1820er Jahre noch verschärfte Anpassungsleistungen abverlangte.48 Gescheitert waren sie aber mit ihrem Versuch, die Kommunal- und Kreisbehörden im Sinne des bürokratischen Zentralismus umzugestalten und so das flache Land, soweit es Rittergütern zugehörte, dem direkten Einfluss der Ministerialverwaltung zu unterstellen. Insofern verblieben dem Adel und erhielten die neuen bürgerlichen Besitzer in ihren Gutsbezirken die ständischen Befugnisse (Polizei, Gericht und K ­ irche), so dass von dort nach kurzer Zeit der Unruhe wenig Kritik im Grundsätzlichen zu hören war. Wenn daher dennoch seit den 1840er Jahren in Ostpreußen so etwas wie eine Bewegung des liberalen Adels entstand, hatte das mit den Ausnahmebedingungen dieser fernen Provinz zu tun. Zu den Ausnahmebedingungen gehörte zunächst staatsrechtlich, dass diese Provinz weder vor 1806 zum Heiligen Römischen Reich noch nach 1815 zum Deutschen Bund gehörte. Der Außenposten unterlag also erstens nicht den Repressivgesetzen, die der Deutsche Bund seit den Karlsbader Beschlüssen immer wieder erließ. Die freiere Luft kam nicht nur den Gebildeten der Universitäts- und Hauptstadt Königsberg zugute, sie bot auch einem Adel Zugang zur Öffentlichkeit, der diese für seine Interessen zu gewinnen suchte. Zweitens war der ostpreußische Adel selbst für ostelbische Verhältnisse ungewöhnlich reich und entsprechend selbstbewusst. Viele Familien hatten den Grafentitel, residierten in großen Schlössern und fühlten sich dem König gesellschaftlich vergleichsweise nahe; ihn zur Jagd einzuladen, gehörte zu ihrem Selbstverständnis. 49 Drittens nahm die dünn besiedelte Provinz das von den Gutsbetrieben Produzierte

48 Dasselbe galt natürlich auch für die bürgerlichen Gutsbesitzer sowie für die von Guts- bzw. Grundherrschaft befreiten Bauern. 49 Eine Gesamtdarstellung des ost- oder westpreußischen Adels existiert nicht. Zusammenstellungen des Landbesitzes auch nach Provinzen gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei Klaus Heß, Junker und bürgerliche Großgrundbesitzer im Kaiserreich. Landwirtschaftlicher Großbetrieb, Großgrundbesitz und Familienfideikomiß in Preußen (1867/71 – 1914), Stuttgart 1990.

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nur zu geringen Teilen ab, so dass die Güter seit langem in den seegestützten Fernhandel integriert waren und ihre Besitzer wirtschaftspolitisch eher liberal dachten. Es ist kein Zufall, dass Adam Smith zuerst in Königsberg übersetzt und rezipiert worden ist.50 Diese Faktoren ergaben, zusammengenommen, ein Ordnungsmuster, das zu Adelsliberalismus werden konnte. Um aus liberaler Gesinnung aber tatsächlich Adelsliberalismus als Gruppenmerkmal werden zu lassen, bedurfte es kontingenter Umstände. Die Forschung hat hierfür sehr unterschiedliche Motive benannt.51 Die neuere sozialgeschichtlich inspirierte Geschichtswissenschaft will sie in der ausgeprägten Bürokratiekritik und in den über Jahrzehnte sich hinziehenden Konflikten der Gutsbesitzer mit der Regierung um Fragen der Patrimonialgerichtsbarkeit und Gemeindeordnung sehen. Bei letzterer forderten sie nämlich, anders als die Junker in den übrigen ostelbischen Provinzen, mit Entschiedenheit die verstärkte Mitwirkung städtischer und vor allem dörflicher Führungsschichten in den kommunalen Organen.52 Auch tauchen zunehmend dabei jene Namen auf, die s­ päter die Wortführer des liberalen Adels auf parlamentarischer Bühne werden sollten. Gleichwohl besteht wenig Anlass, diesen sozialdefensiven Gutsbesitzerliberalismus mit jener ab den 1840er Jahren begegnenden eindrucksvollen verfassungspolitischen Reformbewegung in allzu engen Zusammenhang zu bringen. Es ging den Beteiligten sowohl bei der Gemeindeordnung wie bei den Patrimonial­ gerichten nämlich in erster Linie um eine Senkung ihrer finanziellen Lasten; die damit verknüpfte Frage der unvollkommenen bzw. steckengebliebenen Staatsbildung wurde hingegen zunächst nicht angesprochen. Vergleiche haben überdies gezeigt, dass sich, abgesehen von der Frage der bäuerlichen Mitverantwortung in Gemeindesachen, Konservative kaum anders verhielten.53 Die kontingenten Umstände sind daher eher in den durch die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV . 1840 ausgelösten und vom König selber beflügelten Hoffnungen zu suchen bzw. in der Krise, die auf dessen enttäuschendes Verhalten folgten. Damals lagen drei vom Vater des Königs abgegebene, aber bislang uneingelöste

50 Dazu Keith Tribe, Governing Economy. The Reformation of German Economic ­Discourse 1750 – 1840, Cambridge 1988, S. 133 ff. 51 Einzelheiten bei Christof Dipper, Adelsliberalismus in Deutschland. In: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 172 – 192; zu den ostpreußischen Liberalen S. 178 ff. 52 Die hohen kommunalen Armenlasten als wichtige, wenn auch nicht alleinige Ursache für die Vorstöße zugunsten einer liberalisierten Gemeindeordnung sieht Herbert Obenaus, Gutsbesitzer­ liberalismus. Zur regionalen Sonderentwicklung der liberalen Partei in Ost- und Westpreußen während des Vormärz. In: GG 14 (1988), S. 304 – 328. 53 Belege bei Monika Wienfort, Ostpreußischer „Gutsbesitzerliberalismus“ und märkischer „Adelskonservatismus“. Politische Perspektiven des preußischen Adels in der Lokalverwaltung im Vormärz. In: Kurt Adamy / Kristina Hübener (Hg.), Adel und Staatsverwaltung in Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 305 – 323.

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Verfassungsversprechen vor.54 Die als Huldigungslandtag zusammengetretenen west- und ostpreußischen Provinzialstände,55 in denen der grundbesitzende Adel zahlenmäßig und politisch den Ton angab, erinnerten in einer Eingabe an diese Versprechen. Der König lehnte empört ab. Diese Zurückweisung veranlasste den Oberpräsidenten Theodor von Schön zu einer Denkschrift, in der er ganz im Geiste des Freiherrn vom Stein eine neuständische Repräsentation mit erheblichen Selbstverwaltungsbefugnissen vorschlug, mit der der verhasste Beamtenstaat bekämpft, wenn nicht abgebaut werden sollte. Im Blick auf das westliche und südliche Deutschland war das ein eigenwilliger, altmodischer Liberalismus, der umso besser zu den politischen Vorstellungen der m ­ ittel- und oberitalienischen Patrizier bzw. Grundbesitzer passte: Anerkennung der veränderten sozialen Zusammensetzung der Rittergutsbesitzerklasse, Selbstverwaltung des flachen Landes durch ebendiese und ein Repräsentationsorgan, das bewusst eine große Distanz zu Parlamenten und Konstitutionalismus moderner Prägung einhielt. Als die Denkschrift von dem demokratischen Emigranten Georg Fein 1842 publik gemacht wurde,56 drängte Berlin Schön zum Rücktritt. Damit zog sich der König „zum erstenmal den offenen Unwillen der Liberalen zu“.57 Es war daher letztlich die Person des starrsinnigen Königs, dessen wiederholtes ‚Nein‘ erst eine lockere Gesinnungsgemeinschaft zur (kleinen) Gruppe zusammenschweißte. Der deutsche Adelsliberalismus – als handelnde Bewegung mit politischem Programm verstanden, nicht als bloße Gesinnung im Stile der gerade im 19. Jahrhundert ziemlich verbreiteten ‚liberalen Denkungsart‘ – verdankt also seine Entstehung der Kombination bürokratisch-­anstaltlicher Modernisierung und blockierter Verfassungsgebung. Preußen ist bis 1848 das Paradebeispiel ­dieses widersprüchlichen Zustands,58 der anfangs vor allem die Interessen des Beamtentums befriedigte, dann allerdings auch die Zustimmung der großen Mehrheit der Rittergutsbesitzer fand, nachdem die Generation altständischer Radikalopponenten vom Schlage eines von der Marwitz – er war 1837 gestorben – abgetreten war. Dieser Liberalismus findet sich daher nicht im konstitutionellen Deutschland, wo die bürgerlichen Honoratioren dank Ansehen, Organisation und politischer Leistung (bzw. Verheißung) damals noch ziemlich 54 Nämlich vom 27. 10. 1810 (Finanzedikt), 22. 5. 1815 (Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes) und 17. 1. 1820 (Staatsschuldengesetz). 55 Provinzialstände gab es in Preußen seit 1823. Hinsichtlich Zusammensetzung und Befugnissen ähnelten sie sehr den Generalkongregationen im Königreich Lombardo-­Venetien, was angesichts des Metternich’schen Einflusses in Berlin nicht wundern kann. 56 Woher und wohin? Von v. Schön, Staatsminister und Oberpräsidenten der Provinz Preussen. Nebst einem Nachwort von Georg Fein, Straßburg 1842. 57 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, Stuttgart 21968, S. 467. 58 Historisch gesehen, handelte es sich bei dieser Konstellation um die geradlinige Fortsetzung der spätaufgeklärten Reformpolitik. Erst der im frühen 19. Jahrhundert aufkommende moderne Konstitutionalismus ließ die Fortführung des bisher erfolgreichen Modernisierungsmodells als Widerspruch erscheinen.

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unangefochten das Feld beherrschten. Nur in scheinbarem Widerspruch dazu steht, dass die standesherrlichen Liberalen fast ausschließlich aus dem konstitutionellen Teil Deutschlands kamen. Sie brachten jedoch partikularstaatlichen ­Themen wenig Interesse entgegen, genauer: Sie fühlten sich als Opfer der Bürokratie, die, so Fürst Leiningen,59 in Süddeutschland sowohl die Monarchen als auch die Parlamente zu steuern verstehe und damit die Staaten auf die abschüssige Bahn der Revolution zu bringen drohe. Ordnungsmuster der deutschen Adelsliberalismen Dass die Standesherren ihre Situation als historisches Unrecht wahrnahmen, reicht noch nicht als Motiv für politische Aktivitäten zumal liberaler Spielart aus. Ihre herausgehobene gesellschaftliche Stellung und ihr bis weit ins 19. Jahrhundert hinein beibehaltener höfischer Lebensstil in den mehr oder minder abgelegenen Residenzen standen politisch-­parlamentarischen Anforderungen entgegen. In die Rolle des Staatsbürgers konnten sich diese ‚Unterlandesherren‘ schon deshalb kaum einfinden, weil ihr Besitz sich über mehrere Länder erstreckte und sie sich wenigstens mit einem davon hätten identifizieren müssen;60 Württemberg machte ihnen das notorisch besonders schwer. Die meisten resignierten verbittert. Eine Minderheit hielt es allerdings für ihre Pflicht, „thätigen und einflußreichen Antheil bei der Entwicklung der deutschen Zustände zu nehmen, eine Entwicklung, die sicherlich nur im Sinne freier Institutionen vor sich gehen wird“.61 In den 1840er Jahren lag es für Hochadelige nahe, sich bei der Konkretion eines solchen Vorhabens an den englischen Whigs zu orientieren. Leiningen, ein Halbbruder der Queen Victoria, verfasste seine Denkschrift auf der Insel Wight, wo er in Osborne häufig zu Gast war; Chlodwig Fürst Hohenlohe und Karl Egon II. Fürst von Fürstenberg standen ebenfalls in engem Kontakt zum Hof von St. James.62 Soweit es sich dem Liberalismus zurechnen lässt, verband das standesherrliche Ordnungsmuster, nach dem Deutschland neu justiert werden sollte, viel mehr Eigen- mit Allgemeininteressen als ab 1842 im Falle der Ostpreußen, doch blieb das unsichtbar, solange auch in bürgerlichen Kreisen das viktorianische England Modellstatus genoss. Schon im Vormärz warben liberale Standesherren für Reformen im Sinne der liberalen Opposition: Aufgabe der agrarpolitischen Blockadepolitik ihrer konservativen Standesgenossen, Reform der Hocharistokratie nach britischem Muster, Bündnispolitik mit den bürgerlichen Eliten gegen die gefürchteten Demokraten, Erweiterung

59 Wie Anm. 47. 60 Fürst Karl Leiningen saß in den ­Ersten Kammern Bayerns, Badens und Hessens. 61 Wie Anm. 47, S. 387. Hervorhebungen im Original. 62 Ebd., S. 180. Ich folge auch im weiteren Gollwitzers Darstellung.

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parlamentarischer Rechte und als Klammer die Umwandlung des Deutschen Bunds in ein allerdings national nicht näher definiertes Deutschland mit einem Habsburger an der Spitze. Diese Maßnahmen sollten endlich auch die politische Repräsentanz für die durch Napoleon Entmachteten bringen, wie sie auf dem Wiener Kongress versprochen worden war und wie man sie im englischen Oberhaus bewunderte. Vor 1848 war das alles durchaus zukunftsträchtig und traf darum auch auf die Zustimmung bürgerlicher Liberaler. Doch anders als ihr englisches Vorbild, die Whigs, scheuten viele von ihnen die Durchsetzung durch modernes politisches Verhalten. Das ‚Bohren dicker Bretter‘ war ihre Sache nicht. Berufe, Ämter, Parlamentspräsenz, Pressearbeit und der Aufbau politischer Netzwerke – all dies widersprach ihrer Auffassung standesgemäßen Lebens, die auf Wahrung großer sozialer Distanz Wert legte. In der ersten Krise der Revolution von 1848, wo die aktiven Politiker unter ihnen bei der rechten Mitte zu finden waren, erwies sich d­ ieses Ordnungsmuster jedoch schon rasch als nicht mehr zeitgemäß. Nur seinem Ruf verdankte es der bei der Wahl durchgefallene Karl Leiningen, dass er im Juli zum ersten Reichsministerpräsidenten der von Heinrich von Gagern geschaffenen Provisorischen Zentralgewalt gewählt wurde. In der auf den preußisch-­dänischen Waffenstillstand von Malmö folgenden Auseinandersetzung der Nationalversammlung mit Friedrich Wilhelm IV., den er längst nicht so negativ beurteilte wie Chlodwig Hohenlohe, fand er sich z­ wischen allen Stühlen und trat daher schon am 5. September zurück. Zur organisierten liberalen Bewegung sind vor 1848 nur die wenigsten dieser „Whigs“ in Beziehung getreten und auch dann verhinderte die soziale Distanz, die diese Personen umgab, meist den unmittelbaren Kontakt mit der Tagespolitik. Ludwig Fürst zu Öttingen-­Wallerstein war 1832 – 37 bayerischer Innenminister und 1847/48 glückloser Minister­präsident. In beiden Ämtern galt er ebenso als Exponent der reformfreudigen, liberalen Kräfte wie s­päter Chlodwig Fürst Hohenlohe, der ihm 1866 in d ­ ieses Amt 63 folgte. Vielleicht ist es kein Zufall, dass in den Krisenmomenten deutscher Einigung Hocharistokraten als Regierungschefs herangezogen wurden, galten sie doch seit Jahrzehnten als Befürworter einer nationalen und liberal-­konservativen, die angestammten Dynastien schonenden Linie. Gescheitert sind sie dabei freilich alle, das Scheitern scheint somit ein Merkmal der liberalen Standesherren gewesen zu sein. Hierin unterschieden sich die deutschen „Whigs“ nur zu sehr vom englischen Original. Denn zu den Garanten des Verfassungsstaats und sozialer Reformen, eingebunden in politische Parteien und ausgestattet mit weitreichenden Beziehungen in den Regierungs- und Beamtenapparat, sind sie niemals geworden. Einerseits waren die politischen Verhältnisse in Deutschland nicht so beschaffen, dass ihnen eine Führungsrolle gewissermaßen natürlicherweise zugefallen wäre, andererseits scheuten sie im Zweifelsfalle den Konflikt mit den Herrscherhäusern. 63 Hohenlohe war 1848 Sonderbotschafter der Provisorischen Zentralgewalt und suchte in Athen, Rom und Florenz diplomatische Beziehungen herzustellen. Von 1894 bis 1900 war er zunehmend einflussloser Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident.

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Nach der gescheiterten Revolution von 1848 kann darum von einem standesherrlichen Adelsliberalismus nicht mehr gesprochen werden. Sofern sich diese liberale Minderheit weiterhin als Gruppe verstand, erschien ihr nun Interessenpolitik der am meisten Erfolg versprechende Weg. 1863/64 machte sie sich zum Sprecher aller und gründete unter Hinweis auf die „zu neuem Aufschwung gelangte Reformbewegung auf dem Gebiet des deutschen Verfassungslebens“64 den Verein der deutschen Standesherren. Einerseits knüpfte sie dabei an die großdeutsche Bewegung an, andererseits übernahm sie mit d ­ iesem förmlichen Zusammenschluss den aus dem Liberalismus stammenden Assoziationsgedanken. Die damit bezweckte „Theilnahme an der Gesammtregierung Deutschlands“, idealiter wiederum in Gestalt eines dem englischen Vorbild nachgeahmten Oberhauses, blieb illusionär, wie überhaupt die enge Verbindung der Mediatisierten mit der großdeutschen Idee, die sie publizistisch und hinter den Kulissen förderten,65 dafür sorgte, dass die nationalpolitische Seite ­dieses Vereins und damit auch die dem Liberalismus verwandte mit dem Jahr 1866 in der Versenkung verschwand. Damals war der ostpreußische Gutsbesitzerliberalismus schon länger im Niedergang begriffen und wie für die Standesherren hatte die 1848er Revolution dafür gesorgt, dass er ins politische Abseits geriet, weil für diesen ebensowenig wie für jenen eine ernsthafte Opposition zum Herrscherhaus vorstellbar war. Der Königsmechanismus funktionierte, kein Wunder, in diesen Kreisen noch wesentlich ausgeprägter als bei den bürgerlichen Liberalen. Wie erinnerlich, war auf dem Huldigungslandtag 1840 mit der Verfassungsfrage erstmals ein genuin liberales Thema ins Spiel gekommen. Dass auch der König mit der Zeit gehen müsse, war aber fast noch der modernste Gedanke dabei, denn die angemahnte gesamtpreußische Repräsentation sollte ausdrücklich weiterhin eine Ständeversammlung, kein Parlament sein. Der Abgang ihres Sprechers von Schön festigte nicht nur den Gruppenzusammenhalt der liberalen Minderheit, sondern erlaubte ihr zugleich die Öffnung hin zum liberalen Mainstream in West- und Süddeutschland. Das bedeutete zugleich den Abschied von den überlieferten sozialdefensiven und gruppenegoistischen Parolen aus früheren Jahren und den Beginn eines Lernprozesses von erstaunlichem Tempo. Von Jahr zu Jahr, d. h. in engem Wechselspiel mit den „gefährlichen Halbheiten“66 der Berliner Verfassungs- bzw. Verfassungsverhinderungspolitik nahm nun der ostpreußische Adelsliberalismus konkretere Gestalt an und entwickelte jene Konturen, für die er berühmt geworden ist. 1844 versuchte Ernst von Saucken-­Tarputschen,

64 Promemoria betreffend die Gründung einer dauernden Association der ehemals reichsständischen jetzt mittelbar gewordenen fürstlichen und gräflichen Häuser. Abgedr. in: Gollwitzer, Standesherren (wie Anm. 6), S. 392 – 396. Zitat S. 392. Ebd., S. 394, das nächste Zitat. Wortführer waren neben Hohenlohe die Fürsten Wilhelm Löwenstein und Alexius Bentheim-­Steinfurt sowie Erbprinz Karl Isenburg-­Birstein. 65 Dazu Gollwitzer, Standesherren (wie Anm. 6), S. 139 ff. 66 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2 (wie Anm. 57), S. 488.

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der neue Wortführer, den König zu überzeugen, dass er sich künftig auf den „wahren Adel“ stützen müsse, denn dieser, nicht „die Partei des alten Adels“, stütze den Thron, indem er den gesellschaftlichen Wandel zum Maßstab politischen Handelns mache.67 1845 verlangte er unumwunden die Konstitutionalisierung Preußens zur Lösung der sozialen Frage und brachte wenig ­später die Idee der deutschen Einheit ins Spiel. Sie wurde weiten Kreisen vollends plausibel, als Anfang 1846 die reaktionären Bundesbeschlüsse von 1832 auf die Provinz Preußen ausgedehnt wurden und das Echo von Welckers badischen Landtagsreden bis nach Königsberg gelangte. 1847 kritisierte er das Zugeständnis des nach den hergebrachten neuständischen Kriterien zusammengesetzten Vereinigten Landtags als unzureichend und forderte „Gleichheit vor dem Gesetz, ­gleiche Rechte bei gleichen Pflichten für jeden Staatsbürger, Preßfreiheit und volle Öffentlichkeit“; dies ­seien „die sichersten Grundlagen zum fortschreitenden Gedeihen des Staates und Volkswohles“.68 Mit ­diesem Katalog, der in Berlin auf den entschiedenen Widerspruch Bismarcks stieß, war der nachholende Lernprozess abgeschlossen. Er hatte aus weltanschaulich abstinenten Adligen quasi-­naturrechtlich argumentierende Politiker gemacht, die überregionale Kontakte geknüpft und sich die zeitübliche liberale Semantik angeeignet hatten. Prompt wurde Saucken-­Tarputschen beschuldigt, „voll demokratischen Geistes zu sein“. Angesichts der deutschlandweiten Kontakte und der nationalpolitischen Orien­ tierung, nicht zuletzt aber wegen seiner negativen Erfahrungen mit dem preußischen König und seinen engsten Beratern ist es nur natürlich, dass man den ostpreußischen Adelsliberalismus 1848 in Frankfurt und nicht in Berlin antraf. Seine Abgeordneten stellten beinahe ein Drittel der ostpreußischen Deputierten überhaupt und unterschieden sich, soweit sich dies am Abstimmungsverhalten ablesen lässt, von ihren bürgerlichen Fraktionskollegen kaum. Die meisten waren Mitglied der Casino-­Fraktion und verbanden als ­solche den Einheitsgedanken mit entschiedener Betonung der Grundrechte und einer gewissen Zurückhaltung in der Frage der Parla­mentarisierung. Sosehr sie fürchteten, dass die Republik gleichsam hinter jeder Ecke lauere, sowenig waren sie darum bereit, deshalb die klassischen Freiheitsrechte einzuschränken. Parlamentarische Führungsfunktionen hatte niemand von ihnen, aber von Saucken zählte zumindest in der Anfangszeit zu den einflussreichen Persönlichkeiten.69 Zur erbkaiserlichen Lösung gab es für sie keine Alternative. Ihren König forderten sie darum zur Annahme der Kaiserkrone auf, erhielten aber nicht einmal eine Antwort, sondern wurden stattdessen im Mai 1849 von ihm aus Frankfurt zurückgerufen. Widerwilliger Gehorsam paarte 67 Näheres mit den Belegen auch der folgenden Zitate bei Christof Dipper, Adelsliberalismus (wie Anm. 51), S. 178 f. 68 Ähnliches schon in Briefen von Sauckens an den König zwei Jahre früher. Zit. Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution 1848 – 1849, Bd. 1, Sonderausg. Köln 1970, S. 42 f. 69 Die überaus detailreiche und personenorientierte Darstellung Valentins nennt im Index seinen Namen für 1848 seltener als für die Vorgeschichte.

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sich mit Ratlosigkeit hinsichtlich der Zukunft, denn die Verbindung von Freiheit, Gleichheit, Einheit und Monarchie hatte sich als unrealistisch herausgestellt. Damit war für diesen Flügel des Liberalismus, 1848/49 in der Mehrheit, die Geschäftsgrundlage entfallen und in Ostpreußen verliefen sich wie anderswo auch seine Anhänger und Wähler, wie Saucken-­Tarputschen 1852 resigniert feststellte. Dass das auch an ihrer Gegnerschaft zu einer liberalen Bodenordnung gelegen haben könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Aus ihrem Kreise hatte in Frankfurt als einziger von Saltzwedel für entschädigungslose Grundentlastung und Abschaffung der Fideikommisse gestimmt und galt seither politisch als untragbar. Als er 1851 als Gumbinner Regierungspräsident abgesetzt wurde, protestierte kein liberaler ostpreußischer Adliger dagegen. Von der Bodenordnung abgesehen, hatte sich dieser Adelsliberalismus inzwischen von seinen anfänglichen standespolitischen Prioritäten entfernt und ein bürgerlich-­ liberales Politikverhalten angenommen, das auf Stimmen aus anderen Lagern angewiesen war und diese selbstverständlich auch suchte. Gleichwohl oder gerade deshalb erlebten diese ostpreußischen Adeligen die Krise des Liberalismus nicht anders als ihre bürgerlichen Mitkämpfer und konnten nicht, wie in Italien, auf eine quasi naturwüchsige Loyalität ihrer Standesgenossen hoffen, die so lange den Nachwuchs ins Gefecht schickten, bis die Schlacht gewonnen schien. Der ostpreußische Adelsliberalismus verschwand darum in der Reaktionszeit bis auf geringe Reste und musste, teleologisch gesehen, eineinhalb Jahrzehnte warten, bis er den Stab an die schlesischen Magnaten übergeben konnte. Die nächste Generation lernte diese Lektion. Die dritte und kurzlebigste Spielart des Adelsliberalismus bildete eine Gruppe junger, vornehmlich schlesischer Edelleute, die es an sozialer Exklusivität mit ihren ostpreußischen Vorgängern mühelos aufnehmen konnten. Ihnen schlossen sich nach 1867 auffallend viele jüngere Mediatisierte an, auch um ihre eigenen Interessen nunmehr als Volksvertreter doch noch durchsetzen zu können.70 Im preußischen Abgeordnetenhaus stellten sie in der Fraktion der neugegründeten Freikonservativen Partei jeweils die Mehrheit, in der des Norddeutschen Bunds sogar drei Viertel der Mitglieder. Anders als ihre Vorgänger stellten sie sich von vornherein auf den Boden des Neuen und akzeptierten das Parlament als den maßgeblichen Austragungsort des Wettbewerbs um die Gestaltung der politischen Moderne. In den Worten des Grafen Frankenberg von 1867: „Es ist notwendig, dass gerade die jüngere, jetzt auftretende Klasse unserer Standesgenossen die Ideen der neuen, im Fluge fortrollenden Zeit sich aneignet und sie womöglich beherrscht, denn nur so kann dem Adel in dem Verfassungsstreite, der immer mehr Grundlagen 70 Graf Stolberg an den Vorsitzenden des Vereins der Standesherren, den Fürsten von Fürstenberg, am 23. 12. 1866: „Am meisten wird jedoch […] in dieser Angelegenheit zu wirken sein, wenn unsere Standesgenossen sich möglichst in das Norddeutsche Parlament wählen lassen und warm in demselben unsere Ansprüche vertreten werden“. Zit. Dipper, Adelsliberalismus (wie Anm. 51), S. 191, Anm. 46. In der Fraktion waren allein acht Standesherren.

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bei uns gewinnt, die Stellung gewahrt bleiben, w ­ elche er zum Heile des Ganzen und zum eigenen Heile annehmen muss. Die Aristokratie im absoluten Staate muss am Hofe glänzen, im konstitutionellen aber im Parlamente. Dies Ziel darf sie niemals außer Acht lassen“.71 Vorrangiges Ziel war es, die gegenseitige Blockade von Konservativen und Liberalen in der Reichsgründungszeit mit einer undogmatischen und am Fortschritt orientierten Politik zu überwinden. In der Verfassungsdebatte des Norddeutschen Bunds formulierten sie ihr Parlamentarismusmodell: Erweiterte Budgetrechte und große Befugnisse in der Innen- und Sozialpolitik, dafür Zurückhaltung bei außen- und militärpolitischen Fragen und keine Ministerverantwortlichkeit, weil der neue und noch fragile Bundesstaat erst einmal seine Bewährungsprobe bestehen müsse. In Preußen kritisierten sie mit den Konservativen das liberale Projekt des Kulturkampfs, fochten aber gleichzeitig gegen den neuen Ultramontanismus. Ihre ureigensten Anliegen verfolgte die Partei hingegen mit der Wiederaufnahme des jahrzehntealten Reformprojekts der ländlichen Verhältnisse. 1872 setzten die Freikonservativen die neue Kreisordnung durch, um dank erweiterter Selbstverwaltungsrechte – dem klassischen Ordnungsmuster des Adelslibera­ lismus in ganz Europa, auch wenn es ganz unterschiedliche Stoßrichtungen kannte – die Restbestände des ländlichen Feudalismus verdrängen zu können. Die Umsetzung des Gesetzes scheiterte jedoch am Widerstand Bismarcks und der mit ihm verbündeten konservativen Agrarier, der Junker. Die Agrarkrise hat dann aber dieser Variante des Adelsliberalismus den Boden unter den Füßen entzogen, ihr Anteil in den beiden Fraktionen ging deutlich zurück. Ihren Resten gelang es darum auch nicht mehr, den 1879 im Reichstag eingeschlagenen Weg in den Solidarprotektionismus zu verhindern. Der Reichskanzler strich ihnen nämlich die Wahlhilfe des Verwaltungsapparats, worauf noch weitere freikonservative Kandidaten ihre Wahlkreise im Osten an Parteigänger der Regierung verloren. Im Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus gab es von nun an zwar noch liberale Adlige, aber der Adelsliberalismus war an sein Ende gekommen. Vergleichende Bilanz Sieht man den Adelsliberalismus wie andere politische Bewegungen als interessengeleitet und versteht man unter Interesse in ­diesem Fall den Versuch, auf die politische Moderne eine Antwort zu finden, zeigt sich unschwer, dass der deutsche und der italienische Adelsliberalismus grundverschieden waren. Verschieden war nicht nur die Hauptstoßrichtung, sondern auch der Grad politischer Handlungsspielräume. Entsprechend unterschiedlich waren auch die Vorstellungen guter Herrschaft.

71 Tagebucheintrag vom 25. 2. 1867. Zit. ebd., S. 182.

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Zwischen 1750 und 1850 vollzog der Staat in Europa die entscheidenden Schritte zum zentralisierten, bürokratisch gesteuerten Anstaltsstaat, wurde „Herrschaft durch Verwaltung“ (Lutz Raphael) zur Norm. Der Adel stand vor der Wahl, ob er sich ­diesem Prozess unterwerfen oder verweigern sollte. Das mächtige, reiche und entsprechend selbstbewusste toskanische und lombardo-­venezianische Patriziat entschied sich mehrheitlich für Verweigerung, sein Liberalismus war darum letzten Endes eine Form des Widerstands gegen die politische Moderne in ihrer neoabsolutistischen Form. Weil sein Erfolg in der ungeplanten Etablierung einer noch fortschrittlicheren Form der politischen Moderne bestand, dem (alsbald parlamentarisch regierten) Nationalstaat, wird man aus Adelsperspektive von einem Pyrrhussieg sprechen müssen; zahlreiche politische Biographien belegen das. Die Masse des im Vergleich viel ärmeren deutschen Adels hatte damals schon seit zweihundert Jahren die Nähe der Fürsten gesucht. Ihm blieb daher im Grunde nur die vollständige Unterwerfung, die ihm allerdings den Vorteil verschaffte, den Prozess der Umbildung und Modernisierung mitzugestalten – mit dem Ergebnis, dass der bürokratische Staatsabsolutismus des 19. Jahrhunderts wesentlich auf dem Fundament adliger Loyalität beruhte. Besonders gilt das für Preußen. Erklärungsbedürftig ist daher, weshalb einige Adelsgruppen sich abweichend verhielten. Ihr überdurchschnittlicher Reichtum erklärt das nicht allein. Ohne weiteres einsichtig ist die Politik der Standesherren, sie weist auffällige Parallelen zum italienischen Fall auf: Distanz gegenüber den Monarchen, Glaube an eine natürliche Berechtigung der Aristokratie zur Vertretung der Interessen des ‚Landes‘, Desinteresse an politischer ­Theorie. Dem Vorrat liberaler Programme entnahm man das Brauchbarste für die eigenen Ziele; dass dazu auch die nationale Einheit zählte, unterstreicht ein weiteres Mal die in den 1960ern entwickelte These,72 dass im Vormärz die nationale Einheit ganz wesentlich als ein Mittel zur Überwindung der fundamentalen Gesellschaftskrise angesehen wurde. In der Summe lief das wie in Italien auf eine Form antimodernen Widerstands mit den Mitteln liberaler Schlagworte hinaus. Unter den obwaltenden politischen Rahmenbedingungen reichte es freilich nicht einmal zu einem Pyrrhussieg. Schwieriger ist die Beurteilung des ostpreußischen und schlesischen Adelsliberalismus. Erstem gelang kurz vor der 1848er-­Revolution der Wechsel vom antimodernen Programm zum Parteigänger eines moderaten Liberalismus in ­Theorie und Praxis, d. h. er ließ ein pragmatisch ausgerichtetes Programm politischer Teilhabe erkennen und suchte ­dieses durch Wahlen und Parlamentstätigkeit durchzusetzen. Die Schlesier nahmen diese Hürde gleich zu Beginn. Das soll nicht heißen, dass sie nicht ebenfalls Standesinteressen vertraten, aber diese waren so beschaffen, dass sie sich leicht in das 72 So erklärt sich beispielsweise die frühe Teilnahme der Handwerksgesellen, dann aber auch der Meister an der nationalen Bewegung, die der Studenten ohnedies. Die Nation verhieß Integration und Partizipation.

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emanzipatorische Programm des allgemeinen Liberalismus einordnen ließen: begrenztes Wahlrecht, weitgefasste Rechte des Parlaments (jedoch ohne volle Parlamentarisierung), Trennung von ­Kirche und Staat, weitgehende Selbstverwaltung auch auf dem Lande, Stärkung des Genossenschaftswesens und Freihandel. Dass diese beiden Spielarten des deutschen Adelsliberalismus als Generalstab ohne Armee endeten, lag nicht nur an der Unbeugsamkeit der preußisch-­deutschen Monarchie und ihres Herrschaftsapparats, sondern auch am Unvermögen, eine moderne politische Partei zu schaffen, die angesichts des allgemeinen Wahlrechts pragmatisch auf Massenmobilisierung setzte. Der Adelsliberalismus teilte darum das Schicksal des Liberalismus in Deutschland überhaupt, ja er scheiterte noch rascher als dieser an der politischen und gesellschaftlichen Moderne. Auch in d ­ iesem Falle kann also von einem Pyrrhussieg keine Rede sein, eher gehören seine Vertreter jedoch wie so viele liberale Reformer in Deutschland in das große „Lager der Besiegten“.73 Es war der konservativ-­reaktionäre Adel, der sich hierzulande zu Tode gesiegt hat.

73 Vgl. Georg von Bunsen, Ein Charakterbild aus dem Lager der Besiegten, gezeichnet von seiner Tochter Marie von Bunsen, Berlin 1900. Oncken, Deutsche Whigs (wie Anm. 6), übernahm diesen Buchtitel als Inbegriff für das Kollektivschicksal der „liberalen Oberschicht“ Deutschlands.

Revolution und Risorgimento Italien 1848/49 aus deutscher Perspektive *  Italien gilt wie Deutschland als „verspätete Nation“, die beide 1848 einen, freilich vergeblichen Anlauf zur nationalen Einheit in freiheitlicher Verfassung unternahmen, dafür aber in den folgenden zwei Jahrzehnten umso erfolgreicher handelten. Die Parallelen springen geradezu ins Auge und dies nicht erst neuerdings. Seit 1866 hat die deutsche Geschichtsschreibung immer wieder Bismarck mit Cavour verglichen – den Nationalliberalen galten beide als die Heroen der nationalen Einheit, Katholiken und Demokraten dafür als Totengräber legitimer Ansprüche und gerechter Hoffnungen.1 Im ­­Zeichen der „Achse“ wurde die durch den ­Ersten Weltkrieg unterbrochene Tradition der Parallelgeschichte wiederbelebt.2 Nach dem neuerlichen Zerwürfnis der beiden Nationen hat man sie dann aus Gründen der Völkerverständigung ausdrücklich gefordert und praktiziert.3 Das Bild zweier Parallelgeschichten ist natürlich nicht ganz falsch, aber zu einfach. Vieles an ihm entsprang bzw. entspringt eher politischen als wissenschaftlichen Absichten. Seine holzschnittartige Beschaffenheit verdeckt nämlich Wesentliches, denn der historische Verlauf in beiden Ländern weist eine Fülle von Unterschieden auf. Das gilt auch, ja vielleicht in besonderem Maße für 1848.4

* Vortrag am 23. Juni 1998 in der Paulskirche. Die Vortragsfassung ist beibehalten. 1 Stellvertretend für viele sei genannt Wilhelm Lang, Deutsche und italienische Einheit. In: Preußische Jahrbücher 27 (1871), S. 208 – 223. Weitere Nachweise bei Hans Rosenberg, Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands (Vom Eintritt der Neuen Ära bis zum Ausbruch der Deutschen Kriege), 2 Bde., München, Berlin 1935; Karl-­Georg Faber, Die national­politische Publizistik Deutschlands von 1866 bis 1871. Eine kritische Bibliographie. 2 Bde., Düsseldorf 1963. 2 Michael Seidlmayer / Theodor Schieder, Geschichte des italienischen Volkes und Staates, Leipzig 1940, S. 9 f. 3 Wie guter Wille gelegentlich in die Irre führen kann, zeigt die vom damals so genannten Inter­ nationalen Schulbuchinstitut in Braunschweig veranstaltete 8. Deutsch-­italienische Historiker­ tagung, wo es Ferdinand Siebert als „unsere sowohl wissenschaftliche als auch pädagogische ­Aufgabe“ bezeichnete, „daß wir nun deutlicher als bisher das Verbindende herausstellen“; Ferdinand ­Siebert, Die Verbundenheit des deutschen und italienischen Schicksals in der Einigungszeit. In: Die deutsch-­italienischen Beziehungen im Zeitalter des Risorgimento, Braunschweig 1970, S. 83 (Hervorhebung im Original). In der Diskussion kritisierten italienische Historiker gelegentlich das Bemühen um Parallelität (ebd., S. 121). 4 So auch knapp, aber prägnant die Empfehlungen des Internationalen Schulbuchinstitutes von 1960, auf die hier verwiesen wird, weil sie, vom ‚Zeitgeist‘ erkennbar durchdrungen, seit langem in Vergessenheit geraten sind: Deutschland-­Italien. Empfehlungen zur Behandlung der geschichtlichen Beziehungen der beiden Völker vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Ziff. 143 – 145. In: Tausend Jahre deutsch-­italienischer Beziehungen. Die Ergebnisse der deutsch-­italienischen

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Das heißt natürlich nicht, man könne nicht vergleichen − im Gegenteil. Über die besonderen Erkenntnismöglichkeiten, die der historische Vergleich bietet, herrscht unter Historikern Einmütigkeit. Eine ­Theorie existiert hingegen nicht. Solange es keine standardisierten oder gar kanonisierten Verfahren historischer Komparatistik gibt,5 mag es ratsam sein, aus der sicheren Kenntnis der eigenen Geschichte die vergleichbaren Phänomene der anderen zu betrachten − nicht um die eine zum Maßstab der anderen zu machen wie Treitschke 1869 in seiner schulmeisterlichen Darstellung der italienischen Nationalstaatsgründung,6 sondern um desto besser die Unterschiede herauszuarbeiten und ihre Ursachen zu benennen. Stellen wir also deutsche Fragen in der Absicht, dadurch umso klarere italienische Antworten zu erhalten. Deutsche Fragen − italienische Antworten Deutsche Fragen stellten schon die Zeitgenossen, aber die Antworten, die sie den Ereignissen in Italien ablauschten, verwirrten sie zunehmend. Die in den 1830er Jahren einsetzende Politisierung des deutschen Italienbildes suchte vor allem eine Antwort auf die Ursachen der Dekadenz, die, wie übrigens auch in Italien selber, das vorherrschende Interpretament für die Geschichte der peninsularen Staatenwelt und ihrer Kulturen darstellte. Das anfängliche Wohlwollen 7 schlug in Skepsis, ja Ablehnung um, sobald die Forderung nach Einheit und Unabhängigkeit laut wurde. Die Kritik galt nicht nur Mazzini, dem man geradezu luziferische Attribute anhängte, sondern auch den gemäßigten Vertretern monarchisch-­bundesstaatlicher Vorstellungen. Die deutschen Beobachter der späten 1840er Jahre waren so gut wie ausnahmslos unfähig, die politischen Vorgänge auf der Apennineninsel angemessen zu verstehen. Das wäre ein eigenes Thema und ist auch entsprechend oft schon behandelt worden.8 Mit der nationalen Frage konfrontiert, reagierten viele, das Dekadenzmotiv benutzend, mit der Mobilisierung nationaler Stereotypien, die nicht viel mehr als ein umfangreiches



Historikertagungen in Braunschweig (1953), Goslar (1956), Siena (1957), Bamberg (1958) und Erice (1959), Braunschweig 1960, S. 46 – 48. 5 Vgl. dazu Heinz-­Gerhard Haupt / Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/M., New York 1996. 6 Heinrich von Treitschke, Cavour [1869]. In: Ders., Historische und politische Aufsätze, Bd. 2., Leipzig 81921, S. 368 f. 7 Außerordentliches Interesse und wichtige Beiträge durch deutsche Italienkenner betont insbesondere Franco Venturi, L’Italia dei moderati tedeschi. In: Ruggiero Romano / Corrado Vivanti (Hg), Storia d’Italia, Bd. 3: Dal primo Settecento all’Unità, Turin 1973, S. 1275 ff. 8 Genannt ­seien nur Wolfgang Altgeld, Das politische Italienbild der Deutschen ­zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848, Tübingen 1984, und Jens Petersen, Das deutsche politische Italienbild in der Zeit der nationalen Einigung [1991]. In: Ders., Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze, Köln 1999, S. 60 – 89.

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„Kriminalporträt“9 enthielten und dessen Reste sich bis in die Gegenwart erhalten haben. Damit erübrigte sich die Verstehensfrage. Italien war für die Deutschen nurmehr ‚das Land, wo die Zitronen blüh’n‘, ein mit Kunstschätzen vollgestopftes Museum, aber leider bevölkert von Taschendieben, Messerstechern, Faulenzern, Betrügern, Frömmlern und Verschwörern, d. h. leiden­schaftlichen Menschen, denen politisch nicht zu trauen war. Italien hatte seine Zukunft bereits hinter sich. Entsprechend verhielten sich die Achtundvierziger. Was sich südlich der Alpen abspielte, passte nicht in ihr politisches Weltbild. So erwiderte beispielsweise der 51er Ausschuss im April 1848 nicht die Grußadresse der Mailänder Provisorischen Regierung, und die Nationalversammlung verweigerte den aus Turin, Mailand und Trient angereisten Bevollmächtigten das Gespräch.10 Mit Genugtuung verfolgte man die siegreichen Feldzüge des „Heldengreises“ Radetzky in Oberitalien. Für die Mehrheit endete Deutschland nämlich nicht an der Salurner Klause, sondern am Mincio, ja eigentlich am Tessin und Po. Niemals ist von den Zeitgenossen der Unterschied z­ wischen Deutschland und Italien stärker betont worden als gerade 1848. Dass die Italiener Ähnliches im Sinne hatten wie die Deutschen, wurde hierzulande, von Revolutionsfachleuten wie Marx und Engels einmal abgesehen, sehr ungnädig aufgenommen.11 Aber das galt auch für das Verhältnis zu anderen Nationen. Entgegen der allgemeinen Erwartung trat 1848 die nationale Revolution in Gestalt der Eisheiligen auf und zerstörte allenthalben die Blütenträume des europäischen „Völkerfrühlings“. Wenn die Zeitgenossen so wenig Hilfe bieten, müssen wir uns bei unseren Fragen vom Interesse der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft leiten lassen. Aber nun genug der Vorrede. 1848 gilt als gescheitert, und ­dieses Scheitern will natürlich erklärt sein. Große Erklärungskraft kommt gegenwärtig der Formel von der „ungewollten Revolution“ zu,12 die freilich nur den Horizont der Liberalen erfasst. Immerhin waren diese die Wortführer, 9 Petersen, Italienbilder (wie Anm. 8), S. 88. 10 Näheres dazu bei Günther Wollstein, Die Paulskirche und Oberitalien 1848/49. In: Risorgimento. Europäische Zeitschrift für die neuere Geschichte Italiens 1 (1980), S. 275 – 294. 11 Dazu neuerdings François Melis, „La Révolution marche en Italie!“ Die italienische Bewegung 1848/49 in der „Neuen Rheinischen Zeitung“. In: Rolf Wörsdörfer (Hg.), Sozialgeschichte und soziale Bewegungen in Italien 1848 – 1998. Forschungen und Forschungsberichte (Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung, H. 21), Bochum 1998, S.  27 – 45. 12 So zuerst Wolfgang Schieder, 1848/49. Die ungewollte Revolution. In: Carola Stern / Heinrich A. Winkler (Hg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848 – 1945, Frankfurt/M. 1979, S. 13 – 35. Neuerdings Wolfgang J. Mommsen, 1848 – Die ungewollte Revolution. Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830 – 1840, Frankfurt/M. 1998. Dieses Deutungsparadigma geht auf den bereits 1950 von Theodor Schieder festgestellten „‚Revolutionspessimismus‘ der bürgerlich-­ liberalen Intelligenz des 19. Jahrhunderts“ zurück: Theodor Schieder, Das Problem der Revolution des 19. Jahrhunderts [1950]. Jetzt in: Ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, Darmstadt 21970, S. 15.

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und das nicht nur in Deutschland, so dass es gerechtfertigt erscheint, als erstes zu fragen, ob auch für Italien diese Formel hilfreich ist. Die zweite Frage, die sich aus deutscher Sicht stellt, gilt dem Verhältnis von Einheit und Freiheit. Hierzulande waren beide durch den Wiener Kongress in ein unerwartetes Spannungsverhältnis getreten, das seit den ersten landständischen Verfassungen, also seit 1818, sogar zur bitter empfundenen Alternative werden konnte bzw. wurde.13 Die Staaten Italiens hingegen kannten im Vormärz keine Verfassungen. Hat das das Handeln 1848/49 erleichtert oder erschwert? Drittens schließlich die Frage der angemessenen Taktik. Die Liberalen in Deutschland hatten sich dem „gesetzlichen Weg“ verschrieben. „Vereinbarung“ war daher das Mittel ihrer Wahl, und sie setzten dabei natürlich die Einsichtsfähigkeit ihres Gegenübers, der Bürokratie bzw. der Monarchen, voraus. Die Radikalen zerbrachen sich über ­solche Fragen kaum den Kopf; sie warfen den Liberalen Illusionen vor und sprachen bisweilen offen von „Revolution“. In Wirklichkeit aber waren die Demokraten, wie sich der linke Flügel 1848 nannte, weniger gewaltbereit, als es schien, die Liberalen andererseits verzichteten nicht vollständig auf Gewaltanwendung. Im Interesse der Nation, so die Zeitgenossen, durfte man selbstverständlich Krieg führen – wie anders hätte man Napoleon 1813 vertreiben sollen? Auch 1848 spielte der Nationalkrieg eine Rolle,14 aber war sein Stellenwert in Italien ebenso zweitrangig wie in Deutschland? Revolution, Nation, Krieg – das also sind die Fragen, die wir im Durchgang der italie­nischen Geschichte 1848/49 untersuchen wollen. Revolution Die Revolution kam in Deutschland nicht nur unverhofft, die Konstitutionellen weigerten sich auch, sich auf sie zu berufen, obwohl sie ihr ihre Erfolge im März und April verdankten.15 Für die italienischen Staaten galt dies sogar noch mehr.16 Hier war die Restauration bekanntlich bereits vor der Pariser Februarrevolution zusammengebrochen.

13 Karl von Rotteck hat 1832 diese Alternative in die berühmt gewordene Wendung gekleidet: „Ich will die Einheit nicht anders als mit Freiheit und will lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit.“ Zit. bei Hermann von Rotteck in der Biographie seines Vaters. In: Karl von Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, Bd. 4, Pforzheim 1843, S. 400. 14 Zum bürgerlichen Bellizismus Christof Dipper, Über die Unfähigkeit zum Frieden. Deutschlands bürgerliche Bewegung und der Krieg, 1830 – 1914. In: Frieden in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Historischen Seminar der Universität Düsseldorf, Düsseldorf 1985, S. 92 – 110. Neuerdings auch Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750 – 1914, München 2008, S. 425 ff. 15 Dazu Christof Dipper, Ortsbestimmung der Gegenwart. „Revolution“ im Begriffsarsenal der Paulskirche. In: Ders. / Andreas Gestrich / Lutz Raphael (Hg.), Krieg, Frieden und Demokratie. Festschrift für Martin Vogt zum 65. Geburtstag, Frankfurt/M. 2001, S. 17 – 33. 16 Den neuesten Überblick über die Ereignisse auf der Apennineninsel bieten Giovanni Sabatucci / Vittorio Vidotto (Hg.), Storia d’Italia, Bd. 1: Le premesse dell’unità. Dalla fine del Settecento al 1861, Rom, Bari 1994. Der deutsche Leser erwartet in ­diesem Buch natürlich ein Kapitel zur 48er Revolution, aber ein solches fehlt. Warum das so ist, versucht dieser Aufsatz zu erklären. In deutscher Sprache zuletzt: Simonetta Soldani, Annäherung an Europa im Namen der

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Das war das Ergebnis einer seit Sommer 1846 anhaltenden Reformkonjunktur, d. h. seit der Wahl des Grafen Mastai Ferreti zum Papst, der als Pius IX. den Thron bestieg. Diese Reformkonjunktur hatte mit dem Kirchenstaat und bald auch der Toskana zunächst jene Staaten erfasst, die weder über eine funktionsfähige Beamtenschaft noch über ein taugliches Repressionsinstrument verfügten und deshalb dem durch die wirtschaftliche und politische Krise eingetretenen Legitimationsverlust nichts entgegenzusetzen hatten. Nach Amnestie, Lockerung der Pressezensur und Einsetzung neuer Ministerien entstand im Nu eine bürgerliche Öffentlichkeit, die durch Fackelzüge und Festbankette, Gedichte und Lieder, Zeitungen und Broschüren, Dankgottesdienste und Andachten Zusammenhalt fand und ­Themen besetzte. Dank der Priester sprang der Funke alsbald auch auf ländliche Gebiete über. Das war ein Umstand, dem größte Bedeutung zukam, denn so wurden Freiheit, Fortschritt und selbst Nationalität mit Treue zur katholischen Orthodoxie vereinbar, und das verhinderte, dass 1848 eine sanfedistische Konterrevolution wie 1799 den politischen Emanzipationsprozess buchstäblich im Blut erstickte. 1847 erhielt die Reformkonjunktur neue Schübe. Einerseits trat im Herbst Sardinien-­ Piemont in den Kreis der reformbereiten Staaten und nahm sogleich mit der Toskana und dem Kirchenstaat Verhandlungen wegen eines Zollvereins auf; ihn hatte, unter Hinweis auf die deutschen Erfahrungen, Richard Cobden den Italienern bei seiner triumphalen Rundreise im Sommer des Jahres empfohlen. Andererseits setzte nun eine öffentliche Diskussion über die Einigung Italiens ein, ohne dass, wie bisher, die Behörden dagegen einschritten. Das neue Jahr 1848 begann mit dem Aufstand Palermos; Sizilien erklärte sich für unabhängig. Die nun auch auf dem Festland wankende Herrschaft der Bourbonen wurde von König Ferdinand II. im Februar 1848 mit einer Verfassung stabilisiert. Eine Woche ­später folgte die Toskana; in der ersten Märzhälfte schlossen Sardinien-­Piemont und der Kirchenstaat den Reigen der Verfassungsgebung ab.17 Turin erhielt ein, wie man in Deutschland sagen würde, altliberales Kabinett. Anders verliefen die Dinge in Lombardo-­Venetien, von dem bisher aus guten Gründen noch nicht die Rede war. Die politische Elite war teils im Exil, teils mundtot. Mit jedem Reformschritt an anderen Stellen der Halbinsel stieg hier die Spannung. Der Januar 1848 begann mit einem Raucherstreik, der sechs Tote zur Folge hatte. Schon im Vorjahr, am 8. September, hatte es bei den Feierlichkeiten zur Einsetzung des neuen Mailänder Erzbischofs einen Toten und sechzig Verletzte gegeben. Die Provinz war im italienischen Vergleich zum reaktionären Sonderfall geworden, in der das nervös

Nation. Die italienische Revolution 1846 – 1849. In: Dieter Dowe / Heinz-­Gerhard Haupt / Dieter ­Langewiesche (Hg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 125 – 166. 17 Diese Verfassungen sind ebenso wie die Entwürfe für eine „Confederazione italiana“ abgedruckt in: Alberto Aquarone / Marco d’Addis / Giovanni Negri (Hg.), Le costituzioni italiane, Mailand 1958. Besser greifbar ist die Edition von Jörg Luther (Hg.), Documenti costituzionali di Italia e Malta 1787 – 1850, 2 Bde., Berlin 2010.

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werdende Militär die Zivilverwaltung an den Rand gedrängt hatte. Angst machte sich breit, die Geschäfte stockten, Arbeitslosigkeit griff um sich. Die Anhänger Mazzinis rüsteten sich wieder einmal zum Aufstand, die liberal-­aristokratische Opposition hielt stattdessen mit Karl Albert engen Kontakt. Als am 17. März die Nachricht von ­Metternichs Sturz eintraf, brach in Mailand tatsächlich der Aufstand aus. Demokraten und liberale Großgrundbesitzer, die Moderati, suchten ihn für ihre je eigenen Ziele zu benutzen. Nach fünf Tagen heftiger Barrikadenkämpfe zogen die österreichischen Truppen ab, die Moderati stellten mit dem bisherigen Stadtoberhaupt, Graf Casati, die neue Regierung. In Venedig rief dagegen Daniele Manin, ein soeben aus dem Gefängnis befreiter Advokat jüdischer Herkunft, die Republik aus. Im Vorjahr hatte er noch in Eingaben für maßvolle Reformen „auf gesetzlichem Wege“ geworben; die Antwort war seine Verhaftung gewesen. Selbst Manin zählte also im Grunde zu den ‚Revolutionären wider Willen‘. Erst recht gilt das für Casati. Die konspirativ denkenden Anhänger Mazzinis kamen allenfalls in Provinzstädten wie Bergamo oder im toskanischen Livorno zum Zuge, wo sie Aufstandsversuche unternahmen. Die Ministerien wurden von Männern geleitet, die sich der Vereinbarungstaktik verschrieben hatten. Von Sizilien und Lombardo-­Venetien abgesehen, gab es im Frühjahr 1848 keine Barrikaden auf der Halbinsel. Nation Wenn sich offenbar alle Welt einig war − und tatsächlich waren ja die „Märzforderungen“, um im deutschen Sprachgebrauch zu bleiben (die allerdings in Italien viel bescheidener ausgefallen waren), großenteils seit Monaten erfüllt −, hat es wenig Sinn, von „Revolution“ zu sprechen. Stand nicht vielleicht ein ganz anderes Thema auf der Tagesordnung? In der Tat galten die vereinten Anstrengungen von Eliten und ‚Volk‘ nach Lage der Dinge nunmehr der nationalen Einheit. Den Weg dazu hatte der bis 1848 im belgischen Exil lebende Priester Gioberti schon 1843 gewiesen: eine italienische Föderation unter dem (Ehren-)Vorsitz des Papstes.18 Pius IX. schien der ideale Kirchenfürst zur Verwirklichung d ­ ieses Projektes, das den großen Vorzug hatte, wenig verändern zu wollen bzw. zu müssen. Ein begrenzter Souveränitätsverzicht genügte für den Anfang, unter dem Dach der Lega konnte das „Italien der hundert Städte“ (­Cattaneo) fortbestehen.19 Anders als Frankreich, so Gioberti, habe Italien keine Revolution nötig (wie Mazzini stets behauptete), sondern die Eintracht von Fürsten und Völkern der Halbinsel; deshalb die Föderation. Ein anderes Programm als ­dieses wurde im Frühjahr 1848 nicht ernsthaft ­diskutiert. Die führenden politischen Köpfe, namentlich die Piemontesen Balbo und d’Azeglio, 18 Vincenzo Gioberti, Del primato morale e civile degl’Italiani, Brüssel 1843. 19 Das ist hier sehr verkürzt dargestellt. Deshalb sei wenigstens an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Cattaneo sein föderales Projekt an der Schweiz und den Vereinigten Staaten orientierte und Giobertis Pläne eines Monarchenbundes scharf kritisierte.

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hatten in Erwiderungen 1844 bzw. 1846 zwar den neoguelfischen Akzent abgeschwächt und politisch konkretere Entwürfe vorgelegt, in denen Piemont die entscheidende Rolle übernehmen sollte, aber im Prinzip, d. h. in einer staatenbündisch organisierten Einheit, war man sich einig. Von den Monarchen hatte, kein Wunder, Karl Albert Zustimmung signalisiert; die anderen riskierten keinen öffentlichen Widerspruch − so sehr hatten sich die Zeiten geändert. Das Programm hatte aber nicht nur diesen Vorzug, sondern es empfahl sich auch, weil es die Logik der Geschichte für sich hatte − in damaligen Zeiten ein gewichtiges Argument: 1848 galt als Fortsetzung der mittelalterlichen Kämpfe z­ wischen Papst und ­Kaiser, und natürlich war man damals wie jetzt nicht Ghibelline, sondern Guelfe. Seit Mitte März 1848 war „Freiheit“ also kein vorrangiges Thema mehr, nur „Einheit“ stand noch, weil uneingelöst, auf dem Programm (denn von der sozialen Frage sprach so gut wie niemand). Ein gewaltiger Unterschied zu Deutschland. Krieg Das politische Gebäude, das der Wiener Kongress auf der italienischen Halbinsel errichtet hatte, begann zu wanken. Sein Fundament war die habsburgische Herrschaft in Lombardo-­Venetien. Es kam alles darauf an, ­dieses zu zerstören, denn die unter „Fremdherrschaft“ lebenden „Brüder“ − die „fratelli d’Italia“, von denen das im November 1847 verfasste republikanische Kampflied sprach, das seit 1946 italienische Nationalhymne ist 20 −, die „Brüder“ also durfte man ihrem Schicksal nicht überlassen; eine Diskussion, ob Groß­oder Kleinitalien, um es wieder einmal ins Deutsche zu übersetzen, gab es zu keiner Zeit. Wie aber sollte ­dieses Problem gelöst werden?, lautet unsere dritte Frage. Es ging natürlich um Wien, das keiner der Einheitsentwürfe zur Teilnahme eingeladen hatte. Seinerseits lehnte Wien als Garantiemacht des restaurativen Europas kategorisch jeden Schritt in Richtung Einheit ab. Zur Demonstration hatten österrei­chische Truppen im August 1847 das päpstliche Ferrara besetzt − ein schwerer Fehler, wie sich zeigen sollte. Denn die römische Diplomatie begann daraufhin mit Sondierungen wegen eines gesamtitalienischen Verteidigungsbündnisses, und das war es, warum sich ganz von selbst, jedenfalls bei den Gebildeten, die Erinnerung an die antikaiserliche Bündnispolitik des Mittelalters einstellte.21 Die Erregung wurde noch größer, als ­Metternich im Dezember jenes Jahres Modena und Parma zwang, habsburgische Truppen auf ihren Territorien zu dulden. Die beiden Herzöge verloren jeglichen Rückhalt und sollten im April 1848 nach ­kurzen Aufständen ihre Throne verlieren. 20 Verfasser des offiziell Canto degli italiani genannten Lieds war der 21-jährige Genuese ­Goffredo Mameli. 21 „Der Mythos des lombardischen Bundes entstand im 19. Jahrhundert“ und die „Begeisterung“ für diesen Stoff war „in den Jahren 1846 und 1848 besonders groß“; llaria Porciani, Italien. „Fare gli italiani“. In: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Begleitband zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin 1998, 210 f.

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Noch war es aber nicht so weit. Um die Jahreswende 1847/48 war sich zwar die öffentliche Meinung einig, sogar einschließlich der Gemäßigten, dass nicht so sehr die radikalen Verschwörer, also die Anhänger Mazzinis, sondern die Österreicher der Hauptfeind waren, aber sie zu vertreiben fühlte man sich zu schwach. Ein Bündnis der italienischen Herrscher war nicht zustande gekommen, die Hilfe Englands und vor allem der Julimonarchie, der man sich seit der Konstitutionalisierung der vier größten Staaten besonders verbunden fühlte, blieb bloße Hoffnung. Aber eben der Zusammenbruch des Bürgerkönigtums und der Sturz Metternichs ließ dann weiteres Abwarten nicht ratsam erscheinen. Denn erstens brachen schlagartig vielerorts auf der Halbinsel und insbesondere in etlichen Städten der Lombardei und des Veneto Unruhen aus, und zweitens bedrohten diese selbst oder die zu erwartende militärische Repression die soeben erlassenen Verfassungen. Der liberal-­konservative Flügel der italienischen Nationalbewegung schwenkte daher auf die militärische Lösung ein, um im „heiligen Krieg“ die Freiheit durch die Einheit zu sichern, und zwar im Alleingang. „L’Italia farà da sé“ verkündete Karl Albert am 23. März 1848, als er seinen Entschluss bekanntgab, den aufständischen Lombarden und Venezianern zu Hilfe zu eilen. Krieg zur Lösung der nationalen Frage galt im Europa des 19. Jahrhunderts, wie gesagt, als legitim − kein Wunder, denn keine der modernen Nationen kam ohne Krieg oder Bürgerkrieg zustande.22 Im Falle Italiens war 1848 allerdings eine Doppeldeutigkeit im Spiel, die den gesamten Nationsbildungsprozess bis 1870 begleiten sollte: Vor den Kulissen wurde das Stück „Nationalkrieg“ gegeben, dahinter fand der „Annexionskrieg“ Karl Alberts statt, der einen „Nordstaat“ zum Ziele hatte, bestehend aus ganz Oberitalien, allenfalls das Veneto (vorläufig) ausgenommen. Den Nationalkrieg 23 führten Freiwilligenverbände, die in die Lombardei eilten, um an der Seite der piemontesischen Truppen zu kämpfen. Die Piemontesen hielten diese aber auf Distanz, weil die Freiwilligen unter Garibaldi sich dem begrenzten Kriegsziel – Besetzung der Lombardei, keine Verfolgung der österreichischen Truppen Richtung Tirol oder östlich der Etsch – nicht fügen wollten. Die Regierungen in Florenz, Rom und Neapel, die eigentlich beide Kriegsformen ablehnten, mussten unter dem Druck der Öffentlichkeit Hilfsheere nach Norden ­schicken, wo diese, wenn überhaupt, mit den Freiwilligen fraternisierten (mit Lombarden und Piemontesen war schon rein sprachlich die Verständigung nur schwer möglich 24). Das rief das Misstrauen sowohl Karl Alberts wie ihrer eigenen Monarchen

22 Näheres dazu bei Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zwischen Partizipation und Aggression [1994]. In: Ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 35 – 54. 23 Eine vorzügliche Geschichte der militärischen Ereignisse für 1848/49 liefert Piero Pieri, Storia militare del Risorgimento, Turin 1962, Kap. VII und VIII. 24 Nach einer mittlerweile allgemein akzeptierten Schätzung Tullio De Mauros benutzten zur Zeit der Staatsgründung als ­Mutter- oder als erlernte Hochsprache 2,5 % der Bevölkerung das Italienische; Tullio De Mauro, Storia linguistica dell’Italia unita, Bd. 1, Bari 1970, S. 43.

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hervor, die daher ihre Truppen bei der ersten Gelegenheit wieder abzogen. Den Anfang machte der Papst am 29. April, am 5. Mai folgte Ferdinand II. Der Rest ist schnell erzählt. In eilends anberaumten Volksabstimmungen sprachen sich Lombardo-­Venetien sowie Parma und Modena – allesamt seit März in der Hand bürgerlich-­aristokratischer Revolutionsregierungen – für den Anschluss an Sardinien-­ Piemont aus. Seine Verfassung sollte dieser „Nordstaat“ sich zu gegebener Zeit erarbeiten. Dazu kam es aber nicht mehr, weil Karl Albert das Kriegsglück nicht hold war. Seine Armee erlitt bei Custoza am 24./25. Juli eine schwere Niederlage, und um sein Heer zu retten, bat er um sofortigen Waffenstillstand. Am 5. August war Mailand wieder in österreichischer Hand. Damit ist die Geschichte jedoch noch nicht zu Ende. In Italien konnte es nach Lage der Dinge keine Reichsverfassungskampagne geben, dafür aber einen Wettlauf ­zwischen Anhängern des National- und des Annexionskriegs. Die Demokraten profitierten von der Niederlage der Piemontesen und erstarkten ab Herbst 1848 enorm.25 In der Toskana übernahmen sie Ende Oktober, in Rom Mitte November die Regierung, wo sie nach der Flucht des Papstes schließlich sogar die Republik ausriefen. Ihr Konzept zur Einigung Italiens sah die Einberufung einer nach allgemeinem Wahlrecht zustande gekommenen Verfassunggebenden Nationalversammlung vor, für die sie Anfang Oktober zu werben begannen. Deren Zusammentritt sollte zugleich der Auftakt eines Volkskriegs gegen die Österreicher sein. Der Landbevölkerung versprachen sie, um sie zum Mitmachen zu animieren, Eingriffe in die Besitzverteilung, und ­dieses setzte eine streng zentralistisch regierte Ordnung voraus, denn anders war der Widerstand der Großgrundbesitzer oder, was weitgehend dasselbe ist, des „Italien der hundert Städte“ nicht zu überwinden. Vielleicht hätte sich d­ ieses Programm auch durchgesetzt, wenn die Umstände glücklicher gewesen wären. Die Römische Republik, die sich im März mit der gleichfalls zur Republik gewordenen Toskana zusammenschloss, begann damit jedenfalls Anfang 1849 und erfreute sich gerade beim Bürgertum der kleinen Landstädte großer Popularität. Alle Besitzenden hatten Zutritt zu den Circoli popolari, die die Bürgergarden organisierten, als Lesekabinette fungierten, Wahlen vorbereiteten, aber auch der Geselligkeit dienten. Wurden Landarbeiter gewählt, griff allerdings die Regierung ein; sie standen nämlich im Verdacht, „comunisti“ zu sein, d. h. Anhänger der Umverteilung des Landes. So weit wollte man keineswegs gehen; nur das Kirchengut sollte enteignet und der Brotpreis gesenkt werden.26

25 Näheres dazu bei Thomas Kroll, Das „jakobinische Italien“. Demokraten und Republikaner in der Revolution von 1848/49. In: Irmtraud Götz von Olenhusen (Hg.), 1848/49 in Europa und der Mythos der Französischen Revolution, Göttingen 1998, S. 39 – 62. 26 Eine vorzügliche, methodisch sich an Agulhon orientierende Darstellung des republikanischen Alltags in der Provinz liefert Francesco Rizzi, La coccarda e le campagne. Comunità rurali e Repubblica Romana nel Lazio (1848 – 1849), Mailand 1988.

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Die liberal-­konservativen Moderati blockierten sich demgegenüber mit ihrer Vereinbarungstaktik selbst. Gioberti berief im Oktober einen gesamt­italienischen Kongress nach Turin, der gemeinsam mit Delegierten der Monarchen die ersten Schritte für eine italienische Konföderation ausarbeiten sollte. Das Projekt kam wegen der einzelstaatlichen Egoismen, insbesondere wegen der vorab von Sardinien-­Piemont verlangten Annexionswünsche, nicht voran. Den gordischen Knoten schienen dann aber die dortigen Neuwahlen im Januar 1849 durchzuhauen, die mit dem Sieg der Annexionskriegspartei endeten. Am 12. März erklärte darauf Karl Albert den Waffenstillstand für beendet, zwei Wochen ­später dankte er nach der Niederlage bei Novara ab − ein, wenn ich recht sehe, einmaliger Schritt eines Monarchen im 19. Jahrhundert.27 Nun hatten die Österreicher freie Hand, denn die Demokraten vermochten keinen nationalen Volkskrieg zu organisieren. Lokale Aufstände, die von Brescia über Genua bis Messina reichten, belegen stattdessen, wie stark unter der Oberfläche der demokratischen Bewegung die Kraft des Munizipalismus geblieben war. Bourbonische Truppen eroberten Sizilien, französische Rom, österreichische schließlich Venedig. Die Ordnung des Wiener Kongresses war im Spätsommer 1849 wiederhergestellt – wenn auch nicht für lange Zeit. Bilanz Ziehen wir die Bilanz dieser eineinhalb Jahre turbulenten Geschehens. Aus deutscher Perspektive fallen mindestens sechs Sachverhalte auf, für die es hierzulande kein Gegenstück gibt. Erstens gilt es festzuhalten, dass damals die Ereignisse nicht als Revolution betrachtet wurden. Nicht weil man sie nicht wahrhaben wollte, wie die deutschen Liberal-­ Konstitutionellen, sondern weil sie nicht stattgefunden hat. Nur in Lombardo-­Venetien, in Parma und Modena, die ihre Herrscher vertrieben und den Landesherrn wechselten, kann man von „Revolution“ sprechen – freilich begrenzt auf den politisch-­institutionellen Bereich. Zeitgenössische Bücher, die den Begriff der Revolution benutzen, gibt es kaum. Cattaneo verfasste noch im Herbst 1848 im französischen Exil eine Abrechnung, die er „L’insurrection de Milan“ nannte.28 Von der „rivoluzione italiana“ sprach indessen Cristina di Belgioioso Trivulzio 1849, auch dies eine Abrechnung.29 Aber beide waren 27 Zwar dankte Napoleon III. nach der Niederlage in Sedan ebenfalls ab, aber zuvor hatte er bedingungslos kapituliert und sich in preußische Gefangenschaft begeben. 28 Carlo Cattaneo, L’insurrection de Milan en 1848, Paris 1848. 29 Cristina di Belgioioso Trivulzio, L’Italia e la rivoluzione italiana dell’1848, Lugano 1849. Dazu jetzt Karoline Rörig, Cristina Trivulzio di Belgioioso. Geschichtsschreibung und Politik im Risorgimento, Bonn 2013, S. 255 ff.

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Mailänder, beide Außenseiter, d. h. Gegner der Mailänder „Hofpartei“30, der sie vorwarfen, noch während der fünf Tage des Aufstands den Bruch mit Wien verhindert und erst danach auf die piemontesische Karte gesetzt zu haben. Auch heute ist in Italien eher selten von der 1848er-­Revolution die Rede und von Feierlichkeiten kaum eine Spur zu bemerken. Wenn an 1848 gedacht wird, dann in jenem pathetisch-­melancholischen Ton, der auch in Deutschland bis vor kurzem für ­dieses Ereignis als angemessen galt.31 Vielleicht sorgt aber die Wiederentdeckung des Risorgimento als Thema der Geschichtsschreibung, die seit kurzem, seit den Erfolgen der Lega Nord zu beobachten ist, demnächst für einen Wandel. Zweitens: Im italienischen Geschichtsbild ist 1848 anders verortet. Es ist Teil des Risorgimento und gilt als „Prima guerra dʼindipendenza“. Damit stehen die Ereignisse in einer anderen Tradition. Sie gelten nicht als Durchbruch zu konstitutionell gesicherter Freiheit, sondern sind Bestandteil des ‚ewigen‘ Kampfes gegen den deutschen ‚Erbfeind‘, den man je nach Zeitgeschmack im Hochmittelalter, mit dem steinwerfenden Genueser Knaben Balilla oder eben mit dem Risorgimento beginnen lässt und der keines­falls 1918 endete, als der „Vierte Unabhängigkeitskrieg“ die letzten noch „unerlösten“ Gebiete an Italien brachte.32 Das ‚tolle Jahr‘, wenn es diesen Begriff gäbe, wäre kein Vorwurf, und ein mit ‚Zögern‘ und ‚Feigheit‘ assoziiertes ‚Professorenparlament‘ hat es nicht gegeben. Dass „die großen Fragen der Zeit“, wie Bismarck 1862 im Rückblick auf die Revolution sarkastisch feststellte, „nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse“ entschieden werden, „sondern durch Eisen und Blut“,33 wäre im italienischen Kontext keine Zurechtweisung. Man hat es ja tatsächlich so und nur so versucht. Drittens: 1848 heißt also Krieg, nicht Revolution. Aber was für ein Krieg? Die National­ bewegung war damals zu schwach für einen Volkskrieg im Stile der deutschen Reichsverfassungskampagne. Auch eine aus der Mitte der Gesellschaft getragene Flottenbewegung hat es nicht gegeben. Volksbewaffnung hieß Bürgergarden zum Schutz der Gesellschaftsordnung, nicht Kontrolle oder gar Beseitigung der Königsheere; allenfalls in Neapel konnte

30 Cattaneo, L’insurrection (wie Anm. 28), hier zit. nach der italienischen Ausgabe, Mailand 1986, S. 38. 31 Vgl. die gesammelten Aufsätze von Franco Delta Peruta, Democrazia e socialismo nel Risorgimento, Rom 1973. Ebenso Simonetta Soldani, Contadini, operai e „popolo“ nella rivoluzione del 1848 – 49 in Italia. In: Studi storici 14 (1973), H. 3, S. 557 – 613. 32 Zu den historischen Mythen, die im 19. Jahrhundert gegen den deutschen ‚Erbfeind‘ entworfen wurden − wobei „deutsch“ je nach Lage Unterschiedliches bedeuten konnte − Porciani, Italien (wie Anm. 21), passim. Das im Risorgimento entworfene stereotype Bild des „Deutschen“, des heimlich bewunderten und öffentlich gefürchteten und geschmähten „Barbaren“, das, weil tief in der italienischen Volksseele verankert, jederzeit abrufbar ist, beschreibt Enzo Collotti, I tedeschi. In: Mario Isnenghi (Hg.), I luoghi della memoria. [Bd. 3:] Personaggi e dati dell’Italia unita, Rom, Bari 1997, S. 65 – 86 33 Bismarck am 30. 9. 1862. Abgedruckt in: Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-­ kritische Gesamtausgabe, besorgt v. Horst Kohl, Bd. 2, Stuttgart 1892, S. 30.

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davon die Rede sein. Aus der Sicht der Nationalbewegung war das nur folgerichtig, denn sie wollte ja gemeinsam mit jenen Heeren die ‚Barbaren‘ aus dem Land werfen. Das Doppelspiel Karl Alberts durchschaute sie erst spät, aber so oder so war der scheinbare Nationalkrieg der Piemontesen zum Scheitern verurteilt. Turin versuchte die Annexion Oberitaliens 1848/49 ohne die Bundesgenossen und gegen die internationale Diplomatie durchzusetzen; nichts anderes bedeutete der Satz „L’Italia farà da sé“.34 Zehn Jahre s­ päter hatte Vittorio Emanuele sich international abgesichert. Deshalb reichte dann, anders als im deutschen „Bruderkrieg“ von 1866, sogar jede Niederlage zum Sieg.35 Viertens: Die absolute, von keiner Gruppe in Frage gestellte Priorität des Nationalkriegs erlaubte den Freischaren den Kampf an der Seite des piemontesischen, also des Königsheeres. Was in Deutschland auf den Ausnahmefall Schleswig-­Holstein beschränkt blieb, war in Italien die Regel. Spannungen blieben dabei nicht aus, aber der Patriotismus vermochte sie zu überbrücken, denn Verfassungsfragen waren zweit-, die soziale Frage war bestenfalls drittrangig. Garibaldi, gewissermaßen der italienische Hecker, als „Vernunftmonarchist“36 allerdings sehr viel erfolgreicher als jener, musste 1848 nicht aus-, sondern einwandern (er erfuhr vom Krieg in seinem Exil in Montevideo und landete erst am 23. Juni in Nizza) und focht in freilich kritischer Loyalität an der Seite Karl Alberts. Piemont war schließlich nicht das reaktionäre Preußen. In ihm sammelte sich ab 1849 wie schon vor 1848 das italienische Exil; nur so kompromisslose Republikaner wie Cattaneo und Mazzini zogen die Schweiz bzw. England vor, aber selbst das schloss im Falle des rechten Flügels von Mazzinis Anhängern ein Zusammengehen mit den liberalen Monarchisten in Turin nicht aus.37 Dem Simon-­Gagern-­Pakt der Paulskirche, der den Schlusskompromiss in Verfassungs-, Wahlrechts- und nationaler Frage ermöglichte, lag ein ähnlich pragmatisches Politikverständnis zugrunde, aber er hatte nur k­ urzen Bestand. In Italien erlaubte dagegen 1848 und s­ päter der extrem hohe Zensus ein dauerhaftes Bündnis von Linken und Rechten, weil die Wahlberechtigten sozial und politisch ungleich homogener waren als im Deutschland der Paulskirche 38 oder gar im Preußen der Berliner Nationalversammlung.

34 Das Zitat ist apokryph. 35 Eine Anspielung auf den verzweifelten Artikel des kleindeutschen Liberalen Karl Brater im Wochenblatt der Fortschrittspartei in Bayern, Nr. 26, 30. 6. 1866: „Jeder Sieg eine Niederlage“; zit. nach Theodor Schieder, Die kleindeutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863 – 1871, München 1936, S. 119. 36 Von Garibaldis „‚vernunftmonarchischer‘ Wendung“ spricht Petersen, Italienbilder (wie Anm. 8), S. 81. 37 Gemeint ist der von Cavour 1852 zustande gebrachte sogenannte Connubio, eine Reaktion auf den Staatsstreich Napoleons III. im Dezember 1851. Mit Hilfe ­dieses Bündnisses wurden die rechten und linken Flügelgruppen im Turiner Parlament ausgeschaltet und es kam eine breite Majorität zustande, die charakteristisch für den italienischen Parlamentarismus bis zur Jahrhundertwende bleiben sollte. 38 Eine Fraktion Donnersberg beispielsweise kannte die italienische Politik damals deshalb nicht.

Italien 1848/49 aus deutscher Perspektive

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Fünftens: Auf die andere Verteilung der politischen und sozialen Kräfte südlich der Alpen gehen wohl überhaupt alle anderen Unterschiede zurück. Was die politische Kräfteverteilung betrifft, so muss man an erster Stelle an die Schwäche der italienischen Monarchen erinnern. Sie kann man wohl kaum überschätzen. Schon lange vor 1848 galten die Habsburger und ihre Sekundogenituren in Mailand, F ­ lorenz und Modena als „Fremdherrscher“39; über keinerlei Popularität verfügten auch die Bourbon-­Parma, die erst 1847, nach dem Tod der Ex-­Kaiserin Marie-­Louise, wieder in ihr Land zurückgekehrt waren, nachdem sie kurz zuvor das ihnen 1815 ad interim zugewiesene Lucca nach nationalpatriotischen Demonstrationen überstürzt an die Toskana abgetreten hatten. Die Herrschaft des Papstes war als s­olche wohl kaum umstritten, aber die schlechte Verwaltung des Kirchenstaates kostete diesen erhebliche Legitimität; 1831 hatten österreichische und französische Truppen das Regime stützen und eine internationale Botschafterkonferenz anschließend Reformvorschläge ausarbeiten müssen, die dann freilich nicht umgesetzt wurden. Alle diese Herrscher verloren 1848/49 zeitweise ihren Thron. Aber das war noch nicht alles: Ein Aufstand vertrieb Ferdinand II . Anfang 1848 aus Sizilien, und schließlich dankte Karl Albert 1849 freiwillig ab, nachdem sein Heer zum zweiten Mal binnen Jahresfrist gegen die Österreicher verloren hatte. Für all das gibt es in Deutschland keine Parallele! Der badische Fall erreichte nicht entfernt die italienische Größenordnung, wo Ende März 1849 nur der festländische Teil des Königreichs beider Sizilien sicher in der Hand eines Monarchen, eben Ferdinands II ., war. Die Schwäche der savoyischen Dynastie, um diesen Punkt zu beenden, zeigte sich auch darin, dass Vittorio Emanuele Il., der neue König, um den Friedensvertrag ratifiziert zu erhalten, zwar am 20. November 1849 die von den Demokraten beherrschte Kammer auflöste, aber zugleich in der berühmt gewordenen Proklamation von Moncalieri um die Wähler werben musste mit der Garantie der Verfassung, um sich nicht den Reaktionären auszuliefern, die es lieber mit Österreich und dem Papst hielten. In der Existenzkrise des Staats blieb dem piemontesischen Monarchen also nur der Appell an Verfassung und Parlament. Der Weg zum liberalen Nationalstaat war auf diese Weise, wenn nicht schon vorgezeichnet, so immerhin weniger umstritten als namentlich in Preußen. Hätte Friedrich Wilhelm IV . die Politik der Erfurter Union zum Erfolg geführt, wären sich entwicklungsgeschichtlich Deutschland und Italien womöglich wieder nähergekommen. So aber war das Gegenteil der Fall.

39 Entstehung und Träger ­dieses Begriffs verdienten eine eigene Untersuchung, denn in keinem anderen Land hatte dieser politische Mythos − und um einen solchen handelt es sich unzweifelhaft − ähnlich bedeutsame Folgen. Man vergleiche nur die gründliche Vorbereitung Pietro Leopoldos auf sein Amt als Großherzog von Toskana, das er 1765 antrat, mit Herrschern wie Georg I. von Hannover, der 1714 den britischen, und Marschall Bernadotte, der als Karl XIV. Johann 1818 den schwedischen Thron bestieg; beide Monarchen lernten zeitlebens nicht einmal die Landessprache. Gleichwohl galten diese Fürsten bzw. ihre Dynastien nie als „Fremdherrscher“.

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Sechstens: Das wird noch besser sichtbar, wenn wir das letzte Stichwort auf unserer Liste der deutsch-­italienischen Differenzpunkte ansprechen, die gesellschaftlichen Grundlagen der italienischen Nationalbewegung. Dass die soziale Frage nur eine völlig untergeordnete Rolle spielte, wurde bereits gesagt. Das Handwerk, 1848/49 in Deutschland ein Akteur von außerordentlicher, wenn auch nicht einheitlicher Bedeutung, fiel nämlich in Italien als selbständiger Handlungsträger weitgehend aus. So hing alles von der Landwirtschaft ab. Sie trug die italienische Gesellschaft und galt, vom Süden abgesehen, auch im Ausland als vorbildlich. Die wachsende ländliche Armut verstand sich von selbst, ihren schlimmsten Auswüchsen begegnete man mit Wohltätigkeit. An der prinzipiellen Harmonie ­zwischen Arm und Reich, ­zwischen Land und Stadt also, zweifelte jedoch niemand, nicht einmal die Demokraten, die Agrarfragen ohnedies kaum Interesse entgegenbrachten. Eingriffe in die Sozialverfassung waren aber schon deshalb ausgeschlossen, weil die von den Moderati, im wesentlichen die Partei der oberitalienischen Gutsbesitzerklasse, geforderte Reformpolitik − Moderni­ sierung des Staatsapparates, Aufrüstung, Freihandel und Eisenbahnbau − keinerlei Steuersenkungen erlaubte. Außerdem darf man nicht vergessen, dass wie in England der Großgrundbesitz das Parlament beherrschte, dass es aber, anders als dort, für eine bürgerliche Bewegung wie die Anti-­Corn-­Law-­League keinerlei Voraussetzungen gab. Auch die Erfahrungen von 1848/49 selbst schürten nicht eben die Konzessionsbereitschaft der herrschenden Klassen. Das Verhalten der Landbevölkerung in ­diesem Jahr nach der Vertreibung der Habsburger demonstrierte ihnen nämlich, dass Kleinbauern, Pächter und Tagelöhner sich nicht so sehr von österreichischer ‚Fremdherrschaft‘, sondern von Steuerlast, Hunger und Landnot befreien wollten. Dafür waren sie bereit zu kämpfen, kaum aber für die nationale Sache. Für diese hatten sie sich nur so lange mobilisieren lassen, als sie glaubten, mit der Vertreibung der Fremden sei auch ihr Elend verschwunden.40 Es war daher nur folgerichtig, dass Radetzky zeitweise mit dem Gedanken eines ‚Klassenkriegs‘ spielte, um ein für alle Mal die Signori zu entmachten, aber der Wiener Regierung war ­dieses Spiel mit dem Feuer zu riskant.41 Ausblick Die von einer schmalen Elite getragene italienische Nationalbewegung zog daraus den Schluss, dass sie, um sich nicht gleichsam selbst in den Rücken zu fallen, die Landbevölkerung künftig aus dem Spiele lassen müsse. Anders als 1848/49 nahmen deshalb die nächsten beiden Unabhängigkeits- bzw. Einigungskriege, zumal nachdem 40 Näheres dazu bei Christof Dipper, Revolutionäre Bewegungen auf dem Lande. Deutschland, Frankreich, Italien. In: Dowe / Haupt / Langewiesche (Hg.), Europa 1848 (wie Anm. 16), S. 555 – 585. 41 Siehe Alan Sked, The Survival of the Habsburg Empire. Radetzky, the Imperial Army and the Class War 1848, London, New York 1979, Kap. 12.

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sich die Nationalbewegung durch die Annexion der Legationen auch noch den Papst zum Feind gemacht hatte, geradezu die Züge eines Klassenkampfs von oben an. Als am 11. Mai 1860 Garibaldis Zug der Tausend auf Sizilien landete und der Diktator der Bevölkerung Freiheit und jedem, der mit ihm kämpfen würde, Land versprach, häuften sich auf seiten der Bauern die „Missverständnisse“42 so sehr, dass sie reihenweise füsiliert werden mussten, um zu begreifen, ­welche Freiheit gemeint war.43 Nachdem dann der festländische Süden in die Hände des Nordens gefallen war, nahmen Anarchie und „Räuberunwesen“ (Brigantaggio), wie es nun hieß, das Ausmaß eines regelrechten Bürgerkriegs an, der nur noch militärisch niedergerungen werden konnte.44 Das ging nicht ohne Ausnahmegesetze und Suspension der Verfassung ab.45 Italien erlebte die Einigung vollkommen anders als Deutschland. Während das liberale Piemont dank energischer Reformen und kluger Außenpolitik ab 1852 zum modernen, vitalen Staat wurde, verloren die wieder absolutistisch regierten übrigen Monarchien jegliche Handlungsfähigkeit. Auf Loyalitäten konnten sie kaum noch rechnen. Dieses Ungleichgewicht hat das bis 1848 nahezu konkurrenzlos gewesene Föderationskonzept der Moderati zu Makulatur werden lassen. Die öffentliche Meinung schwenkte um auf den von den Demokraten seit jeher verlangten nationalen Einigungskrieg. Schon 1859/60 und erst recht 1866 war die Alternative von Volks- und Eroberungskrieg verschwunden. Es blieb nur noch die Annexion der Halbinsel durch Piemont. Das ist das eine. Das andere ist die rigide Zentralisierung, d. h. die Beseitigung sämtlicher lokaler Autonomien und Traditionen. Sie war gleichfalls ursprünglich, d. h. von den Moderati nicht beabsichtigt, aber die unvermeidliche Folge der Rasanz, mit der sich die Einigung abspielte. Wie Dominosteine fielen Modena, Parma, Toskana, die Legationen, Neapel und Sizilien um; nur die Lombardei und ­später das Veneto und Rom mussten regelrecht erobert werden. Für neue Gesetze fehlte die Zeit. Die piemontesischen hatten 42 Lucy Riall, Sicily and the Unification of Italy. Liberal Policy and Local Power 1859 – 1866, Oxford 1998, S. 104. 43 Einen dramatischen Höhepunkt erreichten die „Missverständnisse“ Ende Juli / Anfang August 1860 in Bronte am Ätna, wo Bauern unter den Rufen „Viva Garibaldi, viva l’Italia“ erst das örtliche Archiv zerstörten, dann die Grundbesitzer verjagten und schließlich mit der Aufteilung von Land begannen. Im Auftrag Garibaldis stellte der Genuese Nino Bixio die Ordnung wieder her; er vollstreckte fünf Todesurteile und warf 316 Personen ins Gefängnis. Vgl. Pieri, Storia militare (wie Anm. 23), S. 684 ff. Viel höhere Zahlen von Todesopfern bei John A. Davis, Conflict and Control. Law and Order in Nineteenth-­Century Italy, Houndmills 1988, S. 52. Allgemein Denis Mack Smith, The Peasant’s Revolt in Sicily, 1860. In: Ders., Victor Emanuel, Cavour and the Risorgimento, London 1971, S. 190 – 224. 44 Ausführlich dazu Franco Molfese, Storia del brigantaggio dopo l’Unità, Mailand 61983. 45 Dass der liberale Nationalstaat vor allem im Süden permanent auf autoritäre Mittel zur Sicherung seiner Existenz zurückgreifen musste, d ­ ieses unglückselige Paradoxon der italienischen Geschichte ist Thema vieler Aufsätze Raffaele Romanellis in seinem Sammelband: II comando impossibile. Stato e società nell’Italia liberale, Bologna 1988.

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sich bewährt, also überließ das Parlament der Regierung die nötigen Vollmachten. Die Zentralisierung Italiens war unter diesen Umständen wohl unvermeidlich, sie ist aber seither zum großen Problem des Landes geworden und gerät immer wieder sogar zum Spaltpilz des nationalen Konsenses. Nimmt man dann noch hinzu, dass die Einigung Italiens vom Bannstrahl des Papstes begleitet wurde, was die kirchentreuen Katholiken vom politischen Leben des Landes für Jahrzehnte ausschloss, dass sie die Südfrage entstehen ließ, die bis heute ungelöst ist, und dass die vollen Bürgerrechte zunächst auf jene 1,9 Prozent der italienischen Bevölkerung beschränkt waren, die dank ihres Geschlechts und mindestens Elementarbildung das Italienische wenigstens rudimentär beherrschten und deshalb wählen durften, so hat man einen Begriff von den schweren Hypotheken des jungen Nationalstaats. Seine Feinde saßen vor allem im Innern, und ihrer wurden, seit auch noch die Arbeiterbewegung Fuß zu fassen begann, nicht weniger. Italien – das war bei der Gründung, aber noch auf Jahrzehnte hinaus ein Nationalstaat ohne Nation,46 Deutschland dagegen eine Nation auf der Suche nach ihrem Staat.

46 Der Gedanke ist weiter ausgeführt bei Christof Dipper, Italien 1861 – 1915. Nationalstaat ohne Nation. In: Reiner Schulze (Hg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1990, S.  335 – 345.

Helden überkreuz oder das Kreuz mit den Helden Wie Deutsche und Italiener die Heroen der nationalen Einigung (der anderen) wahrnahmen * 1

Am ersten Tag der Schlacht bei Custoza, am 24. Juli 1848, erhielten die Soldaten eines Infanterieregiments unseres Heeres den Befehl, ein alleinstehendes Haus auf einer Anhöhe zu erstürmen. Plötzlich wurden sie von zwei feindlichen Kompanien angegriffen und von allen Seiten so beschossen, daß sie kaum Zeit hatten, sich in das Haus zurückzuziehen und die Türen zu verriegeln. Dabei mußten sie einige Tote und Verwundete auf dem Feld zurücklassen. Nachdem sie die Türen fest verschlossen hatten, rannten unsere Leute an die Fenster des Erdgeschosses und des ersten Stockwerks und feuerten wie wild auf die Angreifer. Die näherten sich langsam im Halbkreis und schossen zurück. Sechzig italienische Soldaten wurden von zwei Unteroffizieren und einem großgewachsenen, alten und strengen Hauptmann mit weißem Haar und weißem Schnurrbart befehligt. Unter ihnen war auch ein sardischer Trommler, ein Junge von etwas mehr als vierzehn Jahren, der aber eher wie ein Zwölfjähriger wirkte, klein, mit dunklem, olivenfarbigem Gesicht, mit zwei tiefliegenden, schwarzfunkelnden Augen. Der Hauptmann leitete von einem Fenster des ersten Stockwerks aus die Verteidigung. Seine Befehle klangen wie Pisto­ lenschüsse, und auf seinem eisernen Gesicht sah man keine Spur von Bewegung. Der kleine Trommler, ein wenig bleich, aber fest auf den Beinen, stieg auf einen kleinen Tisch, reckte den Hals, dabei hielt er sich an der Wand fest, um aus dem Fenster hinaussehen zu können. Er sah durch den Rauch hindurch in den Feldern die weißen Uniformen der Feinde, w ­ elche langsam vorwärtsrückten.

Die Dinge stehen nicht gut für die Italiener, Hilfe muss herbeigeholt werden. Der Hauptmann faltete das Blatt und sagte streng, indem er seine grauen Pupillen, vor denen alle Soldaten zitterten, auf die Augen des Jungen heftete: ,Trommler!‘ Der Trommler legte die Hand an die Mütze. Der Hauptmann sagte: ,Du hast doch Mumm in den Knochen!‘ Die Augen des Jungen blitzten auf. ,Ja, Herr Hauptmann‘, antwortete er.

* Geringfügig erweiterter und mit Anmerkungen versehener Text meines am 21. Juni 1999 gehaltenen Vortrags am Historischen Kolleg, München; der Redestil wurde beibehalten. Für zahlreiche Hinweise danke ich Martin Vogt, Darmstadt/Mainz.

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Helden überkreuz oder das Kreuz mit den Helden

,Sieh dort hinunter‘, sagte der Hauptmann und hob ihn ans Fenster, ,in der Ebene bei den Häusern von Villafranca, da blitzen Bajonette. Dort stehen unsere Leute, unbeweglich. Du nimmst d ­ ieses Briefchen, hältst dich am Seil fest, steigst aus dem kleinen Fenster, läßt dich den Abhang runter, erreichst die Felder, kommst zu unseren Leuten und gibst d ­ ieses Briefchen dem ersten Offizier, den du siehst. Wirf deinen Gürtel und den Rucksack ab.‘ Der kleine Trommler legte Gürtel und Tornister ab und steckte den Brief in seine Brusttasche. Der Wachtmeister warf das Seil hinaus und hielt ein Ende mit beiden Händen fest. Der Hauptmann half dem Jungen, der den Rücken gegen das freie Feld kehrte, beim Hinaussteigen. ,Mache dir bewußt‘, sagte er, ,wenn d ­ ieses Häuflein gerettet werden kann, dann nur durch deinen Mut und deine Schnelligkeit.‘ ,Sie können sich auf mich verlassen, Herr Hauptmann‘, antwortete der Junge und schwang sich hinaus.

Nach dem Ende der Schlacht trifft der leicht verwundete Hauptmann den kleinen Trommler im Lazarett. ‚Du mußt viel Blut verloren haben, weil du so schwach bist.‘ ‚Viel Blut verloren?‘, antwortete der Junge mit einem Lächeln. ,Mehr als nur Blut, sehen Sie!‘ Und er schlug die Decke auf. Entsetzt machte der Hauptmann einen Schritt zurück. Der Junge hatte nur noch ein Bein: Das linke Bein war ihm über dem Knie abgenommen worden. Der Stumpf war mit blutigen Tüchern umwickelt. In d ­ iesem Augenblick ging ein kleiner, dicker Militärarzt in Hemdsärmeln vorbei. ,Ah, Herr Hauptmann‘, sagte er rasch und deutete auf den kleinen Trommler, ,das ist ein unglücklicher Fall; ein Bein, das ohne weiteres hätte gerettet werden können, wenn er es nicht auf eine so wahnsinnige Art überanstrengt hätte; eine verwünschte Entzündung; man mußte es sofort abnehmen. Oh, aber … ein tapferer Junge, das versichere ich Ihnen. Er hat nicht eine Träne vergossen, nicht einen Schrei ausgestoßen! Ich war stolz darauf, daß er ein italienischer Junge ist, während ich ihn operierte, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort. Er ist aus gutem Holz geschnitzt, bei Gott!‘ Und er ging eilig weiter. Der Hauptmann zog die großen, weißen Augenbrauen zusammen, sah den kleinen Trommler eindringlich an und deckte ihn dann wieder zu. Dann erhob er langsam, wie unabsichtlich, ihn immer noch fest ansehend, die Hand zum Gruß und nahm seine Mütze ab. ,Herr Hauptmann‘, rief der Junge überrascht aus, ,was machen Sie? Vor mir?‘ Und dann antwortete dieser rauhe Soldat, der nie ein freundliches Wort für seine Untergebenen übrig hatte, mit unsäglich liebevoller und sanfter Stimme: ,Ich bin nur ein Hauptmann; du bist ein Held.‘“

Wenn Sie, meine Damen und Herren, noch über ein trockenes Taschentuch verfügen, ist Ihnen, jedenfalls nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts, nicht mehr zu helfen.

Wie Deutsche und Italiener die Heroen der nationalen Einigung wahrnahmen

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Die kleine Geschichte erschien 1886 in einem Jugendbuch namens Cuore –„Herz“.1 Edmondo de Amicis’ Cuore kennt in Italien jeder, es ist neben Carlo Collodis nur drei Jahre zuvor veröffentlichtem Pinocchio das verbreitetste Kinderbuch überhaupt, und zwar bis heute. Im Erscheinungsjahr wurden täglich nicht weniger als tausend Exemplare verkauft – immerhin in einem Land, dessen Einwohner noch zu drei Fünfteln Analphabeten waren –, das millionste Exemplar ging 1915 über den Ladentisch, das zweimillionste Anfang der 30er Jahre. Noch immer erscheint alle paar Jahre eine Neuauflage. Das Buch, das das Schuljahr eines zwölfjährigen Jungen erzählt, also einer Person, die ungefähr ebenso alt ist wie der „sardische Trommler“, gilt mittlerweile als Bestandteil der italienischen luoghi della memoria, des kollektiven Gedächtnisses der Nation.2 Die Geschichte vom „sardischen Trommler“ sowie diejenige eines anderen Helden im Knabenalter, des „kleinen lombardischen Spähers“, der 1859 seine kühne Tat mit dem Leben bezahlte, hat nicht nur Italiener gerührt. Auch hierzulande waren – und sind (denn seit der ersten Übersetzung 1888 erschienen weit mehr als 30 deutsche Ausgaben, die bisher letzte 1996) – die kleinen und großen Leser ergriffen. Vielleicht sind auch unter Ihnen einige davon. Reinhart Wittram jedenfalls, der baltische Historiker, der nach dem Kriege in Göttingen lehrte, erinnerte sich 1958, „wie uns als Knaben der kleine Tambour von Custoza in Edmondo de Amicis’ Cuore hingerissen hat“, und dass er aus dieser Geschichte gelernt habe, „wieviele Opfer eine Nation um ihrer Zukunft willen auf sich“ zu nehmen hat.3 Deutschland las natürlich nicht nur die Heldensagen in Cuore, es interessierte sich überhaupt für die italienische Einigung wie für kaum ein anderes Thema in jener Zeit. Ein sicherer Maßstab dafür ist die Publizistik. Von 1856 bis 1861 und dann wieder 1866 und 1870/71, als beide Nationen gewissermaßen ,Seit an Seit‘ schritten, erschien ein Titel nach dem anderen – mehr als je zuvor und auch mehr als in den folgenden Jahrzehnten.

1 Edmondo De Amicis, Cuore. Eine Kindheit vor hundert Jahren [1888], Berlin 21988, S.  86 – 94. 2 Alle Angaben zum Buch nach: Edmondo De Amicis, Opere scelte, hg. v. Folco Portinari u. Giusi Baldissone, Mailand 1996, S. 1129 ff. Antonio Faeti, „Cuore“. In: Mario Isnenghi (Hg.), I luoghi della memoria. Personaggi e date dell’Italia unita, Bari 1997, S. 101 – 113. Die Volkszählung von 1881 ergab, dass 38 % der Italiener lesen und schreiben konnten, doch muss man, um ein realistisches Bild zu erhalten, erhebliche alters- und regionalspezifische Unterschiede in Rechnung stellen. Giovanni Vigo, Gli italiani alla conquista dell’alfabeto. In: Simonetta Soldani / Gabriele Turi (Hg.), Fare gli italiani. Scuola e cultura nell’Italia contemporanea, Bd. 1: La nascita dello Stato nazionale, Bologna 1993, S. 37 – 66. 3 Reinhard Wittram, Das Interesse an der Geschichte, Göttingen 1958, S. 53. In Deutschland und der Schweiz sind laut Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums und anderer Nachschlagewerke von 1888 bis 1996 zweiundzwanzig vollständige und siebzehn Teilausgaben sowie acht italienische Ausgaben für Schüler mit einer geschätzten Gesamtauflage von annähernd hunderttausend Exemplaren erschienen (alle Zahlen sind Mindestzahlen). 2012 kam noch die elektronische Version eines Hamburger Verlags in englischer Sprache hinzu.

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Helden überkreuz oder das Kreuz mit den Helden

Diese Resonanz ist ein von den Historikern viel beachtetes Thema.4 Soweit es dabei um Personen geht – und das ist in Zeiten des „Männer­-machen-­Geschichte“-Glaubens nahezu unvermeidlich –, stößt man rasch auf drei Figuren, die gewissermaßen stellvertretend für die Helden des Risorgimento stehen: Mazzini, Cavour und Garibaldi. Vor allem letzterer ist in Deutschland bis zum heutigen Tage außerordentlich populär – populärer vielleicht als derzeit in seiner Heimat, wo dem Risorgimento von der Geschichtswissenschaft, aber auch von der Lega Nord der Prozess gemacht wird. Hierzulande jedenfalls droht Garibaldistraßen keine Umbenennung 5 und dürfen Geschäftsleute glauben, ihre Läden mit italienischen Weinen liefen besser, wenn sie sie Garibaldi nennen – was augenscheinlich richtig, aber insofern widersinnig ist, als der historische Garibaldi für seine Nüchternheit berühmt war und beispielsweise den ehemaligen preußischen Offizier Wilhelm Rüstow 1860 nicht zum General machte, weil ihm hinterbracht wurde, Rüstow sei Trinker,6 was übrigens gar nicht stimmte. Es geht also um die Popularität der italienischen Nationalheroen (zu denen aus deutscher Sicht übrigens König Vittorio Emanuele niemals gezählt hat 7), um ihre 4 Eine keinesfalls vollständige Liste einschlägiger Titel umfasst Ernst Portner, Die Einigung ­Italiens im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen, Bonn 1959. Theodor Schieder, Das Italienbild der deutschen Einheitsbewegung [1959]. In: Ders., Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen 1962, S. 210 – 235. Angelo Ara / Rudolf Lill (Hg.), Immagini a confronto. Italia e Germania dal 1830 all’unificazione nazionale. Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandbilder in der Zeit der nationalen Bewegungen (1830 – 1870), Bologna, Berlin 1991. Jens Petersen, Il mito del Risorgimento nella cultura tedesca. In: Il Risorgimento. Rivista di storia del Risorgimento e di storia contemporanea 47 (1995), S. 447 – 472. Aus italienischer Feder Rosario Romeo, La Germania e la vita intellettuale italiana dall’unità alla prima guerra mondiale. In: Ders., Momenti e problemi di storia contemporanea, Assisi, Rom 1971, S. 153 – 184. Franco Venturi, L’Italia dei moderati tedeschi. In: Ruggiero Romano / Corrado Vivanti (Hg.), Storia d’ Italia, Bd. 3: Dal primo Settecento all’unita, Turin 1973, S. 1275 – 1287. 5 In Cremona wurde kürzlich die Piazza Cavour in Piazza Stradivari umbenannt, angeblich ohne politische Hintergründe; freundliche Mitteilung von Davide Astori. Politisch oder nicht, noch vor zwanzig Jahren wäre eine s­ olche Umbenennung unvorstellbar gewesen. Zum Geschichtsbild der Lega Nord Volker Dreier, La Lega Nord. Morphologie, Entwicklung, Erfolg und Zukunft eines politischen Chamäleons. In: NPL 40 (1995) , S. 106 – 115. Soweit ich sehe, gibt es eine Garibaldistraße in Deutschland nur in Berlin. Mazzini und Cavour sind derzeit nirgendwo zu solcher Ehre gelangt. Der Kuriosität halber sei noch bemerkt, dass Adolf Eichmann vor seiner Entführung durch den Schin Beth in Buenos Aires in der Calle Garibaldi wohnte (Isser Harel, Das Haus in der Garibaldistraße [Frankfurt 1975]) und dass andererseits bereits 1873 in den Vereinigten Staaten eine Siedlung namens Bismarck gegründet worden ist, die 1889 zur Hauptstadt von North Dakota erhoben wurde. 6 Carlo Moos, Streiflichter auf Wilhelm Rüstows Beziehungen zu Italien. In: QFIAB 65 (1985), S. 342 – 404. Denunziant war der ungarische General István Türr, Rüstows Vorgesetzter, der die kulturelle Differenz z­ wischen deutschem und italienischem Weinkonsum – nur zum Essen oder auch danach – dazu benutzte, den Rivalen auszustechen. 7 Die Berliner Volkszeitung brachte die vorherrschende Stimmung auf den Begriff, als sie im August 1870 vom „undankbaren, treulosen Victor Emanuel“ sprach; zit. Jens Petersen, Garibaldi und Deutschland 1870/71 [1982]. In: Ders., Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte

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Reichweite und um ihre Ursache. Wenn man die Forschungsliteratur zu Rate zieht, erhält man als Antwort politische Motive. Sie sind natürlich unbestreitbar, und ein erheblicher Teil des zeitgenössischen deutschen Interesses entsprang tatsächlich politischen Verwertungsabsichten. In d ­ iesem Sinne verkörperte Mazzini im Zeitalter der Realpolitik die Erinnerung an die Jahrzehnte weltfremder Verschwörungsstrategien, Cavour die Risikostrategie eines zweitrangigen Staates auf dem Wege zur Großmacht, die je nach Standpunkt bewundert oder verteufelt werden konnte, ganz wie bei seinem deutschen Gegenstück Bismarck; Garibaldi endlich den vernunftmonarchistischen Kompromiss. Aber der Hinweis auf politische Indienstnahme reicht noch nicht aus, jedenfalls nicht im Falle Garibaldis, wo es diese, wie wir sehen werden, vielfach gar nicht gab bzw. sie zunehmend verblasste. Gerade das hat ihn ja aus der Phalanx der R ­ isorgimentohelden turmhoch herausgehoben. Während für uns Deutsche alle anderen am Ende der Gründungsphase des italienischen Königreichs von der Bildfläche verschwanden und nur noch im Gedächtnis der Spezialisten fortleben, machte die Figur Garibaldis einen Prozess der Verstetigung und Universalisierung durch, der ihn zum zeitlosen Helden erhob. Dieser Vorgang ist erklärungsbedürftig. Man könnte vermuten, die Ursache hierfür liege in der vielfach behaupteten, von Treitschke kanonisierten Parallelität der Entwicklung beider Nationen im Zeitalter ihrer politischen Einigung. Wenn diese Parallelität aber damals tatsächlich allgemein so empfunden wurde, müsste man erwarten, dass es auch umkehrt von italienischer Seite ein entsprechendes Interesse an den Vorgängen nördlich der Alpen gegeben hat. Wie also gingen die Italiener mit den Heroen der deutschen Einigung um? Vorsichtiger gefragt: Welche Ereignisse nahmen sie überhaupt zur Kenntnis? Damit sind schon zwei Ziele meiner heutigen Ausführungen umrissen. Wir wollen fragen, wieso Garibaldi zur Ausnahmeerscheinung wurde, die ihn aus seiner Zeit heraushob, und ob es vielleicht, gewissermaßen aus Gründen der Kompensation, in italienischen Augen so etwas wie einen deutschen Garibaldi gab oder wenigstens, um an die Eingangsgeschichte anzuknüpfen, einen ,kleinen pommerschen Grenadier‘, bei dessen Schicksalen italienischen Lesern die Tränen kamen. Sollte die zweite Frage mit nein beantwortet werden, erhebt sich natürlich sofort als dritte die Anschlussfrage: Weshalb war das alles so ungleich verteilt, mit anderen Worten: Weshalb mussten die Deutschen bei den Italienern Anleihen machen, aber nicht umgekehrt? Hat das mit der klassischen deutschen Italiensehnsucht zu tun oder gab es dafür andere, viel prosaischere Gründe? Aufsätze, Köln 1999, S.127. Grund für die tiefsitzende Abneigung war die enge Bindung Vittorio Emanueles (und der Destra storica) an Napoleon III. „Garibaldi gefällt mir, er handelt aus rein patriotischen Motiven, während Cavour und Viktor Emanuel rechte Schurken sind“, notierte zehn Jahre früher, am 18. Oktober 1860, die Freiin von Varnbühler in ihrem Tagebuch; Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, geb. Freiin v. Varnbühler, hg. v. Rudolf Vierhaus, Göttingen 1960, S. 45.

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Garibaldi als universaler Held Wenn man Garibaldis Fama nicht wie bisher unter parteipolitischen Aspekten untersucht, sondern im Hinblick auf seinen Platz innerhalb der Heroen des Risorgimentos, wenn man also Umstände, Zeitpunkt und Ursachen seines Aufstiegs zum universalen Helden analysiert, verschafft der Blick auf die Konjunkturkurve seiner Medienpräsenz, wie man heute sagen würde, erste Klarheit. In deutschen Lexika taucht Garibaldi schon zu Anfang der 1850er Jahre auf, und zwar als „vollendeter Guerillaführer in Südamerika“, der „allerdings besonders bekannt als General der römischen Revolution von 1849“ geworden sei.8 Von Auflage zu Auflage umfangreicher, konzentrieren sich die Artikel vor 1860 insbesondere auf seinen „merkwürdigen Zug“ quer durch die Halbinsel an die obere Adria und von dort nach Genua einschließlich des ebenso heldenhaften wie tragischen Endes seiner hochschwangeren Frau Anita. Bis hierher ist Garibaldi nichts als mutiger Truppenführer, auf einer Stufe wohl mit Heroen wie Friedrich Hecker, Johann ­Philipp Becker (Abb. 1 und 2) oder vielleicht sogar Ludwig Mieroslawski, um Gegenstücke aus der Revolution in Deutschland zu nennen. Wir sind im Zeitalter der Barrikadenkämpfe und Freischaren, 1848/49 ist noch in jedermanns Erinnerung, und bei den bürgerlichen Lesern dieser Konversationslexika darf man mitten in der europäischen Reaktionsperiode wohl eher Sympathie für jeden voraussetzen, der Linientruppen eine Niederlage zu bereiten vermochte. Dass das ganze Unternehmen schließlich scheiterte – nun, daran war man gewohnt, das konnte man nicht zum Maßstab des Urteils machen. Ein letzter Vorteil war schließlich, dass Garibaldi sich auf einem Kriegsschauplatz getummelt hatte, der die Grenzen des Deutschen Bundes nicht berührte. Das alles änderte sich 1859 dramatisch. Sardinien-­Piemont hatte sich mit Frankreich verbündet, also mit dem deutschen ,Erbfeind‘ bzw. mit einem ,Despoten‘, und der Kampf ging zunächst um Oberitalien, wo nach zeitgenössischer Meinung der Rhein verteidigt wurde. Gleichfalls irritierte, dass es jetzt Linientruppen waren, die für die nationale Sache fochten. Entsprechend schmallippig fielen die Fortsetzungen aus, in denen Garibaldis Unternehmungen als königlich sardinischer General am Fuße der Alpen geschildert wurden. Die deutsche öffentliche Meinung stand bekanntlich geschlossen auf österreichischer Seite. Wie geschlossen, sieht man ganz gut am jungen August Bebel, wahrlich kein Anhänger des Status quo, der sich als Freiwilliger zu den Tiroler

8 Aus Platzgründen halte ich mich im folgenden bei den Belegen aus Lexika an die Regeln der Geschichtlichen Grundbegriffe, abgedruckt in Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 930 – 948: Brockhaus, Bd. 6, Leipzig 101852, S. 510 f. Fast wörtlich ebenso Meyer, Große Ausgabe, 3. Suppl.-Bd., ­Hildburghausen 1854, S. 916 f. Wörtlich wiederabgedr. in: Meyer, Bd. 7, Hildburghausen 11858, S. 204 f. Knapp, aber im Unterschied zu späteren Auflagen positiv Herder, Bd. 3, Freiburg 11855, S. 20. Kurzer, eher negativ getönter Artikel bei Pierer, Bd. 6, Altenburg 41858, S. 928.

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Abb 1  Friedrich Hecker als Anführer der Republikaner. Das Bild zeigt, wie Hecker gesehen werden sollte: als der deutsche Rinaldo Rinaldini, Held des gleichnamigen Erfolgsromans von Christian August Vulpius, der erstmals 1798 erschien und den damals so gut wie jedermann kannte.

Kaiserjägern meldete, allerdings als Ausländer nicht angenommen wurde.9 Garibaldi konnte also wenig Punkte sammeln. Selbst ein Ferdinand Gregorovius berichtete aus Rom: „Garibaldi ist nichts als ein geschickter Guerilla-­Kapitän ohne Genie“.10 Ungleich drastischer war natürlich die Sprache auf der Rechten, wo der „Guerilla-­Kapitän“ naturgemäß keinerlei Kredit genoss. Doch um die Jahreswende kam es zu einem neuerlichen Umbruch. Die poli­ tischen Ereignisse überstürzten sich förmlich. Aufs knappste zusammengefasst, lässt sich sagen, dass das Kalkül Napoleons III. nicht aufgegangen war, eine auf die Lombardei begrenzte territoriale Verschiebung durchzusetzen und die Halbinsel mittels einer staatenbündischen Verfassung unter Vorsitz des Papstes zu stabilisieren. Parma, Modena, die Toskana und die Emilia hatten nämlich ihre Herrscher vertrieben und sich

9 „Als guter Preuße, der ich damals noch war“, so begründete Bebel seinen Versuch, den er, bei den Kaiserjägern abgelehnt, beim preußischen Militär wiederholen wollte, doch kam der Waffenstillstand von Villafranca dazwischen. August Bebel, Aus meinem Leben, (Neuausg.) Berlin (DDR) 1988, S. 34. 10 Zit. Jens Petersen, Das Bild des zeitgenössischen Italien in den Wanderjahren von Ferdinand Gregorovius [1993]. In: Ders., Italienbilder (wie Anm. 7), S. 41.

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Helden überkreuz oder das Kreuz mit den Helden Abb 2  Johann Philipp Becker als Divisionsgeneral der badischen Volkswehr (Mai 1849).

Sardinien-­Piemont angeschlossen, was ­dieses Anfang März 1860 per Dekret anerkannte. Ein Nationalstaat war im Entstehen begriffen, parlamentarisch regiert und in der Hand der Moderati, der italienischen Variante des juste milieu. Es war allerdings noch keineswegs ausgemacht, ob nicht eine zweite Revolution das Königshaus und seine liberal-­ konservativen Anhänger hinwegfegen würde. Garibaldi, um nun wieder zum Thema zurückzukehren, hatte sich nach Caprera, einer kleinen Insel vor der Nordostküste Sardiniens, zurückgezogen. Seit 1856 lebte er dort als einfacher Landwirt in einer Art freiwilligem Exil und wartete auf den Ruf des Volkes. Das erhöhte seinen Nimbus ungemein, denn er wusste Rückzug und Wiederkehr als Akte politischer Meinungsäußerung geschickt zu inszenieren. Dem gebildeten Publikum kamen dabei natürlich altrömische Vorbilder in den Sinn und mehr als einmal nannte man ihn in Deutschland den „Cincinnatus unserer Tage“.11 Es ist n­icht 11 Elpis Melena [Maria Esperance von Schwartz], Garibaldi. Mitteilungen aus seinem Leben, Bd. 1, Hannover 1884, S. 14; ähnl. Bd. 2. Ebd., S. 216. „Ein niedriges, einfaches Haus bildet die Wohnung Garibaldis, die Hütte eines modernen Cincinnatus“; Aus Caprera. In: Neues Frankfurter Museum, Jg. 1861, S. 57. „Wir brauchen nicht mehr zu fragen, ob die Aristides, die ­Cincinnatus wirklich gelebt und ob sie wirklich so entsagungsreich, so bescheiden, so unverführt von allem dem, was gleißt und glänzt, gewesen, wie die alten Historiker sie uns schildern – ein Mann desselben Geschlechts lebt in unserer Mitte und mit Erstaunen und Beschämung sieht das 19. Jahrhundert in einem seiner Söhne alle jene Tugenden wieder aufleben, um die wir Rom und Griechenland zur Zeit seiner höchsten Blüte so lange vergeblich beneidet“; Garibaldi auf

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­übertrieben zu sagen, dass, seit er 1861 auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekommen war, Europa nach Caprera als dem politischen Orakel Italiens blickte und die Insel zur internationalen Wallfahrtsstätte wurde.12 Doch wir haben den Ereignissen vorgegriffen. Im Frühjahr 1860 erschien Garibaldi wieder auf dem Festland und organisierte, halb im Geheimen, die Invasion seiner Anhänger zugunsten der Aufständischen in Sizilien. Der Zug der Tausend, die am 11. Mai in Marsala landeten, gehört wegen seiner Kühnheit und militärischen Leistungen zu den spektakulärsten Unternehmungen der italienischen Geschichte überhaupt. Am 30. Mai schon fiel die Hauptstadt Palermo, am 20. Juli kapitulierte Messina, am 18. August setzte Garibaldi mit seinem inzwischen beträchtlich angewachsenen Heer über die Meerenge und bereits am 7. September zog unser Held als Triumphator in Neapel ein. Inzwischen war das reguläre piemontesische Heer in die päpstlichen Legationen eingedrungen und marschierte nach Süden, um Garibaldi davon abzuhalten, auch noch Rom zu besetzen. Das gelang. Aber den alleinigen und vollständigen Sieg der Garibaldiner über das Königreich beider Sizilien konnte es nicht verhindern. Am Volturno schlug Garibaldi Anfang Oktober das bourbonische Militär endgültig. Drei Wochen ­später kam es zur denkwürdigen Begegnung z­ wischen dem Nationalrevolutionär und Vittorio Emanuele bei Teano, beide zu Pferde, bei dem Garibaldi den Monarchen als Re d’Italia, als König von Italien begrüßte und damit gewissermaßen die nationale Monarchie von Volkes Gnaden ausrief. Garibaldi hatte den Gipfel seiner ,Laufbahn‘ erreicht, er war der Held beider Welten geworden, der amerikanischen wie der europäischen. 1860 explodiert denn auch in Deutschland förmlich die Zahl der Zeitungsmeldungen, Berichte und längeren Artikel über ihn und natürlich taucht sein Name auch in privaten Briefwechseln und Tagebüchern ständig auf. An der Steuerung seines Ruhmes beteiligte sich ein Heer von Freunden und Anhängern, aber auch er selbst. Wie passend, dass gerade rechtzeitig, nämlich 1860, seine Memoiren erschienen. Sie enthielten zu den aktuellen Ereignissen natürlich noch kein Wort, aber diese waren ja ohnedies in aller Munde. So las man von Kindheit und Jugend, über die Abenteuer zur See und die Zeit als Guerillaführer

Caprera. In: Deutsches Museum 2 (1862), S. 386. Es handelt sich um die Zusammenfassung des gleichnamigen, aus dem Italienischen übersetzten Buches von Carlo Augusto Vecchi (Leipzig 1862), eines Waffengefährten Garibaldis, und lässt die Wirkung der Selbstinszenierung Garibaldis sehr gut erkennen. Ein weiterer Beleg im Artikel F. B., Beim kronenlosen König von Italien. In: Die Gartenlaube, Jg. 1866, S. 32. 12 Zum öffentlichen Privatleben Garibaldis die Bemerkungen bei Friederike Hausmann, Garibaldi. Die Geschichte eines Abenteurers, der Italien zur Einheit verhalf, Berlin 1985, S. 171 f. Der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm unternahm zusammen mit seiner Frau und seinem Schwager Prinz Edward 1862 eine Mittelmeerkreuzfahrt auf der königlichen Jacht Osborne und notierte am 23. Oktober: „10 Uhr vormittags die Meerenge von S. Bonifazio passiert nahe bei Garibaldis Wohnung zu Caprera vorbei […]“; ­Kaiser Friedrich III., Tagebücher von 1848 bis 1866, hg. v. Heinrich Otto Meisner, Berlin, Leipzig 1929, S. 166.

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am La Plata – alles dies als Vorbereitung auf das Kommende, auf die schicksalhafte Berufung Garibaldis zum Schöpfer der nationalen Einheit. Um ganz sicher zu gehen, hatte Alexandre Dumas die Memoiren ein bisschen romanhaft umgearbeitet und bis auf die Gegenwart fortgeführt. In dieser Version wurden sie auch in englischer und deutscher Sprache verbreitet. Maria von Schwartz, eine Hamburger Bankierstochter, die nach dem Scheitern ihrer Ehe Zeit, Geld und Gesundheit in den Dienst Garibaldis stellte, hat das nicht ruhen lassen und sie veröffentlichte 1861 die Urversion der Memoiren, die nur bis zu Garibaldis Aufbruch aus Südamerika im Frühling 1848 reichen. Insgesamt verfügen wir Deutsche, um das abzuschließen, mit den 1909 erschienenen Memoiren der Jahre 1848 bis 1871 über nicht weniger als drei verschiedene Ausgaben seines Lebensberichts.13 Für unsere Frage wichtiger sind jedoch die Beiträge Dritter, die die Zuschreibungen Garibaldis enthalten. Sie sollen uns ja Auskunft über die Erhebung Garibaldis zum universalen Heroen liefern. Dass Garibaldi seit 1860 „der Held Italiens“ war,14 stand für die deutschen Zeitgenossen ohnedies fest. Ja mehr noch: Für die Gartenlaube war er 1866 „der kronenlose König von Italien“,15 und Adolf Stahr – der Gatte Fanny Lewalds, der jahrelang in Italien gelebt hatte – erblickte im folgenden Jahr in ihm gar den „Heiland Italiens“ (Abb. 3 und 4).16 „Heiland Italiens“ – das hieß natürlich nichts anderes, als dass Garibaldi wie Jesus ein verachteter, ja verfolgter Heilsbringer seines Landes und dessen Dornenkrone die Kugel war, die ihm ein Soldat des königlichen Heeres 1862 im Gefecht am Aspronte in den Fuß geschossen hatte und die ihm erst nach dem Feldzug von 1866 herausoperiert wurde. Die Assoziation scheint nahegelegen zu haben, denn Elpis Melena, wie sich 13 Memoiren des Generals Giuseppe Garibaldi, hg. v. Alexandre Dumas, 2 Bde., Zürich, Stuttgart 1860. Garibaldi’s Denkwürdigkeiten. Nach handschriftlichen Aufzeichnungen desselben und nach authentischen Quellen, bearb. v. Elpis Melena [Maria Esperance von Schwartz], 2 Bde., Hamburg 1861. Die Memoiren Giuseppe Garibaldis. Ein Auszug aus seinen Tagebüchern, übers. u. bearb. v. Walter Friedensburg, Hamburg 1909. Ein Verzeichnis der Beiträge über Garibaldi liefert die Zusammenstellung: Anthony P. Campanella (Hg), Giuseppe Garibaldi e la tradizione garibaldina. Una bibliografia dal 1807 al 1970, 2 Bde., Genf 1971. Zum deutschen Echo ­Wolfgang Altgeld, Giuseppe Garibaldi in zeitgenössischer Sicht von der Verteidigung Roms bis zur Nieder­ lage bei Mentana (1848 – 1867). In: Risorgimento. Europäische Zeitschrift für die neuere Geschichte Italiens 3 (1982), S. 169 – 199. Helmut Steinsdorfer, Giuseppe Garibaldi im Spiegel zeitgenössischer deutscher Urteile. In: Historische Mitteilungen 3 (1990), S. 241 – 267. 14 Statt vieler Belege Friedrich Engels, Garibaldi in Kalabrien (Sept. 1860). In: MEW, Bd. 15, 1969, S. 158. Gregorovius sprach im Januar 1860 vom „Volksheld[en]“; zit. Petersen, Das Bild (wie Anm. 10), S. 42. Die deutschen Lexika übernahmen alsbald diesen Sprachgebrauch, so der Brockhaus in einem geradezu hymnischen Artikel, in dem neben anderen Attributen auch vom „italienischen Volkshelden“ die Rede ist: Bd. 6, Leipzig 111865, S. 762. Bei Melena ist Garibaldi dann gar in antikisierender Manier „der Held der Helden“; Melena, Garibaldi (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 8. 15 Vgl. Anm. 11. 16 Zit. Altgeld, Garibaldi (wie Anm. 13), S. 183.

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Abb 3  Un Garibaldi-­Cristo (Giuseppe Garibaldi als Christus).

Frau von Schwartz als Schriftstellerin nannte, bezeichnete ihn als den „Messias der Freiheit“17 und schilderte Garibaldis Gefangennahme nach dem desaströsen Einfall in den Kirchens­taat in offensichtlicher Parallele zu Jesu Verhaftung am Ölberg: Ungesetzlich und gegen den Volkswillen, und als seine Begleiter sich zur Wehr setzen wollen, werden sie von Garibaldi daran gehindert (Abb. 5).18 Wer die Rolle des Judas spielte, brauchte nicht eigens gesagt zu werden.19 Auch an ,Jüngern‘ hatte es dem ,Meister‘ zu keiner Zeit gefehlt. Im Kern handelte es sich dabei natürlich um seine Mitkämpfer, also Männer. Aber wie Jesus hatte Garibaldi auch eine große Anzahl weiblicher Anhänger, und dies war im männlichen 19. Jahrhundert so auffällig, dass Hermann Reuchlin, einer der besten Italienkenner seiner Zeit, darüber schon 1861 in der Frauenzeitschrift Freya einen Aufsatz verfasste, in dem er zu dem vieldeutigen Schluss kam, Garibaldis Wirkung auf „die durch viele Opfer für ihr Vaterland erprobten Damen“ verdanke sich der Tatsache, „daß er ein ganzer Mann und ein echtes Kind des Volkes ist“.20 Gregorovius drückte es 17 Melena, Garibaldi (wie Anm. 11), Bd. 1, S. VII. Auch wo der „weltgeschichtlichen Person“ vorgeworfen wird, sie glaube von sich, „ein zweiter Messias“ zu sein, ist etwas von der Wirkung ­dieses Attributs übriggeblieben, wie die insgesamt nachsichtig gehaltene Passage aus dem 1870er Krieg belegt; August Trinius, Geschichte des Krieges gegen Frankreich 1870/71. Nach den vorzüglichsten Quellen für die Mitkämpfer und das deutsche Volk geschildert, Teil 2, Berlin 21889, S. 472 f. 18 Melena, Garibaldi (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 28 f. 19 H. v. G., Ein Capitel vom Fürstendanke. In: Die Gartenlaube, Jg. 1867, S. 763 – 765. 20 Hermann Reuchlin, Josef Garibaldi und die Frauen beider Hemisphären. In: Freya, Jg. 1861, H. 6, S. 181. „Bei Damen ist er besonders zuvorkommend, galant und ritterlich“; A. C. W., Originalmittheilungen vom Kriegsschauplatze, IV: Eine Begegnung mit Garibaldi. In: Die Gartenlaube,

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Helden überkreuz oder das Kreuz mit den Helden Abb 4  Un Garibaldi-­Cristo che benedice (Der segnende Garibaldi-­Christus).

wenig ­später drastischer aus: „Auf dem Schiff befand sich auch Elpis Melena, d. h. Frau von Schwartz, ­welche zur Pflege ihres Freundes Garibaldi nach Varignano ging. Wie Fliegen eine Wunde, so umschwärmen Frauen den wunden Helden“.21 Noch indignierter zeigten sich englische Kommentatoren, Männer natürlich, über das Verhalten des weiblichen Teils der Bevölkerung beim Besuch Garibaldis in London im April 1864; schamloser könnten sich nur noch Amerikanerinnen benehmen.22 Queen Victoria war natürlich ebenfalls entsetzt.23 Was hätte sie wohl gesagt, wenn sie erfahren hätte, dass ihre Tochter, die preußische Kronprinzessin, durch den Militärbevollmächtigten ihres Landes einen Gruß an Garibaldi ausrichten ließ?24 Jg. 1859, S. 454. „Aus dem Munde einer älteren, vielerfahrenen Dame hörte ich, als Garibaldi das Zimmer verließ, den Ausruf: ,Endlich ein Mensch, der die Vorstellungen von einem echten Helden nicht täuscht‘“; Moritz Hartmann, Aus dem Kirchenstaate, Tl. 2. Ebd., Jg. 1860, S. 137. 21 Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher 1852 – 1889, hg. u. komment. v. Hanno-­Walter Kruft u. Markus Völkel, München 1991, S. 154. Varignano war der Garibaldi von der Regierung zugewiesene Aufenthaltsort. 22 Derek Beales, Garibaldi in England. The Politics of Italian Enthusiasm. In: John A. Davies / Paul Ginsborg (Hg.), Society and Politics in the Age of the Risorgimento, Cambridge 1991, S. 187. 23 Ebd., S. 187 f. 24 Kronprinz Friedrich Wilhelm zu Theodor v. Bernhardi: „dem Garibaldi läßt die Kronprinzessin sagen, daß sie den lebhaftesten Anteil an ihm nimmt“; [Theodor v. Bernhardi], Aus dem Leben Theodor v. Bernhardis, Bd. 6: Tagebuchblätter aus den Jahren 1865 – 1866, Leipzig 1897, S. 337.

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Abb 5  Il calvario di Garibaldi. Intorno a lui i principali uomini del governo italiano. In alto, a sinistra, Pio IX e Napoleone III ballano dalla gioia (Garibaldis Golgatha. Die italienischen Minister in Gestalt der Häscher. Links oben Napoleon III. und Pius IX. beim Freudentanz).

War Garibaldi am Ende ein deutscher Messias? Das Verhältnis zu seiner M ­ utter wird in dieser Literatur nicht nur im Sinne des Marienbildes jener Zeit geschildert,25 was nach allem Gesagten kaum überrascht, sondern diese ­Mutter soll überdies deutscher Abstammung gewesen sein. Reuchlin verbreitete 1861 als erster diese These und verwies als Beleg auf Garibaldis „nordische“ Physiognomie und auf den „romantischen Zug“ seines Wesens.26 Das wurde von fast allen Autoren übernommen, die auf die äußere Erscheinung Garibaldis eingegangen sind. Maria von Schwartz will dann sogar die Kopie des Eintrags im Kirchenbuch der westfälischen Gemeinde Rüggeberg gesehen haben, in dem die Heirat der Schwester des Abenteurers Theodor von Neuhof, 1736/37 „König“ der aufständischen Korsen, mit Garibaldis Großvater beurkundet

Im Briefwechsel mit ihrer ­Mutter scheint sie das Thema ausgespart zu haben, jedenfalls findet sich kein Beleg in: [Kaiserin Friedrich], Letters of the Empress Frederick, hg. v. Sir Frederick Ponsonby, London 1928. 25 [Hermann] Reuchlin, Garibaldi, eine psychologisch-­biographische Studie. In: H[einrich] ­Schulthess (Hg), Europäischer Geschichtskalender, 1. Jg., 1860, Nördlingen 1861, S. 240 ff. Vgl. ­Garibaldi’s ­Mutter. In: Neues Frankfurter Museum, Jg. 1861, S. 123 f. 26 Reuchlin, Frauen (wie Anm. 20), S. 178.

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sei.27 Dass sie sich dabei schon um eine Generation verrechnet hat, unterstreicht nur die Fragwürdigkeit dieser Behauptung. Aber darauf kommt es hier nicht an. Wichtig ist allein die ethnische Aneignung des italienischen Nationalhelden durch deutsche Italianisants, da sie eine der Brücken ist, über die der Eintritt Garibaldis ins deutsche Kollektivbewusstsein stattgefunden hat. Dass das nicht schon ausreichte, zeigt das Beispiel Cavours, dessen Vorfahren ebenfalls verschiedentlich für Deutschland reklamiert wurden – sie sollen mit Barbarossa ins Land gekommen sein 28 –, ohne dass dieser jemals auch nur von Ferne jener Verehrung teilhaftig wurde, deren sich sein Gegenspieler erfreut hat. Eine andere Brücke seiner Universalisierung waren die Anleihen deutscher Beobachter bei der Antike, denn deren Kenntnis war für das gebildete Publikum im 19. Jahrhundert nicht nur selbstverständlich, sondern die Antike besaß noch immer normative Kraft. Es hatte daher sehr Konkretes zu bedeuten, wenn Garibaldi als „Odysseus“29 bezeichnet wurde – angesprochen war hier der weitgereiste, listenreiche Kämpfer –, oder als „Aristides“30 – der geniale Stratege, der seiner Heimat trotz ungerechtfertigter Verbannung die Treue hält – oder, wie bereits bemerkt, als „Cincinnatus“,31 der vom Pflug weggeholt wird und in aussichtsloser Lage den Feind besiegt. Die dritte und vielleicht entscheidende Rolle bei der Universalisierung Garibaldis spielten wohl die überzeitlich-­humanitären Zuschreibungen. Die Gartenlaube bezeichnete ihn 1860 als „den modernen Ritter ohne Furcht und Tadel“.32 Was war damit gemeint? Lassen wir einmal die Assoziation von Ritterlichkeit mit der Damenwelt beiseite und betrachten die anderen Attribute, die sich damit verbinden und sich quer durch die zeitgenössische Literatur ziehen. Melena alias Schwartz, die schmachtende Jüngerin, betonte seine musterhafte Bescheidenheit, Selbstlosigkeit und Humanität.33 Die Gartenlaube rühmte „den Mann voll Herzensreinheit und

27 Melena, Garibaldi (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 2. Diese Legende wurde schon Anfang der 1860er Jahre in deutschen Zeitschriften verbreitet. 28 Brockhaus, Bd. 4, Leipzig 111865, S. 240. Ebenso Bd. 4, Leipzig 121876, S. 427. Ebenso Meyer, Bd. 4, Leipzig 31875, S. 234. Der professionelle Historiker Treitschke geht darauf mit keinem Wort ein, hält dagegen die protestantische Herkunft der ­Mutter – sie stammte aus der Genfer Handelsbourgeoisie – mit Recht für wichtig, um die Persönlichkeit Cavours zu erklären. Heinrich von Treitschke, Cavour [1869, überarb. 1871]. In: Ders., Historische und politische Aufsätze, Bd. 2, Leipzig 81921, S. 250. Kraus wiederum erwähnt ausführlich beides. Franz Xaver Kraus, Cavour, Mainz 1902, S. 52. 29 Hartmann, Kirchenstaate (wie Anm. 20), S. 136. 30 Vgl. Anm. 11. 31 Ebd., „Der Cincinnatus von Caprera“. F. B., König (wie Anm. 11), S. 32. Melena, Garibaldi (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 14; Bd. 2, S. 216. 32 Der Befreier Siciliens. In: Die Gartenlaube, Jg. 1860, S. 564. 33 „Seine Verachtung für alles, was seine Person zum Gegenstand der Huldigung machte“, will Melena, Garibaldi (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 93, an ihm beobachtet haben.

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großartigster Uneigennützigkeit“,34 der Brockhaus versicherte seinen Lesern: „Mit festem, unbeugsamen Willen, kühner Tatenlust, Scharfblick und Geistesgegenwart in der Aktion vereinigt Garibaldi ein schwärmerisches Gemüt, das für Recht und Freiheit, für Menschen- und Völkerwohl begeistert ist […]“.35 Ähnliches war im Meyerschen Konversationslexikon zu lesen: „Persönliche Tapferkeit, Uneigennützigkeit und Redlichkeit des Strebens sind die Tugenden, die ihn in glänzender Weise auszeichnen“.36 Wer das alles zusammen mit seinen militärischen Glanzleistungen auf den Begriff bringen wollte, für den war Garibaldi kurzerhand „der ,Held unseres Jahrhunderts‘ schlechthin“.37 Der Weg vom nationalen zum universalen Helden hatte natürlich seinen Preis. Er bestand im Verschwinden des Politischen. Wer an Garibaldi hochgespannte politische Erwartungen richtete, sah sich durchweg enttäuscht und reagierte darauf mit Kritik. Engels bezeichnete ihn 1860 als „militärisches Genie“ und hoffte, „daß der Politiker Garibaldi, der bald auf der Szene erscheinen muß, den Ruhm des Generals unbefleckt lassen wird“.38 Als sich diese Hoffnung zerschlug, übergossen er und Marx ihn mit Hohn und Spott.39 Kein Wunder, dass ­später Engels das Angebot Filippo Turatis ablehnte, eine in Florenz hergestellte und zur Massenproduktion vorgesehene Marx-­Büste dem Devotionaliengeschäft zuzuführen; sie sehe Garibaldi ähnlicher als dem Verfasser des „Kapitals“.40 – Auf der anderen Seite des politischen Spektrums Bismarck. Er setzte wie schon 1866 im Sommer 1870 auf den Revolutionär Garibaldi.41 Als dieser aber nach 34 H. v. G., Ein Capitel (wie Anm. 19), S. 764. 35 Brockhaus, Bd. 6, Leipzig 111865, S. 762. Ebenso Bd. 7, Leipzig 121877, S. 40. 36 Meyer, Bd. 7, Leipzig 31876, S. 413. Ebenso Bd. 7, Leipzig 41897, S. 85. 37 Zit. Altgeld, Garibaldi (wie Anm. 13), S. 177. 38 Engels, Garibaldi (wie Anm. 14), S. 64. Nicht ganz so hymnisch äußerte sich Marx 1859/60; MEW, Bd. 15, 1969, S. 55 f., S. 89 f. Gegenüber Lassalles Enthusiasmus bemerkte er, dass Garibaldi, der „das ganze Bourgeois- und Aristokratengesindel“ gegen sich habe und „seine Kerntruppen unter neapolitanisches Gesindel und piemontesische Troupiers zu verteilen gezwungen war“, kaum Chancen habe; Marx an Lassalle, 2. Oktober 1860; Der Briefwechsel ­zwischen Lassalle und Marx, hg. v. Gustav Mayer (Ferdinand Lassalle, Nachgelassene Briefe und Schriften, Bd. 3), Stuttgart, Berlin 1922, S. 339 f. 39 Marx’ letztes Wort über Garibaldi war, er sei „donkeyhaft“; Marx an Engels, 19. April 1864; MEW, Bd. 30, 1972, S. 391. 40 Turati an Engels, 2. August 1884; Filippo Turati e i correspondenti stranieri. Lettere 1883 – 1932, hg. v. Daniela Rava, Manduria, Rom, Bari 1995, S. 98. Engels an Turati 16. August 1894: „Votre buste de Marx ne trouve pas trop d’admirateurs ici. Il y a trop peu du Marx et trop du Garibaldi dans cette tête“; Corrispondenza Friedrich Engels − Filippo Turati, 1891 – 1895, hg. v. Luigi Cortesi. In: Annali della Fondazione Giangiacomo Feltrinelli, 1 (1958), S. 266. In der Edition von Rava fehlt dieser Absatz. Für den Hinweis auf Turati danke ich Rolf Wörsdörfer. 41 Näheres dazu bei Petersen, Garibaldi (wie Anm. 7). Garibaldi seinerseits hatte 1867 bei Bismarck vorgefühlt, ob dieser ihm Rückendeckung für seinen Einfall in den Kirchenstaat geben würde, und ihm dabei im üblichen Pathos geschrieben: „Je suis prêt à mourir sur les sept collines avant de permettre que l’Italie combatte contre la Prusse, son généreux allié, qui lui a donné Venise“;

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Sedan mit Freischärlern und regulären Truppen auf dem burgundischen Nebenkriegsschauplatz erschien, um der Republik gegen das deutsche Heer beizustehen, plante Bismarck eine öffentliche Erniedrigung Garibaldis, falls dieser in deutsche Gefangenschaft geriete: Mit einem Schild vor der Brust, auf dem „Italiener, Zuchthaus, Undank“ zu stehen hätte,42 sollte er mit „seiner Bande von Revolutionären“43 durch Berlin nach Spandau geführt werden. Gerade aber der 1870er Krieg enthüllte, wie weit die Entpolitisierung Garibaldis bereits vorangeschritten war. Kronprinz Friedrich tat es „ordentlich leid, daß der alte Held“ nun solchen „Blödsinn begeht“, und fügte hinzu, seine Gefangennahme „wäre eine rechte Verlegenheit für uns“.44 Anders als in der Tagespresse fielen die Urteile über Garibaldi in bilanzierenden Aufsätzen und Lexika, s­päter auch in Nachrufen milde aus. Lediglich das katholische Herder-­Lexikon blieb in allen Auflagen unversöhnlich. Kirchenpolitik war eben weniger kompromissfähig als Parteipolitik. Aber selbst noch im Schmähwort „Heldennarr“45 scheint das starke Bedürfnis nach Identifikation mit großen Gestalten, Helden eben, durch, das für jene Zeit so typisch ist und das möglicherweise im Falle der deutschen Einigung nicht wirklich befriedigt worden ist. Wir wollen aber diese Hypothese zurückstellen und uns zunächst dem italienischen Blick auf Deutschland zuwenden. Heroen der Reichseinigung aus italienischer Sicht Der Entpolitisierung Garibaldis war ohne Zweifel die hierzulande verbreitete Ansicht förderlich, er selber sei unpolitisch, verstehe nichts von Politik. Kaum ein Artikel unterließ den Hinweis darauf, auch wenn man selten so weit ging wie sein Biograph Reuchlin, der 1861 schrieb, politisch urteile Garibaldi „mit beinahe weiblicher Unbefangenheit“.46 Treitschke brachte das deutsche Urteil auf den Punkt: „Die zahllosen Torheiten, die Garibaldi begangen hat und noch begehen wird, sind zum Voraus ihm vergeben, der so viel, so unaussprechlich viel geliebt hat“.47 abgedr. bei Alfred Stern, Geschichte Europas von 1848 bis 1871, Bd. 4, Stuttgart, Berlin 21924, S. 540. 42 Tischgespräch, 28. November 1870; Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 7, Berlin 1924, S. 419. 43 Tischgespräch, 1. Februar 1871. Ebd., S. 497. 44 Kaiser Friedrich III., Das Kriegstagebuch (wie Anm. 14), S. 157 (Eintrag vom 10. Oktober 1870). Ebd., S. 213 (Eintrag vom 12. November 1870). Ebenso Bismarcks Mitarbeiter Abeken in einem Brief an seine Frau vom 1. Dezember 1870; Heinrich Abeken, Ein schlichtes Leben in bewegter Zeit, Berlin 41910, S. 469 f. 45 Herder, Bd. 2, Freiburg 21877, S. 542. 46 Schulthess, Geschichtskalender (wie Anm. 25), S. 260. 47 Treitschke, Cavour (wie Anm. 28), S. 358. Bemerkenswert ist daran vor allem, dass Treitschke ­dieses überschwängliche Lob Garibaldis in seiner 1871 vorgenommenen Überarbeitung nicht gestrichen hat.

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Von einer vergleichbaren Laudatio kann, wenn wir uns nun dem italienischen Blick auf die Heroen der deutschen Einheit zuwenden, keine Rede sein. Das hat mancherlei Gründe. Bis in die 1870er Jahre blieb das Interesse an Deutschland gering, auf wenige Spezialisten beschränkt. Wichtiger noch: Die politischen Systeme, wie sie sich nach 1848 herausgebildet hatten, waren nicht kompatibel. Schließlich: Von Deutschland konnte man, im Unterschied zu Frankreich oder Großbritannien, nicht nur nichts lernen, man verabscheute es im Gegenteil als Land der Unfreiheit, der Rückständigkeit und der Barbaren. Bis mindestens 1866 mit Habsburg gleichgesetzt, war es auch das Land, das Italien unterdrückte, und zwar seit dem Mittelalter, und die aktuelle Erfahrung schien den Italienern Recht zu geben. Als sie sich 1859/60 an die Eroberung des Südens machten, stießen sie auf hunderte deutscher Söldner im päpstlichen und neapolitanischen Heer. Nicht nur Tedesco war damals deshalb ein Schimpfwort, sondern bis zum Fall von Rom auch Bavarese.48 Dass es sich dabei in jedem Fall um Deutsche oder Bayern im heutigen Wortsinne gehandelt hat, ist ebenso unwahrscheinlich wie unerheblich. Königgrätz änderte insofern das italienische Deutschlandbild radikal, als nun neben den ungeschlachten, tumben oder bestenfalls träumerisch veranlagten der praktische, wissenschaftlich gebildete, überlegt handelnde Deutsche trat. Dieser neuartige Deutsche erschien den Italienern aber nicht weniger bedrohlich als der altbekannte, im Gegenteil. Man hatte es nunmehr also mit zweierlei Barbaren zu tun.49 Der Krieg gegen das republikanische Frankreich, d. h. nach dem Fall von Sedan steigerte noch die Kritik. Sie gipfelte im Schlagwort der „neuen Hunnen“,50 einem von der französischen Kriegspropaganda übernommenen Terminus, der aber nicht so recht ins historische Gedächtnis der Italiener passen wollte. Umso spontaner lehnte man das in Versailles ausgerufene Deutsche Reich ab, das wegen seiner Titulatur umstandslos

48 Ein deutscher Beobachter berichtete aus Neapel, „daß die Deutschen und Schweizer, die von den Neapolitanern in Bausch und Bogen bald Bavarini, bald Tedeschi – Bayern und Deutsche – mit gleich giftigem Tone genannt werden“; Aus den ersten Tagen der Neapolitanischen Freiheit. Dritter Brief eines deutschen Malers. In: Die Gartenlaube, Jg. 1860, S. 634. Bei der Belagerung Palermos versuchten die Truppen Garibaldis, mit Flugblättern die ausländischen Truppenteile zum Überlaufen zu bewegen. „Vielleicht 120 ließen sich verführen […]. Das Volk führte s­ olche Überläufer mit großem Geschrei auf den Palazzo Pretorio: ‚Un bavarese! Un bavarese!‘“; Palermos Pfingsten 1860; von einem Augenzeugen. In: Deutsches Museum 11 (1861), S. 306. Manchmal handelte es sich tatsächlich um Bayern. So schied der spätere Führer der bayerischen Sozial­ demokratie, Georg von Vollmar, 1867 aus dem Militärdienst und verdingte sich als Freiwilliger bei den päpstlichen Truppen. 49 Otto Weiß, Das Deutschlandbild der Italiener von der Schlacht bei Königgrätz bis zur Reichsgründung. Konstanz und Wandel von Stereotypen. In: Ara / Lill (Hg.), Immagini a confronto (wie Anm. 4), S. 239 – 277. 50 Ders., L’immagine della Germania. Miti e opinione pubblica (1815 – 1915); ungedr. Ms. im Besitz d. Verf., S. 1. Erst mit seiner „Hunnenrede“ im Boxeraufstand sollte Wilhelm II. ­dieses Schlagwort wirklich populär machen, das dann 1914 die alliierte Kriegspropaganda nur noch aufzugreifen brauchte.

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mit dem Heiligen Römischen Reich gleichgesetzt wurde. Mit ihm verbanden die Italiener dank ihrer im Risorgimento umgeschriebenen Nationalgeschichte besonders schlechte Erinnerungen. Man sollte nicht vergessen, dass die Nationalpartei, soweit sie nicht Mazzini zuneigte, sich bis 1848 als „neoguelfisch“ bezeichnet hatte und noch viel länger das entsprechende Geschichtsbild kultivierte, so dass es nicht überrascht, wenn das große Denkmal für die 1176 stattgefundene Niederlage von Legnano, wo nach damaligem Verständnis Italiener gegen Deutsche gekämpft hatten, überhaupt erst im Jahre 1900 eingeweiht wurde. Wer anders, also positiv über Deutschland oder die Deutschen urteilte, gehörte deshalb Kreisen an, die man am besten als dissident bezeichnet: süditalienische Hegelianer, seit 1866 Kritiker aus den Reihen des Heeres, einzelne Anhänger der Aktionspartei, Mazzini, vor Sedan auch Garibaldi. Mit ihnen begann, so scheint es, eine Entwicklung, die inzwischen nach den Worten Jens Petersens die Italiener zu „Weltmeistern der Selbstkritik“51 gemacht hat. Jedenfalls schrieb der neapolitanische Philosoph ­Pasquale Villari nach den Feldzügen von 1866 seinen Landsleuten ins Stammbuch: „Wir haben die ach so trägen Deutschen wie Blitze sich bewegen sehen, die feurigen Italiener dagegen krochen wie Schildkröten“.52 Weil diese Kritik eine richtige Beobachtung formulierte und überdies in einer der prominentesten Zeitschriften, im Politecnico, erschien, war damit die Debatte eröffnet. Uns soll jener Ausschnitt davon interessieren, der den dramatis personae galt, also denen, die nach Meinung der Zeitgenossen die deutsche Einheit zuwege gebracht haben. Die Unterschiede zu dem, was die Deutschen in Italien wahrnahmen, könnten – was Wunder? – größer nicht sein. Die Italiener sahen sich im Falle Preußens (andere deutsche Staaten, von Österreich abgesehen, wurden kaum mehr wahrgenommen, d. h. die italienische Publizistik nahm schon ab 1860 die kleindeutsche Einigung gewissermaßen vorweg)53 einer arbeitsteilig geordneten, aber kompakten Masse Handelnder gegenüber, oft jahrzehntelang im Amt und offensichtlich loyal im Umgang miteinander. „Mechanisches Funktionieren“54 fällt den Beobachtern zur Beschreibung immer wieder

51 Jens Petersen, Die Weltmeister der Selbstkritik. In: FAZ Nr. 91 (20. 4. 1999), S. 53. 52 „Abbiamo visto i tardi Tedeschi volare come i fulmini, e i focolosi Italiani andare come le ­tartarughe“; Pasquale Villari, Di chi è la colpa o sia la pace e la guerra. In: II Politecnico, Ser. IV., 2 (1866), S. 257. 53 Das ergibt eine Auszählung sowohl des italienischen Buchhandelskatalogs jener Jahre, des Catalogo generale della libreria italiana dall’anno 1847 a tutto il 1899, zsgest. v. Attilio Pagliaini, als auch der Indices des Politecnico und der Nuova Antologia. 54 „L’efficacia incomparabile di esso [stromento di guerra] sta insieme nell’ordine morale e nel congegno meccanico, ogni attrito delle varie sue parti, ogni eventuale spostamento o resistenza cessa o prontamente si ripara per la felice armonia delle istituzioni militari colle civili, e dello spirito del paese con quello dell’esercito” (“Die unvergleichliche Leistungsfähigkeit ­dieses [Kriegsinstruments] vereint sich mit der sittlichen Ordnung und dem mechanischen Funktonieren, jede Reibung z­ wischen seinen einzelnen Teilen, jede denkbare Verzögerung

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ein. Es gibt dort weder Kabinettskrisen noch Intrigen, weder Unfähigkeit noch mangelnde Disziplin. Alle Rädchen greifen wie bei einer „Maschine“55 ineinander, ohne dass ständig nachreguliert werden muss. An der Spitze ein Dreigestirn, bestehend aus dem König, Bismarck und Moltke, dessen Einigkeit offensichtlich, also real ist und nicht wie in Italien ein von der offiziösen Propaganda herbeigeschriebener Mythos. „Ein leidenschaftlicher König führt die Truppen, ein kluger Stratege leitet sie, ein kühner und gewitzter Diplomat vermählt Politik und Krieg und hält unter seinem Helm Kopf und Gedanken bedeckt“.56 Eine s­olche Konstellation ist der Heroisierung der beobachteten Personen nicht günstig. Für charismatische Persönlichkeiten gibt es hier keinen Raum. Wo sollten sie auch ihren Ort finden, wenn alle zusammenstehen und tun, was Amt und Pflichtgefühl von ihnen fordern und wenn ­dieses Pflichtgefühl an Überpersönliches – Protes­ tantismus, Staatsidee oder Wissenschaft (darüber herrscht in Italien keine Einigkeit) – rückgebunden ist? Dass Bismarck ein Politiker der Sonderklasse ist, steht natürlich auch für die italienischen Kommentatoren außer Frage. Ruggero Bonghi, Sprachrohr der frankophilen Moderati in den 1860er und 1870er Jahren, präsentiert ihn 1866 seinen gebildeten Lesern – er publizierte mit Vorliebe in der Nuova Antologia, dem italienischen Gegenstück unserer Preußischen Jahrbücher – als Gewaltmenschen, der allerdings das prinzipiell richtige Ziel verfolge: die Einigung Deutschlands.57 Von Cavour unterscheide ihn die Verletzung von Konstitution und Freiheitsrechten, von La Marmora die Ablehnung des Kompromisses. Ein gänzlich anderes Politikverständnis also, seinerseits bedingt durch seine Herkunft: Bismarck gilt als ungehobelter Junker und damit als Repräsentant einer Klasse, die in Italien seit langem ausgestorben ist.58 Verteidiger fand Bismarck am ehesten unter den Linken. Aus deutscher Sicht ist das paradox, aber in erster Linie eine Folge des unterschiedlichen Sprachgebrauchs. Wenn wir uns aber erinnern, dass Ludwig Bamberger, ein Demokrat, 1852 wegen Teilnahme am pfälzischen Aufstand zum Tode verurteilt, von 1866 bis 1888 in- und außerhalb des Reichstags mit Bismarck eng zusammengearbeitet hat, wird uns umgekehrt die Bewunderung eines Crispi, der ebenfalls 1848 Demokrat, Revolutionär und danach im Exil war, für den ,eisernen Kanzler‘ vielleicht weniger überraschen. Turmhoch sei er allen überlegen,

oder jeder Widerstand hört entweder auf oder wird von der glücklichen Harmonie z­ wischen militärischen und zivilen Instanzen sowie ­zwischen Bürgersinn und militärischem Geist umgehend beseitigt“); Paulo Fambri, La critica militare e la storica. In: Nuova Antologia 18 (1871), S. 365. 55 Ebd., S. 366. 56 „Un re fervente mena le schiere; uno stratega sapiente le dirige; un audace ed accorto diplomatico sposa la politica alla guerra e copre coll’elmo il suo capo e le sue note“. Ebd. 57 Ruggero Bonghi, Carlo Ottone di Bismarck-­Schönhausen. Ebd. 1 (1866), S. 723 – 763. 58 Ders., L’alleanza prussiana e l’acquisto di Venezia. Ebd. 10 (1869), S. 65, S. 70 f.

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und auf Erden gebe es nicht seinesgleichen,59 denn die Schwierigkeiten Deutschlands bei der Einigung ­seien viel größer gewesen als in Italien. Auch wenn man geneigt ist, ­solche Worte als politische Rhetorik – sie fielen schließlich 1881, also ein Jahr vor dem Dreibund, im Parlament –, ja als Selbststilisierung zu verbuchen, besteht an der Aufwertung ­Bismarcks im Laufe der Zeit kein Zweifel. Selbst Bonghi attestierte dann dem Gestürzten, er sei bisher Garant der europäischen Friedensordnung gewesen.60 Das war 1890 allerdings communis opinio und hätte den Anhängern des in Deutschland grassierenden Bismarck-­Kultus nicht im mindesten genügt. Für unsere Zwecke aber ist wichtig festzuhalten, dass Bismarck im italienischen Verständnis stets Politiker, genauer vielleicht: Amtsinhaber blieb. Den Respekt hat man ihm zwar auf Dauer nicht versagt, aber für eine Heroisierung bot seine Person nicht den mindesten Ansatz. Anekdoten, sein persönliches Erscheinungsbild, beides den deutschen Zeitgenossen im Übermaß geboten, sind aus italienischer Feder kaum überliefert.61 Anders sein königlicher Herr. Mochte auch die Tagespresse, namentlich im 1870er Krieg, ihn im Stile eines antiken oder alttestamentarischen Wüterichs beschreiben, 62 spätestens in den Nachrufen – de mortuis nihil nisi bene – sprach man ihm diejenigen Attribute zu, die das 19. Jahrhundert von seinen Monarchen erwartete: Fromm, friedliebend, einfach und aufrecht sei er gewesen.63 Den Italienern musste man außerdem die andersartige Stellung des preußischen Monarchen im Verfassungssystem erklären. ­Wilhelm sei tatsächlich Inhaber der Regierungsgewalt gewesen und insoweit seit 1859 objektiv, seit 1862 auch subjektiv pro-­italienisch 64 – eine reichlich kühne Behauptung – und wirklicher, nicht nur nomineller Führer seines Heeres.65 Mit Rührung wird das italienische 59 „Il principe di Bismarck, secondo il mio giudizio, non ha uguale nel mondo; egli è l’uomo che torreggia su tutti“ (“Fürst Bismarck kommt nach meinem Dafürhalten niemand sonst auf der Welt gleich; turmhoch überragt er alle”). Discorsi parlamentari di Francesco Crispi, Bd. 2, Rom 1915, S. 529 (Rede vom 8. Dezember 1881). Crispi, der Bismarck dreimal besucht hat – 1877, 1888 und 1894 − wurde von seinen innenpolitischen Gegnern vorgeworfen, er regiere „alla Bismarck“; zit. Otto Weiß, Staat, Regierung und Parlament im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich im Urteil der Italiener (1866 – 1914). In: QFIAB 66 (1986), S. 345. 60 Man vergleiche nur Ruggero Bonghi, Il bismarckismo. In: Nuova Antologia 16 (1871), S. 257 – 272, mit seinem ,Nachruf‘: Bismarck e la sua caduta. Ebd. 110 (1890), S. 463 – 473. 61 Eine Ausnahme macht [Edmond de Planches], Crispi bei Bismarck. Aus dem Reisetagebuch eines Vertrauten des italienischen Ministerpräsidenten, Stuttgart 1894. Die französische Version ist auch in Italien verbreitet. 62 Zit. Weiß, L’immagine, S. 6. 63 Ruggero Bonghi, Guglielmo I [1888]. In: Ders., Ritratti e profili di contemporanei, Bd. 3 (Opere di Ruggero Bonghi, Bd. 6), Florenz 1935, S. 21 – 84. 64 Costantino Baer, Il Principe Guglielmo di Prussia, reggente, e la guerra d’Italia del 1859. In: Nuova Antologia 136 (1894), S. 322 f. Der gesamte Aufsatz ist unter souveräner Missachtung der Fakten geschrieben. 65 „Il duce della nazione tedesca armata contro l’,Erbfeind‘“ (“Gegen den ‘Erbfeind’ der Führer der deutschen Nation in Waffen“). Ruggero Bonghi, L’Imperatore Guglielmo e la sua opera [1888]. In: Ders., Ritratti (wie Anm. 63), S. 14.

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Publikum vernommen haben, Wilhelm I. habe sich lebenslang als Testamentsvollstrecker seiner M ­ utter, der offenbar auch in Italien populären Königin Luise, empfunden.66 Und auch Anekdoten kommen endlich einmal zur Sprache, etwa, dass Wilhelm am Tage der Schlacht von Königgrätz, obwohl bereits 69 Jahre alt, nicht aus dem Sattel gekommen sei und ihm als Verpflegung ein Stück Brot aus der Tasche eines Unteroffiziers genügt habe.67 Das war zwei Wochen vorher in Custoza doch anders gewesen. Dass Vittorio Emanuele sein Diner weit hinter der Front eingenommen hat – nun gut. Aber dass, wie der preußische Militärbevollmächtigte von Bernhardi in seinem Tagebuch notierte, ein Leutnant ihm verbittert erzählt habe, wie er, beim Rückzug durch Villafranca reitend, seinen Kommandierenden General samt Stabschef in einem „Kaffeehause“ angetroffen habe, „wo sie sich an Sorbetten delektierten“,68 – das, so wird dem Leser nahegelegt, war im preußischen Militär undenkbar. Auch die echte, unverstellte Gottesfurcht des Monarchen wird immer wieder betont – augenscheinlich eine Anspielung auf den so ganz anders gearteten Vittorio Emanuele und insbesondere auf die, nun ja, ungeordneten privaten Verhältnisse des Re galantuomo.69 Nicht zuletzt Wilhelms persönliche Erscheinung: bescheiden, aber würdig, und von seinem Volk geliebt.70 Wie muss man das alles verstehen? Sicher nicht als Versuch der Heroisierung. Nein, im ­­Zeichen des Dreibunds wird Wilhelm hier der Mantel des Landesvaters verpasst, zugeschnitten freilich auf die preußisch-­deutschen Rahmenbedingungen. Das war in italienischen Augen eine hohe Auszeichnung, ja, fast möchte man sagen, eine Art Rehabilitierung, denn der Titel des padre della patria war erst 1878 beim Tode Vittorio ­Emanueles gewissermaßen wieder ausgegraben worden, um die Beisetzung des Piemontesen im ­Pantheon zu legitimieren.71 Das preußisch-­deutsche Kaisertum verlor dadurch seine dunklen Flecken, die es für Italiener bis dahin verunstalteten, ohne dass doch die Unterschiede ­zwischen den beiden Typen monarchischer Herrschaft verwischt worden wären. 66 Ebd., S. 8 f., S. 14, S. 18. 67 Bonghi, Guglielmo (wie Anm. 63), S. 58 f. 68 v. Bernhardi, Tagebuchblätter (wie Anm. 24), Bd. 7, S. 138. 69 Die Existenz der Bella Rosin (Rosa Vercellana), mit der der verwitwete Vittorio Emanuele Kinder hatte und die als Contessa di Mirafiori im königlichen Palast lebte, machte nicht nur protokollarische Schwierigkeiten. Niccolò Tommaseo, der damals in Turin lebende Literaturwissenschaftler, berichtet in einer Anekdote, wie die drei ersten italienischen Ministerpräsidenten sich verhielten, wenn sie zum König wollten und dabei die Gemächer der Gräfin Mirafiori durchqueren mussten; ihr Verhalten verrät auch viel von ihrem Verhältnis zum König selbst: Der adelsstolze Baron Ricasoli eilte grußlos vorüber, der aus einer erst vor zwei Generationen geadelten Familie stammende Graf Cavour verbeugte sich knapp und wortlos, der bürgerliche Rattazzi vermied nie ein kurzes Gespräch und streichelte die Kinder; Giovanni Spadolini, Gli uomini che fecero l’Italia. Edizione definitiva, Mailand [7]1993, S. 240. 70 Bonghi, Guglielmo, S. 83. Bonghi hat Wilhelm I. beim Besuch Vittorio Emanueles 1873 in Berlin persönlich im Weißen Saal des Schlosses gesehen und gibt an dieser Stelle seine Eindrücke wieder. 71 Näheres bei Umberto Levra, Vittorio Emanuele II. In: Isnenghi (Hg.), I luoghi (wie Anm. 2), S.  52 ff.

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Bismarck, der Politiker; Wilhelm, der Landesvater; Moltke, der geniale Fachmann – so sahen die Italiener das Dreigestirn an der Spitze des Kaiserreichs. Dass Moltke die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, bedarf scheinbar keiner näheren Begründung. Aber der Architekt des Sieges von Königgrätz verdankt seine rasche Berühmtheit – schon Anfang September 1866 wurde er in der größten Illustrierten des Landes, im Emporio Pittoresco, ausführlich und natürlich mit Bild vorgestellt 72 – vor allem der inneritalienischen Kritik an der katastrophalen Kriegführung im Sommer 1866.73 Es ging nicht um seine Person, sondern um die italienische Generalität, insbesondere um die strategischen Fehler La Marmoras. Hätte man das Heer „prussianamente“,74 „preußisch“ geführt, so der Militärschriftsteller Fambri, wäre man der Blamage von Custoza entgangen. „Preußisch“ meinte die von Moltke durchgesetzte Planungskultur, die Professionalität des Offizierskorps und die faktische Kommandogewalt des Generalstabschefs, und nicht zuletzt meinte es die Kombination von Königsheer und Volk in Waffen, d. h. die Einheit von Linie und Landwehr. Lassen wir den preußischen Kriegsplan für Italien einmal beiseite (v. Bernhardi hatte La Marmora einen kraftvollen Vorstoß ins Herz des Gegners, und zwar unter Umgehung des unbezwinglichen Festungsvierecks am Garda­ see, sowie als Flankenschutz eine Revolutionierung Dalmatiens und Ungarns durch Garibaldi vorgeschlagen, doch wurde dieser Plan von La Marmora, der eigentlich gar keine Schlacht wünschte, nicht einmal diskutiert, was ihm die diplomatische Ungeschicklichkeit Bismarcks erleichterte, der einen Zivilisten, eben den Militärschriftsteller v. Bernhardi ins Hauptquartier geschickt hatte), dessen Bekanntwerden einen heftigen Schlagabtausch in Parlament und Presse zur Folge hatte. Der Name Moltkes verkörperte die Überlegenheit einer Heeresverfassung und Kriegführung, die von den Italienern bewundert, aber trotz vieler Anläufe nicht wirklich übernommen wurde. Teils lag das am fehlenden Geld, teils am unverstandenen Verhältnis ­zwischen Aktiven und Reserve – die Folgen der Heeresreform hatte man in Italien nie richtig begriffen, dort hielt sich der Mythos der Landwehr à la 181375 –, teils an der anderen Rolle des Militärs 72 Il generale de Moltke. In: L’Emporio Pittoresco. Giornale settimanale, n. 105 (2.–8. 9. 1866), S.  977 f. 73 Einzelheiten dazu bei Piero Pieri, Storia militare del Risorgimento. Guerre e insurrezioni, Torino 1962, Kap. 16. Ferner Geoffrey Wawro, The Austro-­Prussian War. Austria’s War with Prussia and Italy in 1866, Cambridge 1996, Kap. 4 u. 5. 74 Paulo Fambri, La guerra del 1866. A proposito di una recente pubblicazione. In: Nuova Antologia 20 (1871), S. 862. Ähnlich Carlo Corsis Schlusssatz: „[…] alcuni dicono: Fu la vittoria della scienza. Nel concetto medesimo noi diremmo: Fu il trionfo della disciplina“ (“Manche sagen, es war der Sieg der Wissenschaft. Wir möchten noch hinzufügen: Es war der Triumph der Diszi­ plin”); Le vicende della guerra tra Francia e Germania nel 1870. Ebd. 17 (1871), S. 682. Corsi war hoher Generalstabsoffizier und hatte im Januar 1871 den deutsch-­französischen Kriegsschauplatz besucht. 75 Beispielhaft dafür Giuseppe Canestrini, L’antico ordinamento militare in Italia e il moderno in Prussia. In: Nuova Antologia 4 (1867), S. 239 – 275, der glaubt, Preußen habe 1866 mit seiner Landwehr gesiegt. Die Vertreter des Milizgedankens konnten sich nicht nur auf Garibaldis Erfolge

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­ berhaupt, das in Italien in erster Linie den sozialen Status quo erhalten sollte und ü deshalb seit 1860 vor allem im Süden mit der Niederschlagung von Aufständen befasst war.76 Das italienische Heer stand im Dienste der nationalen Elite, der Bourgeoisie, ohne dass diese freilich besonderen Ehrgeiz verspürt hätte, diesen Dienst durch Eintritt ins Offizierskorps selbst zu versehen.77 Letztlich scheiterten alle Versuche, das preußische Vorbild zu übernehmen, am Widerstand der politischen Klasse, dem Militär einen ähnlichen Sonderstatus einzuräumen wie im kaiserlichen Deutschland. Formal führte Italien das Amt eines Generalstabschefs erst 1882 nach Abschluss des Dreibunds ein, doch als 1908 General Cadorna es nach deutschem Vorbild aus der Unterstellung unter das Kriegsministerium befreien wollte, erhielt ein anderer den Posten.78 Damals war Moltke seit 17 Jahren tot, doch galt sein Werk nach wie vor als Gipfel der modernen Militärwissenschaft, an dem die Wirklichkeit gemessen wurde. Alle Nachrufe belegen deshalb die ungebrochene, aber eben instrumentelle Funktion des Feldmarschalls im öffentlichen Streit um die Reorganisation des italienischen Heeres. General Zanelli benutzte die Rezension von Moltkes ins Italienische übersetzter Geschichte des deutsch-­ französischen Krieges zur Ermahnung, die Zeit der militärischen Dilettanten sei vorbei,79 während sein Kollege Goiran in seinem Nachruf an die Peinlichkeit erinnerte, andere berufen, sondern erhielten auch prominente Schützenhilfe von Carlo Cattaneo, L’Italia armata, Florenz, Mailand 1861. Darauf replizierte Paulo Fambri, Volontari e regolari. In: Nuova Antologia 7 (1868), S. 50 – 85, S. 308 – 338; 8 (1868), S. 109 – 154. Fambri war für eine reguläre Armee, weil ihm die heldischen Milizsoldaten zu unzuverlässig waren. Genau um d ­ ieses Problem kreiste aus Anlass der nie wirklich abgeschlossenen Heeresreform auch in späteren Jahrzehnten unaufhörlich die Debatte. In d ­ iesem Zusammenhang wurde Colmar von der Goltz’ „Das Volk in Waffen“, Berlin 1883, zweimal ins Italienische übersetzt und dabei dem Übersetzer geraten, als Titel „La nazione armata“ zu wählen; „Il popolo in armi“ habe „un significato riposto di insurrezione“ („[…] als Titel ‚Die bewaffnete Nation‘ zu wählen; „‘das Volk in Waffen‘ enthalte einen Beigeschmack von Aufstand“); zit. Piero Del Negro, La leva militare in Italia dall’unità alla grande guerra. In: Ders., Esercito, Stato, società. Saggi di storia militare, Bologna 1979, S. 256, Anm. 96. 76 „L’ideale militare borghese si ferma al carabiniere“ (“Das bürgerliche Militärideal endet beim Carabiniere”), klagte der Ex-­Garibaldiner und Militärspezialist Giuseppe Guerzoni, L’esercito in Italia, Padua 1879; zit. Del Negro, Esercito (wie Anm. 75), S. 68. 77 Ausführliche Statistiken zur geringen Wehrbereitschaft des italienischen Bürgertums in dem in Anm. 75 genannten Aufsatz Del Negros. 78 Ebd., S. 59 f. Eine kuriose Lösung des Problems hatte Vittorio Emanuele 1873 versucht, indem er kurzerhand erklärte, sämtliche aktiven Generäle, 130 an der Zahl, bildeten den „Generalstab“; Wawro, War (wie Anm. 73), S. 285. 79 „La guerra non è affare di dilettanti“; Saverio Zanelli, Moltke e la guerra del 1870 – 71. In: Nuova Antologia 119 (1891), S. 736. Zanelli bereitete damals auch eine Biographie Moltkes vor: Moltke. Saggio storico, Rom 1895. Sie wurde vorsichtig kritisiert mit dem Hinweis, Moltkes Lehre vom bewaffneten Frieden habe ausgedient und müsse einer Abrüstungspolitik Platz machen. Enrico Barone, Moltke. A proposito di una recente pubblicazione; in: Nuova Antologia 143 (1895), S. 490 – 510. Ansonsten aber müsse man die Erfahrungen von 1870 respektieren: Auf die Vorbereitung der Mobilmachung komme alles an, Disziplin sei wichtiger als Angriffslust und Tollkühnheit; Enrico Barone, Come operano i grandi eserciti, Rom 1892.

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hätten 1866 und 1870 für Italien gesiegt;80 es sei höchste Zeit, sich den „duce perfetto di eserciti“, den „untadeligen Heerführer“ zum Vorbild zu nehmen, der in sich die Rollen des Gelehrten, Methodikers und Philosophen vereint habe. Garibaldi hat die Herzen unzähliger Deutscher erobert, er wurde sogar zum Thema von Gedichten 81 und Romanen 82 und war vor Mussolini wohl der bekannteste Italiener hierzulande.83 Entsprechendes lässt sich umgekehrt schwerlich behaupten. Aus dem Olymp der nationalen Heroen Deutschlands, der hierzulande jeder politischen Richtung, jedem kultischen Bedürfnis einen Gott oder wenigstens einen Halbgott bot, haben sich die Italiener nicht bedient. Das preußische Dreigestirn war, zuletzt jedenfalls, geachtet, aber niemals populär. Von anderen Kriegshelden oder Politikern lässt sich nicht einmal das sagen. Im Gegenteil. Manzoni benutzte Theodor Körner 1848, um die ,Deutschen‘ daran zu erinnern, dass sie 1813 andere waren als jetzt: damals Freiheitskämpfer, jetzt Unterdrücker.84 Nicht eine der volkstümlichen Darstellungen der drei deutschen Einigungskriege wurde ins Italienische übersetzt.85 Und das, obwohl 80 [Giuseppe] Goiran, Il maresciallo Moltke. Ebd., S. 117 (1891), S. 171. Das folgende Zitat ebd., S. 168. Damals erschien die erste italienische Biographie Moltkes: Vittorio Emmanuele D ­ abormida, Il maresciallo Moltke, Rom 1891. 81 Einige der bekanntesten Gedichte schrieb Georg Herwegh, der 1859 schon die Garibaldi­-Hymne übersetzt hatte, nämlich 1862, nach Aspromonte, „Έσσεται ημαρ“ [„Der Tag wird kommen“], und 1867 „Ich hatt’ einen Kameraden“; Herweghs Werke in 3 Teilen, hg. v. Hermann Tardel, Bd. l, Berlin usw. 1910, S. 70 – 72, S. 119 f. 82 Robert Springer, Garibaldi: Das Haupt des jungen Italiens. Sein Leben, seine Abentheuer und Heldenthaten. Historisch-­politischer Roman aus der neuesten italienischen Geschichte, 3 Bde., Berlin 1861. Näheres dazu bei Titus Heydenreich, Politische Dimensionen im literarischen Italien­bild: die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Ara / Lill (Hg.), Immagini a confronto (wie Anm. 4), S. 286 ff. 83 So Altgeld, Garibaldi (wie Anm. 13), S. 169. 84 Alessandro Manzoni, Marzo 1821. Alla illustre memoria di Teodoro Koerner. In: Ders., Tutte le poesie 1812 – 1872, Venedig 1987, S. 105 – 108. Das Gedicht hatte Manzoni bereits 1821 verfasst, als aufständische piemontesische Truppen den Tessin überschreiten wollten, von einem österreichischen Hilfkskorps aber daran gehindert wurden; gedruckt wurde es aber erst 1848. Es wäre reizvoll zu überprüfen, ob in Italien Körners Bild dieselbe Wandlung durchgemacht hat wie in Deutschland (vgl. Anm. 91). G[iuseppe] Chiarini, Teodoro Körner (pel primo centenario della sua nascita). In: Nuova Antologia 119 (1891), S. 543 – 554, betont den Poeten, der Größeres vollbracht habe als der Soldat. Nicht eingesehen wurde Francesco Muscogiuri, Teodoro Koerner nel primo centenario della sua nascita, Florenz 1891. 85 Aus der Fülle der Literatur ausgewählt und überprüft wurden: Georg Bleysteiner, Aus großer Zeit. Ausführliche militärische Schilderung des Deutsch-­Französischen Krieges 1870 und 71 von seinem Anfang bis zu seinem Ende auf allen seinen Schauplätzen […]. Ein deutsches Volksbuch, Augsburg 1896. Oskar Höcker, Der Nationalkrieg gegen Frankreich in den Jahren 1870 und 1871. Ehrentage aus Deutschlands neuester Geschichte, Leipzig 1895; zuerst u. d. T.: Ders. u. Franz Otto, Das große Jahr 1870. Neues vaterländisches Ehrenbuch. Große Tage aus Deutschlands neuester Zeit, Leipzig 1871. August Trinius, Geschichte der Einigungskriege, 4 Tle., Berlin 11885 – 91. Ferner Detlev von Liliencron, Krieg und Frieden. Novellen, Leipzig 1891. Ders., Adjutantenritte und andere Gedichte, Leipzig 1892. Liliencrons Kriegsliteratur wurde erst in den 1930er Jahren

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im ­­Zeichen der für vorbildlich gehaltenen scienza tedesca sich mehr Italiener denn je für Deutschland zu interessieren begannen.86 Von Parallelität bzw. Entsprechung also keine Spur. Diese Asymmetrie ist erklärungsbedürftig. Eingangs wurde bereits eine These angeboten. Die Asymmetrie sei möglicherweise nichts anderes als die Fortsetzung des herkömmlicherweise einseitigen Interesses der beiden Völker bzw. Kulturen füreinander. Mich überzeugt diese These nicht, denn die Einseitigkeit des Blicks praktizierten beide Nationen, und zwar gleichzeitig. Beide Seiten griffen nur diejenigen Gegenstände auf, die das eigene Land nicht ausreichend besaß bzw. lieferte. Die Deutschen interessierten sich vor allem für die Kunstschätze und nahmen für deren Besichtigung Land und Leute zwangsläufig in Kauf. Die Italiener interessierten sich für die deutsche Universität, für deutsche Technik, für den Staatssozialismus, für die Heeresorganisation, ohne deshalb zu den germanischen Gefilden und ihren Bewohnern eine sentimentale Beziehung zu entwickeln. Die Gründe für die Asymmetrie im Falle der nationalen Heroen müssen deshalb anderswo liegen. Sie sollen im abschließenden dritten Teil untersucht werden. Heldenbedarf und Heldenmangel in Deutschland „Der Heroismus ist für die Tugend, was die Schönheit für die Wahrheit: Er ist ihr Glanz, ihr Lichtstrahl, der das Erdreich befruchtet, wohin er fällt. Wir leben von der Bewunderung. Was würden wir sein, was würde unser Leben sein ohne jene Vorbilder der Kraft und Selbstverleugnung, die wir durch die oft nur zu dürren Gefilde der Menschheitsgeschichte ausgesät finden?“ Mit diesen Worten beginnt ein 1903 ins Deutsche übertragenes Buch mit dem Titel Italienische Patrioten. Verfasserin war Gräfin Eveline Martinengo-Cesaresco.87 Als gebürtige Engländerin hatte sie zweifellos Tho­mas übersetzt. Die Italiener produzierten statt dessen reichlich eigene Literatur zum 1870er Krieg. Eine unvollständige Liste populärer Darstellungen in Gedicht und Prosa, aus den verschiedenen bibliographischen Nachschlagewerken zusammengestellt, enthält Titel wie Luigi Zerboni, Reminiscenze sulla guerra franco-­prussiana 1870. Versi, Genua 1871. Anon., Album della guerra franco-­prussiana del 1870 – 71, o. O., o. J. Itala Fiorentino, Francia e Prussia. Album della guerra del 1870, 2 Bde., Mailand 1871. Ignazio Cantù, Storia aneddotica della campagna ed assedî della guerra franco-­prussiana 1870 – 71, Mailand 1871. Anon., La guerra del 1870 – 71 illustrata. Cronaca narrata giorno per giorno, o. O. 1871. Gaetano Sanvittore, Storia della guerra franco-­prussiana degli anni 1870 – 71, 2 Bde., Mailand 1871. Pietro Giuseppe Lazzi, La tomba dei fiori. Ricordo della guerra franco-­prussiana 1870 – 71, Mantua 1885. Emilio Bonacini, La guerra franco-­germanica del 1870 – 71. Schizzi, appunti e bozzetti, Florenz, Paris 1895. 86 Maßgeblich für die These der Linken, Preußen-­Deutschland sei das Land der Zukunft, wurde das Buch von Niccolò Marselli, Gli avvenimenti del 1870, Turin 1870. Ausführlich dazu Romeo, Germania (wie Anm. 4). 87 Eveline Gräfin Martinengo-­Cesaresco, Italienische Patrioten, Leipzig 1903, Vorrede. Die Autorin war geborene Engländerin und verfasste mehrere Bücher über das Risorgimento.

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­ arlyles 1841 erstmals erschienenes Buch On Heroes and Hero-­Worship gelesen, das angeC sichts des „Geschreis nach Demokratie, Freiheit und Gleichheit“ die Verehrung und Nachahmung historischer Ausnahmepersönlichkeiten zur sittlichen Pflicht gemacht hatte.88 Wie sein außerordentlicher Bucherfolg belegt, hatte Carlyle damit einen Nerv getroffen. Seine deutschen Leser, die man getrost mit dem Bürgertum gleichsetzen darf, verspürten zwar das Bedürfnis heroischer Identifikation, verfügten dazu aber weder über Ahnengalerien wie der Adel noch konnten sie viel mit dem überlieferten Kosmos christlicher Heiliger anfangen und die Sagen der Vorzeit, ob klassisch, keltisch, slawisch oder germanisch, eigneten sich ebenfalls nicht – oder besser: noch nicht – als Fundstätten nationaler Identitätsstiftung. Auch wussten diese Leser, in ­welchen Strömen von Blut der Versuch bürgerlicher Selbstheroisierung in Gestalt des citoyen geendet hatte. Wer also taugte zur Heroisierung? Wie war der Heldenbedarf des 19. Jahrhunderts, dem Carlyle nicht als erster, aber vielleicht am beredtesten Ausdruck verliehen hatte, zu befriedigen? Wir wollen für Deutschland eine Antwort versuchen. Die Denkmäler verraten uns einen Teil der Antwort. 1821 erhielt Luther in Wittenberg sein erstes Standbild, 1837 folgte Gutenberg in Mainz, 1839 Schiller in Stuttgart; 1842 weihte der bayerische König die Walhalla ein, den Tempel deutscher Geisteshelden. Aber die Denkmalswoge, die über Deutschland, ja über das ganze Europa hinweg schwappte, stillte den Wunsch nach heroischer Identifikation nicht restlos. Die steinernen und bronzenen Heroen waren allesamt bürgerlich – gewiss ein Vorzug, seitdem Autoritäten wie Gustav Freytag bürgerliches Heldentum vorzuführen begannen.89 Aber sie waren zugleich ausnahmslos Zivilisten, und das genügte dem bellizistischen 19. Jahrhundert je länger, desto weniger.90 Ein gutes Beispiel dafür ist Theodor Körner, dessen Bild sich vom Bürger- zum Kriegshelden verschob; 1891, an seinem 100. Geburtstag, war von ihm fast nur noch der aggressive, männliche Kämpfer übriggeblieben, während der Bürger und Dichter kaum noch Erwähnung fand.91 Und schließlich waren die im Denkmal Verewigten durchweg tot – eine ikonologische Selbstverständlichkeit, die aber viel von ihrem Wert verlor, seitdem die

88 Thomas Carlyle, On Heroes and Hero-­Worship, and the Heroic in History. Six Lectures, ­London 1841. Das in alle Weltsprachen übersetzte Buch erreichte vielleicht seine größte Wirkung in dem durch den Idealismus darauf gewissermaßen vorbereiteten Deutschland. 89 Soll und Haben war der erfolgreichste deutsche Roman des 19. Jahrhunderts, seine Gesamt­auflage erreichte um 1900 die Hunderttausendergrenze. 90 Zum bürgerlichen Bellizismus Christof Dipper, Über die Unfähigkeit zum Frieden. Deutschlands bürgerliche Bewegung und der Krieg, 1830 – 1914. In: Frieden in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Historischen Seminar der Universität Düsseldorf, Düsseldorf 1985, S. 92 – 110. International vergleichend, freilich Italien aussparend, jetzt Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750 – 1914, München 2008. 91 Vgl. René Schilling, Die soziale Konstruktion heroischer Männlichkeit im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Theodor Körner. In: Karen Hagemann / Ralf Pröve (Hg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger, Frankfurt 1998, S. 121 – 144.

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Zeitgenossen der Ruf erreichte, sie müssten selber heldisch leben. Gustav Freytags Romane forderten dazu auf, Friedrich Nietzsche predigte unmissverständlich heroische Gesinnung als Grundlage des Lebens, und Max Webers Freiburger Antrittsvorlesung verlangte von der gesamten Nation beispiellose, permanente Kraftanstrengung, um im heldenhaften Ringen der Völker in Ehren zu bestehen. Wie der Held beschaffen sein müsse, hatte sich also seit 1850 erkennbar gewandelt: männlich sowieso, am besten bürgerlicher Herkunft, jedenfalls mit militärischen Verdiensten, der nationalen Sache zugetan (und damit auch ein Gegner, wenn nicht des Katholizismus, so doch des Ultramontanismus), im Idealfall ein Märtyrer, der aber sein Martyrium überlebt hatte. Tote Helden gab es genug, über vergangene Größe hatte man hinreichend nachgedacht. Der Rotationsdruck und das im Entstehen begriffene Andenkengewerbe bzw. die Hersteller von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern – man denke an die deutschen Bismarckheringe oder an die englischen Garibalditörtchen – boten nunmehr hinreichende technische Voraussetzungen, die Lebenden unter ihnen kultisch zu überhöhen.92 Volkstümlichkeit war also auch noch verlangt. Wenn Richard Wagner ein ebenso spröder Mensch wie Gustav Freytag gewesen wäre, hätte er trotz aller Qualitäten und Verdienste nicht zum nationalen Heros getaugt. Das Medienzeitalter kündigte sich an. Wenn wir uns nun fragen, ob und wie der Heldenbedarf des 19. Jahrhunderts befriedigt werden konnte, so kommen wir zum Kern des Problems. Einen Helden, der das soeben skizzierte Anforderungsprofil in seinem gesamten Umfang erfüllte, fand das deutsche Publikum nämlich damals nicht im eigenen Land! Das ist gewiss eine waghalsige These, weil jedermann zumindest Bismarck als Gegenbeispiel einfallen wird. Tatsächlich hat die Bismarck­Verehrung vor allem nach 1890 Formen angenommen, die an der Erhebung des ,Eisernen Kanzlers‘ zum Nationalhelden keine Zweifel erlaubt. Aber eben darin lag ja das Problem. Der Bismarck-­Kult florierte desto mehr, je weiter sein Bezugspunkt sich vom aktiven Leben entfernte. Am populärsten war der tote Bismarck, aber nicht einmal aus dem Jenseits vermochte er andere Anhänger als ­solche zu gewinnen, die sich schon selbst als ,staatstragend‘

92 Zu englischen Garibalditörtchen u. a. Beales, Garibaldi (wie Anm. 22), S. 188. Dort findet sich auch eine – unvollständige – Liste von Garibaldi-­Pubs. Auf Garibaldi als Warenzeichen heute wurde bereits einleitend hingewiesen. Zu Garibaldi als öffentlicher Person und zu seinem Kult in Italien liefert Mario Isnenghi, Garibaldi. In: Ders. (Hg.), I luoghi (wie Anm. 2), S. 25 – 45, die aktuellsten Hinweise. Mit Recht fehlt dort jeder Hinweis auf den Sammelband: Giuseppe Garibaldi e il suo mito. Atti del LI congresso di storia del Risorgimento italiano, Rom 1984, denn der Titel führt in die Irre, wenn man vom Beitrag Adam Wandruszkas zu Österreich absieht. Deutschland stand bei seinen Heroen nicht nach. Anschauliches Bildmaterial liefert Konrad Breitenborn, Bismarck. Kult und Kitsch um den Reichsgründer, Frankfurt 1990. Ein frühes Beispiel der Vermarktung eines Heros zeigt Eckhart Hellmuth, Die „Wiedergeburt“ Friedrichs des Großen und der „Tod fürs Vaterland“. Zum patriotischen Selbstverständnis in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung 10 (1998), S. 23 – 54.

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einschätzten.93 Dreißig Jahre vorher, als er ,das Reich zusammenschmiedete‘, um aus gegebenem Anlass einmal ins Pathos der Zeit zu verfallen, hatte Bismarck nicht einmal diese Kreise durchweg hinter sich gewusst. Auf der Suche nach Gründen für das deutsche Heldendefizit namentlich der 1860er Jahre kommen neben der Politik alsbald Militär und Kriegführung in den Blick. Das 19. Jahrhundert wusste, anders als die meisten Historiker von heute,94 dass die Schaffung eines Nationalstaats ohne Krieg ein unerfüllbarer Wunsch bleibt. Der „Nationalkrieg“ – als Begriff nicht zufällig eine Wortschöpfung jener Zeit 95 – galt denn auch als vollauf legitim. Der griechische Freiheitskampf, die Belgische Revolution, die polnischen Aufstände, der Schweizer Sonderbundskrieg, die 1848er-­Revolution, die italienische Einigung – um nur Beispiele aus Europa zu nennen – lieferten hinreichend Anschauungsmaterial, um die Ansicht fragwürdig erscheinen zu lassen, ein so elementarer Vorgang ließe sich auf dem Verhandlungswege erreichen. Entsprechend stark wuchs das Interesse der Zivilisten, das Militär auf seine Vorstellungen zu verpflichten. Genau an ­diesem Punkte trennten sich die Wege Preußens vom Gros der europäischen Staaten.96 Roon, Moltke und Wilhelm I. dachten nicht daran, sich nationalpolitischen Zielen zu unterwerfen. Sie suchten im Gegenteil die Herrschaft militä­ rischer Fachleute durchzusetzen und sie von allen zivilen Einmischungen zu befreien, um Preußens Unabhängigkeit zu sichern. Den „National-“ bzw. „Volkskrieg“ lehnten sie ab; er führte zu unkalkulierbaren außen- und vor allem innenpolitischen Risiken. Stattdessen setzten sie auf eine neue Form des Kabinettskriegs, der seinen Erfolg ausgeklügelter Planung, der Professionalität des Offizierskorps und der Indienstnahme modernster technischer Mittel bei Bewaffnung und Aufmarsch verdanken sollte. Der preußische Heeres-, aus dem alsbald ein Verfassungskonflikt wurde, soll hier nicht noch einmal erzählt werden. Er betraf zudem ,nur‘ jenen Teil der Neuerungen, für

93 Hans-­Walter Hedinger, Der Bismarck-­Kult. In: Gunther Stephenson (Hg.), Der Religionswandel unserer Zeit im Spiegel der Religionswissenschaft, Darmstadt 1976, S. 201 – 215. 94 Zu den Ausnahmen zählt Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert ­zwischen Partizipation und Aggression [1994]. In: Ders. Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 35 f.. Ders., ,Nation‘, ,Nationalismus‘, ,Nationalstaat‘ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter. Versuch einer Bilanz [2000]. Ebd., S.  14 – 34. Ders., Gewalt und Politik im Jahrhundert der Revolutionen. In: Winfried Speitkamp / Hans-­Peter Ullmann (Hg.), Konflikt und Reform, Göttingen 1995, S. 233 – 246. 95 Einige Belege dazu können über das Register der Geschichtlichen Grundbegriffe erschlossen werden. Vgl. im übrigen den Titel von Höcker in Anm. 85. 96 Das folgende nach Arden Bucholz, Moltke, Schlieffen, and Prussian War Planning, New York, Oxford 1991. Michael Geyer, The Past as Future. The German Officer Corps as Profession. In: Geoffrey Cocks / Konrad H. Jarausch (Hg.), German Professions, 1800 – 1950, New York, Oxford 1990, S. 183 – 212. Manfred Messerschmidt, The Prussian Army from Reform to War. In: Stig Förster / Jörg Nagler (Hg.), On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification 1861 – 1871, New York, Cambridge 1997, S. 263 – 282. Wawro, War (wie Anm. 73).

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den sich eine auf den Volkskrieg festgelegte politische Öffentlichkeit interessierte: die Reduzierung der populären Landwehr und die Vergrößerung des stehenden Heeres. Weniger umstritten z­ wischen zivilen und militärischen Eliten waren die Verbesserungen bei der Bewaffnung: Hinterladergewehre dank Zündnadeltechnik und Verwendung von Patronen sowie Stahlgeschütze mit gezogenen Rohrläufen, ebenfalls von hinten zu laden. Ganz frei von öffentlicher Kritik, ja seit Königgrätz im ­­Zeichen breiter Zustimmung vollzogen sich schließlich die beiden anderen Neuerungen: die Einführung einer neuen Strategie und Gefechtstaktik sowie, last not least, der Aufstieg des Generalstabs zur faktischen, seit der berühmt gewordenen Kabinettsordre vom 2. Juni 1866 auch disziplinarisch festgelegten obersten, nur noch dem König unterstellten Kriegsleitung. Sie werden sich fragen, meine Damen und Herren, was dies alles mit unserem Thema, den Helden, zu tun hat. Die Antwort: Das klassische Heldentum verschwand eben dadurch von der Bildfläche. Der militärische Haudegen fand sich im Eisenbahncoupé wieder, das ihn fast bis aufs Schlachtfeld transportierte, wo er, in klare Befehlswege eingebunden, seinen Soldaten auch noch weitgehende Entscheidungsfreiheit einräumen musste, da die neuen Waffen selbständiges Schießen und Ausnutzung des Geländes verlangten bzw. möglich machten. Es ist keine nachträgliche Konstruktion, wenn hier behauptet wird, diese Neuerungen hätten das Heldentum seiner bisherigen Grundlagen beraubt. Ein Papa Wrangel, wie der 80-jährige Generalfeldmarschall genannt wurde, noch 1864 in Dänemark Oberbefehlshaber der preußischen Truppen, lehnte die neue Gefechtstaktik sogleich als unehrenhaft ab; wer aus der Deckung schieße, statt dem Feind aufrecht entgegen zu stürmen, verdiene keinen Respekt.97 Moltkes Strategie machte in der Tat den charismatischen Feldherrn überflüssig. Statt seiner stiegen nun die Generalstäbler zu Helden auf, und nicht von ungefähr bezeichnete man sie schon bald, nämlich im 1870er Krieg, erstmals als „Halbgötter“.98 Das schmeichelte der winzigen, hochprofessionellen Elite, aber es war natürlich kein Ersatz für das Verlorene.99 Auch die Schlachtenmalerei bekam Schwierigkeiten bzw. musste sich umstellen und sich um „eine andere Verkörperung des Heldentums“ bemühen.100 Bilder wie

97 Wawro, War (wie Anm. 73), S. 23. 98 Freundlicher Hinweis von Dierk Walter. Ein – misslungener – Versuch, den kühlen Planer Moltke à la Wrangel zum „Vater“ der Soldaten zu erheben, war das Gedicht „Vater Moltke“ vielleicht schon deshalb, weil die väterliche Sorge nicht vorne bei den Soldaten, sondern einsam im Zelt bei Landkarten und Marschtafeln waltete. Schlachtfanfaren und Heroldsrufe. Deutschlands größte Zeit in geharnischten Liedern für die deutsche Jugend, zusammengest. v. Woldemar Götze, Leipzig 1874, S. 117 f. 99 Geyer, Past (wie Anm. 96), S. 195, äußert die Vermutung, dass das Wilhelminische Heer wohl deshalb eine Fülle ,repräsentativer‘ Truppenkörper mit ,traditionellen‘ Uniformen geschaffen habe. 100 Näheres bei Werner Hager, Geschichte in Bildern. Studien zur Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, Hildesheim, Zürich, New York 1989, S. 304 ff. Franz Bauer, Gehalt und Gestalt in der Monumentalsymbolik. Zur Ikonologie des Nationalstaats in Deutschland und Italien 1860 – 1914,

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„Prinz Eugen bei Zenta“ gibt es nicht mehr, dafür jetzt „Die Bayern bei Wörth“ oder „Die Garde bei St. Privat“, d. h. die kämpfende Einheit wird als Person dargestellt. Der eigentliche Schlachtenlenker aber, Moltke, stürmt auf den Gemälden nicht mit blanker Waffe vorwärts, er ist überhaupt nicht vorne, wie seinerzeit Friedrich der Große oder Blücher. „Moltke vor Paris“ (Abb. 6) zeigt den Generalstabschef hinter einem Dachfenster sitzend, das Feldglas in der Hand und die Wirkung seiner Planungsarbeiten prüfend. Ein militärischer Gelehrter ist hier am Werk, der das betreibt, was 1854 erstmals „Generalstabswissenschaft“ genannt worden war.101 Alles, was hier geschildert wurde, war preußisches Unikat. Andere deutsche Heere, so der Umkehrschluss, hätten deshalb eigentlich nach wie vor den Heldenbedarf stillen können. Auf Kriegsdauer zu Offizieren ernannte Zivilisten, allerlei organisatorische Mängel, sich nicht als professionelle Heerführer, sondern als Standespersonen verstehende Oberbefehlshaber 102 – all das bot 1866 bei anderen deutschen Heeren eigentlich genügend Voraussetzungen, um die Genialität Einzelner zur Geltung zu bringen. Indes kam es damals außerhalb Böhmens kaum zu Gefechten, meist nur zu Scharmützeln. Und außerdem und vor allem war dieser Krieg für beide Seiten so peinlich – „jeder Sieg eine Niederlage“, wie Karl Brater treffend beklagte 103 –, dass von Heldentum schlechterdings keine Rede sein konnte. Grundsätzlich aber bot eine vormoderne, unprofessionelle Kriegführung (die preußischen Standards nunmehr als Maßstab genommen) keine schlechte Voraussetzung für Heldentum. Im Gegenteil. Bernhardi berichtete 1866, wie im italienischen Heer Heldengeschichten als Kompensation für die Niederlage von Custoza zirkulierten, während der Militärkritiker Fambri sarkastisch feststellte, Italien habe unter den Lebenden viel zu viele Helden, unter den Toten dagegen viel zu wenige.104 Das war

München 1992, S. 37, weist darauf hin, dass anders als in Italien die deutsche Ikonologie das Personale, Individuelle im Nationaldenkmal damals auffallend zurückgedrängt habe. 101 Julius von Hardegg, Skizze eines Vortrages über die Generalstabswissenschaft, Stuttgart 11854; eine franz. Übers. erschien 1856. Weniger spezifisch ist der Begriff „Kriegswissenschaft“, der bei W[ilhelm] Rüstow, Der Krieg von 1866 in Deutschland und Italien, politisch-­militärisch beschrieben, Zürich 1866, S. 127 auftaucht. 102 Das alles gehörte 1866 zum militärischen Alltag etwa auf seiten der süddeutschen Gegner Preußens, bei deren Anblick sich ein Fachmann „teilweise noch an die alte Reichsarmee erinnert“ fühlte. Das Königlich Bayerische Heer von 1825 bis 1866 (Geschichte des Bayerischen Heeres, Bd. 7), München 1931, S. 224. Die beiden Heerführer, der Oberbefehlshaber Prinz Karl von Bayern und Prinz Alexander von Hessen, Oberbefehlshaber des VIII. Armeekorps, verkehrten, wie im Hochadel damals üblich, miteinander in französischer Sprache. 103 Karl Brater, Jeder Sieg eine Niederlage. In: Wochenblatt der Fortschrittspartei in Bayern, Nr. 26 (30. 6. 1866), S. 1. 104 Fambri, Volontari (wie Anm. 75), S. 60 f. Zum Achilles sei nicht jeder geboren; die Griechen vor Troja „erano molto garibaldini; non è per nulla che ci hanno messo dieci anni per prenderla“ (“waren sehr garibaldinisch; nicht umsonst brauchten sie zehn Jahre, um es einzunehmen”). Nachdem v. Bernhardi seitenlang die in seinen Augen unbegreiflichen Fehler aufgezählt hat, die

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Abb 6  Generalfeldmarschall Graf Moltke (mit Stabsoffizieren: Hptm. von Burt [li.] und Oberstleutnant De Claer [re.]) vor Paris, September 1871.

gegen die Freiwilligen gerichtet, die einen erheblichen Teil des italienischen Heeres der 1860er Jahre ausmachten und in allen Dienstgraden anzutreffen waren. Ob sie wirklich die Ursache der militärischen Schwächen waren, ist hier nicht zu diskutieren. Jedenfalls wurde auf italienischen Schlachtfeldern anders gekämpft als bei Königgrätz oder Sedan, und trotzdem war man gegen die päpstlichen und bourbonischen „Söldner“ erfolgreich. Am meisten bekanntlich Garibaldi. Zu seinen Führungsgrundsätzen gehörte, dass er selbständiges Schießen als mangelnde Feuerdisziplin betrachtete und entsprechend bestrafte, weil er, ganz wie Papa Wrangel, den Bajonettangriff bevorzugte. Und was seine eigene Person betraf, so war er, obwohl natürlich Truppenführer, sowohl auf dem Feldherrnhügel wie in der vordersten Linie anzutreffen. In Milazzo wurde er „von den angreifenden Reitern überholt“, in Calatafimi erstürmte er „unter einem Hagel von Geschossen die erste Stufe des Berges“, am Volturno wurde sein Kutscher getötet, „der Wagen mit Kugeln gespickt, und ich mußte mit meinen Adjutanten am 24. Juni 1866 zur Niederlage von Custoza geführt hatten, stellte er fest, er sehe bei den italienischen Generalstäblern keine Fehleranalyse, statt dessen aber, „wie sie sich aufrichten an den einzelnen Heldentaten und Zügen von Kühnheit, die hier [im Hauptquartier] erzählt wurden“; v. Bernhardi, Tagebuchblätter (wie Anm. 24), Bd. 7, S. 105.

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aussteigen und den Säbel ziehen, um mir einen Weg zu bahnen“. Bei Mentana endlich versuchte er „mit dem Rufen meiner Stimme“ das Schlachtenglück zu wenden – freilich umsonst, denn da waren seine Gegner französische Zuaven. Erst recht blieb er mit dieser ­Taktik 1870 in Burgund gegen die Preußen meist erfolglos.105 Garibaldi: nicht nur der Held zweier Welten, sondern der Held einer untergehenden Welt, jedenfalls aus militärischer Sicht. Gerade das machte ihn denkmalsfähig, denn in dieser untergehenden Welt war noch viel Platz für individuelles Handeln, für Mut, hier konnte man durch die Kraft seiner Persönlichkeit Entscheidungen herbeizwingen und so Geschichte machen. Ein solcher Held imponierte auch als Person. „Die kampanischen Bauern, so erzählt es die Legende, die Zeugen der historischen Begegnung Vittorio Emanueles und Garibaldis bei Teano wurden und keinen der beiden kannten, wußten sofort, welcher der Ihre sei, dem es zu jubeln gelte: Denn Garibaldi war der schönere Mann“.106 Feldherrngabe, Draufgängertum, stattliche Erscheinung und Überzeugungstreue – das war das Holz, aus dem damals nach allgemeiner Anschauung der Held geschnitzt war. Nietzsches Übermensch kündigte sich an. Im Gegensatz dazu war Preußen bemüht, den Helden, jedenfalls den militärischen, zu verstaatlichen. Das im Juli 1870 wiederbegründete Eiserne Kreuz erklärte die Lebenden, das neuentwickelte militärische Bestattungswesen die Toten zu Helden, letztere sogar kollektiv. Schriftverkehr statt Schilderhebung, Ernennung statt Akklamation. Schlachtenmalerei und Denkmalskult trugen dem, wie geschildert, Rechnung. In beiden trat das Personale zurück. Man muss noch nicht einmal die politischen Rahmenbedingungen dieser Praxis in Betracht ziehen, um zu verstehen, dass ­solche Helden die Herzen der Menschen nicht in der Weise zu erobern vermochten wie National- und Freiheitshelden, mit denen andere europäische Völker so reichlich gesegnet schienen – von Nelson über Ypsilanti und Kossuth bis zu Garibaldi (ganz zu schweigen von Johanna von Orleans). Fehlanzeige in Deutschland, und das in einer Zeit, die nach Ute Frevert von sich selbst glaubte, „in einer heroischen Epoche zu leben“?107 Ja und nein. Dort, wo hochmotivierte Freischärler dem zünftigen Soldatentum als überlegen galten, wo der Barrikadenmythos auch im Zeitalter des Zündnadelgewehrs lebendig blieb, wo Überzeugungstreue wichtiger als Professionalität war, bei der Linken also, dort gab es nach wie vor s­olche Art Helden. Johann Philipp Becker, der Revolutionsgeneral von 1849, legendärer Sieger im Gefecht von Durlach, s­ päter verschiedentlich an der revolutionären italienischen 105 [Garibaldi], Memoiren (wie Anm. 13), S. 298, S. 264, S. 324, S. 406. Zur Gefechtstaktik ­Garibaldis auch Pieri, Storia militare (wie Anm. 73), S. 695 ff. 106 Bauer, Gehalt (wie Anm. 100), S. 37. 107 Ute Frevert, Herren und Helden. Vom Aufstieg und Niedergang des Heroismus im 19. und 20. Jahrhundert. In: Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körper­bilder 1500 – 2000, Wien, Köln, Weimar 1998, S. 332.

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Nationalbewegung teilnehmend,108 erfüllte alle Voraussetzungen. Groß, kräftig und schön, auch „Wein, Weib und Gesang“ zugetan, „dabei […] kein finsterer Gesinnungslümmel wie die meisten ,ernschten‘ Republikaner von 1848“,109 kurz: Für Friedrich Engels war Becker „eine Gestalt aus unserer rheinisch-­fränkischen Heldensage, wie sie im Nibelungenlied verkörpert, Volker der Fiedeler, wie er leibt und lebt“.110 Jenny Marx sah in ihm kurzerhand gar den „deutschen Garibaldi“ (vgl. Abb. 2).111 Der „deutsche Garibaldi“ war aber politisch ebenso gescheitert wie militärisch und lebte im Exil, nicht anders als der ,deutsche Prometheus‘ Karl Marx.112 Kaum etwas war bezeichnender für die Misere bei der Suche nach einem Helden, der die Nation einte. Auf der Linken ein gewissermaßen unverkäufliches Angebot, Ladenhüter der 1848er-­ Revolution, an die man mittlerweile nicht mehr erinnert werden wollte, bei den ,staatstragenden Kreisen‘ amtlich bescheinigte Tapferkeit, die für Regimentsgeschichten taugen mochte, und ein Dreigestirn, über dessen Anfänge erst noch Gras wachsen musste. In Frankreich und Italien machten dagegen Linke und Rechte sich ihr je eigenes Bild über Johanna 113 bzw. Garibaldi, was beide nur umso populärer werden ließ. Mit den Helden war es in Deutschland wirklich ein Kreuz. Was die politische Polarisierung in Deutschland erschwerte, verhinderte vollends die militärtechnische Entwicklung. Keine Freischärler, erst recht keine Kindersoldaten. Des Kronprinzen Kadett war keine Figur aus dem wirklichen Leben, sondern eine Erfindung des preußischen Offiziers und Kolportageschriftstellers Carl Tanera, dessen stramme Heldenerzählung über fünf Auflagen nicht hinauskam.114 Auch einen Heldenplatz, wie ihn Budapest und Wien sich damals schufen – in Budapest den mythischen Gründungsgestalten gewidmet,

108 Becker blieb politisch ein Ewiggestriger, der noch in den 1860ern ernsthaft glaubte, mittels Geheimorganisationen und Aufrufen den Dingen eine neue Wendung zu geben. Marco Paolino, Johann Philipp Becker ed il Risorgimento italiano. In: Rassegna storica del Risorgimento 85 (1998), S. 216 – 237, registriert sorgfältig alle Aktivitäten, enthält sich aber jeglicher Bewertung. 109 Friedrich Engels, Johann Philipp Becker. In: MEW 21, S. 323. Engels fügte in seinem Nachruf hinzu: „In Becker haben wir den einzigen deutschen Revolutionsgeneral verloren, den wir hatten“. Ebd., S. 324. 110 Engels an Bebel (8. Oktober 1886). In: August Bebels Briefwechsel mit Friedrich Engels, hg. v. Werner Blumenberg, London, Den Haag, Paris 1965, S. 288. 111 Zit. Ernst Engelberg, Johann Philipp Becker in der I. Internationale, Berlin (DDR) 1964, S. 37. 112 Zu den beiden Heros-­Angeboten des deutschen Idealismus − Herakles und Prometheus − und zu den Gründen derjenigen − es waren vor allem Fichte, Schelling und Marx –, die sich für letzteren entschieden haben, Michael Naumann, Strukturwandel des Heroismus. Vom sakralen zum revolutionären Heldentum, Königstein/Ts. 1984, S. 74 ff. Wer auf die individuelle Leistung setzte, zog Herakles vor. Ich habe zwar keine Belege für die Identifikation Garibaldis mit Herakles gefunden, aber immerhin sprach Gregorovius beim Rückblick auf das Risorgimento 1870 vom „Augiasstall“ und von der „Hydra“; zit. Petersen, Das Bild (wie Anm. 10), S. 86. 113 Ausführlich dazu Gerd Krumeich, Jeanne d’Arc in der Geschichte. Historiographie, Politik, Kultur, Sigmaringen 1989. 114 Carl Tanera, Hans von Dornen, des Kronprinzen Kadett, Bielefeld 11890, 51912.

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in Wien monarchisch orientiert – wird man in deutschen Städten vergeblich suchen. So blieb offenbar nur der Blick über die Landesgrenzen. Orientierung beim ,Erbfeind‘ schied natürlich aus,115 die Vorstellung von der Parallelgeschichte verwies auf Italien. Deshalb griff die Jugend zu Edmondo De Amicis‘ Cuore, und deshalb begeisterten sich die Erwachsenen am italienischen, nicht am deutschen Garibaldi. Vielleicht hat Bert Brecht ja doch recht mit seinen ironischen Worten, die er Galileis Schüler Andrea in den Mund legte: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat“.116 Abbildungsnachweis Abb. 1: Kolorierte Druckgraphik, Mannheim, Reiß-­Museum, Inv.-Nr. E 63 fh. Druck: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): 1848/49. Revolution der deutschen Demokraten in Baden, Baden-­Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1998, Abb. 288, S. 231. Abb. 2: Karl Schmiedel: Johann Philipp Becker, General der Revolution, Berlin: Militär­ verlag der Deutschen Demokratischen Republik 1986, S. 30. Abb. 3: Museo del Risorgimento, Bologna. Druck: Gustavo Sacerdote, La vita di ­Giuseppe Garibaldi, Mailand: Rizzoli 1933, S. 830. Abb. 4: Museo del Risorgimento, Bologna. Druck: Gustavo Sacerdote, La vita di G ­ iuseppe Garibaldi, Mailand: Rizzoli 1933, S. 23. Abb. 5: Museo del Risorgimento, Bologna. Druck: Gustavo Sacerdote, La vita di ­Giuseppe Garibaldi, Mailand: Rizzoli 1933, S. 848. Abb. 6: Gemälde von Ferdinand Graf von Harrach, 1875. Druck: Bilder deutscher Geschichte, Hamburg-­Bahrenfeld: Cigaretten-­Bilderdienst 1936, Bild 181.

115 Zur Popularität der Jungfrau von Orleans bei den deutschen Katholiken und zur Kritik von protestantischer Seite Gerd Krumeich, Jeanne d’Arc von Deutschland aus gesehen. In: Etienne François / Hannes Siegrist / Jakob Vogel (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 133 – 146. 116 Bert Brecht, Stücke (Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe), Bd. 5, Berlin, Weimar 1988, S. 264.

Stationen der Verrechtlichung und Professionalisierung in Deutschland und Italien * Verrechtlichung ist ein deutsches Wort. Es lässt sich in romanische Sprachen mühelos übersetzen, verliert aber dabei seinen wissenschaftstheoretischen bzw. polemischen Gehalt, der ihm im Deutschen eigen ist. Das Wort entstand als Kampfbegriff der ­Linken in der arbeitsrechtlichen Debatte der späten Weimarer Republik. Mit ihm sollte die „Versteinerung“ (Fraenkel) der für die Arbeiterschaft nachteiligen Regelungen bzw. die juristische Formalisierung der Arbeitsbeziehungen überhaupt (Kirchheimer) kritisiert werden.1 Beides galt als Werk der „bürgerlichen Rechtsordnung“, die unter dem ­Signum des „Rechtsstaats“ weitergehende sozialpolitische Ansprüche abweise. Der Begriff hat seither Karriere gemacht, er ist heute „wohl der verbreitetste Problemtopos unter Rechts- und Sozialwissenschaftlern“,2 wenn es um Diagnose und Therapie des Verhältnisses von Recht und Gesellschaft geht. Das aber ist hier nicht das Thema. Verrechtlichung interessiert hier weder in ihrer politischen (Entpolitisierung) noch in ihrer soziologischen (Konfliktenteignung) oder juristischen (Normenflut) Dimension, sondern dient als Kategorie zur Beschreibung eines historischen Prozesses, d. h. zur Unterscheidung bzw. Kennzeichnung historischer Epochen. Den Anfang machte die Frühneuzeitforschung, die Verrechtlichung als eine wichtige, die gesamte weitere Geschichte Deutschlands beeinflussende ‚Lehre‘ betrachtet, die die Sieger des Bauernkriegs von 1524/25 gezogen hätten.3 Diesem Bild eines von einem singulären Ereignis ausgelösten lawinenartigen Prozesses setzte Habermas, gestützt auf Max Weber, Talcott Parsons und Niklas Luhmann, die Vorstellung von vier epochalen Verrechtlichungsschüben entgegen, die seit dem 17. Jahrhundert den Ausdifferenzierungsprozess von Herrschaft und Wirtschaft begleiten, auffangen und in gewisse Bahnen zu lenken versuchen.4 Die dem vorliegenden Sammelband und damit auch d ­ iesem Aufsatz

* Es handelt sich um den Einleitungsaufsatz zu einem Sammelband. Die abschließende Vorstellung der weiteren Beiträge wurde nicht gestrichen, weil auch sie einen Beitrag zum deutsch-­ italienischen Vergleich enthält. 1 Näheres dazu bei Gunther Teubner, Verrechtlichung. Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege. In: Friedrich Kübler (Hg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität. Vergleichende Analysen, Baden-­Baden 1984, S. 298. 2 Rudolf Wiethölter, Sozialwissenschaftliche Modelle im Wirtschaftsrecht. In: Kritische Justiz, Jg. 1985, S. 130. Zit. Harald Steindl, Verrechtlichung oder Konfliktlösung? In: Beiträge zur histo­ rischen Sozialkunde 20 (1990), S. 99. 3 Dazu Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft, Stuttgart-­Bad Cannstatt 1980, S. 73 ff. 4 Jürgen Habermas, T ­ heorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt 1981, S. 522 ff.

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zugrundeliegende These verlegt die Zäsur dagegen ins 19. Jahrhundert. Nicht Entstehung und Wachstum des modernen Staates gelten als Auslöser von Verrechtlichung, wenngleich eine deutliche Zunahme des Rechts als Steuerungsinstrument der Gesellschaft vor allem im späten 18. Jahrhundert nicht zu übersehen ist. Vielmehr erscheint Verrechtlichung das Ergebnis von Vorgängen zu sein, deren Ursprünge innerhalb der Jurisprudenz selbst zu suchen sind. Das soll im folgenden näher erläutert werden. Das Stichwort Verrechtlichung löst unwillkürlich also eine ganze Kette begrifflicher Assoziationen aus. Von einigen war bereits die Rede. Zu den anderen zählt, um mit der vielleicht auffälligsten zu beginnen, die Herrschaft des Rechts. Dass Gerechtigkeit herrschen müsse, um den Menschen ein friedliches Zusammenleben zu garantieren, ist natürlich eine uralte Vorstellung. Herrschaft des Rechts meint jedoch etwas anderes, nämlich eine materialisierte Form rechtlicher Geltung, d. h., um mit Max Weber zu sprechen, die Herrschaft des regulatorischen Rechts.5 Konflikte werden in d ­ iesem Fall weder durch bloße Konvention noch durch Tradition (ob in Gestalt religiöser oder sittlicher Normen) noch gar durch Gewalt (in Form patriarchalischer, feudaler, ökonomischer oder anderer Überlegenheit) entschieden. Das schließt natürlich nicht aus, dass Asymmetrien in eine Entscheidung einfließen und dass Gerechtigkeit und Recht auseinandertreten. Aber nicht um Inhalte geht es hier, sondern um die Form, an die sich besondere Erwartungen knüpfen und von der deshalb eine besonders autoritative Art und Weise der Befriedung erwartet wird. Mit einer so verstandenen Herrschaft des Rechts assoziiert man fast zwangsläufig die Herrschaft der Juristen. Das heißt nichts anderes, als dass Gesetze, Gerichte, Instanzen, Verfahren und natürlich die Juristen selbst an Bedeutung und Zahl zunehmen, und zwar nicht nur wegen komplexer werdenden gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern – und dies ist das Entscheidende – weil es den Juristen in d ­ iesem Prozess gelingt, sich von außerjuristischen Zwängen und Setzungen zu befreien und ihre Selbstermächtigung durchzusetzen. Selbstermächtigung meint, dass niemand als die Juristen selbst über Grenzen und Inhalt ihrer Tätigkeit entscheiden. In Deutschland sind beide Vorgänge an den Prozess der Verwissenschaftlichung der Rechtsmaterie gebunden, der mit dem 19. Jahrhundert eingesetzt hat und nicht auf sozialen und politischen Wandel reduziert werden kann. Er hängt vielmehr mit der Verwissenschaftlichung der Universität als Folge der Neubestimmung von Wissenschaft durch Kant zusammen. Fächer, die diesen Prozess nicht mitvollziehen konnten, wurden ausgegrenzt und abgestoßen. Es ging also um den Verbleib im prestigeträchtigen Universitätsverband, wenn sich die Professoren um 1800 zu bemühen begannen, aus der pragmatischen Jurisprudenz die moderne Rechtswissenschaft zu machen.6 Dabei

5 Max Weber, Rechtssoziologie, hg. u. eingel. v. Johannes Winckelmann, Neuwied, 21967, §§ 3, 5, 8. 6 Dazu Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, Frankfurt 1979. Rudolf Stichweh, Motive

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erzeugten sie eine Selbstbindung, deren Folgen damals alles andere als absehbar waren. Verrechtlichung war das Ergebnis d ­ ieses Prozesses, aber niemand konnte sie um 1800 als Ziel formulieren. Hauptmerkmal d ­ ieses Verwissenschaftlichungsprozesses war das Bemühen, das Recht aus religiösen, moralischen und politischen Bindungen zu lösen und auf die ihm eigenen Grundlagen zu stellen. Dafür bedurfte es einer allgemeinen ­Theorie, die man nicht länger im Naturrecht, sondern in den Pandekten zu finden glaubte. Das „System des heutigen Römischen Rechts“ wurde folglich zum bevorzugten Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung und akademischer Lehre. Der Geltungsgrund des Römischen Rechts, den die Aufklärung noch kurz zuvor vehement bestritten hatte, war ein dreifacher: Faktisch bildete es die Grundlage für den „rechtlichen Verkehr z­ wischen allen gebildeten Nationen Europas“7 und hatte sich so gegenüber allen nationalen und ständischen Partikularrechten durchgesetzt, ethisch glaubte man in ihm einen ,Geist‘ vorzufinden, „der in idealer Weise dem modernen Prinzip der Freiheit des Willens des Individuums entsprach“,8 und wissenschaftlich wies es als einziges alle Voraussetzungen für eine systematische Ordnung und Entfaltung des Rechts überhaupt auf. Aus dieser Sicht nahm jede (privatrechtliche) Gesetzgebungstätigkeit zwangsläufig den Charakter von ,Willkür‘ an, was die vehemente – und erfolgreiche – Abwehr Savignys jedweder Kodifikation erklärt. Die Verwissenschaftlichung der Jurisprudenz hatte also nicht nur den Statuserhalt gesichert, sondern befreite die Juristen und das Recht, wenigstens dem Anspruch nach, von jedem fachfremden Einfluss. Das galt auch für Religion und Politik, an deren Stelle man eine theoretisch durchgebildete Rechtserzeugung setzte, damit sie der geforderten dogmatischen Geschlossenheit und Einheitlichkeit, d. h. Wissenschaftlichkeit entsprach. Dafür kamen nach Lage der Dinge eben nur die Professoren selbst in Frage. Das galt aber auch für die Rechtsprechung, die bei aller Instanzenbindung in den Einzelstaaten wegen des Fehlens einer gesamtdeutschen höchstrichterlichen Instanz an die Universitätsjuristen verwiesen blieb. Über das Pandektenlehrbuch als Entscheidungsnorm erlangte somit die Wissenschaft einen weiteren Zugang zur Praxis, d. h. zur Steuerung des Alltags.9 ‚Freiheit‘, um beim wichtigsten Thema zu bleiben, war damit nach herrschender Lehre nicht durch Verfassung und Parlamente zu sichern – was zwar im Deutschen Bund der Realität entsprach, aber die Parlamentarisierung des politischen Lebens nicht

und Begründungsstrategien für Wissenschaftlichkeit in der deutschen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts. In: Rechtshistorisches Journal 11 (1992), S. 330 – 351. 7 Georg Friedrich Puchta, Lehrbuch der Pandekten, Leipzig, 11838, § 8. Zit. Klaus Luig, Pandektenwissenschaft. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 1425. 8 Luig, Pandektenwissenschaft. Ebd. 9 Am deutlichsten nachweisbar bei Windscheids Pandekten, die in neun Auflagen von 1862 bis 1906 erschienen. Dazu Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 21967, S. 466.

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eben beflügelte –, sondern durch die Rechtswissenschaft. Das schränkte sie einerseits ein – „politische Freiheit“ war kein Rechtsterminus, blieb also ausgeklammert –, machte andererseits die Sache auch noch kompliziert, denn die Erweiterung des persönlichen Gestaltungsspielraums – „bürgerliche Freiheit“, um in der Sprache der Zeit zu bleiben – im Wege des wissenschaftlichen Rechts, d. h. der Pandekten, ließ sich nicht länger über Gebote erreichen (von Hinweisen auf standesrechtlich erlangte Befugnisse ganz zu schweigen), sondern nur durch das Verbot freiheitsgefährdender Verhaltensweisen. Das bedeutete zwar einen enormen Rückgang materiellrechtlicher Normen. Zugleich aber ergab sich ein erheblicher Zuwachs an Vorschriften, die man als Definitionen des Grenzfalls bezeichnen könnte, und an prozeduralen Normen, die den Verkehr miteinander ordnen sollten. Die verrechtlichte Freiheit war also nur durch aufwendige Formalisierung zu gewährleisten, so dass die Liberalisierung der persönlichen Verhältnisse in einem gewaltigen Regulierungsschub endete. Brechen wir an dieser Stelle die rechtsgeschichtliche Skizze ab und wenden uns einer anderen Wirkung von Verrechtlichung zu. Ein im Schnittpunkt von Rechts­und Sozialgeschichte angesiedelter Überblick wird die Folgen für das mit Rechtsfragen befasste Personal nicht außer Acht lassen dürfen. Die „Selbstbindung“10 der Juristen an das neue Verständnis von Wissenschaft bedeutete zugleich natürlich auch eine Selbstermächtigung. Der so erreichte Kompetenzzuwachs, quasi eine Kompetenzkompetenz, um es juristisch zu formulieren, nahm doppelte Gestalt an. Einerseits wurde der Markt für Juridisches, wie man die Gesamtheit juristischen Handelns nennen könnte, noch entschiedener als in früheren Jahrhunderten zur ausschließlichen Angelegenheit der Fachgebildeten erklärt.11 Das bedeutete nicht mehr nur Zurückdrängung, sondern den Ausschluss von Laien, die bisher vom fürstlichen Gesetzgeber über den patrimonialen Gerichtsherrn bis zum Schöffen und Bauerrichter eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hatten. Sie verloren nunmehr ihre Legitimation, wobei ­Theorie und Praxis mannigfache Mischungsverhältnisse eingingen und die Entdeckung altdeutscher Traditionen für eine allmählich den Trend umkehrende Gegenströmung sorgte. Andererseits führte der durch wissenschaftliche Ausbildung vermittelte und begründete Anspruch, den im Recht Gestalt annehmenden ,Volksgeist‘ erkennen zu können, schon bald zur Vorstellung, der Jurist sei schlechthin Sachwalter der Allgemeinheit. Inwieweit das zugleich eine Antwort auf Hegels Behauptung war, die

10 Stichweh, Motive (wie Anm. 6), S. 332. 11 Es ist dies ein Vorgang, den man auch auf anderen ‚Märkten‘ im 19. Jahrhundert beobachten kann, und der, was Deutschland betrifft, für Ärzte am besten untersucht ist. Dazu Claudia Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten. Das Beispiel Preußens, Göttingen 1985. Zu Professionalisierung und Marktmonopolisierung in Italien die Aufsätze von Marco Santaro (Notare), Paolo Frascani (Ärzte) und Michela Minesso (Ingenieure) in: Maria Malatesta (Hg.), Society and the Professions in ltaly, 1860 – 1914, Cambridge 1995.

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Beamten insgesamt ­seien der „allgemeine Stand“,12 soll hier nicht weiter erörtert werden. Jedenfalls handelt es sich, auch auf den Rechtsbereich beschränkt, um einen neuartigen Anspruch und lautet in der klassischen Formulierung Puchtas von 1838, die Juristen ­seien die „natürlichen Repräsentanten der […] Nation in rechtlichen Dingen“.13 Der Vollblutpolitiker Gneist attestierte dann vierzig Jahre s­päter nicht trotz, sondern wegen der inzwischen rapide weiter vorangeschrittenen gesellschaftlichen Entfaltung und politischen Entzweiung dem „Juristenstand“ eine „naturgemäße Stellung als Führer der Nation im öffentlichen Leben“.14 Das waren keine leeren Worte. Ausbildungs- und Einstellungsvorschriften für Beamte 15 haben ­diesem Anspruch ebensosehr zur Wirklichkeit verholfen wie das – in Deutschland allerdings vergleichsweise verspätete – Auftauchen des Politiker-­Advokaten, der außerdem auch noch in der Publizistik und Wirtschaft Funktionen wahrnahm. Die Richter waren in ­diesem System wissenschaftlich begründeter und durch Beamtenstatus abgesicherter Selbstermächtigung der neuralgische Punkt. Sie hatten zwar Universität und Vorbereitungsdienst – letzteren je nach Karrierewunsch unterschiedlich lang – absolviert und standen damit beruflich und sozial den Professoren in nichts nach. Aber ihr Alltag und das auf ihn abfärbende Amtsverständnis brachte sie objektiv und subjektiv in einen Gegensatz zu den Vertretern der Wissenschaft, denen sie, wie oben geschildert, bis zum Inkrafttreten des BGB unterworfen blieben. Schon am ersten Tag seines Berufslebens musste der in den Staatsdienst eintretende Auskultator schmerzlich erfahren, dass die Rechtspraxis mit dem an der Universität Erlernten wenig bis gar nichts zu tun hatte – weder was das materielle (die geltenden Gesetzbücher wurden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weder gelehrt noch waren sie prüfungsrelevant, da sie sich einer ,wissenschaftlichen‘ Durchdringung gemäß den Ansprüchen der Zeit entzogen) noch was das Verfahrensrecht betraf. Die beiden juristischen Berufsstände straften sich daher gegenseitig mit Verachtung. Der begriffsstrenge Bernhard Windscheid, als Ordinarius und ständiger Mitarbeiter der ersten BGB-Kommission einer der einflussreichsten Zivilrechtslehrer des 19. Jahrhunderts, bemühte sich um die „Festigkeit des

12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 295 (Sämtliche Werke, Bd. 7), Stuttgart 1928, S. 401 f. 13 Puchta, Lehrbuch (wie Anm. 7). Savigny sprach 1840 ebenfalls davon, der Jurist sei der „Repräsentant des ganzen“; Friedrich Carl v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, S. 46. Puchta und Savigny paraphrasierend der Artikel „Recht“ im damals einflussreichen Nachschlagewerk, dem Rechtslexikon für Juristen aller deutschen Staaten, enthaltend die gesamte Rechtswissenschaft, hg. v. Julius Weiske, Bd. 9, Leipzig 1855, S. 154. Allgemein dazu Jan Schröder, Savignys Spezialistendogma und die „soziologische Jurisprudenz“. In: Rechtstheorie 7 (1976), S.  23 – 52. 14 Verhandlungen des 14. deutschen Juristentags [1878], Bd. 1, Tl. 1, Berlin 1878, S. 129. 15 Näheres dazu bei Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1972.

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Rechts“16 vor allem, um die Richter ans Gesetz zu binden und sie zu hindern, nach „Takt“ und „Rechtsgefühl“ zu urteilen. Dagegen nannte der Vizepräsident des Oberlandesgerichts Ratibor, Julius Hermann von Kirchmann, das, was auf der Universität gelehrt werde, eine „angebliche Wissenschaft […] einzelner Professoren, die dem wirklichen Leben überhaupt fernstehen“.17 Den „Repräsentanten der Nation“ traten die „Götter im Kleinen“18 entgegen. Dem Gemeinwohl fühlten sich beide Gruppen, die Justiztheoretiker wie die Justiz­ praktiker, gleichermaßen verpflichtet und ­dieses war, rechtssoziologisch betrachtet, die Brücke, auf der sie sich trotz allem begegneten, um die Verrechtlichung weiter voranzutreiben. Sie überbrückte auch die politischen Entzweiungen, die seit der 48er-­ Revolution und dem Eintritt in die Parlamente deutlich zutage traten. Seit 1848 und erst recht seit der Reichsgründung bildete auch die Kodifikation kein grundsätzliches Hindernis mehr für die aus sich selbst heraus begründete Herrschaft des Rechts. Im Gegenteil. Die Gesetzgebungstechnik hatte nun ebenfalls den erforderlichen Stand der Wissenschaftlichkeit erlangt, wie der Allgemeine Teil des BGB, die Frucht jahrzehntelanger Arbeit an den Pandekten, beweist. Ihn hatte es vordem nicht gegeben und er fehlt nach wie vor in den naturrechtlich angelegten Kodifikationen vom Typus des Code Civil. Das BGB erhob darum den Anspruch, im Unterschied zu jenen nicht aus einer Summe „nebeneinandergestellter Rechtssätze“ zu bestehen, „sondern ein organisches Gefüge innerhalb zusammenhängender Normen“ darzustellen.19 Savignys Verbot war am Jahrhundertende überwunden, seine Nachfolger hatten es abgearbeitet, ohne seinen eigentlichen Anspruch preiszugeben, nur ein selbstreferenzielles Recht genüge den Anforderungen der Zeit. An dieser Stelle erhebt sich, dem Interesse d ­ ieses Sammelbandes folgend, natürlich die Frage, welches die Mechanismen waren, die in Italien zu einer im Ergebnis vielleicht vergleichbaren Verrechtlichung und jedenfalls andersartigen Professionalisierung geführt haben. Diese Geschichte ist bislang noch kaum geschrieben, insbesondere unter komparatistischen Gesichtspunkten. Sie kann daher ebenfalls nur knapp skizziert werden. Schon die Ausgangsbedingungen waren denkbar unterschiedlich. Das gilt in Grenzen auch für Lombardo-­Venetien, das zwar von 1815 – 1859/66 durch seine Zugehörigkeit zu Wien vom italienischen Rechtsleben (und nicht nur davon) ausgeschlossen blieb, aber 16 Zit. Joachim Rückert, Bernhard Windscheid und seine Jurisprudenz ,als ­solche‘ im liberalen Rechtsstaat (1817 – 1892). In: Juristische Schulung 1992, H. 11, S. 907. 17 Julius Hermann von Kirchmann, Das preußische Civil-­Prozeß-­Gesetz vom 21. Juli 1846, ­Berlin 1847, S. IX. Zit. Christiane von Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen. Der Liberalismus der preußischen Richterschaft 1815 – 1848/49, Göttingen 1996, S. 158. 18 Der Richter habe den „Platz eines Gottes im Kleinen“ inne. Zit. ebd., S. 154 f. 19 Motive der l. Kommission des Bundesrats zur Ausarbeitung eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, abgedr. in: B[enno] Mugdan (Hg.), Die Gesammten Materialien zum BGB für das Deutsche Reich, Bd. 1, Berlin 1899, S. 365. Zit. Thilo Ramm, Einführung in das Privatrecht, Allgemeiner Teil des BGB, Bd. 1, München, 21974, S. L 221.

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in Gestalt des ABGB wie die meisten anderen italienischen Staaten ein modernes Zivilgesetzbuch besaß.20 Im Unterschied zum übrigen Italien mussten jedoch die Studenten in Pavia und Padua ab 1818 eine „Einführung ins juristische Studium“ besuchen, die die Grundlagen der Rechtswissenschaft vermitteln sollte. Dabei handelte es sich allerdings ebenso wie bei Romagnosis seit 1807 in mehreren Varianten vorgelegten „Einführungen“ um naturrechtlich orientierte Rechtsphilosophien in didaktischer Absicht. Ähnlich verfuhr man Jahrzehnte ­später in Piemont, als sich der junge Verfassungsstaat seiner Reformaufgabe bewusst geworden war und 1859 den Universitäten einen Kurs in „Enzyklopädie, Philosophie und Geschichte des Rechts“ vorschrieb. Mit diesen wenigen Hinweisen ist schon angedeutet, wo die wichtigsten Unterschiede lagen. Erstens ließ sich der Trend zur modernen Kodifikation nicht mehr aufhalten. Zwischen 1804 und 1808/9 war der Code Civil in allen Territorien des italienischen Festlands eingeführt worden. Wo man ihn nach 1814 abschaffte, hinterließ er sowohl materiellrechtlich als auch mental eine Lücke, die nach Auffüllung verlangte. So wurde er meistenorts durch andere, oft ans französische Recht angelehnte Gesetzbücher ersetzt. Die Rückkehr zum Recht des Ancien Régime in Piemont und im Kirchenstaat erwies sich nicht als gangbar; in Turin zog man daraus alsbald die Konsequenz. In den intellektuell tonangebenden Staaten, d. h. in Lombardo-­Venetien und in Neapel, war folglich das Gemeine Recht so gut wie vollständig verschwunden, 21 und so blieb dort, anders als in Deutschland, dem Römischen Recht jener Status verwehrt, den es nördlich der Alpen besaß. Man konnte es weder zur noch immer gültigen Grundlage des Rechts der ,Italiener‘ erklären (obwohl sich die italienische Gesellschaft im 19. Jahrhundert mehr denn je als Nachfahre der Römer verstand und so auch vom Ausland gesehen wurde) noch konnte die daran gebundene Pandektistik sich zur juristischen Leitwissenschaft erheben. Nicht das ‚System des heutigen Römischen Rechts‘ wurde zur maßgeblichen Literaturgattung, sondern der „Trattato di diritto civile“, der analytische und exegetische Darstellung miteinander verband und deshalb neben Gesetzeskommentaren und -auslegungen einen, allerdings erheblich eingeschränkten ,Allgemeinen Teil‘ („Sistema …“) enthielt, in dem auf Savigny, Puchta, Hugo u. a. verwiesen wurde.22 Die italienischen Autoren versuchten damit, und zwar ganz bewusst, den Mittelweg 20 Zur Kodifikationsgeschichte des Privatrechts in Italien im 19. Jahrhundert siehe die Abschnitte von Filippo Ranieri in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 3, Tl. 1, München 1982, S. 177 ff. 21 Anders in der Toskana, wo die Mehrheit der Juristen an der Subsidiarität des römischen Rechts festgehalten und dementsprechend eine moderne Kodifikation verhindert hat. Ranieri. In: Coing (Hg.), Handbuch (wie Anm. 20), S. 286 f. Dennoch ergingen 1839 nur ca. 15 % der Urteile nach römischem, 77 % jedoch nach toskanischem Partikularrecht; Hannes Siegrist, Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz (18.–20. Jh.), Frankfurt 1996, Bd. 1, S. 278. 22 Pasquale Beneduce, „Germanisme, la terrible accusation“. Fremde Lehrsysteme und Argumentationsweisen in der italienischen Privatrechtswissenschaft während der zweiten Hälfte

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­zwischen dem „sentimentalismo giuridico de’ francesi“ und der oft schwerfälligen „erudizione tedesca“ zu halten.23 Solange die Rechtsfortbildung nicht in größerem Umfang nötig wurde – und das war vor den 1880er Jahren nicht der Fall –, erfüllte dieser produktive Eklektizismus alle Bedürfnisse. Für die Verwissenschaftlichung des Rechts im oben beschriebenen Sinne war das keine ideale Voraussetzung. Ein zweiter Unterschied zu Deutschland kam hinzu und bildete eine weitere Barriere. Infolge der Kodifikationen wuchs den italienischen Rechtsfakultäten mehr denn je die Aufgabe zu, die künftigen Rechtspraktiker exegetisch und kasuistisch zu trainieren. Das entsprach ohnedies ihrem traditionellen Selbstverständnis und weil auch von anderer Seite kein Zwang bestand, das Bildungssystem etwa im Sinne Humboldts bzw., was die Jurisprudenz betraf, Savignys zu theoretisieren und zu verwissenschaftlichen, kam die italienische Universität insgesamt bis zur nationalen Einheit ohne Reform aus, auch wenn sie immer wieder verlangt wurde.24 Die Reform war auch deshalb schwer möglich, weil die italienischen Rechtsfakultäten kein Ausbildungsmonopol besaßen. Vor allem im Süden, namentlich in Neapel, fand, einer wohl auf die Gründerzeit der europäischen Universität zurückgehenden Tradition folgend, die juristische Ausbildung, auch soweit es sich um die theoretischen Fächer handelte, in Privatschulen und Kanzleien statt. Sie war also außeruniversitär wie in England, obwohl geschriebenes, und zwar im Grunde französisches Recht herrschte. Deutsche Beobachter haben dies nie zur Kenntnis genommen, es überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Maßgeblich wurde deshalb Savignys Verdikt, der 1826/27 Neapel besuchte und die an der Universität wahrgenommenen Zustände in Deutschland lautstark anprangerte.25 Mittermaier und Ihering sind ihm hierin ­später gefolgt. Man sollte also die deutsche Perspektive ausblenden, wenn man Verrechtlichung und Professionalisierung auf der italienischen Halbinsel verstehen möchte. Beides verlief dort in anderen Zeittakten und über andere Schlüsselfiguren. Als Träger d ­ ieses Prozesses kam der Universitätsprofessor nach allem Gesagten nicht in Frage. Eher schon die Richter, deren Professionalisierung, ablesbar an Ausbildungsanforderungen, Zugangsregelungen und Vorschriften über das berufliche Fortkommen, in den 1820er und 1830er Jahren in etlichen Staaten zunahm. Nicht von ungefähr erlangten sie in des 19. Jahrhunderts. In: Reiner Schulze (Hg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1990, S. 114 f. 23 Enrico Cenni (Hg.), Scritti forensi di Roberto Savarese, Napoli 1876, S. LI. Zit. Beneduce, „Germanisme“ (wie Anm. 22), S. 114, Anm. 16. 24 Nur Piemont machte, wie gesagt, hiervon im Rahmen seiner allgemeinen Reformpolitik der 1850er Jahre eine Ausnahme. Näheres dazu bei Ilaria Porciani, L’università dell’Italia unita. In: Aldo Mazzacane / Cristina Vano (Hg.), Università e professioni giuridiche in Europa nell’età dell’Italia liberale, Neapel 1994, S. 60 ff. 25 Friedrich Carl von Savigny, Über den juristischen Unterricht in Italien. In: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 6 (1828), S. 201 – 228.

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Piemont mit seiner stets ausgeprägten Staatlichkeit bestimmenden Einfluss auf die Kodifikation.26 Anderswo, insbesondere in Neapel, konnte man als Anwalt direkt bis in die Obergerichte vordringen,27 und damit taucht nun endlich diejenige Figur auf, die das italienische Rechtsleben und die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert mehr als jede andere bestimmt hat. Unbestrittener Mittelpunkt zunächst der süditalienischen, ab 1859/60 der landesweiten Rechtskultur war der Advokat – nicht weil sich die bei Italienern ohnedies natürlicherweise vorhandenen „Anlagen für diesen Beruf unter dem Strahl der südlichen Sonne zum Superlativ steigern“, wie ein beamteter deutscher Jurist herablassend meinte,28 sondern weil dieser Berufsstand im Laufe des 19. Jahrhunderts die italienische Rechtskultur nahezu vollständig unter seine Kontrolle brachte. Die Einheit von Advokatur, Rechtslehrer und Politiker bzw., solange dies mangels Parlamenten noch unmöglich war, die Einheit von Advokatur, Rechtslehrer und Reformtheoretiker machte den Anwalt zum sozialen und intellektuellen Repräsentanten des nationalen Bürgertums.29 Im Mittelpunkt standen naturgemäß bei ihm forensische Tätigkeiten, Universitätsfragen interessierten ihn nur, soweit sie ihn in seinem Ziel eines ,neuen Italien‘ unterstützten. Schon vor der Einigung und erst recht danach – seit 1848/49 befand sich die Blüte der neapolitanisch-­sizilianischen Juristen im piemontesischen Exil und verpflanzte erfolgreich ihr Selbstverständnis nach Norden – stand die Jurisprudenz im Rufe, die nationale Wissenschaft schlechthin zu sein, da das Recht, vor allem natürlich das Privatrecht, als wichtigstes Steuerungsinstrument der im Aufbau befindlichen italienischen Gesellschaft galt. Das hatte für Rechtswissenschaft und Rechtskultur erhebliche Folgen. Vordergründig betrachtet, scheinen sich die Dinge in Deutschland ähnlich verhalten zu haben. Auch hier war das Recht in Gestalt der Pandekten schon vor 1871 national und modern, die Historische Schule lieferte „auf geschichtlicher Grundlage eine Wissenschaft der Moderne“30 und die Universitätsjuristen betrachteten sich daher, wie geschildert, als Repräsentanten der Nation. Bei genauerem Zusehen war das Verhältnis von Recht und Jurist in Italien aber eher umgekehrt. Die national orientierten Juristen, d. h. die

26 Ranieri. In: Coing (Hg.), Handbuch (wie Anm. 20), S. 267 ff. Siegrist, Advokat (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 283, meint, die piemontesische Judikatur habe eigentlich gar keine unabhängige dritte Gewalt dargestellt. 27 Carolina Castellana, Il mestiere del giudice. Una ricerca sui magistrati napoletani, 1817 – 1861. In: Bollettino del XIX secolo 5 (1996), S. 27 – 31. 28 Paul David Fischer, Italien und die Italiener, Berlin, 21901, S. 95. 29 Das folgende nach Aldo Mazzacane, Pratica e insegnamento. L’istruzione giuridica a Napoli nel primo Ottocento. In: Ders. / Vano (Hg.), Università (wie Anm. 20), S. 77 – 113. Ders., A Jurist for United Italy. The Training and Culture of Neapolitan Lawyers in the 19th Century. In: Malatesta (Hg.), Society (wie Anm. 11), S. 80 – 110. Siegrist, Advokat (wie Anm. 21), passim. 30 Gerhard Dilcher, Deutsche Wissenschaft im Spiegel der italienischen Rechtskultur – das deutsche Forschungsinteresse an der „Fremdwahrnehmung“ deutscher Wissenschaftsentwicklung. In: Schulze (Hg.), Deutsche Rechtswissenschaft (wie Anm. 22), S. 49.

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Advokaten, repräsentierten die Moderne, während das Recht, obgleich seit 1865 für das gesamte Königreich kodifiziert, ebenso wie die Bildungsinstitutionen erst noch modernisiert, nämlich an die gewandelten Bedürfnisse der Nation angepasst werden musste. ,Auf politischer Grundlage eine Wissenschaft der Modernisierung‘ – so könnte man mit Blick auf Italien das auf Deutschland gemünzte Zitat verändern. Mit anderen Worten: das Recht sollte zur „scienza nazionale“ werden. Was bedeutete es für die Jurisprudenz, wenn sie zur ,Wissenschaft der Modernisierung‘ gemacht und dabei von den Advokaten gesteuert wurde? „Tatsache ist, daß die italienische Rechtskultur sich mit anderen ­Themen auseinandersetzen mußte“ und „daß die Orte, an denen man dies tat, andere waren“.31 Nicht theoretische Grundlegung, sondern gesellschaftliche Einwirkung war das Ziel. Sämtliche Diskussionen und Reformbemühungen drehten sich um die Praxis, zunächst jedenfalls. Die prä-­unitarischen Staaten setzten sich mit ihrem Wunsch, die Advokatur von oben zu gestalten, d. h. sie zu einer Amtsprofession zu machen, nur sehr begrenzt durch; am ehesten war das noch im habsburgischen Lombardo-­Venetien der Fall. Tatsächlich jedoch ging die autonome Korporation als Erbe des Ancien Regime eine Verbindung mit dem neuen liberalen Denken ein, das die Selbstbestimmung des Bürgers zur obersten Maxime erhoben hatte. Die Advokaten erlangten so in hohem Maße die Kontrolle über ihren eigenen Berufsstand. Sie bestimmten damit die Ausbildung, den Zugang und das Verhältnis zu ihren Klienten weitgehend selbst. Zweitens behielten sie das Recht, in andere Rechtsberufe – Richteramt, Notariat – überzuwechseln, was umgekehrt bedeutete, dass die Ausbildung der Beamten anderen Regeln folgen musste. Drittens erhielten sich die Advokaten die Kontrolle über das Wissenssystem, da weitaus die meisten Universitätsjuristen zugleich als Anwälte tätig waren. Als Konsequenz vollzog sich viertens der Ausschluss der Legali und Mandatari, von denen es zunächst eine große Zahl gab und die keineswegs alle, wie behauptet, juristische Laien waren, in dem Maße, wie sich die anwaltschaftlichen Selbstverwaltungsorgane durchsetzten, die 1874 auf gesamtnationaler Ebene gesetzlich sanktioniert wurden, nachdem schon vorher der Anwaltszwang vor Gericht durchgesetzt worden war. Niemand drückte das Selbstbewusstsein der Träger von Bürgerlichkeit, Italianität und Rechtskultur besser aus als Mancini, einst Advokat und Professor und nun Justizminister, der 1861 die Anwaltschaft zum „civile sacerdozio“ erklärte,32 die in Italien für den Schutz von Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Moral zu sorgen habe. Verrechtlichung bedeutete also im italienischen Kontext ebenfalls die Entmachtung der Nichtjuristen, die Herrschaft des regulatorischen Rechts, die Herrschaft der

31 Aldo Mazzacane, Die italienische und die deutsche Rechtskultur im 19. Jahrhundert. Wege des Austausches. In: Ders. / Reiner Schulze (Hg.), Die deutsche und die italienische Rechtskultur im „Zeitalter der Vergleichung“, Berlin 1995, S. 151. 32 Zit. Siegrist, Advokat (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 418, Anm. 16. Zu Mancini Erik Jayme, Pasquale Stanislao Mancini. Internationales Privatrecht z­ wischen Risorgimento und praktischer Jurisprudenz, Ebelsbach 1980.

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Juristen. Die Selbstermächtigung war jedoch nicht die Folge eines selbstreferenziellen Wissenschaftsgebäudes, sondern Ergebnis standespolitischer Durchsetzung, die dank der Parlamentarisierung ihre Krönung im Eintritt ins politische Leben fand, das die Advokaten alsbald majorisierten.33 Indessen konnten die Rechtspraktiker je länger, desto weniger an der Tatsache vorbeigehen, dass erstens die italienische Aufholjagd ohne Aufwertung der Universität vergeblich sein würde, und dass zweitens das italienische Zivilgesetzbuch von 1865 den Bedürfnissen der sich wandelnden Gesellschaft immer weniger entsprach. Universitätsreform und Rechtsfortbildung gelangten daher alsbald auf die Tagesordnung. Beides kann hier nur noch gestreift werden. Ausgehend von Piemont, wo 1859 mit der Universitätsreform begonnen wurde, suchte der Staat die Hochschulen unter seine alleinige Kontrolle zu bekommen. In erster Linie zielte das zwar auf die ­Kirche, aber auch der Rechtsunterricht durch Private war dem Nationalstaat ein Dorn im Auge. Die ‚Piemontisierung‘ des höheren Bildungswesens brach sich im Süden aber am Widerstand der Advokaten, die deshalb als Privatdozenten in die juristischen Fakultäten aufgenommen werden mussten. Die vollständige Durchsetzung des staatlichen Ausbildungsmonopols ließ auf sich warten. Das musste kein Nachteil für die Qualität der Ausbildung sein, solange die Rechtswissenschaft den gewandelten Bedürfnissen von Staat und Gesellschaft Rechnung trug. Nach 1871 begann aber der Stern der französischen Rechtswissenschaft rapide zu sinken und im Zeichen ­­ der allgemeinen Umorientierung auf den Besieger Napoleons III.34 vollzog auch die italienische Rechtswissenschaft in den 1880er Jahren einen Kurswechsel. Nicht mehr eklektizistische Anverwandlung, sondern eher zielbestimmte Übernahme der ,deutschen Wissenschaft‘ lautete die Parole.35 Mit dem Staats-, Verwaltungs-, Sozial- und Arbeitsrecht eröffneten sich der italienischen Jurisprudenz ganz neue Felder.36 Inwieweit aber die Zivilistik durch Übernahme der Methode der Pandektisten zur juristischen Leitwissenschaft aufsteigen konnte, ist dagegen fraglich. 33 Einzelheiten bei Fulvio Cammarano, The Professions in Parliament. In: Malatesta (Hg.), Society (wie Anm. 11), S. 276 – 312, sowie Siegrist, Advokat (wie Anm. 21), Bd. 2, Kap. 22. 34 Allgemein zu dieser Trendwende Rosario Romeo, La Germania e la vita intellettuale italiana dall’unità alla prima guerra mondiale. In: Ders., Momenti e problemi di storia contemporanea, Assisi, Rom 1971, S. 153 – 184. Auch Frankreich setzte sich nach seiner Niederlage mit den ­geistigen Voraussetzungen des preußisch-­deutschen Siegs auseinander. Dazu noch immer, wenn auch nicht ohne Verzeichnungen, Allan Mitchell, The German Influence in France after 1870. The Formation of the French Republic, Chapel Hill 1979. Ders., The Divided Path. The German Influence of Social Reform in France after 1870, Chapel Hill 1991. 35 Zu den universitäts-, nicht disziplingeschichtlichen Hintergründen jetzt Francesco Marin, Die „deutsche Minerva“ in Italien. Die Rezeption eines Universitäts- und Wissenschaftsmodells 1861 – 1923, Köln 2010. 36 Dazu Aldo Mazzacane, Die Rechtskultur in Deutschland und Italien nach der nationalen Einigung. Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt. In: Schulze (Hg.), Deutsche Rechtswissenschaft (wie Anm. 22), S. 55 – 79.

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Der „Methodenstreit“, von dem die italienische Rechtskultur widerhallte,37 lässt ahnen, dass es Widerstände gab. Sie kamen vor allem von seiten der Rechtspraktiker, deren hegemoniale Stellung bedroht wurde. Tatsächlich setzte sich der forensische Denkstil durch,38 der den Rückgriff auf Rechtsvergleich und Rechtsgeschichte als systematische Grundlagenwissenschaft begrenzte und das rein theoretisch konzipierte Grundlagenfach, als es 1875 an den Universitäten endlich allgemein eingeführt wurde, in eine an konkreten Rechtsfragen orientierte Enzyklopädie umbog.39 Diese Reform sollte von einem regelrecht nationalen Unternehmen gekrönt werden, der Enciclopedia giuridica italiana – ein wahrhaftes „edifizio della scienza nazionale“ –, das in der Tat das kränkelnde, ohne eigene Lehrstühle schwächlich bleibende gleichnamige Lehrfach um Jahrzehnte überdauerte.40 Brechen wir an dieser Stelle die Parallelgeschichte der deutschen und italienischen Entwicklung ab. Verrechtlichung fand in beiden Ländern statt, aber sie bedeutete etwas je sehr Spezifisches. In Deutschland wurde sie von einer theoriegesättigten Jurisprudenz angestoßen, die sich um ihren universitären Statuserhalt sorgen musste. Ergebnis war ein selbstreferenzielles Recht, das seine Begründung der modernisierten Pandektistik entnahm. Das Fehlen eines nationalen Gesetzbuchs war dafür die entscheidende Voraussetzung. In Italien folgte die Verrechtlichung der Gründung des italienischen Nationalstaates, dessen politische Elite sich vorwiegend Ausbau und Sicherung seiner Institutionen widmete und die die Regelung der riesigen ungelösten Probleme glaubte dem Recht überlassen zu können. Der historische Normierungsschub war dortzulande eher das Ergebnis tagespolitischer Lösungsstrategien als Ausfluss wissenschaftlicher Vorgaben.41 Die Professionalisierung trug dem Rechnung und verlief daher ebenfalls in unterschiedlicher Richtung, jedenfalls was die juristische Leitfigur betraf. Die in Deutschland von den Universitäten ausgehende Verwissenschaftlichung brachte den theoretisch orientierten Juristen hervor. Die Kritik der Praktiker verhallte ungehört, 37 Der Startschuss fiel mit Emanuele Gianturco, Gli studi di diritto civile e la questione del metodo in Italia. In: Il Filangieri 6 (1881), S. 722 – 744. 38 Dazu nochmals Beneduce, „Germanisme“ (wie Anm. 22), sowie ders., Questione del „metodo“ e critica dello Stato indifferente nella cultura giuridica italiana di fine Ottocento. In: Materiali per una storia della cultura giuridica 13 (1983), S. 57 – 84. 39 Näheres bei Stefania Torre, „L’Introduzione enciclopedica alle scienze giuridiche“, parabola di un insegnamento. In: Mazzacane / Vano (Hg.), Università (wie Anm. 24), S. 151 – 192. 40 Der vollständige Titel des von Mancini 1881 angeregten bzw. angekündigten und nach 16 Bänden (in ca. 50 Teilen) beim Buchstaben T nach 1939 abgebrochenen Werks lautet: Enciclopedia giuridica italiana, Bd. 1 ff., Bologna 1894 ff. Eine Auflistung der Haupt- und Nebenstichworte durch Roberta Sivo, Indici dell’Enciclopedia giuridica italiana. In: Annali ISIG 16 (1990), S. 431 – 635. Näheres zum Unternehmen bei Cristina Vano, „Edifizio della scienza nazionale“. La nascita dell’Enciclopedia giuridica nazionale italiana. In: Aldo Mazzacane / Pierangelo Schiera (Hg.), Enciclopedia e sapere scientifico. Il diritto e le scienze sociali nell’Enciclopedia giuridica italiana, Bologna 1990, S. 15 – 66. 41 Mazzacane, A Jurist (wie Anm. 29), S. 101.

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der Alltag der Rechtssuchenden blieb fern bzw. rückte in immer größere Ferne und im Ausschluss der Laien hatte man ein gemeinsames Anliegen mit den Richtern, die im übrigen ihrerseits im Kaiserreich der Praxisferne geziehen wurden. Rechtsquellen, Rechtsbegriffe und Rechtsfortbildung aus dem Geiste der Pandekten, die systematische Arbeit und die Arbeit am System galten als die anspruchsvollste und daher einzig angemessene Beschäftigung der Rechtsprofession im Vollsinne. Die italienische Leitfigur stand dagegen in der Praxis, doch war die Praxis vielgestaltiger als die deutsche. Das sicherte den italienischen Advokaten eine Stellung im gesellschaftlichen, politischen und eben auch wissenschaftlichen Leben, die von keinem deutschen Anwalt erreicht wurde. Wenn der italienische Politiker-­Advokat wirklich die „komplette bürgerliche Persönlichkeit“42 darstellte, dann war Bürger letzten Endes eine juristische Profession. Das erklärt ihre Attraktivität. Das daraus fließende Prestige konnte unter den anderen politischen Bedingungen Deutschlands von keinem Universitätsprofessor erreicht werden; der Fachmann, der Politiker und – vom Ende des Jahrhunderts an – der Intellektuelle waren in Deutschland verschiedene Rollen, die in Italien, jedenfalls im Idealfall, in einer Person vereinigt waren. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob sich deutsche und italienische Leitfigur stärker einander angenähert hätten, wäre 1848 hierzulande geglückt; ein Juristenparlament war die Paulskirche allemal. Der Weg in eine im wesentlichen vom Recht gesteuerte Moderne konnte also recht verschieden sein. Auffallend jedoch im Vergleich zu anderen Ländern ist die hohe Bedeutung der Jurisprudenz und der Juristen für die nationale Sache. Dem Recht kam geradezu nationale Leitfunktion zu und die Juristen fühlten sich nicht nur einer Fachdisziplin, sondern der nationalen Sache verpflichtet. Dieser Umstand liefert übrigens eine weitere Erklärung für den Verrechtlichungsschub, der eine eigene Untersuchung wert wäre: Die deutsche und die italienische Nation konsti­ tuierte sich nicht zuletzt mit Hilfe einer Rechtsordnung, die den Liberties of an English­man bzw. den Cinq Codes etwas an die Seite zu stellen hatte. Anders gewendet: Der ,Geist der Gesetze‘ musste nunmehr ein nationaler sein bzw. werden und ein wichtiger Weg, hierin größere Gewissheit zu erlangen, war die entsprechend intensiv betriebene Rechtsvergleichung. Die nachfolgenden Beiträge illustrieren die hier vorgelegte Skizze mit unterschied­ lichem Material und zeigen dabei auch, wieviel reichhaltiger empirische Untersuchungen im Vergleich zum theorieorientierten Überblick sind. Zunächst jedoch beleuchtet Lutz Raphael das Rahmenthema aus erfahrungsgeschichtlicher Sicht. Er zeigt, wie sehr das im 19. Jahrhundert geschaffene bürgerliche Recht den Vorstellungen, Normen und Interessenlagen der (bildungs-)bürgerlichen Minderheit entsprach, also das Recht des Bürgertums war (was stets bestritten wurde), mit w ­ elchen Distanzierungstechniken diese Minderheit sich Partizipationsforderungen zu entziehen versuchte und wie es ihr

42 Siegrist, Advokat (wie Anm. 21), Bd. 2, S. 912.

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schließlich gelungen ist, mit Hilfe des Gedankens vom Rechtsstaat auch schließlich die Macht weitgehend in ihre Hand zu bringen. Die drei folgenden Aufsätze befassen sich mit den Richtern, die neuerdings auffallend oft ins Visier der Sozial- und Rechtshistoriker geraten. An der Schnittstelle von ­Theorie und Praxis angesiedelt, bekommen die Richter angesichts der Verwissenschaftlichungstendenzen ein Statusproblem. Es ist besonders groß bei den vom Rheinischen Recht geschaffenen Friedensrichtern, denn diese als Laienamt konzipierte Funktion war von Anfang an in der Hand von Juristen, die sich im Zweifelsfall nicht am Gesetzgeber, sondern an den Normen richterlicher Professionalisierung orientierten. Marcel Erkens zeigt, wie schon bei Einführung dieser Institution Standesinteresse, Interesse der Rechtssuchenden und gesetzliche Vorgaben miteinander in Konflikt gerieten.43 Den jahrzehntelangen Emanzipationskampf von diesen anfänglichen Rahmenbedingungen schildert Ute Schneider. Leitbild der Friedensrichter war nicht der napoleonische Notable, für den das Amt konzipiert war, sondern der professionelle Richter im dreigliedrigen Instanzenzug der ordentlichen Gerichtsbarkeit, der seinerseits aus standespolitischen Interessen die ,arme Verwandtschaft‘ der Friedensrichter unablässigem Fortbildungs- und Disziplinierungsdruck aussetzte. Erfolgsbestimmend waren aber letztlich nicht diese Anstrengungen, sondern der Anstellungsstau, der zahlreiche Anwärter für die ordentliche Richterlaufbahn zur Bewerbung um eine Friedensrichterstelle veranlasste. Für Thomas Ormond ist Richter ein alter Beruf, der im 19. Jahrhundert, genauer gesagt im Kaiserreich, seine Professionalisierung zum Abschluss brachte.44 Auch hier wird nachgewiesen, ­welche standesspezifischen Funktionen der Rechtsstaatsbegriff hatte und wie wenig dies von außerhalb kritisiert wurde bzw. werden konnte. Standesorganisationen der Richter fehlten deshalb nicht nur, weil der Obrigkeitsstaat vor allem preußischer Prägung sie nicht duldete, sondern weil sie lange Zeit gar nicht nötig waren. Erst die schärfer werdenden materiellen Verteilungskämpfe am Ende des Jahrhunderts ließen neben Geselligkeits- und Fortbildungs- auch statusorientierte Vereine entstehen, die anfangs freilich noch gezwungen waren, ihre Standesinteressen hinter dem schwer angreifbaren Schlagwort „Förderung der Rechtspflege“ zu verbergen. Eine andere Profession untersucht Hannes Siegrist. Seine These, dass liberale Staaten Anwälten (und anderen Berufsgruppen) größeren Spielraum bei der Entwicklung und Bestimmung ihrer Profession einräumen, leuchtet ein. Er hat sie inzwischen im Vergleich dreier Staaten überzeugend bewiesen.45 Sosehr allerdings der Gang der Entwicklung ­zwischen Deutschland und Italien differiert – und das reicht bis in den Markt für rechtliche Dienstleistungen, auf dem Deutschland bis in die 1920er Jahre 43 Mehr dazu bei Marcel Erkens, Die französische Friedensgerichtsbarkeit in den Rheinlanden, Köln 1994. 44 Ausführlich dazu ders., Richterwürde und Regierungstreue. Dienstrecht, politische Betätigung und Disziplinierung der Richter in Preußen, Baden und Hessen 1866 – 1918, Frankfurt 1994. 45 Siegrist, Advokat (wie Anm. 21).

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zurückbleibt –, sowenig Unterschiede sind bei der symbolischen Inszenierung zu beobachten. Hier wie dort arbeiteten die Anwälte am eigenen Mythos und spannten dabei Staat und öffentliche Meinung erfolgreich ein. Anwaltsdenkmäler sind jedoch auf Italien beschränkt und illustrieren so ein letztes Mal, dass die Ergebnisse der Arbeit am Mythos unterschiedlich weit reichten. Diejenige Profession, der das denkmalfreudige 19. Jahrhundert in Deutschland Büsten errichtete, waren Ärzte. Ihr Nimbus als „Wohltäter der Menschheit“ war für andere Berufe unerreichbar. Die letzten beiden Arbeiten zählen zu den eher seltenen Beispielen der Untersuchung der Rechtsprechungspraxis. Wie und worüber vor Gericht gestritten wird, entzieht sich meist unserer Kenntnis, weil die entsprechende Datenerhebung mühsam ist.46 Quantitative Einblicke liefert immerhin die Gerichtsstatistik, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzt. Was ist ihr, mit der sich beide Beiträge ausschließlich befassen, im Hinblick auf die Verrechtlichungsthese für Italien zu entnehmen? Zunächst einmal, dass von einer kontinuierlichen Zunahme gerichtlich ausgetragener Konflikte nicht die Rede sein kann. Im Blick auf die Feststellung Raphaels, der Rechtsstaat sei eine durch und durch bürgerliche Angelegenheit, kann das nicht sonderlich überraschen; schließlich bringen die bei Christian Wollschläger massenhaft auftretenden Rechtsobjekte nicht ihre persönlichen Angelegenheiten rechtsförmig in Ordnung, sondern sind in Zahlungsschwierigkeiten geratene Kleinbauern und Pächter, also Beklagte.47 Zweitens gibt es nach der Beseitigung der Feudalität nur noch das Mittel der Ziviljustiz, um Ansprüche gegenüber Abhängigen durchzusetzen. Die Gesellschaft wird dadurch nicht modern, sie wird allerdings, um mit Habermas zu sprechen, in ihrer Lebenswelt „kolonialisiert“, d. h. mit einem fremden Normensystem überzogen. Sobald das neue Regelsystem erlernt worden ist, gehen die rechtsförmigen Konflikte zurück, bis dann neue Ursachen, in ­diesem Falle Agrarkrisen, die Kanäle vorgerichtlicher Regelungsmechanismen überfluten und eine neue Welle von Prozessen auslösen. Drittens belegt dieser Aufsatz ebenso wie derjenige Raffaele Romanellis die Koexistenz unterschiedlicher Rechts-, genauer: Streitkulturen. Der Süden Italiens geht mit dem vom Recht zur Verfügung gestellten Mitteln anders um als die Mitte und der Norden, und zwar vermutlich schon seit Jahrhunderten. Über die Ursachen braucht hier nicht spekuliert zu werden. Viertens schließlich zeigt Romanellis Beitrag außerdem, dass das Bürgertum die Familie vom Trend der Verrechtlichung ausgenommen wissen wollte, dass also Sozial- und Rechtsordnung nicht pari passu voranschritten. Das war nicht unlogisch, sondern erklärt sich aus seiner Absicht, sich den Staat als Interventionsinstanz so weit als möglich vom Leibe zu halten. 46 Dazu jetzt aber für das linksrheinische Deutschland Reiner Schulze (Hg.), Rheinisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte, Berlin 1998 (einschl. Datenbank zur rheinischen Judikatur im frühen 19. Jahrhundert). 47 Der sachliche und chronologische Zusammenhang mit dem Aufstand der Fasci Siciliani Ende 1893 / Anfang 1894 ist evident. Näheres bei Francesco Renda, I Fasci Siciliani 1892 – 1894, Turin 1978.

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Das Individuum sollte nicht vor der Familie, sondern vor der Gesellschaft in Schutz genommen werden; nur im Erbrecht machte man hiervon bezeichnenderweise eine Ausnahme. Diese Rechnung ging allerdings nicht auf; die Justiz blieb nicht auf die nichtstreitigen Fälle beschränkt, sondern wurde desto öfter in Anspruch genommen, je moderner die (bürgerlichen) Familien wurden. Justizialisierung und Moderne gingen in ­diesem Falle Hand in Hand, eine Entwicklung, die schon die Zeitgenossen nicht unbedingt als Fortschritt empfunden haben. Einleitungen pflegen an dieser Stelle, d. h. am Ende zu einem Katalog von ­Forschungslücken und Desiderata überzugehen. Der Verfasser glaubt nicht an die, ­juristisch gesprochen, Bindungswirkung solcher Aufzählungen für die scientific community. Forschung entwickelt sich nach anderen Gesetzen, sie bezieht ihre Interessen nicht aus den Klagen selbstkritischer Kollegen und deren unvollendeten Werken. Vielleicht unrealistisch, in jedem Falle legitim ist der Wunsch, die hier versammelten Beiträge mögen zu weiterem Nachdenken anregen.

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze Einleitung Die gegenwärtige Krise im Euroraum hat bei Fachleuten wie in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für die erheblichen Unterschiede der wirtschaftlichen Entwicklung, ja der wirtschaftlichen Strukturen und, damit verbunden, der Mentalitäten nördlich und südlich der Alpen bzw. Pyrenäen geschärft. Die Einführung des Euro in derart unterschiedlichen Ländern wird neuerdings vielfach als Fehler überhaupt gesehen, weil die entwicklungsschwachen oder, wie man besser sagen müsste: einen anderen Entwicklungspfad beschreitenden Länder des Mittelmeerraums ihres klassischen Instruments der Wechselkursveränderung verlustig gingen, mit dem sie seit rund hundertfünfzig Jahren ihrer spezifischen Entwicklungslogik Rechnung trugen und damit natürlich zugleich ihre Binnenmärkte schützten. In der Regel durch Abwertung.1 Dafür sank bei ihnen das Zinsniveau rasch auf ein historisch einmalig niedriges Niveau mit der Folge, dass Regierungen und Private mit dem billig gewordenen Geld, also mit Schulden, in Dinge investierten, die zwar ihren hergebrachten Vorstellungen von Politik und Wirtschaft entsprachen, aber gerade deshalb die Entwicklungsunterschiede zu den nördlichen Volkswirtschaften nur noch steigerten. Drohende Staatsbankrotte (Griechenland, Italien, Portugal) bzw. systembedrohende Bankzusammenbrüche (Spanien, Zypern) bestimmen seit Jahren unser Bild vom Süden. Der um Hilfe angegangene Norden lehnt bisher Transferzahlungen ab und leiht dafür den Notleidenden Geld – an den Zinsen verdient er so skandalös, dass 2012 beschlossen wurde, die dabei gemachten Gewinne dem Süden zurückzuerstatten – und erlegt ihnen ein Umerziehungsprogramm auf, das sich an den im nördlichen Europa und Amerika entwickelten neoliberalen Normen orientiert. Diese zugegebenermaßen stark vereinfachende, vergröbernde Skizze hat nur die Aufgabe, auf den Strukturunterschied z­ wischen Nord und Süd hinzuweisen, der offenbar von langer Dauer ist und nicht nur die wirtschaftliche Performanz, sondern ganz 1 Es ist wohl kein Zufall, dass in d ­ iesem Zusammenhang entdeckt wird, wie derselbe Vorgang vor nunmehr hundertfünzig Jahren Süditalien dauerhaft geschädigt hat: Die Einführung der Einheitswährung Lira im Jahre 1861 ließ den Mezzogiorno, der damals ungefähr dasselbe Pro-­Kopf-­ Einkommen wie der Norden gehabt haben soll (wenn auch anders verteilt), tief abstürzen; nach einer ­kurzen Erholungsphase ­zwischen 1945 und 1973 geht die Tendenz inzwischen wieder nach unten. Ralph Bollmann, Wie eine Währungsunion Italiens Süden verarmen ließ. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 38, 23. 9. 2012, S. 36. Der Verfasser ist ein an Italien geschulter Historiker und Korrespondent für Wirtschaftspolitik für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in Berlin. Wolfgang Streeck, Direktor des Max-­Planck-­Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, spricht in seiner Frankfurter Adorno-­Vorlesung gar von einem „Recht auf Abwertung […] als Ausdruck des Respekts“ vor den jeweils eigenartigen wirtschaftlichen Lebens- und Schicksals­gemeinschaften. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013, S. 246 f.

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offensichtlich auch Werthaltungen und Ordnungsmuster betrifft. Dass es ­zwischen Erster und Dritter Welt fundamentale Unterschiede gibt, legt schon die entsprechende Wortschöpfung nahe und gilt deshalb als selbstverständlich. Dass aber innerhalb der ­Ersten Welt Vergleichbares gilt, wird weithin als Unterschied ­zwischen Normalfall und (relativer) Rückständigkeit, die es zu überwinden gilt, wahrgenommen. Diese Vorstellung wird übrigens in Nord und Süd geteilt, der nordeuropäisch-­nordamerikanische Entwicklungsgang gilt – oder galt bis vor einiger Zeit – geradezu als globales, von der Modernisierungstheorie legitimiertes Muster. Damit ist die Katze aus dem Sack. Obwohl sich die Ansicht, wir lebten in postmodernen Zeiten, zunehmend ausbreitet, entstammen unsere Bewertungskriterien und Darstellungsmuster noch immer in hohem Maße der Moderne im engeren Sinne, die hier gekennzeichnet werden soll als eine Epoche, in der die Vorstellung von Gleichheit, Einheitlichkeit und Universalisierung maßgeblich ist bzw. war. Dementsprechend galt – um nur den hier interessierenden thematischen Ausschnitt anzusprechen – wirtschaftliches Wachstum ausschließlich als Folge von Industrialisierung, die ihrerseits ein in ihren Wesensmerkmalen einheitliches Verlaufsmuster aufwies. Historisch trifft das lediglich auf wenige Länder zu – wobei schon die Rede von Ländern, wie wir spätestens seit den Forschungen von Sidney Pollard wissen, irreführend ist, weil sich ­solche Prozesse, anfangs jedenfalls, in interagierenden, aber politische Grenzen oft überschreitenden Regionen abspielten.2 Aber es lag natürlich nahe, dass sich die Modellbildung an jenen Beispielen orientierte, die als erste den Schritt in die Industriegesellschaft getan hatten. Entsprechend universalistisch waren – und sind vielfach noch immer – unsere Vorstellungen von Industrialisierungsprozessen. Die mit ihnen gekoppelten Bilder rufen Dinge ab wie Großbetrieb, Gruben und Hochöfen, Metallverarbeitung, rauchende Schlote und Fließbandarbeit, industriegeprägte Arbeiterklasse und last not least vielleicht noch Schädigung von Mensch und Natur durch Gifte aller Art. Dass diese Art von Industrialisierung eine bestimmte Form landwirtschaftlicher Progressivität zur Voraussetzung hatte, ist zwar grundsätzlich spätestens seit Karl Marx’ Kapital bekannt, findet aber nur selten Eingang in unsere Denkweisen. Und dass schließlich damit immer auch bestimmte kulturelle und politisch-­institutionelle Wertordnungen verbunden waren, muss hier nur deshalb betont werden, weil das oft gar nicht bewusst ist.

2 Sidney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760 – 1970, Oxford 1981. Deutsche Kurzfassung unter dem Titel: Europa im Zeitalter der Industrialisierung. Eine Wirtschaftsgeschichte Europas 1750 – 1850, Göttingen 1983. Interessante, die vielgestaltige Entwicklungs­ geschichte betonende Kommentare zur englischen Originalausgabe finden sich bei: Peter Hertner / Louis Bergeron / Renato Mori, La geografia dell’industrializzazione. In: Passato e Presente 2 (1982), S.  9 – 26.

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Das Konzept Für den Mittelmeerraum sind ­solche Vorstellungen unangemessen. Die Landwirtschaft entwickelte sich als naturbasierte Ressource anders als nördlich der Alpen und das Verhältnis von Gesellschaft und Staat unterscheidet sich ebenfalls erheblich, was im ‚Norden‘, um abgekürzt zu formulieren, vielfach pauschal als Fehlentwicklung wahrgenommen wird. Wirtschaftliches Wachstum speiste und speist sich noch immer vorrangig aus anderen Quellen und ist darum anders beschaffen. Hier ist nicht der Ort für eine Gesamtansicht der wirtschaftlichen Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert, d. h. seitdem auch dort brauchbares statistisches Material erstellt wird, und auch nicht auf den gesamten Mittelmeerraum. Dieser Beitrag will vielmehr anhand Italiens – und mit Spanien als Kontrollgröße – eine Skizze der mediterranen Industrialisierung liefern und dabei nur ihre wichtigsten Merkmale benennen. Erst in jüngster Zeit hat sich die Forschung zu Spanien und Italien vom Prokrustesbett des west- und mitteleuropäischen Paradigmas der Industrialisierung zu lösen begonnen. Bis dahin sprach man entweder von ‚Verspätung‘ und suchte nach Faktoren, die als Ersatz für die als ‚Aufholjagd‘ verstandene Entwicklung fungierten, oder, noch drastischer, man bezeichnete die Industrialisierung rundweg als gescheitert. Maßgeblich für erstere Variante ist Alexander Gerschenkron, dessen zum Klassiker gewordene Darstellung der ‚verspäteten‘ Industrialisierung Italiens die besondere Rolle der Banken (und damit ausländischen, in d ­ iesem Falle vornehmlich deutschen Kapitals) betont hat. Gerschenkron ging es weniger um den Einzelfall als um eine Typologie jener Akteure, die die von Mal zu Mal sich vergrößernde ‚Verspätung‘ aufzuholen imstande waren. In dieser Hinsicht hat er mit Recht kanonische Geltung erlangt.3 Vom ‚Fehlschlag‘ sprechen dagegen vornehmlich sich als links verstehende Autoren und benennen immer zugleich den Schuldigen. In dieser Hinsicht ist Gramscis Kritik an der „ausgebliebenen Agrarrevolution“ zum Klassiker geworden, obwohl sie ursprünglich politisch gemeint war.4 Andere Autoren sehen andere Gründe, aber fast immer ist die Bourgeoisie der Letztgrund für die als gescheitert betrachtete Industrialisierung. Für Spanien hat Jordi Nadal diese Perspektive autoritativ bedient. Er lastete das Scheitern, was für einen katalanischen Autor, der in der späten Franco-­Ära seine Ausbildung erfahren hat, vielleicht nahe liegt, den traditionellen Eliten Spaniens, dem unfähigen Staatsapparat und dem Militär an.5 In 3 Alexander Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge / Massachusetts, London 11962. 4 Die These ist enthalten in: Antonio Gramsci, Il Risorgimento, Turin 11949 (Quaderni del­ Carcere 3), bes. S. 95 ff. Eine genuin wirtschaftsgeschichtliche ­Theorie machten daraus marxistische Historiker, z. B. Renato Zangheri, La mancata rivoluzione agraria nel Risorgimento e i problemi economici dell’Unità [1958]. Jetzt in: Ders., Agricoltura e contadini nella storia d’Italia, Turin 1977, S. 131 – 146. 5 Jordi Nadal, El fracaso de la revolución industrial en España, 1814 – 1913, Barcelona 1975. Deutsche Zusammenfassung: Der Fehlschlag der Industriellen Revolution in Spanien 1830 – 1914. In: Carlo

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umso hellerem Licht erscheint dann naturgemäß das geglückte, aber begrenzt bleibende katalanische Exempel. Eine speziell für Südeuropa entwickelte ­Theorie der Industrialisierung ist trotz jüngster Überlegungen dazu immer noch Desiderat.6 Soweit sie die materielle Seite in den Blick nimmt, müsste sie sich zunächst dem Agrarsektor widmen, der mannig­ fache Unterschiede zum Norden aufweist: Erstens hohe ökologische Risiken als Folge natürlicher und anthropogener Ursachen. Zu ersteren zählen Gestalt der Landschaft, Sommertrockenheit wie überhaupt Umgang mit Wasser als Faktoren, und nicht zuletzt, insbesondere auf der Apenninenhalbinsel, hohe tektonische Dynamik. Von den anthropogen verursachten Risiken reichen Überweidung und Abholzung bis in die Antike zurück, während Monokultur, Anbau ungeeigneter (weil viel Wasser benötigender) Produkte, Zersiedelung usw. überwiegend erst seit dem späten 19. Jahrhundert stattfinden. Zweitens ist auch die Besitzverfassung eigentümlich und hat entsprechende Folgen. Die spanische und italienische Landwirtschaft war, von wichtigen regionalen Ausnahmen abgesehen, infolge Besitzstruktur und Fehlallokationen vielerorts leistungsschwach. Einerseits spielten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Subsistenzbetriebe eine wesentliche Rolle, andererseits wirkten sich die am Ende des 19. Jahrhunderts zugunsten der Großgrundbesitzer eingeführten protektionistischen Maßnahmen nachteilig auf die Binnennachfrage aus. Landarbeiter und auf Nebenerwerb angewiesene Kleinbauern – ein namhafter Teil der Bevölkerung beider Länder bis in die 1930er Jahre – hatten regelmäßig nur für 130 bis 150 Tage im Jahr Arbeit und waren entsprechend verschuldet. Dies natürlich auch deshalb, weil zusätzliche oder alternative Einkommensquellen, deren Zunahme wir nördlich der Alpen seit dem 18. Jahrhundert beobachten können, weitgehend fehlten und erst recht natürlich die Möglichkeit der Abwanderung in andere Sektoren. Auch die (oft romantisierte) Halbpacht reproduzierte seit den 1850er Jahren aufgrund sich verschlechternder Kontraktbedingungen immer öfter Armut. So blieb bis nach dem Zweiten Weltkrieg der Anteil der in der Landwirtschaft irgendwie Beschäftigten und wenig an der nationalen Wertschöpfung Beteiligten außerordentlich hoch, wie Tabelle 1 belegt.

M. Cipolla / Knut Borchardt (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 4: Die Entwicklung der industriellen Gesellschaften, Stuttgart, New York 1977, S. 341 – 401. 6 Nicht einsehen konnte ich den Sammelband Leandro Prado de la Escosura / Vera Zamagni (Hg.), El desarollo económico en la Europa del Sur. España e Italia en perspectiva histórica, Madrid 1992. Vorzüglich ist Gabriel Tortella, Patterns of Economic Retardation and Recovery in South-­Western Europe in the 19th and 20th Centuries. In: Economic History Review 47 (1994), S. 1 – 21. Unbedingt hilfreich auch Rolf Petri, Von der Autarkie zum Wirtschaftswunder. Wirtschaftspolitik und industrieller Wandel in Italien 1935 – 1963, Tübingen 2001. Auch Petri kritisiert Gerschenkron, den Gramsci-­Ansatz übergeht er und situiert ebenfalls „den wahrhaft historischen Umbruch in der italienischen Wirtschaftsgeschichte“ in den Jahren 1960 bis 1963 (S. 456).

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze

157 7

Tab. 1  Beschäftigte in der Landwirtschaft (% aller Arbeitskräfte)

Italien Spanien Deutschland

1870

1890

1910

1930

1950

1960

1980

61,2

?

54,2

49,0

42,5

28,4

14,2

?

72,1

59,6

50,6

54,3

43,6

18,9

50

42

35

32

18,7

13,6

5,6

Eng verbunden mit der Lage der Landwirtschaft, aber nicht kausal, wie das Beispiel Skandinaviens lehrt, ist die selbst noch im 20. Jahrhundert außerordentlich hohe Analpha­betenrate in beiden Ländern. 8

Tab. 2  Analphabetenrate (in %) 1850

1870

1890

1910

1930

1950

1965

1980

Italien

75 – 80

69

54 – 56

39,2

23,1

14,4

5 – 10

3

Spanien

75 – 80

65 – 70

61

52,2

30 – 35

17,3

8 – 13

6

Deutschland

15 – 20

8 – 13

1 – 8

1 – 5

1 – 2

1 – 2

1 – 2

1 – 2

Die vorliegenden Statistiken beschönigen die tatsächliche Lage noch insofern, als sie Stadt und Land, Jung und Alt sowie Mann und Frau in einen Topf werfen.9 Eine wenigstens rudimentäre Schulbildung der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung ist jedoch, wie die historische Erfahrung zeigt, eine unerlässliche Voraussetzung für moderne wirtschaftliche Entwicklung. Von der Wirtschaftsgeschichte viel zu sehr vernachlässigt wird vielfach die Werthaltung maßgeblicher Bevölkerungsgruppen gegenüber der Industrialisierung. Zu ­diesem großen Thema kann hier nur festgestellt werden, dass die entscheidenden Stimmen in Gesellschaft und Staat mindestens bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts keine Industrialisierung in dem Sinne wünschten, wie man sie damals in Teilen Deutschlands, Belgiens, Frankreichs

7 Quellen: Italien, Spanien: Tortella, Patterns (wie Anm. 6), S. 6 (Tab. 4). Deutschland: Wolfram Fischer u. a. (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Bd. 6, Stuttgart 1987, S. 93 (Tab. 30), sowie Friedrich-­Wilhelm Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 2, Paderborn 21988, S. 32, Abb. 8. „Deutschland“ ist 1950 – 80 die Bundesrepublik. 8 Quellen: Peter Flora, Modernisierungsforschung. Zur empirischen Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung, Opladen 1974, Tab. II. Für 1980 Tortella, Patterns (wie Anm. 6), S. 11 (Tab. 6). 9 Eine entsprechend differenzierte Statistik für Spanien bei Clara-­Eugenia Núñez, Literacy and Economic Growth in Spain 1860 – 1977. In: Pablo Martín-­Aceña / James Simpson (Hg.), The Economic Development of Spain since 1870, Aldershot, Brookfield 1995, Tab. 1. Für Italien m ­ ehrere unterschiedlich differenzierte Zahlenangaben bei Daniele Marchesini, Città e campagna nello specchio dell’alfabetismo (1921 – 1951). In: Simonetta Soldani / Gabriele Turi (Hg.), Fare gli italiani. Scuola e cultura nell’Italia contemporanea, Bd. 2: Una società di massa, Bologna 1993, S. 9 – 40.

158

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze

und Englands beobachten konnte. Selbst ein späterer Fabrikant wie Giambattista Pirelli, der als junger Ingenieur 1871 die Kruppschen Fabriken in Essen besuchte, erschrak über das, was er dort sah, und lehnte diese Art industrieller Zukunft für sein Land ab.10 Der größte Gewerbesektor, die Textilindustrie, hatte seine Standorte auf dem Lande, weil die Unternehmer wollten, dass ihre Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und in der ländlichen, traditionsfesten Gesellschaft verankert blieben. Beispielhaft dafür war Alessandro Rossis unternehmerische Aktivität im heimischen Schio (Provinz Vicenza). Insgesamt entwickelten, wie Silvio Lanaro gezeigt hat, die italienischen Wirtschaftseliten – und für die spanischen gilt cum grano salis dasselbe – viel früher und umfassender als ihr Gegenstück nördlich der Alpen, und jedenfalls ohne wirksamen Widerspruch zu finden, eine Abwehr gegen die heraufziehende Industriemoderne. Sie begegneten ihr mit einer Bündnispolitik, die große Teile des städtischen Bürgertums und namentlich die ländlich-­katholische Welt im Dienste einer national-­korporatistischen Wirtschaftsordnung zusammenführte und sich vom Ausland eben nicht nur zolltechnisch, sondern auch mental abschottete.11 Von da aus war der Weg zu faschistischen oder frankistischen Ordnungsmustern nicht weit (und ähnlich lagen die Dinge unter Salazar in Portugal). Das (seit jeher unterfinanzierte) Bildungswesen war ganz auf diese Mentalität ausgerichtet: Wenige und schlecht ausgerüstete Ausbildungsstätten für die Ingenieur- und anwendungsorientierten Naturwissenschaften (die in Italien betriebene reine Mathematik besaß dagegen nahezu Weltgeltung), während sich die juristischen Fakultäten seit Jahrhunderten höchster Anerkennung erfreuten und die größte Zahl von Abgängern ausbildeten.12 Der Nobelpreisträger Guglielmo Marconi war ein genialer Tüftler, hatte aber nie eine Universität besucht, und viele, vor allem mittlere und kleine Firmen, das Rückgrat der industriellen Wirtschaft beider Länder, beschäftigten vor den 1930er Jahren so gut wie keine Ingenieure (auch weil diese im Studium mit der Praxis kaum in Berührung kamen). Das alles schloss wirtschaftlichen Wandel natürlich nicht aus, aber er vollzog sich (auch wegen Kapitalmangel) langsamer und ging andere Wege. Davon soll nun die Rede sein. Dass Erze und Kohle in Italien so gut wie ganz fehlen und in Spanien lediglich in Asturien und dem Baskenland vorkommen, ist nach neuerer Einschätzung weniger von Bedeutung als die Tatsache, dass der umso wichtigere Textilsektor auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig war und dies durch Elendslöhne und Zollschutz auszugleichen versuchen musste. An die Schwächen der Landwirtschaft ist hier ebenfalls

10 Dazu Christof Dipper, Uguali e diversi. Zwei Fallstudien zur Moderne in Deutschland und Italien. In ­diesem Band. 11 Silvio Lanaro, Nazione e lavoro. Saggio sulla cultura borghese in Italia 1870 – 1925, Venedig 31988. 12 Da das Land eine viel zu große Zahl von Universitäten unterhielt – 21 um die Wende zum 20. Jahrhundert –, aber dafür kaum Geld ausgab, war der akademische Unterricht miserabel. Die schlecht bezahlten Professoren mussten sich vielfach mit einem Zweitberuf über Wasser halten, was den Juristen am leichtesten fiel. Der Staat begann sich erst im Zuge des E ­ rsten Weltkriegs für Forschungspolitik zu interessieren, doch liegen die wirklichen Anfänge nach 1930.

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze

159

zu denken. Ein weiteres Entwicklungshemmnis ist in der mangelhaften Infrastruktur zu sehen. Der Eisenbahnbau kam in beiden Ländern, vom Norden abgesehen, über die Errichtung eines Skelettnetzes nicht hinaus.13 Befestigte Straßen wurden, je weiter man nach Süden kam, ebenfalls immer seltener. Ein landesweiter Markt konnte auf diese Weise erst vergleichsweise spät entstehen. Trotzdem gilt nach konventioneller Lesart, dass Italien seinen industriellen Durchbruch z­ wischen 1896 und 1908 zustande gebracht habe.14 Aber wie sah Italien 1908 wirklich aus? Einerseits steuerte die wenig produktive Landwirtschaft den größten Teil zum Bruttosozialprodukt bei, andererseits gab es elektrisches Licht „fast allenthalben“.15 Das kann nur bedeuten, dass Italien damals weithin der heutigen OECD-Definition eines Schwellenlandes entsprach. Spanien war vermutlich noch nicht einmal das. In den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts änderte sich in Spanien daran nicht viel. Nur langsam erholte sich das Land vom Schock des Jahres 1898, als es die letzten Kolonien in Übersee verlor. Die 2. Republik sah die wirtschaftliche Entwicklung nicht als ihre vorrangige Aufgabe an. Die wichtigsten Träger der industriellen Moderne, Eisenbahn- und Telefonnetz, Straßenbahnen, Schwerindustrie, Schiffsbau usw., bildeten auch noch zu Zeiten des Bürgerkriegs Inseln in einer von Kleingewerbe und Landwirtschaft bestimmten Wirtschaftsordnung. Was Italien betrifft, so wurden unter Mussolini energische Anstrengungen zur Industrialisierung des Landes unternommen. Der Faschismus nahm in ­diesem Land in mancher Hinsicht das Gesicht einer Entwicklungsdiktatur an. Hauptzweck der Leistungssteigerung war indessen die Aufrüstung, die Mussolini ab 1928/29 in Gang setzte und der die Weltwirtschaftskrise paradoxerweise insofern zugute kam, als der Zusammenbruch der italienischen Großbanken und vieler Industriekonzerne das Regime nötigte, sie 1931 in einer rasch geschaffenen Staatsholding, dem Istituto di Ricostruzione Industriale (IRI), zusammenzufassen. Mit Steuergeldern finanziert und weiterhin gegen den Weltmarkt abgeschottet, setzte nun die Industrie zu einem gewaltigen Sprung an. Erfolgreich war diese Politik jedoch nur im Bereich der Investititons- und Rüstungsgüter, für den Aufbau einer Konsumgüterindustrie fehlte neben dem politischen Willen die Massenkaufkraft. Neuerer Ansicht nach, der ich hier folge,16 sind Italien und Spanien als Ganzes erst nach dem 2. Weltkrieg zur Reihe der industrialisierten Länder vorgestoßen. Italien schaffte 13 Die für Italien heute wichtigste Nord-­Süd-­Verbindung von Bologna über Florenz nach Rom wurde erst 1938 eröffnet. 14 Gerschenkron, Backwardness (wie Anm. 3), S. 77 f. 15 Albert Zacher, Italien von heute – im Jahre seines fünfzigjährigen Jubiläums, Heidelberg 1911, S. 70. Die Elektrifizierung kam in Italien viel rascher voran als in Deutschland. Zachers Buch ist bis zu Michels’ entsprechendem Überblick von 1930 die gründlichste Landeskunde weit und breit; der Autor war Italienkorrespondent verschiedener Zeitungen in Rom und starb 1911. 16 Für Spanien Tortella, Patterns (wie Anm. 6). Für Italien Vera Zamagni, Evolution of the Economy. In: Patrick McCarthy (Hg.), Italy since 1945, Oxford 2000, S. 42 – 68, und Paul Ginsborg, Storia d’Italia dal dopoguerra a oggi. Società e politica 1943 – 1988, Turin 1989, bes. Kap. VII.

160

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze

z­ wischen 1951 und 1963 den Durchbruch, Spanien ­zwischen 1960 und 1973, also noch ­später und ebenso rasch. Dieser Durchbruch unterschied sich erheblich von demjenigen, der oft mehr als ein Jahrhundert früher in Mittel- und Nordwesteuropa stattgefunden hatte. Man kann fünf zentrale Merkmale mediterraner Industrialisierung identifizieren. Erstens die entschiedene Staatsintervention. Ihre Voraussetzung war, dass in Italien an den politischen Schaltstellen die sogenannten dirigisti saßen,17 in den 1930ern ausgebildete Planungsspezialisten, die den modernen Staatskapitalismus wollten. Planung galt ­zwischen 1930, als die Dilemmata des Liberalismus für jedermann sichtbar geworden waren, und 1970 überhaupt in der westlichen Welt als das wichtigste Instrument zur Überwindung von Krise und Rückständigkeit.18 Franco-­Spanien verhielt sich ähnlich. Es hatte sich 1941 nach italienischem Vorbild eine Staatsholding geschaffen, das Instituto Nacional de Industria (INI).19 Italien hat nach 1945 nicht nur das IRI nicht aufgelöst, sondern im ­­Zeichen entschlossener Industrialisierungspolitik neue Staatsmonopole im Energie- und Ölsektor geschaffen,20 mit deren Hilfe sogar das Autobahnnetz von 1957 bis 1963 nicht weniger als verdreifacht worden ist. Beide Staaten besaßen damit eine außerhalb der kommunistischen Welt einmalige Steuerungsmacht. Sie nutzten sie gezielt zur Erfüllung ihrer Entwicklungspläne.21 Das bedeutete – zweitens – nicht, dass der sekundäre Sektor stark angewachsen wäre. Der Anteil der Industriearbeiter blieb vergleichsweise bescheiden und die meisten waren überdies in Klein- und Mittelbetrieben beschäftigt. Weder Fiat noch Pirelli sind für Italien typisch, obgleich sie zusammen mit den staatlichen Stahlproduzenten die entscheidende Rolle beim industriellen Durchbruch hatten. Stattdessen besitzt bei ­diesem Typus von Industrialisierung der Konsumgüterbereich einen auffallend hohen Anteil. Die den Boom auslösenden gewerblichen Branchen waren mittelständische Betriebe, die seither die Industrielandschaft beider Länder prägen und damals langlebige 17 Dazu ausführlich Petri, Von der Autarkie (wie Anm. 6), passim. Deren Pläne ab 1943 schildert er S. 435 ff., das sog. „Schema Vanoni“ von 1954, den „krönende[n] Abschluß“, S. 449. Ezio Vanoni war von 1947 bis 1956 Außenhandels-, Budget- und Finanzminister und hatte 1928 – 30 in Deutschland das Finanzwesen studiert; 1951 führte er die jährliche Einkommensteuererklärung nach deutschem Muster ein. 18 Allgemein dazu Dirk van Laak, Planung, Planbarkeit und Planungseuphorie. In: Docupedia-­ Zeitgeschichte 2010. URL: https://docupedia.de/images/b/b1/Planung.pdf (13. 1. 2016) 19 1977 wurde das INI umbenannt und in seinen Befugnissen zurückgeschnitten, 1992 der profi­ tablere Teil in einer neuen Holding, Téneo, zusammengefasst. 1995 schließlich zerschlug die Regierung INI und das 1981 davon abgespaltene INH (Instituto Nacional de Hidrocarburos) und teilte deren Industriebesitz auf zwei neue staatlich kontrollierte Gesellschaften auf. 20 Die beiden bis heute existierenden, neuestens allerdings stark beschnittenen und teilprivatisierten Konzerne sind der bereits 1953 gegründete Ente Nazionale Idrocarburi (ENI) und der 1962 geschaffene Ente Nazionale per l’Energia Elettrica (ENEL). 21 Die Privatisierung begann in großem Stil in Italien durch Romano Prodi, der von 1984 bis 1995 Präsident des IRI war, in den späten 1990er Jahren, in Spanien schon unter Felipe Gonzalez ein Jahrzehnt früher.

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze

161

Konsumgüter (Tabelle 3)22 produzierten. Wegen der bewusst erhaltenen Kaufkraftschwäche der inländischen Arbeiter musste anfangs, von Radioapparaten abgesehen, das meiste exportiert werden. Die 1957 gegründete EWG half Italien dabei außerordentlich. 2324252627

Tab. 3  Die Produktion langlebiger Konsumgüter der Elektroindustrie  a.) Radioapparate (in 1000) 1950/59

1960/69

1970/79

739

1648

2160

?

Spanien

266 24

387

425

?

Deutschland

2900

4261

5349

3177

Italien

1980/83

b.) Fernsehempfänger (in 1000) 1950/59

1960/69

1970/79

1980/83

Italien

342

1071

1974

1728

Spanien

1525

377

687

?

Deutschland

636

2226

3627

4485

c.) Kühlschränke 1950/59

1960/69

1970/79

1980/83

Italien

393

2665

6144

3961

Spanien

2426

197

1969

?

Deutschland

890

2100

2766

2847

1950/59

1960/69

1970/79

1980/83

76

1364

3196

3449

1096

?

1698

1670

d.) Waschmaschinen Italien Spanien

67

197

Deutschland

890

1288

27

Nicht minder auffallend ist, dass zwei weitere Branchen eine im Vergleich zu den alten Industriegesellschaften ungewöhnlich große Bedeutung erhielten und bis heute besitzen: Bauwirtschaft und Tourismus. Der durch die Binnenwanderung − nunmehr 22 Bei Kühlschränken und Waschmaschinen lag Italien über mehr als zwei Jahrzehnte an der Spitze Europas. 23 Quelle: Fischer, Handbuch (wie Anm. 7), S. 130 f. (Tab. 52). „Deutschland“ ist die Bundesrepublik. 24 Die Zahl bezieht sich auf weniger als die Hälfte der angegebenen Jahre. 25 Wie Anm. 23. 26 Wie Anm. 23. 27 Wie Anm. 23.

162

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze

im Unterschied zu früher eine Begleiterscheinung wirtschaftlichen Wachstums in den nach wie vor wenigen Zentren der Modernisierung − verursachte Wohnraumbedarf war anders beschaffen als im 19. Jahrhundert und erforderte deshalb und wegen der geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit, mit der sich die Bevölkerung spätestens um 1950 in Marsch setzte, mehr Mittel.28 Vom Massentourismus schließlich, der übrigens ebenfalls erhebliche Bauleistungen verlangt, profitierte Nachkriegsitalien als erstes Land überhaupt, es verlor allerdings seinen Spitzenplatz in den 1980er Jahren; inzwischen war freilich dank steigenden Wohlstands der inneritalienische Tourismus hinzugekommen. Von Spanien wurde das Land inzwischen im internationalen Wettbewerb auf den vierten Platz verdrängt, woraus die außerordentliche Bedeutung dieser Branche auch auf der Pyrenäenhalbinsel hervorgeht.29 Begleitet wurde dieser Boom – drittens – von einem Massenexodus der ländlichen Bevölkerung, die zugleich ihre Parzellenbetriebe aufgab. Sie zog vom Berg ins Tal, vom Land in die Stadt, besonders in die Hauptstädte Madrid und Rom, und ferner in Spanien vom Binnenland an die Küste, in Italien auch von Süd nach Nord. Eine wahre Völkerwanderung war das. Nicht weniger als 9,1 Millionen Italiener verließen von 1955 bis 1971 ihren Wohnort, doch blieb die große Mehrheit in der Region, immerhin 900.000 Süditaliener verließen ihre Heimat in den fünf Jahren von 1958 bis 1963; ungefähr 800.000 wanderten in ­diesem Zeitraum in die hochentwickelten Länder des Nordens und – abnehmend – nach Übersee aus.30 Bevölkerungsbewegungen hatte es natürlich auch schon in den früh industrialisierten Ländern gegeben, wenngleich nicht in diesen Dimensionen. Neu hingegen war, dass ein großer Teil der in der Landwirtschaft Freigesetzten direkt in den Dienstleistungssektor abgewandert ist, der deshalb gegenüber den alten Industriestaaten ungewöhnlich früh einen hohen Anteil erreichte (Tabelle 4a und 4b). Dass sich in d ­ iesem Wachstumsprozess der Dienstleistungssektor selber erheblich veränderte, mit deutlichen Unterschieden ­zwischen Nord und Süd, sei nur der Vollständigkeit halber hier vermerkt. 28 In Italien hat sich als Folge des „Piano Fanfani“ (1949) der Wohnungsbau in den zwölf Jahren von 1951 bis 1963 verfünffacht. Erst 1962 setzte allerdings die Regierung das aus faschistischer Zeit stammende Zuzugsverbot in die Großstädte außer Kraft, doch spielte es schon lange zuvor nurmehr die Rolle, dass man unter Hinweis darauf im Interesse der Bodenspekulation auf Bebauungs­pläne verzichten konnte. Die spanische Baubranche erwirtschaftete zuletzt, 2008, 11 % des BIP (in Deutschland knapp 5 %), ein mindestens europaweit wohl einmaliger Fall. Es ist daher kein Zufall, dass die d ­ ieses Land nun schon seit Jahren beherrschende schwere Wirtschaftskrise auf den Zusammenbruch der völlig überdimensionierten Baubranche zurückgeht. 29 Zahlen für die 1950er Jahre lagen nicht vor. Der Anteil des Tourismus am spanischen BIP belief sich 1996 auf 10 %, am italienischen 1992 auf 8 %. Betrachtet man die Umsatzziffern, so sieht die Lage allerdings ganz anders aus: Spanien nahm 1996 umgerechnet 41,65 Milliarden DM ein, I­ talien (im Rekordjahr 1994) 110 Milliarden. Rafael Domínguez Rodríguez, Der Tourismusboom und seine Folgen. In: Walther L. Bernecker / Klaus Dirscherl (Hg.), Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt 31998, S. 485. Klaus Rother / Franz Tichy, Italien, Darmstadt 2000, S. 284. 30 Die Zahlen nach Ginsborg, Storia d’Italia (wie Anm. 16), S. 295 ff. Gegen Ende der 1960er Jahre war Turin nach Neapel und Palermo die drittgrößte ‚süditalienische‘ Stadt des Landes; ebd., S. 298.

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze

163

Tab. 4a  Beschäftigte im Agrarsektor (% aller Arbeitskräfte)

31

1920

1950

1980

2014

56,1

42,2

14,2

3,5

Spanien

56,1

48,8

18,9

4,2

Deutschland

30,5

18,7

5,6

1,3

Italien

Tab. 4b  Beschäftigte im Dienstleistungssektor (% aller Arbeitskräfte) 1920

1950

1980

2014

Italien

19,3

25,7

47,9

69,5

Spanien

23,0

26,1

45,1

76,3

Deutschland

28,1

36,4

50,3

70,4

Viertes und nicht minder bemerkenswertes Kennzeichen mediterraner Industrialisierung sind die Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts und deren zeitliche Situierung (Tabelle 5). Das von uns Deutschen als ‚Wirtschaftswunder‘ erlebte bzw. erinnerte Jahrzehnt z­ wischen 1955 und 1965 ist zumindest statistisch betrachtet keineswegs ein Sonderfall. Dass die Bundesrepublik damals von Italien egalisiert, von Spanien sogar überholt worden ist, passt nicht in unser Weltbild. Einen wichtigen Unterschied gab es trotzdem: Im Mittelmeerraum kamen die Zuwächse in weit geringerem Maße bei den Konsumenten an als nördlich der Alpen. Das beweist schon ein Blick auf die Zahlen der Emigranten, die erst seit Mitte der 1970er Jahre zurückgingen, dann jedoch scharf und auf Dauer. 3233

Tab. 5  Das durchschnittliche jährliche Wachstum des BSP zu Marktpreisen  1913 – 1929

1929 – 1938

1950 – 1973

insges.

Pro Kopf

insges.

Pro Kopf

insges.

Spanien

2,21

1,35

-2,39

-3,29

6,21

Pro Kopf 5,21

Italien

1,51

0,90

1,54

0,73

5,42

4,69

Deutschland 33

0,52

0,11

4,97

4,30

6,00

5,02

Europa

0,95

0,42

2,61

1,81

5,58

4,53

Abgesichert wurde d ­ ieses Wachstum – fünftens – einmal durch die beginnende europäische Einigung, denn am schnellsten wurde der gemeinsame Markt für gewerbliche Güter verwirklicht, so dass schon früh die traditionellen Handelshemmnisse zu fallen 31 Quellen für beide Tabellen 1920 – 1980: Fischer, Handbuch (wie Anm. 7), S. 93 (Tab. 30). „Deutschland“ ist 1950 – 80 die Bundesrepublik. Für 2014: http://de.statista.com/statistik/daten/­ studie/249086/umfrage/erwerbstaetige-­nach-­wirtschaftssektoren-­in-­den-­eu-­laendern/ (11. 7. 2016). 32 Quelle: Fischer, Handbuch (wie Anm. 7), S. 1027 (Tab. 18). 33 Für 1950 – 1973 Bundesrepublik Deutschland.

164

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze

begannen, nämlich seit dem 1. Januar 1958.34 Zum andern erlebte Italien zum ersten Mal in seiner Geschichte dank der nun rasch zunehmenden Exporte, die sich zum guten Teil den vorerst, d. h. bis 1969/70, noch immer extrem niedrigen Löhnen verdankten, eine ausgeglichene Zahlungsbilanz und war nicht mehr nur auf Einnahmen aus dem Tourismus und Überweisungen der Ausgewanderten angewiesen. Die vom italienischen ‚Wirtschaftswunder‘ ausgelösten wichtigsten Strukturveränderungen haben Physiognomie und Lebensumstände dieser Nation nachhaltig verändert. Zunächst einmal vertiefte der ökonomische Durchbruch die Spaltung des Landes ­zwischen Nord und Süd weiter, denn Mittel- und Norditalien wurden zu industria­ lisierten Regionen, während der Mezzogiorno vom Wandel kaum positive Impulse erfuhr. Die vereinzelt mit viel staatlichen Subventionen vorgenommenen großindustriellen Investitionen entsprachen der eingangs skizzierten modernisierungstheoretischen Entwicklungslogik – sie war international damals sicherlich auf dem Höhepunkt ihrer Popularität 35 – und verfehlten gerade deshalb ihren Zweck. Die solchermaßen entstandenen ‚Kathedralen in der Wüste‘ waren buchstäblich in den Sand gesetzt; ernst zu nehmende Wachstumsimpulse ergaben sich in keinem Falle.36 Die permanenten Misserfolge machten die Planer allmählich ratlos, der Mezzogiorno erwarb sich zunehmend den Ruf eines hoffnungslosen Falles, so dass Anfang der 1990er Jahre die staatlichen Transferleistungen auf ein Minimum reduziert worden sind. Positiver sind andere Ergebnisse. Zu nennen wäre an erster Stelle das Verschwinden der jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealten Kategorien Landarbeiter und Kleinpächter. Sie waren so arm wie zahlreich und leisteten deshalb eigentlich niemals einen positiven Beitrag zur Wertschöpfung, auch weil sie klassischerweise die Reservearmee des Kapitals bildeten und sich in dieser Funktion gewissermaßen selber permanent ausbeuteten. Eng mit ihrem Verschwinden verbunden ist der erfreuliche Umstand, dass seit den 1950er Jahren die Schulbildung praktisch die gesamte nachwachsende Bevölkerung erfasst hat. Zwischen 1950 und 1965 hat sich die Analphabetenrate so gut wie halbiert (Tabelle 2). Am Ende der Durchbruchsphase war die Arbeiterschaft

34 Spanien trat (gemeinsam mit Portugal) erst am 1. Januar 1986 der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen der sogenannten Süderweiterung bei, bewältigte also seinen industriellen Durchbruch ohne supranationale Hilfen, denn es war ja schon von der Marshall-­Plan-­Hilfe ausgeschlossen gewesen. 35 Vgl. das von dem ehemaligen Planungschef des Staates New York, Maurice F. Neufeld, verfasste Buch: Italy. School for Awakening Countries, New York 11961. Neufeld war von 1943 bis 1945 als Offizier der amerikanischen Armee auf dem italienischen Kriegsschauplatz. 36 Man denke an die kapitalintensiven Produktionsstätten der petrochemischen Grundstoffindustrie vor allem an den Küsten (Brindisi, Tarent, Augusta bei Syrakus), ferner in Gela und Ragusa, oder an die Montagebetriebe von Alfa Romeo, damals in Staatsbesitz, in Pomigliano d‘Arco bei Neapel, wo der „Alfasud“ zusammengeschraubt wurde. Alle diese Werke beschäftigten vergleichsweise wenige Arbeitskräfte, von denen viele aufgrund ihrer Spezialkenntnisse aus dem Norden geholt werden mussten.

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze

165

auch hinreichend stark, mit den Arbeitgebern in harte Verteilungskämpfe einzutreten. Das Ergebnis waren 1969/70 drastische Lohnerhöhungen, die es vielen Italienern erstmals ermöglichten, sich kostspielige und wertbeständige Konsumgüter zu kaufen. Gesamtwirtschaftlich war der Preis allerdings hoch, denn bald darauf stellte die erste Ölkrise auch die italienische Volkswirtschaft vor schwere Herausforderungen, denen sie sich weniger gewachsen zeigte als die ihrer wichtigsten Konkurrenten. Der Kauf von Konsum­gütern hatte schließlich auch zur Folge, dass sich das Wohnen nun auch in Italien von der Straße ins Innere der Häuser mit ansehnlicher Ausstattung und laufendem Fernsehapparat verschob. Nicht zufällig begann die jahrelang populärste Werbesendung der RAI, Carosello, im Jahre 1957. Weitgehend unabhängig von den volkswirtschaftlichen Krisen hat sich in der Folge­ zeit die wirtschaftliche Lage der Privaten entwickelt. Statistisch sieht es sogar eher umgekehrt aus, jedenfalls was Italien betrifft. Dort lag das Durchschnittsvermögen im Jahre 2012 mehr als 20 Prozent über dem deutschen, der italienische Medianwert betrug sogar fast das Dreifache des deutschen.37 Mit anderen Worten: Italiener und Spanier sind inzwischen – statistisch – wohlhabender als die Deutschen. Das liegt vor allem an der hohen Eigentümerquote beim Wohnen, die in Italien vor allem in der Ära Berlusconi steuerlich geschont worden ist,38 während in Spanien der Bauboom natürlich auch die Preise für bestehende Häuser und Wohnungen in die Höhe getrieben hat; in ­diesem Land hat inzwischen der Wertverfall für Immobilien ein hohes Tempo angenommen. Insofern sind diese Zahlen nur mit großer Vorsicht zu genießen. Schluss Dieser Beitrag behauptet nicht, dass die gegenwärtigen Probleme südeuropäischer Volkswirtschaften eine direkte Folge der mediterranen Form der Industrialisierung sind.39 In den 1980er und 1990er Jahren schien sogar sicher, dass der Süden mit dem

37 Erhebung der CréditSuisse, abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 60 (12. 3. 2013), S. 9, Schaubild. Das Durchschnittsvermögen in Italien betrug 2012 165.000 Euro je Erwachsenem, in Deutschland 135.000 Euro. Die Medianwerte betragen 96.000 bzw. 33.000. Für Spanien lauten die Werte 81.000 bzw. 41.000. Der aussagekräftige Medianwert verweist Deutschland gegenüber den beiden anderen Ländern auf den letzten Platz. 38 Auch die Zinserträge für Staatsanleihen (BOT) – 1992 lag der Zins bei 15,14 % − waren bis in die 1990er Jahre im Inland steuerfrei, die Italiener verdienten jahrzehntelang recht gut an der enormen Staatsverschuldung. 39 Die gegenwärtige Krise hat ihre Ursache im Versagen der politischen Eliten, die darin allerdings von ihren Wählern bis vor kurzem nicht gehindert worden sind. Italien und Spanien blicken derzeit [2013] auf fünf Jahre Rezession zurück, was es seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr gegeben hat und den Abstand z­ wischen Nord und Süd in Europa wieder erheblich hat anwachsen lassen.

166

Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze

Norden würde Schritt halten können. Die italienische Regierung unternahm damals energische und erfolgreiche Anstrengungen zur wirtschaftlichen Modernisierung, die die Mitgliedschaft des Landes im Europäischen Währungssystem und damit seine Teilnahme am Übergang zur gemeinsamen Währung gewährleisteten. Vergleichbares gilt für Spanien, das mit Hilfe des Brüsseler Regionalfonds seine Infrastruktur erheblich modernisierte. Vielmehr stellt sich die Frage, ob es auch in Zukunft eine spezifisch mediterrane Form industrialisierter Gesellschaften geben wird. Im Augenblick ist nicht absehbar, ob der von Globalisierung und Euroraum ausgehende Homogenisierungsdruck oder ob die zur Bekämpfung der Krise in Brüssel und anderswo beschlossenen Interventionen (oder ob alle drei Phänomene zusammen, wenn auch nicht gemeinsam) die überlieferten Strukturmerkmale des Südens in veränderter Form fortbestehen lassen oder ihnen den Garaus machen werden. Ob das der Akzeptanz eines anders beschaffenen mediterranen Entwicklungsmodells in der Wissenschaft förderlich ist oder nicht, muss ebenfalls der Zukunft überlassen bleiben.

Faschismus und Moderne Gesellschaftspolitik in Italien und Deutschland * Faschismus und Moderne 1965 provozierte Ralf Dahrendorf das deutsche Publikum mit der paradoxen These, es sei gerade der große Erfolg der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen, der − selbstverständlich unabsichtlich − nach 1945 der Moderne in Deutschland vollends die Tür geöffnet habe.1 Wenn sie inzwischen weithin anerkannt ist, so gilt das in erster Linie hinsichtlich ihrer Erklärungskraft für die so auffallende Dynamik der westdeutschen Gesellschaft vor allem unmittelbar nach 1945.2 Darum war es letzten Endes auch ­Dahrendorf gegangen, der gleichwohl Bemerkenswertes zur gesellschaftlichen Entwicklung im Nationalsozialismus hat einfließen lassen. Hierin jedoch sind ihm die deutschen Historiker nur zögernd gefolgt, und zwar aus zwei Gründen: Weil sie erstens für die von Dahrendorf behauptete „soziale Revolution“ kaum Belege finden, vor allem aber weil sie zweitens überhaupt dem Thema Moderne wenig abgewinnen können und deshalb entsprechend unsicher bei der Frage nach dem Zusammenhang von Faschismus und Moderne sind. Viele belegen die Frage lieber mit einem Tabu und müssen sich deshalb nicht weiter mit ihr befassen. In Italien ist das anders, was nicht nur mit dem unterschiedlichen Grad der von beiden Regimen begangenen Verbrechen zu tun hat. Man benutzt dort den Begriff Moderne viel unbefangener als im deutschen (oder angelsächsischen) Sprachraum, seit den 1980er Jahren sogar auf der Linken, wie Tim Mason damals irritiert feststellen musste.3 Als Grund vermutete er das tief verwurzelte Bewusstsein der Italiener, in einem rückständigen Lande zu leben, und man könnte in der Tat darauf verweisen, * Ich danke Ute Schneider, Darmstadt / Essen, für hilfreichen Rat. Das Manuskript wurde 2006 abgeschlossen, für den Wiederabdruck aber stellenweise umgearbeitet. 1 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 11965. Wehler, der diese These ausführlich diskutiert und prüft, spricht am Ende von „fortdauernder Überzeugungskraft“; Hans-­Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, München 2003, S. 794. Andere halten ihr entgegen, dass die wesentlichen Faktoren gerade aus dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ hervorgegangen s­ eien: aus Kriegsverlusten namentlich bei den Eliten, Flucht bzw. Vertreibung und Teilung Deutschlands und dadurch erzwungenem massivem gesellschaftlichem Wandel. 2 Das gilt aus naheliegenden Gründen auch für Österreich, wird dort aber eher noch weniger diskutiert als hierzulande. Stichworte zur „regressiven Modernisierung“, wie er den Vorgang nennt, der ‚Ostmark‘ bei Ernst Hanisch, Von der Opferzählung zum schnellen Moralisieren. Interpretationen des Nationalsozialismus in Österreich. In: GG 31 (2005), bes. S. 259 – 261. 3 Tim Mason, Italy and Modernisation. A Montage. In: History Workshop, Nr. 25 (1988), S. 128, S.  131 ff.

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dass der italienische Nationalstaat seit Anbeginn seine Existenz mit der Notwendigkeit begründet hat, diese Rückständigkeit zu überwinden − auch um endlich in die Reihe der Großmächte aufzusteigen. Jeder, der dazu beiträgt, ist willkommen, und wer wollte leugnen, dass dem Italien Mussolinis beides gelungen ist: ein gewaltiger Schritt in die Moderne und Großmachtstatus? Der Begriff der Moderne ist anfällig für emphatischen Gebrauch. Dies zeigt seine Bedeutungsgeschichte seit der Aufklärung und dies ist der entscheidende Grund, weshalb so viele von Moderne nicht sprechen wollen, wenn es um den Faschismus geht. Die Diskussion der letzten beiden Jahrzehnte hat aber gezeigt, dass es nicht nur möglich, sondern sinnvoll, ja geboten ist, Moderne und Faschismus in engem Zusammenhang zu sehen. Dazu hat insbesondere die schmerzliche Einsicht beigetragen, dass der Holocaust in aller seiner Barbarei durchaus zur Moderne gehört. Im Anschluss an Zygmunt Bauman, der sich d ­ ieses Themas besonders angenommen hat, gilt sie heute als unvermeidlich ambivalent,4 so dass man von Spielarten der Moderne sprechen kann, von denen die faschistische oder ‚barbarische‘ Moderne eine ist. Die wiederentdeckte Ambivalenz öffnete den Blick für den Zusammenhang von Krise, Krisenwahrnehmung und Moderne, den es nicht nur im Falle des Faschismus gibt, wo er aber besonders evident ist. Deshalb muss nun von Modernisierung gesprochen werden. Dieses aus den Sozialwissenschaften stammende Konzept postuliert verallgemeinerbare Entwicklungsrichtungen der Gesellschaft und versucht, die einzelnen Schritte ­dieses Prozesses zu beschreiben, zu messen und im Idealfall sogar anzustoßen. Als entwicklungsoptimistischer ­Theorie fehlt ihr naturgemäß jeglicher Vorbehalt und erst recht jede Ambivalenz, und das machte sie angreifbar, als der Diskurs über die Moderne seine Naivität abzulegen begann. In Deutschland ließ sich das besonders gut bei dem von Prinz und Zitelmann verantworteten Sammelband Nationalsozialismus und Modernisierung beobachten, der eine polemische Debatte auslöste, weil die Herausgeber den wertbesetzten Begriff Modernisierung für das Dritte Reich in Anspruch genommen hatten, ohne die üblichen und unverzichtbaren Einschränkungen hinzuzufügen, im Gegenteil.5 In ­diesem Beitrag kommt jedoch ein streng analytischer Begriff von Modernisierung zum Tragen, der außerdem eine politische Dimension enthält, indem er Akteure und Intentionen zu benennen und dadurch den mit Recht kritisierten Eindruck zu vermeiden sucht, als sei Modernisierung ein quasi naturgesetzlich verlaufender Prozess. Der vorliegende Aufsatz gilt in erster Linie der

4 Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992. Ders., Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt 1995. 5 Michael Prinz / Rainer Zitelmann (Hg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991. Die Diskussion rekapituliert ohne Anspruch auf weiterführende Einsichten Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003, S. 42 ff. Bavaj listet rund 1.500 Titel auf.

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politisch gewollten gesellschaftlichen Homogenisierung und der Individualisierung nördlich und südlich der Alpen. Wenn die Moderne ambivalent ist, gibt es kein Hindernis, das Dritte Reich und Mussolinis Regime als modern zu bezeichnen. Das ist schon deshalb angemessen, weil beide Regime ganz anders beschaffen waren und sich anders verhielten als autoritäre Herrschaften vom Schlage Francos oder Dollfuß’, von klassischen Militärdiktaturen im Stile Metaxas’ oder Horthys ganz zu schweigen. Man denke nur an die erfolgreiche Massenmobilisierung, die Popularisierung von Radio und Film, die Aufwertung der Jugend, die gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber den Frauen (was nichts mit Gleichberechtigung zu tun hat), die präzedenzlosen Erweiterungen im Bereich von Freizeit und Urlaub, in Italien die Förderung moderner Malerei und Literatur und anderes mehr.6 Auch die Institutionen beider Länder brauchten keinen Vergleich mit anderen fortgeschrittenen Ländern zu scheuen. Zum Verständnis der faschistischen Gesellschaftspolitik ist wichtig, dass Italien und Deutschland im 19. Jahrhundert zwei unterschiedliche Wege in die Moderne wählten. Deutschland entschied sich für den Sozial- und Interventionsstaat, während Italien dem Beispiel Westeuropas folgte und den sozialen Ausgleich im wesentlichen den Beteiligten überließ. Die Armut des Landes und die Schwäche des bürokratischen Apparates hätte gar nichts anderes erlaubt. Allerdings erlebte Italien von allen entwickelten Gesellschaften die mit Abstand härtesten Klassenkämpfe, w ­ elche die Legitimität der politischen Ordnung schon vor dem ­Ersten Weltkrieg erschütterten. Der italienische Faschismus stand deshalb vor einer komplexen Aufgabe: Er hatte nicht nur das Ende der Klassenkämpfe versprochen, sondern aus Großmachtstreben auch eine neue Gesellschaftsordnung, und musste deshalb in kürzester Frist zum Interventionsstaat übergehen. Dass die Experten fehlten, erleichterte den Faschisten das Geschäft, da sie sich nicht wie die Nationalsozialisten nach 1933 mit den mächtigen Apparaten in Ministerien und Sozialkassen auseinandersetzen mussten. Doch fehlte neben Erfahrung auch das Geld; selbst unter günstigeren Umständen hätte eine Nationalökonomie wie die italienische die ehrgeizigen Programme nicht finanzieren können. Was der faschistische Staat mit der einen Hand gab, musste er darum zumeist mit der anderen wieder nehmen. Kostspielige Leistungen wurden so zum Problem. Dennoch wagte sich das Regime an große Projekte, wobei die Jugend-, Mittelstands- und in geringerem Umfang auch Frauenpolitik besser sichtbar waren als die kostspielige Familienpolitik.

6 Umfassend dazu Ruth Ben-­Ghiat, Fascist Modernities. Italy 1922 – 1945, Berkeley u. a. 2001, die sich in ihrer Einleitung mit dem Zusammenhang von Faschismus und Moderne befasst. Vgl. ferner Bruno Wanrooij, Mobilitazione, modernizzazione, tradizione. In: Giovanni Sabbatucci / Vittorio Vidotto (Hg.), Storia d’Italia, Bd. 4: Guerre e fascismo 1914 – 1943, Rom, Bari 1997, S. 427 ff. Es fällt auf, dass d ­ ieses Problem, soweit es um Italien geht, überwiegend von Autoren aufgegriffen wird, die sich mit der Kulturpolitik des Faschismus befassen.

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Der Nationalsozialismus musste nicht erst den Interventionsstaat nach Deutschland bringen, er gab ihm allerdings eine andere Richtung und musste dazu den Widerstand altgedienter Fachleute überwinden. Wie der italienische Faschismus benötigte er ferner für seine machtpolitischen Ziele eine andere Gesellschaft, in die er entsprechend tief eingriff. Hinzu kamen die rassenpolitischen Motive, für die anders als in Italien genügend Experten bereitstanden − ein weiteres Indiz für die größere Modernität Deutschlands, denn der Rassismus war ein (angeblich) naturwissenschaftlich fundierter Versuch, die Welt besser als bisher zu erklären und entsprechend diesen Erkenntnissen umzubauen. 7 Die umfassend angelegten gesellschaftspolitischen Pläne wie überhaupt der Ausbau des Wohlfahrtsstaates waren modern. Nicht nur die Verheerungen des E ­ rsten Weltkriegs legten derartige Initiativen nahe, sondern auch manifeste Ungerechtigkeiten, die in der Not der Weltwirtschaftskrise nur noch besser sichtbar wurden, und nicht zuletzt der biomedizinische Fortschritt. Alle entwickelten Länder vollzogen deshalb nach 1918 eine Abkehr vom liberalen Modell des freien Kräftespiels, wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Dass die faschistischen die radikalsten Eingriffe unternahmen, machte sie teilweise zu unzweideutigen Vorreitern der Moderne. Mittel und Ziele relativieren jedoch sogleich diesen Befund und liefern ein anschauliches Beispiel für das, was man ‚barbarische‘ Moderne nennt. Damit sind die gesellschaftspolitischen Felder ­dieses Aufsatzes bezeichnet. Wenn es um die Frage faschistischer Modernität geht, ist weniger die klassische Sozial- und Lohnpolitik von Interesse, sondern die Bereiche, in denen damals Neuland betreten wurde. Anders als mit dem einleitenden Hinweis auf Dahrendorf vielleicht suggeriert, interessieren dabei nicht so sehr tatsächliche Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit als vielmehr Dimension und Zielrichtung der Vorhaben. Dies ist nicht zuletzt der Überlegung geschuldet, ob die beiden Faschismen nicht ein feineres Gespür für die von der Gesellschaft erwarteten Veränderungen als ihre politischen Konkurrenten besaßen, eben weil sie moderner waren als diese. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Wenn es richtig ist, dass sich die beiden Diktatoren zunächst viel erfolgreicher als die politischen Systeme vor ihnen den Erwartungen der deutschen bzw. italienischen Gesellschaft stellten, so hat das damit zu tun, dass der Faschismus als junge, neuartige Bewegung beim Blick auf die Gesellschaft weniger auf Traditionen Rücksicht zu nehmen brauchte. Hinzu kommt, dass in beiden Fällen − allerdings mehr noch in Deutschland − die Klassengesellschaft Auflösungstendenzen zu zeigen und man von 7 Dazu Ulrich Herbert, Rassismus und rationales Kalkül. In: Wolfgang Schneider (Hg.), „Vernichtungspolitik“. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991, S. 25 – 35.

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der Massengesellschaft zu sprechen begann. Zu den wichtigsten Katalysatoren ­dieses Prozesses zählten neben den Erfahrungen gesellschaftlicher Erosion als Folge des E ­ rsten Weltkriegs die modernen Medien. Neue Vorstellungen von sozialer Sicherheit, beruflichem Fortkommen und Konsum kamen auf, die sich eindeutig nicht mehr an den gesellschaftlichen Traditionen des 19. Jahrhunderts orientierten. Aus all dem ergaben sich politische Erwartungen, auf die offenbar weder die Rechte noch die Linke zu reagieren wussten, von den Liberalen ganz zu schweigen. Faschisten und National­ sozialisten, denen es nicht zufällig erstmals gelang, volksparteiähnliche Organisationen aufzubauen, gingen anders mit diesen Erwartungen um, und sie suchten ihnen besser Rechnung zu tragen als ihre Gegner. Das blieb oft hinter einer altertümlichen Rhetorik verborgen, die viel von Volk bzw. popolo sprach, wenn sie ‚Nation‘ oder ‚Gesellschaft‘ meinte.8 Doch die Adressaten störten sich offensichtlich nicht an ­diesem politisch-­ sozialen Vokabular, das deutlich hinter der gesellschaftlichen Dynamik zurückblieb, ja sie begrüßten es sogar.9 Es muss noch einmal daran erinnert werden, dass die moderne Massengesellschaft mitten in der Klassengesellschaft entstand und daher in den zwanziger und dreißiger Jahren noch viele Züge jener trug. Dies betraf etwa Einkommensverteilung und Wohnverhältnisse ebenso wie Daseinsvorsorge oder Aufstiegschancen. Aber der Umbruch war nicht zu übersehen. Neu war erstens die Massierung politischer Erfahrungen, die es so und vor allem in dieser Häufung bisher niemals gegeben hatte.10 Neu war zweitens der 8 Das scheint besonders erstaunlich für den italienischen Faschismus, denn ein namhafter Teil von ihm wurzelte im revolutionären Syndikalismus. Den Weg von dort zum sozialen Nationalis­ mus hat aber schon Erwin von Beckerath, Das Wesen des fascistischen Staates, Berlin 1927, Abschn. IV und V, geschildert. Zuletzt und sehr kenntnisreich Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S. 98 ff. Zu ­Beckeraths Buch, der einflussreichsten zeitgenössischen Analyse, Wolfgang Schieder, Faschismus für Deutschland. Erwin von Beckerath und das Italien Mussolinis [1995]. In: Ders., Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 203 – 221. Die Antworten der deutschen Soziologie registriert Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 118 ff. 9 Dieses Problem war aber leicht zu beheben, wie man am Wortschatz deutscher Soziologen nachweisen kann, die vor und nach 1945 ihrem Metier nachgegangen sind. Entsprechend berechtigt ist die Vermutung, dass die Anfänge der sogenannten „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, von der man in den 1950ern zu sprechen begann, vor 1945 liegen. Vgl. Hans Braun, Helmut S­ chelskys Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ und die Bundesrepublik der 50er Jahre. In: AfS 29 (1989), S. 199 – 223. Ferner Nolte, Ordnung (wie Anm. 8), S. 330 ff. 10 Für die Zeit der Hyperinflation schrieb Sebastian Haffner, der damals 17 Jahre alt war, im Rückblick: „Wir hatten das große Kriegsspiel hinter uns, den Schock des Ausgangs, einen sehr desillusionierenden Lehrgang in Revolution und jetzt das tägliche Schauspiel des Zusammenbruchs aller Lebensregeln und des Bankrotts von Alter und Erfahrung. Wir hatten schon eine ganze Reihe widersprüchlicher Glauben durchgemacht“. Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 – 1933, Stuttgart, München 92001, S. 61. Haffner wird hier noch öfter direkt oder indirekt zitiert, weil kaum ein anderer Autor das Zeiterleben so dicht und zugleich so reflektiert zu Papier gebracht hat.

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Auftritt zweier Großgruppen, die bislang für ‚unmündig‘ gehalten worden waren: die Jugendlichen und die Frauen. Hier hatte man es nicht mit Klassen zu tun, so dass den politischen Repräsentanten einer Klassengesellschaft überzeugende Antworten auf ihre Forderungen fehlten. Sie begriffen auch nicht das dritte Merkmal sozialer Veränderungen, die zaghafte Individualisierung, die bisher ein Privileg bürgerlicher Lebensführung war und nur scheinbar im Gegensatz zur Massengesellschaft stand. Verlängerte Adoleszenz, zölibatäre Lebensführung, durch Moden gekennzeichnete Gruppenmerkmale und anderes, das den Wunsch nach Befreiung aus bisher allmächtigen Sozialisationsinstanzen erkennen lässt, kam zumindest in den Städten auf, wo nicht nur die Entfaltungsmöglichkeiten größer waren, sondern auch die Einkommensverteilung ihre hergebrachte Struktur verlor: hie Inflationsgeschädigte, da Bezieher regelmäßiger Einkommen, bei Beamten und Angestellten Verluste, bei Arbeitern Gewinne an Kaufkraft usw.11 Neu war viertens, dass eine wachsende Zahl von Menschen das herrschende politische und soziale System als unzeitgemäß grundsätzlich ablehnte, und neu waren schließlich fünftens die sich namentlich in den Städten rasch ausbreitenden Konsummuster, die die Moderne verhießen und Egalität versprachen. Diese Entwicklung war nicht zuletzt den modernen Massenmedien geschuldet, zunächst den Illustrierten und dem Stummfilm, dann nach 1930 dem Radio und dem Tonfilm.12 Den neuen Massenmedien verdankt auch der Sport seinen Aufstieg zum klassenübergreifenden Unterhaltungsgegenstand.13 Der mediale Einfluss kann schwerlich überschätzt werden, und im Widerstand dagegen waren sich die Gebildeten, die Frommen und die Funktionäre des Proletariats ausnahmsweise einig. − Diese Aufzählung ist natürlich nicht vollständig. Es genügt, wenn sie ein Gefühl dafür vermittelt, dass etwas ganz Neuartiges Einzug in die Gesellschaften der Zwischenkriegszeit hielt, auf das die traditionellen politischen Kräfte keine Antwort wussten. Mehr noch: Sie verloren für viele jegliche Glaubwürdigkeit.14

11 „Klassendünkel und Stehkragengesinnung waren einfach unmodern geworden“. Ebd., S. 78. 12 Kino und Radio erlebten den Durchbruch zum Massenmedium in Deutschland mitten in der Weltwirtschaftskrise. In Italien blieb der vergleichbare Effekt auf die Städte beschränkt und fand erst um 1935 statt. 13 Zum Sport als neuester Hervorbringung der Massenkultur, dem „Sportfimmel“, in den 20er Jahren Haffner, Geschichte (wie Anm. 10), S. 72 ff. Es ging da weniger um „körperliche Ertüchtigung“, die Hitler damals in „Mein Kampf“ exaltierte („Als ob es irgendeinem von uns auf die ‚körperliche Ertüchtigung‘ angekommen wäre!“ Ebd., S. 74), sondern um eine Form der Unterhaltung. Weil mit moderner Technik kombiniert, faszinierte kein anderer Sport in den 20er und 30er Jahren so sehr wie Autorennen. Dazu im Rückblick Victor Klemperer, LTI, Leipzig 151996, S. 10 (Heroismus). Die ersten, Mitte der 30er Jahre landesweit übertragenen Radiosendungen in I­ talien waren außer Ansprachen des Duce Fußballreportagen. 14 „‚Wir‘ aber hatten keine andere Partei, keine Fahne, der wir folgen konnten, und keinen Kampfruf. Wem hätten wir folgen sollen? Außer den Nazis, den Favoriten, gab es jene zivilisierten bürgerlichen Reaktionäre, die sich um den ‚Stahlhelm‘ sammelten, Leute, die sich etwas unklar für das ‚Fronterlebnis‘ und die ‚Scholle‘ begeisterten und zwar nicht die rasante Pöbelhaftigkeit der Nazis, aber durchaus ebenfalls ihre ganze ressentimentale Dumpfheit und inhärente Lebensfeindschaft

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Faschisten und Nationalsozialisten schienen aus anderem Holz geschnitzt und zeigten sich ebenso radikal wie jugendlich. Mussolini war bei seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten im Oktober 1922 39 Jahre alt, von den Quadrumvirn waren Italo Balbo 26, Cesare De Vecchi 38 und Michele Bianchi 39; nur Emilio De Bono, ein ehemaliger hoher Berufsoffizier, stand bereits im 56. Lebensjahr. Dafür zählte Dino Grandi gerade einmal 27 Jahre, während Ciano s­ päter mit 32 Propaganda- und mit 33 Jahren Außenminister wurde. Hitler war bei seiner Machtübernahme zwar schon 44 Jahre alt, aber der jüngste Regierungschef, den Deutschland bis dahin gehabt hatte. Seine wichtigsten Mitkämpfer waren noch jünger: 1933 zählte Göring 40 Jahre, ­Goebbels 35, Himmler 32. Das Gros der Führungsfiguren im Braun- oder Schwarzhemd repräsentierte keines­ falls die alte Klassengesellschaft. Sie waren vielmehr sozial Entwurzelte, und das machte sie politisch nur umso beweglicher. Und sie hatten, anders als die traditionellen Regierungseliten, vielfach Erfahrungen mit der Not gemacht. Götz Aly weist darauf hin, dass zu den ersten NS-Gesetzen ­solche gehörten, die die Rechte der Gläubiger zugunsten der Schuldner beschränkten, und er begründet dies damit, dass „viele NSDAP -­ Führer aus Verhältnissen entstammten, in denen sie selbst mit dem Gerichtsvollzieher Bekanntschaft gemacht hatten“.15 In Italien waren die Gehälter und sonstigen Bezüge der Staatsbediensteten schon frei von Pfändung, das Konkordat dehnte diese Regelung auch auf Geistliche aus. Jugend und Außenseiterposition erklären, weshalb kaum einer der Parteiführer zuvor eine andere Karriere hinter sich gebracht hatte. Mussolini war in dieser Hinsicht zwar die große Ausnahme, aber der Inbegriff eines Funktionärs der Arbeiterbewegung, selbst einer wie der italienischen, war er gewiss nicht. Leute ­dieses Schlags mussten sich daher zumeist nicht erst von frühen Sozialisationen oder Denkschulen lösen. Und sie führten auch ihre Mitarbeiter und Stäbe anders als herkömmliche Parteiführer. Die Nationalsozialisten, namentlich Hitler selbst, suchten dies nach der Machtübernahme auf die von ihnen verachteten Bürokratien auszudehnen. Dienst nach Vorschrift, Aktenreferat, Instanzenzug wurden so gut es ging zurückgedrängt und durch ein Prinzip ersetzt, das man als sozialdarwinistisches Konkurrenzideal bezeichnen könnte. Viele begrüßten die neue Bewegungsfreiheit und wussten sie auch zu ­nutzen. Belohnt wurden jedenfalls mehr als bisher Eigeninitiative und vorauseilender Gehorsam. „Es ist des Führers Wunsch …“ wurde zur Zauberformel für jeden, der sich durch Radikalität profilieren wollte. Es versteht sich, dass ­dieses Verfahren unkonventionelle Vorschläge und extreme Lösungen begünstigte. Mussolini stützte sich dagegen stärker auf die Ministerialbürokratie, gegen die Farinacci als Generalsekretär des PNF einen besaßen. Es gab die längst vor dem Kampf geschlagenen, vielfach blamierten Sozialdemokraten und es gab schließlich die Kommunisten mit ihrem sektiererischen Dogmatikerzug und dem Kometenschweif von Niederlage hinter sich“. Haffner, Geschichte (wie Anm. 10), S. 89 f. 15 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2005, S. 20.

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freilich vergeblichen Kampf führte. Die Radikalisierung vollzog sich deshalb in Italien noch stärker als in Deutschland außerhalb der Sphäre des traditionellen Staatsapparates. Damit sind einige Rahmenbedingungen umschrieben, die erklären sollen, weshalb für Faschismus und Nationalsozialismus neuartige politische Möglichkeiten bestanden und warum Projekte verfolgt wurden, die weder allein auf den diktatorischen C ­ harakter der Herrschaft zurückgeführt werden können noch ausschließlich verbrecherischen Zwecken dienten. Fraglos war das wichtigste Ziel der Eroberungskrieg. Aber um diesen erfolgreich führen zu können, musste unbedingt verhindert werden, dass sich Caporetto oder Dolchstoß wiederholten. Dafür sollte aus den unorganisierten ‚Massen‘ eine geschlossene Volksgemeinschaft gebildet werden, und es war klar, dass dies nicht nur durch faschistische Erziehung, militärische Ertüchtigung und rassische Auslese geschehen konnte, sondern auch durch Wohltaten. Dabei kam die für den Faschismus typische Kombination von Repression und Neuordnung zum Zuge, das heißt, die Zerschlagung der Arbeiterbewegung wurde begleitet vom Aufbau korporatistischer Organisationen, den Fördermaßnahmen für die Familie stand eine sich bis zur Verfolgung steigernde Ausgrenzung rassisch Unerwünschter gegenüber, zum Leistungslohn gehörte die Einweisung von Bummelanten und Arbeitsscheuen ins Arbeitserziehungslager et cetera. Der Faschismus wollte nichts weniger als eine – radikale – Reform der Gesellschaft, obgleich dieser Begriff nicht zu seinem Wortschatz gehörte. Er sprach stattdessen von Volkspolitik.16 Auch in dieser Hinsicht zeigte sich der Faschismus als Bestandteil der Moderne, allerdings in der für ihn typischen Brechung. Beides, Begriff und Sache, waren damals neu. Sie wurden in den zwanziger Jahren von jenen Kräften geprägt, die den herrschenden Kapitalismus wie manche Katholiken 17 und Sozialromantiker durch die wiederzubelebenden Stände überwinden wollten. Die Gesellschaft als ganzes durch staatliches Einwirken umzubauen, galt bislang als unvorstellbar. Mussolinis stato totalitario hat erstmals – sieht man von der Sowjetunion einmal ab − den Gedanken umfassender staatlicher Intervention in die Tat umzusetzen begonnen, und sein (angeblich) vollständiger Umbau der Wirtschaftsordnung in Gestalt des Korporativismus erregte namentlich in Deutschland nicht nur das Interesse der Fachleute.18 Neu war auch das Plädoyer von sozial denkenden Katholiken 16 Dazu gehören nach Theodor Geiger „alle Maßnahmen […], die bewußt einer Steuerung und Veränderung der volklichen Lebensordnung und des Volksaufbaus dienen“. Brief an Hans Speier v. 21. 8. 1933. Abgedr. in: Hans Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus [1933], Göttingen 1977, S. 163. Geiger hat die sprachliche Anpassung nichts genützt, er musste bereits einen Monat ­später ins Exil; Speier war schon dort. 17 Die lehramtliche Sanktionierung erfolgte in der Enzyklika Quadragesimo anno von 1931. Zum Begrifflichen Christof Dipper, Sozialreform. Geschichte eines umstrittenen Begriffs. In: AfS 32 (1992), S. 347 f. 18 Die Faszination des italienischen Faschismus namentlich in Deutschland untersuchen Jens Petersen, Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik. Einige deutsche Interpretationen. In: QFIAB 55/56 (1976), S. 315 – 360, sowie Wolfgang Schieder, Das italienische

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und Ständeromantikern für den Einsatz des Staats zum Schutze der Familie als dessen Urzelle.19 Für die Faschisten führte der Weg zur Gesellschaftsreform gleichfalls über die Familie, deren drohenden Untergang die Eugeniker aller Richtungen und Länder schon seit der Jahrhundertwende beklagten. Das Ziel faschistischer Familienpolitik war die Steigerung der Geburten und folglich auch der Eheschließungen, ein anderes die biologische ‚Qualitätssteigerung‘ des Nachwuchses und ein drittes schließlich die finanzielle Entlastung beziehungsweise Förderung der Familie. Die Faschisten hatten jedoch kein Monopol auf diese ­Themen, die von San Francisco bis Stockholm disku­ tiert wurden.20 Faschistisch war dagegen wie so oft die Praxis. Beispiele für gesellschaftspolitische Interventionsversuche Familien und Frauen Italien war der Vorreiter und demonstrierte als erstes Land, dass faschistische Wohlfahrtspolitik Auswanderungs-, Ernährungs-, Familien-, Frauen- und ab 1936/38 schließlich auch die Rassenfrage als Einheit betrachtete. Unterstützende und repressive Strategien gehörten daher zusammen. Noch vor der von Mussolini am Himmelfahrtstag 1927 verkündeten battaglia demografica 21 gründete man die Opera Nazionale Maternità ed Infanzia.22 ONMI war eine halbstaatliche Behörde zur Unterstützung vor allem der Schwangeren, Wöchnerinnen und Neugeborenen sowie der Kinder bis zu drei ­Jahren; sie betrieb aber auch Vaterschaftsklagen und sollte Minderjährige – etwa bei Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik [1996]. In: Ders., Faschistische Diktaturen (wie Anm. 8), S. 149 – 184. 19 Es gibt daneben noch die andere Tradition, in der Demokratie und Big Business zusammen­fanden und früher als in Italien oder Deutschland zu Regelungen gelangten. Dazu Susan Pedersen, Family, Dependence, and the Origins of the Welfare State. Britain and France 1914 – 1945, Cambridge 21995. 20 Zu San Francisco s. Christina Cogdell, Eugenic Design. Streamlining America in the 1930s, Phila­ delphia 2004. Die Unterstützung der Rockefeller-­Stiftung für das KWI – Institut für Anthropologische Forschung und andere Forschungsinstitute bis 1940 belegt Edwin Black, War Against the Weak. Eugenics and America’s Campaign to Create a Master Race, New York, London 2003. Skandinavien vor und nach dem Zweiten Weltkrieg behandeln Gunnar Broberg / Nils ­­Roll-­ Hansen (Hg.), Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway and Finland, East Lansing/Mich. 1996. 21 Die sogenannte Himmelfahrtsrede hielt Mussolini in Wirklichkeit am 26. 3. 1927 in der Kammer. Text in: Benito Mussolini, Opera omnia, hg. v. Edoardo u. Duilio Susmel, Bd. 22, Florenz 1957, S.  2 f. 22 Das Folgende nach Chiara Saraceno, Redefining Maternity and Paternity. Gender, Pronatalism and Social Policies in Fascist Italy. In: Gisela Bock / Pat Thane (Hg.), Maternity and Gender Policies. Women and the Rise of the European Welfare States, 1880s–1950s, London, New York 1991, S. 196 – 212. Zur Einordnung insgesamt Victoria de Grazia, Die Radikalisierung der Bevölkerungspolitik im faschistischen Italien. Mussolinis „Rassenstaat“. In: GG 25 (2000), S. 219 – 254.

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der Stellensuche − unterstützen. Zum ersten Mal kümmerte sich der Staat und nicht die Kommunen (wie in dem in England entwickelten und auch von Deutschland übernommenen Modell der Fürsorge) um die Familien, was vor allem auf dem Lande einen Durchbruch bedeutete, wo zusätzlich von der Frauenorganisation des PNF ausgewählte ambulante visitatrici − junge Frauen aus der Mittel- und Oberschicht − Kinderpflege und allgemeine hygienische Standards unterrichteten. Auch wenn faktisch die Mehrzahl der bedürftigen Italienerinnen nicht in den Genuss der versprochenen materiellen Leistungen kam und die Kindersterblichkeit hoch blieb, bedeutete die ONMI in zweifacher Hinsicht eine Errungenschaft, da nicht nur die Familien als ­solche Zugang zu neuen Leistungen erhielten, sondern weil die Wohltaten, im Gegensatz zur überall sonst praktizierten Regel, den Frauen und Kindern direkt zugute kamen und nicht über die Familienväter vermittelt wurden. Daran hielt das Land auch nach dem Ende des Faschismus fest, und so existierte ­dieses System bis zu den großen wohlfahrtsstaatlichen Reformen der siebziger Jahre. Die vom Staat 1927 dekretierte zehnprozentige Lohnkürzung bedrohte das bevölkerungspolitische Projekt. Der Staat hielt es daher für geraten, kinderreichen Familien, also solchen mit mehr als zehn Kindern, unter die Arme zu greifen. Diese Unterstützung der Familienväter wurde mit der kurz zuvor eingeführten Sondersteuer für ledige Männer finanziert.23 Zwei Jahre s­ päter dehnte die Regierung den seit 1911 existierenden, aber auf wenige Berufskategorien beschränkten Mutterschutz 24 auf alle bedürftigen berufstätigen Arbeiterinnen aus. Wirksamer noch war sein gleichzeitiger Auftrag an die ONMI, für die Erholung bedürftiger Kinder zu sorgen. Binnen kurzem überzog das Hilfswerk die Halbinsel mit Ferienkolonien in den Bergen und am Meer, die zu einem großen Teil bis heute existieren.

23 Geistliche waren befreit. Die in der Folge mehrfach erhöhte Sondersteuer erlaubte erstmals direkte Transferleistungen im Sozialbereich. 1939 erbrachte sie 230 Millionen Lire, während der Staat an Heirats- und Geburtszuschüssen, Darlehen und Steuerabschlägen 260 Millionen aufwenden musste (vgl. Saraceno, Redefining. In: Bock / Thane [Hg.], Maternity [wie Anm. 22], S. 204) Diese Novität hatte allerdings die unbeabsichtigte Folge, dass sie mitverdienende Söhne zwang, die Heirat hinauszuschieben, weil sie die Sparmöglichkeiten empfindlich einschränkte. Die Zahl steuerpflichtiger Lediger stieg „zwischen 1927 und 1939 von ca. 0,8 Mio. auf ca. 1,3 Mio.“; Dietrich von Delhaes-­Guenther, Die Bevölkerungspolitik des Faschismus. In: QFIAB 59 (1979), S. 392 – 420, hier S. 397. Hier finden sich auch weitere Zahlen zum Saldo aus Ledigensteuer und familienpolitischen Zusatzausgaben. 24 Trägerin war die sich aus Arbeitgeber- und Arbeiterinnenbeiträgen sowie geringen Staatsszuschüssen speisende Cassa Nazionale di Maternità für Fabrikarbeiterinnen. 1907 waren die Reispflückerinnen, 1917 die Telefonistinnen hinzugekommen, eine Anerkennung des weiblichen Kriegseinsatzes. Versichert waren 4 Wochen Verdienstausfall sowie die Kosten für Geburt oder Fehlgeburt. Seit 1917 hatten Frauen auch Zutritt in den Verwaltungsrat, lange vor der Einführung des Wahlrechts für Frauen. Näheres bei Annamarita Buttafuoco, Motherhood as a Political Strategy. The Role of the Italian Women’s Movement in the Creation of the Cassa Nazionale di Maternità. In: Bock / Thane (Hg.), Maternity (wie Anm. 22), S. 178 – 195.

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Weil es dem Faschismus um die Steigerung der Geburtenrate ging, vertrugen sich diese Wohltaten seiner Meinung nach mit der gleichzeitigen Propagandawelle gegen Frauenarbeit, der sich der Papst 1930 mit seiner Enzyklika Casti connubii anschloss. Dass neue drastische Lohnkürzungen, die zum Januar 1931 wirksam wurden, den freiwilligen Rückzug der Frauen aus dem Berufsleben utopisch machten, konnte unter den herrschenden politischen Bedingungen nicht diskutiert werden. Auch war der Widerspruch ­zwischen Parteiprogramm und politischer Praxis mit der Festlegung von Beschäftigungsquoten von Frauen im öffentlichen Dienst nicht aus der Welt zu schaffen, beruhigte aber die Staatsangestellten und Lehrer, w ­ elche die weibliche Konkurrenz am meisten fürchteten.25 Über diese Gruppen ergoss sich auch die Masse der nach und nach eingeführten Familienvergünstigungen, unter ihnen die 1934 dekretierten assegni familiari, die als Direktzahlungen an die Familienvorstände wiederum an die Männer adressiert waren. Zusätzlich steigerten die Faschisten die Diskriminierung von Frauen 1927 durch eine Verordnung, die die Spreizung der Löhne z­ wischen den Geschlechtern verschärfte. Die Fasci femminili, von Ausnahmen abgesehen 26 politisch ohne Einfluss, hatten gegen diese Maßnahmen umso weniger einzuwenden, als sich in ihnen bis Mitte der dreißiger Jahre fast nur Frauen der Mittel- und Oberschicht organisierten, für die Lohnarbeit nicht in Frage kam. Ihre Lebensentwürfe waren, zumindest schien es so, ganz auf ihre reproduktive Funktion festgelegt. Ein modernes Weiblichkeitsmodell war allenfalls in Jugendorganisationen der Partei zu finden, von denen sich viele an den Turnlehrerinnen der 1932 gegründeten Akademie von Orvieto ein Beispiel nahmen. Die Accademiste repräsentierten ein Frauenbild, das offizielle Propaganda und ­Kirche als dekadent und westlich verpönten, das man aber in jedem Film, nicht nur aus Hollywood, zu sehen bekam: dezent muskulös, schlank, gepflegt.27 Diese Minderheit war auch weniger im Visier italienischer Erbgesundheitsspezialisten als die viel zahlreicheren Frauen aus ärmeren Schichten, die sie einer strikten Kontrolle (gegen Abtreibung) und Erziehung (zum besseren Umgang mit hauswirtschaftlichen Nöten und magerer Unterstützung) unterwarfen. Alle diese Beispiele zeigen, dass der italienische Faschismus entgegen seinen familien­ politischen Beteuerungen die überlieferte Klassengesellschaft kaum veränderte. Die von Mussolini ausgegebene Parole le donne a casa änderte, abgesehen vom öffentlichen 25 Das im September 1938 verabschiedete Gesetz wurde bereits 1940 wegen des Krieges wieder aufgehoben. 1933 hatte man bereits Frauen aus Ämtern mit Hoheitsbefugnissen entfernt. 1919 war ein solcher Vorstoß im Parlament gescheitert. 26 Zum Engagement der Faschistinnen gegen die Sanktionen des Völkerbunds vgl. Petra ­Terhoeven, Liebespfand fürs Vaterland. Krieg, Geschlecht und faschistische Nation in der italienischen Goldund Eheringsammlung 1935/36, Tübingen 2003. 27 Mehr dazu (samt vielen Fotografien aus dem Besitz der Leiterin Elisa Lombardi) bei Lucia Motti / Marilena Rossi Caponeri (Hg.), Accademiste a Orvieto. Donne ed educazione fisica nell’Italia fascista 1932 – 43, Ponte San Giovanni 1996. Gigliola Goti, Italian Fascism and the Female Body. Sport, Submissive Women and String Mothers, London, New York 2004.

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Dienst, kaum etwas am Ausmaß weiblicher Berufsarbeit, weil die einen sowieso keinem Broterwerb nachgingen und die anderen sich nicht leisten konnten, diesen aufzugeben. Im Gegenteil, es wurde für Unternehmen nach den 1927 verordneten Lohnspreizungen nur attraktiver, Frauen zu beschäftigen − auf Kosten der Männer. Als die italienische Politik deshalb Anfang 1937 den Fehlschlag aller populationistischen Maßnahmen feststellen musste 28 − und das im Augenblick, als das gerade ausgerufene Impero kolonisiert werden sollte −, reagierte sie mit einer ganzen Serie institutioneller und wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen. Im Februar erhielten die Staatsbediensteten Sonderurlaub für Heirat und Gehaltszulage schon für die Geburt des ersten Sohnes. Im März wurden die Familienbeihilfen auf Handel, Banken und vor allem Landwirtschaft ausgedehnt. Lohn- und Rentenerhöhungen folgten im Juni. Im August schließlich führte die Regierung Ehestandsdarlehen nach deutschem Muster ein: Wer jünger als 26 Jahre war, heiratete und nicht mehr als 12.000 Lire jährlich verdiente, bekam einen zinslosen Kredit (zwischen 1.000 und 3.000 Lire, das Vierfache durchschnittlicher Arbeiterlöhne pro Monat) mit geringer Rückzahlungspflicht; für jedes Kind erhielten die Paare nebst Zahlungsaufschub einen (steigenden) Nachlass.29 Jedes sechste Hochzeitspaar machte von dem Kredit Gebrauch.30 Wie sich diese Maßnahme mittelfristig ausgewirkt hätte, lässt sich nicht sagen, da sich mit der Entfesselung des Zeiten Weltkriegs die Rahmenbedingungen grundlegend verschoben. Bis 1939 jedenfalls waren mehr Heiraten und Geburten zu verzeichnen, und auch 1940 lagen beide Kennziffern noch über denen von 1937. Am negativen Gesamttrend änderte sich freilich nichts.31 Im Staatsdienst wurden von ­diesem Jahr an nur noch Verheiratete befördert, was die Entschlossenheit der pronatalistischen Politik ebenso beweist wie das 1939 anstelle der bisherigen Fördermaßnahmen eingeführte allgemeine Kindergeld. Wie schon die Bezeichnung premio di natalità verrät, war ­dieses nicht für werdende Mütter gedacht, sondern für lebend geborene Kinder; die Zahlungen stiegen mit jedem Kind. Unter den institutionellen Maßnahmen ist die Gründung des Demographischen Zentralamts (Unione Centrale Demografica) im Jahr 1937 die wichtigste, da so Bevölkerungswissenschaftler in politische Schaltstellen kamen. Die einflussreichsten unter ihnen hatten inzwischen freilich die populationistische Wohlfahrts- mit der Rassen­politik vertauscht, und schon 1938 bekam das Amt als Direzione generale della

28 1936 erreichte die Geburtenrate mit 22,4 pro 1.000 Einwohnern den bis dahin tiefsten Stand in der ‚faschistischen Ära‘. Sie stieg dann bis 1940 leicht an (23,4), um während des Krieges drastisch abzufallen. Peter Flora / Franz Kraus / Winfried Pfennig, State, Economy, and Society in ­Western Europe 1815 – 1975. A Data Handbook, Bd. 2, Frankfurt, London, Chicago 1987, S. 63. 29 Wer keine Kinder bekam, hatte höhere Rückzahlungen zu leisten. 30 Martina Salvante, I prestiti matrimoniali. Una misura pronatalista nella Germania nazista e nell’Italia fascista. In: Passato e Presente 60 (2003), S. 55, Tab. 2. 31 Dass die italienische Bevölkerung deutlich wuchs, lag an der stark zurückgehenden Auswande­ rung, nicht an der faschistischen Geburtenförderung.

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demografia e razza einen neuen Zuschnitt.32 Eine rassistische Komponente hatte die italienische Familienpolitik allerdings bereits 1936 im Kolonialreich erlangt, wo unter lautstarker Zustimmung der faschistischen wie der ungleich größeren katholischen Frauenverbände die Apartheid eingeführt wurde.33 Diese Politik erfuhr 1938 mit der Entrechtung der jüdischen Minderheit im Mutterland ihre Fortsetzung. Wer jedoch in Italien lebte und nicht ‚jüdisch versippt‘ war − und das galt für nahezu hundert Prozent der Bevölkerung −, blieb von rassenpolitischen Repressionsmaßnahmen verschont, denn eine Politik der Zwangssterilisation lehnte Mussolini ab, von der Ermordung Kranker ganz zu schweigen. Wenn die Italiener über die Familienpolitik des Faschismus keine Begeisterung erkennen ließen, so lag das daran, dass sie sie als Versuch durchschauten, ihre verschlechterte Einkommenslage zu kompensieren. Damit kam das Regime − vom öffentlichen Dienst einmal abgesehen – nicht weit, wie sich schon vor dem Krieg und erst recht nach 1939/40 zeigte. Die für eine Gesellschaft wie die italienische eminent modernen familienpolitischen Maßnahmen trugen daher zu dem für das Regime lebensnotwendigen Konsens weitaus weniger bei als erhofft. Dies wurde allerdings durch den Umstand relativiert, dass sie im großen und ganzen das katholische Familienbild nicht in Frage stellten,34 und dies wiederum erklärt ihr Fortleben nach dem Ende des Faschismus. Die Nationalsozialisten setzen die Akzente ihrer demographischen Politik deutlich anders. Die Erbgesundheit war ihnen entschieden wichtiger und der Rassismus begleitete ihre Politik von Anfang an. Deshalb waren sie zu aktiver Unterstützung der Familien bereit und legten außerehelicher Zeugung keine Steine in den Weg, verhinderten aber gewaltsam unerwünschte Geburten. Das bedeutete einen deutlich höheren Grad an Frauenfeindlichkeit als in Italien, und insoweit kann man von einem regelrechten Antinatalismus sprechen, obgleich natürlich die Propaganda genau das Gegenteil verkündete.35 Dafür fehlte vollständig − und das hatte enorme Auswirkungen auf den Konsens gegenüber dem Regime − die Armenfeindlichkeit.36 Insgesamt brachten 32 Das Amt fand demgemäß in der RSI seine Fortsetzung. 33 Im internationalen Vergleich war Italien auch auf ­diesem Feld Nachzügler. Andere Kolonialstaaten benötigten zu Rassentrennung und Eheverboten keinen Faschismus, der, was Italien betrifft, folglich selbst auf ­diesem Gebiet als erfolgreicher Bekämpfer der ‚Rückständigkeit‘ auftrat. Näheres bei Gabriele Schneider, Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien, Köln 2000. 34 Ebensowenig wie eugenische Eingriffe in das Leben kam für den italienischen Faschismus eine Politik der Kinderzeugung außerhalb der Ehe in Frage. Mit dem Katholizismus traf sich der Faschismus auch im Familienbild asymmetrischer Mann-­Frau-­Beziehungen und dem alleinverdienenden Familienvater im Mittelpunkt, aber das war letztlich ein gemeineuropäisches bürgerliches Modell aus dem 19. Jahrhundert. 35 Vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, Münster 22010. 36 Sie betraf in Deutschland nur Randgruppen wie Alkoholiker, das sogenannte Verbrechermilieu, Prostituierte und natürlich die sogenannten Asozialen, also Personen, die von der Masse der

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die nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Wohlfahrtspolitiker eine weltweit einmalige Kombination von Rassismus und Familienpolitik hervor,37 die darum nach 1945 keinerlei Chancen auf Fortsetzung hatte. Frauenarbeit war natürlich auch in Deutschland nicht wenigen Männern unwillkommen. Vor allem die Arbeitslosen lehnten sie ab, unter denen sich überdurchschnittlich viele Mitglieder der NSDAP befanden. Dennoch entschieden Partei und Regierung schon im Herbst 1933, keine direkten Maßnahmen zu ergreifen, auch nicht gegen verheiratete Frauen, die der noch stärkerer Kritik ausgesetzten Kategorie der Doppelverdiener angehörten.38 Die Nationalsozialisten wählten stattdessen einen Umweg, der sie mehreren vordringlichen Zielen auf einmal nahebringen sollte. Im Vergleich zum Italien Mussolinis setzten sie die Akzente also anders und hatten hierin unbestritten Erfolg. Schon im Sommer 1933 leiteten sie eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Wende ein. Sie verknüpften die Beseitigung der Arbeitslosigkeit mit einem Konjunkturprogramm für die Möbelbranche und mit Geburtenförderung im Zeichen ­­ von „Erbgesundheit“ und „Rassenpflege“. Ehestandsdarlehen bekam ein Paar nämlich nur, wenn die Frau nach der Hochzeit ihren Beruf aufgab. Sie betrugen im Durchschnitt das Vier- bis Fünffache eines Arbeitermonatslohnes, also nicht eben wenig.39 Hinzu kamen Einrichtungszuschüsse in Gestalt von Warengutscheinen.40 Diese beträchtlichen Zuwendungen brauchte nicht zurückzuzahlen, wer Kinder bekam. Das aber war nur denen erlaubt, die die Gesundheitsprüfungen des fast gleichzeitig erlassenen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erfolgreich bestanden.41 Wirklich bedroht musste sich davon nur eine Minderheit fühlen,42 die Mehrheit der Bevölkerung stimmte nach allem, was

Deutschen objektiv wie subjektiv deutlich geschieden waren. Das erleichterte den Nationalsozialisten die Repression ungemein. Vergleichbares galt für die Zigeuner. 37 Vgl. Gisela Bock, Antinatalism, Maternity and Paternity in National Socialist Racism. In: Dies. / Thane (Hg.), Maternity (wie Anm. 22), S. 246. Einblick in die Alltagsprobleme, die diese Politik bei Müttern, Kindern und Behörden verursachte, bietet Michelle Mouton, From Nurturing the Nation to Purifying the Volk. Weimar and Nazi Family Policy 1918 – 1945, Washington D. C., London 2007. 38 Dörte Winkler, Frauenarbeit im „Dritten Reich“, Hamburg 1977, S. 45. 39 Auch in Italien hatten die Darlehen diese Höhe, nur besaß zu ihnen die Masse der Bevölkerung in der Praxis keinen Zugang. In Deutschland nahmen dagegen ca. 40 % der Paare das Ehestandsdarlehen in Anspruch. Vgl. Salvante, Prestiti (wie Anm. 30), Tab. 2. 40 Mit den Bedarfsdeckungsscheinen konnten die Handwerksbetriebe ihre Steuerschulden aus der Weimarer Zeit begleichen; das kam dem Dritten Reich also doppelt zugute. 41 Ab 1935 mussten alle Heiratswilligen eine Gesundheitsprüfung vornehmen lassen. 42 Gisela Bock, Gleichheit und Differenz in der nationalsozialistischen Rassenpolitik. In: GG 19 (1993), S. 287, spricht von 400.000 Sterilisationsopfern, ungefähr je zur Hälfte Männer und Frauen. So ungeheuerlich diese Zahl ist, die Erwartungen der NS-Führung lag um ein Vielfaches höher. Reichsinnenminister Frick sprach 1933 von 20 % der Bevölkerung, die als unerwünscht in Bezug auf ­Mutter- oder Vaterschaft galten; das wären etwa 12 Millionen Menschen gewesen. Ebd., S. 294.

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wir wissen,43 dieser Kontrollmaßnahme zu. Zur Finanzierung des Programms wurde nach italienischem Vorbild als Solidaritätsbeitrag eine Ledigensteuer erhoben, die in der Folge einen steigenden Anteil der Kosten einbrachte, nachdem die Regierung wegen der großen Nachfrage die Höhe der Darlehen auf 800 RM begrenzt hatte. Von Erfolg zu sprechen, verlangt Differenzierung. Die Frauenarbeit nahm nicht ab, denn die ausscheidenden Heiratswilligen wurden von Unverheirateten mehr als ersetzt; ab 1937 musste die Frau ihren Beruf dafür nicht mehr aufgeben. Die Darlehen wurden über die Maßen nachgefragt, vor allem von einfachen Leuten: 1938 machten Hausgehilfinnen und Fabrikarbeiter drei Viertel der Begünstigten aus.44 Die Heiraten nahmen zu, und das staatliche Geld war ein willkommenes Zubrot, das aber vor allem in den Städten durch die hohen Mieten rasch aufgezehrt wurde. Die Geburtenziffern stiegen zwar leicht,45 enttäuschten die Bevölkerungspolitiker jedoch, zumal die Zahl der Kinder pro Ehepaar weiterhin sank.46 Die Arbeitslosigkeit ging natürlich vor allem dank anderer Ursachen zurück. Das repressive Begleitprogramm − rigoroses Abtreibungsverbot, eventuelle Zwangssterilisation, Ausschluss der Juden von Ehestandsdarlehen und anderen Vergünstigungen − erreichte nur selten den Alltag der gewöhnlichen ‚Volksgenossen‘. Während sich also die Wohltaten potentiell über so gut wie alle Deutschen ergießen konnten, spürten die Nachteile vornehmlich soziale und ethnische Minderheiten. Das galt naturgemäß auch für die übrigen familienpolitischen Hilfen, die ansonsten selbst bei kritischer Würdigung durchaus den Vergleich mit demokratischen Staaten der damaligen Zeit aushalten.47 Nach italienischem Vorbild entstand 1934 das Hilfswerk ­Mutter und Kind zur Unterstützung und Betreuung bedürftiger Familien, die den rassischen Kriterien des Regimes entsprachen. Im selben Jahr bescherte eine Einkommensteuerreform Freibeträge für Verheiratete und Kinder, die, wie in solchen Fällen üblich, in erster Linie den Besserverdienenden zugute kamen (was man auch daran sieht, dass für Hausgehilfinnen ebenfalls Freibeträge gewährt wurden). Kindergeld ab 43 Die Forschung konnte nachweisen, dass sozialdarwinistische und eugenische Lehren in der Weimarer Zeit eine erhebliche Zahl von Anhängern gefunden hatten. Belege aus zeitgenössischen Texten selbst kirchengebundener Autoren bei Jochen-­Christoph K ­ aiser / Kurt Nowak / Michael Schwartz, Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland 1895 – 1945. Eine Dokumentation, Berlin 1995, Kap. B. Eugenik hatte damals wenig mit Rechtsradikalismus zu tun, auch auf der Linken traten international viele für sie ein, weil sie die Hoffnung der Moderne auf Verbesserung des menschlichen Erbguts zu erfüllen schien. 44 Errechnet nach Salvante, Prestiti (wie Anm. 30), Tab. 1. 45 Flora / Kraus / Pfennig, State (wie Anm. 28), Bd. 2, S. 57. 46 SS-Angehörige, die Parteielite und Ärzte (der Berufsstand mit dem höchsten Anteil von Parteimitgliedern) zeugten sogar besonders wenig Nachwuchs. Von den Funktionären der Partei, die ­zwischen 1933 und 1937 geheiratet hatten, waren 1942 18 % kinderlos, 42 % hatten nur ein Kind, 29 % zwei Kinder. Das von NS-Demographen verkündete Ziel von vier Kindern erreichte so gut wie keines dieser Paare: Bock, Antinatalism (wie Anm. 37), S. 246. 47 So Bock. Ebd., S. 233.

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dem fünften Kind führte das Reich zum Januar 1936 ein, ab dem vierten ein Jahr s­ päter, selbstredend nur dann, wenn die Eltern politisch und rassisch „einwandfrei“ waren. 1937 änderte man die Beamten- und Lehrerbesoldung „zur Förderung der Frühehe“, 1938 führte man Ausbildungsbeihilfen für Begabte aus kinderreichen Familien ein. Ebenfalls seit 1938 gab es nach französischem, bereits 1920 eingeführten Vorbild das Mutterkreuz; der geplante Ehrensold für die Ordensträgerinnen konnte wegen knapper Kassen jedoch nicht gezahlt werden. Das mochte verschmerzen, wer in einer Gemeinde wohnte, die Kinderreichen Mietbeihilfen zahlte und die Gebühren für Gas, Wasser und Strom senkte, oder Mitglied einer berufsständischen Krankenkasse war, von denen einige schon für das erste Kind Beihilfen zahlten.48 Dass wie in Italien und Spanien sämtliche Gelder in die Taschen der Verdienenden, also der Väter flossen,49 unterscheidet diese Politik klar von derjenigen in Deutschlands demokratischen Nachbarstaaten, und dies war keineswegs Zufall. Vielmehr verlangten Parteifunktionäre unentwegt die „selbstlose“ Mutterliebe und lehnten eine Belohnung für Mutterschaft ausdrücklich ab.50 Andererseits belohnte der Nationalsozialismus werdende Mütter, wie überhaupt Mütter, mehr als jeder andere Staat, wenn es um das Thema ‚Frau am Arbeitsplatz‘ ging. Vor allem bei der Arbeitskräftemobilisierung im Krieg wurde die NS-Führung Opfer ihrer Weltanschauung (Hitler und Goebbels setzten sich immer wieder gegen Göring, Ley, Speer und andere durch), indem sie Frauen von der 1939 angeordneten Dienstverpflichtung befreite − sofern sie Mütter waren und nicht schon bisher arbeiteten oder sofern sie schwanger wurden. Das ging zunächst auf Kosten derer, die sich den Rückzug vom Arbeitsplatz als schlecht bezahlte Arbeitskräfte oder unbezahlte mithelfende Familienangehörige nicht leisten konnten, ­später, als die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt noch dramatischer wurden, auf Kosten weiblicher Zwangsarbeiter. Dies und der Umstand, dass es nicht um die Frauen, sondern um volkswirtschaftliche Erfordernisse ging, lässt die exzeptionelle Ausweitung des Mutterschutzgesetzes von 1927 im Frühjahr 1942 „in einem fragwürdigen Licht erscheinen“.51 Die weltweit einmaligen Schutzbestimmungen sahen jetzt den vollen

48 Diese und viele weitere Maßnahmen sind aufgelistet bei Karin Magnussen, Rassen- und bevölkerungspolitisches Rüstzeug. Zahlen, Gesetze und Verordnungen, München, Berlin 21939. Als Mitarbeiterin des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP machte die Autorin unentwegt auf den Zusammenhang von Rassen- und Wohlfahrtspolitik aufmerksam. Die gelernte Biologin arbeitete ab 1934 mit Verschuer und Mengele (auf dem Gebiet der Augenfarbe) zusammen − und unterrichtete ab 1950 als Biologielehrerin in Bremen. 49 Anders als dort aber erhielten alleinerziehende Mütter Kindergeld nur, sofern der Vater den Behörden bekannt war. Und erst recht war es eine deutsche Besonderheit, dass ledige Mütter mit mehr als einem Kind die Zwangssterilisierung riskierten. 50 Ein beispielhaftes Zitat des Chefs der NS-Volkswohlfahrt, Erich Hilgenfeldt, bei Bock, Gleichheit und Differenz (wie Anm. 42), S. 295. Das Zitat auch bei Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 35), S. 174. 51 Winkler, Frauenarbeit (wie Anm. 38), S. 157.

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Lohnersatz während 12 Wochen vor, garantierten den Arbeitsplatz bis vier Monate nach der Entbindung, führten zur Einrichtung von Stillstuben, Säuglingskrippen und Kinderhorten in vielen Betrieben und schlossen erstmals auch die Arbeitskräfte in der Land- und Hauswirtschaft ein. Die von Ley gewünschte Ausdehnung auf alle Frauen, die dann ein ganz anderes, mit den Traditionen deutscher Sozialpolitik brechendes Gesetz nötig gemacht hätte, scheiterte am Widerstand der deutschnationalen Fachleute des Reichsarbeitsministeriums und des OKW. Hitler, Ley und sein sozialpolitischer Planungsstab entwarfen deshalb für die Zeit nach dem Kriege ein System der Volksversicherung, das im Hinblick auf die Leistungen den Vergleich mit dem sogenannten Beveridge-­Plan von 1942 nicht zu fürchten brauchte, umso mehr jedoch, was Finanzierung, weltanschauliche Motivation und rassistische Grundierung betraf. Gleichwohl ist mit Ute Frevert festzuhalten, dass „die meisten Frauen […] keinen Grund“ hatten, die NS-Zeit als „Erniedrigung und Rückschritt zu empfinden“ − vorausgesetzt sie entsprachen „den rassischen Gütekriterien des Nationalsozialismus“.52 Sie sahen wohl auch deshalb keinen Grund zur Klage, weil ihnen kein politisches System zuvor auch nur annähernd so viel öffentlichen Raum gewährt hatte. Politisch spielten sie zwar eine viel marginalere Rolle als noch in der Weimarer Republik, aber das konnten sie mit anderen Funktionen und Möglichkeiten kompensieren, die hier außer Betracht bleiben müssen.53 Mittelstand Eine weitere Gruppe, die der Faschismus mittels einer beispiellosen Politik der Anerkennung und Förderung bedachte, war die, die man ganz unzureichend als ‚Mittelstand‘, besser aber als middle classes oder classi medie umschreibt.54 Auch hier machte der italienische Faschismus den Anfang. 52 Ute Frevert, Frauen. In: Wolfgang Benz / Hermann Graml / Hermann Weiß (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, S. 233. 53 Näheres dazu bei Gudrun Brockhaus, Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot, München 1997, Kap. 5. 54 Wer zu diesen zählt, unterscheidet sich von Land zu Land. Die Tradition der italienischen Statistik will es, dass dort die classi medie als besonders umfangreich gelten. Unabhängig davon, ob das stimmt, ist eine ­solche Vorstellung natürlich ein Politikum. Der mit Abstand einflussreichste italienische Sozialstatistiker, Paolo Sylos Labini, hat die Zunahme der classi medie zu einem der Schwerpunkte seiner jahrzehntelangen Forschungstätigkeit gemacht und ihnen, gemessen an der deutschen Praxis, einen überproportionalen Anteil an der Gesamtbevölkerung verschafft. Ihm zufolge umfassten sie gemäß der Volkszählung 1921 nicht weniger als 53,3 %, 1936 54,8 %; den Freien Berufen, die er nicht dazurechnet, gehörten 0,7 % bzw. 0,5 % der Beschäftigten an (Paolo Sylos Labini, Saggio sulle classi sociali, Rom, Bari 71976, Tab.  1.2.) Hans-­Ulrich Wehler repräsentiert die in Deutschland geläufige Ansicht, derzufolge der Mittelstand „zwischen 1918 und 1933 zusammen gute 20 % der Erwerbstätigen“ ausgemacht habe, also weniger als die Hälfte im Vergleich zu Italien (Wehler, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 1), Bd. 4, München 2003, S. 299). Hierunter sind weder die Beamten noch die Militärs, die Geistlichen und vor allem nicht die Bauern erfasst. Diese Zahl weicht deshalb von der berühmten zeitgenössischen Untersuchung Theodor Geigers aus dem Jahre 1932 ab, der den Mittelstand anders berechnete und bei

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Die These, dass die Faschisten in beiden Ländern durch orientierungslose und radikalisierte Kleinbürger an die Macht gekommen ­seien, ist trotzdem längst widerlegt. Etwas anderes ist es festzustellen, dass in Italien alter und neuer Mittelstand, vor allem aber die Exponenten der Kriegsheimkehrer, der akademischen Jugend und der Freien Berufe nach dem E ­ rsten Weltkrieg durchaus berechtigte Forderungen artikulierten, die sich niemand außer den Faschisten zu eigen machte. Weder der parlamentarische Liberalismus noch die marxistisch gewordene Arbeiterbewegung hatten überzeugende Antworten, wie die Nachkriegsordnung aussehen könne, wie die prekäre Lage der kleinen Selbständigen und der meisten Akademiker zu verbessern und das erschütterte nationale Selbstvertrauen zu heben sei; ihre Rezepte stammten ausnahmslos aus der Vorkriegsära. Dem politischen Katholizismus in statu nascendi fehlte es dagegen an Erfahrung und Profil. Im übrigen machten Liberale wie Linke aus ihrer Verachtung für die classi medie, die bis dahin keine ernsthaften Interessenvertreter besaßen, kein Hehl. Das unterschied die Lage in Italien sehr deutlich von anderen Ländern. Mit seinem Syndikalismus machte der Faschismus ein Angebot, das jenseits aller bisher begangenen Wege lag, aber für kurze Zeit im besetzten Fiume erprobt worden war 55 und schon deshalb die Hoffnungen auf sich zog. Auch wenn Mussolinis Herrschaft ganz anders war, als es sich seine mittelständischen Unterstützer vorgestellt hatten, begann sein Regime eine bis dahin einmalige Fülle symbolischer und realer Wohltaten an etliche mittelständische Gruppen zu verteilen.56 Auf den Umbau der Wirtschaftsordnung gemäß der berufsständischen Ordnung, geregelt in der Carta del lavoro von 1927 und im Gesetz über die korporative ­Ordnung von 1934, muss hier nicht näher eingegangen werden. In unserem Zusammenhang interessiert dagegen, dass mit dem Zwang zum Zusammenschluss aller Berufskategorien auch die bisher kaum oder gar nicht organisierten Berufsstände landesweite Repräsentation erlangten. Das war natürlich vor allem bei den Freien Berufen und der Berücksichtigung der Schichtenmentalität mit 36 % ansetzte, bei der Einkommenslage aber nur auf 24 % kam, weil er z. B. alle proletaroiden Selbständigen sowie die kleinen Angestellten und Beamten herausnahm (Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, ND Darmstadt 1972, Tab. 1 u. 2). Geiger kritisierte ausdrücklich die Neigung seiner Kollegen, die den „Mittelstand immer zu groß“ ansetzen (ebd., S. 26). In Italien fanden damals laut Salvati keine soziologischen Untersuchungen zu ­diesem Thema statt. Mariuccia Salvati, Da piccola borghesia a ceti medi. In: Angelo Del Boca / Massimo Legnani / Mario G. Rossi (Hg.), Il regime fascista. Storia e storiografia, Bari 1995, S. 466. 55 Jedenfalls auf dem Papier. Die am 30. 8. 1919 verabschiedete Carta del Carnaro teilte die Bevölkerung in 10 „Zünfte“ ein, die sich autonom verwalten und durch die von ihnen gestellte 2. Kammer direkten Einfluss auf die Politik haben sollten. Privateigentum war garantiert, aber der Markt weitgehend beseitigt. 56 Erfahrungen, Anliegen und Motive jener jungen Faschisten, die die Aspirationen des Kleinbürgertums vertraten (Grandi, Turati, Bottai und andere), untersucht David D. Roberts, Petty Bourgeois Fascism in Italy. In: Stein Ugelvik Larsen / Bernt Hagtvet / Jan Petter Myklebust (Hg.), Who were the Fascists. Social Roots of European Fascism, Bergen 1980, S. 337 – 347.

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kleinen Selbständigen der Fall. Als das korporatistische System 1926 mit Maßnahmen zur Daseinsvorsorge begann, kamen ganze Gruppen erstmals in ihrem Berufsdasein wenigstens mit elementarer Absicherung in Berührung. Insofern war es nicht nur Propaganda, wenn Bottai 1927 auf dem 5. Internationalen Mittelstandskongress in Rom erklärte, dass für Italien das Problem der classi medie durch Einschluss in die soziale und politische Organisation des Landes beendet und damit die vom Kongress geforderte Gleichstellung mit der Arbeiterklasse hinsichtlich des Systems der Daseinsvorsorge erledigt sei.57 Mariuccia Salvati spricht deshalb davon, dass überhaupt erst der Faschismus in Italien die Mittelschichten als konsistente, selbstbewusste und handlungsfähige Gruppen geschaffen habe.58 Die wichtigsten gesellschaftspolitischen Errungenschaften s­ eien nun kurz genannt: Die Anerkennung der Berufsgruppen durch den Staat im Zuge der Errichtung der faschistischen Syndikate wurde schon erwähnt. Damit signalisierte er seine Zuständigkeit in einem Bereich, der bisher ganz der Eigeninitiative mit wenig befriedigenden Ergebnissen überlassen war. Die Ende 1927 beschlossene Zusammenfassung in sechs Einheitssyndikate bescherte den Freien Berufen und Künstlern sogar eine eigene landesweite Organisation von mehr als 120.000 Mitgliedern,59 der die Wahrnehmung ihrer Interessen weitaus besser als beispielsweise den Arbeitern gelang. Jedenfalls erweckte das Regime den Eindruck, als kümmere es sich ernsthaft um die bisher ausgegrenzten Gruppen der kleinen Selbständigen, Akademiker und Freien Berufe, und sei es nur, indem es durch seine Währungs- und Wirtschaftspolitik deren „Marktangst“ bzw. den von chronischer Arbeitslosigkeit geplagten Universitätsabsolventen ihre „Statusangst“ nahm. Das wurde einerseits durch den Ausbau des öffentlichen Sektors z­ wischen 1923 und 1943 erreicht,60 wobei die Vervielfachung des Unterrichtspersonals besonders den

57 „Per noi, infatti, signori, il problema delle classi medie è definitivamente risoluto e acquisito al nostro sistema sociale e al nostro sistema politico“. Giuseppe Bottai, Il sindacalismo e le classi medie. In: Ders., Esperienza corporativa, Rom 1929, S. 381. 58 Salvati, Da piccola (wie Anm. 54), S. 466. Diese These kann auch das politische Verhalten jener Mittelschichten nach 1945 gut erklären. 59 Mabel Berezin, Created Constituencies. The Italian Middle Classes and Fascism. In: Rudy Koshar (Hg), Splintered Classes. Politics and the Lower Middle Classes in Interwar Europe, New York, London 1990, S. 154. Die folgenden beiden Zitate ebd., S. 156. 60 In der Literatur liegen hierzu widersprüchliche Angaben vor. Während Berezin unter Berufung auf Barbagli von einer Verdreifachung spricht (ebd., S. 158), sind die Zuwächse zufolge Sylos Labini weitaus geringer (Sylos Labini, Saggio [wie Anm. 54], S. 75 f., 145 u. Tab. 1.1). Melis schließlich, der nur die von den Ministerien Beschäftigten berücksichtigt und diese nach Kategorien aufschlüsselt, kommt zu folgendem Ergebnis: Das Militär hat auf knapp das Vierfache, das Unterrichtspersonal nicht zuletzt wegen seiner Verstaatlichung 1933 auf mehr als das Vierzehnfache, der reguläre öffentliche Dienst aber (nicht zuletzt infolge von Kürzungen 1925 im Umfang von 5 %) nur um die Hälfte zugenommen; der Anteil der Planstelleninhaber nahm sogar ab (absolut verdoppelte sich ihre Zahl sich jedoch). Guido Melis, Storia dell’amministrazione italiana 1861 – 1993, Bologna 1996, S. 329.

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un- und unterbeschäftigten Akademikern ungefähr hunderttausend (schlecht bezahlte) Arbeitsplätze gebracht haben dürfte. Akademiker profitierten auch von der Gründung des Istituto Treccani Anfang 1925, das die Enciclopedia Italiana in 35 Bänden herausgab, und der des Istituto nazionale fascista di cultura im selben Jahr, aber wohl mehr noch von der nach langer Vorbereitung schließlich 1929 eröffneten Accademia d’Italia und vom 1933 gegründeten Istituto di studi di politica internazionale, ganz zu schweigen von den Massenmedien. Andererseits erlaubte das Regime 1936 dem Syndikat, den Zugang zu den Freien Berufen durch Einrichtung einer Berufsrolle einzuschränken. Mit Hilfe d ­ ieses albo professionale schlossen die Freiberufler unliebsame Konkurrenten aus, so dass per Saldo ihre Zahl um nahezu 25 Prozent sank.61 Ähnliches lässt sich bei den kleinen Selbständigen beobachten: Die Zahl der Bauern, Pächter, Handwerker und Angehörigen des übrigen Dienstleistungsgewerbes nahm ab. Eine Ausnahme bildeten die Einzelhändler, von denen es dank protektionistischer Maßnahmen bis 1936 um die Hälfte mehr gab. Die 900.000 Mitglieder vom tabaccaio bis zum Hotelier umfassende Confederazione Fascista dei Commercianti regelte vom Ladenschluss über Tarifverträge bis zu Handelsspannen und Exportgenehmigungen alles, was Konkurrenz und Markt in Schach hielt. Kein Wunder, dass das Regime in ihnen seine blocchi di granito sah.62 Ganz anders sieht das Bild aus, wenn man die Einkommenslage betrachtet. 1930 und 1934 wurden die Gehälter im öffentlichen Dienst um jeweils 12 Prozent gekürzt; Kinder- und Familienzulagen wogen diesen scharfen Eingriff nicht auf. Entgegen den Wünschen der Partei, die inzwischen einen Großteil der Beamten organisiert hatte − seit 1937 mussten alle Staatsbediensteten dem PNF beitreten −, nutzten diese die 1935 eingeführte Arbeitszeitregelung, den orario unico continuato, vielfach dazu, einem zweiten Beruf nachzugehen. Die dreimalige Gehaltserhöhung für den öffentlichen Dienst (1936, 1937 und 1939) begründete die Regierung richtigerweise mit gestiegenen Lebenshaltungskosten, doch bleibt offen, ob die Lücke dadurch geschlossen werden konnte. Mit Kriegsbeginn jedenfalls verschlechterten sich die Lebensbedingungen so gut wie aller Italiener drastisch mit der Folge eines sofort blühenden Schwarzmarkts. Wenn man ­zwischen symbolischen und realen Wohltaten unterscheidet, so wird deutlich, dass sich die kritische Einkommenslage für die Lohnempfänger innerhalb der classi medie, also für die große Mehrheit, nicht entspannte. Für die Akademiker und Freiberufler verbesserte sie sich dagegen zumindest für einige Geburtsjahrgänge, denn weil der Staat den freien Zugang zu den Universitäten anders als in Deutschland nicht beschränkte, war die nächste Welle der Akademikerarbeitslosigkeit schon absehbar; sie traf dann aber erst nach 1945 die Republik. Was der Faschismus tatsächlich zuwege

61 Errechnet nach Sylos Labini, Saggio (wie Anm. 54), Tab. 1.1. Näher dazu Berezin, Created (wie Anm. 59), S. 155. 62 Zit. Berezin, Created (wie Anm. 59), S. 153.

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brachte, waren − wie man heute zu sagen pflegt − Inklusion und (minimale) soziale Absicherung. Das wurde international stark beachtet.63 Für Italien bedeutete dies eine Kehrtwende, und wenn man die hier angeführten Errungenschaften um die familienpolitischen Leistungen ergänzt, wird die von Mariuccia Salvati formulierte These plausibel, die Fortentwicklung des Wohlfahrtsstaates in der Zwischenkriegszeit, vor allem in den 30er Jahren, sei von den Mittelschichten bewirkt worden, nicht mehr von den Arbeitern. Das gilt für viele Teile Europas, aber der internationale Vergleich zeigt, dass die faschistischen und autoritären Staaten diese Politik am entschiedensten betrieben. Im Deutschen Reich war die Lage, was den Mittelstand betrifft, in mehrfacher Hinsicht deutlich anders. Erstens blickten sowohl Angestellte als auch Handwerk auf eine lange Geschichte ihrer Organisation zurück. Zweitens pflegte sich − ob mit Recht, sei dahingestellt − der gesamte alte Mittelstand an einer vergoldeten Vergangenheit zu orientieren, was seine politischen Ziele erheblich beeinflusste. Drittens war die Akademikerarbeitslosigkeit eine noch junge Erfahrung; sie ging auf die Wirtschaftskrise und Sparpolitik der Weimarer Republik zurück. Viertens besaßen auch die Freien Berufe seit langem Standesvertretungen einschließlich Einrichtungen der Daseinsvorsorge. Fünftens schließlich pflegte in Deutschland seit langem der Staat regulierend einzugreifen, und zwar durch zwangsweise Mitgliedschaften in Kammern, die unter staatlicher Aufsicht hoheitliche Aufgaben selbständig vornahmen und zugleich die berufsständische Daseinsvorsorge organisierten. Nur Handwerk und Einzelhandel spürten noch stark die Folgen der aus der zunftfeindlichen Politik des 19. Jahrhunderts resultierenden staatlichen Zurückhaltung, neue Schutzmaßnahmen zu erlassen. Hier war darum nicht nur der Unmut am größten, sondern auch die soziale Lage besonders prekär, was viele Meister und Kaufleute dem Staat anlasteten.64 Die Bereitschaft zur Protestwahl war darum hier notorisch hoch. Schon 1925 nannte sich die Wirtschaftspartei in Reichspartei des deutschen Mittelstandes um und versuchte neben Haus- und Grundbesitzern auch die Handwerker aufzufangen. Dieser Kurs blieb zunächst nicht ohne Erfolg, ihr Eintritt in das Kabinett Brüning ließ die Partei jedoch in diesen Kreisen rasch jede Glaubwürdigkeit verlieren. Das war die Stunde des sich besonders zünftlerisch gebenden nationalsozialistischen Kampfbundes des gewerblichen Mittelstandes, der allerdings nach 1933 rasch von der Bildfläche verschwand. Das hinderte den Nationalsozialismus indes nicht, dem alten Mittelstand mit einer Reihe von Maßnahmen unter die Arme zu greifen, die jahrzehntealte Forderungen realisierten, ja zum Teil noch darüber hinausgingen. Die standespolitischen Eingriffe kamen vorwiegend den Handwerksmeistern zugute, während die Einzelhändler in der 63 Salvati, Da piccola (wie Anm. 54), S. 461 ff. Diese Untersuchung hebt sich durch ihre methodologische Sorgfalt und den internationalen, besonders Deutschland geltenden Vergleich sehr positiv von anderen ab. 64 Im Durchschnitt verdienten Beschäftigte im Handwerk 1935 weniger als Industriearbeiter. ­Friedrich Lenger, Sozialgeschichte des deutschen Handwerks seit 1800, Frankfurt 1988, S. 198.

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Frage der Warenhausschließung eine klare Niederlage hinnehmen mussten, aber dafür von der Schließung der gewerkschaftseigenen Konsumvereine profitierten. Das Regime unterstützte sie auch gegen die jüdische Konkurrenz, soweit es sich mit der aktuellen politischen Gesamtlage vereinbaren ließ. Das war auch bei den Handwerkern der Fall. In beiden Fällen bedeutete dies jedoch nicht (wie bei Industrie und Banken) die Chance direkter Bereicherung in Gestalt sogenannter Arisierungen, denn die jüdischen Betriebe wurden ganz überwiegend aus strukturpolitischen Gründen geschlossen. Dem Ziel, das überfüllte Handwerk zu entlasten, dienten auch die anderen Maßnahmen − jedenfalls auf dem Papier: Im November 1933 wurde das Handwerk aus dem allgemeinen Gewerberecht herausgelöst. Deshalb konnten im Sommer darauf – ohne dass die DAF die Gesellen freigegeben hätte − die Pflichtinnungen und Anfang 1935 der Große Befähigungsnachweis, d. h. der Meisterzwang, eingeführt werden.65 Mit Moderne hatte all dies nicht das Mindeste zu tun, und das war auch nicht beabsichtigt. Anders verhielt es sich mit der 1937 verfügten Öffnung der Rentenversicherung für alle Deutschen unter 40 Jahren, die eigentlich freiwillig, für die Handwerksmeister jedoch verpflichtend war. „Das war ein Stück Mittelstandspolitik“,66 aber es kam dabei eben auch die ‚nivellierte Mittelstandsgesellschaft‘ in den Blick, weil tariflich die Meister wie Angestellte behandelt wurden. Was die Angestellten als Kern des neuen Mittelstandes betrifft, so ist sich die Literatur seit langem einig, dass ihnen die Zustimmung zum Nationalsozialismus besonders wenig eingebracht hat. Das ist, wie im folgenden gezeigt werden soll, zu einseitig. Ihre Statusängste ausnützend, versprach ihnen die NSDAP die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten zu unterbinden. Genau das aber setzte sie nach 1933 nicht um, im Gegenteil. Es begann mit der „sprachlichen Revolution“,67 die in der konsequenten Weigerung bestand, die Mittelstandsideologie mit ihren traditionellen Status- und Berufsbezeichnungen mitzumachen, indem nur noch von „Arbeitern der Hand“ bzw. „des Kopfs“ die Rede war. Die NSDAP glaubte es sich nicht leisten zu können, die Arbeiter durch weitere Privilegierung der Angestellten vor den Kopf zu stoßen.68 Namentlich die DAF verfolgte deshalb beharrlich das Ziel, die Unterschiede z­ wischen beiden Statusgruppen einzuebnen, was freilich am Widerstand des Wirtschaftsministeriums und der mit ihm im Bunde stehenden Großindustrie scheiterte, die zu Recht fürchteten, dies laufe auf

65 Immer wieder verlängerte Übergangsfristen sorgten jedoch dafür, dass sich in der Praxis weniger änderte als s­ päter in der Bundesrepublik. Dagegen führten verschärfte Regelungen für die Meister­prüfung dazu, dass 1939 doppelt so viele Kandidaten durchfielen wie 1933. Peter John, Handwerkskammern im Zwielicht, Köln, Frankfurt 1979, S. 143. 66 Michael Stolleis, Historische Grundlagen der Sozialpolitik in Deutschland bis 1945. In: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, Baden-­Baden 2001, S. 321. 67 David Schoenbaum, Die braune Revolution, Köln 1968, S. 82 f. 68 Michael Prinz, Vom neuen Mittelstand zum Volksgenossen. Die Entwicklung des sozialen Status der Angestellten von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Zeit, München 1986, S. 90.

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eine Lohnerhöhung für die Arbeiter hinaus. So blieb es sowohl bei Lohn und Gehalt als auch in der Sozial- bzw. Rentenversicherung bei den hergebrachten Unterschieden und auch beim Angebot von KdF waren die Arbeiter unter-, die Angestellten weit überrepräsentiert. Durchsetzen konnte sich aber die DAF uneingeschränkt im Zuge der „Gleichschaltung“, als sie die rund hundert Angestelltenverbände zusammenzwang und daraus neun Branchenverbände in starker Anlehnung an das italienische Vorbild machte.69 Nur die weiblichen Angestellten wurden in einem gemeinsamen Verband zusammengefasst.70 1935 fiel schließlich dieser Rest an Sonderstellung vollends der Umstrukturierung zum Opfer, so dass in der DAF z­ wischen Arbeitern und Angestellten (wie auch z­ wischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern) nicht mehr unterschieden wurde. Kompensiert wurde diese politische Entmachtung, die die Angestellten mit den meisten anderen Gruppen teilten, durch die im Vergleich zu den Arbeitern deutlich bessere Bezahlung und die beispiellose Zunahme der Stellen des öffentlichen Dienstes. In den zehn Jahren nach der Machtübernahme vervierfachte sich die Zahl der Staatsangestellten, was mehr als einer halben Million Arbeitsplätze entsprach.71 Rechnet man Wehrmacht und Partei hinzu, so hat das Dritte Reich millionenfache Karrieremöglichkeiten im Angestelltensektor geschaffen.72 Die nach deutschen Kriterien oberhalb des Mittelstands angesiedelten Akademiker und Freien Berufe, die aus Gründen des Vergleichs knapp betrachtet werden sollen, profitierten vom Nationalsozialismus in erster Linie durch den Ausbau der Staatstätigkeit, zunächst aber vom Unrechtsstaat. 2.000 Beamte und Richter, 4.000 Anwälte, 5.500 Ärzte und 3.000 Wissenschaftler verloren alsbald ihre Ämter und wurden vom Nachwuchs ersetzt, der sich in der Weimarer Republik mangels beruflicher Aussichten zunehmend rechtsradikalen Richtungen angeschlossen hatte und diese Säuberungen nun als überfällig betrachtete. Ungleich größere Chancen boten jedoch die NSDAP selber, die ihr angeschlossenen Verbände und namentlich die SS, in deren Führerkorps 1939 jeder achte ein Studium abgeschlossen hatte. „Arbeitslose Akademiker, in der Regel mit juristischer Qualifikation, und Freiberufler ohne Existenzgrundlage“ bildeten in den 30er Jahren neben verabschiedeten Reichswehroffizieren und Abiturienten die Masse des Zustroms.73 Wenn man fragt, was das Regime für diese Berufsgruppen getan 69 Das von den Nationalsozialisten vielfach bestrittene direkte Vorbild des italienischen Faschismus hat jetzt Daniela Liebscher zweifelsfrei nachgewiesen, gerade auch was die DAF-Gründungsstruktur betrifft. Daniela Liebscher, Freude und Arbeit. Zur internationalen Freizeit- und Sozialpolitik des faschistischen Italien und des NS-Regimes, Köln 2009, bes. Teil II, Kap. 1 und 2. 70 Zur Umgliederung, ihren Hintergründen und ihrer Bedeutung noch immer Speier, Angestellte (wie Anm. 16), S. 154 ff. 71 Wehler, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 725. 72 Wehler spricht von 1,85 Millionen Männern, die in Wehrmacht, den neuen staatlichen Einrichtungen sowie in der Partei und ihren angeschlossenen Verbänden eine „verblüffende Aufstiegsmobilität“ erlebt hätten. Ebd., S. 786. 73 Hans-­Ulrich Thamer, Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002, S. 206. Noch auffälliger war allerdings der hohe Anteil des Adels in der SS-Führung.

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hat, so darf man neben dem enormen Stellenangebot aber nicht die weltanschaulichen Angebote vergessen. Lehrern, Professoren, aber auch Juristen bot das Dritte Reich nicht viel mehr als die Sanktionierung ihrer Ressentiments. Techniker und Ingenieure konnten dagegen auf die zahlreichen Großprojekte blicken und Hitlers technikbegeisterten Worten lauschen. Die Ärzte schließlich erfuhren die größte Aufwertung, weil das Regime Gesundheit wie keine andere Regierung zuvor zum Thema machte, wobei Gesundheit damals zugleich Fördern und Vernichten bedeutete.74 Es ging bei d ­ iesem staatsnahen Gesellschaftssegment weniger um Zuschüsse und Beihilfen als um Anerkennung und Stellen. Letztere untergruben aber allein durch ihre schiere Zahl den herausgehobenen Status dieser Führungsschicht, die es deshalb hinnehmen musste, dass die hergebrachten Auswahl- und Zulassungskriterien auf die Partei­ organisationen nicht übertragen und selbst beim Militär immer stärker eingeschränkt wurden. Die Konzentration auf die Faktoren Rasse und Leistung waren dazu angetan, die Bastionen des Bürgertums zu schleifen. Bevor es dazu kam, war das Dritte Reich untergegangen; nach 1945 hat sich die Entwicklung freilich beschleunigt fortgesetzt. Der Nationalsozialismus brauchte also im Unterschied zum italienischen Faschismus den Mittelstand oder die classi medie nicht erst zu schaffen und ihnen zu Ansehen zu verhelfen. Er hat im Gegenteil den gut organisierten Mittelstand schon früh entmachtet. Was aber kann als Leistung gelten? Zieht man als Maßstab die bewusste Gestaltung, das heißt die Zahl gesetzlicher Eingriffe heran, so erfuhren die Handwerksmeister die meiste Aufmerksamkeit (von den hier nicht weiter berücksichtigten Bauern abgesehen). Den größten materiellen Nutzen hatten dank Gehaltszuwachs und Stellenausbau dagegen die Angestellten; den jungen Akademikern erging es nicht viel anders. Beides ist sicherlich kein Zufall. Arbeiter In der Lohnpolitik des italienischen Faschismus wird man vergeblich nach Zeichen ­­ der Moderne suchen. Ihm gelang nicht viel mehr als die Zerschlagung der sozialis­ tischen und christlichen Gewerkschaften einschließlich ihrer Unterstützungskassen.75 Hauptmerkmal der Lohnpolitik sind mehrfache drastische Lohnkürzungen im Zuge der Weltwirtschaftskrise, die angesichts gleichbleibender Lebensmittelpreise zu rascher Verarmung führten und immer wieder Streiks provozierten. Die Familienbeihilfen konnten die Ausfälle kaum ersetzen. Durch die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in den dreißiger Jahren änderte sich daran auch s­päter nichts. Natürlich versprach der

74 45 % der Ärzte traten der NSDAP bei. Dieser Anteil wurde von keiner anderen Berufsgruppe erreicht. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 35), S. 183. Ebd. findet sich eine Reihe zustimmender Aussagen zur Aufwertung der Medizin im Zusammenhang mit dem sogenannten Erbgesundheitsgesetz. 75 Vgl. hierzu und im folgenden Tobias Abse, Italian Workers and Fascism. In: Richard Bessel (Hg.), Fascist Italy and Nazi Germany. Comparison and Contrasts, Cambridge 21997, S.  40 – 60.

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Faschismus unaufhörlich die Schaffung einer neuen Arbeiterklasse, aber wo ihm dies wie beispielsweise in Porto Marghera gelang, konnte man sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt fühlen: Arbeiterbauern, die mit miserablen Löhnen und Arbeitsbedingungen vorliebnahmen, weil der Nebenerwerb sie notdürftig über Wasser hielt. Ein deutlich vorteilhafteres Bild bietet sich dem Beobachter in Deutschland, wo es den Nationalsozialisten in dreieinhalb Jahren gelang, die Arbeitslosigkeit vollständig zu beseitigen, wenn auch mit zum Teil fragwürdigen Mitteln. Die Löhne in der Privatwirtschaft stiegen nur leicht − jedenfalls auf dem Papier −, im öffentlichen Dienst blieben die von Brünings Notverordnungen durchgesetzten Gehaltskürzungen bis 1945 (und darüber hinaus) in Kraft. Dem standen Faktoren gegenüber wie steigende Arbeitszeiten, kontrollierte Lebensmittelpreise, (nach außen hin) stabile Währung, Maßnahmen zum Familienlastenausgleich und anderes. Solange uns jedoch nur Statistiken über Löhne und strittige Berechnungen der Lebenshaltungskosten vorliegen 76 und keine Sozialbilanzen mit ihren Transferzahlungen, kann man nur vermuten, dass die bisher vorliegenden Zahlen ein zu ungünstiges Bild für das Gros der Arbeiter und Angestellten bieten.77 Die Währungspolitiker sprachen ab Ende der 1930er Jahre warnend vom Kaufkraftüberhang, der freilich in erster Linie auf ein verknapptes Warenangebot zurückging. Im Blick auf Italien ist jedoch unstrittig, dass sich die soziale Lage im nationalsozialistischen Deutschland ungleich vorteilhafter darstellte. Die südlich der Alpen schon in Friedenszeiten grassierende Massenarmut hatte hierzulande kein Gegenstück.78 Für Vollbeschäftigung und auskömmliche Lebensverhältnisse zahlten die Arbeiter einen hohen politischen Preis, und die Zerschlagung ihrer Organisationen bedeutete fraglos einen Rückschritt. Zu den Ambivalenzen des Faschismus gehört indessen, dass er auch in d ­ iesem Bereich modernen Entwicklungen Vorschub leistete, die bei einem Fortbestehen der Arbeiterbewegung vermutlich länger hätten auf sich warten lassen. Denn die DAF entwickelte sich anders, als es Unternehmer, Ministerialbürokratie und selbst die Wehrmacht wünschten, und erhob einen von diesen wiederholt beklagten „unhaltbaren 76 Auf ziemlich alten Berechnungen fußt Walter Steitz (Hg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus, Bd. 1, Darmstadt 2000, Schaubild 3. Nach Dietmar Petzina / Werner Abelshauser / Anselm Faust (Hg.), Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 3, München 1978, S. 107, Tab. 20, sind die Lebenshaltungskosten in den 1930ern deutlich gefallen. Einen erheblichen Anstieg, allerdings von der Basis 1932 aus berechnet, verzeichnet aufgrund sehr sorgfältigen Vorgehens Rüdiger Hachtmann, Lebenshaltungskosten und Reallöhne während des „Dritten Reiches“. In: VSWG 75 (1988), S. 32 – 73, Tab. 10. Demnach hat sich die Lage erst ab 1937, aber immerhin, erkennbar gebessert. 77 Von stagnierendem Lebensstandard sprechen Christoph Buchheim, Die Wirtschaftsentwicklung im Dritten Reich − mehr Desaster als Wunder. Eine Erwiderung auf Werner Abelshauser. In: VfZ 29 (2001), S. 661 f., sowie der Buchheim ansonsten kritisierende Mark Spoerer, Demontage eines Mythos? Zu der Kontroverse über das nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“. In: GG 31 (2005), S. 433 f. 78 Die ausgeplünderte jüdische Minderheit selbstverständlich ausgenommen. Auch die meisten italienischen Juden verarmten nach 1938 rasch.

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Totalitätsanspruch“.79 Dass der DAF zum Teil erheblich verbesserte betriebliche Sozialleistungen zu danken waren, namentlich in den bis dahin strikt patriarchalisch geführten kleinen und mittelgroßen Firmen, ist unstrittig.80 Ihr Arbeitswissenschaftliches Institut, für das es kein italienisches Gegenstück gibt und das man als think tank bezeichnen kann, das weitreichende betriebswissenschaftliche und sozialpolitische Vorschläge entwarf, trieb mit der Ermittlung und Einführung des Leistungslohns den Individualisierungsprozess ein Stück weit voran. Da es sich gleichzeitig um ein Lohnsenkungsprogramm handelte, wehrten sich die Belegschaften nach Möglichkeiten.81 Welche Eigendynamik die beabsichtigte Tarifreform entfaltete, zeigt sich an der Frage der Löhne für Frauen. Die Experten des Arbeitswissenschaftlichen Instituts konnten bzw. wollten nicht einfach die durch Tradition sanktionierte − und vor 1933 auch von den Gewerkschaften nicht ernsthaft in Frage gestellte − geringere tarifliche Einstufung von Frauen akzeptieren und suchten einen Ausweg in der Definition spezifisch weiblicher Arbeitsplätze. 1944, als deutsche Arbeitskräfte wirklich knapp waren, unternahm Ley einen Vorstoß zugunsten des Grundsatzes „gleicher Lohn für g­ leiche Arbeit“. Hitler, bei d ­ iesem Thema ganz unbeweglich, lehnte jedoch ab. Immerhin war schon 1940 von der DAF durchgesetzt worden, dass jene Frauen, die in den Fabriken Männer direkt ersetzten, denselben Akkordlohn und dieselben Prämien erhielten; die Stundenlöhne blieben jedoch um 20 Prozent unter denen der Männer. Mehr war damals auch in den USA für die Frauen nicht zu holen.82 Leistungslohn und Verringerung geschlechtsspezifischer Lohnunterschiede blieben in der nationalsozialistischen Wirtschaft Randphänomene und trugen, obwohl zukunftsweisend, weder zum Abbau der überlieferten Gesellschaftsordnung noch zum Konsens bei. Beides war nur von Massenorganisationen zu erwarten, die echte Leistungen anzubieten hatten, womöglich präzedenzlose. Deshalb ist es an der Zeit, wenigstens kurz auf die Opera Nazionale Dopolavoro (OND) und die nach italienischem Vorbild geschaffene Organisation Kraft durch Freude (KdF) einzugehen, denn beide leisteten mit Victoria de Grazias Worten einen wichtigen Beitrag zur „culture of consent“.83 Ihre Mitglieder 79 Einen „Totalitätsanspruch“ erhob Robert Ley mehrfach in einem Schlüsseldokument (Grundsätzliche Anweisung des Reichsorganisationsleiters Dr. Ley, Sept. 1936). Abgedr. in: Tilla Siegel, Rationalisierung statt Klassenkampf. In: Hans Mommsen / Susanne Willems (Hg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, Düsseldorf 1988, Dok. 15, S. 175 u. 176. Demgegenüber sprach ein hoher Ministerialbeamter vom „unhaltbaren Totalitätsanspruch“ der DAF (Vorlage des Min’Dir Dr. Mansfeld, Reichsarbeitsministerium, für den Beauftragten des 4-Jahres-­Plans, Hermann Göring, 24. 11. 1936). Ebd., Dok. 16, S. 180. 80 Ausführlich Tim Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1975, und Tilla Siegel, Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen „Ordnung der Arbeit“, Opladen 1989. 81 Langfristig jedoch war diese Konzeption erfolgreich. In der Bundesrepublik gilt in vielen Industriezweigen der Leistungslohn, mit dem schließlich die Gewerkschaften ihren Frieden gemacht haben. 82 Tilla Siegel, Welfare Capitalism Nazi-­Style. In: International Journal of Political Economy 17 (1987/88), S. 104. 83 Victoria de Grazia, The Culture of Consent. Mass Organization of Leisure in Fascist Italy, Cambridge 1981. Vgl. auch Liebscher, Freude und Arbeit (wie Anm. 69), passim.

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zählten nach Millionen und wenn irgendwo, dann kann man hier vom „Faschismus als Erlebnisangebot“ sprechen.84 Am spektakulärsten waren natürlich die Seereisen nach Norwegen und Madeira, aber ein Vielfaches an Teilnehmern erreichte KdF mit Kurzreisen und Wochenendveranstaltungen. Das politische Beiprogramm ließ man, wenn man ihm nicht ausweichen konnte, über sich ergehen. Selten war das klassenüberwindende Egalitätsprojekt so sichtbar wie hier, wo für jedermann Tennis- und sogar Golfkurse angeboten wurden und wo 25 Prozent der Teilnehmer an Inlandsreisen und immerhin 10 Prozent der Gäste auf den KdF-Schiffen Arbeiter waren.85 Eine Bastion der Oberklassen war, wenn nicht gestürmt, so immerhin in Teilen eingenommen und die mediale Faszination hält bis heute an.86 Frauen waren ebenfalls beteiligt − als Ehegattinnen, aber auch als Alleinstehende, was die Sittenwächter auf den Plan rief, ohne dass ihren Unkenrufen Erfolg beschieden gewesen wäre. In Italien standen einem ähnlichen Erfolg wieder einmal die kümmerlichen Löhne im Weg, weshalb die Großindustrie aus der OND ein Instrument der Betriebsbindung machen konnte 87 und ansonsten allenfalls billige Freuden angesagt waren, vor allem Unterhaltung. Der Nachruhm hält sich deshalb in Grenzen, wohl auch weil inzwischen vergessen ist, wie bahnbrechend seinerzeit Freizeiterlebnis und Gemeinschaftserfahrung jenseits von Familie und Pfarrei waren, selbst für Männer (denn die rigide überwachten Frauen fanden kaum den Weg zur OND bzw. zu ihren Veranstaltungen). Vergessen ist auch die Übernahme deutscher Vorbilder, nämlich die Wettbewerbe zur Ermittlung der besten Arbeitnehmer (littoriali di lavoro) und Betriebe (aziende modello), weil sie keinen mit Deutschland vergleichbaren Stellenwert hatten − eine Folge des anderen Verhältnisses der Tarifparteien zueinander in Italien auch in Zeiten des Faschismus. Der Prozess der Individualisierung kam darum in beiden faschistischen Regimen sehr ungleich voran. Gesellschaftspolitik und Krieg Was den italienischen Faschismus angeht, so so gibt es zu d ­ iesem Punkt nicht viel zu sagen, da das Projekt Gesellschaftspolitik nach 1939/40 praktisch zum Erliegen kam, sieht man von der allerdings drastischen Verschärfung des Rassismus einmal ab. Es hat den Anschein, als habe es keine Perspektiven für ‚die Zeit danach‘ gegeben. Das war sicher auch dem Fehlen geeigneter Experten geschuldet, lag aber vor allem an der von Anfang an herrschenden Not, die dem Regime offensichtlich keinen Spielraum für Experimente ließ. 84 Ausführlich dazu Brockhaus, Schauder und Idylle (wie Anm. 53). 85 Wehler, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 786. 86 Der Riesenkomplex Prora auf Rügen, Urvater der Betonierung europäischer Küsten im Namen des Massentourismus, wurde sogar unter Denkmalschutz gestellt – nicht weil ihn die Nazis errichtet haben, sondern weil er ein ganz frühes Monument der Moderne ist. 87 Hierin vergleichbar den Wirkungen der Urlaubsorganisation in der DDR.

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In Deutschland lagen die wichtigsten Maßnahmen zur Familien- und Mittelstandspolitik bei Kriegsbeginn schon seit Jahren zurück. 1937 war die Rentenreform hinzugekommen; der think tank der DAF plante für die Zeit nach dem Krieg eine weitere große Reform, die das bisherige System völlig ersetzt hätte. 1938/39 sollte der Bevölkerung dann gezeigt werden, dass großzügige Leistungsverbesserungen auch für den Kriegsfall vorgesehen waren. Dabei ging es um die Kriegsopferversorgung, bei der das OKW die treibende Kraft war. Einerseits stand diese Initiative im ­­Zeichen der Remilitarisierung und machte so das Werk der hinsichtlich ihres zivilen Charakters singulären Weimarer Versorgungspolitik rückgängig,88 andererseits erhöhte das Regime 1938 die Leistungen für die Kriegsopfer beträchtlich und nahm 1939 die Hinterbliebenen beitragsfrei in die Krankenversicherung auf. Unmittelbar mit Kriegsbeginn kam es zu einer dritten Erweiterung der Leistungen, indem die zivilen den militärischen Kriegsopfern gleichgestellt wurden.89 War diese Regelung eine Konsequenz der Erwartung, dass die Leiden der Zivilbevölkerung im modernen Krieg nicht geringer sein würden als die der Soldaten, oder diente sie im Zeichen ­­ siegesgewisser Blitzkriegsstrategie nur der Beruhigung der kriegsunwilligen Bevölkerung? Die im internationalen Vergleich bahnbrechende Regelung ist jedenfalls ein besonders sinnfälliges Beispiel für reaktionäre Moderne.90 Nach Kriegsbeginn war es die oberste Maxime Hitlers, die Deutschen von zusätz­ lichen finanziellen Lasten so weit als möglich zu verschonen. Die Erhöhung der Einkommenssteuer betraf nur die obersten vier Prozent der Bevölkerung, die als Hausbesitzer wohl auch in erster Linie von der zwangsweisen Ablösung der Hauszinssteuer betroffen waren.91 Dass die Kriegsgewinne der Unternehmen auf vielfältige Weise schließlich fast vollständig abgeschöpft wurden, unterschied sich in den Augen der Bevölkerung wohltuend zur Politik im ­Ersten Weltkrieg. Verbrauchssteuern stiegen mäßig. Dafür mussten ab 1940 auf Zuschläge für Überstunden, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit keine Steuern und Sozialabgaben mehr gezahlt werden. Und nicht zuletzt: Die Soldatenfamilien erfreuten sich ab 1939 großzügiger Unterstützung mit dem Ergebnis, dass der Besitzstand gewahrt blieb und sich Ehefrauen erfolgreich der Arbeitspflicht

88 Im weiteren hierzu jetzt ausführlich, mit Schwerpunkt auf der Organisationsgeschichte, Pierluigi Pironti, Kriegsopfer und Staat. Sozialpolitik für Invaliden und Waisen des E ­ rsten Weltkriegs in Deutschland und Italien (1914 – 1924), Köln 2015. 89 Zur Kriegsopferversorgung im Dritten Reich knapp, aber hinreichend Rainer Hudemann, Sozialpolitik im deutschen Südwesten ­zwischen Tradition und Neuordnung 1945 – 1953, Mainz 1988, S.  394 – 399. 90 Dazu eingehend Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and in the Third Reich, Cambridge 1984. 91 Die Haus- und Grundbesitzervereine sahen darin jedoch auch einen Vorteil. Auf einem ganz anderen Blatt stehen die Vorschriften betr. Aktienbesitz und -handel, die damit endeten, dass ihre Besitzer zu Zwangsverkäufen gezwungen und dafür nicht handelbare, also gewissermaßen wertlose Reichsschatzanweisungen erhielten, nicht anders als es 1938 den deutschen Juden ergangen war! Näheres bei Aly, Hitlers Volksstaat (wie Anm. 15), S. 82 f.

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entziehen konnten, selbst wenn sie nicht schwanger wurden. Kindergeld und Familienbeihilfen wurden nach Erhöhungen 1939 und 1941 schließlich 1942 verdoppelt. Für den Notfall wurde der Vollstreckungsschutz erweitert und um einen vollständigen Mieterschutz ergänzt. Auch die Sozialrentner wurden nicht vergessen. Sie erfuhren 1941 eine Erhöhung ihrer Bezüge um durchschnittlich nicht weniger als 15 Prozent; außerdem erhielten sie nunmehr gegen mäßigen Beitrag Zugang zur Krankenversicherung. An den sogenannten Robert-­Ley-­Plan zur Einheitsversicherung von 1940 und an den erweiterten Mutterschutz sei hier nur noch einmal erinnert. Inwieweit Götz Alys These stimmig ist, der behauptet, dass alle diese Wohltaten spätestens seit 1938 nicht durch Wirtschaftswachstum, Umverteilung oder Geldentwertung finanziert wurden, sondern durch großangelegte Ausplünderung und Beraubung zunächst der deutschen, österreichischen und tschechischen Juden, nach 1939 der unterworfenen Länder und hier wiederum ganz besonders der Juden, oder ob andere Forscher im Recht sind, die diesen Zusammenhang bestreiten, kann hier außer Betracht bleiben. Ein Urteil trägt weder etwas zur Frage bei, wie innovativ Richtung und Ziel der nationalsozialistischen Maßnahmen waren, noch hilft es, die Akzeptanz der NS-Herrschaft in Friedens- und Kriegszeiten besser zu verstehen. Zu glauben, die Deutschen hätten im Krieg nur aufgrund „kontinuierlicher sozialpolitischer Bestechung“ so lange durchgehalten,92 verkennt die Determinanten der Stimmungslage gründlich. Bilanz und Ergebnisse Man müsste nun Stück für Stück die Agenturen der Mobilisierung, Aufstiegskanäle für Unterprivilegierte sowie konsensstiftende Großereignisse 93 durchmustern, um der Erfahrungsgeschichte zu ihrem Recht zu verhelfen, doch überschritte dies endgültig die Grenzen ­dieses Beitrags. Deshalb soll abschließend die Perspektive gewechselt und geprüft werden, ­welche Gründe gesellschaftliche Gruppen zur Zustimmung veranlassen konnten und wo bzw. weshalb diese endete. Vergröberungen und Vereinfachungen sind dabei unvermeidlich. Von den Fabrikarbeitern war bereits die Rede. Für Italien ist es überdies angemessen, die viel zahlreicheren Landarbeiter und auf Lohnarbeit angewiesenen Kleinbauern und -pächter hinzuzunehmen, wohl wissend, dass man von einer einheitlichen Arbeiterklasse nicht sprechen kann. Aber sie teilten eine Reihe von Erfahrungen, die

92 Ebd., S. 89. 93 Z. B. Sportveranstaltungen mit ausländischer Beteiligung, technische Glanzleistungen wie Rekordflüge, Autobahnbau und Verkehrserschließungen, politische Großereignisse wie Rückkehr der Saar, Rheinlandbesetzung und Anschluß sowie der Sieg über Frankreich, was Deutschland betrifft, die Völkerbundsanktionen einschließlich Giornata della fede und Ausrufung des Impero für Italien.

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im italienischen Faschismus durchweg negativer Natur waren. Die Forschung spricht von „einer neo-­merkantilistischen Strategie der Kapitalakkumulation, deren Voraussetzung die Ausbeutung von Italiens größer Ressource war: einer großen Bevölkerung mit ausreichend billiger Arbeitskraft.“94 In der Landwirtschaft trugen Landarbeiter und Kleinpächter die Hauptlast der Sanierungspolitik ­zwischen 1927 und 1931.95 Hunger, ja teilweise Unterernährung gehörte schon seit den zwanziger Jahren für einen Großteil der italienischen Fabrikarbeiter und für die Masse der Landbevölkerung zur täglichen Erfahrung.96 Bis zum Kriegsbeginn blieb es trotzdem ruhig, denn den Darbenden und Arbeitslosen bot sich die Möglichkeit, in die Kolonien auszuwandern, sich in Deutschland zu verdingen oder in die faschistischen Freiwilligenverbände (MVSN) einzutreten. Ja, die ‚halbwilden‘ ‚Bauern‘ der Basilicata in Carlo Levis ergreifender Schilderung, die resigniert feststellten, man wolle es in Rom „lieber, daß wir wie Tiere bleiben“, opferten gleichwohl ihr Gold an der giornata della fede.97 Alle diese Ventile schlossen sich 1939/40, und die großen Streiks in Turin und Mailand im Frühjahr 1943, die zwar nach Stalingrad und El Alamein, aber vor der deutschen Besetzung stattfanden,98 zeigen, dass ­zwischen Faschismus und Arbeiterschaft nur negative Beziehungen bestanden. Dasselbe glaubte man lange Zeit auch für das deutsche Gegenstück, doch hat uns die Forschung der letzten 25 Jahre, moralisch gesprochen, eines schlechteren belehrt.99 Zwar zählten die Fabrikarbeiter ganz gewiss nicht zu den Trägern des Regimes, aber auch nicht en bloc zu seinen Gegnern. Das hatte handfeste Gründe. 1938/39 war mindestens in der Großindustrie die Rückkehr zu den Reallöhnen vor der Weltwirtschaftskrise erreicht, von 94 De Grazia, Radikalisierung (wie Anm. 22), S. 241. 95 Alexander Nützenadel, Agrarpolitik, Marktordnung und Außenhandel im faschistischen Italien 1922 – 1940. In: Jens Petersen / Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat – Wirtschaft – Kultur, Köln 1998, S. 291. Ders., Landwirtschaft, Staat und Autarkie. Agrarpolitik im faschistischen Italien (1922 – 1943), Tübingen 1997, S. 169 ff. 96 Auf dem Ärztekongress 1931 bezeichnete es Mussolini als verwerfliche Modeerscheinung („la moda del dimagramento eccessivo“), dass die Italiener immer dünner würden. Das war offen zynisch. Er machte übrigens den bizarren Vorschlag, mehr Trauben und mehr Reis zu essen, das löse zugleich die Probleme der Landwirtschaft. Discorso ai medici. In: Opera omnia, Bd.25, ND 1967, S. 60 f. Insgesamt ist diese Rede aber ein Musterbeispiel für Mussolinis instinktsicheren Umgang mit einer für den Erfolg des Faschismus wichtigen Berufsgruppe bzw. Korporation. 97 Carlo Levi, Christus kam nur bis Eboli, München, Neuausg. 2004, S. 257. 98 In der Republik von Salò zwang Mussolini schließlich die italienischen Arbeiter „zur Leistung einer förmlichen Kriegsfron zugunsten des ‚Dritten Reiches‘“; de Grazia, Radikalisierung (wie Anm. 22), S. 221. Die Streiks nahmen dadurch einen Doppelcharakter an, sie richteten sich gegen den inneren und äußeren Feind; das macht sie weniger aussagekräftig im Hinblick auf die Leitfrage ­dieses Beitrags. 99 Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991, bes. Kap. 7.2. Eberhard Heuel, Der umworbene Stand. Die ideologische Integration der Arbeiter in den Nationalsozialismus 1933 – 1935, Frankfurt, New York 1989. Umfassend jetzt Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, sowie ders., In der Kriegsgesellschaft. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1939 bis 1945, Bonn 2014.

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„Steuermilde“ (Aly), Ehestandsdarlehen und anderen materiellen Vergünstigungen profitierten Arbeiter am meisten. Während die italienischen Fabrikarbeiter 60 bis 70 Prozent des Familienbudgets für Nahrungsmittel aufwenden mussten, genügten ihren deutschen Kollegen hierfür 44 Prozent.100 Das erklärt etwa die Möglichkeiten, sich der Angebote von KdF zu bedienen. Eine andere Sache ist die von der Forschung festgestellte Auflösung herkömmlicher Sozialmilieus. Dass dieser Vorgang von vielen als Verlust empfunden wurde, darf als sicher gelten. Ebenso sicher ist aber, dass er auch Chancen für Individualisierung und Karriere bot und dass diese tausendfach wahrgenommen worden sind. Für die − wenigen − Landarbeiter in Deutschland trifft dies alles nicht zu. Die Anstrengungen zur Entproletarisierung durch Landzuteilung gingen gegenüber der Weimarer Zeit zurück und zu kolonialer Siedlung im Osten ist es bekanntlich nur in Ansätzen gekommen. Zugleich fehlten diesen Menschen in der Regel die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere in den neuen NS-Institutionen. Die Lösung dieser sozialen Frage sollte erst den beiden deutschen Teilstaaten in den fünfziger Jahren gelingen. Wenn immer wieder versichert wird, die Sozialstruktur habe sich weder unter ­Mussolini noch unter Hitler verändert, so wird man hinzufügen müssen, dass erstens die in ihrem Status Bedrohten genau dies von den Diktatoren erwarteten, dass zweitens in dreiundzwanzig oder gar zwölf Jahren ein grundlegender Wandel gar nicht stattfinden konnte, obwohl diese Zeit − drittens − ausgereicht hat, um millionenfache Karrieren im staatsnahen Angestelltenbereich zu eröffnen. Im städtischen Milieu des alten und neuen Mittelstandes bzw. der ceti medi fanden Faschismus und Nationalsozialismus nachweislich ihre wichtigsten Stützen und den größten Konsens. Beide Regime ließen sich dies eine Menge kosten: Aufblähung des staatlichen Sektors, großzügig bemessene, neuartige Sozialleistungen – südlich der Alpen kamen einige ausschließlich ihnen zugute 101 − und, namentlich in Italien, Protektion des Handwerks und Einzelhandels. Antimoderne und Modernität standen hier unverbunden nebeneinander, ohne sich aber wie früher zu bekämpfen. Gegensätze sollten sich vielmehr im ­­Zeichen der Volksgemeinschaft aufheben. Die gelungene Versöhnung von Widersprüchen unter totalitären Bedingungen lässt sich trotz der durchgreifenden Politisierung auch im Bildungs- und Wissenschaftsbereich beobachten. In Italien blockierte zwar Gentiles Schulreform von 1923 die Aufstiegsorien­ tierung jener Wähler, die den PNF zur „ersten bürgerlichen Massenpartei Italiens“102

100 De Grazia, Radikalisierung (wie Anm. 22), S. 242. Schneider, Unterm Hakenkreuz (wie Anm. 99), S. 603. In Kalorien umgerechnet, fiele der Vorteil der deutschen Arbeiter wohl noch deutlicher aus. 101 Beispielsweise dadurch, dass die lokale Verwaltung der vom Faschismus geschaffenen Rentenund Krankenversicherung in der Hand von PNF-Funktionären lag, die damit Gunstbeweise finanzierten (wie ­später namentlich die DC). 102 Jens Petersen, Wählerverhalten und soziale Basis des Faschismus in Italien z­ wischen 1919 und 1928. In: Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im

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gemacht hatten, aber dieser Widersinn konnte in der Folge mittels einer „Politik der Retuschen“103 beseitigt werden, ohne dass die am liceo classico festhaltenden Bildungseliten vor den Kopf gestoßen wurden. Die weitere Schulpolitik des Faschismus setzte mit der scuola media unica jedenfalls in den Städten ein klares Zeichen ­­ klassenübergreifender Bildung, die die Republik s­ päter ohne Schwierigkeit fortsetzen konnte. Im Nationalsozialismus überwogen von Anfang an die konfessions- und bildungsfeindlichen, praxisorientierten und egalisierenden Eingriffe in das Schulwesen; Haupt- und Mittelschule standen eindeutig im Zentrum des Interesses und sollten auf zehn Schuljahre erweitert werden, zahlreiche Aufbauschulen wurden gegründet, während man die Zahl humanistischer Gymnasien reduzierte und für alle die Bezeichnung „Oberschule“ vorschrieb; das neunte Gymnasialjahr wurde gestrichen. Im Bereich der Wissenschaft stieß der italienische Faschismus auf keinen Widerstand, zu Säuberungen kam es erst 1938 aus rassischen Gründen.104 Bis dahin aber hatte sich die Masse der Intellektuellen und Künstler längst in irgendeiner Form mit dem Regime arrangiert − ganze 12 Eidverweigerer an den Universitäten sprechen eine deutliche Sprache 105 −, weil der Faschismus nicht wie in Deutschland in einer ­Atmosphäre des Kulturkampfs an die Macht gekommen war und weil er zahlreiche neue Arbeitsplätze schuf.106 Dagegen sorgte die kulturkämpferische Mission ­Hitlers 1933 zwar für drastische Säuberungen, aber das bedeutete keineswegs, dass nun die Anhänger der Tradition das Sagen gehabt hätten. Vielmehr setzten sich binnen weniger Jahre namentlich in den Geisteswissenschaften Repräsentanten einer anderen Moderne durch, über deren Bewertung bis heute gestritten wird.107 Der Nachwuchs, nicht zuletzt mit der das traditionelle Elend der Habilitierten beseitigenden Diätendozentur geködert, diente sich dem Regime an. In der außeruniversitären Forschung, in der sich zunehmend die SS einnisten konnte, etablierte sich die kämpfende Wissenschaft 108 mit dem Ziel, dem nationalsozialistischen Deutschland den Stempel einer

Vergleich, Göttingen 21983, S. 151. 103 Jürgen Charnitzky, Unterricht und Erziehung im faschistischen Italien. In: Petersen / Schieder (Hg.), Faschismus und Gesellschaft (wie Anm. 95), S. 116. Ausführlich dazu ders., Die Schulpolitik des faschistischen Regimes in Italien (1922 – 1943), Tübingen 1994. 104 Zahlen bei Charnitzky, Unterricht (wie Anm. 103), S. 129, Anm. 77. 105 Helmut Goetz, Der freie Geist und seine Widersacher. Die Eidverweigerer an den italienischen Universitäten im Jahre 1931, Frankfurt 1993. Giorgio Boatti, Preferirei di no. Le storie dei dodici professori che si opposero a Mussolini, Turin 2001. Seit der italienischen Übersetzung des Buches von Goetz im Jahre 2000 wurden aber von Italienern weitere sechs Fälle entdeckt. 106 Mehr dazu bei Gabriele Turi, Faschismus und Kultur, in Petersen / Schieder (Hg.), Faschismus und Gesellschaft (wie Anm. 95), S. 91 – 107. 107 Es geht um einen Personenkreis, für den Martin Heidegger, Carl Schmitt, Otto Brunner und Benno v. Wiese stellvertretend genannt ­seien. 108 Dazu exemplarisch Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903 – 1989 [1996], Neuauflage München 2016.

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technokratischen Moderne aufzudrücken, die mittels Zucht, Auslese, Ausmerze und Raub ihr Ziel der Vorherrschaft der ‚arischen Rasse‘ zu verwirklichen hoffte. Vergleichbares fehlt im italienischen Faschismus, weil die Eugenik schwach institutionalisiert war und die Wissenschaftsgläubigkeit sich allenfalls auf die klassischen Universitätsdisziplinen beschränkte. Der verblüffendste Befund ergibt sich jedoch für die Rolle der Frau. Gemäß den unablässig wiederholten Programmaussagen Mussolinis und Hitlers stand eigentlich zu erwarten, dass sich die Lage der Frauen deutlich verschlechtern würde. Dies konnte man auch in den frühen feministischen Beiträgen lesen, wobei insbesondere auf die Beschäftigungs- und Bevölkerungspolitik abgehoben wurde. Die jüngere Forschung sorgte aber für differenziertere Ergebnisse und wies darauf hin, dass die Faschisten durch die Schaffung von Organisationen speziell zur Mobilisierung der weiblichen Hälfte der Bevölkerung die gesellschaftliche Rolle der Frau mehr denn je sichtbar machten. Daraus entstand eine Eigendynamik, mit der man nicht gerechnet hatte. Faschismus und Nationalsozialismus schufen nämlich für Frauen aus den Mittelschichten neue öffentliche Rollen, die nach Ausgestaltung verlangten. Deutschland kam ­diesem Wunsch sehr viel mehr entgegen als Italien, wo ­Kirche und traditionelle Familienbilder immer noch starken Einfluss ausübten, ganz abgesehen von Mussolinis persönlichen Ansichten, der von einer öffentlichen Rolle der Frau ebenfalls nichts wissen wollte und den Fasci femminili nur ein einziges Mal eine Parade in Rom genehmigte. Auch wenn Paraden weiblicher Parteikader nach heutigen Maßstäben kein Musterbeispiel für Emanzipation sind, bahnte der Faschismus mit seiner Betonung der Besonderheit einer inzwischen anerkannten Form der Emanzipation der Frau den Weg.109 Es sollte deutlich geworden sein, dass Faschismus und Nationalsozialismus wichtigen gesellschaftlichen Gruppen etwas zu bieten hatten. Vieles davon konnte man auch in anderen Ländern finden, aber in manchen Dingen waren Italien und Deutschland sogar Vorreiter. Insoweit hielten sie mit der Moderne Schritt. Blickt man in die Abgründe der politischen Rahmenbedingungen und der repressiven Begleiterscheinungen, so trübt sich das Bild erheblich. Es bleibt aber der Eindruck technischer Modernität bei zahlreichen gesellschaftspolitischen Maßnahmen. Davon profitierte insbesondere, wer unpolitisch, gesund und ‚rassisch einwandfrei‘ war − offensichtlich die große Mehrheit. Männer hatten es dabei einfacher als Frauen und die Jüngeren machten von den neuen Angeboten unbefangener Gebrauch als die Älteren. Wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, dass die beiden Faschismen die brüchig gewordene Klassengesellschaft nicht beseitigt hätten, so ist das natürlich richtig. Richtig ist aber auch, dass es die Diktatoren nicht bei Lippenbekenntnissen beließen, sondern, und zwar aus Gründen der Selbsterhaltung, vieles unternommen haben, um ihrer Version von Volksgemeinschaft 109 Dass die 1920/30er Jahre die Wasserscheide in der italienischen Frauengeschichte gewesen ­seien, vertritt mit überzeugenden Argumenten Perry R. Willson, Women in Fascist Italy. In: Bessel (Hg.), Fascist Italy (wie Anm. 75), S. 78 – 93.

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zum Durchbruch zu verhelfen. Aus vielerlei Gründen ist Mussolini hierbei viel weniger weit vorangekommen als Hitler. Das hatte erhebliche Folgen nicht nur für ihn selbst, sondern für die Zeit nach 1945. Es ist deshalb sinnvoll, ganz am Ende noch einmal auf Dahrendorfs paradoxe These zurückzukommen. Der „tragische Modernitätsschub des Nationalsozialismus“110 ist für die frühe Bundesrepublik gewissermaßen ‚des Glückes Unterpfand‘ − tragisch wegen seiner Begleitumstände, glücklich wegen seiner Folgen. Denn in der westdeutschen Gesellschaft setzte sich der Umbau unter beständiger Zunahme des Tempos fort, der ­zwischen 1933 und 1945 viele, wenn auch natürlich nicht die ersten Anstöße erhalten hatte. Statt von Volksgemeinschaft sprachen westdeutsche Soziologen alsbald von nivellierter Mittelstandsgesellschaft.111 Es war ein Glück für die Bonner Demokratie, dass sie ab 1953, also nach nur zehn Jahren Unterbrechung, die Politik der sozialen Wohltaten mit dem Ziel gesellschaftlicher Umgestaltung wieder aufnehmen konnte, und zwar in größerem Maße als je zuvor. Auch erfahrungsgeschichtlich lässt sich die Brücke schlagen. Haben doch viele „als Befreiung von anachronistischen Schranken“ 112 empfundene nationalsozialistische Maßnahmen nach dem Krieg dem Leistungsgedanken auf Kosten des Respekts vor ererbten Positionen zu allgemeiner Anerkennung verholfen. Dahrendorfs Diagnose steht nicht zufällig ziemlich am Anfang des Prozesses der Selbstanerkennung der Bundesrepublik,113 deren ‚Glück‘ ja nicht nur im Aufbau einer modernen Gesellschaft, sondern in der erfolgreichen Gründung einer demokratischen Ordnung besteht. Zu glauben, dass ‚Bonn nicht Weimar‘ war, musste erst gelernt werden.114 Seit 1989/90 zweifelt an der uneingeschränkten Erfolgsgeschichte allerdings niemand mehr. Deshalb ist es reizvoll, Dahrendorfs Paradoxon auf Italien anzuwenden. Es gilt dort, um mit Levy zu sprechen, umgekehrt und hilft dort die Schwächen der Demokratie und den Untergang dessen zu erklären, was man Erste Republik zu nennen pflegt.115 Der

110 Ralf Dahrendorf, Dahrendorf über Dahrendorf. Gesellschaft und Demokratie in Deutschland − nach vierzig Jahren; in: FAZ, 11. 1. 1989. 111 Dass Dahrendorf dieser Diagnose Schelskys 1965 heftig widersprach, kann hier deshalb außer Betracht bleiben, weil sich beide einig waren, dass die Klassengesellschaft alten Stils nach 1945 am Ende war. 112 Wehler, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 794. 113 Die Deutungsvarianten der bundesrepublikanischen Geschichte listet Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie, Stuttgart 2006, S. 11 – 19, auf. Auf die Einordnung der Diagnose D ­ ahrendorfs in die sozialwissenschaftliche Tradition muss hier verzichtet werden 114 So der zum Schlagwort geronnene Buchtitel von Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956. Vielleicht war es kein Zufall, dass ein Ausländer als einer der ersten den Westdeutschen so zuredete. 115 Das Folgende nach Carl Levy, From Fascism to ,Post-Fascists‘. Italian Roads to Modernity. In: Bessel (Hg.), Fascist Italy (wie Anm. 75), S.165 – 196. Levy benutzt S. 182 Dahrendorfs These und stellt sie gewissermaßen auf den Kopf.

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Faschismus hat auf die italienische Gesellschaft weit weniger Einfluss gehabt (und deshalb weniger Modernisierungsimpulse vermittelt) als der Nationalsozialismus auf die deutsche. Es ist ihm also nicht anders als zuvor dem liberalen Nationalstaat ergangen, und das hat, neueren Erklärungsversuchen zufolge, mit der traditionellen Schwäche staatlicher Institutionen und der Stärke und Beharrungskraft der lokalen Gesellschaft zu tun, − eine Kombination, die bis ins Ancien Régime zurückreicht. Wirklich erfolgreich war Mussolini nur bei der Anerkennungspolitik gegenüber den classi medie und bei der Schaffung jener halbstaatlichen Institutionen mit neuartiger Bürokratie, die in der Weltwirtschaftskrise die bankrotten Firmen übernommen und saniert hat; Vorbilder lassen sich freilich auch hierfür in der liberalen Ära finden. Der italienische Faschismus musste weder militärisch niedergerungen werden noch beseitigte ihn die Resistenza. Ihm lief einfach jener Teil der Gesellschaft davon, der die Zuwendungen Mussolinis durch den Krieg bedroht sah: die neuen Mittelschichten. Die fiancheggiatori, die Mussolini 1922 eingerahmt hatten und ihn 1943 beseitigten, nahmen sie mit offenen Armen auf. Deswegen fand 1944/45 nur ein minimaler Elitenwechsel statt. Der ungesäuberte Staatsapparat blieb autoritär wie eh und je und schloss zur Verteidigung seiner Position nicht einmal den Staatsstreich aus. Die Entwicklung des Landes, die es partiell ja durchaus gegeben hat, überließ er dem von Mussolini geschaffenen halbstaatlichen Industrie- und Bankensektor – gleichsam eine ‚Modernisierung ohne Moderne‘.116 Außenpolitisch abgesichert hat dies die Politik, indem sie wieder die enge Bindung an eine westliche Großmacht vollzog, und zusammengehalten hat dies alles schließlich die italienische Version der Bollwerkstheorie, dass nämlich nur die Christdemokraten Sicherheit vor den im Westen einmalig starken Kommunisten garantierten. Es ist deshalb nicht unplausibel zu behaupten, dass letztlich erst der Zusammenbruch des Weltkommunismus die unterschiedlichen Grade gesellschaftlicher − und in ihrem Gefolge politischer − Modernität in vollem Umfang hat sichtbar werden lassen, die der Faschismus in beiden Ländern hervorgebracht hat. Denn nun waren mit einem Male die externen Stützen verschwunden und die Stabilität musste aus eigener Kraft kommen. Die Implosion der E ­ rsten Republik zeigt am deutlichsten, dass dies in beiden Nationen unterschiedlich gut gelungen ist.

116 So könnte man die in der italienischen Geschichtsschreibung entwickelte Formel von der moderniz­ zazione senza sviluppo übersetzen, mit deren Hilfe die ‚Revisionisten‘ das Nebeneinander von Entwicklung im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen und Stagnation im politischen Bereich zu erklären versuchen. Den Ertrag dieser Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre resümiert John A. Davis, Remapping Italy’s Path to the Twentieth Century. In: Journal of Modern History 66 (1994), S.  291 – 320.

Nationalsozialistische und faschistische Wissenschaftspolitik * Einleitung und Forschungsüberblick Im Oktober 1933 erschien im Mitteilungsblatt des Vereins deutscher Ingenieure scheinbar aus heiterem Himmel ein Artikel über den „Nationalen Forschungsrat Italiens“. Verfasst hatte ihn der 1929 an der TH Berlin-­Charlottenburg emeritierte Professor für Wasserbau, George de Thierry, der im Vorspann dazu berichtete, er habe dafür aus Material geschöpft, das Giancarlo Vallauri zusammengestellt und nach Deutschland mit der Bitte um Bekanntmachung übermittelt hatte.1 Vallauri war damals Professor für Elektro­technik am Politecnico Turin, vor allem aber einflussreicher Wissenschaftspolitiker, dem es 1934 gelingen sollte, in Turin das von Ingenieuren seit langem geforderte Istituto Elettro­ tecnico Nazionale „Galileo Ferraris“ zu gründen, und der von 1941 bis 1943 Präsident des Consiglio Nazionale delle Ricerche (CNR) werden sollte. De Thierrys kurzer Artikel zitierte zunächst Mussolinis an Guglielmo Marconi 1928 übermittelte Richtlinien für die Neugründung des CNR, referierte anschließend im wesentlichen dessen Organe und schloss mit einem Blick auf Deutschland: Hier bestehe „heute bereits ein Zusammenschluss der wissenschaftlichen Organisationen, wie ihn Italien bei der Gründung des Nationalen Forschungsrates nicht besaß“. Das war ein wenig überraschender Befund. Umso mehr ließ der Nachsatz aufhorchen: „Für die weiteren Pläne des Zusammenschlusses in Deutschland wird das Vorgehen Italiens aber ein bemerkenswertes Beispiel sein“.2 Höflichkeit oder Ausfluss der seit einem Jahrzehnt, d. h. seit Mussolinis Machtübernahme, in Deutschland verbreiteten Stimmung des Italia docet ?3 Lassen wir die Antwort im Moment offen. Interessanter ist nämlich, dass man in Deutschland überhaupt auf Italiens Wissenschaftspolitik an prominenter Stelle – die VDI-Zeitschrift erreichte rund dreißigtausend deutsche Ingenieure und wurde selbstverständlich in allen Großbetrieben, technikorientierten Forschungsinstituten und mit Wissenschaft befassten politischen Instanzen gehalten – blickte. Das war – und ist – die * Ich danke Monica Cioli für vielfältige Hilfe. 1 Die Personalakte de Thierrys ist lt. Mitteilung des Archivs der TU Berlin im Krieg verbrannt, so dass sich nicht feststellen lässt, ob er (dienstliche) Beziehungen zu Italien gehabt hat; seine Publikationen lassen das nicht vermuten. 2 George de Thierry, Der Nationale Forschungsrat Italiens. In: Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure, Jg. 77, Nr. 41 (14. 10. 1933), S. 1112. 3 Wörtlich „Italien lehrt“, d. h. ‚von Italien lernen‘. Die Formel prägte die Ikone des Jungkonservatismus, Arthur Moeller van den Bruck, in seinem so betitelten k­ urzen Aufsatz vom 6. November 1922, also gerade eine Woche nach Ende von Mussolinis Marsch auf Rom. Arthur Moeller van den Bruck, Italia docet. In: Das Gewissen, 6. 11. 1922.

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absolute Ausnahme, zählte sich doch Deutschland damals zur wissenschaftlichen Weltspitze und orientiert sich erst seit 1945 an angelsächsischen Vorbildern. Umgekehrt ist das ganz anders. Denn seit der italienischen Nationalstaatsgründung, die ja auch dazu dienen sollte, die Rückständigkeit der Halbinsel zu überwinden, trat den seit langem tonangebenden Anhängern des französischen Wissenschaftsmodells die Gruppe jener entgegen, die die Errungenschaften der Humboldtschen Universität bewunderten und deren Kernbestandteile zu importieren versuchten. Im 20. Jahrhundert lieferten weitere deutsche Schöpfungen, insbesondere die 1911 gegründete K ­ aiser-­Wilhelm-­Gesellschaft (KWG), Anlass, sich an Deutschland forschungsstrategisch zu orientieren, so dass sich bis in die Gegenwart die Blicke der meisten wissenschaftspolitisch einflussreichen Italiener (auch) auf die Deutschen richten. Die Geschichte ­dieses Transferprozesses, um den neuerdings üblichen Begriff zu benützen, ist, was die deutsche Seite betrifft, noch nicht einmal ansatzweise geschrieben, während sie in qualitätvollen italienischen Beiträgen zur Wissenschaftsgeschichte regelmäßig zum Hintergrund gehört, in wenigen Fällen auch explizit zum Thema gemacht worden ist, eben weil in Italien seit rund hundertfünfzig Jahren die Debatte um die ‚deutsche Wissenschaft‘ im Hinblick auf eine mögliche Vorbildfunktion immer wieder neu entfacht wird.4 Die Lücken der deutschen Perspektive kann dieser Aufsatz allenfalls für die 1920er und 1930er Jahre zu schließen versuchen, immerhin einer der wenigen Zeiträume, in denen Italien aus deutscher Perspektive überhaupt als Vorbild fungierte 5 und deshalb Transferprozesse von Italien nach Deutschland in zahlreichen Politikfeldern stattgefunden haben.6 4 Statt vieler Belege und wegen der besonderen Qualität sei lediglich verwiesen auf Francesco Marin, Die „deutsche Minerva“ in Italien. Die Rezeption eines Universitäts- und Wissenschaftsmodells 1861 – 1923, Köln 2012. In den weiteren Zusammenhang gehört natürlich auch ein Buch wie dasjenige von Pierangelo Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1992; das italienische Original ist 1987 erschienen. 5 Beispielhaft Wolfgang Schieder, Das italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik [1996]. Jetzt in: Ders., Faschistische Diktaturen. Studien zu Deutschland und Italien, Göttingen 2008, S. 149 – 184. Zu den Konjunkturen des deutschen Italien­bildes in den letzten zweihundertfünfzig Jahren Christof Dipper, Traditionen des deutschen Italienbildes, in ­diesem Band. 6 Für die Polizei zuletzt Patrick Bernhard, Konzertierte Gegnerbekämpfung im Achsenbündnis. Die Polizei im Dritten Reich und im faschistischen Italien 1933 bis 1943. In: VfZ 59 (2011), S. 229 – 262. Für die Siedlungspolitik ders., Die „Kolonialachse“. Der NS-Staat und Italienisch-­ Afrika 1935 bis 1943. In: Thomas Schlemmer / Lutz Klinkhammer / Amedeo Osti Guerrazzi (Hg.), Die „Achse“ im Krieg, Politik, Ideologie und Kriegführung 1939 bis 1945, Paderborn 2010, S. 147 – 175. Für die Arbeitsbeziehungen Daniela Liebscher, Freude und Arbeit. Zur internationalen Freizeit- und Sozialpolitik des faschistischen Italien und des NS-Regimes, Köln 2009. Für die offenkundige Vorbildfunktion des faschistischen Korporativstaats existiert meines Wissens noch keine am Transfer interessierte Arbeit. Dabei zählte Robert Ley zu den am häufigsten von Mussolini empfangenen Deutschen. Dazu Wolfgang Schieder, Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce, München 2012, bes. S. 190 – 192. Die zivilrechtlichen Differenzen waren so

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Wissenschaftsgeschichte besteht natürlich nicht nur aus Transferprozessen. In Deutschland hat sie vor allem als Folge der Erklärungsprobleme in der Geschichte der Natur- und Technikwissenschaften seit einiger Zeit den Rang einer eigenen Diszi­plin erlangt;7 seit 1994 gibt es dafür sogar in Berlin ein eigenes Max-­Planck-­Institut. Vergleichbares ist in Italien nur ansatzweise zu beobachten. Die Geschichte der Geistes­ wissenschaften wird dagegen nach wie vor zumeist von Angehörigen der eigenen Disziplinen betrieben, weil sie dort zum integralen Bestandteil der Fächer gehört. Die Geschichte wissenschaftlicher Institutionen gehört ohnedies zum Arbeitsbereich der Historiker. Die Untersuchung der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik hat in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren vor allem dank der Selbsterforschung der Max-­Planck-­ Gesellschaft 8 und der Deutschen Forschungsgemeinschaft 9 enorme Fortschritte gemacht, denn hierfür wurden nicht nur vergleichsweise erhebliche Mittel bereitgestellt, sondern auch alle Archive geöffnet. Damit sind die wohl wichtigsten Institutionen, mit deren Hilfe in der Zeit des Nationalsozialismus die Wissenschaft gesteuert wurde bzw. sich selbst steuerte, einer gründlichen Analyse unterzogen und überdies schon während der Entstehung in international beschickten Konferenzen einer prüfenden Diskussion ausgesetzt worden. Die entgegengesetzte Perspektive des zuständigen Ministeriums ist dank einer neueren Untersuchung nun ebenfalls sichtbar geworden, allerdings ohne dass sich in der hier interessierenden Thematik nennenswerte Unterschiede ergeben hätten.10 Schon vor vielen Jahren hat Michael Kater die SS-Forschungsorganisation Das Ahnenerbe untersucht und deren wissenschaftlich weitgehend wertlose Aktivitäten an den Tag gebracht.11 Noch gibt es freilich etliche gravierende Lücken. Sie betreffen die ­Forschungsanstalten

enorm, dass sie einen rechtspolitischen Transfer ausschlossen. Zu den Unterschieden und ihrer Wahrnehmung Thorsten Keiser, Das Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, Tübingen 2005. 7 Namen wie Mitchell G. Ash und Lorraine Daston, um nur zwei besonders prominente Vertreter im deutschen Sprachraum zu nennen, zeigen schon, wo die Wurzeln dieser Disziplin liegen. Sie forschen vorzugsweise zur Wissensgeschichte. 8 Reinhard Rürup / Wolfgang Schieder (Hg.), Geschichte der ­Kaiser-­Wilhelm-­Gesellschaft im National­sozialismus, 17 Bde., Göttingen 2000 – 2008. Hinzu kommen noch weitere 28 schmale Bände, vielfach Vorabdrucke, hg. ebenfalls von der sogenannten Präsidentenkommission, ­erschienen in Berlin 2000 – 2006. 9 Rüdiger vom Bruch / Ulrich Herbert (Hg.), Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, bisher 10 Bde., Stuttgart 2007 ff. 10 Anne C. Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Frankfurt/M. 2012. 11 Michael Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935 – 1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974. Nicht eingesehen werden konnte die jüngste Studie zum Ahnenerbe: Heather Anne Pringle, The Master Plan. Himmler’s Scholars and the Holocaust, London 2006, deren These es ist, dass das Ahnenerbe zunehmend in erster Linie den Judenmord wissenschaftlich rechtfertigen sollte.

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des Reiches,12 die noch immer weitgehend unbekannten Vierjahresplan-­Institute an Hochschulen und Universitäten 13 sowie die von der Wehrmacht, vor allem der Luftwaffe gesteuerte, d. h. finanzierte Forschungstätigkeit,14 während das ebenfalls von mehreren Tausend Menschen vorangetriebene, aber letztlich gescheiterte „Vorhaben Peenemünde“ inzwischen als weitgehend erforscht gelten kann.15 Besonders hier kommt auch die Beteiligung der Technischen Hochschulen in den Blick.16 Zusammen mit anderen, hier nicht entfernt im einzelnen aufzuführenden Arbeiten ergibt sich inzwischen ein deutlich von früher vorherrschenden Ansichten unterschiedenes Bild. Sein Hauptertrag besteht in der Erkenntnis, dass die Wissenschaftsfeindlichkeit des Nationalsozialismus eine Legende ist (sie ist schon zeitgenössisch und diente in der Nachkriegszeit dem Selbstschutz Betroffener). Die Nationalsozialisten hatten 1933 zwar weder ein wissenschaftspolitisches Programm noch entsprechende Fachleute, aber sie betrieben natürlich Wissenschaftspolitik. Die These, dass sie die Welt der deutschen Wissenschaft in zwölf Jahren stärker verändert haben als die h ­ undert Jahre zuvor, bedarf der Differenzierung: Die Säuberungen waren beispiellos, die institutionellen Veränderungen dagegen nicht, und doch ähnelten 1945 mindestens die Universitäten und mehr noch die Technischen Hochschulen nur noch äußerlich dem, was sie 1933 waren.17 Wolfgang Schieder stellte daher treffend fest, dass im „Dritten Reich“ der „wissenschaftspolitische Ausnahmezustand“ geherrscht hat.18 Die Einzelheiten werden Gegenstand ­dieses Artikels sein. 12 Hierzu gehört vor allem die bereits 1887 gegründete Physikalisch-­Technische Reichsanstalt, die im 2. Weltkrieg großenteils an der Rüstungsforschung beteiligt war, ferner die 1920 aus dem preußischen Militärversuchsamt hervorgegangene Chemisch-­Technische Reichsanstalt sowie die verschiedenen Ämter für Materialprüfung und endlich die umfangreiche landwirtschaftliche Ressortforschung. 13 Allein die TH Darmstadt verfügte über drei solcher Institute. Material zu ihnen jetzt bei Melanie Hanel, Normalität unter Ausnahmebedingungen. Die TH Darmstadt im Nationalsozialismus, Darmstadt 2014. 14 Hingewiesen sei nur auf den knappen Überblick bei Helmut Maier, Luftfahrtforschung im Nationalsozialismus. In: Helmuth Trischler / Kai-­Uwe Schrogl (Hg.), Ein Jahrhundert im Flug. Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1907 – 2007, Frankfurt/M., New York 2007, S.  104 – 122. 15 Umfassend dazu jetzt Thomas H. Lange, Peenemünde. Analyse einer Technologieentwicklung im Dritten Reich, Düsseldorf 2006, sowie Ralf Pulla, Raketentechnik in Deutschland. Ein Netzwerk aus Militär, Industrie und Hochschulen, 1930 bis 1945, Frankfurt/M. 2006. 16 Als Beispiel ders., „Vorhaben Peenemünde“. Die TH Darmstadt im raketentechnischen Netzwerk des „Dritten Reiches“. In: Noyan Dinçkal / Christof Dipper / Detlev Mares (Hg.), Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im „Dritten Reich“, Darmstadt 2010, S. 103 – 124. Mehr dazu bei Hanel, Normalität (wie Anm. 13), S. 298 ff.. 17 Michael Grüttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus. In: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der ­Kaiser-­Wilhelm-­Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Bd. 2, Göttingen 2000, S. 585. 18 Wolfgang Schieder, Spitzenforschung und Politik. Adolf Butenandt in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“. In: Ders. / Achim Trunk (Hg.), Adolf Butenandt und die

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Gewaltig aufgeholt hat auch die Erforschung der faschistischen Wissenschaftspolitik in den letzten Jahren. Das aus demokratischer Perspektive schmerzlichste Ergebnis ist die Erkenntnis, dass überhaupt erst der Faschismus damit begonnen hat, während die Vorstöße des liberalen Nationalstaats immer wieder gescheitert sind.19 Im Mittelpunkt des Interesses steht seit einigen Jahren der von Mussolini als natur- und ingenieurwissenschaftliches Steuerungselement vorgesehene CNR, dessen 1923 beginnende Geschichte inzwischen als sehr gut erforscht gelten kann.20 Auch die 1926 gegründete und 1945 wieder aufgelöste Accademia d’Italia, die die Kultur im faschistischen Sinne lenken sollte und deshalb ihren Schwerpunkt im geisteswissenschaftlichen Bereich hatte, erfuhr Beachtung.21 Eine äußerst gründliche Untersuchung gilt dem 1927 in Como veranstalteten internationalen Volta-­Kongress, mit dem sich das Regime der Weltelite der Physiker – anwesend waren nicht weniger als zwölf Nobelpreisträger – erfolgreich präsentiert hat; die Schattenseiten der Diktatur blieben offenbar unbemerkt.22 Die im letzten Jahrzehnt erheblich erweiterten Kenntnisse erlaubten es 2005 einer Tagung, eine erste Bilanz zu ziehen, die zugleich dem deutsch-­italienischen Vergleich gewidmet war.23 Die Mehrzahl der Beiträge galt der Disziplin- und Institutionengeschichte, was Herausgeber Zunino zu der ihn selbst überraschenden Feststellung führte, dass in Deutschland und Italien die „rete totalitaria“ aus Politik und Wissenschaft gleich dicht gewoben gewesen sei. Freilich unterschieden sich die Mittel und Wege dazu beträchtlich: Korrumpierung und schleichende Faschisierung der Institutionen in Italien, ungeahnte professionelle Entfaltungsmöglichkeiten für Wissenschaftler in Deutschland. Aber selbst diese personenbezogene Aussage enthüllt die noch immer gegebene Asymmetrie des

­ aiser-­Wilhelm-­Gesellschaft. Wissenschaft, Industrie und Politik im „Dritten Reich“, GöttinK gen 2004, S. 23. 19 Dazu der hilfreiche Überblick von Antonio Casella u. a. (Hg.), Una difficile modernità. Tradizioni di ricerca e comunità scientifiche in Italia, 1890 – 1940, Pavia 2000. 20 Genannt s­ eien zunächst die neuesten Sammelbände von Raffaela Simili (Hg.), Scienza, tecnologia ed istituzioni in Europa. Vito Volterra e l’origine del C. N. R., Rom, Bari 1993, dann aber vor allem dies. / Giovanni Paoloni (Hg.), Per una storia del Consiglio Nazionale delle Ricerche, 2 Bde., Rom, Bari 2001. Der Titel soll die Vorläufigkeit der Ergebnisse signalisieren. Eine ebenfalls auf den CNR ausgerichtete Monographie stammt von Roberto Maiocchi, Gli scienziati del Duce. Il ruolo dei ricercatori e del CNR nella politica autarchica del fascismo, Rom 2003. Dieser vorzüglich ausgewiesene Wissenschaftshistoriker lieferte auch einen Gesamtüberblick über die zwanzig Jahre faschistischer Herrschaft: Roberto Maiocchi, Scienza e fascismo, Rom 2004. 21 In deutscher Sprache hierzu Gabriele Turi, Die Akademien im faschistischen Italien. Eine schrittweise Vereinnahmung. In: Wolfram Fischer (Hg.), Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1914 – 1945, Berlin 2000, S. 351 – 371. Deutlich älter und in mancher Hinsicht überholt ist Marinella Ferrarotto, L’Accademia d’Italia. Intellettuali e potere durante il fascismo, Neapel 1977. 22 Aldo Gamba / Pierangelo Schiera (Hg.), Fascismo e scienza. Le celebrazioni voltiane e il Congresso internazionale dei Fisici del 1927, Florenz 2005. 23 Die Akten der Tagung erschienen unter dem Titel: Pier Giorgio Zunino (Hg.), Università e accademie negli anni del fascismo e del nazismo, Florenz 2008.

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Forschungsstandes in beiden Ländern, denn eine Grüttners Nachschlagewerk 24 entsprechende Zusammenstellung sucht man trotz der Vorliebe für Personengeschichte 25 in Italien vergeblich. Dass die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Alterskohorte zwar nicht alleinige, aber wesentliche Voraussetzung für die ‚Selbstmobilisierung‘ (nicht nur) der Wissenschaftler im Sinne des Nationalsozialismus war, ist darum bislang umfassend nur für den deutschen Fall nachgewiesen,26 anders als die hochgradige Faschisierung der Studenten, die inzwischen auch für Italien außer Zweifel steht.27 Es ist deshalb kaum noch angebracht, im Blick auf Italien von einer terra incognita zu sprechen. Das größere Problem ist nach wie vor, dass nicht nur die Durchschnittsitaliener, sondern auch eine erhebliche Zahl von Forschern den Faschismus zu verharmlosen pflegten – bei d ­ iesem Thema mit dem vordergründig nicht ganz unrichtigen Argument, mit seinen Projekten sei er mehr oder minder vollständig gescheitert. Dagegen sprechen aber nicht nur der nahezu totale Konsens gerade auch der intellektuellen Eliten und mit ihnen der Wissenschaftler,28 sondern auch die dauerhaften Veränderungen namentlich im Bereich der Universitätskultur, die seither dem Staat viel vollständiger unterworfen ist als etwa die deutsche, die nach 1945 verlorenes Terrain zurückerobern und in Resten bis in die Gegenwart verteidigen, ja zuletzt wieder vergrößern konnte. Trotzdem wäre es vollkommen irrig, würde man aus den zuletzt getroffenen Feststellungen auf ein mehr oder minder identisches Verhältnis z­ wischen Regime und Wissenschaft in beiden Ländern schließen. Das Gegenteil ist der Fall, denn es unterliegt keinem Zweifel, dass das, was in Italien als ‚deutsche Wissenschaft‘ gilt, nämlich deren im 19. Jahrhundert erlangter Status eines festen Bestandteils staatlicher Verfasstheit, einen ganz wesentlichen Anteil an den nationalsozialistischen ‚Erfolgen‘ einschließlich

24 Michael Grüttner (Hg.), Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004. 25 Zwei Ausstellungskataloge für hochberühmte Wissenschaftler, die eine absolut gegensätzliche Haltung gegenüber dem Faschismus einnahmen, standen am Beginn der Rekonstruktion der Geschichte des CNR: Giovanni Paoloni (Hg.), Vito Volterra e il suo tempo (1860 – 1940). Mostra storico-­documentaria, Rom 1990. Ders. / Rafaella Simili (Hg.), Guglielmo Marconi e l’Italia. Mostra storico-­documentaria, Rom 1996. Schließlich noch eine vor kurzem ins Deutsche übersetzte Biographie von dems. u. Angelo Gueraggi, Vito Volterra, Basel 2011 (ital. Original 2008). 26 Zusammenfassend Michael Grüttner, Nationalsozialistische Wissenschaftler. Ein Kollektivporträt. In: Ders. u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 149 – 165. Der Aufsatz erschien zuvor bereits auf Italienisch in dem von Zunino herausgegebenen Tagungsband Università e accademie (wie Anm. 23). 27 Luca La Rovere, Storia dei GUF. Organizzazione, politica e miti della gioventù universitaria fascista 1919 – 1943, Turin 2003. Für Deutschland liegen seit der ersten Studie von Wolfgang Kreutzberger, Studenten und Politik 1918 – 1933. Der Fall Freiburg im Breisgau, Göttingen 1972, zahlreiche Untersuchungen vor, die das Übergewicht des Rechtsradikalismus seit ca. 1927/28 nachgewiesen haben. 28 Dazu schon früh Gabriele Turi, Il fascismo e il consenso degli intellettuali, Bologna 21984.

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der in Teilen umgesetzten Vision eines rassisch gesäuberten Europas hat.29 Die von der Wissenschaft begangenen Verbrechen besitzen darum im deutschen Fall eine ganz andere Dimension als im italienischen. Zwei Wissenschaftskulturen Die beiden Diktatoren trafen bei ihrem Machtantritt auf zwei sehr verschiedene Wissen­ schaftskulturen, die überwiegend im 19. Jahrhundert wurzelten. Wenn man das deutsche Beispiel an erster Stelle abhandelt, erscheint das im Anschluss geschilderte italienische unvermeidlicherweise in hohem Grade als defizitär. Das ist nur deshalb nicht von vornherein unzulässig, weil, wie geschildert, Teile der italienischen Eliten das damals ebenso sahen. In der gebotenen Kürze kann man von drei Merkmalen der deutschen Wissenschaftskultur sprechen. Erstens das berühmte Humboldt’sche Modell, bestehend aus der Verbindung der traditionellen korporativen Autonomie mit staatlich garantierter Freiheit von Lehre und Forschung sowie Beteiligung der Studenten an letzterer; für beides brauchte es Institute, Labors und Kliniken, was die Universitäten schließlich zu einem mit viel Personal unterhalb der Ordinarienebene ausgestatteten Großbetrieb werden ließ,30 der für die Zeitgenossen im 1870er Krieg sogar den Sieg über das andere Wissenschaftsmodell – Nebeneinander von Zentralschulen und in Fakultäten zerschlagene Universitäten, deren Ausbildung strikt berufsbezogen war – davontrug.31 Trotzdem geriet, zweitens, dieser Großbetrieb gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Krise, weil er sich der gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Entwicklung immer weniger anzupassen vermochte. In die davon verursachte Lücke stießen zuerst (und erneut gegen heftigen Widerstand) die sich zu Forschungsanstalten wandelnden Technischen Hochschulen, denen 1899 ein Machtspruch des Kaisers das Promotionsrecht verschaffte. Das half nur begrenzt und so kam es, beginnend mit der Physikalisch-­Technischen Reichsanstalt (PTR ) 1887, zur Auslagerung der sogenannten Großforschung an eigens dazu geschaffene Institutionen. Die 1911 gegründete ­Kaiser-­Wilhelm-­Gesellschaft verhinderte das drohende Monopol der Ressortforschung 29 Für die Selektionen an der Rampe von Auschwitz-­Birkenau war der medizinische Doktorgrad Voraussetzung. 30 Um Missverständnisse auszuschließen, sei hinzugefügt, dass die Umwandlung der Universitäten gemäß Humboldts Vorstellungen dort auf große Widerstände traf und folglich ein mindestens sechzig Jahre benötigender Vorgang war. Ein gutes Fallbeispiel dafür liefert Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001. 31 Die Reaktion in Frankreich darauf, wenn auch nicht ohne Verzeichnungen, erforschte Allan Mitchell, The German Influence in France after 1870. The Formation of the French Republic, Chapel Hill 1979.

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und wurde zum weltweit bewunderten Vorbild der Allianz von Wissenschaft, Staat und Industrie. Drittens machte sich ganz allgemein in den 1890er Jahren die Vorstellung breit, man trete in ein neues Zeitalter; seit 1886 lag dafür auch schon ein Name bereit: „Moderne“.32 Männer wie v. Siemens und Virchow sprachen vom naturwissenschaftlichen Zeitalter, das gekennzeichnet sei von der praktischen Verwertung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, die letztlich zur Unterwerfung der Natur führen werde. Das war Ausdruck der (Natur-) Wissenschaftsgläubigkeit, die in Deutschland wohl stärker als anderswo ausgeprägt war und dank Hunderter von Vereinen eine solide gesellschaftliche Grundlage besaß. Für viele bildete die (Natur-)Wissenschaft den Grundstock für eine neue Religion, die die Welt besser zu erklären schien als das Christentum; eine davon war der Rassismus. Die Nationalsozialisten fanden 1933 eine Wissenschaftslandschaft vor, die im ­Ersten Weltkrieg neue Formen der Zusammenarbeit mit Staat, Industrie und Militär erlernt und damit bemerkenswerte wissenschaftlich-­technische Erfolge errungen hatte und die, wenn sie auch politisch in der Mehrheit dem Nationalsozialismus gegenüber auf Distanz blieb, mit ihrer stramm nationalen Gesinnung und der politisierten Pflichtenethik nicht den Eindruck erweckte, ihre noch immer weltweit bewunderten Kapazitäten den neuen Machthabern vorzuenthalten. Die italienische Wissenschaftskultur wies demgegenüber erhebliche Unterschiede auf, aber war sie deshalb rückständig? Konservative und Katholiken, aber auch Vertreter der angesehenen Fakultäten – Rechtswissenschaft und Medizin – hatten ihre Zweifel an dieser These und verhinderten jahrzehntelang durchgreifende Änderungen.33 So koexistierten in ­diesem Land gegen Ende des 19. Jahrhunderts Elemente verschiedener europäischer Universitätsmodelle: zentralistischer Dirigismus nach französischem, korporative Organisation mit starken Wurzeln in der lokalen Ebene nach englischem, Vorherrschaft der forschungs- und berufsorientierten Fakultäten nach deutschem Muster. Auch für Italien lassen sich drei wissenskulturelle Kennzeichen ausmachen. Erstens konnte sich der liberale Nationalstaat mit seinen gelegentlich entwickelten Reformvorstellungen nicht durchsetzen – nicht nur wegen Geldmangel, der nur in den 1890er Jahren handlungsleitend war – und es überraschte das Ausland immer wieder, dass so gut wie jedes Studium in den meisten Fakultäten mit dem Doktorgrad endet, weil es den Regierungen leichter fällt, die Bewerber mittels concorso zu sortieren, als qualitätsgarantierende Staatsprüfungen in die Studiengänge einzuführen. Erst 1920 vermochte es immerhin Benedetto Croce, der Deutschland bestens kannte, den Besuch von Übungen als Voraussetzung zur Promotion durchzusetzen. Zweitens sahen sich 32 Näheres dazu bei Christof Dipper, Moderne, Version 1.0. In: Docupedia-­Zeitgeschichte, URL: https://docupedia.de/zg/Moderne?oldid=80259 (25. 8. 2010). 33 Das Folgende vor allem nach Christophe Charle, Grundlagen. In: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg (1800 – 1945), München 2004, S. 43 – 80, sowie nach Anna Guagnini, Technik. Ebd., S. 488 – 514.

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Natur- und Technikwissenschaften erheblichen Entwicklungshindernissen ausgesetzt. Während letztere infolge ihrer vom französischen Einfluss verursachten stark theorieorientierten Ausbildung ihren Absolventen kaum Anstellungen verschaffen konnte, vollzogen umgekehrt erstere den internationalen Trend zur Theoretisierung und Mathematisierung nicht mit. So verbauten sich namentlich Physik und Biologie die Rezeption neuer Wissensbestände,34 letztere trotz ihrer frühen Übernahme von Darwins Lehre. Die Mathematik dagegen galt seit alters als Inbegriff der ‚reinen‘ Wissenschaft und blieb deshalb auf völlig abstraktem, allerdings international beachtetem Niveau. Unter solchen Bedingungen tat sich die Entstehung einer breiten, bis in unterbürgerliche Schichten reichenden Wissenschaftsgläubigkeit schwer, auch wenn es 1904 in Rom war, wo der Internationale Freidenkerkongress stattfand, auf dem Theodor Haeckel in einer theatralischen Szene zum ‚Gegenpapst‘ ausgerufen wurde. Drittens schließlich fehlten bis zum ­Ersten Weltkrieg alle Voraussetzungen zur Installation einer Großforschung, noch dazu außeruniversitär. Italien beschritt daher den Weg, Organisationen zu gründen, die die Forschung durch Koordination voranbringen sollten. Am wichtigsten war die 1907 auf Anregung des international bekannten Mathematikers Vito Volterra gegründete und bis heute existierende Società italiana per il progresso delle scienze (SIPS), die in bewusster Anlehnung an die Wissenschaftlerkongresse des Risorgimento mittels ihrer Jahrestagungen ein Gegengewicht zur wachsenden Spezialisierung bieten und allgemein den Eliten das Bewusstsein für die Bedeutung der Natur- und Ingenieurwissenschaften vermitteln wollte. Auch die Faschisten fanden 1922 eine Wissenschaftslandschaft vor, die im E ­ rsten Weltkrieg neue Formen der Zusammenarbeit mit Staat, Industrie und Militär erlernt und dafür sogar den nationalen Rahmen verlassen hatte.35 Besonders gilt das für das 1917 vom Kriegsministerium im Interesse der „Mobilisierung der Wissenschaft“ gegründete Ufficio invenzioni e ricerche (UIR), an dessen Spitze ebenfalls Volterra stand, der ­dieses Büro über das Kriegsende hinaus rettete, weil er es nach dem Vorbild des 1916 gegründeten amerikanischen National Research Council zur Keimzelle des CNR zu machen hoffte. Ja, es lagen sogar Gesetzentwürfe vor und Ende 1922 waren dann auch noch erste deutsche Laboratoriumsausrüstungen als Reparationsleistung angekommen, die erst recht die Notwendigkeit erkennen ließen, in Italien ein zentrales chemisch-­ physikalisches Forschungsinstitut einzurichten, das auch Anwendungsmöglichkeiten erarbeiten sollte. Bestimmend blieben aber zunächst die überlieferten Hindernisse und Vorbehalte.

34 Beispielsweise Thermodynamik, Elektromagnetismus, Gaskinetik, aber auch Evolutionslehre, Genetik und ­später die Relativitätstheorie. Mehr dazu bei Maiocchi, Scienza (wie Anm. 20), S.  17 ff. 35 Das Folgende nach Luigi Tomassini, Le origini. In: Rafaella Simili / Giovanni Paoloni (Hg.), Per una storia del Consiglio Nazionale della Ricerca, Rom, Bari 2001, Bd. 1, S. 5 – 71.

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Faschistische Wissenschaftspolitik Der Faschismus verfügte bei seinem Machtantritt über kein wissenschaftspolitisches Programm. Anders als beim Nationalsozialismus spielte jedoch Anti-­Intellektualismus keinerlei regimeoffizielle Rolle, im Gegenteil. Einer der angesehensten Philosophen des Landes, Giovanni Gentile, wollte mit Hilfe des Faschismus die Wissenschaft nach deutschem Vorbild zum integralen Bestandteil staatlicher Verfasstheit machen und wurde deshalb Mussolinis erster Erziehungsminister, noch bevor er der Partei beitrat. Ausschlaggebend war aber natürlich, dass Mussolini selbst der Wissenschaft und ihrer Förderung durch den Staat viele Male höchste Priorität einräumte. Auf der 15. Jahrestagung der SIPS im Oktober 1926 formulierte er dazu Sätze, die vielen Historikern als Bekenntnis und Programm gelten: „Che cosa ho dato io alla scienza? Un bel nulla. Che cosa ho dato come Capo del Governo? Ancora molto poco. La ricerca scientifica in Italia da dieci anni attraversa un periodo di stasi. Bisogna avere il coraggio di dire che siamo molto in ritardo. […] Invece la ricerca scientifica moderna richiede un impiego ingentissimo di mezzi. […] Il problema è veramente grave“.36 Wissenschaftspolitik war eines der Mittel, mit deren Hilfe sich die Faschisten vom schwächlich gebliebenen liberalen Nationalstaat vorteilhaft abzuheben und wie vor ihnen bereits die Futuristen dem Italien kennzeichnenden passatismo zu entkommen suchten.37 Mussolinis Präsenz bei zahlreichen wissenschaftspolitisch wichtigen Veranstaltungen, seine Anweisungen an führende Wissenschaftsfunktionäre, seine direkte Beteiligung bei Dingen wie der Auswahl der Kandidaten für die von ihm gegründete R. Accademia d’Italia oder Zuteilung von Haushaltsmitteln für den CNR belegen, wie wichtig dem Duce das Thema Wissenschaft war, auch wenn es ihm kaum um diese selbst ging, sondern er sie vielmehr instrumentell betrachtete. Mit anderen Worten: Wissenschaft diente ­Mussolini, jedenfalls in den ersten zehn Jahren seiner Herrschaft, vorwiegend als Mittel für den Konsens und er hatte in der Wissenschaftspolitik das letzte Wort. Im folgenden Jahrzehnt erwartete er von ihr dagegen wesentliche Hilfe bei der als Lebensform der Zukunft ausgegebenen Autarkie, doch was er dazu wissenschaftspolitisch unternahm, kann nicht anders als erratisch bezeichnet werden.

36 “Was habe ich persönlich bisher der Wissenschaft gegeben? Rein garnichts. Was habe ich als Regierungschef gegeben? So gut wie nichts. Die wissenschaftliche Forschung durchlebt in Italien seit zehn Jahren eine Phase der Stagnation. Man muss den Mut haben zu sagen, dass wir sehr in Verzug geraten sind. […] Dabei benötigt die moderne naturwissenwissenschaftliche Forschung ziemlich viel Geld. […] Das Problem ist wirklich riesengroß”. Zit. Pierangelo Schiera, Tra fisica e politica. Un caso locale di rilievo internazionale. In: Gamba / Schiera (Hg.), Fascismo e scienza (wie Anm. 22), S. 16. 37 Dazu Monica Cioli, Il fascismo e la ‚sua‘ arte. Dottrina e istituzioni tra futurismo e Novecento, Florenz 2011, S. XIII ff. Zuletzt dies., Arte e scienza internazionale. Il „modernismo“ fascista negli anni Venti, Bologna 2016 (Scienza e Politica, H. 5). „Passatismo“ meint Orientierung an der Vergangenheit.

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Einen institutionellen Gegner besaß eine so beschaffene Wissenschaftspolitik nur in Organen, die wie die mehr als dreihundert Jahre alte Accademia dei Lincei ihre Unabhängigkeit und Internationalität betonten. Aus anderen Gründen zählten die Universitätsprofessoren zu den Gegnern wissenschaftspolitischer Umsteuerung. Sie sorgten sich um ihre (bescheidenen) Universitätsinstitute und opponierten deshalb gegen jedwede Priorisierung.38 Wenn Mussolini und seine Berater gehofft hatten, mit dem 1931 geforderten Treueid auf den Faschismus zugleich diese wissenschaftspoli­ tische Opposition zu überwinden, haben sie sich getäuscht, denn Opportunismus und taktische Überlegungen sorgten dafür, dass von den ca. 1.200 Professoren lediglich achtzehn den Eid verweigerten.39 Wie erinnerlich spiegelte die italienische Wissenschaftskultur die geschichtlich bedingte Zwitterstellung des Landes wider, die vom Nebeneinander jahrhundertealter hochkultureller Tradition von Weltruf und halb-­industrialisierten Entwicklungsstands gekennzeichnet war. Der den Übergang zur Moderne begleitende Ausbau der Natur-, Ingenieur- und Humanwissenschaften hatte in d ­ iesem Land nur zögerlich stattgefunden, eine außeruniversitäre Großforschung fehlte aber auch aus finanziellen Gründen. Italien beschritt daher den Weg, mit Hilfe neuer Organisationen die Wissenschaft zu koordinieren und dadurch voranzubringen. Der Erste Weltkrieg hatte zugleich den Wert der anwendungsorientierten Disziplinen gezeigt und dementsprechend das Fehlen der anderswo vorhandenen großen Labore schmerzlich bewusst werden lassen. Mussolini setzte diesen Weg fort.40 Das unmittelbar vor seiner Machtübernahme versandete Projekt des CNR griff er auf, so dass bereits 1923 die von Volterra entworfene Institution ins Leben treten konnte. Volterra hatte dem CNR satzungsgemäß zwei Ziele verordnet: zum einen die enge Verbindung mit dem 1919 in Brüssel gegründeten Conseil

38 Paoloni spricht von der „insofferenza verso qualunque forma sia pure embrionale di politica scientifica“ (von der “Unduldsamkeit gegenüber jeder Wissenschaftspolitik, und sei sie noch so winzig“) der italienischen academic community. Giovanni Paoloni, Organizzazione e risorse di un ente in formazione. In: Simili / Paoloni (Hg.), Per una storia (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 220. 39 Es gab natürlich wesentlich mehr echte Regimegegner unter ihnen, aber weil der Faschismus ihnen freie Wahl ließ und nicht wie beim nationalsozialistischen „Berufsbeamtengesetz“ die Kategorien der zu Entlassenden festlegte, war der Handlungsspielraum breit. So forderte Togliatti aus dem sowjetischen Exil seine Anhänger auf, aus Tarnungsgründen den Eid zu leisten, Vergleichbares taten die meisten bewussten Katholiken kraft reservatio mentalis, während andere wie Calogero und Einaudi den Eid leisteten, um ‚Schlimmeres zu verhüten‘, wie diesen beiden Croce empfahl. Einige der Entlassenen konnten weiterarbeiten, zum Beispiel an dem auf Anregung ­Mussolinis 1925 gegründeten Istituto della Enciclopedia italiana. Umfassend dazu Helmut Goetz, Der freie Geist und seine Widersacher. Die Eidverweigerer an den italienischen Universitäten im Jahre 1931, Frankfurt 1993. Goetz hat lediglich 12 Eidverweigerer aufgespürt, seit der italienischen Übersetzung seines Buches im Jahre 2000 wurden aber von Italienern weitere Fälle entdeckt. 40 Das Folgende im wesentlichen nach Maiocchi, Scienza (wie Anm. 20), S. 27 ff., sowie nach den Beiträgen in Simili / Paoloni (Hg.), Per una storia (wie Anm. 35), Bd. 1.

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International de Recherches,41 dessen Vizepräsident er war, damit Italien mit ­diesem wichtigen Netzwerk internationaler Forschungsorganisationen verbunden blieb, zum andern die Errichtung eines großen Forschungsinstituts. Um die Anerkennung aus Brüssel zu erhalten, war der CNR eine Dachorganisation nach Disziplinen gegliederter, von Wissenschaftlern geleiteter Fachgruppen mit Volterra, von einem Beirat unterstützt, als Präsidenten an der Spitze.42 Die Haushaltsmittel reichten im Grunde nur für die Sicherung der internationalen Kontakte, denn gegen das nationale Großlabor opponierten die italienischen Universitäten von Anfang an im Parlament und als Fachgruppenleiter im CNR. Da Volterra außerdem aus seiner Regimegegnerschaft kein Hehl machte, verlängerte Mussolini 1927 nicht seinen Vertrag als Präsident des CNR. Die von großen Hoffnungen begleitete Organisation existierte praktisch nur auf dem Papier. Es folgten mehrere, jeweils an die Präsidentschaft geknüpfte Reorganisationen, die den CNR aber nicht wirklich funktionsfähig machten, da Mussolini weder wissenschaftspolitischen Sachverstand noch dauerhaftes Interesse hatte und sich selten an Budgetzusagen hielt. Der CNR wurde zwar zur Herzensangelegenheit wissenschaft­ licher Funktionäre – von ihnen gab es allerdings im damaligen Italien nur sehr wenig –, zugleich aber auch zum Spielball konkurrierender Interessen, wobei klientelare Zwecke eine große Rolle spielten. Der mehrfache Richtungswechsel ist Ausdruck dieser Konflikte und führte dazu, dass der CNR, außer in den Jahren z­ wischen 1929 und 1937, wissenschaftspolitisch eher bedeutungslos blieb. Auf Volterra folgte der Nobelpreisträger und politisch zuverlässige Guglielmo ­Marconi, der aber auch erst zwei Jahre warten musste, bis der CNR von Mussolini in großer Zeremonie 1929 wiedereröffnet wurde. Immerhin erhielt er vom Duce den klaren Auftrag, die naturwissenschaftlichen Forschungsaktivitäten in Richtung Anwendungsorientierung umzusteuern, und bekam dazu weitreichende Entscheidungsfreiheit. Marconi, der nie eine Universität besucht hatte, war der richtige Mann für diese universitätsfeindliche Wende, die er in der Folgezeit allerdings stark zurücknehmen musste, weil es in Italien außerhalb der Universitäten keine leistungsfähigen Forscher gab, schon gar nicht in der Industrie. Immerhin schaffte er es, mit Hilfe von ‚Spenden‘ (Marconi trieb ­Gelder bei interessierten Städten und der Industrie auf, erhielt aber auch Haushaltsmittel ­etlicher Ministerien und regelmäßig erhebliche Zuwendungen des im Direktorium des CNR vertretenen Banca d’Italia) den Etat in zehn Jahren zu verzwanzigfachen.43 Damit

41 Eine zentrale Funktion der Brüsseler Organisation war allerdings die Überprüfung des für 12 Jahre vorgesehenen Ausschlusses der deutschen und österreichischen Wissenschaftler von internationalen Tagungen. 42 Neu im Vergleich zum Brüsseler Vorbild war, dass in Rom auch je eine Abteilung für Ingenieurund Landwirtschaftswissenschaft eingerichtet wurde. Amtssitz war bis 1936, als ein Neubau eingeweiht wurde, die Accademia dei Lincei. 43 Und zwar in stabilen Lire von 1938 gemessen. Paoloni, Organizzazione (wie Anm. 38). In: Simili / Paoloni (Hg.), Per una storia, Bd. 1, S. 220. Paoloni zieht als bislang einziger Forscher die ‚Spenden‘

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­bezuschusste der CNR Vorhaben wie einen Windkanal oder ein Labor zur präzisen Messung von Wellenlängen und rief 1936 endlich drei nationale Forschungsinstitute für Chemie, Geophysik und Biologie ins Leben; doch auch diese erwiesen sich alsbald nur als Türschilder römischer Universitätsinstitute. Anders verhielt es sich mit dem schon 1932 übernommenen Istituto Nazionale per le Applicazioni del Calcolo (INAC) Mauro Picones, das tatsächlich eines der ersten außeruniversitären Forschungsinstitute Italiens war, bald international bekannt wurde und sich dank steigender Aufträge sogar selbst finanzieren konnte.44 1936 erhob Mussolini die Autarkiepolitik zum künftigen Lebensgrundsatz des Landes und rief Wissenschaft und Technik zur Mitwirkung auf.45 Vom CNR verlangte er kurzfristig Gutachten zu Rohstoffversorgung und Ersatzstoffen und versprach Budgeterhöhungen. Gleichzeitig kam aber die Arbeit des CNR als Folge der Auseinandersetzung Marconis mit dem neuen Erziehungsminister Bottai um den Status dieser Einrichtung zum Erliegen 46 – Bottai sperrte kurzerhand die Haushaltsmittel –, so dass das politisch-­militärische Establishment vergeblich auf wissenschaftlichen Beistand wartete. Mussolini entschied den Streit erst im Juni 1937 zugunsten Marconis, doch starb dieser bereits im Monat darauf. Sein Nachfolger wurde Generalstabschef Badoglio mit dem exorbitanten Jahresgehalt von 100.000 Lire, beides ein Affront für die Wissenschaft.47 Mussolini erhoffte sich von dieser Personalie eine bessere Zusammenarbeit von Wissenschaft und Militär – vergeblich. 1938 beschloss das Direktorium auf Druck der Universitätsprofessoren, keine selbständigen Forschungsinstitute mehr zu gründen. Prominentestes Opfer war Enrico Fermi, dessen Institut für künstliche Radioaktivität nicht genehmigt wurde. Fermi, der eben 1938 den Nobelpreis erhielt, reiste von Stockholm aus gleich in die USA weiter, wo er bis zum Lebensende blieb.48 Der CNR beschränkte sich zunehmend auf heran, die das Gros der Mittel des CNR ausmachten, aber nicht in dessen Haushalt auftauchten. Deshalb weicht seine Ansicht zur finanziellen Lage deutlich von der herrschenden Meinung ab. 44 Mehr dazu bei Angelo Guerraggio, Il fascismo, la matematica e i matematici italiani. In: Zunino (Hg.), Università (wie Anm. 23), S. 260 ff. Picone, spätestens seit 1923 Mitglied im PNF, wurde aufgrund seiner auch militärisch verwendbaren Berechnungen – vor allem Bombenabwürfe – im Krieg mehrfach von Mussolini empfangen. Der Aufstieg der Praktischen Mathematik in den 1930er Jahren war allerdings ein internationales Phänomen. 45 Zum Zusammenhang von Autarkie und Wissenschaftspolitik beiläufig, aber in deutscher Sprache Rolf Petri, Von der Autarkie zum Wirtschaftswunder. Wirtschaftspolitik und industrieller Wandel in Italien 1935 – 1963, Tübingen 2001, S. 113 ff. Petri macht deutlich, dass der CNR in dieser Frage immer nur eine Rolle am Rande spielte. 46 Die Briefe beider Seiten an Mussolini sind abgedruckt in Margherita Martelli, I documenti. In: Simili / Paoloni (Hg.), Per una storia (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 600 – 639, Nr. 16 u. 17. 47 Ein Ordinarius verdiente im Normalfall 18.000 Lire im Jahr. 48 Die Entscheidung Fermis gegen Italien wurde in der Forschung lange Zeit als Reaktion auf die faschistischen Judengesetze des Jahres 1938 bewertet, denn Fermis Frau war jüdischer Herkunft. Heute herrscht die Ansicht vor, dass Fermi wie eine ganze Reihe anderer Naturwissenschaftler dem Land den Rücken kehrten, weil sie keine Mittel für die Einrichtung eigener Labors erhielten.

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die Verwaltung des Alltags.49 Der Kriegsbeginn machte die Schwachstellen im CNR offensichtlich, denn anders als im ­Ersten Weltkrieg gingen jetzt von staatlicher Seite keinerlei Impulse für die Forschung aus. Gründe waren die rapide Geldentwertung, die Mobilisierung des Institutspersonals und Mussolinis Desinteresse. Binnen kurzem kam es zur „paralisi quasi totale“.50 Badoglios Amtsverzicht im Oktober 1941 hatte keine wissenschaftspolitischen, sondern militärische Gründe. Nachfolger wurde nun wieder ein fähiger Wissenschaftler, der Gründer und Direktor des renommierten Istituto Elettrotecnico Nazionale in Turin, Giancarlo Vallauri. Er wollte die wissenschaftlich-­technische Rationalität wieder zur obersten Maxime machen, verdarb es sich darum mit allen, die etwas zu verlieren hatten – überhöhte Gehälter und Ämterkumulation waren zur Regel geworden – und resignierte im März 1943. Nachfolger wurde sein größter Gegner, Francesco Giordani, der dank seiner zahlreichen Funktionen einflussreichste Wissenschaftler des Landes. Er stellte als erstes die alte Pfründenwirtschaft wieder her 51 – angesichts der Inflation bei blockierten Gehältern nicht ganz unverständlich –, konnte aber im Hinblick auf die Zeitumstände der Wissenschaft natürlich keine Impulse geben. Wenig überraschend ist auch, dass die auf Mussolinis Sturz folgende Regierung Badoglio am CNR kein Interesse zeigte. Die Republik von Salò versuchte dagegen eine neue Wissenschaftspolitik: Der CNR sollte zu einer Ministerialabteilung für Beratung zurückgestuft werden, die anwendungsnahe Forschung auf das Wirtschaftsministerium übergehen. Tatsächlich gründete ­dieses im Mai 1944 das Centro Nazionale della Ricerca e Produzione Petrolio e Gas, in dessen Verwaltungsrat zwar einflussreiche Industrievertreter saßen, aber kein CNR -Mitglied.52 So versandete die CNR -Tätigkeit im Norden wie im Süden der Halbinsel und musste nach Kriegsende wieder zum Leben erweckt werden. Wo die Wissenschaftspolitik nicht der Wissenschaft, sondern der Selbstdarstellung des Faschismus und dem internationalen Prestige dienen sollte, hatte M ­ ussolini mehr Erfolg. Beispielhaft sind hierfür die beiden internationalen Kongresse der Physiker 1927 in Como und der Mathematiker 1928 in Bologna und die Florentiner Ausstellung zur Geschichte der Naturwissenschaft 1929. Mit dem seit 1924 in der Diskussion befindlichen Vgl. Pier Giorgio Zunino, Gli scienziati italiani all’ombra di una „reasonable dictatorship“: Memorie e lettere di Franco Rasetti su fascismo, fisici e bomba atomica. In: ders. (Hg.), Università (wie Anm. 23), S. 99 ff. Auch Rasetti verließ Italien 1939, obwohl er Parteimitglied war und wie Fermi den Premio Mussolini in Höhe von 50.000 Lire erhalten hatte. Subjektiv wanderte übrigens keiner der beiden aus, sondern sie ließen sich beurlauben. Auf Fermis nachträglichen Rechtfertigungsversuch reagierte der düpierte Mussolini erwartungsgemäß unwirsch. 49 1938 verfügte er etatmäßig über 352 Stellen, davon 233 für Wissenschaftler; Maiocchi, Scienza (wie Anm. 20), S. 39. 50 „Eine nahezu vollständige Lähmung“. Ebd., S. 47. 51 Für Berichterstatter und Beiratsmitglieder erfand er sogar einen „premio mensile di operosità“ von 500 Lire. Ebd., S. 49. 52 Minister Angelo Tarchi kam aus der chemischen Industrie.

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Volta-­Kongress wollte sich ursprünglich die lombardische elektrotechnische Industrie gegenüber der römischen Zentrale präsentieren und diese zur Gründung eines Staatsinstituts für Elektrotechnik veranlassen, das sie seit 1918/19 forderte.53 1926/27 ließ sich Mussolini jedoch nicht mehr unter Druck setzen, sondern diktierte seinerseits die Bedingungen und finanzierte den Kongress alleine.54 Auf ihm präsentierte sich der Faschismus als Förderer von Technik und Wissenschaft, die ganz im Stil des späten 19. Jahrhunderts als Mittel auch moralischer Erneuerung vorgestellt wurden. Dank der Starbesetzung 55 erregte der Volta-­Kongress internationales Aufsehen. Gleiches galt für den in Bologna stattfindenden Mathematik-­Kongress, auf dem teilweise die weltberühmten Redner des Vorjahres einen zweiten Auftritt hatten und der noch immer Spitzenleistungen hervorbringenden italienischen theoretischen Mathematik ihre Reverenz erwiesen. 56 Die Florentiner Ausstellung schließlich zielte auf Breitenwirkung. Tatsächlich zog sie in nur sechs Monaten über hunderttausend Besucher an und sollte die Botschaft verbreiten, dass erst der Faschismus Wissenschaft, Technik und Wirtschaft zusammengebracht habe. Es waren die Jahre der Um- bzw. Neugründung des CNR, in denen Mussolini nicht müde wurde zu betonen, es gehe ihm darum, „di ‚porre il problema della scienza e delle ricerche scientifiche al primo piano dei problemi nazionali‘“. 57 Das war freilich wie so vieles nichts als Rhetorik, aber eben auch ein Beitrag zum Konsens. Den Konsens der geistigen Elite ließ Mussolini sich einiges kosten. Man könnte auch sagen, er habe sich das intellektuelle Führungspersonal des Landes, sofern es nicht offen auf Distanz zum Regime blieb, regelrecht gekauft. Der Faschismus schuf nämlich 1925/26 parallel zur Errichtung der Diktatur in Italien eine ganze Reihe von Kulturinstituten, die mit gut bis sehr gut bezahlten Posten und Mitgliedschaften die Intellektuellen zur Mitarbeit an der Sache der Nation, wie immer wieder betont wurde, aufforderten.58 Die Krönung bildete die 1926 ins Leben gerufene R. Accademia d’Italia, mit der Mussolini die nationalen Eliten der Wissenschaft und Kunst an sich zu binden

53 Sie hatte deshalb auch den Marsch auf Rom mitfinanziert. Umfassend zu d ­ iesem Kongress und zur Rolle der Wissenschaft im Faschismus Monica Cioli, Un congresso internazionale di fisica. L’organizzazione della scienza nella costruzione dello Stato fascista. In: Gamba / Schiera (Hg.), Fascismo e Sciencia (wie Anm. 22), S. 27 – 103. Das Institut wurde erst 1934 gegründet. 54 Dazu gehörte auch, dass die letzte Sektion in Rom abgehalten wurde. 55 Für deutsche Physiker war es der erste internationale Auftritt nach dem ­Ersten Weltkrieg. 56 Knapp hierzu Cioli, Il fascismo (wie Anm. 37), S. XVII f. 57 „[…] das Problem der Naturwissenschaft und der naturwissenschaftlichen Forschungen auf die oberste Stufe der nationalen Aufgaben zu stellen“. Botschaft Mussolinis an Marconi, 1. 1. 1928; zit. Cioli, Un congresso (wie Anm. 53), S. 101, Anm. 193. 58 Da diese Institute nicht der Wissenschaft im engeren Sinne dienten, werden sie hier nicht weiter dargestellt. Es handelte sich um das im Februar 1925 mit privaten Geldern ins Leben gerufene Istituto della Enciclopedia italiana und um das im Dezember desselben Jahres gegründete Istituto di Cultura Fascista. Beiden stand der inzwischen als Erziehungsminister zurückgetretene Gentile vor.

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hoffte, während er die regionalen und lokalen rigoroser Kontrolle unterwarf.59 Entgegen den offiziellen Beteuerungen und auch entgegen dem Selbstverständnis der meisten Mitglieder, die nach 1945 schon aus Gründen der Selbstentlastung so zu argumentieren pflegten, verfolgte Mussolini bei seiner kostspieligen Schöpfung ausschließlich politische Ziele. Die pompöse Eröffnung 192960 markierte den „Beginn eines Prozesses beschleunigter Faschisierung bzw. Gleichschaltung der gesamten akademischen Welt“.61 Soweit die Akademie direkt betroffen war, sollen einige Stationen kurz genannt werden: Erstens wählte Mussolini persönlich die ersten dreißig Mitglieder aus, immerhin die Hälfte,62 zweitens waren die Präsidenten durchweg politische Persönlichkeiten,63 drittens mussten die Mitglieder 1933 einen Eid auf Mussolini schwören, viertens begann ebenfalls 1933 der sich bis 1939 hinziehende Gleichschaltungs- und Auflösungsprozess der Accademia dei Lincei, von der nur eine Minderheit übernommen wurde, fünftens wurden 1939 die Mitglieder im Hofzeremoniell den Senatoren gleichgestellt und konnten so ihr gesellschaftliches Prestige erheblich steigern. Nicht unbeachtet können sechstens die stets reichlich fließenden Gelder bleiben. Während CNR, Universitäten und Forschungsinstitute in dieser Hinsicht jährlichen Wechselbädern ausgesetzt waren, wurden die Accademisti regelrecht mit Geld überschüttet: Sie erhielten 36.000 Lire pro Jahr (zusätzlich zu ihren sonstigen Einkünften) plus Sitzungsgelder und eventuelle Amtszulagen. Teils freiwillig, teils auf Druck hin erklärten sich in den 1920er Jahren lombardische Unternehmerdynastien zu namhaften Spenden an die R. Accademia Nazionale bereit und stützten damit Mussolinis kostspielige ‚Einkreisung‘ der italienischen Intellektuellen: Die Besitzer des Corriere della Sera, die Brüder Crespi, dankten dem Duce dessen Disziplinierung der radikalen faschistischen Journalistengewerkschaft mit der Stiftung des Premio Mussolini, der mit 50.000 Lire der höchstdotierte Preis Italiens war und viermal jährlich an Wissenschaftler und Künstler verliehen wurde. 1929 stiftete Giacinto Motta von der Edison-­Gesellschaft, dem damals größten italienischen Unternehmen, die Fondazione Alessandro Volta, die ab 1931 jedes Jahr in Rom

59 Das Folgende nach Turi, Akademien (wie Anm. 21), und ders., Sorvegliare e premiare. L’Accademia d’Italia. In: Zunino (Hg.), Università (wie Anm. 23), S. 301 – 319. Turis kritische Einschätzung unterscheidet sich vorteilhaft von der nachsichtigen Haltung vieler italienischer Historiker bei ­diesem Thema. 60 Dass ­zwischen Errichtung und Eröffnung 3 Jahre vergingen, hängt mit knappen Mitteln und dem Widerstand des radikalen Flügels der Partei zusammen. Nach dem Konkordat war Mussolini aber stark genug, seinen Willen durchzusetzen. 61 Turi, Akademien (wie Anm. 21), S. 356. 62 Von diesen war wiederum die Hälfte bereits 1929 Parteimitglied, vier von ihnen, je einer pro Klasse, waren Sansepolcristi, also ‚alte Kämpfer‘, d. h. bereits seit März 1919 dabei; beides lässt auf wohlüberlegte Auswahl schließen. 63 Senatspräsident Tittoni 1929/30, Marconi 1930 – 1937, D’Annunzio 1937/38, Federzoni 1938 – 1943, Gentile 1943/44. Ihm folgte der Leiter berühmter Expeditionen nach Afrika und Asien, der Geograf Giotto Dainelli (1944/45).

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den prominent besetzten Volta-­Kongress organisierte.64 Die Akademie selbst hatte 1931 einen Jahresetat von 2,6 Millionen Lire und erhielt einen pompösen Amtssitz gegenüber der Accademia dei Lincei, der 1929 500.000 Lire genügen mussten.65 Sehr viel Geld floss in Preise, Stipendien und Zuschüsse; von 1930 bis 1933 nicht weniger als drei Millionen Lire. Die notorisch unterbezahlten italienischen Akademiker standen Schlange: 1935 bewarben sich mehr als 1.600 Personen; erfolgreich waren 163.66 Die wissenschaftlichen Aktivitäten der Akademie waren, wenn man davon absieht, dass der nationale Bezug zwingend war,67 über jeden Zweifel erhaben, soweit es um Druckbeihilfen und Vergleichbares ging. Schon mit der Gründung wissenschaftlicher Institute wurde jedoch die Grenze zur Politik überschritten 68 und auch die großen, ­zwischen 1931 und 1938 stattfindenden römischen Volta-­Konferenzen waren vielfach Propagandaveranstaltungen. So nahmen am Volta-­Kongress von 1932, der dem Thema ‚Europa‘ gewidmet war und eine Antwort auf Briands Europaplan von 1929 darstellte, Rosenberg und Göring teil; letzterer leitete in Anwesenheit Mussolinis die Eröffnungssitzung auf dem Kapitol, was einmal mehr dessen exzellente Beziehungen zu Italien – deshalb war er Hitlers Mittelsmann zum Duce – schon zu Zeiten der Weimarer Republik belegt.69 Nach dem (letzten) Volta-­Kongress 1938, der sich mit Afrika befasste, reisten viele Teilnehmer auf Einladung von Gouverneur Balbo kostenlos nach Libyen.70 Sogar 64 Zu Motta jetzt die vorzügliche Biographie von Luciano Segreto, Giacinto Motta. Un ingegnere alla testa del capitalismo industriale italiano, Rom, Bari 2005. In Deutschland hätten Unternehmer vom Schlage Mottas den Weg zur KWG gefunden und dadurch der Forschung direkt unter die Arme gegriffen. 65 Das war immerhin mehr als zuvor. Zahlen bei Turi, Sorvegliare (wie Anm. 59), S. 311. Zum Vergleich: Mitglieder der Preußischen Akademie der Wissenschaften erhielten jährlich 900 RM brutto (Burghard Ciesla, Abschied von der „reinen“ Wissenschaft. „Wehrtechnik“ und Anwendungsforschung in der Preußischen Akademie nach 1933. In: Wolfram Fischer [Hg.], Die Preußische Akademie [wie Anm. 21], S. 491), Direktoren von KWIs 1.000 bis 1.500 RM pro Monat (Rüdiger Hachtmann, Wissenschaftsmanagement im „Dritten Reich“. Geschichte der Generalverwaltung der ­Kaiser-­Wilhelm-­Gesellschaft, Göttingen 2007, Bd. 2, Tab. 1.4). 66 Turi, Sorvegliare (wie Anm. 59), S. 316. 67 Es gab im Gegensatz zu den Lincei weder ausländische noch korrespondierende Mitglieder. Das 1934 begonnene verdienstvolle Projekt des Vocabolario della lingua italiana fällt wegen seiner nationalsprachlichen Absicht auch in diese Kategorie. Der erste Band erschien bereits 1941, der vierte und letzte 1994. Der nationalpolitische Primat galt auch für den CNR nach dem Ende der Ära Volterra. Er war im übrigen damals keinesfalls italienische Besonderheit. 68 1935 wurde das Centro studi sull’Africa Orientale gegründet, 1939 das Centro studi Albania, 1941 gar das Centro studi Svizzera Italiana und das Centro studi Medio Oriente. Alle Zentren unterhielten Personal und Publikationsreihen. 69 Vgl. Schieder, Mythos Mussolini (wie Anm. 6), bes. S. 185 – 169. 70 Die Teilnehmer sollten so „de visu le miracolose realizzazioni del Regime Fascista, alla vigilia dell’immigrazione dei ,Ventimila‘, sulla quarta sponda d’Italia“ (“mit eigenen Augen die wundergleichen Leistungen des faschistischen Regimes am Beginn der Einwanderung der ‚Zwanzigtausend‘ ans ‚Vierte Ufer‘ Italiens“) bestaunen können. Francesco Orestano, Prefazione. In: Reale Accademia d’Italia. Fondazione Alessandro Volta (Hg.), Atti dei convegni. Convegno di scienze

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direkte politische Aktionen waren ausgesprochen zahlreich und nahmen im Laufe der Zeit zu: Unterstützung der jährlichen Kunst- und Kulturwettbewerbe für Studenten 71 und der Säuberung der Bibliotheken von ‚jüdischer‘ Literatur sowie im Krieg zahlreiche Veranstaltungen für Heer und Zivilbevölkerung. Es fällt auf, dass die größeren – und dauerhaften – Errungenschaften faschis­ti­ scher Wissenschaftspolitik im Bereich der Universitäten zu finden sind. Oft liegen die Anfänge in früheren Zeiten, aber umso eher konnten die Faschisten als Männer der Tat in Erscheinung treten. Der Katalog ist jedenfalls beachtlich. Erstens gründete der Faschismus 1924/25 durch Zusammenfassung, Aufwertung und Ausbau älterer Strukturen die beiden Universitäten Bari und Mailand, zweitens führte er ab 1924 den neuen Fakultätstyp „Politische Wissenschaften“ ein, der ihm die entsprechend inspirierten Staatsdiener liefern sollte, und drittens baute er in Rom von 1932 bis 1935 die riesenhafte Città universitaria. Auch die geisteswissenschaftliche Forschungslandschaft erfuhr, viertens, gewichtige, bis heute andauernde Impulse, auch wenn natürlich die weltanschaulichen Indienstnahmen inzwischen entfallen bzw., um genau zu sein, durch andere, zeitgemäßer erscheinende ersetzt worden sind. Die gesamte Geschichte seit den Zeiten der römischen Antike – die auf diese Weise der Nationalgeschichte wieder einmal zugeschlagen wurde, weil die romanità für den Faschismus höchste Priorität hatte,– sollte, sofern nicht bereits geschehen, von eigens geschaffenen Instituten bearbeitet werden; sie wurden der 1934 gegründeten Giunta Centrale per gli Studi Storici unterstellt.72 Die Dichter Alfieri, Manzoni und Leopardi und die Renaissance wurden ebenfalls mit je eigenen, in den 1930ern gegründeten Centri geehrt, die durchweg außerhalb Roms angesiedelt wurden. Fünftens schließlich erreichte der damals schon weltbekannte Statistiker Corrado Gini bei Mussolini 1926 die Errichtung des Istituto Nazionale di Statistica,73 das das italienische Statistikwesen auf internationales Niveau hob und zugleich die Bevölkerungspolitik des Faschismus nachhaltig beeinflusste, anders als das 1937 gegründete Istituto Italiano di Antropologia (das aus der 1893 gegründeten

morali e storiche, Tema: L’Africa, Rom 1939, Bd. 1, S. 6; URL: http://www.lincei-­celebrazioni. it/volta/i8libia.html (20. 8. 2012). 71 Es handelte sich um die z­ wischen 1934 und 1940 stattfindenden Littoriali della cultura e dell’arte, an denen nur Mitglieder der faschistischen Studentenvereinigung GUF teilnehmen konnten. Die Sieger erhielten neben einer Geldprämie ein Stellenangebot im PNF. Die Akademie stellte das Geld und die Gutachter. 72 Ihr waren bzw. sind unterstellt das Istituto Storico Italiano per il Medio Evo (das, 1883 gegründet, bis 1934 schlicht Istituto Storico Italiano hieß, weil dem 19. Jahrhundert, und zwar europaweit, das Mittelalter am nächsten lag), das Istituto Storico Italiano per l’età Moderna e Contemporanea (das 1925 von Gioacchino Volpe, dem offiziellen Regimehistoriker, als Scuola per l’età Moderna e Contemporanea gegründet worden war), das neue Istituto Italiano per la Storia Antica und schließlich 1936 das Istituto per la Storia del Risorgimento Italiano (dessen 1906 gegründete Vorstufe Società Nazionale per la Storia del Risorgimento hieß). 73 1936 ergänzt durch die in Europa einzigartige Fakultät der Scienze statistiche e attuariali.

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Società Romana di Antropologia hervorging); im Statistikamt hatten die Rassisten anfangs ihren wichtigsten wissenschaftlichen Standort. Die Errungenschaften im Bereich der Natur- und Technikwissenschaften, anders als in den Kulturwissenschaften, halten sich dagegen in den zwanzig Jahren faschistischer Herrschaft in deutlichen Grenzen. Im nationalsozialistischen Deutschland war es gerade umgekehrt. Berücksichtigt man die viel geringeren Möglichkeiten ­dieses sich von den Schäden des ­Ersten Weltkriegs nur langsam erholenden, in vieler Hinsicht nach wie vor bitter armen Landes, wird man einen ‚wissenschaftspolitischen Ausnahmezustand‘ nicht erwarten, auch wenn Mussolinis Rhetorik dies zu suggerieren versuchte. Aber Geldmangel war nicht der ausschlaggebende Grund. Fraglich ist auch, ob, wie Guerraggio annimmt, das Fehlen hochqualifizierter Studenten und Schumpeterscher Unternehmer sowie die Kleinheit des nationalen Markts eine entscheidende Rolle gespielt hat. 74 Fraglos verlor Italien durch seine Judenverfolgung 1938 eine erhebliche Zahl von Forschern,75 andere hatten schon nach ihrer unterlassenen Eidesleistung das Land verlassen. Giannetti führt zwei weitere triftige Gründe an: zum einen den nie gelösten Konflikt z­ wischen der Ministerialbürokratie, die aus dem CNR eine Begegnungs- und Vermittlungsinstanz von Forschung und Industrie machen wollte, und dem Direktorium des CNR , das auf seiner wissenschaftspolitischen Autonomie beharrte und deshalb auf Distanz zur Industrie blieb, und zum zweiten den ­zwischen dem anwendungsorientierten CNR und den eher grundlagenorientierten Universitäten.76 Diese Argumente verweisen auf die italienische Wissenschaftskultur. Sie war, wie oben dargelegt, nur teilweise in der industriellen Moderne angekommen. So wurde der CNR nicht zum Zentrum eines ‚militärisch-­industriell-­wissenschaftlichen Komplexes‘, sondern blieb bis 1945 „un ente in formazione“.77 Erst das italienische Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren hat das Land so stark verändert, dass auch die Weichen für eine erfolgreichere Wissen­schaftspolitik gestellt werden konnten.

74 Guerraggio, Fascismo (wie Anm. 44), S. 271. 75 „Knapp 6.000 Juden wählten den Weg in die Emigration“, was 12 Prozent der jüdischen Minder­ heit entsprach. Thomas Schlemmer / Hans Woller, Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945. In: VfZ 53 (2005), S. 183. Allein im Fach Mathematik traf es mindestens 7 Professoren; Volterra, ebenfalls Jude, war als Eidverweigerer schon 1931 entlassen worden. Guerraggio, Fascismo (wie Anm. 44), S. 270. Aus den Akademien und anderen Kulturorganisationen wurden 1938/39 mindesten 672 italienische und mindestens 54 ausländische Juden vertrieben. Annalisa Capristo, Il coinvolgimento delle accademie e delle istituzioni culturali nella politica antiebraica del fascismo. In: Zunino (Hg.), Università (wie Anm. 23), S. 321. Die Mehrheit der Kulturfunktionäre habe mit Gleichgültigkeit reagiert, eine Minderheit sei allerdings willfährig, teilweise radikaler, als die Vorschriften es verlangten, gewesen; Beispiele dazu ebd., S. 336 ff. 76 Renato Giannetti, Il CNR e le politiche per la ricerca e l’innovazione industriale. In: Simili / Paoloni (Hg.), Per una storia (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 238 f. 77 „Eine Behörde im Entstehen“. So der Titel von Paoloni, Organizzazione (wie Anm. 38).

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Nationalsozialistische Wissenschaftspolitik Die Nationalsozialisten hatten, als sie 1933 die Macht übernahmen, weder ein wissenschaftspolitisches Programm noch profilierte Fachleute unter ihren Mitgliedern, und der offen zur Schau getragene Anti-­Intellektualismus Hitlers und hochrangiger Parteigenossen hätte anderes auch gar nicht erlaubt. Sie glaubten auch nicht, dass sie für den kommenden Krieg die Hilfe der Wissenschaft benötigten, da ihr sozialdarwinistisches Weltbild auf den Kämpfer, nicht den Techniker, setzte. Genuin nationalsozialistische Wissenschaftspolitik beschränkte sich daher, jedenfalls am Anfang, auf Machtergreifung und Säuberung der Universitäten und staatlichen Forschungsanstalten – die ­Kaiser-­ Wilhelm-­Gesellschaft (KWG) hatte die Rechtsform eines Vereins, zählte folglich nicht dazu und konnte anfangs den Gleichschaltungsdruck abwehren –, also aufs Zerstören.78 Etwas anderes ist Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus. An ihr waren verschiedenste, meist miteinander rivalisierende Gruppen beteiligt, so dass gerade in der Wissenschaft das polykratische System besonders stark ausgeprägt war. Eine zentrale Planungs- und Entscheidungsinstanz kam trotz vieler Anläufe nie zustande. So herrschte der „wissenschaftspolitische Ausnahmezustand“79 mit der Folge erheblich vergrößerter Handlungsspielräume. Sie kamen besonders den Naturwissenschaftlern und Ingenieuren zugute, denen der Nationalsozialismus weit mehr als ihren Kollegen aus den Geistesund Sozialwissenschaften „bis dahin ungeahnte professionelle Entfaltungsmöglichkeiten“ bot. Sie antworteten darauf mit „Selbstmobilisierung“, wie man neuerdings das zentrale Beschreibungsmuster für das Verhalten der Mehrheit der Wissenschaftler zu

78 Michael Grüttner / Sven Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933 – 1945. In: VfZ 55 (2007), S. 125, errechneten eine Quote von 19,3 %. Nicht erfasst sind dabei die Technischen Hochschulen, für die es noch immer keine Gesamtübersicht gibt. An der TH Darmstadt wurden 27,8 Prozent der Professoren und 6,5 Prozent der Privatdozenten entlassen. Die Zahlen liegen über dem Durchschnitt des bisher Bekannten, weil hier vermutlich zum ersten Mal auch jene Personen erfasst sind, von denen sich die Hochschule getrennt hat, um den Lehrkörper zu verjüngen und um ‚Unfähige‘ zu entfernen oder schlicht als Folge von Intrigen. Jedenfalls hat die TH Darmstadt den gesamten Spielraum des sogenannten Berufsbeamten­gesetzes ausgenutzt. Hanel, Normalität (wie Anm. 13), S. 92 ff., bes. S. 128 f. Das Unrecht endete weder mit der Entlassung noch beschränkte es sich darauf. Zu denken ist an die Aberkennung der Doktortitel, auch für Ehrendoktoren, die Relegierung politisch unliebsamer Studenten, soweit diese nicht schon geflohen waren, die gewaltsame Behinderung und s­ päter den Ausschluss jüdischer Studenten von der Zulassung zum Staatsexamen u. a. m. Die Vernichtung der bürgerlichen Existenz der meisten davon Betroffenen von einem Tag auf den anderen ist in der Regel nicht aktenkundig. 79 So die prägnante Formulierung bei Wolfgang Schieder, auf dessen Charakterisierung der Wissenschaftspolitik im „Dritten Reich“ ich hier auch sonst zurückgreife: Schieder, Spitzenforschung und Politik (wie Anm. 18), S. 23. Das nächste Zitat ebd. Ganz ähnlich argumentieren Carola Sachse und Mark Walker, Naturwissenschaften, Krieg und Systemverbrechen. Die K ­ aiser-­Wilhelm-­ Gesellschaft im internationalen Vergleich 1933 – 1945. In: Michael Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 180.

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nennen pflegt,80 mit der Wirkung, dass jener „militärisch-­industriell-­wissenschaftliche Komplex“ entstand, der die Wissenschaft zu einem „konstitutiven Teil“ eben auch des „Dritten Reichs“ gemacht hat.81 Angesichts der politischen Praxis im Nationalsozialismus, für die der sogenannte „Ämterdarwinismus“ (Bollmus) ein wesentliches Merkmal war, verspricht es wenig Erfolg, nach institutionellen Trägern zu suchen, die für die Wissenschaftspolitik wichtig waren, und das auch noch über einen größeren Zeitraum. Auch spielte die Nähe zu Hitler in ­diesem Falle eine eher untergeordnete Rolle, weil dieser sich, so gerne er sich auch die neuesten technischen Produkte vorführen ließ, nicht für die Wissenschaft interessierte. Es sind von ihm in dieser Hinsicht so gut wie keine Führererlasse überliefert und bei der oben kurz angesprochenen Zeremonie zur Eröffnung des Reichsforschungsrats (RFR ) am 25. Mai 1937 war Hitler zwar anwesend, sprach aber kein Wort, und als ihm anschließend die Leiter der Fachgliederungen, durchweg hoch­ renommierte Wissenschaftler, vorgestellt wurden, gab er keinem die Hand, sondern verschwand gleich darauf. Mussolini hatte das bei der Eröffnung des CNR 1929 anders gehalten und möglicherweise war Hitler überhaupt nur gekommen, weil er informiert war, dass der Duce einen solchen wissenschaftspolitischen Spitzentermin stets selbst wahrzunehmen pflegte. Bedingung für wissenschaftspolitischen Einfluss war die Kombination von starkem Rückhalt in der Partei, Tätigkeit in den Schaltstellen der Politik und nicht zuletzt guten Kontakten in die Wissenschaft, was den hohen Anteil zumindest formal hochqualifizierter Wissenschaftler in ­diesem Bereich erklärt. Das erklärt zugleich, weshalb selbst höchste Parteigrößen bei ihren Versuchen, die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik in eine neue, nämlich weltanschaulich bestimmte Richtung zu dirigieren, gescheitert sind. Sie wurden darin nicht nur von Hitler nicht aktiv unterstützt, sondern gerieten bei ihren Projekten zwar auch an geltungsbedürftige, aber solide Forscher, verließen sich jedoch vorzugsweise auf Phantasten. Weder Himmlers 1935 gegründete Forschungsund Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“, die anfangs die sogenannte Geistesurgeschichte der Arier rekonstruieren sollte, ­später aber zahlreiche andere, selten seriöse und immer

80 Herbert Mehrtens, Kollaborationsverhältnisse. Natur- und Technikwissenschaften im NS-Staat und ihre Historie. In: Christoph Meinel / Peter Voswinkel (Hg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 1994, S. 28. Geprägt hat den Ausdruck 1974 Karl-­Heinz Ludwig, Ingenieure im Dritten Reich 1933 – 1945. „Selbstmobilisierung“ ist mehr als Kooperation und Kollaboration. Sie betont die aktive Rolle der Wissenschaftler, die deshalb so häufig war, weil gerade das NS-Regime auf diese Disziplinen angewiesen war, den Professoren aber andererseits freie Hand ließ, solange dadurch die rüstungswirtschaftlichen Leistungen zu steigern waren. Sie ist aber nicht auf totalitäre Systeme beschränkt; vgl. Anm. 92. 81 So nochmals Wolfgang Schieder, Der militärisch-­industriell-­wissenschaftliche Komplex im „Dritten Reich“. Das Beispiel der ­Kaiser-­Wilhelm-­Gesellschaft. In: Dinçkal / Dipper / Mares (Hg.), Selbstmobilisierung (wie Anm. 16), S. 50.

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öfter verbrecherische Projekte aufgriff, noch Rosenbergs nach mehreren Anläufen endlich 1940 begonnenes Vorhaben, mittels einer Hohen Schule den hergebrachten Universitätsbetrieb zu unterwandern,82 hatten den von ihren Urhebern gewünschten Erfolg, richteten aber natürlich vielfachen Schaden an. Die ungefähr bis Kriegsausbruch wichtigsten wissenschaftspolitischen Akteure saßen im 1934 geschaffenen Reichserziehungsministerium (REM), und zwar weniger wegen der ihm gesetzlich eingeräumten Kompetenzen – neben der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstanden ihm, ein Novum in der deutschen Geschichte, sämtliche Universitäten und Technische Hochschulen 83 sowie Akademien –, sondern weil Minister Rust aus seinem Gau Südhannover-­Braunschweig eine Reihe ihm ergebener Mitarbeiter mitgebracht hatte, die dank Ausbildung, Machtwillen, Querverbindungen bzw. taktischen Allianzen und Ämterkumulation 84 aus dem REM im allgemeinen und dem „Amt Wissenschaft“ im besonderen auf Jahre hinaus eine der einflussreichsten Institutionen machten. Die „Göttinger Clique“, wie ihre Gegner sie bezeichneten, bestand aus Angehörigen der Jahrgänge 1892 – 1901, die die Geschichtswissenschaft inzwischen zu den wichtigsten Stützen des „Dritten Reichs“ zählt, und wurde von dem habilitierten Göttinger Chemiker Rudolf Mentzel angeführt.85 Nominell war der „Alte Kämpfer“ zunächst nur Referent in der Unterabteilung Wissenschaft II, faktisch aber einflussreicher als sein zweiter Amtschef, den er folgerichtig 1939 verdrängte und beerbte.86 In der Zwischenzeit war er 1935 auch Ordinarius an der Wehrtechnischen Fakultät der TU Berlin-­Charlottenburg, 1936 Präsident der DFG, 1938 Wissenschaftliches Mitglied der KWG (1933, gerade habilitiert, war er vorübergehend als Nachfolger des geschassten Nobelpreisträgers Fritz Haber kommissarischer Direktor des K ­ aiser-­Wilhelm-­Instituts 82 Rosenberg hatte schon 1934 in seiner Dienststelle des Beauftragten des Führers für die Überwachung der geistigen Schulung und Erziehung der NSDAP ein „Amt Wissenschaft“ eingerichtet und mit dem NS-Philosophen Alfred Baeumler besetzt. Er kopierte damit die entsprechende Abteilung im Reichserziehungsministerium, richtete aber mangels Befugnissen, Mitteln und Personal nichts aus. 83 Außer in der Personalpolitik, wo Heß und ­später Bormann immer wieder durchsetzten, dass die NSDAP ein entscheidendes Wort bei der Stellenbesetzung, insbesondere bei der Berufung von Professoren mitzureden hatte. Trotzdem setzte sich nur selten Weltanschauung gegen Wissenschaft durch, am wenigsten bei den Natur- und Ingenieurprofessuren. Faktisch, so Grüttner, hatte die NSDAP nur dort bestimmenden Einfluss, wo Gauleiter mächtig genug waren (Königsberg, Jena) oder wo – zeitweise – Rosenberg herrschte (Halle). Grüttner, Wissenschaftspolitik (wie Anm. 17), S. 572. 84 Die weiter unten genannten Personen brachten sich gegenseitig in so viele Ämter als möglich, ohne dass sie dabei die hergebrachten Regeln beachten mussten; etliche sicherten sich außerdem in der SS ab. 85 Das Folgende nach Hachtmann, Wissenschaftsmanagement (wie Anm. 65), Bd. 1, S. 270 ff. 86 Otto Wacker, zugleich badischer Kultusminister, nahm seinen Abschied, weil er „weder Zeichnungsberechtigung noch Einsicht in die Aktivitäten und Entscheidungen“ seines Untergebenen erhielt; zit. ebd., S. 273. Er war seit 1937 Amtschef und hatte somit den Mathematiker Theodor Vahlen abgelöst, bei dem sich Mentzel 1933 habilitiert hatte.

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[KWI] für physikalische Chemie und Elektrochemie geworden; 1942 wird er zum 2. Vizepräsidenten der KWG aufrücken) geworden und hatte so das zentrale wissenschaftspolitische Netzwerk der NS-Zeit weiter ausgebaut. Zu ­diesem zählten nicht nur seine Freunde in der „Göttinger Clique“, Gerhart Jander (bei ihm war Mentzel Assistent gewesen), Peter Adolf Thiessen (Chemiker), Konrad Meyer (Agrarwissenschaftler) und Erich Schumann (Physiker), sondern auch ausgezeichnete Wissenschaftler namentlich in der KWG, darunter Werner Köster, Direktor des KWI für Metallforschung, Richard Kuhn, Direktor des KWI für medizinische Forschung und 1938 Nobelpreisträger, und nicht zuletzt Ernst Telschow (Chemiker), der 1937 Generaldirektor der KWG werden sollte. Von den Ämterkumulationen d ­ ieses Personenkreises sei hier nur herausgegriffen, dass Thiessen, Köster und Kuhn 1936 auch Fachspartenleiter im RFR wurden, während Schumann neben seiner Professur an der Berliner Universität zugleich im REM und im Heereswaffenamt Forschungspolitik koordinierte und darüber hinaus seit 1934 in der KWG als Reichskommissar die Interessen des REM vertrat.87 Gute Beziehungen bestanden auch ­zwischen dem Präsidenten des RFR, dem Chemiker, Ordinarius für Wehrtechnik, Physik und Ballistik an der TH Berlin-­Charlottenburg und (ab 1938) Chef des Heereswaffenamtes, General Karl Emil Becker, und Mentzel, der als DFGPräsident die Finanzen des RFR steuerte. Die 1933 bis 1936 zu beobachtenden Machtkämpfe in den Schaltstellen der Wissen­ schaft werden inzwischen als Generationenkonflikte gedeutet und weniger als wissenschaftspolitische Gegensätze, wie von der Geschichtsschreibung lange Zeit angenommen.88 An den Universitäten und Hochschulen war das nicht anders.89 Anfang 1933 waren die Kommandohöhen „immer noch vom Typus des spätwilhelminischen Ordinarius beherrscht“,90 nun wurde rasch eine deutliche Verjüngung durchgesetzt. Die jungen Sieger hatten aber überwiegend das tradierte Selbstverständnis akademischer Forschung verinnerlicht und dachten gar nicht daran, es nun aufzugeben. Auch sie trennten strikt z­ wischen seriöser Wissenschaft und politischer Propaganda, hielten in

87 Als Anekdote sei aus den Erinnerungen des 1937 zum Rücktritt gezwungenen Generalsekretärs der KWG, Glum, ein Satz über Schumann zitiert: „So hatte Schumann fünf Dienstzimmer, in denen er aber nie zu erreichen war. Eingeweihte suchten ihn in der Konditorei Telschow unter dem Eisenbahnbogen der Hardenbergstraße, nahe dem Heereswaffenamt“. Friedrich Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Erlebtes und Erdachtes in vier Reichen, Bonn 1964, S. 452. Glum verachtete sämtliche hier genannten Personen, am meisten aber Schumann, der für ihn nur „der Sohn eines Militärmusikers“ und auf dubiose Weise in seine Ämter gekommen war. 88 Patrick Wagner, Forschungsförderung auf der Basis eines nationalistischen Konsenses. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft am Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. In: Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen (wie Anm. 79), S. 183 – 192. Wagners am Beispiel der DFG vorgeführte These wird hier verallgemeinert. 89 Ein Darmstädter Beispiel bei Christof Dipper / Melanie Hanel / Isabel Schmidt, Die TH Darmstadt 1930 – 1950. Eine erste Erkundung. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), S. 102 ff. 90 Wagner, Forschungsförderung (wie Anm. 88), S. 186; das nächste Zitat ebd., S. 188.

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Natur- und Ingenieurwissenschaften weiterhin an der Hierarchie ­zwischen Grundlagen- und Zweckforschung fest, obwohl die Grenzziehung angesichts der Komplexität zunehmend „rein symbolisch“ wurde, und legten großen Wert auf Anerkennung durch die scientific community. Dies alles erklärt, weshalb die Machtergreifung nur in Einzelfällen, die überwiegend in den geistes- und rechtswissenschaftlichen Fakultäten zu beobachten sind, zu Verstößen gegen wissenschaftliche Standards geführt hat,91 und weshalb Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung die Selbstmobilisierung der Professoren überhaupt anzustoßen vermochten. Rein formal gesehen, unterschied sich diese Selbstmobilisierung von der vor 1933 und nach 1945/49 so gut wie nicht.92 Was sich 1933 änderte, war erstens die rasch einsetzende und auch öffentlich vertretene Umstellung der Prioritäten, die bewirken sollte, dass Kriegs- und Autarkierelevanz nun eindeutig Vorrang und eine Umschichtung der Mittel zur Folge hatten, und zweitens, nur allmählich spürbar, die Befreiung der Forscher von hergebrachten moralischen Grenzen. Diese Prioritätenverschiebung war den wissenschaftspolitisch Einflussreichen so wichtig, dass sie sie institutionell zu verankern suchten und insoweit eben doch am hergebrachten Verständnis von Wissenschaftsfreiheit zu rütteln begannen. Die mit dieser Forschungslenkung verbundene Zentralisierung entsprach ohnedies den föderalismusfeindlichen Zielsetzungen der Nationalsozialisten. In mehreren Anläufen unternahmen es verschiedene Instanzen, diese beiden Ziele durchzusetzen. In den Jahren 1933/34 beabsichtigte die Mehrzahl der Versuche die Beseitigung der KWG in ihrer bisherigen Form.93 Sie war nicht nur den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge, sondern selbst in ihrem Inneren gab es Bestrebungen, die forschungspoli­ tische Unabhängigkeit der Institute zu beenden. Dem einflussreichen Ruhrindustriellen Albert Vögler, Präsidiumsmitglied der KWG, gelang es aber, dem neu geschaffenen REM diese Pläne auszureden. Andere Versuche wollten mehr. So richtete das bislang nur für Randbereiche der Wissenschaft zuständige Reichsministerium des Innern (RMdI) kurz nach der Machtergreifung einen Ausschuß zur Vereinheitlichung der Deutschen Wissenschaft ein, der im Oktober 1933 eine Denkschrift beriet, die im Stile der Zeit vom Ziel einer „Forschungsfront“ sprach und nach dem Beispiel Italiens einen „Nationalen Forschungsrat“

91 Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Judenforschung, „ein dissidentes Projekt, das sich gegen den etablierten universitären Habitus von Wissenschaft und Wissenschaftlern absetzen wollte“. Dirk Rupnow, „Judenforschung“ im „Dritten Reich“. Wissenschaft ­zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-­Baden 2011, S. 124. 92 Selbst ein vier Staaten erfassender Vergleich brachte für die Zeit des Zweiten Weltkriegs keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Mobilisierungsbereitschaft der Forscher ans Tageslicht. Sachse / Walker, Naturwissenschaften. In: Grüttner (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen (wie Anm. 79), S. 172 f. 93 Mehr dazu bei Hachtmann, Wissenschaftsmanagement (wie Anm. 65), Kap. 7.2.

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schaffen wollte.94 Im Konflikt mit dem Preußischen Kultusministerium, das von Rust geleitet wurde und seit Ende 1933 dabei war, zum REM umgestaltet zu werden, verschwand dieser Plan in der Schublade. Kaum war jedoch am 1. Mai 1934 das REM ins Leben getreten, ergriff die „Göttinger Clique“ die Initiative, sich ihrerseits die wissenschaftspolitische Leitung im Deutschen Reich mittels einer neuen Oberbehörde zu verschaffen, die sie Reichsakademie der Forschung (RAF) nannte. Sie glaubte das mit Hilfe der Wehrmacht durchsetzen zu können und holte deshalb General Becker ins Boot. „Sämtliche überhaupt in Deutschland vorhandenen Forschungsinstitute“, hieß es in der entsprechenden Denkschrift,95 ca. 2.000 an der Zahl, sollten in 34 Fachsparten zusammengefasst und politisch wie wissenschaftlich ausgewiesenen Fachleuten gemäß dem Führerprinzip unterstellt werden; überwölbt würden die Fachsparten durch drei die Wissenschaftskulturen abbildenden Abteilungen. Da die Reichsakademie nominell von Hitler, vertreten durch Rust, geleitet werden sollte, hieß dies faktisch, dass sich Mentzel die gesamte deutsche Wissenschaft und ihre Selbstverwaltungsorganisationen zu unterwerfen gedachte; die Haushaltsmittel sollten aus den aufzulösenden Institutionen (darunter der DFG), der KWG, dem REM und privaten Stiftungen kommen. Mentzel wusste natürlich, dass dies erheblichen Widerstand auslösen würde. Was er offensichtlich unterschätzte, war das Geschick seiner Gegner, taktische Bündnisse zustande zu bringen. So brachte er es fertig, dass die beiden Intimfeinde Max Planck (KWG) und Johannes Stark (DFG) in einem gemeinsamen Brief protestierten.96 Aber es war letzten Endes das Nein des Reichsluftfahrtministeriums, das die Pläne zu Fall brachte; Göring war jetzt und auch künftig nur dann zur wissenschaftspolitischen Zusammenarbeit bereit, wenn die Luftwaffe die entscheidende Rolle spielte. Rusts Ministerium lenkte ein. Am 9. Februar 1935 fand im REM die „für die künftige Entwicklung der deutschen Forschung zentrale Sitzung“ statt,97 an der keiner aus der „Göttinger Clique“ teilnahm.98 Dazu hatte das REM eine Denkschrift vorgelegt, die als „eine programmatische Erklärung des NS-Regimes zum allgemeinen Stellenwert der 94 Einzelheiten bei Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Stuttgart 2008, S. 123 f. Mehr dazu in Abschnitt „Transfer“. 95 Zit. ebd., S. 177. 96 Stark berichtet darüber in seinen Erinnerungen, Rust „wollte eine fast militärisch anmutende Ordnung, Kommandierung und Kontrolle der wissenschaftlichen Forschung“. Johannes Stark, Erinnerungen eines deutschen Naturforschers [1945], hg. v. Andreas Kleinert, Mannheim 1987, S. 124. Über Starks eigenen Versuch im Vorjahr, sämtliche außerindustriellen Forschungsanstalten in drei großen Reichsanstalten zusammenzufassen, erfährt man in ­diesem Buch nichts. 97 Hachtmann, Wissenschaftsmanagement (wie Anm. 65), S. 584, Anm. 31. Das nächste Zitat ebd., S. 585. 98 Mentzel hatte gegenüber seinem Minister auch jetzt noch die Ansicht vertreten, ohne „Zwangsbefugnisse und weitere Möglichkeit unmittelbarer Einwirkung“ sowohl auf die Institute wie selbst auf einzelne Forscher gehe es nicht. Vermerk vom 26. 2. 1935; zit. Nagel, Bildungsreformer (wie Anm. 10), S. 238.

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Wissenschaften gewertet werden kann“. In ihr wird einerseits der Wunsch des Staates formuliert, „einen zuverlässigen Überblick über den jeweiligen Stand der Forschung“ zu erlangen, an dem es bis jetzt mangle, weshalb es „einer gewissen Neuordnung der äusseren Forschungsorganisation“ bedürfe. Auf der anderen Seite wurde „ausdrücklich […] betont, dass sowohl Grundlagen, innerer Aufbau und Arbeitsweise der deutschen Forschung als auch die Stellung des Forschers nicht angetastet werden sollen; es darf im besonderen keinerlei Einschränkung der Freiheit der Forschenden erfolgen, da die Durchführung dieser Grundsätze die Voraussetzung für die bahnbrechenden Erfolge der deutschen Wissenschaft war und ist“.99 Die RAF unterlag in dieser Denkschrift keiner Steuerung mehr durch einen Minister , sondern war organisiert als „Notgemeinschaft in weiterem Rahmen“, d. h. als Zusammenfassung der Leiter der 34 Fachsparten, die über die Mittelverteilung entschieden, aber keine der bestehenden Forschungsorganisationen ersetzen sollten. Mit seinen Zugeständnissen bei der Unabhängigkeit der Forschung war das REM endlich vollends in der wissenschaftlichen Moderne angekommen.100 Planck signalisierte Rust in einem Gespräch am 23. Februar sein grundsätzliches Einverständnis, schlug aber den Namen Reichsforschungsrat vor; Rust stimmte umgehend zu. Dass es doch noch volle zwei Jahre dauerte, bis das REM den Erlass zur Errichtung des RFR herausgab, hat vielleicht weniger mit Abstimmungsproblemen der anderen Ressorts zu tun als mit dem Umstand, dass der RFR in der nun sich abzeichnenden Version für die „Göttinger Clique“ nicht mehr sonderlich interessant war. Erst Görings Beauftragung mit dem Vierjahresplan, die ihm zumindest auf dem Papier einen erheblichen Kompetenzzuwachs auf zahlreichen Gebieten bescherte, machte die Angelegenheit wieder dringlich, denn die Koordinierung der autarkie- und kriegsrelevanten Forschung drohte an die mächtige Vierjahresplanbehörde abzuwandern. Am 16. März 1937 erschien deshalb unter ausdrücklichem Hinweis auf den Vierjahresplan, der auch der deutschen Wissenschaft große Aufgaben stelle, der wohl von S­ chumann ausgearbeitete Gründungserlass. Er sah eine kleine, die DFG einschließlich ihres Haushalts vereinnahmende Behörde vor,101 deren wissenschaftliches Tagesgeschäft von den mit großen Befugnissen ausgestatteten Leitern 102 der vierzehn „Fachgliederungen“ betrieben wurde. Es kam natürlich wie immer, und erst recht unter den Bedingungen des „Dritten Reiches“, auf die Auswahl der Personen an. Die „Göttinger Clique“ saß mit Mentzel, der als DFG -Präsident weitgehend selbständig auch über die Finanzen des

99 „Begründung“ (so der Titel der Denkschrift), zit. ebd. Das nächste Zitat ebd., S. 586. 100 Grundsätzlich dazu Mitchell G. Ash, Die Wissenschaften in der Geschichte der Moderne. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10 (1999), S. 105 – 129. 101 Der stellvertretende DFG-Präsident fungierte als Geschäftsführer. 102 Diese ehrenamtlich tätigen Wissenschaftler konnten nach dem sogenannten Führerprinzip entscheiden, und zwar auch bei eigenen Anträgen. Korruption in nennenswertem Maße scheint es trotzdem nicht gegeben zu haben.

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RFR verfügen konnte, im Hauptbeirat und stellte mit Meyer, Thiessen und Kuhn drei Fachspartenleiter; Präsident und weiterer Fachspartenleiter wurde mit General Becker ein alter Vertrauter. Nur drei Fachspartenleiter kamen aus der KWG , der Rest aus Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen. Offenbar gab es nach wie vor erhebliche Vorbehalte gegen den RFR, sonst hätten sich weder der Erlass noch in ihren Eröffnungsreden Rust und Becker mit dem Thema ‚Freiheit der Wissenschaft‘ befasst. Die Vorbehalte existierten jedoch zu Recht, denn die Festredner entfalteten eine eigenwillige Definition davon und gingen hinter das zwei Jahre zuvor Zugesicherte zurück – möglicherweise auch nur, um die vom Vierjahresplan geforderte Bündelung der Kräfte öffentlichkeitswirksam zu unterstützen. Jedenfalls stritt Rust ab, dass „Voraussetzungslosigkeit und Wertfreiheit“ die nötigen Bedingungen ­seien – er griff damit geschickt die Wertfreiheitsdebatte vom Jahrhundertbeginn auf, die die Natur- und Technikwissenschaften allerdings nur am Rande betroffen hatte –, sondern die Gewährleistung der „Eigengesetzlichkeit ihres Verfahrens“, und deshalb, so die krude Logik, könne und müsse man sich „den politischen und völkischen Notwendigkeiten des geschichtlichen Augenblicks“ öffnen.103 Deutlicher noch wurde Becker, der es für „zwangsläufig“ erklärte, „daß wir die Forschung, soweit Arbeitsstätten und Forscher dazu geeignet sind, in bestimmte Richtungen lenken“, ein Verfahren, das er abschließend „eine gewisse Gleichschaltung“ nannte.104 Aber auch wenn diese Vokabel aus dem ‚Wörterbuch des Unmenschen‘ stammte: Der internationale Vergleich hat gezeigt, dass sich spätestens im Zweiten Weltkrieg in jedem Land die Autonomie der Forscher gewisse Einschränkungen gefallen lassen musste.105 Der RFR entwickelte sich zu einem Koordinierungsorgan der natur- und technikwissenschaftlichen Forschung, wie es Deutschland bisher noch nicht gekannt hatte, indem er die Forschungsfelder abgrenzte, die Zusammenarbeit verbesserte, die Ressour­ cen verteilte und in Grenzen den ungefilterten Austausch von Forschungsergebnissen erlaubte, letzteres unter teilweiser Umgehung des Patentrechts. Wesentliches Steuerungselement sollte die Qualifikation „kriegswichtig“ sein, doch erwies sich bald, dass dieser Begriff deutungsfähig blieb und folglich Antragsrhetorik wie eh und je eine wichtige Rolle spielte. Grundlagenforschung war weiterhin möglich und die Forschungsinstitutionen behielten ihre Selbständigkeit. Die „Göttinger Clique“ hätte es gerne anders gehabt, musste aber zurückstecken, weil ihr Gegenspieler, die KWG, 103 Rede des Reichsministers Rust. In: Ein Ehrentag der deutschen Wissenschaft. Die Eröffnung des Reichsforschungsrats am 25. Mai 1937, hg. v. d. Pressestelle des Reichserziehungsministeriums, o. O. (Berlin), S. 11 – 15, hier S. 12, 14. Im ersten Zitat paraphrasiert Rust den Erlass, in dem es glücklicher hieß, dass „die Freiheit der Forschung nicht in der Willkür der Aufgabenstellung, sondern in der Selbständigkeit ihres Verfahrens begründet ist“; Erlaß über die Bildung eines Reichsforschungsrats, 16. 3. 1937. Abgedr. ebd., S. 45 – 47, hier S. 45. 104 Rede des Generals Prof. Dr. Becker. Ebd., S. 17 – 27, hier S. 24. 105 Sachse / Walker, Naturwissenschaften. In: Grüttner (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen (wie Anm. 79), S. 173.

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noch immer vergleichsweise selbständig handeln konnte und in Gestalt Vöglers die Schwerindustrie im Rücken hatte. Andere Akteure spielten in ­diesem Konflikt kaum eine Rolle. Von den Universitäten war in dieser auch sie ganz wesentlich betreffenden Auseinandersetzung kein Wort zu hören, da die Rektorate längst gleichgeschaltet waren. Diese Seite der Wissenschaftspolitik funktionierte also formal auf relativ konventionelle Weise, indem sie in erster Linie Projekte unterstützte, nicht Institutionen. Es waren daher die Randbedingungen, die den ‚Ausnahmezustand‘ ausmachten. Es wäre allerdings ein Irrtum anzunehmen, dass der RFR die Forschung in ganz Deutschland gesteuert hat. Konkurrenten oder besser: Gegner fand er in den Vierjahresplanorganen, in denen dank des Bündnisses von Carl Krauch 106 und Göring die I. G. Farben das Sagen hatte und mittels der sehr gut ausgebauten Forschungsabteilung des Reichsamts für Wirtschaftsaufbau (RWA),107 in dem Krauch Führungsfunktionen innehatte, die kriegswichtigen Forschungen zur Chemie, Materialwissenschaft und Verfahrenstechnik zu steuern suchte. Daneben gab es die sogenannte Ressortforschung der Ministerien, vor allem aber die Forschungs- und Versuchsanstalten von Heer, Marine und Luftwaffe. Für letztere hatte Göring ein eigenes, streng abgeschottetes Forschungsund Entwicklungsimperium errichtet, das naturgemäß ebenfalls großen Einfluss auf die Vierjahresplanorgane besaß. Das Heer konnte demgegenüber auf eine Reihe älterer Forschungs- und Versuchsanstalten zurückgreifen, gründete jedoch auch neue, die beispielsweise für die neuartige Fernwaffe der Raketen zuständig waren. Beide Teilstreitkräfte schufen auf diese Weise Einrichtungen der Großforschung von ganz neuen Dimensionen und damit eine neuartige Form institutionalisierter Wissensproduktion.108 Hier ging es um klare Forschungs- bzw. Entwicklungsaufträge, die entweder in eigener Verantwortung betrieben oder in Auftragsform nach außen vergeben wurden. Freiheit und Selbstbestimmtheit der Wissenschaft spielten hier demgemäß eine untergeordnete Rolle. Von Peenemünde abgesehen ist diese Seite der Wissenschaftsgeschichte viel weniger gut erforscht als die gewissermaßen klassische, vom RFR koordinierte Forschung, auch weil es dazu viel weniger Aktenmaterial gibt.109

106 Krauch war bis 1940 Vorstandsmitglied und danach Aufsichtsratsvorsitzender der I. G. Farben. 107 Bis 1939 hieß es Amt für Deutsche Roh- und Werkstoffe (ROWA). 108 In der Heeresversuchsanstalt Peenemünde arbeiteten allein im Bereich Forschung und Entwicklung 1943 6.000 Personen und weitere 2.000 im Entwicklungsbüro, in der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen 1940 ca. 750 und in der Physikalisch-­Technischen Reichsanstalt 1941 mehr als 500 Personen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Beleg für Peenemünde bei Lange, Peenemünde, S. 36 f., für die Reichsinstitute bei Klaus Fischer, Repression und Privilegierung. Wissenschaftspolitik im Dritten Reich. In: Dietrich Beyrau (Hg.), Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, Göttingen 2000, S. 180. 109 Helmut Maier gehört zu den wenigen Forschern, die gelegentlich den Versuch unternehmen, die schon wegen der Aktensituation auf die KWG fixierte Geschichtsschreibung zu konterkarieren. Der derzeit beste Überblick in dem Kollektivbeitrag von Walter E. Grunden / Yutaka Kawamura / Eduard Kolchinsky / Helmut Maier / Masakatsu Yamazaki, Laying the Foundation

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Wie ernst es dem NS-Regime mit seiner Forschungspolitik war, geht vielleicht am deutlichsten aus der Haushaltsentwicklung hervor.110 Die staatlichen Ausgaben für Wissenschaft hatten 1932 mit 235,7 Millionen RM ihren Tiefpunkt erreicht und stiegen von da an kontinuierlich bis 1938, als mit 513,4 Millionen RM der Höchststand zu verzeichnen war; bis 1940 war die Gesamtsumme auf 496,5 Millionen RM gesunken.111 Ebenso relevant wie der Ressourcenzuwachs ist die enorme Umschichtung der Gelder, da sie überhaupt erst die Steuerungsanstrengungen des NS-Regimes offenbart. Nutznießer der Zuwächse waren die außeruniversitären Institute und hier wieder die anwendungsnahen Disziplinen. So stieg der DFG-Etat – er enthielt auch die Mittel für den RFR – von 1929 bis 1943 um 94 Prozent, der der KWG nur um 66 Prozent, aber z. B. betrug die Steigerung der Chemisch-­Technischen Reichsanstalt satte 148 Prozent.112 Es waren in der Tat „goldene Zeiten für staatlich finanzierte anwendungsorientierte Forschung“.113 Das Jahr 1940 setzte die vom RFR vertretene wissenschaftspolitische Linie einer schweren Bedrängnis aus, denn sein Präsident, General Becker, machte seinem Leben in einer tiefen persönlichen Krise ein Ende und kurz darauf starb mit Carl Bosch der Präsident der KWG. Sogleich setzte im Namen von Verbesserungen der kriegsrelevanten Forschung eine Diskussion ein, die in Wirklichkeit den Machtkampf von 1935/37 wieder aufnahm, allerdings in etwas anderer Zusammensetzung.114 Einer der einflussreichsten Anhänger Görings und zugleich Boschs Nachfolger bei I. G. Farben, Krauch, forderte in Denkschriften (bzw. ließ seine Mitarbeiter fordern) 1940/41 die Gründung einer Hermann-­Göring-­Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften und der Forschung – schon die im Titel erkennbare Kopie des KWG lässt die wahre Zielsetzung erkennen –,

for Wartime Research. A Comparative Overview of Science Mobilization in National Socialist Germany, Japan, and the Soviet Union. In: Carola Sachse / Mark Walker (Hg.), Politics and the Science in Wartime. Comparative International Perspectives on the K ­ aiser Wilhelm Institute, Chicago 2005, S. 81 ff. 110 Zahlen bei Grüttner, Wissenschaftspolitik (wie Anm. 17), Tabelle S. 577. Erfasst sind die Haushalte des Reichs, Preußens, Sachsens, Württembergs und Bayerns. 111 Es ist wahrscheinlich, dass im Militärhaushalt erhebliche Summen für die Forschung versteckt waren, denn es ist nicht anzunehmen, dass mit Kriegsbeginn die Forschungsmittel gekürzt worden sind. 112 Rüdiger Hachtmann, Die Wissenschaftslandschaft ­zwischen 1930 und 1949. Profilbildung und Ressourcenverschiebung. In: Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen (wie Anm. 79), S. 197 f. Hachtmann weist darauf hin, dass die Ressourcenaneignung in den eroberten Gebieten nicht einmal in Größenordnungen geschätzt werden kann. Ebd., S. 200 ff. 113 Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaften im NS-Regime. In: GG 27 (2001), S. 14. 114 Das Folgende nach Helmut Maier, Forschung als Waffe. Rüstungsforschung in der ­Kaiser-­ Wilhelm-­Gesellschaft und das ­Kaiser-­Wilhelm-­Institut für Metallforschung, 1900 – 1945/48, 2 Bde., Göttingen 2007, Kap. 5.4, sowie nach Hachtmann, Wissenschaftsmanagement (wie Anm. 65), Bd. 2, Kap. 10.3. Hier sind auch die Karrieren und personellen Verflechtungen der Beteiligten beschrieben, die das Machtspiel erst verständlich machen.

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in die neben dem RFR die gesamte KWG und die Forschungsabteilungen des REM eingegliedert werden sollten, damit künftig Doppelarbeit und Ressourcenverschwendung, so die zentralen Vorwürfe, vermieden würden. Im Kern strebten Krauch und seine Verbündeten aber einen „wissenschaftspolitischen Paradigmenwechsel“ an.115 Nach dem ‚Endsieg‘, der kurz bevorzustehen schien, sollte innerhalb Deutschlands und im nationalsozialistisch dominierten Europa „eine autoritäre und quasi-­kolonialistische Wissenschaftskultur“ die Vorherrschaft der deutschen Industrie und der dann eng an sie gebundenen Forschung absichern helfen. Rust, Beckers Nachfolger als Präsident des RFR, war zu schwach, die Vorstöße des ebenfalls im Präsidium des RFR sitzenden Krauch abzuwehren. Die entscheidende Hilfestellung kam wie schon 1936/37 von Vögler, der sich 1940 zum Präsidenten der KWG wählen ließ, die so erneut zur Retterin der Forschungsfreiheit wurde. Über Vögler und Gustav Krupp, Erster Vizepräsident der KWG, war die Unterstützung der Schwerindustrie sichergestellt und damit zugleich die des mit ihr eng verbundenen, im März 1940 gebildeten Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition unter der Leitung von Fritz Todt. Diesen Verbündeten ging es weniger um Details der Wissenschaftspolitik, sie wünschten ein Gegengewicht zu Görings Imperium. Vögler und Krupp befürchteten außerdem, dass Krauch mit den angestrebten Kompetenzen Einblick in die Forschungsaktivitäten der Konkurrenz erlangen wollte. Eine Diskussion um die Neuordnung des RFR und damit um die künftige Ausrichtung der Wissenschaftspolitik im nationalsozialistischen Deutschland unter den Bedingungen des Kriegs war damit aber in jedem Falle eröffnet. Allerdings verschlechterte sich als Folge der militärischen Misserfolge im Spätjahr 1941 die Position Görings und damit auch die seines Gefolgsmannes Krauch, während Vögler engste Beziehungen zu Todts Nachfolger Speer aufbaute und mit d ­ iesem die Kritik am RFR zum Verstummen brachte. Speer besorgte sich von Hitler am 6. Mai 1942 die Zustimmung, Göring zum Nachfolger Rusts an der Spitze des RFR zu machen, was per Erlass vom 9. Juni auch geschah. Den Verlauf der von Göring schon für den 6. Juli einberufenen, prominent besetzten Konferenz, der Gründungssitzung des sogenannten Zweiten RFR, dirigierten tatsächlich Speer und Vögler mit dem Ergebnis, dass Selbstverständnis und Organisationsstrukturen der KWG weiterhin als Leitlinie dienten. Selbst für die militärische Forschung sollten die Grundsätze der Freiheit und Autonomie gelten, eingeschränkt natürlich durch die für alle geltende Vorgabe, die Rüstungs-, Autarkie- und Ersatzstoff-­Forschung gezielt zu fördern. Göring zeigte sich, wie erwartet, kaum an der tatsächlichen Leitung des erneuerten RFR interessiert und nahm es sogar hin, dass der von seinen Leuten angefeindete Mentzel zum geschäftsführenden Vorsitzenden des RFR bestimmt wurde und damit weiterhin die starke Person blieb.116 Zwei Neuerungen machten den zweiten RFR

115 Hachtmann, Wissenschaftsmanagement (wie Anm. 65), S. 872. Das nächste Zitat ebd. 116 Er saß nach wie vor der DFG vor.

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erfolgreicher als den ersten:117 Er besaß eine breitere politische Basis, was sich auch darin niederschlug, dass bisher konkurrierende Institutionen wie Krauchs RWA nun zur Mitarbeit verpflichtet waren, und es flossen ab jetzt noch erheblich mehr Mittel aus den verschiedenen Haushalten in die Forschung; genaue Zahlen sind jedoch nicht bekannt.118 Die Vergabe verbindlicher Dringlichkeitsstufen durch die dem RFR nun einverleibte Kriegswirtschaftsstelle blieb Stückwerk und fand überhaupt erst ab Mitte 1943 Anwendung. Bis dahin hatte die inflationäre Vergabe solcher für die Bewilli­ gung von Geld, Material und Mitarbeitern unabdingbarer Einstufungen dazu geführt, dass Speer 1942 eine dritte, höchste Stufe (DE ) eingeführt und die Vergabe sich selbst vorbehalten hatte.119 Noch weniger erfolgreich war die 1942 eingerichtete Kartei und Informationsstelle des RFR , die mit 25 Mitarbeitern die seit langem geforderten Nachweise geheimer Entwicklungen aus Wissenschaftsorganisationen, Industrie und allen Wehrmachtteilen zusammenstellte und verschlagwortete, aber beim Bombenangriff auf Berlin am 22. November 1943 vollständig zerstört und nicht fortgeführt wurde. Kurz zuvor war Werner Osenberg, Ordinarius in Hannover, nachdem er in einer Denkschrift für Göring behauptet hatte, es lägen fünfzig bis achtzig Prozent des militärisch relevanten Forschungspotentials brach, von Mentzel veranlasst worden, ein dem RFR unterstelltes Planungsamt zu gründen, um die Effektivität zu steigern.120 Seine Bemühungen scheiterten nicht zuletzt an der SS , die damals begann, ihre Hand auf die militärische Forschung auszustrecken. In den letzten beiden Kriegsjahren forcierte Deutschland noch einmal beträchtlich seine Anstrengungen, den Krieg mit Hilfe der Wissenschaft zu gewinnen, und gab sehr erhebliche Mittel für alle möglichen Forschungsprojekte aus. Einige davon waren ebenso innovativ wie erfolgreich, andere abseitig oder utopisch, die meisten ähnelten den Vorhaben, die auch die alliierten Gegner entwickelten.121 War nun die Wissenschaftspolitik des Nationalsozialismus erfolgreich?122 Lange Zeit war schon die 117 An der Vergabepraxis – Anträge, Gutachten, Entscheidungen – durch nunmehr 17 Leiter von Fachsparten, die aufgrund der Antragsfülle bald weitere 20 Bevollmächtigte mit denselben Befugnissen heranzogen, änderte sich nichts. 118 Die KWG steigerte ihre Mittel von ca. 10 Millionen RM 1941 auf über 14 Millionen in den Folgejahren, die DFG gar von 6 auf 14 Millionen: Hachtmann, Wissenschaftsmanagement (wie Anm. 65), Bd. 2, Tab. 2.1. 119 Übersicht bei Ulrike Kohl, Die Präsidenten der ­Kaiser-­Wilhelm-­Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg. Max Planck, Carl Bosch und Albert Vögler, Stuttgart 2002, S. 212. 120 Mehr dazu bei Ruth Federspiel, Mobilisierung der Rüstungsforschung? Werner Osenberg und das Planungsamt des Reichsforschungsrates 1943 – 1945. In: Helmut Maier (Hg.), Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und Entgrenzung der Technikwissenschaften, Göttingen 2003, S.72 – 108. 121 So das Urteil Maiers in Grunden u. a., Laying the Foundation (wie Anm. 109), S. 91. 122 Es geht hier nur um Natur- und Technikwissenschaften. In den Rechts- und Geisteswissenschaften ist der Verfall offenkundig durch die Kombination von Vertreibung, Ideologisierung und Mittel­entzug. Allerdings wurden an den drei neugegründeten Reichsuniversitäten Prag,

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Frage tabuisiert, weil nur so, wie eingangs bereits festgestellt, die Selbstentlastungsdiskurse der Forscher funktionieren konnten. Der Widerspruch z­ wischen der These von Chaos und Erfolglosigkeit einer- und der allbekannten Tatsache andererseits, dass die Kriegsgegner 1945/46 eine große Zahl deutscher Wissenschaftler engagierten, um auf diese Weise eigene Forschungsrückstände aufzuholen, wurde, wenn er überhaupt angesprochen wurde, mit der Rede von der Grundlagenforschung aufgelöst.123 So hat es lange gedauert, bis sich die Historiker vorurteilsfrei ­diesem Thema genähert haben. Noch bei Hachtmann ist zu lesen, dass man eigentlich zum Erfolg des RFR nichts sagen könne, aber er warnt immerhin, „vorschnell Erfolglosigkeit“ zu konstatieren.124 Ein klares, durch Differenzierung überzeugendes Urteil fällte dagegen Maier schon 2005.125 Die angestrebte Zentralisierung habe trotz entsprechender Fortschritte in der Ära Speer nicht durchgesetzt werden können. Trotzdem s­ eien die Versuche der Aktivierung von Wissenschaft und Technik für den nationalsozialistischen Krieg nicht erfolglos gewesen, im Gegenteil. Berücksichtige man Hindernisse wie Materialknappheit, Mangel an Forschungspersonal und unvermeidliche Doppelarbeit als Folge von Wettbewerb und Geheimhaltung, ­seien die technologischen Fortschritte „eindrucksvoll“ bis Kriegsende geblieben und hätten zweifellos zur Verlängerung

Straßburg und Posen, besonders aber in Straßburg, durchaus zukunftweisende, vor allem interdisziplinäre Fakultätszuschnitte und Lehr- und Forschungswege erprobt. Dazu Frank-­ Rutger Hausmann, Wissenschaftsplanung und Wissenschaftslenkung an der Reichsuniversität Straßburg (1940 – 1944). In: Dinçkal / Dipper / Mares (Hg.), Selbstmobilisierung (wie Anm. 16), S. 187 – 230. Vgl. auch Hausmanns inzwischen erschienenen Gesamtüberblick: Die Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“, Frankfurt/M. 2011. Wieder anders sieht es bei der Architektur aus, wo seit den 1920er Jahren in ­Theorie und Praxis ein regelrechter Kulturkampf tobte, der 1933 politisch entschieden wurde. Doch setzte sich die Moderne unbeanstandet in industriellen Zweckbauten fort und fand auch in den 1943 beginnenden Nachkriegsplanungen für den Wiederaufbau der bombenzerstörten deutschen Städte bei den Mitarbeitern Albert Speers, der als Generalbauinspektor von Hitler 1943 die Zuständigkeit bekommen hatte, Berücksichtigung. Realisiert wurde allerdings vor Kriegsende so gut wie nichts. Umfassend dazu jetzt Werner Durth / Paul Sigel, Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels, Berlin 2009, Kap. [3:] Nationalsozialismus. 123 Zu dieser wichtigsten Sprachregelung, die vermutlich in der KWG entwickelt worden ist, der einzigen großen Wissenschaftsorganisation, die die Zäsur 1945 überlebte, vgl. Helmut Maier, Aus der Verantwortung gestohlen? Die rhetorische Figur der „Grundlagenforschung“ als Persilschein für Rüstungsforschung am K ­ aiser-­Wilhelm-­Institut für Metallforschung vor und nach 1945. In: Werner Lorenz, Technik und Verantwortung im Nationalsozialismus, Münster 2004, S. 47 – 77. Aus anderer Perspektive Mitchell G. Ash, Verordnete Umbrüche – Konstruierte Kontinuitäten. Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 903 – 923. 124 Hachtmann, Wissenschaftsmanagement (wie Anm. 65), Bd. 2, S. 886. Grüttner dagegen ist der Ansicht, dass die wissenschaftspolitischen Anstrengungen keine militärisch erkennbaren Folgen gehabt hätten; Grüttner, Wissenschaftspolitik (wie Anm. 17), S. 584. 125 Ich folge hier Maier in Grunden u. a., Laying the Foundation (wie Anm. 109), S. 92.

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des Krieges beigetragen.126 Eben deshalb hätten auch die Alliierten Hunderte von Forschern ohne Rücksicht auf deren politische, ideologische oder gar kriminelle Vergangenheit für ihre eigenen Dienste rekrutiert. Tragisch ist, dass die ‚eindrucksvolle‘ Leistungssteigerung im ­­Zeichen der „entgrenzten Wissenschaft“ (Sachse / Walker) zustande kam. Dass die nationalsozialis­ tische Herrschaft und der von ihr entfesselte Krieg verbrecherisch waren, veranlasste die Mehrheit der Wissenschaftler – und diese Aussage gilt für sämtliche Disziplinen – nicht dazu, ihre Forschungsanstrengungen einzuschränken oder gar zu beenden. Es war im Gegenteil dem von den Nationalsozialisten ermöglichten „wissenschaftspolitischen Ausnahmezustand“ (W. Schieder) geschuldet, dass die „Kollaborationsverhältnisse“ so zahlreich waren,127 d. h. dass so viele aktiv mitmachten, denn die Rahmenbedingungen waren, zumal für Naturwissenschaftler und Ingenieure, so günstig „wie nie zuvor seit einem Jahrhundert“.128 Auch wenn die Professoren bei verschiedenen Gelegenheiten bzw. Karriereschritten politisch überprüft wurden: Man musste ja nicht einmal in der NSDAP sein, um in den Genuss von beispiellosen Fördermaßnahmen zu kommen, weil die vom RFR vertretenen Qualitätsstandards die alten waren und, abstrakt gesehen, in jedem anderen Land Anerkennung gefunden hätten. Transfer Wenn hier mehrfach von nationalen Wissenschaftskulturen die Rede war, soll damit natürlich nicht suggeriert werden, dass diese sich völlig autonom entwickelt haben. Das Gegenteil ist vielmehr richtig, denn Wissenschaft wird immer auch jenseits der Grenzen wahrgenommen: ihre Vertreter, ihre Forschungsergebnisse und die Art und Weise, wie ein Land seine Wissenschaft organisiert. Selbst ­zwischen den beiden Weltkriegen war das der Fall, obwohl vermutlich niemals größere Anstrengungen unternommen worden sind, die Wissenschaft national zu orientieren und nach außen abzuschotten. Der Brüsseler Conseil war nur der seltene Versuch, dies international zu organisieren. Die besiegten Mittelmächte sollten auch auf d ­ iesem Gebiet gedemütigt werden, indem man ihre Forscher für zwölf Jahre boykottierte. Funktioniert hat das nur begrenzt, denn Wissenschaft ist ihrem Wesen nach offen und deshalb international. Deutsche und Italiener beobachteten sich in den 1920er und 1930er Jahren intensiver als ohnehin seit langem üblich – am ebenfalls üblichen Nord-­Süd-­Gefälle änderte sich 126 Nur zwei Beispiele: In der aerodynamischen Forschung, besonders was Düsentriebwerke betrifft, hatte die deutsche Forschung 1945 weltweit einen Spitzenplatz inne; sehr weit vorne lag sie auch bei der Herstellung von Kunststoffen als Ersatz für Leder, Gummi und Textilien, eine offensichtliche Folge der Versorgungsengpässe spätestens seit Kriegsbeginn. 127 Eine Prägung von Herbert Mehrtens. Siehe dens., Kollaborationsverhältnisse (wie Anm. 80). 128 Grüttner, Wissenschaftspolitik (wie Anm. 17), S. 585.

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dadurch nichts – und die beiden schließlich verbündeten Regime organisierten dies in einer Fülle von Abkommen, die nicht nur den Kulturbereich betrafen.129 Die Beziehungen im Bereich von Natur- und Technikwissenschaften sind aber trotzdem immer noch so gut wie unerforscht. Einzig die reziproken Blicke und Austauschbeziehungen in Aerodynamik und Mathematik wurden vor kurzem untersucht.130 Solange Mussolini selbständig regierte, also z­ wischen 1922 und 1943, war das I­ talia docet eine die deutsche Wahrnehmung mehr als sonst bestimmende, von Hitler vorgelebte Perspektive. Das bestärkte die Italiener in ihrem Bewusstsein noch zusätzlich, mehr als in anderen Zeiten Gegenstand internationaler, nicht nur deutscher Aufmerksamkeit, ja Bewunderung zu sein. Es überrascht daher nicht, dass sich der deutsch-­italienische wissenschaftliche Transfer ungewöhnlich einseitig darstellt. Das „Dritte Reich“ machte außerdem vor allem in der Anfangsphase selbst auf die meisten Faschisten einen wenig vorbildlichen Eindruck, auch in seiner Wissenschaftspolitik, die außer der brutalen Machtsicherung keine Ziele erkennen ließ. Trotzdem empfiehlt sich, z­ wischen Beobachtung und tatsächlicher Rezeption zu unterscheiden, da nur so die Dimensionen gewahrt werden. In unverändert hellem Licht sah sich die KWG, deren Spitze Ende April 1934 selbstbewusst gegenüber dem RMdI, wo Pläne zur Zentralisierung der deutschen Forschung entworfen wurden, feststellte, die KWG gelte als „vorbildlich für die Welt“; aufstrebende Staaten wie das „faschistische Italien“ ­seien nicht „bei der Bewunderung stehen geblieben, sondern zur direkten Nachahmung“ übergegangen.131 Ersteres entsprach durchaus den Tatsachen, und so kann man durchaus annehmen, dass KWG und DFG in der Gründungsphase des CNR, als der italienische Staat bzw. Wissenschaftsfunktionäre die Forschung national zu organisieren begannen, im Blickfeld Roms waren.132 Daraus ist dann bekanntlich nichts geworden, Volterra orientierte sich an den USA. Letzteres, die ‚direkte Nachahmung‘ in Italien, von der KWG-Denkschrift ebenfalls sprach, ist ebensowenig sicher, aber zu vermuten. Jedenfalls scheint ein anderer Mathematiker, Mauro Picone, sich bei der Gründung seines Istituto Centrale di Calcolo im Jahre 1927, vor allem aber bei dessen Eingliederung unter dem Namen INAC in den CNR fünf Jahre ­später, an KWIs orientiert zu haben; immerhin ähnelten sich die Organisationsstrukturen auffallend.133 Mit einiger Sicherheit hatte Picone das alsbald führende und

129 Zu ­diesem Andrea Hoffend, Zwischen Kultur-­Achse und Kulturkampf. Die Beziehungen ­zwischen „Drittem Reich“ und faschistischem Italien in den Bereichen Medien, Kunst, Wissenschaft und Rassenfragen, Frankfurt 1998. Hoffend behandelt vorwiegend Austauschaktionen in Kunst, ­Kultur und Geisteswissenschaften. 130 Moritz Epple / Andreas Karachalios / Volker R. Remmert, Aerodynamics and Mathematics in National Socialism and Fascist Italy. In: Sachse / Walker, Politics (wie Anm. 109), S. 131 – 158. 131 Denkschrift für Vögler; zit Hachtmann, Wissenschaftsmanagement (wie Anm. 65), Bd. 1, S. 580. 132 So die These von Cioli, Un congresso (wie Anm. 53), S. 90, Anm. 160. 133 Epple / Karachalios / Remmert, Aerodynamics (wie Anm. 130), S. 156, 144.

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entsprechend international beachtete, 1924 gegründete KWI für Strömungsforschung im Blick, denn die Luftfahrt stellte an die angewandte Mathematik ganz neuartige Herausforderungen. Ludwig Prandtl, dessen Direktor, war Picone wohl nicht nur als herausragender Strömungsphysiker bekannt. Nicht anders verhielt sich Marconi als Präsident des CNR. Seine 1936 gegen erhebliche Widerstände durchgesetzte Idee, große außeruniversitäre Forschungsinstitute zu gründen, orientierte sich mit Sicherheit am deutschen Vorbild.134 Umgekehrt kam Italien in den Blick, als die Nationalsozialisten gleich nach der Machtergreifung neben den Hochschulen auch die Forschung zu zentralisieren begannen. Das hatte wohl weniger mit den zentralstaatlichen Traditionen d ­ ieses Landes zu tun als mit der seit März 1933 in den Ministerien um sich greifenden opportunistischen Praxis, ‚dem Führer entgegenzuarbeiten‘, denn an Hitlers Mussolinibewunderung gab es keinen Zweifel. Hinzu kommt, dass der CNR seit seiner Neugründung in Deutschland Aufmerksamkeit fand. Schon 1929 hatte im Haushaltsauschuss des Reichstags Prälat Georg Schreiber festgestellt, der CNR fasse „die nationalen Kräfte Italiens auch auf ­diesem hochwichtigen Gebiet“ zusammen.135 Es wird nicht bei dieser nicht in der Öffentlichkeit gemachten Aussage geblieben sein. Dem bereits genannten Ausschuß zur Vereinheitlichung der Deutschen Wissenschaft im RMdI lag im Oktober 1933 eine Denkschrift vor, in der es hieß, es müsse „neben der Arbeitsfront eine ‚Forschungsfront‘, oder nach italienischem Namensvorbild ein ‚Forschungsrat‘“ geschaffen w ­ erden, „deren Grundgedanken“ sich allerdings an der (hier noch so genannten) „Notgemeinschaft“ deutscher Wissenschaft orientieren sollten.136 Die Unvereinbarkeit von CNR und DFG kann den Verfassern, darunter vermutlich Max Donneverts, der im Ministerium seit 1921 für die DFG zuständig war, nicht verborgen geblieben sein; es ist darum ja auch nur vom „Namensvorbild“ die Rede und der CNR findet im weiteren keine Erwähnung mehr.137 Wahrscheinlich handelt es sich um nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. 134 Vgl. Roberto Maiocchi, Il CNR negli ultimi anni del fascismo. In: Zunino (Hg.), Università (wie Anm. 23), S. 282. 135 Sitzung vom 8. 5. 1929; zit. Flachowsky, Notgemeinschaft (wie Anm. 94), S. 249, Anm. 83. In seinen Memoiren geht Schreiber zwar ausführlich auf seine Tätigkeit im Haushaltsausschuss und auf sein Bestreben ein, die kultur- und wissenschaftspolitischen Kompetenzen des Reichs zu erweitern, kommt aber weder auf die italienische Wissenschaftspolitik noch auf Reisen nach Italien zu sprechen, obwohl diese zweifellos regelmäßig stattgefunden haben, denn mit Kardinal Gasparri, der 1929 das Konkordat z­ wischen Italien und dem Heiligen Stuhl unterzeichnete, hatte er häufigen Kontakt. Georg Schreiber, Zwischen Demokratie und Diktatur. Persönliche Erinnerungen an die Politik und Kultur des Reiches (1919 – 1944), Münster 1949. 136 Forschungsgemeinschaft und Forschungsdienst, S. 5. BA Berlin 1501/5328, Bl. 271. Hervorhebung im Original. Am Ende des Dokuments steht der geschwärzte Name „Dr. Karl Griewank“ – er war damals Mitarbeiter der DFG –. Flachowsky, Notgemeinschaft (wie Anm. 94), S. 123, hält den Historiker aber nicht für den Autor. 137 Im Aktenbestand der DFG findet sich immerhin die Übersetzung eines Artikels aus dem Giornale d’Italia vom 3. 2. 1929 mit der Überschrift: „Der Forschungsrat von Mussolini eingesetzt“. Zit.

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­Zufällig erschien aber genau im selben Monat der eingangs referierte Artikel in der VDI-Zeitschrift, die auf italienische Initiative einem großen Leserkreis den CNR vorstellte und dabei, weil dem Autor aus der praktischen Tätigkeit nur die vierzehntägigen Berichtshefte vorlagen,138 den Eindruck erweckte, als funktioniere der Forschungsrat perfekt. Auch dieser Artikel endete jedoch mit der selbstbewussten Feststellung, in Deutschland „liegen die Verhältnisse […] günstiger“, weil seit langem die Forschung „in großen wissenschaftlichen Vereinen“ zusammengefasst und organisiert werde und es Querverbindungen auf der obersten Ebene gebe. Diplomatisch fügte der Verfasser am Ende hinzu: „Für die weiteren Pläne des Zusammenschlusses in Deutschland wird das Vorgehen Italiens aber ein bemerkenswertes Beispiel sein“.139 War das so? Die Antwort muss Ja und Nein lauten. Nein, weil letzten Endes, wie geschildert, die im REM geschmiedeten Pläne zur Zentralisierung der Forschung am Widerstand vor allem der KWG scheiterten. Ja, weil die federführenden Personen, die „Göttinger Clique“, sich zweifellos – auch – am italienischen Beispiel orientierten, da sie dasselbe Leitziel wie der CNR anstrebten, nämlich die Fähigkeit zur Autarkie, verbunden mit der Optimierung von Waffentechnologie und Rüstungsproduktion. Zwar sprachen sie in einer Denkschrift im Oktober 1934 von einer „Reichsakademie der Forschung“, die unter dem „Primat der Politik“ stehen müsse, was so klingt, als stünde die R. Accademia d’Italia Pate. Aber Mentzel, Thiessen und Schumann, erst recht aber General Becker, dem Vorgesetzten Schumanns mit guten Kontakten nach Italien,140 „war der CNR zweifelsohne bekannt“, sprachen sie doch bewundernd vom italienischen „Großen Generalstab der wissenschaftlichen Forschung“.141 Der RFR , das Ergebnis ­dieses mehrjährigen Ringens, hatte dann aber hinsichtlich Aufgaben und Befugnisse mit dem CNR , wie mehrfach festgestellt, kaum Ähnlichkeiten. F ­ lachowsky weist jedoch auf Ähnlichkeiten im Aufbau hin: die Spitzengliederung mit Präsidenten ebd., S. 249, Anm. 84. 138 Consiglio Nazionale delle Ricerche (Hg.), La ricerca scientifica ed il progresso tecnico nell’economia nazionale, 14 Bde., Rom 1930 – 1943. 139 De Thierry, Forschungsrat (wie Anm. 2), S. 1112. 140 So Burghardt Ciesla, Das Heereswaffenamt und die KWG im „Dritten Reich“. Die militärischen Forschungsbeziehungen ­zwischen 1918 und 1945. In: Helmut Maier (Hg.), Gemeinschaftsforschung, Bevollmächtigte und der Wissenstransfer. Die Rolle der K ­ aiser-­Wilhelm-­Gesellschaft im System kriegsrelevanter Forschung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007, S. 42. Ciesla fügt hinzu, in Beckers Personalakte ­seien italienische Sprachkenntnisse vermerkt. Mehr als diese Aussage von 1931 und 1932 gibt Beckers Personalakte aber leider nicht her. BA MA Pers 6/76, S. 56 u. 58. Nachweise über Besuche Beckers in Rom finden sich jedoch weder in den Beständen „Deutsche Botschaft Rom“ noch in denen der „Politischen Abteilung“ (Auskunft PA AA, 27. 7. 2012). Hinweise zu Italienkontakten Beckers finden sich auch weder in Artikeln zu seinem 60. Geburtstag 1939 noch in Nachrufen 1940. BA MA N 626/7 (Nl. Generalleutnant a. D. Dipl.-Ing. E. Schneider). 141 Zit. Flachowsky, Notgemeinschaft (wie Anm. 94), S. 249. Ebd. das Urteil Flachowskys über den Bekanntheitsgrad des CNR.

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und Beirat, die Aufteilung in von Wissenschaftlern geleitete Fachsparten, die Aussparung der Geistes- und Sozialwissenschaften und die Zusammenführung von Wissenschaft und militärischen Zwecken.142 Andererseits versicherte Schumann 1938, der RFR sei dem 1915 gegründeten englischen Department for Scientific and Industrial Research nachgebildet, das ebenfalls Wissenschaft und Militär zusammengebracht habe. 143 Damit stehen hier Indizien gegen Aussage, eine Entscheidung kann nicht getroffen werden. Allerdings gibt es eine Sachlogik bei der Organisation der Forschung im Krieg oder im Blick auf den nächsten Krieg, und inzwischen ist ja auch bekannt, wie sehr die Forschung international gerade ­zwischen 1914 und 1945 militarisiert wurde bzw. sich militarisiert hat.144 Das erklärt letztlich auch, dass Generäle zu Vorständen solcher Wissenschaftsorganisationen gemacht worden sind: 1937 Becker beim RFR , Badoglio beim CNR . Vom zirkulären Wissenstransfer im Falle der Mathematik war ein Stück weit bereits die Rede. Es spricht alles dafür, dass Picone sich am KWI für Strömungsforschung organisatorisch und wissenschaftlich orientiert hat. Als Institut des CNR erlangte das INAC eine Bedeutung, die weit über Italien hinausreichte und schließlich d ­ iesem Land 1951 den Zuschlag der UNESCO verschaffte, in Rom ein internationales Rechenzentrum zu errichten (bis der Widerstand anderer Länder die Realisierung verhinderte).145 Der Südtiroler Wolfgang Gröbner, der enger Mitarbeiter Picones war, bis er wegen Hitlers Optionslösung Italien verlassen musste, stellte 1937 das INAC auf der Jahrestagung der Deutschen Mathematiker-­Vereinigung (DMV) vor, 1939 bereisten Picone und ein externer Berater Deutschland und besuchten wohl auch Prandtl in Göttingen und Arnold Sommerfeld in München; letzterer erwiderte im Spätjahr 1941 den Besuch. Damals hatten deutsche Mathematiker gerade die Gründung eines Reichsinstituts für Mathematik (RIM) beschlossen, das die massiv gestiegenen Anforderungen an die praktische Mathematik bewältigen sollte. Unter den drei als Direktoren in Frage kommenden Kandidaten war der Freiburger Gustav Doetsch auf den ersten Blick erfolgreich, weil er mit Görings Luftfahrtministerium im Rücken sich gegen seinen Kollegen Wilhelm Süss, den Vorsitzenden der DMV und Gutachter im RFR, durchsetzen konnte. Doetsch

142 Ebd., S. 250. 143 Erich Schumann, Wehrmacht und Forschung. In: Richard Donnevert (Hg.), Wehrmacht und Partei, Leipzig 1938, S. 123. 144 Sachse / Walker, Naturwissenschaften. In: Grüttner (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen (wie Anm. 79), S. 172 f. Ash sieht gar überhaupt einen Zusammenhang von Wissenschaft, Krieg und Moderne. Mitchell G. Ash, Wissenschaft – Krieg – Modernität. Einführende Bemerkungen. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19 (1996), S. 69 – 75. 145 Bei Pietro Nastasi, La matematica. In: Simili / Paoloni (Hg.), Per una storia (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 277, wird der Eindruck erweckt, als sei ­dieses Zentrum tatsächlich gegründet worden. Das ist jedoch unrichtig, wie aus der im Internet zu findenden Dokumentation hervorgeht: http:// matematica.unibocconi.it/articoli/liac-­e-­il-­centro-­internazionale-­di-­calcolo-­dellunesco (24. 8. 2012). Das Folgende nach Epple / Karachalios / Remmert, Aerodynamics (wie Anm. 130), S. 145 ff.

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reiste in d ­ iesem Zusammenhang im Oktober 1941 nach Rom.146 Er sorgte auch dafür, dass 1942 Gröbner in Braunschweig mit der Leitung der Arbeitsgruppe für Industrie-­ Mathematik (AGIM) beginnen konnte. Diese sollte eine Kleinausgabe des INAC sein, wurde aber in Wirklichkeit sogleich in die Luftfahrtforschung integriert und verlor jede Selbständigkeit. Nun schlug Süss’ Stunde. Auf einer Besprechung im REM wiesen „die anwesenden deutschen Mathematiker auf die Notwendigkeit hin, in Deutschland ein Mathematisches Forschungsinstitut in der Art der in Frankreich und Italien vorhandenen zu schaffen“147, und beantragten für 1943 in Salzburg ein Treffen mit Vertretern des INAC, dem „wir in Deutschland nichts Gleichartiges an die Seite zu stellen haben“; es wurde aber mangels Kriegswichtigkeit nicht genehmigt. Trotzdem kam Süss ans Ziel. Der RFR gründete in einem von Göring im September 1944 unterzeichneten Erlass in Oberwolfach (Schwarzwald) ein Mathematisches Forschungsinstitut. Mit dem INAC verbindet ­dieses Institut damals wie heute kaum etwas. Ergebnisse im Vergleich 1. Von einer Wissenschaftsfeindlichkeit kann weder im Nationalsozialismus noch im Faschismus gesprochen werden. Im Falle Deutschlands ergaben sich im Gegenteil durch erhöhte Mittel und deren Vergabepraxis ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten. 2. Deshalb kam es im nationalsozialistischen Deutschland bald nach 1933 zu einem „militärisch-­industriell-­wissenschaftlichen Komplex“ (W. Schieder) im Dienste von Autarkie, Aufrüstung und Kriegsforschung. Wer hierzu keinen Zugang fand, konnte kaum noch forschen. In Italien entstand lediglich ein „totalitäres Netzwerk“ (Zunino), das sich vornehmlich auf Wissenschaft und Politik beschränkte, weil die Industrie noch kaum ingenieurbasierte Forschung betrieb. Die Politik wünschte vor allem Forschung für die Autarkie. Die Absicht, ­dieses Ziel mittels des CNR und einer neu zu etablierenden außeruniversitären Forschung zu steuern, ist gescheitert. Insofern übersetzte und verstärkte das „totalitäre Netzwerk“ eher hergebrachte Formen der Kooperation ins Faschistische. 3. In Deutschland fällt vor allem der Ausbau der heute so genannten Drittmittelforschung auf. Es partizipierten daran besonders die anwendungsorientierten und gesinnungsproduzierenden Disziplinen und insoweit auch Teile der Geistes- und Sozialwissenschaften. Eine Folge war die erst seit kurzem wahrgenommene Bedeutung der Gruppenforschung bzw. Forschungsverbünde. In Italien gelang es dem

146 Reichswirtschaftsminister Funk in Rom; Frankfurter Zeitung, Nr. 337/338, (21. 10. 1941), S. 2. Ein Drittel des Artikels ist dem Besuch Doetschs in Rom gewidmet. 147 Protokoll vom 5. 5. 1942, gezeichnet von Mentzel. Zit. Reinhard Siegmund-­Schultze, Faschistische Pläne zur „Neuordnung“ der europäischen Wissenschaft. Das Beispiel Mathematik. In: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik u. Medizin 23, H. 2 (1986), S. 11. Das nächste Zitat S. 15, Anm. 22 (Antrag v. 29. 12. 1942).

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CNR eigentlich nur in der Ära Marconi (1927 – 1937), in größerem Umfang Drittmittel einzuwerben; sie waren aber stets projektgebunden. Ein Sonderfall ist das INAC , das sich nach kurzer Zeit selber trug (Auftraggeber waren überwiegend Industrie und Militär) und in Deutschland sehr bewundert worden ist. Die deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen wurden lediglich in völkisch bzw. rassenpolitisch und wehrtechnisch relevanten Bereichen ausgebaut, ansonsten erlitten sie eher Einbußen und verloren an wissenschaftlicher Bedeutung. Vergleichbares ist im Faschismus nicht bekannt. Er tauschte dagegen die international renommierte gegen eine seiner Kontrolle unterworfene Akademie aus und schuf die meisten neuen Arbeitsplätze in neugegründeten außeruniversitären Forschungsinstituten überwiegend geisteswissenschaftlichen Zuschnitts Viele Wissenschaftler arbeiteten bereitwillig, nicht wenige aus innerer Überzeugung in den beiden Regimes mit. Von Widerstand kann folglich in der Wissenschaft keine Rede sein, die wenigen namentlich bekannten Personen ausgenommen. Der für den deutschen Fall geprägte Begriff der „Selbstmobilisierung“ (Ludwig) trifft wohl auch für die italienischen Wissenschaftler zu, allerdings in geringerem Umfang – weil es nicht viel zu gewinnen gab – und vermutlich kaum noch nach 1940/41. Während der Nationalsozialismus bereits mit dem festen Willen antrat, die jüdischen (und die politisch missliebigen) Wissenschaftler bei Machtantritt zu vertreiben, brach sich der faschistische Antisemitismus erst 1938 Bahn. Im Ergebnis wurden die Juden in beiden Ländern vertrieben, und zwar ohne nennenswerte Proteste von Seiten ihrer nichtjüdischen Kollegen, im Gegenteil. Die deutsche Wissenschaft hat dadurch wahrscheinlich mehr an Kapazität und Geltung verloren als die italienische. Die deutsche Wissenschaftspolitik verfehlte zwar die vom NS-Regime in sie gesetzten Erwartungen, war aber erfolgreich genug, um den Krieg zu verlängern. Der Ruf der deutschen Wissenschaft führte auch dazu, dass 1945 Hunderte deutscher Naturwissenschaftler und Ingenieure von den Siegern abgeworben oder gar verschleppt wurden. Von Italien ist Vergleichbares nicht bekannt. Der wesentliche wissenschaftspolitische Beitrag des Faschismus, so Gueraggio sarkastisch, sei die Entmachtung der Ordinarien und ihre Einbindung in ein hierarchisches System als normale Staatsdiener. Insgesamt ging die naturwissenschaftlich-­technische Forschung aus der NS-Zeit gestärkt hervor (allerdings mussten Flugzeug-, Raketen- und Atomforschung nach 1945 eine zehnjährige Unterbrechung hinnehmen), was vom Faschismus wohl nicht behauptet werden kann. Am gesellschaftlich wie politisch hohen Rang der Wissenschaft hat sich in national­ sozialistischer Zeit nichts geändert; sie wich insofern nicht von der deutschen Tradi­ tion ab. Auch der Faschismus wahrte die Tradition, indem er den eher niedrigen politischen Rang der Wissenschaft nicht aufwertete. Trotzdem mussten beide Länder nach 1945 den Wissenschaftsbetrieb neu aufbauen.

Unversehens in Feindesland Deutsche und Italiener 1943 bis 1950 Erlebnisse und Erfahrungen Deutscher und Italiener bei Kriegsende Jahreszahlen sind die Wegmarken der Historiker, Epochenwenden und Zäsuren liefern die Orientierung im Kontinuum der Zeiten. So ordnet sich im Rückblick das Terrain, erhält die Vergangenheit klare Konturen, trennen sich Vorher und Nachher. Mnemotechnische Hilfen sind das und mehr: Deutungsangebote nämlich. Kein Wunder, dass historische Kontroversen sich vielfach um Fragen der Periodisierung drehen; einstmals mehr noch als heute, wo die Postmoderne Klarheiten als s­ olche in Frage stellt. Wann endet die Antike? Wo beginnt die Neuzeit? Was heißt eigentlich Zeitgeschichte? Die Zahl der Antworten ist größer, als man vielleicht denken möchte.1 „Deutsche und Italiener in der Nachkriegszeit“ lautet der Titel meines Vortrags.2 Das klingt einfacher, als es ist. Wann beginnt denn in Italien die Nachkriegszeit? 1943, mit dem (ersten) Sturz Mussolinis, wie man in der Regel als Antwort bekommt, wenn man in italienische Bücher schaut, oder doch erst wie anderswo auch, also 1945 mit der Kapitulation der deutschen Truppen? Aber angenommen, man könnte sich darüber einigen: Was bedeuten s­olche politischen und militärischen Zäsuren denn wirklich? Könnte es nicht sein, dass der Krieg in den Köpfen zu anderen Zeiten zu Ende geht als auf dem Papier, das die Entlassung des Duce mitteilt oder auf dem Generäle die Kapitulation unterschreiben? Erst recht sperrt sich der Alltag gegen seine Einfügung in die Periodengrenzen der ‚großen Politik‘. „Die Deutschen sind abgezogen − endlich!“, notiert Iris Origo erleichtert am 29. Juni 1944.3 Für Montepulciano ist der Krieg damit zu Ende – fast jedenfalls. Unterdessen werden auf dem nahen Landgut der Origos zahlreiche Frauen von den Befreiern vergewaltigt, „sogar eine Achtzigjährige“. „So hat das Val d’Orcia die Herrschaft der Alliierten kennengelernt, nachdem es sie so lang, so sehnsüchtig erwartet hatte!“, fügt sie verbittert hinzu.4 In Deutschland war es nicht anders. Das Überleben war am 8. Mai 1945 nicht einfacher als am Tag zuvor. Die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, Elektrizität, Nachrichten über die Angehörigen usw. gehorchte damals wie heute anderen Rhythmen als jene Ereignisse, die wir in den Geschichtsbüchern vorzufinden pflegen.

1 Erste Orientierung aus vergleichender Perspektive verspricht Alexander Nützenadel / Wolfgang Schieder (Hg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004. 2 So der ursprüngliche Titel, der hier der größeren Deutlichkeit halber verändert wurde. Die Vortragsform ist beibehalten worden. 3 Iris Origo, Toskanisches Tagebuch 1943/44. Kriegsjahre im Val d’Orcia, München 1991, S. 256. 4 Ebd., S. 263. Bei den ‚Be-­Freiern‘ handelte es sich um französische Truppen aus Nordafrika.

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Wir wissen das natürlich alle – theoretisch jedenfalls. Aber sind unsere Köpfe nicht trotzdem voll von Zahlen, die Zäsuren meinen? Wie ordnen wir denn sonst die Vergangenheit? Machen wir doch einmal die Probe aufs Exempel, am besten natürlich mit Hilfe unseres Tagungsthemas.5 Was assoziieren wir wirklich mit ‚Nachkriegszeit‘? Wenn wir ehrlich sind, einen Bruch. Deutschland und Italien, bis dahin politisch verbunden und zugleich militärisch ineinander verbissen, lösen sich voneinander, brechen ihre Kontakte ab. Aber wer oder was löst sich denn da? Institutionen sicherlich: Zivile Behörden sind schon vorher geflohen, militärische Einheiten ziehen sich, „meist unbehelligt von den Partisanen“,6 nach dem 2. Mai 1945, dem Tag der Bekanntmachung der deutschen Kapitulation,7 aus Oberitalien zurück oder ergeben sich erst jetzt und gehen in Gefangenschaft. Aber lösen sich auch die Menschen voneinander und beenden die Kontakte? Gibt es von Mai 1945 an keine Italiener mehr in Deutschland und keine Deutschen mehr in Italien? Eine Geschichte der deutsch-­italienischen Nachkriegszeit aus der Erfahrungsperspektive – um das gleich vorwegzunehmen – wird man hier nicht erwarten dürfen, denn dazu gibt es noch nicht einmal, wenn ich recht sehe, etwas, das die Bezeichnung ‚Vorstudie‘ verdiente. So müssen wir uns mit Zufallsfunden begnügen, die helfen sollen, die Zeit unmittelbar nach 1945 neu zu sehen: Nicht mehr nur als schwarzes Loch bzw. als Interim bis 1949 (wie man namentlich aus deutscher Perspektive zu sehen pflegt) und danach der komplette Neuanfang, sondern auch als Fortsetzung. Als Historiker wissen wir natürlich, dass es keine Stunde Null gibt, aber oft genug bleibt es bei dieser Feststellung. Ich möchte deshalb versuchen, am Ende eines geradezu impressionistischen Vorgehens ein paar Ableitungen vorzunehmen. Die banalere wird sein, dass viel mehr Fortsetzung als Neuanfang im Spiel war – jedenfalls dann, wenn man sich die Sicht der Zeitgenossen zu eigen macht. Natürlich wollten die Verschleppten und Gefangenen rasch nach Hause: ungefähr 800.000 Italiener,8 eine Million Deutsche. Aber viele wollten bleiben, wo sie waren: ca. vierzigtausend Italiener in Deutschland, Tausende deutscher Soldaten in Italien.9 Wieder andere lebten aus freiem Entschluss im anderen Land und für diese bildete weder der 29. April noch der 8. Mai 1945 eine wirkliche Zäsur. Und dann natürlich die Wiederanbahnung unterbrochener Kontakte, 5 Anlässlich des 50. Jahrestags der Wiedereröffnung des DHI Rom fand dort vom 29. bis 31. Oktober 2003 eine Tagung zu den in Rom ansässigen deutschen Forschungs- und Kultureinrichtungen in der Nachkriegszeit statt. Dies hier ist der Eröffnungsvortrag. 6 Christian Vordemann, Deutschland − Italien 1949−1961. Die diplomatischen Beziehungen, Frankfurt/M., Bern 1994, S. 26. 7 Sie war schon am 29. April in Caserta unterzeichnet worden. 8 Eindrucksvoll und stark autobiographisch Ruggero Zangrandis Roman La tradotta del Brennero, Mailand 1956. Der Held Paolo, als politischer Häftling 1943 nach Deutschland verbracht, erlebt das Kriegsende in Berlin und kehrt im Spätsommer nach Italien zurück – nur um feststellen zu müssen, dass dort außer seinen Leidensgenossen niemand seine Geschichte hören will; so bleibt er buchstäblich ‚draußen vor der Tür‘, gleichsam ein italienischer ‚Unteroffizier Beckmann‘. 9 Vordemann, Beziehungen (wie Anm. 6), S. 27, 29.

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der Wunsch nach Fortsetzung: Man wollte seinen Angehörigen schreiben, seiner Arbeit nachgehen, seine Erzeugnisse verkaufen, seine Lieferanten oder Verwandten besuchen, überhaupt wieder reisen, seine wissenschaftliche Arbeit fortsetzen und vieles andere mehr – und das alles im Einzelfall auch im anderen Land. – Die hoffentlich weniger banale Ableitung wird versuchen, aus den Befunden eine in drei Ebenen gegliederte deutsch-­italienische Beziehungsgeschichte zu formulieren, wobei jeder Ebene eine andere Geschwindigkeit eigen ist. Diese drei Ebenen betreffen die privaten und wirtschaftlichen, die politisch-­institutionellen und die offiziell-­kulturellen Beziehungen. Ein paar zufällige Funde sollen zunächst illustrieren, dass das Kriegsende nicht unbedingt eine Stunde Null bedeutet hat. Beginnen wir mit einem Italiener in Berlin. Don Luigi Fraccari, Priester in der Nähe von Verona, hatte es 1943 bei seinem Bischof durchgesetzt, nach Deutschland gehen zu dürfen, um dort die sogenannten Militärinternierten zu betreuen.10 Bis er alle Genehmigungen zusammen hatte, war es 1944. Am 17. Mai traf er in Berlin ein. Nonnen vermittelten ihm ein Zimmer im Bezirk Wedding, dann meldete er sich bei der Italienischen Botschaft und natürlich bei der Nuntiatur und begann seine Arbeit als Sozialarbeiter und Priester. Als die letzten Diplomaten und andere Landsleute am 9. Februar 1945 die deutsche Hauptstadt verließen, verzichtete Don Fraccari auf seinen reservierten Platz im Zug. Um sich zu s­chützen, hatte er sich er sich vom Italienischen Roten Kreuz bescheinigen lassen, dort beschäftigt zu sein. Am 25. April entdeckten russische Soldaten ihn, weitere Geistliche und ca. 40 Kranke sowie deutsche Ordensschwestern im Keller der ­Kirche von St. Afra, ließen die Gruppe aber unbehelligt. Die Nachkriegszeit, wenn man so will, hatte begonnen. Aber was änderte das an Don Fraccaris Aktivitäten? Der neu eingesetzte Berliner Magistrat war daran interessiert, dass er seine Arbeit fortsetzte, bescheinigte ihm dies zu seinem Schutz und versorgte ihn mit Namenslisten, damit er seine Krankenbesuche und andere Hilfsdienste weiterführen konnte, vor allem die Suche nach Verschollenen. Als von den Amerikanern akkreditierter Generaldelegierter des Italienischen Roten Kreuzes organisierte er Reisemöglichkeiten für die Heimkehrwilligen, im Ostsektor der Stadt fungierte er mit Zustimmung des russischen Stadtkommandanten sogar als Quasi-­ Konsul und stellte jenen Italienern Pässe aus, die in Berlin bleiben und eine Existenz aufbauen wollten. Denn auch das gab es. 1.764 Italiener waren 1946 in den Westsektoren gemeldet 11 und die meisten von ihnen blieben – mindestens vorläufig. 1950

10 Das Folgende nach Werner Kerkloh, Don Luigi Fraccari. Ein katholischer Geistlicher im Berlin der Kriegs- und Nachkriegszeit. In: Kinder & JugendMuseum in Prenzlauer Berg / Istituto Italiano di Cultura Berlino (Hg.), Italiener in Prenzlauer Berg. Spurensuche vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Berlin 1997, S. 58 – 69. 11 Edith Pichler, Pioniere, Arbeitsmigranten, Rebellen, Postmoderne und Mobile. Italiener in Berlin. In: AfS 42 (2002), S. 257. Ebd., S. 261 ff., nennt sie Beispiele für Italiener, die in den dreißiger Jahren als Arbeiter nach Deutschland gekommen waren und nun in Berlin blieben, die Familie nachholten und sich selbständig machten.

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war die Repatriierung abgeschlossen, bald schon kamen die ersten Arbeitsmigranten. Don Fraccari rief mit Hilfe von Kardinal Preysing die Missione Cattolica ins Leben und gründete ein Waisenhaus, 1959 kam ein Altersheim hinzu, schließlich ein Kirchenchor; bald schon wurde Freizeitbetreuung wichtiger. Den rasanten sozialen Wandel der italienischen Kolonie erlebte Don Fraccari in ganzem Umfang, denn erst 1979, nach 35 Jahren, ging er in den Ruhestand und kehrte in seine Heimat zurück. Der Fall ist außergewöhnlich, aber sicherlich nicht singulär, denn auch deutsche Geistliche, zumal katholische, konnten in Italien, und besonders in Rom, die Zäsur von 1944 überstehen, soweit sie nicht vom deutschen Militär nach Norden verbracht worden waren. Erst recht bot natürlich der Vatikan viele Möglichkeiten des Unterschlupfs, ganz abgesehen davon, dass er als neutraler Staat seinen Beschäftigten, gleich welcher Nationalität, ein vergleichsweise sicherer Hafen war. Erinnert sei nur an Hubert Jedin, der von 1939 an als Bibliothekar am Campo Santo Teutonico wirkte, was dem rasseverfolgten Kirchenhistoriker das Leben rettete. Für Jedin begann die Nachkriegszeit schon 1944 und sie bedeutete vor allem das Ende der persönlichen Gefährdung. Das war nicht gerade wenig, aber sonst änderte sich an Jedins Alltag nicht viel.12 Erst 1949 kehrte er nach Deutschland zurück. Andere Deutsche erlebten das Kriegsende anders. Versetzen wir uns ins Mailand des Frühjahrs 1945, genauer: beim Einmarsch der Partisanen. Am 28. April steht Hans Deichmann, der ehemalige Vertreter der I. G. Farben und Retter Tausender Italiener vor der Zwangsarbeit in Deutschland, am Eingang der Galleria Vittorio Emanuele und sinniert über seine merkwürdige Lage.13 In der Tasche hat er zu seinem Schutz einen Ausweis von Giustizia e Libertà.14 Der Schwager Moltkes zählte sich zu den Siegern, seine 12 Jedin berichtet, dass bei dem von ihm nach dem 8. Mai 1945 im Campo Santo organisierten Requiem für die deutschen Gefallenen – die Opfer des Nationalsozialismus hatte ausgerechnet er vergessen, und als ihn Kaas darauf ansprach, war es zu spät – 54 deutsche Priester anwesend gewesen s­eien. Hubert Jedin, Lebensbericht. Mit einem Dokumentenanhang hg. v. Konrad ­Repgen, Mainz 1984, S. 152. Bei Delio Cantimori, „obwohl […] inzwischen Kommunist geworden“, ist er 1944/45 regelmäßig Gast (S. 141). Jedin berichtet vom Empfang für Ludwig Curtius, den ehemaligen, von den Nationalsozialisten entlassenen Direktor des Archäologischen Instituts, zu dessen 70. Geburtstag am 13. Dezember 1944 im Vatikan, ausgerichtet vom Direktor des schwedischen Instituts, an dem 120 Personen aus 16 Nationen teilgenommen haben (S. 143), von der bescheideneren Weihnachtsfeier bei Botschafter von Weizsäcker – das Personal der deutschen Botschaft sollte erst im Spätsommer 1946 die Vatikanstadt verlassen (S. 162) – und von seinem ersten Zeitungsartikel nach dem Kriege, dem am 21. Januar 1945 im Osservatore Romano erschienenen Nachruf auf Paul F. Kehr, der als Editor der Papsturkunden nicht nur im Vatikan „hohes Ansehen“ genoss (S. 141). Zu Jedin jetzt Christof Dipper, Flüchtlinge, Juden, Auslandsdeutsche – die Spannbreite des Exils im faschistischen Italien. In: Michael Matheus / Stefan Heid (Hg.), Orte der Zuflucht und personeller Netzwerke. Der Campo Santo Teutonico und der Vatikan 1933 – 1955, Freiburg 2015, passim. 13 Hans Deichmann, Gegenstände, München 1996, S. 92 f. 14 Die 1929 im Pariser Exil gegründete Widerstandsbewegung beteiligte sich am Partisanenkampf in Italien. Mailand war neben Turin und Florenz eines der Zentren ihrer Aktivität, wo sie schon

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Freunde sahen das ebenso, englische Verbindungsoffiziere und Vertreter des CLNAI hatten damit allerdings Schwierigkeiten. Aber ausweisen oder abschieben – daran dachte niemand. Er freilich will nach Hause zur Familie. Als er endlich die Genehmigung erhält, fährt ihn ein italienischer Freund nach Bozen, wo der Sammeltransport zusammengestellt wird. Am 30. August überquerte er den Brenner im Güterwaggon Richtung Norden. Es sollte kein Abschied für immer werden. Während Deichmann am 28. April der Parade zusieht, hält sich im nahen Hotel Regina der deutsche Polizeichef Mailands, SS-Hauptsturmführer Theo Saevecke, mit seinen Truppen verschanzt und wartet auf die Ankunft der Alliierten. Den Partisanen wird er sich wohlweislich nicht ergeben, und ihr General, Cadorna, riskiert in der Innenstadt kein Blutbad. So eskortieren ihn zwei Tage s­ päter amerikanische Truppen ins Gefangenen­lager.15 Das ist die Nachkriegszeit, wie wir sie uns für die Angehörigen von Streitkräften vorstellen. Sie sollte für Saevecke allerdings schon relativ bald ein Ende haben, denn der „Henker von Mailand“ wurde 1948 nach drei Jahren Dachau Mitarbeiter beim US-Geheimdienst und wechselte 1952 in die Sicherungsgruppe Bonn, der Vorläuferin des BKA. 1962 leitete er die Verhaftungs- und Durchsuchungsaktion gegen den SPIEGEL. 16Weil er solches schon bald nach seiner Rückkehr nach Deutschland kommen sah, beschloss Hans Deichmann 1948, nach Italien zurückzukehren. Zweierlei Nachkriegszeit. Wieder anders erlebte, um nur in Mailand zu bleiben, Eugen Dollmann das Kriegsende. Der SS -Standartenführer, Himmlers Stellvertreter in Rom und Dolmetscher, vordem Historiker, Privatgelehrter, Liebling römischer Salons, konnte fürs erste nicht mehr in seine römische Wohnung zurück, da ihn die Italiener der Beteiligung am Massaker der Fosse Ardeatine verdächtigten. Dass er maßgeblich an der deutschen Teilkapitulation des italienischen Kriegsschauplatzes beteiligt war, bedeutete weder für die Resistenza noch für die Briten einen Grund zur Schonung, wohl aber für die Ameri­ kaner. Also begab sich Dollmann in den Schutz Kardinal Schusters, der ihn in einem Kloster versteckte, dort allabendlich mit ihm plaudernd – so Dollmann – ein Gläschen Wein trank und es dann arrangierte, dass ihn nach Jahr und Tag die Amerikaner mit falschen Papieren versorgten und auf die italienischen Kommunisten ansetzten. Das ging nicht gut. Erst verhafteten ihn die ahnungsvollen Italiener, dann eine ahnungslose amerikanische Einheit, und nachdem er Anfang 1947 endlich freigekommen war, setzte Dollmann sein ­zwischen Italien und Deutschland pendelndes Leben fort, ganz wie vor dem Kriege.17

vor der deutschen Kapitulation das öffentliche Leben zu organisieren begonnen hatte. 15 Ein Foto dieser Szene in: Silvio Bertoldi (Hg.), I Tedeschi in Italia. Album di una occupazione 1943 – 1945, Mailand 1994, S. 322. 16 Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2003, S. 518. 17 Eugen Dollmann, Call Me Coward, London 1956, passim. Seine Erlebnisse bis zur Kapitu­ lation berichtet Dollmann in seinem Buch: Dolmetscher der Diktatoren, Bayreuth 1963.

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Akteure und Stationen institutioneller Kontakte „Die Wiederanknüpfung der vielfältigen Beziehungen z­ wischen Italien und Deutschland nach 1945 ist bislang nur ganz unzureichend erforscht“, stellte Jens Petersen 1996 fest.18 Sein Urteil gilt noch heute. Mit einer Ausnahme sind die wenigen Publikationen außerdem, wie nicht anders zu erwarten, dem Zäsurdenken verpflichtet, setzen also allesamt irgendwann nach 1945 an. Nur die vor kurzem erschienene wirtschaftsgeschichtliche Studie von Maximilane Rieder macht hiervon eine erfreuliche Ausnahme: Sie handelt von „Kontinuitäten und Brüchen“ und reicht von 1936 bis 1957.19 Da die Autorin aber so gut wie keine Firmenarchive herangezogen hat, überwiegt auch bei ihr die Vogelperspektive; nur in manchen Fußnoten tauchen die Akteure auf, kommt so etwas wie eine Geschichte ‚von unten‘ auf, die dem Ganzen etwas Farbe verleiht. Wie wir gleich noch sehen werden, ist es wohl kein Zufall, dass gerade ein Buch über die deutsch-­italienischen Wirtschaftsbeziehungen neben die Brüche auch die Kontinuitäten stellt. Denn alles andere wäre eine Fehlwahrnehmung. Die ominöse Stunde Null war in d ­ iesem Bereich wohl vornehmlich technischen Umständen geschuldet – Unterbrechung von Post,20 Bahn-, Schiffs- und natürlich Zahlungsverkehr, strikt begrenzte Visa-­Erteilung durch die Alliierten – und dauerte entsprechend kaum länger als 12 bis 16 Monate. Schon Ende 1946 gab es wieder offizielle Kontakte: Am 15. Dezember 1946 eröffnete in Mailand die Deutsch-­Italienische Handelskammer ihre Tätigkeit – mit einem deutschen Geschäftsführer an der Spitze. Über den Vorrang der Ökonomie sollte man sich nicht wundern. Ganz Europa war der Ansicht, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau das Allerdringlichste sei. Aber weshalb sparte man bei den Kontakten nicht trotzdem die Deutschen aus? Dafür gibt es mindestens drei Gründe. Erstens – und zumeist übersehen – spielt hier eine eminent wichtige Rolle, was ich stark abgekürzt den Technikdiskurs nennen Der Titel erinnert wohl nicht ganz unabsichtlich an Paul Schmidt, Statist auf diplomatischer Bühne 1923 – 1945. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas, Bonn 1949. Bei der Lektüre ist Vorsicht geboten. Dollmann unterschlägt beispielsweise seine SS-Funktion und das Strafverfolgungsmotiv der Italiener. Gitta Serenyi gegenüber trat er als Grandseigneur auf und seinem Charme scheint sie erlegen zu sein. Gitta Serenyi, Am Abgrund. Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, München, Zürich 21995, S. 384 – 389. Die nötigen Korrekturen bei Joachim Staron, Fosse Ardeatine und Marzabotto. Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza, Paderborn 2002, S. 125 – 127. Umso wertvoller, weil weniger von persönlichen Motiven bestimmt und wirklich kenntnisreich, ist Dollmanns Schilderung der römischen Gesellschaft bis 1943: Roma nazista, Mailand 1949 (ebd. 22002). 18 Jens Petersen, Das deutschsprachige Italienbild nach 1945 [1996]. In: Ders., Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze, Köln 1999, S. 291. 19 Maximiliane Rieder, Deutsch-­italienische Wirtschaftsbeziehungen. Kontinuitäten und Brüche 1936 – 1957, Frankfurt, New York 2003. 20 Jedin erzählt, dass er am 15. April 1946 zum ersten Mal reguläre Post aus (West-) Deutschland erhalten hat; Jedin, Lebensbericht (wie Anm. 12), S. 157.

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möchte. Technik gilt allgemein als neutral gegenüber Weltanschauungen, Kulturen und Interessen.21 Deutsche Verbrechen hatten (scheinbar) mit deutscher Technik nichts zu tun, Made in Germany war jedenfalls – und blieb – ein Markenzeichen. Um deutsche Technik und selbst um deutsche Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler rissen sich 1945 deshalb sogar die Sieger, und auch die Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft zögerten keinen Augenblick, wenn sie deutsche Industrieprodukte angeboten bekamen; selbst die Israelis zeigten s­ päter keinerlei Berührungsängste. Es blieb deutschen Gesinnungspolizisten vorbehalten, die Welt darüber aufzuklären, was es bedeutet, wenn sie millionenfach „Herrenvolkswagen“ kauft;22 gestört hat das niemand. Zweitens standen selbstverständlich nach 1945 überall, auch in Italien, sofern von den Besatzungstruppen nicht demontiert, deutsche Anlagen und Maschinen in den Fabriken. Sie wollten nicht nur gewartet werden und benötigten Ersatzteile, sondern sie gaben Verfahrenstechniken vor, die oft nur beherrschte, wer an deutschen Hochschulen studiert und in deutschen Firmen das ‚Handwerk‘ der Entwicklung und Prozesssteuerung gelernt hatte. Und schließlich drittens: Die Herren kannten sich, und das zum Teil seit langer Zeit. Einen personellen Umbruch bei den Wirtschaftseliten gab es weder in Italien 23 noch in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands,24 auch die Eigentumsordnung blieb weithin die alte. Als Beispiel sei nur Dr. Ludwig Lindner genannt: Von der DVP kommend, trat er 1933 der NSDAP bei, wurde aber 1935 wegen der jüdischen Abstammung seiner Frau als Generalkonsul in Mailand entlassen. Er blieb in Mailand und fungierte dort sowie in Genua als Wirtschaftsberater und Vertrauensmann der Hamburger Handelskammer bis 1945. Nach Deutschland zurückgekehrt, setzte er seine Arbeit an dem Punkt fort, wo er in Italien bei Kriegsende aufgehört hatte. So wirkte er bei der Wiederbegründung der bilateralen Mailänder Handelskammer mit und sorgte für die Wiederherstellung der Kontakte z­ wischen der Genueser und Hamburger Hafenbehörde, lange bevor Deutschland wieder Schiffe bemannen durfte. In der britischen Besatzungszone warb Lindner „für Genua und Italien im allgemeinen, bemühte sich um die Anbahnung

21 Die klassische Widerlegung ­dieses Irrtums stammt von Langdon Winner, Do Artifacts have Politics? In: Donald MacKenzie / Judy Wajcman (Hg.), The Social Shaping of Technology, Milton Keynes, Philadelphia 1985, S. 26 – 38. 22 1965 war vom „Herrenvolkswagen“ mehrfach die Rede. Nachweise im SPIEGEL – Inhaltsverzeichnis ­dieses Jahrgangs. 23 Aufgrund des von Pietro Nenni im Spätjahr 1945 durchgesetzten zweiten Säuberungsgesetzes verloren ca. 200 Spitzenkräfte der Privatwirtschaft ihre Stellungen, erhielten sie aber in den Berufungsverfahren über kurz oder lang wieder zurück. Hans Woller, Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, München 1996, S. 330 ff. und 374 ff. 24 Zur seit jeher bekannten hohen Kontinuität der westdeutschen Wirtschaftseliten zuletzt die biographisch orientierten Fallstudien von Tim Schanetzky, Unternehmer. Profiteure des Unrechts. In: Norbert Frei u. a., Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt/M., New York 2001, S. 73 – 129.

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von Geschäftskontakten und unterstützte den Aufbau von Firmenvertretungen in Italien sowie die treuhänderische Wahrnehmung von Interessen.“25 Sowohl der unzureichende Forschungsstand als auch meine Absicht, dem vorherrschenden Zäsurdenken dadurch eine andere Perspektive entgegenzustellen, dass die Dinge nach Möglichkeit auch ‚von unten‘ beleuchtet werden, verursachen ein Darstellungsproblem. Ihm soll dadurch begegnet werden, dass Einzelereignisse und persönliche Erfahrungen gegenüber strukturierenden Überblicken privilegiert werden. Das hat auch damit zu tun, dass – und nun bin ich trotzdem schon mitten in einer strukturierenden Bemerkung – Italien seine staatlichen und politischen Institutionen über den Waffenstillstand vom 8. September 1943 hinübergerettet hat, auf deutscher Seite aber natürlich keinen Gesprächspartner finden konnte. Nicht nur war Deutschland selbst bekanntlich seiner zentralen Einrichtungen verlustig gegangen, sondern die Siegermächte verwehrten auch der italienischen Regierung anfangs jeden diplomatischen Spielraum, der über die Wiederherstellung des Friedenszustands hinauszugehen schien. So zeigte sich schnell, dass Italien gegenüber Deutschland weder Reparationsansprüche zugebilligt erhalten würde noch Zugriff auf deutsches Vermögen in Italien.26 Alles, was man von Seiten der Alliierten dem Land zugestand, war, Forderungen aus der Zeit vor dem 1. September 1939 einzutreiben und nach Deutschland verschlepptes italienisches Eigentum zurückzuerlangen. Beides war mindestens vorderhand illusorisch. Der römischen Regierung blieb deshalb nichts anderes übrig, als nach dem Ende des Allied Military Government in Italy im Dezember 1945, das ihr die Befugnis zu einer selbständigen Außenwirtschaftspolitik zurückbrachte, den Handel mit dem wieder anzubahnen, was von Deutschland übrig geblieben war. So erklären sich einerseits, um die Dinge abzukürzen, die im Jahre 1946 beginnenden Aktivitäten italienischer Konzerne zur Wiederanbahnung der Handelsbeziehungen – zu denken ist an Fiat und IRI , und in ­diesem Zusammenhang muss auch die Eröffnung der Deutsch-­Italienischen Handelskammer in Mailand gesehen werden, von der schon die Rede war − sowie die Gründung des Istituto Nazionale per il Commercio Estero Anfang Januar 1947, ­später auch mit Dienststellen im Ausland, und Ende desselben Jahrs die Errichtung einer Handelsvertretung in Frankfurt am Main.27 So erklärt sich aber auch andererseits der von den Alliierten angeordnete und Ende 1946 durchgeführte Rücktransport der als Feindvermögen geltenden Bibliotheken der vier bis 1943 in Italien ansässigen deutschen Forschungsinstitute.28 Der bis 1943 am DHI

25 Rieder, Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 19), S. 409. 26 Ebd., S. 354 f. 27 Ebd., S. 397 f. 28 Vgl. Arnold Esch, Die deutschen Institutsbibliotheken nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und die Rolle der Unione degli Istituti. Internationalisierung, Italianisierung – oder Rückgabe an Deutschland? In: Michael Matheus (Hg.), Deutsche Forschungs- und Kulturinstitute in Rom in der Nachkriegszeit, Tübingen 2007, S. 67 – 98.

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beschäftigte Assistent Dr. Wolfgang Hagemann kam nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft im Herbst 1946 für zwei Jahre dank Padre Turrini in einem Veroneser Kloster unter – zum Dank dafür, dass er 1944/45 kirchliche Archive geschützt hatte.29 Ende 1948 oder Anfang 1949 kehrte er nach Rom zurück, um die Bibliothek des DHI zu betreuen – womit wir wieder bei der Perspektive ‚von unten‘ wären. „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“, hat uns Frank-­Rutger Hausmann kürzlich eindrucksvoll belehrt, aber wer sein Buch liest, muss erkennen, dass es durchweg politische Instrumentalisierung war, die das Schweigen der Musen verhindert hat.30 Würde dieser Zweck auch nach dem Kriege dominieren? Aus deutscher Sicht unbedingt „ja“. Die deutschen Forscher hatten begreiflicherweise ein elementares Interesse daran, in die internationale scientific communitiy zurückzukehren und mittels Einladungen ins Ausland gewissermaßen persönlich rehabilitiert zu werden. Aber die Deutschen waren nicht nur verfemt, es mangelte ihnen auch an allen Mitteln, ihren Wunsch aus eigener Kraft in die Tat umzusetzen, und so mussten sie sich gedulden, bis das Ausland die Initiative ergriff. Dieses freilich ließ sich Zeit. Viel zu berichten gibt es daher nicht aus dem Jahre 1946. Die Musen schwiegen zwar nicht, aber um Deutschland herum machten sie einen Bogen. Einzig italienische Philosophen scheuten den Kontakt nicht, sei es wegen der traditionell engen Kontakte, sei es, was auf dasselbe hinauslief, wegen der damals, 1946, noch immer ungebrochenen Weltgeltung der deutschen Philosophie. So taucht im Sommer 1946 bei einer Tagung von Universitätsvertretern der amerikanischen Zone in Marburg Ernesto Grassi mit einer Einladung zum Internationalen Philosophenkongress in Rom noch im selben Jahre auf. Grassi, damals neben Croce der beste Deutschlandkenner seines Fachs, der im Vorjahr einen Ruf nach Zürich angenommen hatte und 1948 nach München gehen wird, sollte „einige verbürgt nicht nazistische deutsche, wenn möglich, im Ausland bekannte Professoren“ aussuchen.31 Seine Wahl fiel auf den Marburger Rektor Julius Ebbinghaus, einen Kantianer, dessen Reden über Deutschlands jüngste Geschichte sich damals tatsächlich sehr vorteilhaft von denen seiner Kollegen unterschieden,32 den Frankfurter Juristen und Rektor Walter Hallstein und auf den Naturwissenschafts-­Historiker

29 Mitteilung vom Mgr. Iginio Rogger, Trient, im Oktober 2003. Jedin hingegen spricht davon, dass er sich mit dem Archäologen Deichmann und dem Historiker Hagemann, „die an ihren früheren Wohnsitz Rom entlassen worden waren“, schon 1946 über die Sicherung dieser Bibliotheken vor Italianisierung oder Internationalisierung beraten habe; Jedin, Lebensbericht (wie Anm. 12), S. 166. 30 Frank-­Rutger Hausmann, „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“. Die deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2001. 31 Deichmann, Gegenstände (wie Anm. 13), S. 32. Zu Grassi zuletzt Robert Josef Kozljanic, Ernesto Grassi. Leben und Denken, München 2003. 32 Nachweise bei Eike Wolgast, Die Wahrnehmung des Dritten Reiches in der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945/46), Heidelberg 2001, S. 285 ff. Die Reden sind wiederabgedruckt in: Julius Ebbinghaus, Zu Deutschlands Schicksalswende, Frankfurt 11946.

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Willy Hartner,33 ebenfalls aus Frankfurt. Damit sie auch tatsächlich nach Rom gelangten, sollte sie ein Kenner des Landes, eben Hans Deichmann, begleiten, der in Frankfurt zusammen mit Hartner das Forum Academicum organisierte. Die Veranstalter erfuhren manche Kritik wegen ihrer Einladung, doch kaum war der im Palazzo Madama stattfindende Kongress eröffnet, wurden die Deutschen nicht weiter diskriminiert. Deichmann nutzte die unverhoffte Gelegenheit nicht nur zu Wiederbegegnungen mit vielen römischen Freunden, sondern auch zum Besuch des gerade stattfindenden Prozesses gegen SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler, der sich wegen der Geiselerschießungen in den Fosse Ardeatine zu verantworten hatte.34 Zweierlei Nachkriegszeit – so dicht nebeneinander. Als Kappler 1947 zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde, waren die vier Deutschen längst wieder zu Hause. Deichmann berichtet nicht, dass er auf seiner Reise anderen Deutschen begegnet ist. Kein Wunder, denn die allermeisten lebten damals als Kriegsgefangene hinter Stacheldraht, wo sie gelegentlich von deutschen Geistlichen besucht wurden.35 Zwar konnte man sich, wie Jedin berichtet – und wofür eben auch Deichmann zeugt −, schon 1946 wieder als Deutscher auf der Straße zeigen, ohne sich damit in Gefahr zu bringen; Orte mit kommunistischen oder sozialistischen Stadtverwaltungen mied man freilich besser. Aber die Versorgung mit Papieren und Geld war sehr schwierig und die Bahnverbindungen ­zwischen Rom und Bologna noch nicht wiederhergestellt. Doch schon 1947 und erst recht 1948 hätte Deichmann Landsleute kaum übersehen können, denn in Rom trieben sie sich tagsüber zu Dutzenden, aber natürlich sehr verstreut, in Parks und auf den Straßen herum. Auch in Mailand begegnete man ihnen, in Genua ebenfalls, manchen in Bari – und selbstverständlich entlang den Wegen, die vom Norden nach Rom und dann weiter zu den Häfen führten. Die Rede ist von deutschen Kriegsverbrechern, für die Italien als Transitland auf dem Weg nach Südamerika, vereinzelt auch in den Nahen Osten diente. Kirchliche Stellen in Rom, allen voran der Rektor von Santa Maria dell’Anima, Bischof Alois Hudal, sorgten zusammen mit der örtlichen Vertretung des IKRK und den beiden Organisationen, die sogar von den Amerikanern zunächst anerkannte Ausweise ausstellten, dem 1944 gegründeten österreichischen Befreiungskomitee und dem Zentralbüro für Deutsche in Italien, das aus der ebenfalls 1944 gegründeten Deutschen Antinazistischen Vereinigung hervorgegangen war, dafür, dass die auf der Flucht Befindlichen, „sogenannte Kriegsverbrecher“ in Hudals

33 Hartner war 1935 Gastprofessor in Harvard und jetzt Verbindungsmann ­zwischen der Militärregierung und dem Wiederaufbau-­Ausschuss der Johann-­Wolfgang-­Goethe-­Universität. 34 Deichmann, Gegenstände (wie Anm. 13), S. 223. 35 Die frisch ernannten deutschen Kardinäle Graf Preysing, Graf Galen und Frings reisten samt Generalvikaren im Februar 1946 nach Rom; Faulhaber stieß wenig ­später dazu. Sie besuchten von dort aus die deutschen Kriegsgefangenenlager; Jedin, Lebensbericht (wie Anm. 12), S. 157.

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Diktion,36 mit Bargeld, vor allem aber mit Papieren ausgestattet wurden, um so bald als möglich auf der Flucht vor „ihren Peinigern“, so noch einmal Hudal, Europa verlassen zu können. Der Gerechtigkeit halber muss hinzugefügt werden, dass Hudal 1943/44 dank der von ihm beschafften Schutzbriefe für Klöster und kirchliche Einrichtungen in Rom es zahlreichen Juden ermöglicht hatte, sich dort zu verstecken und zu überleben. Über den „Römischen Weg“37 bzw. die „Rattenlinie“38 wurde viel geschrieben, nur nicht von Historikern,39 obwohl das, freilich lückenhafte, Archiv der Anima zugänglich ist – mit Ausnahme allerdings des gesperrten Nachlasses von Bischof Hudal.40 Gitta Serenyi, die sich besonders viel Mühe mit der Aufklärung des „Römischen Wegs“ gemacht hat, musste sich in den frühen 1970ern deshalb auf Interviews beschränken und wurde von vielen ihrer Gesprächspartner angelogen.41 Sie besaß aber genügend gesunden Menschenverstand, um auf die meisten Lügen nicht hereinzufallen. In jedem Falle ist ihr recht zu geben, wenn sie die legendenumwobenen Geheimorganisationen − Odessa etwa − überwiegend als verschwörungstheoretische Hirngespinste ansieht.42

36 Alois Hudal, Römische Tagebücher. Lebensbeichte eines alten Bischofs, Graz, Stuttgart 1976, S. 21. Ebd. auch das folgende Zitat. Hudal schreibt, er habe ca. 50.000 Menschen zur Flucht verholfen. 37 Werner Brockdorff [Pseud. für Alfred Jarschel], Flucht vor Nürnberg. Pläne und Organisation der NS-Prominenz im „Römischen Weg“, München, Wels 1969. Der Autor berichtet aus eigener Erfahrung, ist aber nur in Grenzen glaubwürdig (dass Hitler und Bormann nach Südamerika entkommen s­ eien, versichert er allen Ernstes). Einigermaßen authentisch dürfte sein, was er über den ehemaligen SD-Chef Oberitalien, Walter Rauff, schreibt: Dieser habe nach seiner Flucht aus dem Internierungslager Rimini in einem Mailänder Kloster Unterschlupf gefunden – Mailand hatte damals eine konservative Stadtverwaltung – und von dort aus mit Hilfe der ­Kirche den aus Deutschland Geflohenen den Weg nach Rom und von dort aus nach Genua geebnet. Rauff selbst verließ Italien erst 1949 und ging zunächst nach Syrien, s­ päter nach Ecuador. 38 Dazu das Buch zweier Fernsehjournalisten: Rena und Thomas Giefer, Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis. Eine Dokumentation, Frankfurt 1991. Hier erfährt man mehr als anderswo über Genua, wo Pater Krunoslav Dragenovic, ein Kroate, jene Leute im Empfang nahm, die von Hudal in Rom mit Papieren versorgt worden waren, und sie auf Schiffe brachte. Der ameri­ kanische Geheimdienst schleuste einen V-Mann ein und war von da an mindestens in groben Zügen informiert. 39 Die einzige Ausnahme ist, soweit ich sehe, Hansjakob Stehles Zeitungsartikel: Pässe vom Papst? Warum alle Wege der Ex-­Nazis nach Südamerika über Rom führten. In: Die Zeit, Nr. 19, 1978. 40 Hansjakob Stehle recherchierte dort in den 1980er Jahren für seinen Aufsatz: Bischof Hudal und SS-Führer Meyer. Ein kirchenpolitischer Friedensversuch 1941/42. In: VfZ 37 (1989), S. 299 – 322. Ernst Klee bekam Ende 1990, eigenen Angaben zufolge, recht wenig Material zu sehen: Ernst Klee, Persilscheine und falsche Pässe. Wie die ­Kirchen den Nazis halfen, Frankfurt/M. 1991, S. 161, Anm. 88. Klee bevorzugt die Montage von Stimmungsbildern und Zitaten und trägt zur Aufhellung des von ihm behandelten Themas kaum etwas bei, obwohl er mit Abstand die meisten Archive aufgesucht hat. 41 Serenyi, Am Abgrund (wie Anm. 17). Der 5. und letzte Teil dreht sich fast ausschließlich um die Frage, was der Vatikan von der „Endlösung“ wusste und wie und warum er Nazis bei der Flucht half. Die englische Erstauflage erschien 1974. 42 Ebd., S. 328.

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Es ist dies ein Aspekt unseres Themas, der gewöhnlich übersehen wird, weil man ihn füglich nicht unter dem Stichwort ‚deutsch-­italienische Beziehungen‘ abhandeln kann. Wenn es aber um den Umgang der Italiener mit Deutschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit geht, darf er nicht fehlen. Auffällig daran ist, dass wir es einerseits mit der in Gründung befindlichen italienischen Republik zu tun haben, die sich damals ganz auf die Resistenza beruft und ihren Carabinieri befiehlt, Jagd auf deutsche Soldaten und vor allem auf SS-Angehörige zu machen, die entweder aus Lagern auf der Halbinsel entwichen sind oder von Südtirol kommend auf dem Weg nach Rom und von dort nach Genua sind, andererseits mit dem Vatikan, in dem maßgebliche Kräfte bis 1943 auf Krone und Mussolini gesetzt hatten, mit Demokratie entsprechend wenig anfangen konnten und in ihrer antikommunistischen Fixiertheit den Nationalsozialismus als das kleinere Übel, wenn nicht als das Bollwerk schlechthin betrachteten. Daraus ergab sich genügend Handlungsspielraum für eine Reihe kirchlicher Dienststellen, die sich mit Barmherzigkeit und Flüchtlingswesen befassten und im Krieg gelernt hatten, dass Papiere wichtig waren, sehr wichtig sogar – und die deutsches oder deutschfreundliches Personal hatten; dies vor allem. Es war eher ein Neben- als ein Gegeneinander und bot findigen und in sechs Kriegsjahren auf Überlebenstechniken trainierten Personen offenbar hinreichend Möglichkeiten, sich durchzuschlagen. Die italienische Zivilbevölkerung von den Bauern über das Herbergsgewerbe bis zu den Zugschaffnern hielt sich überwiegend heraus, sah weg, ja half nicht selten – aus w ­ elchen Motiven auch immer. 1947 wandelte sich außerdem die politische Großwetterlage: Im Frühjahr erklärte die Konstituante die Lateranverträge von 1929 zum Bestandteil der Verfassung, kurz darauf setzte De Gasperi Kommunisten und Sozialisten den Stuhl vor die Tür. Der Kalte Krieg hatte begonnen. Entscheidend war aber vielleicht ein Umstand, der erst in den beiden letzten Jahren ans Licht gekommen ist.43 Die Republik hatte, unerachtet ihrer Bekenntnisse zu Säuberung, Moral und Pflege des Resistenza-­Erbes, sich schon 1946 dafür entschieden, die deutschen Kriegsverbrechen nur dann zu verfolgen, wenn es sich auf Druck der Alliierten absolut nicht vermeiden ließ.44 Dies nicht wegen Milde mit dem Feind von

43 Filippo Focardi, Das Kalkül des „Bumerangs“. Politik und Rechtsfragen im Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Italien. In: Norbert Frei (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S.  536 – 566. 44 Italienische Gerichte verurteilten ganze acht Deutsche als Kriegsverbrecher: General Otto ­Wagener, Major Herbert Niklas, Hauptmann Johann Felten, Leutnant Walter Mai, die Soldaten Alois Schmidt und Franz Covi, SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler und SS-Sturmbannführer Walter Reder. Sechs von ihnen wurden 1951 auf Bitten der Bundesregierung entlassen. Kappler wurde 1977 von seiner Frau aus einem römischen Militärspital befreit, Reder 1984 begnadigt. 1998 lieferte Argentinien SS-Hauptsturmführer Erich Priebke aus, Italien verurteilte ihn zu lebenslänglicher Haft; er hatte 1946 – 48 in Südtirol unbehelligt gelebt und war mit Hudals Unterstützung geflohen. Die Alliierten verurteilten 120 Deutsche wegen Kriegsverbrechen in Italien und

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gestern und Verbündeten von vorgestern und übermorgen, sondern weil die Regierung im Falle der Überstellung Deutscher an Italien damit rechnen musste, dass sie nun ihrerseits aufgrund der Waffenstillstandsbedingungen gezwungen würde, italienische Kriegsverbrecher ausliefern zu müssen. Dies sollte aber unter allen Umständen vermieden werden. So ließ das Justizministerium die Mehrzahl der von den Alliierten übergebenen Ermittlungsakten verschwinden; auch andere Aktenbestände müssen als verloren gelten und nur einige Faszikel der obersten militärischen Anklagebehörde wurden 1994 durch Zufall entdeckt und auszugsweise publiziert.45 Aus ihnen geht zweifelsfrei hervor, dass das, was man mit Wolfgang Schieder die Sorge um die italienische Wehrmachtslegende nennen könnte,46 und nicht erst der Kalte Krieg und die Rehabilitation der Deutschen im ­­Zeichen christdemokratischer Solidarität, die treibende Kraft auch dafür waren, dass Italien deutsche Kriegsverbrecher mehr oder weniger frei im Lande herumlaufen ließ und den Vatikan mit seinen Identitätsbescheinigungen und Visahilfen gewähren ließ, denn man benötigte sie mitunter ja selber: Hohen Offizieren und faschistischen Funktionären verkündete der Justizminister Haftbefehle und ließ sie dann ins Ausland, nach Südamerika entkommen – nicht anders als jene Deutschen, die es mit Bischof Hudals und anderer Hilfe zu machen pflegten. Nach 1949 kehrten die meisten Italiener unauffällig zurück. Obwohl Deutschland und Italien nicht aneinander grenzten, gab es doch seit 1947 einen vergleichsweise regen, offensichtlich nicht immer legalen Personenverkehr ­zwischen beiden. Sporadische Geschäftsbeziehungen hatten sogar bereits 1946 wieder eingesetzt, wie sich der damalige bayerische Wirtschaftsminister Ludwig Erhard erinnert, doch regelten diese anfangs, was die deutsche Seite betrifft, die Alliierten.47 Aber schon im Februar 1947 erhielten deutsche Geschäftsleute von den Besatzungsbehörden die Erlaubnis zur Wiederaufnahme der Handelskorrespondenz mit dem Ausland. Am Spektrum des Warenverkehrs hatte sich gegenüber früher nichts geändert. Die Italiener benötigten Kohle, Eisen und Stahl und wünschten landwirtschaftliche Produkte zu liefern, insbesondere Zitrusfrüchte. Aber in den Augen der Besatzungsmächte besaßen kalorienreiche Nahrungsmittel Vorrang. Davon hatte Italien selbst nicht genug. So blieb die Sache zunächst schwierig. Wie wichtig der italienischen Regierung die Wiederanknüpfung der Handelsbeziehungen war, zeigen ihre zahlreichen Vorstöße im Jahr 1947. Bei seiner hielten sie dort fest. Der prominenteste war der zunächst zum Tode verurteilte, dann begnadigte Generalfeldmarschall Albert Kesselring, der jedoch schon 1952, nicht zuletzt auf Betreiben englischer Konservativer, nach Deutschland entlassen wurde. 45 Filippo Focardi / Lutz Klinkhammer, La questione dei „criminali di guerra“ italiani e una Commissione di inchiesta dimenticata. In: Contemporanea 4 (2001), S. 497 – 528. 46 Wolfgang Schieder, Die römische Werwölfin. „Gute Leute, diese Italiener“, hieß es einst über die Armee, doch neue Quellen dokumentieren Verbrechen und Verdrängen. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 5, 7. 1. 2002. 47 Das Folgende wieder nach Rieder, Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 19), deren Text eine Mischung aus chronologischer und thematischer Darstellung ist.

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Reise nach Washington Anfang Januar vergaß De Gasperi nicht das Thema Exportgenehmigungen in die soeben eingerichtete Bizone. Im April schloss seine Regierung ein erstes handelsvertragliches Abkommen mit dieser: Es ging um Teile für Maschinen zur Schuhreparatur, die von Spang & Brands in Oberursel nach Mailand geliefert wurden – keine sehr elaborierten Produkte, aber wer diese Zeit erlebt hat, weiß, w ­ elche Probleme selbst Schuhreparaturen damals mit sich brachten. Ebenfalls im April 1947 waren große deutsche Firmen (Siemens, Telefunken, Henkel, Pelikan sowie der „arisierte“ Anlagenbauer Orenstein & Koppel) auf der 25. Mailänder Messe vertreten – nicht anders als zuvor bei der 24. im Jahre 1943 und auf der nächsten im kommenden Jahr.48 Auch mit der Französischen Zone kam die italienische Regierung damals ins Geschäft und dorthin konnte sie sogar Obst und Gemüse liefern. Bezahlt hat man das alles niemals mit den viel zu knappen Devisen, sondern in Gestalt von Kompensationen. Darin kannte man sich in beiden Ländern seit langem aus, nämlich seit Anfang der dreißiger Jahre. Auch hier also kein Neuanfang, sondern Fortsetzung des Hergebrachten. Nun war es auch an der Zeit, offizielle Handelsvertretungen wenigstens in der Bizone zu errichten. Die erste Generalversammlung der Deutsch-­Italienischen Handelskammer in Mailand am 28. März 1947 regte mit Erfolg die Entsendung einer Regierungsdelegation an. Diese machte sich im Sommer auf den Weg nach Berlin und schloss mit dem Alliierten Kontrollrat ein Handelsabkommen ab. Ende des Jahres erlaubten die Alliierten der römischen Regierung dort auch die Errichtung eines Konsulats. Seit Jahresanfang residierte bereits in Frankfurt, das sich immer deutlicher zum wirtschaftspolitischen Zentrum der Bizone entwickelte, Vitale Gallina als Legationsrat und s­ päter als Generalkonsul.49 Im Dezember kam die schon erwähnte Handelsvertretung unter Aldo Morante mit weiteren Mitarbeitern, die Deutschland seit langem kannten, hinzu. Konsulate wurden 1947 auch in München, Baden-­Baden und Bad Salzuflen eröffnet; letzteres zog schon Anfang 1948 nach Hamburg um und wurde zum Generalkonsulat aufgewertet. Auf weitere Einzelheiten kommt es hier nicht an. Jedenfalls scheint, dass schon 1947 von italienischer Seite die entscheidenden Schritte unternommen wurden, um die 48 1948 besuchte sogar der bizonale Wirtschaftsdirektor, Ludwig Erhard, die Mailänder Messe. 49 Der schon seit Mitte 1946 in Frankfurt tätige Gallina bekleidete anfangs einen militärischen Rang, weil die Alliierten nur eine Militärmission duldeten, und betreute zunächst die mehreren Zehntausend Italiener, die in Deutschland lebten, und kümmerte sich um die Rückgabe geraubten italienischen Eigentums. Vordemann, Beziehungen (wie Anm. 6), S. 27. Ab April 1947 fungierte Gallina als Diplomat. Er amtierte bis 1949, wurde aber nicht der erste diplomatische Repräsentant Italiens in der Bundesrepublik, weil seine Berichte über die deutsche Zukunft zu pessimistisch gehalten waren. Ebd., S. 51. Erster Gesandter wurde vielmehr der bisherige Kabinettschef im Außenministerium, Francesco Babuscio Rizzo, womit Rom gleich zu Anfang die Bedeutung dieser diplomatischen Dienststelle hervorhob; Rieder, Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 19), S. 397, 425. Zu ­diesem Thema ergänzend Maddalena Guiotto, Italia e Germania occidentale dalla fine della seconda guerra mondiale alla fine degli anni cinquanta. In: Dies. / Johannes Lill, Italia – Germania. Deutschland – Italien 1948 – 1958. Riavvicinamenti − Wiederannäherungen, Florenz 1997, S. 11 – 157, bes. S. 30 – 38.

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unterbrochenen Wirtschaftsbeziehungen wieder zusammenzuknüpfen – vor dem Marshallplan und erst recht vor der Währungsreform! 1948 konnten sich dann bereits wieder Deutsche als Geschäftsleute südlich der Alpen niederlassen. Einer von ihnen war Hans Deichmann, dem wir schon mehrfach begegnet sind. Er übersiedelte im Spätjahr mit seiner Familie nach Mailand und trat dort in die Geschäftsleitung einer neugegründeten Firma ein, die die unterbrochenen Lieferbeziehungen z­ wischen italienischen Firmen und den I.  G.-Farben-­Nachfolgern wiederherstellen sollte, namentlich mit BASF. Deichmann hatte zugesagt, nicht nur weil man ihn von Mailand aus angefragt hatte und er Land und Leute liebte, auch einen sicheren Broterwerb benötigte, sondern weil er vom Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit zunehmend irritiert war (als Präsident der Spruchkammer von Bad Homburg war er zuletzt in ernsthafte Schwierigkeiten gekommen). Er pflegte sich ­später, um die Erklärungen abzukürzen, halb scherzhaft als „Adenauer-­Flüchtling“ zu bezeichnen.50 Als die Deichmanns im Spätsommer nach Italien einreisten, musste ein anderer Deutscher, der davon s­ päter in seinen Erinnerungen berichten sollte, schon bald wieder zur Heimkehr rüsten: Nicolaus Sombart. Er studierte bei Alfred Weber in Heidelberg und gehörte, wie er schreibt, „im Herbst 1947 zu einer Hand voll Auserwählter, die dem Großmut der amerikanischen Besatzungsbehörden und dem Geschick eines neapolitanischen Jaspers-­Schülers – eines Doktor Rossi, der den Krieg an der Heidelberger Universität als Mediziner überdauert hatte − Paß und Visum für einen dreimonatigen Studienaufenthalt in Italien verdankten.“ 51 Aus drei Monaten wurden nahezu zwölf und Sombart fand nicht nur Aufnahme in Croces Institut, sondern auch in dessen Familie. Mit der deutschen philosophischen Tradition kam Sombart erst in Croces riesiger Privatbibliothek so richtig in Berührung, erst dort, so schreibt er, habe er Hegel, Marx und Heidegger gelesen, die ihm bis dahin nur Begriffe gewesen s­eien. Gleichwohl habe ihm Croces Philosophie des Liberalismus die Augen geöffnet für das, was im politischen Denken Deutschlands verloren gegangen war. Sombart und Deichmann setzten 1947/48 fort, was bis 1943 gang und gäbe war. Das gilt auch für andere. Kaum dass das Pendel in Deutschland wieder in Richtung Normalität auszuschlagen begann, überschritten auch schon die ersten Touristen wieder die Alpen. Noch freilich war das Reisen ein solches Wagnis, dass tiefempfundenes Bildungsinteresse vorausgesetzt sein musste. Im September 1948 begaben sich von 50 Deichmann, Gegenstände (wie Anm. 13), S. 184. Zur dauerhaften Übersiedelung nach Italien ebd., S. 182 ff. und S. 224 f. Hier berichtet er auch, dass er sich zur Erlangung aller Genehmigungen als Mitarbeiter der Kulturabteilung der US-Armee ausgab, der nach Mailand versetzt worden sei. 51 Nicolaus Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945 – 1951, Frankfurt/M. 2000, S. 148. Ein anderer studentischer Croce-­Besucher, der allerdings erst 1951 nach Neapel kam, dann freilich per Autostopp, war Erich Kusch, der fast sein gesamtes weiteres Leben als Korrespondent deutscher Zeitungen in Italien verbringen sollte. Zu seinem Croce-­ Besuch: Erich B. Kusch, Incontro con lo studente tedesco. In: Villa Vigoni. Comunicazioni / Mitteilungen 7, H. 1 (2003), S. 57 f.

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München aus drei Studenten, Altersgenossen Sombarts, zur klassischen Kunstreise auf den Weg nach Italien. Einer von ihnen war Karl Otmar Freiherr von Aretin.52 In Verona wurden sie verhaftet, weil sie sich auf der Straße auf Deutsch unterhielten und man sie folglich für SS-Angehörige hielt, die sich nach Rom durchschlagen wollten.53 Ins Lager verbracht, drohte ihnen große Gefahr durch ebendiese wirklichen SS-Männer, denn die drei Studenten besaßen, wonach jene am meisten trachteten: Ausweispapiere. Das blieb während der gesamten vierwöchigen Reise ihre größte Sorge. Als sie dem Carabinieri-­ Hauptmann den wirklichen Sachverhalt klarmachen konnten, entschuldigte sich dieser vielmals und ließ sie als Wiedergutmachung im Jeep nach Mailand chauffieren. Dort wohnten sie durch Vermittlung bei einem begeisterten Faschisten, in Florenz bei deutschen Nonnen, den Grauen Schwestern, in Rom ebenfalls meist in Klöstern. Da niemand die nagelneue D-Mark kannte und sie deshalb auch nicht akzeptierte, war das Trio öfters auf Armenküchen angewiesen; zwei Drittel der ‚Gäste‘ dort waren Deutsche – eben die, vor denen sie sich am meisten zu fürchten hatten. Bis Neapel stießen sie vor und kehrten dann über Venedig nach Hause – von Mailand abgesehen die klassische Route der Gelehrten und Künstler. Heute reist kaum noch jemand so. Aber diese Tradition hat nicht der Zweite Weltkrieg beendet, sondern der durch Massenwohlstand bewirkte kulturelle Wandel danach, und alles, was an der Reise von Aretins und seiner Freunde für die Nachkriegszeit typisch war – Verhaftung, Armenküche, Klöster −, hatte eher mit der Anwesenheit von SS-Leuten zu tun. 1948 war ihre Zahl in Italien wohl am höchsten. Im Jahr darauf wurde aus den drei Westzonen die Bundesrepublik Deutschland. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, zunächst auf niederer Ebene, folgte alsbald: in Bonn noch 1949, in Rom im Dezember 1950. Kurz zuvor hatten beide Länder ein Handelsabkommen abgeschlossen und dabei auch das Problem der Reisedevisen angepackt; 1950 war schließlich das Heilige Jahr. Schon rechnete man damit, dass deutsche Geschäftsleute und Touristen zusammen 4 Millionen US-Dollar ausgeben würden und wahrscheinlich war diese Summe zu niedrig angesetzt. Denn 1950 stand Westdeutschland bereits wieder auf Platz 7 unter den Herkunftsländern ausländischer Gäste.54 Die ersten Reiseführer 52 Das Folgende erzählte mir Frh. v. Aretin im September 2003. 53 Die gegenteilige Erfahrung – aber wo, das hing sehr von der Örtlichkeit ab – machte der ehemalige (und zukünftige) Italienkorrespondent Josef Schmitz van Forst, der 1948 das Land mit der Bahn bereiste, nachdem die direkte Nord-Süd-Verbindung wieder repariert war. „Auf der Straße, in den Gaststätten, auf der Eisenbahn kann man deutsch sprechen, ohne feindseligen Blicken zu begegnen“, notierte er im Dezember 1948. „Unbekannte nähern sich und fragen: ‚Wie geht es euch, wie lebt ihr, wie könnt ihr Armen das aushalten?‘, suchen zu trösten und schütteln die Hand“. Josef Schmitz van Forst, Berichte und Bilder aus Italien 1948 – 1958, hg. v. Rudolf Lill und Peter Martin Schmitz, Konstanz 1997, S. 34. 54 Rieder, Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 19), S. 425. Wirtschaftsminister Erhard fuhr 1950 zweimal, der spätere Außenminister Heinrich von Brentano einmal nach Rom – als Pilger. – Nicht alle nach Italien reisenden Deutschen waren aber Touristen. Bei den deutsch-­italienischen Handelsgesprächen hieß es, „die meisten Deutschen in Italien suchten Arbeit“. Sie verhielten sich also nicht anders als jene Italiener, die nach Kriegsende nicht aus Deutschland weggebracht werden wollten.

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erschienen und lenkten den Touristenstrom zu den klassischen Highlights.55 Mit Verachtung reagierten sogleich die deutschen Italianisants auf diesen Sachverhalt – auch das keine Erscheinung, die neu war oder etwas mit der Nachkriegszeit zu tun hatte. Hans Hinterhäuser, von 1949 bis 1953 Lektor in Venedig, kommentierte in seinem im übrigen ganz vorzüglichen Italienbuch, Ursache des Aufschwungs im Reiseverkehr sei „die neue Unsitte der Autobusreisen, die das mit dem Besuch eines fremden Landes verbundene Wagnis ausschalten und es auch dem Herden­menschen erlauben, nach dem ‚klassischen‘ Lande zu wallfahrten.“56 Es gab aber auch jetzt noch junge Leute, die für ihr Bildungsinteresse Risiken und Anstrengungen auf sich zu nehmen bereit waren: 1951 befuhr Klaus Wagenbach mit dem Fahrrad die Halbinsel.57 Es war sozusagen der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, der wir das beste deutsche Verlagsprogramm zu Italien verdanken. Wenn diese Darstellung die deutsche Präsenz im Nachkriegsitalien privilegierte, so liegt das erstens an der zwangsläufig asymmetrischen Quellenkenntnis und zweitens an der bekannten Asymmetrie deutsch-­italienischer Kulturbeziehungen. Nichts wäre jedoch verkehrter, als daraus zu schließen, die italienischen Interessen am damaligen (West-) Deutschland hätten sich auf die Wirtschaftsbeziehungen und die Betreuung der zahlreichen Landsleute beschränkt. Ein stichwortartiger Hinweis pro Jahr muss genügen. Im Spätjahr 1947 drehte Roberto Rossellini den dritten Teil seines Kriegstryptichons, Germania anno zero, in Berlin, jedenfalls die Außenaufnahmen (denn Anna Magnani Achttausend Deutsche verfügten 1950 über eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und stellten damit ein Drittel der in Italien lebenden Ausländer; Vordemann, Beziehungen (wie Anm. 6), S. 55. 55 Eine sehr vorläufige Durchsicht von Katalogen ergab, dass bereits 1949 der erste Bildband erschienen war: Italien. Von den Alpen bis zu den Abruzzen. Bilder von Kurt Peter Karfeld. Text von Rudolf Kircher, Innsbruck, München, Baden-­Baden. 1950 folgten die ersten Reiseführer: Im Nagel-­Verlag die deutsche Ausgabe des Italien-­Reiseführers des TCI – Italien in einem Band, Paris (Die Blauen Reiseführer, Deutsche Reihe) – und speziell zum Heiligen Jahr die vom ­Trierer Paulinus-­Verlag besorgte, von zwei Kennern verfasste Handreichung mit jugendbewegtem Titel: Ludwig Schudt / Ludwig Mathar, Italien-­Fahrt. Ein Führer durch Italien und durch Rom. Geschichte, Landschaft, Städte. In der Reihe der Schweizer Stauffacher-­Reiseführer erschien ein Italienband erst 1952 und was den Baedeker betrifft, so musste man sich gar bis 1955 gedulden und erhielt dann auch lediglich ein auf die Kerngebiete deutschen Interesses beschränktes Werk: Oberitalien. Mit Dolomiten, Riviera und Florenz, unter Mitarb. v. Gerald Sawade hg. v. Oskar Steinhell, Stuttgart 1955. 56 Hans Hinterhäuser, Italien z­ wischen Schwarz und Rot, Stuttgart 1956, S. 38. Das Buch war überaus erfolgreich, von ihm wurden nicht weniger als 5.500 Exemplare verkauft, was auf einen deutlichen Nachholbedarf schließen lässt. Jahrzehnte ­später kommentierte es der Autor: Rückblick auf Italien ­zwischen Schwarz und Rot. In: Hans-­Georg Schmidt-­Bergmann (Hg.), Zwischen Kontinuität und Rekonstruktion. Kulturtransfer z­ wischen Deutschland und Italien nach 1945, Tübingen 1998, S. 1 – 9. 57 Er benützte dafür nicht den von Hubert Lindelauf und Hermann Wasiak verfassten und erstmals in den 1930ern aufgelegten Reiseführer: Wer will mit nach Italien ziehn? Fahrtenbuch einer Gruppe, der in Nürnberg 1950 bereits in 2. Auflage erschienen war, sondern den Baedeker von 1907, der bis Paestum reichte, und in den er sämtliche Jugendherbergen eintrug, die er damals aufsuchte; Brief K. Wagenbachs an den Verfasser v. 24. 11. 2003.

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weigerte sich, das Flugzeug zu besteigen, ja sie reiste sowieso nicht gerne). Carlo Lizzani reiste voraus und bereitete die Dreharbeiten vor. Dabei lernte er die Malerin Edith Bieber kennen, die er ­später heiratete. In seinen Briefen aus der noch ungeteilten Stadt wird das ganze Nachkriegselend – es lieferte etliche Bestandteile für Rosellinis Film – anschaulich beschrieben; Rom ist der ganz große Kontrast, der Krieg vergessen. Das sahen auch die mit Rossellini nach Rom geflogenen deutschen Filmschauspieler so, die sich, dort angekommen, erst einmal so gründlich satt aßen, dass man die Dreharbeiten zwei Wochen unterbrechen musste, bis sich die Deutschen wieder einigermaßen auf jene Figur heruntergehungert hatten, mit der sie in den Außenaufnahmen gefilmt worden waren.58 − 1948 wurde Deutschland bereits wieder so interessant, dass als erste Zeitung der Corriere della Sera einen Korrespondenten dorthin schickte: Indro Montanelli; er blieb ein gutes Jahr nördlich der Alpen.59 Schon 1939 hatte er aus Deutschland berichtet, also auch in d ­ iesem Falle weniger Neuanfang als Fortsetzung. – 1949 kam schließlich auch der deutsch-­italienische Studentenaustausch wieder in Gang. Unter den ersten Italienern, die davon profitierten, war Graf Luigi Vittorio Ferraris, der nach Heidelberg ging. Er brachte es ­später bis zum Botschafter in Bonn und ist noch gegenwärtig an etlichen deutsch-­italienischen Aktivitäten beteiligt. Bilanz Am Schluss stellt sich die Frage nach der Bilanz. Die These lautete, es sei beim Blick auf die Menschen viel mehr Fortsetzung im Spiel gewesen als Neuanfang, und die Vorstellung eines totalen Abbruchs jeglicher Kontakte im Jahre 1945 mit anschließendem ‚Niemandsland‘, das vier Jahre dauerte, ein Irrtum, den unser auf die Institutionen fixierter Blick zu verursachen pflegt. Schon ganz früh war die Redensart der Stunde Null in Umlauf gesetzt worden, wie nicht zuletzt Rossellinis Berlin-­Film belegt. Eigentlich muss man sich über diese Begrifflichkeit wundern, denn gerade die italienische Linke betonte stets, dass es im westlichen Teil Deutschlands niemals so etwas wie eine Stunde Null gegeben habe. In erstaunlicher Realitätsverweigerung haben viele ihrer Vertreter teilweise bis 1989 „la Germania di Bonn“ als ein Rückzugsgebiet des Faschismus betrachtet. Aber umgekehrt gilt Entsprechendes. Deutscherseits bevorzugt man ein unpolitisches, an der Vergangenheit orientiertes Italienbild. Jenseits der Inhalte besteht der ganze Unterschied der beiderseitigen Realitätsverweigerungen in der freilich nicht nebensächlichen Tatsache, dass es sich auf deutscher Seite keineswegs um eine erst 58 Carlo Lizzani, Briefe aus dem toten Berlin. In: Barbara Brunn / Birgit Schneider (Hg.), Direttissimo Roma-­Berlin. Italienische Autoren des 20. Jahrhunderts reisen nach Berlin, Berlin 1988, S. 114. 59 Schmitz van Forst, von dem dieser Hinweis stammt, wurde 1949 als erster deutscher Nachkriegskorrespondent von der soeben gegründeten FAZ nach Rom entsandt.

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nach 1945 aufgekommene Fehlwahrnehmung handelt. Mit Recht spricht Jens Petersen davon, dass „in zentralen Fragen des politisch-­kulturellen Selbstverständnisses […] auf beiden Seiten ein Klima der Fremdheit und des Nichtzurkenntnisnehmens“ herrschte, „das sich nur langsam abbauen ließ“.60 Die offizielle Politik, seitdem es sie gibt, hat sich davon wenig beeindrucken lassen, und man hat sich in Bonn schon 1951 über das „erstaunlich rasche Vergessen der bösen Erfahrungen“ gewundert, „die Italien mit Nazi-­Deutschland gemacht hat.“61 Auf einem anderen Blatt steht, dass das Bild vom hässlichen Deutschen jederzeit abrufbar ist. Politisch instrumentalisiert hat es dennoch niemals eine italienische Regierung.62 Angesichts dieser Befunde möchte ich, wie eingangs angekündigt, für das gegenseitige Verhältnis von Deutschen und Italienern nach 1945 eine dreifach gestufte Entwicklung vorschlagen. Im vorpolitischen Raum, zu dem ich nicht nur Privatheit zähle, sondern auch persönliche Kontakte von Wissenschaftlern und – vielleicht überraschend – von Unternehmen, wurden die Beziehungen schon sehr bald wieder aufgenommen. Man könnte vielleicht sagen, dass sie aufgrund der widrigen Zeitumstände eher geschlummert haben. Teilweise nicht einmal das. Auf dieser Ebene ist jedenfalls der 2. Mai 1945, das Datum des Inkrafttretens der deutschen Teilkapitulation in Italien, von geringerer Bedeutung als für die beiden anderen Ebenen. Tausende Italiener sind – und bleiben – in Deutschland, sehr viel weniger Deutsche allerdings in Italien, denn natürlich laufen dort auch Unverdächtige Gefahr, für Täter gehalten zu werden. Lassen wir die Kriegsverbrecher und SS-Angehörigen beiseite, da für sie Italien nichts anderes ist als Transit­ land, so kann man trotzdem sagen, dass 1947/48 eine merkliche Zunahme der Kontakte und Begegnungen stattfand. Das war vornehmlich der italienischen Wirtschaft zuzuschreiben, die nicht aus Deutschfreundlichkeit, sondern aus Notwendigkeit oder Kalkül alte Verbindungen wieder aufleben ließ oder neue suchte. Wichtig ist mir dabei, dass hellsichtige Zeitgenossen schon damals die unterschiedliche Reihenfolge und damit die ungleichen Geschwindigkeiten bemerkt haben. Zu Weihnachten 1948 stellte Gustav René Hocke, vordem bis 1943 als Journalist in Rom, in einem bilanzierenden Artikel fest, dass „nicht Gelehrte und Dichter, sondern Kaufleute, Industrielle, Ingenieure und Politiker“ gleich nach 1945 „die ersten Fäden“ z­ wischen den westdeutschen Besatzungszonen und Italien wieder geknüpft haben. „Gegen Hügel von Formularen, Vorschriften, Bestimmungen und Einschränkungen, vor allem gegen Berge von Mißtrauen, Ressentiments und Unkenntnis mußte immer wieder angerannt werden, ehe zunächst der Handel und dann schließlich auch politische Worte wieder über die Alpen gehen konnten.“63 60 Petersen, Italienbilder (wie Anm. 18), S. 295. 61 Vordemann, Beziehungen (wie Anm. 6), S. 53. 62 Vor Berlusconi, aber das konnte man 2003, als dieser Vortrag gehalten wurde, noch nicht wissen. 63 Die Neue Zeitung, 24. 12. 1948. Zit. Rieder, Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 19), S. 396, Anm. 26.

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Als 1949/50 die politischen Institutionen des westdeutschen (Teil-) Staates ins Leben traten, war dieser erste, nicht auf staatliche Hilfestellung wartende Brückenschlag in vollem Gange. Die zweite Stufe der Entwicklung transnationaler Beziehungen, wie man ab jetzt sagen kann, verlief unspektakulär und rasch. 1951 tauschte man Botschafter aus und kaum war dies getan, fuhr Adenauer nach Rom. 1952 erwiderte De Gasperi diesen Besuch in Bonn; er war der erste ausländische Regierungschef, der den jungen Staat besuchte. Die Zahl der deutschen Touristen ging schon alsbald in die Hunderttausende, die Visumpflicht wurde abgeschafft, in Deutschland öffneten die ersten italienischen Eissalons – es hatte schon vor dem Krieg ­welche gegeben, aber sie hatten natürlich schließen müssen – ihre Türen und wenig ­später folgten Pizzerien 64 und Restaurants. Aber es gab eine Grenze: die Kultur, und zwar in ihrer offiziellen, politiknahen Gestalt. Und damit bin ich auf der dritten und letzten Ebene. Es mag erstaunen, dass gerade dieser Bereich gegenüber den beiden anderen verspätet in Erscheinung trat, aber das deutsch-­italienische Beispiel ist kein Einzelfall. In demokratischen Gesellschaften müssen die Regierungen in dieser Frage auf Kreise Rücksicht nehmen, die in der öffentlichen Meinung großes Gewicht haben, ja sie teilweise repräsentieren. Und diese Kreise hatten in Italien die größten Vorbehalte gegenüber der jungen Bundesrepublik; für viele von ihnen war die DDR das bessere Deutschland.65 Bundesdeutsche Publizisten machten es ihnen damit immer wieder leicht und auch das ungelöste, in Deutschland lebhaft verfolgte Südtirolproblem sorgte lange für Irritationen. Ein Grund war auch, dass in der italienischen Kunst und Literatur die Tradition der Moderne seit den 1920er Jahren nie wirklich abgebrochen war, während man sich im befreiten Deutschland unter Schwierigkeiten an die vom Publikum mehrheitlich abgelehnte Richtung erst wieder herantasten musste. So ging man langsamen Schrittes aufeinander zu, und dass die Deutschen von Italien zu lernen hatten – Musik, Malerei und Plastik, auch Literatur und vor allem Design −, war zwar nicht neu, wirkte aber wegen der anhaltenden Vorbehalte gegenüber der Moderne nicht eben beschleunigend. So kam vieles zusammen und hemmte die Entwicklung: der antifaschistische Gestus, der ästhetische Fortschritt

64 Am 24. März 1952 eröffnete in Würzburg Niccolino Di Camillo die Pizzeria Capri. Der Vorgang ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Erstens existierten damals in Italien vermutlich noch gar keine Pizzerien, Pizzen gab es nur in Bäckereien als Nebenprodukt. Zweitens bedurfte es deshalb des Umwegs über amerikanische Besatzungssoldaten, die sich die ‚heimische‘ Küche in ihren Clubs bestellten, wo der Italiener Di Camillo erstmals Pizza kennen lernte. Das war 1946 und damit gehört Di Camillo drittens zu jenen Tausenden Italienern, die nach Kriegsende in Deutschland blieben. Er begann Ende März 1946 als Küchengehilfe der in Würzburg stationierten 777th Head Quarter Battery. Näheres in SZ, 15. 3. 2002, und FAZ, 23. 3. 2002. 65 Die Zwiespältigkeit ihrer dank Reisen gewonnenen persönlichen Eindrücke betont Johannes Lill, Völkerfreundschaft im Kalten Krieg? Die politischen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen der DDR zu Italien 1949 – 1973, Frankfurt/M., Bern 2001, bes. S. 343 ff. Nicht wenige einflussreiche Intellektuelle zogen jedoch im Falle der DDR eine Ferndiagnose vor. Die Berührung mit der „Germania di Bonn“ genügte ihnen voll und ganz.

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auf italienischer Seite und die „Ewig-­Gestrigen“ auf deutscher, von denen Bundespräsident Heuss als einem ernsten Hemmnis sprach. Die Rückgabe des deutschen Pavillons durch die Biennale schon im Jahre 1950 wurde unter diesen Umständen nicht zum Auftakt, auch weil sich die Alliierten sperrten, solange sie mit Deutschland noch kein Schuldenabkommen geschlossen hatten. Im April 1953 war es dann so weit: Die vier wissenschaftlichen Institute in Rom und Florenz wurden gegen deutsche Zusicherungen im Rahmen eines Fünfmächte-­Vertrags zurückgegeben. Heute blicken wir entspannt auf diesen Vorgang zurück, der vor fünfzig Jahren alles andere als selbstverständlich war. Wie schwierig, zeigt vielleicht ein allerletzter, knapper Blick auf den Sport. Angeblich die schönste Nebensache der Welt, sind Länderkämpfe symbolisch bekanntlich hoch aufgeladene Rituale und gelegentlich sogar so etwas wie Stellvertreterkriege. Tennis war damals noch elitär, so dass die erste Nachkriegsbegegnung schon im Jahre 1951 stattfand, allerdings im Rahmen des Davis-­Cups und folglich nicht frei vereinbart. Bemerkenswerter ist deshalb, dass im Fußball das Publikum bis 1955 warten musste, und dies, obwohl der italienische Verbandspräsident Ottorino Barassi beim deutsch-­ schweizerischen Länderspiel 1950 in Stuttgart als Ehrengast teilgenommen und dabei eine Begegnung schon für 1951 in Aussicht gestellt hatte.66 Tempi passati. Aber ist deshalb die Nachkriegszeit vorbei? Jede Epoche hat ihre eigenen Aufgaben. Nachdem Deutsche und Italiener ihre Beziehungen in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Kultur längst wieder normalisiert, ja in einem Maße ausgebaut haben, das früher undenkbar schien, steht heute, für viele überraschend, der öffentliche Umgang mit Vergangenheit auf der Tagesordnung – also genau das, was in der unmittelbaren Nachkriegszeit regelrecht und absichtsvoll verdrängt worden ist. Marzabotto ist heute [2003] gegenwärtiger denn je, in Italien allemal,67 und folglich wird man unsere Zeit einmal daran messen, ob und wie wir dieser Herausforderung gerecht geworden sind.

66 Über die Gründe bleibt man auf Vermutungen angewiesen, solange der DFB sein Archiv nicht wirklich öffnet. Auch Begegnungen auf Vereinsebene waren zunächst rar. Der FC Bayern München etwa spielte 1952 erstmals in Italien (gegen Novara), der VfB Stuttgart gar erst zehn Jahre ­später (gegen Mantua). Auf der anderen Seite spielten längst deutsche ‚Legionäre‘ in italienischen Vereinen, als erster Ludwig Janda von 1949 bis 1951 in Florenz. Alle Angaben zum Sport verdanke ich Matthias Kneifl, der an der TU Darmstadt 2004 eine Magisterarbeit zum Wiederaufbau der Auslandbeziehungen des deutschen Fußballs verfasst hat: Deutschlands beste Botschafter? Fußball-­Länderspiele im Kontext der bundesdeutschen Außenpolitik bis 1955, 2004. 67 Zur unterschiedlichen Gegenwart der drei schlimmsten deutschen Massaker in Italien nur dies: Bei den Fosse Ardeatine legte bereits Theodor Heuss anlässlich seines Staatsbesuchs im November 1957 einen Kranz nieder. Gleiches tat in Marzabotto erst Bundespräsident Johannes Rau im Jahre April 2002. Näheres zu ­diesem Thema Staron, Kriegsverbrechen, Kap. 4. Erst im April 2004 begann vor dem Militärgericht in La Spezia der Prozess wegen des am 12. August 1944 von der SS begangenen Massakers in Sant’Anna di Stazzema – ohne Angeklagte, da Deutschland ihre Auslieferung verweigerte. Dieser Schreckensort ist in beiden Ländern lange Zeit nahezu unbekannt geblieben. 2013 besuchte ihn Bundespräsident Joachim Gauck gemeinsam mit dem italie­ nischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano.

Traditionen des Italienbildes in Deutschland Jeder Deutsche hat ein Italienbild im Kopf. Im Zweifelsfalle ist es „das Land, wo die Zitronen blühn“,1 was heißen soll, dass es der Inbegriff von ‚Süden‘ ist, assoziierbar mit Licht, Kunstschätzen, Wohlleben und anderen Attributen, die das Gegenteil von ‚deutsch‘ bezeichnen. Dieses Italien verfügt über solch eine Anziehungskraft, dass eine Reise dorthin im Extremfall gar als „Menschenrecht“ bezeichnet werden kann. So jedenfalls der Mecklenburger Gastronom Klaus Müller, der 1988 gegenüber dem stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden seine Republikflucht mit der Begründung ankündigte, er müsse „in Verzweiflung über die Unmöglichkeit, eine Reise nach Italien zu erlangen“, die DDR leider illegal verlassen. Er hatte sich Johann Gottfried Seume zum Vorbild genommen, der 1801/02 seinen Spaziergang nach Syrakus unternommen hatte. „Das wollte ich nachmachen, das habe ich als mein Menschenrecht angesehen“.2 Seume stand seinerseits bekanntlich bereits in einer längeren Tradition, auch wenn sich sein Reisebericht durch den genauen Blick auf Land und Leute merklich von seinen literarischen Vorgängern abhob, zu denen im übrigen Goethe durchaus nicht zählte, weil der berühmteste deutsche Italienreisende seine Italienische Reise erst ­später zu Papier gebracht und veröffentlicht hat und weil das Goethesche Italienbild gerade nicht die Wirklichkeit wiedergab. Man muss nicht in Italien gewesen sein, um ein Italienbild im Kopf zu haben. Oft wäre das sogar irritierend, weil die italienische Wirklichkeit das imaginierte Arkadien verunstalten, im Extremfall gar zerstören könnte. Schon Seume stellte sarkastisch fest, viele hielten das Land für „ein Paradies, von Teufeln bewohnt“.3 Ein treuherziger Schreiber begann im Internet die Darstellung seines Italienbildes mit dem Eingeständnis, „ich war noch nie in Italien“, um sich dann alles von der Seele zu schreiben, „was ich aus jahrelangem Medienkonsum über Italien weiß bzw. was ich damit verbinde“. Es ist das Erwartbare: chaotischer Alltag, Mafia, Espresso, schiefer Turm, Mussolini, die Roten Brigaden, Berlusconi und „Friedrich Barbarossa II.“4

1 Aus dem Lied Mignon. Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre 3,1, Berlin 1795. 2 Die Geschichte ist nacherzählt von Friedrich C. Delius, Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus, Reinbek 1995. Müller kehrte im Oktober 1988 in die DDR zurück und kam ohne Strafverfahren davon. 3 J[ohann] G[ottfried] Seume, Spaziergang nach Syrakus [1803]. In: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. 2, Leipzig 41839, S. 103. Ein Italienhasser weitete wenig ­später ­dieses Diktum zum Buch aus: Gustav Nicolai, Italien wie es wirklich ist. Bericht über eine merkwürdige Reise im Jahre 1833 in den hesperischen Gefilden, als Warnungsstimme für Alle, ­welche sich dahin sehnen, Leipzig 1834 (als e-­Book Berlin 2016). 4 Hundezar, Mein Italienbild; http://www.rp-­online.de/hps/client/opinio/public/pjsub/production_­ long.hbs?hxmain_object_id=PJSUB::ARTICLE::518148&hxmain_category=::pjsub::opinio::/ selbstportraet (20. 5. 2010).

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Italien ist also nicht nur ein seit 1861 existierendes Land südlich der Alpen, sondern vielfach und oft zuallererst „das Land zum Buch“ (Albert Meier) und noch öfter nicht einmal das. Dieses Italien ist einerseits topisch so verfestigt, dass es schon für die Wirklichkeit gilt, und andererseits substantialisiert als Summe aller Träume und Albträume, um deren Aussagekraft seither gestritten wird, ohne dass eine Entscheidung getroffen werden könnte. Der Topos Italien ist darum wandelbar, anpassungsfähig, mit Bedeutungen aller Art aufladbar – kurz: ein Spiegel, in dem man nur sich selbst erblickt, wenn man hineinschaut. Weniger metaphorisch: Italienbilder sind Konstrukte. Alle diese Dinge sind hinlänglich bekannt und bedürfen darum keiner weiteren Darlegung. Deshalb sollen hier, die Einleitung abschließend, nur noch drei methodische Folgerungen angefügt werden, um das gestellte Thema stärker zu konturieren und handhabbar zu machen. Erstens bleiben die kunst- und kulturbezogenen Italienbilder trotz ihrer großen Wirkungsmacht im Folgenden ausgeklammert. Die Untersuchung beschränkt sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf Italiendiagnosen aus historischer, politischer oder politikwissenschaftlicher Feder.5 Zweitens werden diese Diagnosen – sie zählen natürlich auch zu den ‚Bildern‘ – nach den von Wolfgang Schieder entwickelten Kriterien der Rezeptionshistorik untersucht 6 und drittens werden diese Bilder am Ende miteinander verglichen, um Aussagen für ihre Lebensdauer und ihren politischen Charakter zu erhalten. Wechsellagen der Beobachtung Es ist weder Zufall noch Willkür, die Untersuchung der deutschen Italiendiagnosen in der Spätaufklärung beginnen zu lassen. Vielmehr veränderte die damals beginnende Politisierung der Gebildeten den Blick auf Länder und Völker erheblich. Sie war ein Ergebnis sowohl der wachsenden, sich in schweren Kriegen entladenden Spannungen in Mitteleuropa als auch der anhebenden Reformen im Zeichen ­­ des aufgeklärten Absolutismus, die ihrerseits eine wichtige Station des säkularen Staatsbildungsprozesses bilden. Im Vergleich namentlich zu Frankreich setzte zwar die moderne deutsche Italienbeobachtung s­päter ein, entwickelte dann jedoch in den 1780ern Dimensionen, wie sie wohl erst wieder in den 1920er Jahren erreicht worden sind.7 Nicht nur erschienen

5 Aus naheliegenden Gründen fällt die Masse der gegenwärtigen deutschen Italienhistoriker weitgehend unter den Tisch. Auch Österreich und die Schweiz bleiben ausgeklammert. 6 Wolfgang Schieder, Deutsche Italienerfahrungen im frühen 19. Jahrhundert. In: Hagen Keller / Werner Paravicini / Wolfgang Schieder (Hg.), Italia et Germania. Liber amicorum Arnold Esch, Tübingen 2001, S. 504 f. 7 Das Folgende nach Christof Dipper, Das politische Italienbild der deutschen Spätaufklärung. In: Klaus Heitmann / Teodoro Scamardi (Hg.), Deutsches Italienbild und italienisches Deutschlandbild im 18. Jahrhundert, Tübingen 1993, S. 7 – 25.

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Reisehandbücher und Länderkunden in rascher Folge, es brachten auch die wichtigsten Journale in jeder Ausgabe Beiträge über das Land, ja es erschienen sogar drei, wenngleich kurzlebige Spezialzeitschriften für Italien. Eine Durchsicht ergibt, dass zwei sehr unterschiedliche Italienbilder nebeneinander existierten, die allem Anschein nach keine Notiz voneinander nahmen. Die erste, wenig beachtete Gruppe bildete die sogenannte Reichspublizistik, die die habsburgische Hausmachtpolitik auf der Halbinsel mit den Mitteln des (mittelalterlichen) Reichsrechts zu flankieren suchte. Es ist zwar viel vom sogenannten Reichsitalien die Rede,8 aber das Interesse für Land und Leute hatte vornehmlich die Funktion, die italienischen Fürsten und Herren an ihre lehnrechtlichen Pflichten zu erinnern. Die einen weigerten sich zu zahlen, gar ihre Untertänigkeit anzuerkennen, die anderen, die kleinen Reichslehen vor allem, lebten davon, dass sie Banditen Unterschlupf boten. Weder das eine noch das andere trug zu einem positiven Italienbild bei und so sind der Herrenstandpunkt und die Verachtung gegenüber den Bewohnern der Halbinsel immer spürbar. Der ­Kaiser sorgt für Ordnung, das Land kann man nicht sich selbst überlassen – eine Tonlage, die noch öfters begegnen wird. Insofern wirkte diese Literatur über das 1796 untergegangene Reichsitalien hinaus bzw. mündete in den breiten Strom der Vorbehalte gegenüber dem je aktuellen Italien. Eine andere Perspektive nahmen die von Landeskennern für ein größeres Publikum geschriebenen Reisehandbücher und Zeitschriftenbeiträge ein. Die Halbinsel ist hier ein Kaleidoskop unterschiedlich entwickelter Staaten, im Zentrum die Toskana und der Kirchenstaat, weil sie zugleich die Endpunkte auf der Skala der politischen Bewertung bilden. Denn die weithin, auch von den Italienern selbst akzeptierte 9 These des Niedergangs, an dem die Halbinsel seit Jahrhunderten leide, richtet alle Urteile am Kriterium des Umgangs mit ­diesem Makel aus. Rom schneidet da besonders schlecht ab: Der Katholizismus, die Inquisition, die Tote Hand, der überdimensionierte ­Klerus, das grausame Klosterregime und andere Attribute der Papstkirche gelten als die Hauptverantwortlichen der Dekadenz und finden sich hier in besonders nachteiliger Häufung. Die Toskana ist dagegen der Inbegriff aufgeklärter Reformtätigkeit und ein Stück ­dieses Glanzes fällt auch auf die Lombardei. Dass in beiden Territorien die Habsburger regieren, macht die Sache in den Augen der Autoren erklärlich. Es ist das deutsche Modell 8 Dazu Karl Otmar Frh. v. Aretin, Reichsitalien (Frühe Neuzeit). In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 648 – 651. Ausführlich jetzt Matthias Schnettger, Das Alte Reich und Italien in der Frühen Neuzeit. Ein institutionengeschichtlicher Überblick. In: QFIAB 79 (1999), S. 344 – 420. 9 Nicht von ungefähr wurde Risorgimento im 19. Jahrhundert zum Programmbegriff aller Italiener, die einer radikalen kulturell-­politischen Erneuerung das Wort redeten. Erstmals begegnet die künftige Leitparole in der Aufklärung, als diese entschlossen die ‚Dekadenz‘ zu bekämpfen begann und ein Schlagwort für den Wiederaufstieg benötigte: Saverio Bettinelli, Del Risorgimento d’Italia negli studj, nelle arti, e ne’ costumi dopo il mille, Venedig 1786. Bettinelli gehörte zu den wenigen Italienern, die damals Deutschland bereisten; er war hier 1758.

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des aufgeklärten Absolutismus, das sie hier wiederzuerkennen glauben und dem ihre ganze Sympathie gilt. Im Grunde begegnet man sich als Deutscher in Florenz oder Mailand also selbst,10 und deswegen wird Neapel mit seinem anders gearteten Verhältnis ­Aufklärung – Staat meistens falsch beurteilt bzw. die Anerkennung der samt und sonders ins Deutsche übersetzten Aufklärer mit den ansonsten verwunderlichen bis abstoßenden Beobachtungen in dieser Stadt – die Provinz wird gar nicht bereist und folglich auch nicht wahrgenommen – verrechnet. Die Ereigniskatarakte der Revolution und der napoleonischen Zeit ließen das Interesse an Italien drastisch zurückgehen. Zudem änderte sich in den drei Jahrzehnten nach der Revolution die Wirklichkeitswahrnehmung der Reisenden entscheidend. Die der Wissens- und Nachrichtenvermittlung dienenden, den Idealen der Aufklärung verpflichteten Berichte der Zeit bis zur Jahrhundertwende wurden abgelöst durch stärker subjektiv gefärbte und durch die Sichtweise der Romantik bestimmte Texte. Schon vor 1800 erschien diesen Autoren die Vermittlung gesellschaftlich nützlicher Informationen nicht mehr lohnend, weil die Anfänge der Geisteswissenschaften (Archäologie, Kunstgeschichte, Philologie) die bisherige Ausrichtung der Reiseberichte als obsolet erscheinen ließen.11 Im Vormärz werden Zeitungen und Zeitschriften vollends diesen Platz einnehmen. Seume stand im Schnittpunkt ­dieses Umbruchs. Sein Reisezweck, das legt schon sein Endziel Sizilien nahe, war bereits von Winckelmann nahegelegt, während seine hellsichtig-­kritischen gesellschaftlichen und politischen Beobachtungen noch der aufgeklärten Utopie entsprangen. Als in der Friedenszeit nach 1815 die Italienreisen wieder stark zunahmen, blieb das Material für Italiendiagnosen darum überschaubar. Im Falle von Periodika hat das allerdings auch mit der übermächtigen Zensur zu tun, während Bücher nur der Nachzensur unterworfen waren. Altgelds gründliche Recherche schöpft Wesentliches aus Briefen und Tagebüchern, die teilweise gar nicht, vielfach jedoch erst nach der Jahrhundertmitte gedruckt worden sind und insofern das zeitgenössische öffentliche Italienbild kaum beeinflusst haben.12 Das anhebende nationale Zeitalter machte sich insofern bemerkbar, als nun fast nirgends der Hinweis fehlte, dass außer Sardinien-­Piemont alle italienischen Staaten, anders als die deutschen, der ‚Fremdherrschaft‘ unterworfen ­seien.13 Fast unvermeidlich war damit die Vorstellung von Inferiorität verknüpft.

10 In der Toskana könne man fast vergessen, „daß man noch unter Italiens Himmel ist“. Johann Isaak Frh. v. Gerning, Reise durch Oesterreich und Italien, Bd. 3, Frankfurt/M. 1802, S. 221. 11 Kay Kufeke, Himmel und Hölle in Neapel. Mentalität und diskursive Praxis deutscher Neapelreisender um 1800, Köln 1999, S. 250 ff. 12 Wolfgang Altgeld, Das politische Italienbild der Deutschen ­zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848, Tübingen 1984. Ihm folge ich im nachfolgenden Überblick. 13 Anders als die klassische Risorgimento-­Geschichtsschreibung uns glauben machen will, bestimmte in Italien selbst dieser Gesichtspunkt nur die Minderheit der Carbonari und ab den 1830er Jahren der Mazzini-­Anhänger.

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Sie steigerte sich aus deutscher Sicht noch durch einen zweiten Mangel, nämlich die fehlende politische Rahmenordnung der Halbinsel. Für die Konservativen – die Unterscheidung nach Gesinnungsparteien ist von nun an zwingend – war dies getreu der bekannten Aussage Metternichs, dass Italien nur ein geographischer Begriff sei, so etwas wie ein Naturgesetz, während sich die Liberalen ein lockeres föderatives Band durchaus vorstellen konnten. Die Versuche von italienischer Seite, dorthin zu gelangen, gestalteten sich jedoch so, dass kaum ein deutscher Beobachter weiterhin Sympathien für Italien hegte. Denn die alsbald gescheiterten Verfassungsrevolutionen in Neapel und Turin 1821/22 verfielen auch bei den meisten Liberalen alsbald der Ächtung. Was Neapel betrifft, enthüllten sie allgemeiner Ansicht zufolge außerdem eine fragwürdige Nähe selbst der politischen Anführer zur landestypischen kriminellen Subkultur. So fanden sämtliche Beobachter im scharfen Verdikt zusammen, dass die Völkerschaften südlich der Alpen für politische Freiheit (noch) nicht reif s­ eien, was letzten Endes auf eine Zustimmung zur Repressionspolitik Metternichs hinauslief. Diese partei- und konfessionsübergreifende Verachtung der Italiener war in dieser Schärfe neu und sollte sich als äußerst langlebig erweisen. Als in den 1840er Jahren das italienische Geistesleben durch die gesamtitalienischen Gelehrtenkongresse international auf sich aufmerksam zu machen begann, stieg das deutsche Interesse am südlichen Nachbarland sprunghaft an.14 Es imponierte besonders der diese Tagungen tragende Reformgedanke, den man auf eine neue Generation zurückführte. In Zeitschriften und Büchern entwickelten vor allem liberalkonservative Autoren – beispielhaft genannt ­seien Alfred von Reumont, Friedrich von Raumer und Karl Mittermaier, die Italien aus eigener Anschauung kannten, teilweise dort jahrelang lebten – das Bild einer Kulturnation im Aufbruch. „In allen Zweigen des öffentlichen Lebens schafft rühmenswerte Thätigkeit sich ein Feld“, notierte Mittermaier, der damals in Italien bekannteste Deutsche, in der Augsburger Allgemeinen Zeitung,15 die mehr als andere Periodika nunmehr regelmäßig aus dem Süden berichtete. Das war nicht immer frei von schulmeisterlichem Ton und der Maßstab war selbstverständlich Deutschland, wo seit der Reformation kontinuierlich und erfolgreich am Fortschritt gearbeitet worden sei.16 Damit waren auch die Ursachen der Dekadenz und der anhaltenden, inzwischen 14 Dazu aus italienischer Perspektive Franco Venturi, L’Italia dei moderati tedeschi. In: Ruggiero Romano / Corrado Vivanti (Hg.), Storia d’Italia, Bd. 3: Dal primo Settecento all’Unità, Turin 1973, S.  1275 – 1287. 15 Karl Mittermaier, Italiens politische Verhältnisse. III. Artikel. In: Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 111, 21. 4. 1846. Zit. Altgeld, Italienbild (wie Anm. 12), S. 242, Anm. 50. Mittermaiers Buch Italiänische Zustände, Heidelberg 1844, wurde, um einiges gekürzt, 1845 ins Italienische übersetzt und erfuhr begeisterte Aufmerksamkeit. 16 „Ohne Zweifel steht das deutsche Volk in den meisten Beziehungen höher als das italienische. Es darf sich einer Entwicklung und einer geistigen Größe rühmen, w ­ elche ­dieses nicht besitzt“. Italien im Jahre 1847, mit besonderer Beziehung auf Österreich. In: Karl Biedermann (Hg.), Unsre Gegenwart und Zukunft, Bd. 9, Leipzig 1847, S. 36; zit Altgeld, Italienbild (wie Anm. 12),

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aber merklich zurückgehenden Rückständigkeit benannt. Immerhin konnte man nun in Deutschland anders als in den Jahrzehnten zuvor realitätsnahe Berichte über den Gang der Dinge auf der Halbinsel lesen. Davon ausgenommen blieb nur, auch aus Gründen der Zensur, die politische Sphäre im engeren Sinne. Als ab Jahresanfang 1848 die zivilgesellschaftliche Reformbewegung unvermutet das Ziel des nationalen Zusammenschlusses ansteuerte, reagierten die deutschen Beobachter entsprechend perplex. Gervinus war einer der ganz wenigen, die die neue Lage zu verstehen suchten. Er entwickelte dazu im Februar eine historische Th ­ eorie der Revolution, die Italien wegen seiner Rückständigkeit – „Italien ist [mangels Reformation und Industrialisierung] zurückgeblieben“ – als besonders gefährdet betrachtete.17 Die Mehrzahl griff stattdessen auf altbekannte nationale Stereotypien zurück, die nicht viel mehr als ein umfangreiches „Kriminalporträt“ enthielten.18 Nationale Selbstbestimmung verweigerten die Achtundvierziger – die Konservativen unterschieden sich im Ergebnis von ihnen kaum – den Italienern aus drei Gründen, wie die Italiendebatte der Paulskirche am 12. August 1848 erkennen ließ: Erstens fehle den Italienern die geschichtliche Reife, zweitens wäre damit die österreichische Stellung in Oberitalien bedroht, die dort Frankreich auf Distanz halte, und drittens ging es ganz allgemein um die angemessene Stellung Deutschlands in Mitteleuropa, weshalb die Paulskirche auch in der Frage der Tschechen und Polen keine andere Haltung einnahm. Aber selbst wer damals in Deutschland wie Vogt und Nauwerck in Frankfurt und Marx und Engels in der Rheinischen Zeitung für Italien Partei ergriff, tat das weniger aus pro-­italienischen als aus anti-­österreichischen Motiven. Erstmals bekam das Italienbild eine unmittelbare politische Wirkung, die zugleich deutlich machte, dass Italien eine untergeordnete Rolle spielte. Den Ausschlag gaben die nationalen Interessen des zu errichtenden Deutschland, in dem nach Ansicht der Mehrheit Österreich noch immer eine zentrale Stellung einnehmen sollte und der Gegner Frankreich hieß. Ein einiges Italien versprach dabei nur Nachteile. Immerhin: Die Politisierung des Italienbildes ließ sich nicht mehr rückgängig machen, wie an dem wachsenden Interesse für Sardinien-­Piemont abzulesen ist. So war man nicht ganz unvorbereitet, als zehn Jahre s­päter d ­ ieses Königreich die Habsburger Monarchie herausforderte und die nationale Frage ungewollt so ins Rollen brachte, dass sie nicht mehr aufgehalten werden konnte. Das hat in der öffentlichen Meinung Deutschlands einen niemals wieder erreichten Enthusiasmus für die S. 305, Anm. 91. Hinter dieser heute erschreckenden Aussage steckt die romantische Volksgeistlehre, die damals in ganz Europa populär war. Berühmtes italienisches Gegenstück ist Vincenzo Giobertis Buch Del primato morale e civile degli Italiani, 2 Bde., Brüssel 1844. 17 Georg Gottfried Gervinus, Aussichten der Reformen und Revolutionen in Europa. Italien. In: Deutsche Zeitung, Nr. 42, 11. 2. 1848; S. 329. Aufgrund der landestypischen „Indolenz“ könne man trotz inzwischen begonnener Reformen nicht sicher sein, dass Italien den mühseligen, langsamen, Klugheit erfordernden Weg der Reformen wirklich beschreitet. Ebd., S. 331. 18 Jens Petersen, Das deutsche politische Italienbild in der Zeit der nationalen Einigung [1991]. In: Ders., Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze, Köln 1999, S. 88.

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italienische Sache erzeugt. Zwischen 1859 und 1870 hatte die deutsche Aufmerksamkeit für die Vorgänge südlich der Alpen Hochkonjunktur.19 Nicht weniger lautstark als die Sympathisanten äußerten sich die ‚Ewig-­Gestrigen‘, aber ihre Diagnosen verloren quasi mit jedem Tag an Überzeugungskraft – vorderhand jedenfalls. Das gilt sowohl für das realitätsferne, „von mentalen Blockaden und traumatischen Furchtzuständen“ geprägte Italienbild der Katholiken, in dem die „dominierende Räubersippe“ um Cavour eine neue Ära der Christenverfolgung einzuleiten schien, als auch für die preußischen Hochkonservativen, in deren Vision das neue Italien dank „Kronenraub und Nationalitätenschwindel“ zu einer der gefährlichsten Erscheinungsformen des modernen Staates geworden ist, kurz „ein moderner Barbaresken-­Staat“.20 Publizistisch wie politisch maßgeblich wurden aber die positiven Stimmen. Die Abkehr vom „Kriminalporträt“ ging auf die Wende zur sogenannten Realpolitik als Antwort auf die Niederlage der Achtundvierziger, die alsbald auch eine der Hochkonservativen wurde, zurück. Rochau, ihr Erfinder, hatte 1850/51 Sardinien-­Piemont, den einzigen Verfassungsstaat auf der Halbinsel, bereist – schon diese Route war ein Novum, denn kunstgeschichtlich hatte sie nichts zu bieten – und dem „im Werden begriffene[n] Italien mit Sardinien an seiner Spitze […] eine große Zukunft“ prophezeit.21 Zehn Jahre ­später war das Land geeint, für die These der deutschen Überlegenheit konnte das nicht ohne Folgen bleiben. Aber es war nicht nur die normative Kraft des Faktischen, die die liberale Öffentlichkeit, insgeheim freilich auch Bismarck, der sich damals zum „weißen Revolutionär“ (Lothar Gall) zu wandeln begann, zum Umdenken veranlasste, sondern die spektakuläre Art und Weise der Einigung Italiens und namentlich Garibaldis kühner Feldzug in Süditalien, der ganz Europa begeisterte. Der Freischarführer avancierte in Deutschland binnen kurzem zum bekanntesten Italiener aller Zeiten (und sollte das bis zu Mussolini bleiben), ja in gewisser Weise beinahe zu einem deutschen Volkshelden, was allerdings seine totale Entpolitisierung durch die Mehrzahl der bürgerlichen Beobachter, Kommentatoren und Unterstützer, unter ihnen nun erstmals Frauen, voraussetzte.22 Die Welle der Sympathie hatte Folgen. Wie sollte noch von italienischer Dekadenz gesprochen werden, wenn das Land unversehens verwirklichte, wovon die nationale Bewegung in Deutschland noch träumte? Die Times brachte es 1861 auf den Punkt: „Die Erfolge Italiens haben […] einen tiefen Eindruck 19 Ders., Politik und Kultur Italiens im Spiegel der deutschen Presse. In: Arnold Esch / Jens Petersen (Hg.), Deutsches Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento, Tübingen 2000, S. 14. 20 Zitate bei Petersen, Italienbild (wie Anm. 18), S. 62, 74. 21 A[ugust] L[udwig] (sic) von Rochau, Italienisches Wanderbuch. 1850 – 1851, Bd. 2, Leipzig 1852, S. 234. Zit. Altgeld, Italienbild (wie Anm. 12), S. 331. 1853 folgte ihm hierin die einflussreiche Brockhaus-­Serie Die Gegenwart, eine Sammlung politischer Aufsätze: Friedrich Crüger, Das Königreich Sardinien seit der Reformbewegung bis auf die neueste Zeit, Bd. 8, Leipzig, S. 524 – 605. 22 Vgl. dazu oben in: Helden überkreuz oder Das Kreuz mit den Helden. Wie Deutsche und Italiener die Heroen der nationalen Einigung (der anderen) wahrnahmen.

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auf den Geist des deutschen Volkes gemacht. […] Deutschlands intelligenteste und sanguinischste Bürger träumen nicht davon, den Italienern entgegenzutreten, sondern davon, ihrem Beispiel zu folgen“.23 Davon konnte hinsichtlich der Art und Weise, wie die deutsche Einheit schließlich zustande kam, zwar keine Rede sein, aber für die politisierte Öffentlichkeit Norddeutschlands (im damaligen Sprachgebrauch, d. h. die Gebiete z­ wischen Frankfurt am Main und der Küste) diente die 1857 gegründete Società nazionale italiana, ein Zusammenschluss demokratischer und ‚gemäßigter‘, d. h. liberalkonservativer Honoratioren zur Unterstützung der piemontesischen Politik, als Vorbild, nachdem 1859 durch den Krieg in Oberitalien die Dinge auch nördlich der Alpen ins Rollen zu kommen schienen. Am 14. August jenes Jahres trat der Deutsche Nationalverein in Eisenach mit einer pro-­preußischen Erklärung zur nationalen Lage ins Leben. In der Mitgliederwerbung war er zwar viel erfolgreicher, aber politisch zerbrach er am Erfolg Bismarcks, dem bekanntlich das Kunststück gelang, die nationale Bewegung zur Stabilisierung des monarchischen Prinzips in den Dienst zu nehmen. In der politischen Praxis blieben die Unterschiede also viel zu groß, als dass Italien hätte Vorbild werden können, ganz abgesehen von den bleibenden Vorbehalten auf katholischer und konservativer Seite, ja selbst vieler Italienliebhaber wie Jacob Burckhardt, der den Untergang seines Arkadien im neuen Nationalstaat nie verwand.24 Das hinderte aber nicht „Millionen“25 Deutscher in ihrem Engagement und ihrer Begeisterung für die großen Figuren des Risorgimento, namentlich Garibaldi, wofür es auf italienischer Seite kein Gegenstück gab. Dass ihm mütterlicherseits eine deutsche Abstammung angedichtet wurde, belegt aber nur einmal mehr, dass selbst im größten Enthusiasmus für Italien ein Rest von deutschem Überlegenheitsgefühl steckte. Auch die Geschichtsschreibung passte sich der geänderten Stimmungslage an. In der preußisch-­kleindeutschen Schule rückte Treitschke, von Gregorovius unterstützt, die Perspektive zurecht, indem er als neues Deutungsparadigma die Parallelität ins Spiel brachte, zumindest was den im Gang befindlichen Staatswerdungsprozess betraf. Das hinderte ihn indessen nicht, in seiner Cavour-­Biographie die jüngste italie­ nische Geschichte immer wieder schulmeisterlich darzustellen: Die Italiener mögen schneller gewesen sein, die richtige Lösung hatten Bismarck und die Hohenzollern gefunden.26 Treitschke formulierte damit nur offen, was die politischen Eliten intern äußerten, die 1866, so der Italienfachmann Victor Hehn im Rückblick, das Bündnis Preußens mit dem „missachteten, angefeindeten, im besten Falle ignorierten Italien“

23 Zit. Petersen, Italienbilder (wie Anm. 18), S. 76. 24 Dazu Bernd Roeck, Johann Jakob Bachofen, Jacob Burckhardt und Italien. In: Esch / Petersen (Hg.) Deutsches Ottocento (wie Anm. 19), S. 137 – 160. 25 So der Nationalverein in seiner Erklärung vom 13. 3. 1860. Abgedr. in: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 31986, S. 106. 26 Heinrich von Treitschke, Cavour [1869]. In: Ders., Historische und politische Aufsätze, Bd. 2, Leipzig 81921, S. 368 f.

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als „Ketzerei“ betrachteten.27 Demgegenüber fiel die Aufzählung der Gemeinsamkeiten bei Rochau wohltuend nüchtern aus. Beide Länder, schrieb er, obwohl es 1869 noch gar kein Deutschland gab, hätten „demnach allen Grund, sich in Verfolgung ihres Nationalzwecks gegenseitig zu fördern“.28 So offensichtlich die Parallelen waren, als Narrativ blieben sie auf die Wissenschaft beschränkt. Hinzu kam, dass schon ein Jahr nach den Beiträgen Treitschkes und Rochaus in der Öffentlichkeit die Stimmung vollkommen umschlug. Mit dem Ansehen Garibaldis war es nämlich augenblicklich vorbei, als er 1870 mit Freiwilligen auf der Seite Frankreichs in den Krieg eingriff. Überhaupt sorgten die Frankophilie der italienischen Öffentlichkeit und die Abhängigkeit des jungen Nationalstaats von Frankreich dafür, dass schon bald wieder die alten Vorbehalte in Deutschland die Oberhand erlangten. Sie verschwanden auch nicht, nachdem 1882 Italien dem Zweibund beigetreten war, weil die von einflussreichen Organisationen vertretenen italienischen Territorialansprüche gegenüber Österreich die deutsche Öffentlichkeit permanent herausforderten. Für dauerhafte Irritationen sorgte nicht zuletzt das italienische Regierungssystem. Mit der Herrschaft des Parlaments auf Kosten von Regierung und Monarchen kamen selbst die Liberalen mehr schlecht als recht zurande, während sich die Konservativen ein ums andere Mal konsterniert zeigten und die Katholiken sich unter dem Motto „je schlimmer desto besser“ sammelten.29 Daran änderte auch die Handvoll kundiger deutscher Darstellungen der italienischen politischen Kultur nichts.30 Vollends die Oberhand erlangten dann die überlieferten Negativbilder bei Beginn des ­Ersten Weltkriegs, als Italien zuerst neutral blieb und 1915 auf Seiten der Alliierten in den Krieg eintrat, dem im Vorwurf des „Verrats“ eine weitere, dauerhafte Nationaleigenschaft hinzugefügt wurde. Dass Italien dann doch wieder ganz vorne auf der deutschen Aufmerksamkeitsskala landete, lag am Faschismus, besonders an der Person Mussolinis. Seine Machtergreifung wurde sogleich als ein Signal für ganz Europa wahrgenommen, im krisengeschüttelten Deutschland wohl mehr als anderswo.31 Die zehn Jahre z­ wischen 1922 und 1932 bilden darum das Allzeithoch deutscher Zuwendung gegenüber Italien. Margherita Sarfatti, Geliebte und Biographin Mussolinis, schätzte 1929, dass „fast ein Drittel“ der rund 27 Victor Hehn, Italien. Ansichten und Streiflichter [21879], Ndr. Darmstadt 1992, S. 285. Die erste Auflage war 1867 erschienen. 28 Ludwig August von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, Teil 2 [1869], hg. v. Hans-­Ulrich Wehler, Frankfurt/M. 1972, S. 380. 29 Zit. Jens Petersen, Der Übergang von der Destra zur Sinistra im Urteil Deutschlands [1980]. In: Petersen, Italienbilder (wie Anm. 18), S. 169. 30 Paul David Fischer, Italien und die Italiener. Betrachtungen und Studien über die politischen, wirthschaftlichen und sozialen Zustände Italiens, Berlin 21901. Albert Zacher, Italien von heute. Im Jahre seines fünfzigsten Bestehens, Heidelberg 1911. 31 So schon Harry Graf Kessler in seinem Tagebucheintrag vom 29. 10. 1922. Zit. Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 93.

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fünftausend Faschismustitel deutscher Herkunft s­eien, „einige von hervorragender Qualität“.32 Das dürfte zwar übertrieben gewesen sein, aber allein die Zeitungsartikel gehen in die Tausende.33 Während linke Journalisten Mussolini eher für das Produkt seiner eigenen Rhetorik hielten und die Kommunisten eine Faschismustheorie mit fatalen Wirkungen entwickelten, weil sie das Neuartige ­dieses politischen Modells verfehlte und folglich der ‚falsche‘ Gegner bekämpft wurde, bemühte sich das übrige Spektrum politischer Richtungen um ein wirklichkeitsnahes Verständnis. Das bedeutete natürlich nicht, dass nicht auch hier gravierende Fehleinschätzungen stattfanden. Eigentlich hat nur Hitler den Faschismus wirklich verstanden – ebenfalls mit fatalen Wirkungen. Das breite Spektrum bürgerlicher Richtungen diskutierte den Faschismus als Alternative zum parlamentarischen Parteienstaat, dem politischen Katholizismus waren die Lateranverträge das wichtigste Argument für die Ablehnung des antikatholischen Radikalismus der NSDAP, während in der Rechten von Anfang an die von Arthur Moeller van den Bruck ausgegebene Parole Italia docet eine große Rolle spielte und schließlich die Debatte bestimmte.34 Sie wollte freilich dem Nationalsozialismus gerade nicht den Weg ebnen, sondern ihn verhindern helfen, indem versucht werden sollte, in Deutschland ein am italienischen Faschismus orientiertes Regime zu etablie­ ren. Nur Hitler betrachtete Mussolini von Anfang an als Lehrmeister in der zentralen strategischen Frage, wie die Macht zu erlangen sei, brauchte aber Jahre, bis er sich damit innerhalb der Führung der NSDAP durchsetzen konnte. Noch länger dauerte es freilich, bis auch Mussolini sich überzeugen ließ, dass die Zusammenarbeit mit ihm der Bindung mit der letztlich kraftlosen autoritären Rechten in Deutschland vorzuziehen sei. Die Krise der parlamentarischen Demokratie ab 1929 ließ die Zahl der deutschen Anhänger des italienischen Faschismus bzw. was sie dafür hielten – viel mehr als eine italienische Kopie des ‚starken Staats‘ nach deutschem, 1918 freilich untergegangenen Muster war das eher selten (was nur ein weiteres Mal belegt, wie sehr ‚Bilder‘ Ergebnisse von Projektionen eigener Wunschvorstellungen sind) – rapide ansteigen. Es spricht darum einiges für Schieders These, dass Hitler bei seiner Machtergreifung vom faschismusfreundlichen Klima profitiert hat.35 Das in der Formel Italia docet enthaltene Italienbild hat damit die deutsche Wirklichkeit verändert, freilich anders als von ihren Urhebern gewünscht.

32 Zit. Jens Petersen, Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik [1976]. In: Petersen, Italienbilder (wie Anm. 18), S. 213. 33 Wolfgang Schieder, Das italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik [1996]. In: Ders., Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 151. 34 Arthur Moeller van den Bruck, „Italia docet“. In: Das Gewissen, 6. 11. 1922; Wiederabdr. in: Hans Schwarz (Hg.), Das Recht der jungen Völker. Sammlung politischer Aufsätze, Berlin 1932, S.  123 f. 35 Schieder, Experiment (wie Anm. 33), S. 182 ff.

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Mit der Machtergreifung war diese Formel keineswegs obsolet geworden. Die Nationalsozialisten haben, dies anfangs allerdings verschweigend, eine ganze Reihe zentraler Institutionen des „Dritten Reichs“ nach faschistischem Vorbild aufgebaut; genannt s­eien nur die Deutsche Arbeitsfront und ihre Unterorganisation Kraft durch Freude, letztere „fast bis ins Detail“.36 Daraus zu schließen, dass die beiden Regime grundsätzlich um Gemeinsamkeit und gemeinsames Auftreten gegenüber Dritten bemüht waren, wäre eine Verkennung des faschistischen Politikstils. Andere Italienbilder überlagerten ohnedies die ungewohnte, für die Glaubwürdigkeit des Regimes nicht ungefährliche italienische Vorbildrolle, die darum seit den späten 1930er Jahren aus dem Sprachgebrauch verschwunden war: regimeoffiziell das im Risorgimento bereits einmal von kleindeutschen Liberalen entwickelte Bild von der deutsch-­italienischen Parallelität, im Alltag dagegen die populäre Rede von Unterlegenheit und mehr noch von Verrat;37 Goebbels sorgte sich über das in der Bevölkerung zunehmend vorherrschende Gefühl der Verachtung, das gleichermaßen völkerpsychologischen Vorurteilen wie der Asymmetrie der Machtverhältnisse entsprang. Es begegnet allerdings auch in unzähligen Akten bis hinauf zu den höchsten Stellen.38 Nach 1943 überlagerte das Bild vom Verräter alle anderen und selbst Hitler, der noch 1945 von seiner „persönlichen Verbundenheit mit dem Duce“ sprach,39 räumte am Ende ein, dass das Bündnis mit Italien ein politischer Fehler gewesen sei. Dem Zusammenbruch folgte bekanntlich keine sogenannte Stunde Null. Das gilt erst recht für Dinge wie Italienbilder, die als Projektionen noch nicht einmal direkter Kontakte mit dem Land bedürfen. Aber selbst die Kontakte rissen 1945 nicht vollständig ab, sondern büßten lediglich für kurze Zeit ihre im engeren Sinne politischen Bestandteile ein.40 Der Wegfall der „überpolitisierten“ Italienbeziehungen bewirkte, dass das Pendel – nicht überraschend – umschlug und das unpolitische Italienbild ganz in den Vordergrund trat.41 Fast fünfzig Italien gewidmete Hefte des jahrzehntelang konkurrenzlosen Kulturmagazins Merian, an Zahl übertroffen nur von deutschen ­Themen, belegen das ebenso wie die mehrere zehntausend Exemplare des dreibändigen

36 Daniela Liebscher, Faschismus als Modell. Die faschistische Opera Nazionale Dopolavoro und die NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ in der Zwischenkriegszeit. In: Sven Reichardt / Armin Nolzen (Hg.), Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Vergleich und Transfer, Göttingen 2005, S. 94. 37 Stellvertretend einige Belege anlässlich Mussolinis Deutschlandbesuch im September 1937 in: Deutschland-­Berichte der Sopade, 4. Jg., 1937, Frankfurt 31980, S.  1221 – 1223. 38 Belege bei Malte König, Kooperation als Machtkampf. Das faschistische Achsenbündnis Berlin-­ Rom im Krieg 1940/41, Köln 2007, Kap. 7. 39 Zit. Schieder, Experiment (wie Anm. 33), S. 149. 40 Näheres dazu oben in: Unversehens in Feindesland. Deutsche und Italiener in der Nachkriegszeit. In ­diesem Band. 41 Jens Petersen, Das deutschsprachige Italienbild nach 1945 [1996]. In: Ders., Italienbilder (wie Anm. 18), S. 291 ff.

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Kunstführers von Eckart Peterich, der bis 1945 hauptsächlich und ab 1959 überwiegend in Italien lebte, wo er 1968 starb. Noch höhere Auflagen verzeichnete der ebenfalls für den Prestel-­Verlag schreibende Reinhard Raffalt, der seit 1951 in Rom lebte und „zu dem vielleicht einflußreichsten Rom-­Interpreten der deutschsprachigen Kultur nach 1945“ wurde.42 Alle diese Werke verdanken ihre große Wirkung der Tatsache, dass sie an alte – positive – Vorurteile und Ausblendungen anknüpften und die jüngste Vergangenheit ebenso ausblendeten wie die Gegenwart.43 Die Entpolitisierung wich jedoch schon 1950/51 intensiven Bemühungen von deutscher Seite, mit der italienischen Politik wieder ins Gespräch zu kommen. Im ­­Zeichen christlich-­demokratischer Regierungen erwies sich das als vergleichsweise einfach, der Erfolg ließ darum nicht lange auf sich warten.44 Ein diese besondere Nähe im zusammenwachsenden Europa unterstreichendes Geschichtsbild – die Parallelität der beiden Länder in Vergangenheit und Gegenwart – erfuhr allem Anschein nach dagegen erst größere Verbreitung, als die beiden Gründerväter abgetreten waren, fast als ob deren Erbe nun auch geschichtspolitisch festgeklopft werden müsste.45 An den deutsch-­italienischen Historikertagungen, deren erste auf deutsche Initiative schon 1953 zusammentrat, ist dies ziemlich genau abzulesen. Es begann mit umfangreichen Schulbuchempfehlungen zur tausendjährigen Geschichte der deutsch-­italienischen Beziehungen, die die Irrtümer der romantischen Mittelalterverehrung und der nationalistischen Geschichtsschreibung überwinden wollten. Sie betonten Gemeinsamkeiten und Unterschiede, machten aber keine Aussage über eine Generaltendenz oder ‚Summe‘ dieser beiden Geschichten.46 Anders zehn Jahre s­ päter. Auf der 8. Tagung 1968 bezeichnete es Ferdinand Siebert im Blick auf das 19. Jahrhundert als „unsere sowohl wissenschaftliche als auch pädagogische Aufgabe, daß wir nun deutlicher als bisher das Verbindende herausstellen“.47 Drei Jahre danach stellte Theodor Schieder in Anspielung auf Siebert fest, die Nachkriegszeit sei 42 Ebd., S. 293. 43 Im Übrigen sorgte das 1950 ausgerufene Heilige Jahr erstmals nach dem Krieg für erheblichen Italien-­Tourismus. Die ersten deutschen Reiseführer nach dem Krieg erschienen demgemäß ebenfalls schon 1950. 44 Vgl. die entsprechende Aussage Konrad Adenauers in seinen Erinnerungen, Bd. 3: 1955 – 1959, Stuttgart 1967, S. 259. Mehr dazu unten in: Gleichgewicht statt Asymmetrie? Die deutsch-­ italienischen Beziehungen vom Zweiten Weltkrieg bis heute. In ­diesem Band. 45 Vgl. den Ergebnisband einer 1979 stattgefundenen Tagung: Umberto Corsini / Konrad Repgen (Hg.), Konrad Adenauer e Alcide De Gasperi. Due esperienze di rifondazione della democrazia, Bologna 1984. 46 Tausend Jahre deutsch-­italienischer Beziehungen. Die Ergebnisse der deutsch-­italienischen Histo­ rikertagungen in Braunschweig (1953), Goslar (1956), Siena (1957), Bamberg (1958) und Erice (1959), Braunschweig 1960, S. 7 – 134. 47 Ferdinand Siebert, Die Verbundenheit des deutschen und italienischen Schicksals in der Einigungszeit. In: Die deutsch-­italienischen Beziehungen im Zeitalter des Risorgimento. Referate der 8. deutsch-­italienischen Historikertagung, Braunschweig, 24.–28. Mai 1968, Braunschweig 1970, S. 83. Hervorhebungen im Original.

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nun auch schon wieder vorbei und so erlaube der zeitliche Abstand die Feststellung, dass dieser Abschnitt „ein weiteres Beispiel für die Ähnlichkeit oder Gleichheit im Verlauf der nationalen Geschichte beider Nationen“ darstelle.48 Inzwischen ist ­dieses besonders in der Geschichtswissenschaft anzutreffende Italien­ bild weit verbreitet, wobei die das moderne Denken stark beeinflussende Modernisierungstheorie mit ihrer Betonung (angeblich) universaler Basisprozesse einerseits, spektakulärer ‚Sonderwege‘ andererseits eine wichtige Rolle spielen dürfte. Interessant ist der Blick auf den italienischen Partner. In der Anfangszeit erhob sich Widerspruch, Sieberts These überzeugte seine Gesprächspartner nicht.49 Sei es, dass man sich der geschichtspolitischen Instrumentalisierung oder der ‚germanischen‘ Vereinnahmung verweigerte – alles Deutsche steht in Italien seit langem unter Verdacht 50 –, populär schien die Vorstellung von deutsch-­italienischer Parallelität südlich der Alpen nicht eben zu sein. Seit jedoch der ältere Begriff der Parallele vom modisch-­kulturwissenschaftlichen der ‚Verflechtung‘ ersetzt werden kann, finden sich auch italienische Beispiele für ­dieses Geschichtsbild. Allerdings ist der Begriffsgebrauch je nach politischem Spektrum unterschiedlich offen. Während der liberalkonservativen Richtung zuzurechnende Autoren auch im Italienischen offen von „Parallele“ sprechen,51 reservieren Linke diesen Begriff für die deutschen Ausgaben ihrer Bücher. So stammt zwar die jüngste Bilanz der Verflechtungsgeschichte von Gian Enrico Rusconi und Hans Woller und ist ein starkes Plädoyer, die Geschichte namentlich der letzten fünfzig Jahre unter d ­ iesem Vorzeichen zu sehen, doch wollten die Herausgeber die italienischen Leser offenbar nicht mit dem brisanten Leitnarrativ konfrontieren. Folglich heißt der Sammelband im Deutschen Parallele Geschichte?, fügt salvierend aber noch gleich ein Fragezeichen hinzu, während das italienische Original zwar das Bild vom Handschlag z­ wischen Adenauer und De Gasperi im Jahre 1953 auf dem Buchumschlag zeigt, aber ganz unverfänglich die gemeinsame Arbeit an Europa als Thema nennt, von der in ­diesem dem Vergleich gewidmeten Buch kaum die Rede ist.52 Es wäre reizvoll, das Interpretament „Parallelgeschichte“ nun auf den Prüfstand zu stellen, doch ist dies nicht der Ort. Darum sei hier nur festgestellt, dass Woller selbst in seinem Sammelband nicht 48 Theodor Schieder, Vorwort. In: Von der Diktatur zur Demokratie. Deutschland und Italien in der Epoche nach 1943. Referate der 9. deutsch-­italienischen Historikertagung, Salerno, 15. – 17. Juni 1971, Braunschweig 1973, S. 5. 49 Giuseppe Galasso wandte sich vehement „gegen den Parallelismus“, für den Hans Herzfeld soeben geworben hatte. Diskussion in: Deutsch-­italienische Beziehungen (wie Anm. 47), S. 121. 50 Dazu ausführlich Enzo Collotti, I tedeschi. In: Mario Isnenghi (Hg.), I luoghi della memoria, Bd. 2: Personaggi e date dell’Italia unita, Rom, Bari 1997, S. 65 – 86. 51 Renato Cristin (Hg.), Vie parallele, parallele Wege. Italia e Germania 1944 – 2004, Italien und Deutschland 1944 – 2004, Frankfurt/M. 2005. 52 Gian Enrico Rusconi / Hans Woller (Hg.), Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945 – 2000, Berlin 2006. Dies. (Hg.), Italia e Germania 1945 – 2000. La costruzione dell’Europa, Bologna 2005.

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weniger als vier gravierende Unterschiede der beiden Nationalgeschichten aufzählt und damit d ­ ieses Narrativ für gegenstandslos erklärt.53 Das zeigt einmal mehr, dass ­solche Narrative Konstruktionen sind, die den Zeitumständen und damit zusammenhängenden geschichtspolitischen Absichten geschuldet sind. Insofern mag der Hinweis genügen, dass die neuere Geschichtsschreibung im Blick auf Italien das Narrativ der „parallelen Geschichten“ in Frage stellt.54 Ein zweites Narrativ, das noch weitaus eindeutiger politischen Absichten entspringt, kommt seit 1970 immer wieder auf die Tagesordnung, nur um stets wieder in der Versenkung zu verschwinden. Offenbar ist es ebenso verlockend wie ungeeignet. Als in Italien nach dem „heißen Herbst“ 1969 für viele die Revolution vor der Tür zu stehen schien, tauchte in Deutschland zum dritten Mal in hundert Jahren die Losung Italia docet auf. Teile der Neuen Linken landeten bei der Suche nach Orientierung in Italien, wo eine mächtige Arbeiterklasse im Verein mit Studenten und Intellektuellen das Kapital fürchten gelehrt hatte – scheinbar der Idealfall von Gramscis Vorstellung vom Hegemon. Im Kursbuch fragte 1971 Peter Schneider: „Können wir aus den italienischen Klassenkämpfen lernen?“ Die Antwort lautete natürlich ‚ja‘, denn Italien zählte nun mit einem Mal zu den „politisch fortgeschritteneren Ländern“, von deren „neuen Lebens- und Kampfformen“ „die Deutschen“ zu „lernen“ hätten.55 Eine von Verlagen wie Wagenbach, Rotbuch, ­Trikont und Merve gespeiste Subkultur warf in engem Kontakt mit italienischen, meist von Lotta continua, Potere operaio, Il Manifesto kommenden Gewährsleuten mehrere Jahre lang unablässig Broschüren und Bücher auf den Markt, die das Publikum mit einem ganz neuen Blick auf die italienische Geschichte bekannt machten, einer vor allem von Ausbeutung, Widerstand und Revolution gekennzeichneten Geschichte, die unmittelbar vor dem Ziel zu stehen schien. Etliche Sozialwissenschaftler erlebten damals ihre Feuertaufe – einige von ihnen verlegten gar ihren Wohnsitz nach Italien – und so erklärt sich, dass bis vor wenigen Jahren die italienische Nachkriegsentwicklung vorwiegend von Soziologen und Politologen, nicht von Historikern bearbeitet wurde, mit dem entsprechenden Akzent auf gesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften vor allem. Das hat dem Motto Italia docet nur genützt. 1977 erschien der paradigmatische Titel Leitfaden Italien, die erste umfassende Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Republik in deutscher Sprache, die zugleich erklären musste, weshalb die seit knapp zehn Jahren angekündigte Revolution nicht ausgebrochen war und nunmehr die Strategie des Eurokommunismus ein erfolgversprechender Ausweg sei.56 Allerdings kam das Buch, wie die Autorin eingesteht, zu

53 Hans Woller, Italien und Deutschland nach 1945. Vom schwierigen Geschäft des Vergleichs. In: Rusconi / Woller (Hg.), Parallele Geschichte? (wie Anm. 52), S. 27 – 33. 54 Mehr dazu unten in: Ferne Nachbarn. Deutschland und Italien 1860 – 1960. In ­diesem Band. 55 Peter Schneider, Können wir aus den italienischen Klassenkämpfen lernen? In: Kursbuch Nr. 26 (1971), S. 3. 56 Sophie G. Alf, Leitfaden Italien. Vom antifaschistischen Kampf zum Historischen Kompromiß, Berlin 1977. Eine weitere Selbstidentifikation mit der KPI schrieb damals Detlev Albers,

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spät, und so erschienen fast gleichzeitig die ersten Titel über die Krise des historischen Kompromisses, die sich durch die Entführung und Ermordung Aldo Moros 1978 zur ‚bleiernen Zeit‘ auswuchs. Trotzdem findet der Gedanke, dass Italien Modell sei, immer wieder Freunde, die naturgemäß auch Liebhaber des Landes sind und sich von der in ironische Worte gekleideten Absage an alle Vorstellungen vom ‚Vorbild Italien‘, wie sie Hans Magnus Enzensberger 1983 formulierte,57 von dieser Haltung nicht abbringen lassen. Im Gegenteil: Das entscheidende Argument für das „Modell Italien“ sei gerade, dass Italien zwar unablässig wankt, aber nicht untergeht. Denn seit dem cultural turn zählen für viele eben andere Messgrößen als Bruttosozialprodukt, Arbeitslosenquoten und Korruptionsindex. Regelmäßig rangiert Italien im Human Development Index deutlich vor Deutschland.58 Das ist nicht das Verdienst Berlusconis, aber selbst die Art und Weise, wie die Italiener ihn ertragen, kann ein Anlass sein, den Deutschen Italia docet zuzurufen, weil davon auszugehen sei, dass sich bei uns über kurz oder lang ähnliche Verhältnisse einstellen.59 Das läuft darauf hinaus, Italien zum universal gültigen kulturellen Modell zu erklären, womit die Italienbilder eine Kreisbewegung vollzogen haben und wieder bei Winckelmann und Goethe angekommen sind. Italien als die eigentliche Weltmacht, Schöpferin der globalen Leitkultur. Wer’s nicht glauben will, dem wird, typisch deutsch, im Befehlston zugerufen: „Spaghettisiert Euch“.60 Die Deutungsmuster – systematisch Die neuzeitlichen deutschen politischen Italienbilder lassen sich – das zeichnete sich im vorigen Abschnitt unschwer ab – in drei Gruppen zusammenfassen. Für ihre Wirkung ist bedeutsam, dass sie unterschiedlich weit in die Vergangenheit zurückreichen. Das älteste und zugleich dauerhafteste dieser Bilder ist das der italienischen Unterbzw. der deutschen Überlegenheit. Es ist sehr alt, in den herangezogenen Texten jedoch

Demokratie und Sozialismus in Italien, der ‚historische Kompromiß‘ und die Strategie der Parteien und Gewerkschaften, Frankfurt/M. 1978. 57 Hans M. Enzensberger, Italienische Ausschweifungen [1983]. In: Ders., Ach Europa!, Frankfurt 21989. Hier fällt das berühmt gewordene Diktum von Italien als „Laboratorium der Postmoderne“ (S. 114): Italien sei nie modern gewesen und habe deshalb den direkten Übergang von der Vor- in die Postmoderne vollzogen, und zwar mit so schweren politischen und zivilgesellschaftlichen Defiziten, dass von Modell keine Rede sein könne. 58 2009 auf Platz 18 gegenüber Platz 22 für Deutschland. 2015 hat sich die Reihenfolge allerdings verkehrt: Deutschland steht auf Platz 6, Italien rutschte auf Rang 27 ab (http://hdr.undp.org/ sites/default/files/2015_human_development_report.pdf [27. 6. 2016]). 59 Anselm Jappe, Italia docet oder Tua res agitur. In: Ders. (Hg.), Schade um Italien! Zweihundert Jahre Selbstkritik, Frankfurt/M. 1997, S. 5 – 33. 60 Dirk Schümer, „Spaghettisiert euch.“ Alle Welt beklagt den amerikanischen Einfluß, doch die globale Leitkultur kommt aus Italien. In: FAZ Nr. 226, 28. 9. 2002, S. 29.

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ein offensichtlicher Ausfluss des aufgeklärten Geschichtsbildes, das mit normativen Vorstellungen arbeitet, nach deren Maßgabe die Gesellschaften durchmustert und einen Katalog von Reformvorhaben zur Hand hat, um die Rückständigen auf die rechte Bahn zu bringen. Im Kern handelt es sich, auch das wurde bereits erwähnt, um ein protestantisches Narrativ – Ranke sollte es 1824 quellenmäßig zu belegen und damit vom Vorwurf des Vorurteils zu befreien versuchen 61 –, das von den französischen Enzyklopädisten universalisiert wurde. Deshalb ist das Bild italienischer Dekadenz kein deutsches, sondern es findet sich in allen aufgeklärten Diskursen, und es beschränkt sich auch nicht auf Italien; Spanien und Portugal galten als viel rückständiger, dekadenter. Alle drei Nationen hatten im 18. Jahrhundert ihre goldenen Zeiten eben hinter sich. Die italienische Aufklärung beteiligte sich selbstverständlich an d ­ iesem Diskurs und möglicherweise wurde die Kritik an italienischen Zuständen nirgends schärfer, jedenfalls nirgends kenntnisreicher formuliert als durch sie, wenngleich aus Gründen der Zensur nur in Grenzen öffentlich. Spezifisch deutsch ist aber der mehr oder minder unmittelbare politische Zusammenhang, denn bis 1918 regierte eine deutsche Dynastie – die Italiener pflegen z­ wischen Österreichern und Deutschen kaum einen Unterschied zu machen 62 – über italienisches Gebiet und nach 1933 und namentlich z­ wischen 1943 und 1945 war Deutschland w ­ ieder in besonderem Maße auf der Apenninenhalbinsel präsent. Das brachte nicht nur histo­ rische Belastungen mit sich, die in den negativen Italienbildern anderer Nationen fehlen, sondern erklärt auch das Übergewicht des Negativen. Der basso continuo deutscher Geringschätzung, ja Verachtung ist also auch ein Ergebnis anhaltender Nähe, weil in diesen Verdikten kollektive politische und moralische Erwartungshaltungen eine erhebliche Rolle spielen und deren ‚Enttäuschungen‘ umgekehrt als Verstärker auf die Deutschen zurückwirken. Negative Italienbilder sind in Deutschland folglich jederzeit abrufbar, sie sind latent immer da, während die Angelsachsen sich ihrer Liebe zu Italien ziemlich ungestört hinzugeben pflegen. Unterstützt fühlen können sich die Autoren negativer Italienbilder, auch das wurde bereits festgestellt, durch die italienische Selbstkritik. Dass die weltmeisterliche Selbstgeißelung, selbst wenn sie gegenüber dem Ausland formuliert wird, innenpolitische Zwecke hat, übersehen die ausländischen Kritiker gerne.63 Kognitive Dissonanzen begleiten darum das negative Italienbild seit jeher, aber auf deutscher Seite merkt das kaum jemand.

61 Leopold v. Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Leipzig, Berlin 1824. Thema ist der Zerfall der Einheit der „romanischen und germanischen Nationen“ und der „Untergang der italienischen Freiheit“ (Vorwort) als eine Folge moralischer Korruption. 62 Collotti, I tedeschi (wie Anm. 50). 63 Eines der jüngsten Beispiele stammt von Andrea Camilleri, Was ist ein Italiener? Berlin 2010. Die beigegebenen Kommentare Peter Kammerers suchen zu verhindern, dass der deutsche Leser an den falschen Stellen lacht.

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Mehr als ein Menschenalter ­später taucht ein weiteres Italienbild auf. Die Parallelgeschichte ist ein Interpretament, das in Deutschland im Zuge der Nationalstaatsbildung auftaucht und offensichtlich politischen Absichten entspringt. Immer wird es um deutsch-­italienische Zusammenarbeit gehen. Zwar ist seit der Romantik der Gedanke von Analogien, ja Verwandtschaft ­zwischen Völkern geläufig – man denke nur an ­Overbecks berühmtes Gemälde Italia und Germania von 1828 in der Münchener Pinakothek 64 –, doch behielt er lange Zeit seinen allegorischen Charakter. Man kann den Umbruch zu politischer Instrumentalisierung an den beiden Kommentaren zu d ­ iesem Bild durch Victor Hehn gut ablesen. 1866, noch vor dem preußisch-­piemontesischen Vertrag, schrieb er, das Bild „ist in frommem romantischen Sinne gedacht, und kann darum nicht vorbedeutend sein und das Herz des Beschauers nicht ergreifen. Denn nicht zu träumerischer Versenkung in die Vergangenheit soll der Bund geschlossen sein, sondern zu gegenseitiger Ermunterung auf dem schwierigen Wege zur Wiedergeburt, zu gemeinsamem Widerstande gegen die noch immer mächtige, auf Wiederherstellung und Auflehnung sinnende Reaction“. Dreizehn Jahre s­ päter aktualisierte Hehn seine Bildinterpretation: Indem Bismarck versichert habe, dass Deutschland Italien gegen Frankreich verteidigen werde, habe er zugleich dem Bild „eine Unterschrift“ nachgeliefert, „Worte wie in Erz gegraben“. Nun „sind die Schicksale beider Nationen fest aneinander geknüpft – und zwar in doppelter Hinsicht. […] Der ähnlichen innern Lage beider Völker entspricht die äussere im europäischen Staatensystem“.65 Die politische Instrumentalisierung verstärkt sich im Zeichen ­­ der Achse deutlich, das Stichwort Parallelität wird mehr oder minder regimeoffiziell und damit zu einem wichtigen Argument der Propaganda beider Länder. Das bedeutet zugleich, dass es nun – erstmals, soweit ersichtlich – von Italienern übernommen wird.66 Die Rede von der Waffenbrüderschaft darf natürlich nicht fehlen. Achtbare Historiker, so scheint es, beschränken sich auf das Mindestmaß und schreiben die Geschichte keineswegs um. In der seriösesten Darstellung des neu-­alten Verbündeten behauptet zwar im Vorwort Michael Seidlmayer, „die Gemeinsamkeit der Aufgaben für die beiden Völker“ sei sogar „von der Natur vorgezeichnet“, aber im Buch ist davon nichts zu lesen. Th ­ eodor ­Schieder bemerkt nur beiläufig, dass sich 1936 in der Außenpolitik beider Staaten „erneut der ­gleiche Wille und der ­gleiche Standort der beiden dynamischsten Nationen des Kontinents“ erweise.67

64 Dasselbe Motiv findet sich im Gemälde Zwei Mädchen am Brunnen von Ernst Bendemann aus dem Jahre 1833. Es hängt im Kunstmuseum Düsseldorf. Italienische Maler scheint das Motiv nicht interessiert zu haben. 65 Hehn, Italien (wie Anm. 27), S. 302 (September 1866, gedruckt 1867), 323 f. (1879). 66 Als Beispiel Virgilio Gayda, Was will Italien? Leipzig 21941, S. 201 f. Gayda war bis zum Sturz Mussolinis im Juli 1943 so etwas wie dessen offiziöser Sprecher. 67 Theodor Schieder, Faschismus und Imperium. In: Michael Seidlmayer, Geschichte des italienischen Volkes und Staates, Leipzig 1940, S. 502 bzw. 10 (Vorwort).

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Nach 1945 bildet die Abendland-­Ideologie die Möglichkeit einer Fortsetzung des Gedankens der Parallelgeschichte. Doch es gibt auch eine entpolitisierte Variante, die im ­­Zeichen der sich ausbreitenden historischen Komparatistik 68 an wissenschaftlicher Plausibilität gewinnt und von jener zunehmend überlagert wird. Nun haben Ähnlichkeiten nicht mehr metahistorische Ursachen, sondern sind, idealiter jedenfalls, Ergebnis sorgfältiger, methodisch reflektierter Vergleiche. Beides, Politisierung und Verwissenschaftlichung, erklären, weshalb das populäre Italienbild vom Gedanken paralleler Geschichten so gut wie keine Notiz nimmt. Erst recht gilt das für die dritte Variante, denn sie widerspricht in noch viel größerem Maße der verbreiteten Vorstellung eines Gefälles z­ wischen Deutschland und Italien. Italia docet ist eine Formel, die die Parallelität durch einen Umschwung in Deutschland erst herstellen möchte. Es geht also um Revolution, sei diese national, faschistisch oder sozialistisch. Da letztere auch in Italien Wunschtraum blieb, verlor diese Variante besonders rasch an Überzeugungskraft. Wenn seither dennoch immer wieder vom „Modell Italien“ gesprochen bzw. geschrieben wird, so hat das mit der imperativen Vorbildrolle nichts zu tun, sondern ist der Tatsache geschuldet, dass nach 1965 die Soziologie zwei Jahrzehnte lang die Leitwissenschaft der Historie war und sich das historische Fachvokabular mit deren Paradigmen und Begriffen angereichert hat. „Modell“ ist einfach ein bestimmter Typus, an dem die Eigenheiten anderer Typen verglichen und näher bestimmt werden.69 Im Falle Italiens steht dahinter die Sorge, ob dessen Entwicklung nicht vielleicht „Schule machen könnte“ – im Guten wie im Schlechten. Schon lange macht sich nämlich im Blick auf Italien vor allem Ratlosigkeit breit, nicht nur in Deutschland, weil von ­diesem Land ganz gegensätzliche Signale ausgehen. Wirtschaftlicher, politischer und moralischer Verfall einerseits, unerwartete Selbstheilungskräfte wie etwa mani pulite andererseits. Jens Petersen enthielt sich darum 1995 in seinem vielbeachteten Buch einer Deutung.70 Er schrieb freilich noch mitten in der Transformationsphase 1992 – 1996. Sie selbst bzw. ihre Ergebnisse wären allerdings die Nagelprobe für wirklichkeitsgerechte Erklärungsangebote des „Modells Italien“. Die deutsche Politikwissenschaft bietet wenig Hilfe, analytisch befriedigende Untersuchungen zum Thema Berlusconi, die argumentative Herausforderung schlechthin, liefert sie kaum. Michael Kreile schließt sich in seinem Forschungsüberblick deshalb Paul Ginsborg an, der Berlusconi attestiert, die enorme gesellschaftliche Dynamik, auf

68 Vgl. Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1999, Schaubild I. 69 Als Beispiel Friederike Hausmann, Kleine Geschichte Italiens seit 1943. Völlig überarb. Neuausg. Berlin 1994, S. 8 (Vorwort von 1989). Das folgende Zitat ebd., S. 9 (Vorwort von 1994). Unter Bezugnahme auf Hausmann, aber sehr dezidiert im Sinne von unnachahmlichem Typus – „Sonderfall“ – spricht Woller vom „Modell Italien“; Woller, Geschichte (wie Anm. 31), S. 12 – 15. 70 Jens Petersen, Quo vadis, Italia? Ein Staat in der Krise, München 1995.

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die bis dahin ein weithin erstarrtes politisches System ganz unzureichende Antworten lieferte und daher von einer Krise in die andere taumelte, endlich anerkannt zu haben.71 Ein Werturteil ist damit nicht verbunden. Berlusconi bestätigt nun allerdings so ziemlich alle Vorbehalte und Vorurteile, die man im Aus- und Inland gegen italienische Politiker haben kann, und so platziert das deutsche politische Italienbild das Land derzeit dort, wo es die allermeiste Zeit ohnedies anzutreffen war: in der Schmuddelecke. Fazit Die Ergebnisse lassen sich in fünf Punkten thesenartig zusammenfassen. Erstens: Die politischen Italienbilder zerfallen in die Alternative ‚Das Andere‘ (deutsche Über- bzw. italienische Unterlegenheit) und ‚Das Verwandte‘ (Parallelen, Italien ist Vorbild). Zweitens: Diese Polarität ist neu und darum erklärungsbedürftig, denn sie ist etwas anderes als die alte Polarität vom Paradies und seinen Bewohnern, den Teufeln. Drittens: Das negative Italienbild schließt nahtlos an das negative Bild der Italiener an, das seit Jahrhunderten die kollektive deutsche Vorstellung über die Bewohner der Apenninenhalbinsel beherrscht, wie sie uns in Schimpf- und Sprichwörtern, Völkertafeln und ungezählten Texten begegnet und bis heute vertraut ist. ‚Italien‘ bzw. ‚Italiener‘ sind hier die asymmetrischen Gegenbegriffe (Koselleck), mit deren Hilfe sich die Deutschen selbst deuten. Die neue Begründung des alten Verdikts – Dekadenz – durch die Aufklärer kann man deshalb wohl als Rationalisierungsstrategie der hergebrachten Verachtung bezeichnen. Gerade die von ihnen eingeräumten Ausnahmen, die es so bisher nicht gab, lassen das erkennen: Wo statt Dekadenz der Geist aufgeklärter Reform beobachtet wird, also in der Toskana und der Lombardei, regieren Deutsche. Damit entsteht ein ‚Amalgam‘, das in den folgenden zweihundert Jahren immer neue diskriminierende Bestandteile aufnimmt und so den vormodernen Vorstellungen vom Volkscharakter, in der Romantik bereitwillig aufgegriffen und weitergegeben, zeitgemäßere national oder rassistisch grundierten Charakterisierungen hinzufügt. Elemente von langer Dauer mischen sich mit „rasch wechselnde[n] Zuschreibungen und Bedeutungsverlagerungen, die vom historischen Wandel provoziert wurden.“72 Diese Anpassungsfähigkeit des Topos ‚Italien‘ erklärt seine anhaltende Präsenz; er ist jederzeit abrufbar.

71 Michael Kreile, Die Republik Italien 1946 – 1996. In: GG 26 (2000), S. 255 – 284. 72 Dazu ausführlich Paul Münch, ‚Italiener‘ – Volkscharakter und Rassetyp. In: Sebastian Werr / Daniel Brandenburg (Hg.), Das Bild der italienischen Oper in Deutschland, Münster 2004, S. 23.

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Traditionen des Italienbildes in Deutschland

Viertens: Die alternativen Topoi – Parallelität und Vorbild Italien – sind absichtsvolle Konstruktionen, die zu politischen Zielen in Deutschland eingesetzt werden. Das erklärt auch ihre Kurzlebigkeit und deutsche Schlagseite, denn Italiener verorten das Vorbild Deutschland, das eine durchaus erhebliche Rolle spielt, anderswo. Mit dem Wahrheitsbeweis hätten die Vertreter dieser Topoi übrigens dieselben Schwierigkeiten wie ihr Gegenstück, von der fatalen Ausnahme des Nationalsozialismus abgesehen. Fünftens: Wissenschaftlich tragfähig bleibt daher nur der Vergleich. Er muss dazu allerdings die Transfergeschichte berücksichtigen. Dann werden Parallelen, Vorbilder und Akteure sichtbar, die in d ­ iesem Beitrag nicht zum Vorschein kommen (konnten).

Uguali e diversi Zwei Fallstudien zur Moderne in Deutschland und Italien * Einleitung Der in Florenz lehrende Kulturanthropologe Pietro Clemente brachte vor eineinhalb Jahrzehnten das Ergebnis seines skizzenhaften Überblicks über das Italien der Gegenwart auf jene Formel, die für den Titel ­dieses Beitrags übernommen wurde.1 Wenn schon eine Nationalkultur (wie wir uns angewöhnt haben zu sprechen) bei aller Einheitlichkeit von tiefreichenden Verwerfungen und unterschiedlichen Strukturen durchzogen ist, dann gilt das erst recht für kulturelle Erscheinungen zweier Länder. Das ist weniger banal, als es auf den ersten Blick scheinen mag, denn die gängigste Vorstellung von Moderne sieht in ihr die große Gleichmacherin aller geschichtlich bedingten Unterschiede. Erst recht gilt dies für die Modernisierungstheorie, deren dichotomisch angelegtes Weltbild in seiner klassischen Ausprägung gar darauf angelegt war, in der Einheitlichkeit der Verhältnisse so etwas wie das Ziel der Geschichte zu sehen.2 Moderne Kulturen nähern sich, so die verbreitete Anschauung, immer weiter an, und niemals sprach der von den Medien verbreitete Augenschein stärker dafür als in unserer Gegenwart. Globalisierung ist natürlich das Stichwort, das heutzutage diese Vorstellung zu stützen scheint. Dass die Moderne als das ganz Andere gilt, als eine Gegenwart, die mit ihren geschichtlichen Eierschalen auch alle der Vergangenheit geschuldete Vielfalt abgestreift hat, geht auf die Schöpfer d ­ ieses Begriffs zurück. Lange Zeit existierte nur das Adjektiv ‚modern‘, das einfach das jeweilig Gegenwärtige gegenüber einer relativ beliebig definierten Vergangenheit zum Ausdruck brachte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts riefen dann aber Literaten und Künstler die Epoche der Moderne aus. Der von ihnen geschaffene Neologismus ‚Moderne‘ sollte das Gegenwärtige verabsolutieren. Sie war in ihren Augen vollkommen neu und hatte mit dem Alten radikal gebrochen. Die Wortführer begründeten ihre präzedenzlose Ästhetik bzw. Poetik gerne mit dem Hinweis auf die von Technik und Naturwissenschaften tatsächlich verursachte Revolution aller * Der Vortragscharakter wurde beibehalten. Ich danke Lutz Raphael für seinen kritischen Kommentar zu einer früheren Version. 1 Pietro Clemente, Uguali e diversi. Appunti antropologici. In: Paul Ginsborg (Hg.), Stato dell’Italia, Mailand 1994, S. 46 – 51. Noch deutlicher formulierte er seine These in der Überschrift seines Aufsatzes: Diversità dietro l’uguaglianza. Tradizioni e trasformazioni nelle Italie regionali e locali. In: Alessandro Falassi (Hg.), Tradizioni italiane. Codici, percorsi e linguaggi, Siena 1992. 2 Nachweise bei M. Rainer Lepsius, Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der „Moderne“ und die „Modernisierung“. In: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 10 – 29.

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Lebensverhältnisse; Kunst und Leben müssten wieder in Einklang gebracht werden. Die Revolution aller Lebensverhältnisse beschäftigte vornehmlich die damals entstehende Soziologie. Über sie gelangte der Begriff Moderne in die Wissenschaftssprache, wo er die Mischung aus deskriptiven und normativen Bestandteilen beibehielt. Das eben macht ihn in den Augen vieler und namentlich der Historiker verdächtig. Wenn Moderne hier trotzdem als analytische Leitkategorie verwendet wird, so dient dies dem Versuch, damit einen Beitrag zu einer historischen ­Theorie der Moderne zu leisten. Eine ­solche steht bislang aus hier nicht näher zu untersuchenden Gründen aus. Sie scheint aber geboten, nachdem die Modernisierungstheorie, jedenfalls in ihrer heute als plattem Amerikanismus samt zugehörigem Universalisierungsanspruch erkannten Version, nicht mehr als glaubwürdig erscheint, die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts zu erklären. Erst recht hat sie keine Antwort auf die widersprüchliche Geschichte der letzten vierzig Jahre. Eine historische ­Theorie der Moderne ist nötig, um die populäre Vorstellung vom radikalen Bruch mit der Vergangenheit mit den Phänomenen von ‚langer Dauer‘ zu verbinden, die unser Dasein ebenfalls kennzeichnen. „Il passato opera dentro di noi“, um noch einmal Clemente zu zitieren.3 Die Moderne ist eben keineswegs nur neu, sondern zugleich ragen in sie die Sedimente älterer Zeitschichten hinein oder lagern allenfalls dicht unter der Oberfläche. Und wie in der geologischen Beschaffenheit unserer Erdoberfläche, wo neben Urgestein rezente Böden zu liegen kommen, weisen auch die kulturellen Verhältnisse der Gegenwart unterschiedliche historische Tiefenstufen auf. Seit Ernst Bloch kann man diese Gemengelage als die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ bezeichnen, wobei es, anders als Bloch in den 1930ern selber meinte, darum geht, die historischen Sedimente nicht als schlechthin rückschrittlich, sondern angesichts ihres Fortbestehens in der Moderne als deren Bestandteile zu verstehen. Die logische Ableitung bedeutet, dass es nicht nur eine Moderne gibt. Einige Soziologen sehen das inzwischen auch so. Eisenstadt hat der Vorstellung von der „Vielfalt der Moderne“ zu großer Verbreitung verholfen.4 Aber auch Eisenstadts Vielfalt ist noch ziemlich grobschlächtig, und wegen seines Erkenntnisinteresses muss sie das auch sein. Bei ihm gibt es nur drei Modernen: die westeuropäische, die amerikanische und die japanische. Weil er in der Nachfolge Max Webers die Religion als maßgebliche Triebkraft der Zivilisationen ansieht und deren Wirken geradezu essentialisiert, liest sich sein Buch allerdings fast wie eine Naturgeschichte des Wandels. Den der Offenheit der geschichtlichen Situation verpflichteten Historiker lässt sie daher etwas ratlos zurück. Eine historische Th ­ eorie der Moderne wird dagegen, wie es der Fachtradition entspricht, die Vielfalt respektieren, ohne – wie der die Individualität alles Gewordenen betonende

3 „Die Vergangenheit wirkt hinter unserem Rücken“; Clemente, Uguali e diversi (wie Anm. 1), S. 46. 4 Klassisch geworden: Shmuel N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000.

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Historismus – in allem nichts als Sonderfälle zu sehen. Wir sollten deshalb die Unterschiede, die wir beobachten, nicht über den Kamm einer idealtypischen Moderne scheren und dann von „Rückstand“ oder „Vorsprung“ sprechen, auch wenn das die am abstrakten ‚Fortschritt‘ geschulten Zeitgenossen durchaus tun.5 In ­diesem Beitrag werden Inhomogenes, Abweichung, Vielfalt deshalb als Differenzen verstanden, die nicht ‚weniger fortschrittlich‘, sondern ‚anders modern‘ sind. Und dies nicht als Folge zeitgeistiger political correctness, sondern im Wissen darum, dass seit dem welthistorischen Bruch in der ‚Sattelzeit‘ (Koselleck), also z­ wischen 1770 und 1830, alles unwillkürlich Bestandteil der Moderne ist. Selbst die Überhänge der Tradition gehören dazu. Das gilt natürlich auch für die zu Zeiten vor allem in Deutschland blühende Kritik der Moderne von Nietzsche bis Spengler und Jünger.6 Um dies zu illustrieren, habe ich zwei Ausschnitte des deutsch-­italienischen Kultur­ vergleichs ausgewählt, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf sehr verschiedene Weise demonstrieren. Das eine Beispiel greift einen Gegenstand auf, in dem der klassische Fortschrittsdiskurs am stärksten verbreitet ist. Es geht um Technik und Industrie, die die meisten von uns als avanciertesten Teil dessen empfinden, was man mit Moderne assoziiert, und gerne unterstellen, dass es in ­diesem Bereich nur einen Weg in diese geben könne. Davon kann bei vergleichender Betrachtung jedoch keine Rede sein. Italiener gehen mit ‚Technik‘ einfach anders um als Deutsche, weil die Industrialisierung dort nicht mit den zyklopenhaften Erscheinungen der Zechen und Hochöfen verbunden war. Das andere Beispiel greift mit der Familie eine Institution auf, deren gegenwärtiger dramatischer Gestaltwandel in Europa augenscheinlich zu weitgehend einheitlichen Erscheinungsformen geführt hat. Insoweit kann man tatsächlich von einer europäischen Familie sprechen, und darauf berufen sich auch gerne die Vertreter der These von der Uniformität der Moderne. Was heißt es dann aber, wenn wir beim Blick auf die Binnenverhältnisse riesige Unterschiede feststellen, in denen sich ohne Zweifel Vergangenheiten erhalten haben? Ist die Einkindfamilie in Italien weniger modern als ihr deutsches Gegenstück, nur weil die letztere den pflegebedürftigen Großvater ins Altersheim verbringt, was ersterer einen irreparablen Ansehensverlust einbrächte? Es gibt offensichtlich verschiedene Wege in die Moderne. Das ist natürlich banal. Der interkulturelle Vergleich enthüllt überdies, dass diese Wege alles andere als parallel zuein­ ander verlaufen, sondern dass sie ähnlich der DNS in unseren Zellen ein verschlungenes Band darstellen. Entsprechungen ­zwischen den verschiedenen Beobachtungsfeldern

5 Es dürfte sich in Europa kaum eine zweite Gesellschaft finden, die so sehr von der Rückständigkeit ihrer Institutionen überzeugt ist – und darüber auch noch bereitwillig spricht – wie die italienische. Die Ursache dafür sind weniger die tatsächlichen Zustände als vielmehr der Ehrgeiz bzw. das Selbstverständnis der Italiener, ‚eigentlich‘ zu den avanciertesten Gesellschaften zu gehören und dies auch schon einmal gewesen zu sein. 6 Dazu umfassend Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007, bes. Kap. IV und V.

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sind schwer oder gar nicht feststellbar. Was hält s­ olche Kulturen dann zusammen und macht sie zu so einheitlichen, kompakten Erscheinungen, dass wir sie ohne zu zögern als ‚deutsch‘ oder ‚italienisch‘ bezeichnen? Darauf werde ich am Schluss zurückkommen. Familie „‚Familienbande‘ hat einen Beigeschmack von Wahrheit“, höhnte vor neunzig Jahren Karl Kraus und sprach damit nicht nur Österreichern aus der Seele. In Italien ist Kraus’ Sottise undenkbar, nicht nur weil im Italienischen ihre hintersinnige Bosheit nicht ausgedrückt werden könnte, sondern weil Italienern beim Stichwort ‚Familienbande‘ kaum negative Assoziationen in den Sinn zu kommen pflegen. Das Gegenteil dürfte wohl der Fall sein, wie die Beobachtung ihres Alltags lehrt, aber auch des Wirtschaftslebens oder der politischen Kultur. So gesehen hat der Satz in Italien allerdings mehr als nur „einen Beigeschmack von Wahrheit“: Er beschreibt die Ausgestaltung sozialer Beziehungen in jenem Lande ohne Zweifel treffend. Ein erster Beleg ist der unterschiedliche metaphorische Gebrauch des Begriffs ‚Familie‘ in beiden Sprachen. In Deutschland ein terminus technicus vor allem in den Naturwissenschaften zur Bezeichnung näher miteinander verwandter Gattungen, ist die Metapher im gesellschaftlichen Leben Italiens stark verbreitet, ja unverzichtbar. Soziale und politische Gruppen, die hierzulande mit Begriffen wie ‚Freundeskreis‘ belegt werden, nennen sich in Italien ‚Familie‘ und signalisieren dadurch, dass sie sich als unauflösliche Einheiten verstehen, frei von Zwietracht oder gar Zerwürfnissen: die um eine Idee gescharten Gesinnungsgenossen, die Anhänger eines einflussreichen Manns, die Verehrer eines wundertätigen Geistlichen usw. Der Londoner Economist bezeichnete 1990 provokativ nicht die katholische K ­ irche, sondern die Mafia als die größte Familie des 7 Landes. Nicht nur verstehen sich die Mitglieder als ‚Familie‘, wofür schon die Aufnahmerituale sprechen, die den lebenslänglichen, unwiderruflichen Eintritt in eine Gemeinschaft von ‚Blutsbrüdern‘ besiegeln, sondern auch die interne Strafpraxis lässt das erkennen: Wechselt ein Mafioso die Seite oder tritt gar als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft auf (Pentito), müssen seine Angehörigen mit dem Tode rechnen. Weil also in den allermeisten dieser Fälle reale Familienbande mit im Spiel sind, erschließt sich den Italienern der metaphorische Gebrauch von ‚Familie‘ nur umso mehr. An ihrer sozialen Physiognomie kann es nicht liegen, dass die Familie in beiden Ländern einen so enorm unterschiedlichen Stellenwert besitzt. Denn römisches und Kirchenrecht, sozioökonomische Anforderungen und nicht zuletzt kulturelle Bedürfnisse prägten über Jahrhunderte einen Sozialverband, dessen vielgestaltige äußere

7 Survey of Italy; Economist 315 (1990), Nr. 7656, 14. Zit. Paul Ginsborg, L’Italia del tempo ­presente. Famiglia, società civile, Stato, 1980 – 1996, Turin 1998, S. 132.

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Formen grosso modo auf beiden Seiten der Alpen anzutreffen waren. Dieser ist durch wirtschaftliche Entwicklung, gesellschaftlichen Wandel und politisches Einwirken überall vor zweihundert Jahren allmählich in Bewegung geraten, bis in den 1960ern ein jäher Wandel einsetzte, der vor allem Größe und Zusammensetzung der Familien radikal verändert hat.8 Die primär auf die Hervorbringung von Nachkommen ausgerichtete, patriarchalische Familie ist in nur vierzig Jahren in beiden Ländern so gut wie verschwunden. In Italien war der Wandel jedoch dramatischer als in Deutschland, weil südlich der Alpen die Moderne die Verhältnisse zunächst zögernder erfasst und verändert hat. Umso rasanter scherte rund zehn Jahre nach dem italienischen Wirtschaftswunder und den ­dieses ‚Wunder‘ begleitenden Migrationsströmen das Land aus der Phalanx der südeuropäischen Nationen mit ihren hohen Kinderzahlen und entsprechend großen, oft mehrere Generationen umfassenden Familien aus, passte sich den Verhältnissen der entwickelten Länder Europas an und überholte schließlich sogar, was den Fall der Geburtenziffer betrifft, alle anderen bis auf eines.9 Der ‚Gebärstreik‘ hat in beiden Ländern dieselben Ursachen: Nicht so sehr Scheidung und Abtreibung, wie vor allem kirchennahe Kreise immer wieder behaupten, sondern neben der sexuellen Revolution die unvollständige Frauenemanzipation, die den Müttern nach wie vor neben der Ausübung eines Berufs nahezu sämtliche traditionellen häuslichen Aufgaben abverlangt, ohne dass sie darin durch Ehemänner oder öffentliche Einrichtungen unterstützt würden. Vor dem Übermaß an Arbeitslast und Verantwortung schrecken immer mehr Frauen zurück; die neuerdings zu beobachtende Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse auch bei Männern tut ein übriges. Auch dass es auffällige regionale Unterschiede in der Gestalt der Familien gibt, haben Deutschland und Italien gemeinsam. Die Ursachen sind allerdings verschieden. Seit jeher durchzieht Italien eine gesellschaftliche und kulturelle Trennlinie z­ wischen Nord und Süd. Die Industrialisierung hat das Land in sich noch unterschiedlicher gemacht, so dass die Soziologen es neuerdings in drei Großregionen unterteilen – zu Nord und Süd tritt nun die Terza Italia, nämlich Nordostitalien vom Veneto bis zu den Marken.10 Neuerdings fügen sie vielfach das Latium wegen des Sonderfalles der Hauptstadt Rom gar als vierten Teil hinzu. In Deutschland hat sich nach 1945 die Physiognomie der Familie entlang der Grenze ­zwischen Bundesrepublik und DDR auseinanderentwickelt. 8 Diese Vorgänge markieren zusammengenommen das Ende der sogenannten demographischen Transition, die in Deutschland in den 1930er Jahren ihren Abschluss fand, in Italien erst zwei Jahrzehnte ­später. 9 Inzwischen weisen nicht nur alle mediterranen EU-Mitglieder einen ähnlich rapiden Fall der Geburtenrate auf − Zahlen und Graphik bei Ginsborg, L’Italia (wie Anm. 7), S. 572 −, sondern auch die neu der EU beigetretenen osteuropäischen Länder liegen wie die mediterranen mit einer Geburtenziffer von 1,2 um 0,2 Punkte unter der deutschen. 10 Maßgeblich dafür Arnaldo Bagnasco, Tre Italie. La problematica territoriale dello sviluppo italiano, Bologna 1977.

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Im Osten führte das social engineering der SED, das mittels veränderten Familienrechts den Frauen neben der vollen Gleichberechtigung auch die nicht immer begrüßte Notwendigkeit des Gelderwerbs brachte,11 zu signifikanten Unterschieden im Verhältnis zur deutschen Tradition, die in der Bundesrepublik eine viel allmählichere Änderung erfuhr. Obwohl seit der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern das (west-) deutsche Familienrecht gilt, sind die Familienformen in Ost und West weiterhin unterschiedlich, und zwar nicht nur wegen der Nachwirkungen der zivilrechtlichen Trennung, sondern auch als Folge des Zusammenbruchs der ostdeutschen Gesellschaft und der Abwanderung vor allem der Jüngeren. Im Osten ist nach 1990 die Geburtenziffer dramatisch abgestürzt 12 – sie war z­ wischen 1975 und 1989 deutlich höher als in der alten Bundesrepublik −, so dass inzwischen die Ein-­Kind-­Familien dort die Regel darstellen und die Haushaltsgrößen deutlich geringer sind als anderswo in Deutschland. Dazu passt, dass der Anteil der in Familien lebenden Bevölkerung im Osten deutlich schneller als im Westen fällt. Es mag schwerfallen, die ostdeutsche Bevölkerungsweise deswegen als moderner als die westdeutsche zu bezeichnen. Eine wichtige Kennziffer bekräftigt jedoch diese Einschätzung: der Anteil alternativer Familien.13 So ist die Zahl der Lebensgemeinschaften mit Kindern in den neuen Bundesländern derzeit mehr als doppelt so hoch wie in Westdeutschland, und zwar mit steigender Tendenz.14 Ganz anders reagiert der italienische Süden, und das nicht nur wegen seiner wirtschaftlichen Schwäche. Diese ist übrigens, wie man inzwischen zu wissen glaubt,15 Ergebnis von ‚ererbten‘, d. h. von Generation zu Generation weitergereichten Umständen und nicht, wie von den Meridionalisti über ein Jahrhundert lang angenommen und wie in den neuen Bundesländern nachweislich, die Folge der nationalen Einigung, damit verbundener plötzlicher Einbindung in den Weltmarkt und Zusammenbruch der Industriegesellschaft. Im Mezzogiorno lassen sich nicht mehr, sondern deutlich weniger, nämlich ungefähr halb so viele Menschen scheiden wie im ohnedies niedrigen

11 Dazu Ute Schneider, Das Familienrecht als Instrument der Gesellschaftsgestaltung. In: Michael Becker / Ruth Zimmerling (Hg.) Politik und Recht, Wiesbaden 2006, S. 601 – 620, mit weiterer Literatur. 12 Europaweit einzigartig niedrig ist sie in Mecklenburg-­Vorpommern mit einer Geburtenziffer von lediglich 0,8 (2007). 13 In Mecklenburg-­Vorpommern lag 2005 der Anteil der außerehelich Geborenen bei 64 %, in Sachsen-­Anhalt bei 62 %, in Württemberg nur bei 19 %. In Italien lag 1990 die Vergleichszahl bei 5 %! 14 Alle Zahlen dazu finden sich im Mikrozensus 2005 unter http://www.destatis.de/themen/d/ thm_bevoelk.php (28. 12. 2006). 15 Die in den letzten beiden Jahrzehnten stattgefundene Wende in der Bewertung der Südfrage kann hier nicht referiert werden. Nur so viel: Der seit Fortunato und Gramsci gepflegte Viktimismus des Südens ist passé. Literaturüberblicke dazu bei John A. Davis, Remapping Italy’s Path to the Twentieth Century. In: Journal of Modern History 66 (1994), bes. S. 293 ff., sowie bei John Foot, Modern Italy, Basingstoke, New York 2003, S. 150 ff.

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Landesdurchschnitt,16 es leben dort weniger Singles und dafür die Hälfte aller Familien mit fünf Personen oder mehr. Außerhalb der Ehe kommen dort noch weniger ­Kinder zur Welt als in Italien insgesamt, das nach Griechenland ohnedies die niedrigste Quote in der EU aufweist.17 Die K ­ irche sieht solches mit Wohlgefallen, aber es bleibt abzuwarten, wie lange noch die Werthaltung des Mezzogiorno, die dem Auftreten von Frauen außer Haus deutliche Grenzen zieht, den sich wandelnden Bedingungen des Arbeitsmarkts mit seinen spezifischen Chancen für Frauen standhält. Es wurden bisher weniger Unterschiede ­zwischen beiden Ländern sichtbar als nach den Eingangsüberlegungen zu erwarten. Das wird sich nun ändern, wenn wir den Blick auf das innere Funktionieren der Familien richten. Auffällig ist zunächst die Mutterzentriertheit der italienischen Familie, die in den letzten Jahrzehnten entweder im Zeichen ­­ bröckelnder Patriarchate tatsächlich zugenommen hat oder nur besser sichtbar geworden ist. Die herausragende Rolle der ­Mutter wird nicht nur von der ­Kirche betont – darüber kursiert im Lande eine Vielzahl von Witzen 18 – und vom Fernsehen ins Bild gesetzt, sondern die engen M ­ utter-­Sohn-­Beziehungen sind auch empirisch nachweisbar. Ein Drittel aller verheirateten Männer sehen ihre ­Mutter täglich, weitere 28 Prozent mehr als einmal pro Woche. Nicht allen Ehen bekommt das.19 Wenn 70 Prozent der Junggesellen über 35 Jahren und ein Viertel der geschiedenen Männer im Elternhaus leben,20 so bedeutet dies wohl, dass Italiener keine Trennung von der mütterlichen Fürsorge wünschen. Schon die Gründung eines eigenen Hausstands, und sei er noch so bescheiden, schieben Italiener so lange als möglich hinaus, und es ist angesichts der geschlechtsspezifischen Unterschiede ziemlich unwahrscheinlich, dass das nur mit der Wohnungsfrage und Arbeitsplatzsuche zu tun hat. Jedenfalls lebten 1982/83 90 Prozent

16 Selbst wenn man die in Italien der Scheidung vorangehenden Trennungen – ­zwischen beiden liegen drei Jahre – hinzurechnet, gehören die Zahlen immer noch zu den niedrigsten in der EU. Ginsborg, L’Italia (wie Anm. 7), S. 144. 17 Die Angaben entstammen teils dem Zensus von 2001 – vgl. http://dawinci.istat.it/daWinci/jsp/ MD/dawinciMD.jsp (30. 12. 2006) −, teils den Anhängen bei Ginsborg, L’Italia (wie Anm 7), und ders., Storia d’Italia dal dopoguerra a oggi. Società e politica 1943 – 1988, Turin 1989. 18 Der bekannteste versichert, es sei jetzt wissenschaftlich nachgewiesen, dass Jesus Italiener war: ein Junggeselle, der noch mit mehr als dreißig Jahren zu Hause lebte und den seine ­Mutter für einen Gott hielt. Alle drei Merkmale bezeichnen, karikaturenhaft überhöht, tatsächlich die italienische Wirklichkeit. 19 Dass die Sacra Rota allein 2005 69 Ehen italienischer Muttersöhne annulliert habe, wie die deutschsprachige Presse genüsslich meldete, ist aus der Luft gegriffen. Vgl. als Beispiel für diese Verzerrung Stefan Ulrich, Die „Mammoni“ und der Papst. Im Jahr 2005 hat der Vatikan 69 Ehen von Muttersöhnen annulliert. In: SZ, 29. 1. 2007. Richtig ist dagegen, dass im Gerichtsjahr 2005 unter den 69 aufgelösten Ehen einige als Grund „außergewöhnliche Abhängigkeit von der ­Mutter“ hatten. Luigi Accatoli, Il marito è „mammone“, la Sacra Rota annulla le nozze. In: Corriere della Sera, 27. 1. 2007. (http://archivio.corriere.it/archiveDocumentServlet.jsp?url=/ documenti_globnet/corsera/2007/01/co_9_070127120.xml [11. 2. 2007]). 20 Ginsborg, L’Italia (wie Anm. 7), S. 153 f.

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der 20- bis 24-jährigen Männer bei den Eltern, in Deutschland waren es nur 40 Prozent. Zehn Jahre s­päter registrierten italienische Soziologen, dass von den bis zu 29-jährigen immer noch fast die Hälfte zu Hause wohnte (die sprichwörtlichen mammoni), während es bei den Töchtern nur ein Viertel war.21 Offensichtlich richten sich an sie erhöhte Anforderungen, der sie sich durch frühe Selbständigkeit zu entziehen suchen.22 Dass Frauen die hauptsächliche Familienarbeit leisten, ist gewiss kein italienischer Sonderfall. Ebensowenig, dass diese Arbeit nicht bei der Kindererziehung endet, sondern auch die ältere Generation einschließt. Italienerinnen kümmern sich wie Frauen anderer Länder nicht nur um die eigenen Eltern, sondern auch um die des Ehemannes. Das spezifisch Italienische besteht darin, dass, obwohl natürlich auch in Italien die Menschen älter und damit länger pflegebedürftig werden und überhaupt die älteren Menschen an Zahl zunehmen, die Zahl der Altenheimbewohner zurückgeht.23 Die ältere Generation wird innerhalb der Familien versorgt und gegebenenfalls gepflegt. Dieses Verhaltensmuster setzt Ortswechseln enge Grenzen, womit wir bei einem weiteren Spezifikum dieser Gesellschaft sind. In der Tat scheinen Italiener nur die Wahl ­zwischen Auswandern und Dableiben zu haben, während die inneritalienischen Migrationen der 1950er bis 1970er Jahre eine Ausnahme gewesen zu sein scheinen. Denn 1988/89 wohnte die Hälfte der verheirateten Söhne, deren ­Mutter noch lebte, in derselben Gemeinde wie sie und jeder sechste sogar im selben Haus; ein weiteres Fünftel lebte in einer Entfernung von weniger als 50 Kilometern. Nur jeder achte wohnte weiter weg oder gleich im Ausland.24 Italiener haben noch andere Gründe, sich möglichst wenig von zu Hause zu entfernen, denn zivilgesellschaftliche Umstände und der schwierige Umgang mit dem Staat machen Netzwerke geradezu überlebenswichtig. Ortswechsel schaden nur. Das wichtigste Netzwerk ist die Familie, die die weitläufige Verwandtschaft einschließt. Damit sind wir endgültig beim entscheidenden Unterschied zu Deutschland. Die Rede ist vom sogenannten Familismus. Schon dass es in der deutschen Sprache dafür 21 Ebd., S. 146 f. Der Trend geht neuerdings auch in der Bundesrepublik nach oben, teils als Folge abgeflauter Generationenkonflikte, teils in der Tat im Zusammenhang mit dem inzwischen erheblich erschwerten Eintritt ins Berufsleben. Jugend- und insbesondere Akademikerarbeitslosigkeit gehören in Italien seit dem 19. Jahrhundert zum Alltag. Dazu Marzio Barbagli, Disoccupazione intellettuale e sistema scolastico in Italia (1859 – 1973), Bologna 1974. 22 Der hohe Anteil von Frauen unter den Studierenden gerade im Mezzogiorno erklärt sich bis zu einem gewissen Grade mit dem Umstand, dass dort für Unverheiratete die fast einzige schickliche Art, außer Hauses zu wohnen, die Immatrikulation an einer Universität ist. Entsprechend hoch ist dann die Verweildauer. 23 Laut Zensus 2001 lebten von den knapp 19 Millionen Italienern, die 65 Jahre und älter waren, gerade einmal 231.000 in Altersheimen, weitere 200.000 in sonstigen Unterkünften. Auf die Gesamtbevölkerung bezogen, waren das unvorstellbar niedrige 0,4 bzw. 0,7 %. 24 Ginsborg, L’Italia (wie Anm. 7), S. 574 (Graphik). Die schlechte Wirtschaftslage und die stagnie­ renden (und ohnedies vergleichsweise niedrigen) Löhne haben diesen Anteil seither noch steigen lassen.

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keine Entsprechung gibt und man für Erklärungen am besten in der ethnologischen Literatur nachschlägt, zeigt die Asymmetrie. Soziologen pflegen dagegen die Latte angelsächsischer civil society anzulegen und sprechen deshalb, jedenfalls wenn es um Italien geht, seit Banfields klassischer Studie über Chiaromonte in der Basilicata überwiegend vom familismo amorale als einer gesellschaftlichen Konstante.25 Ungezählte, in der nationalen Leidenschaft der Selbstgeißelung zu Meisterschaft gelangte italienische Intellektuelle tun es ihm seither nach. Ginsborg entgegnet jedoch mit Recht, dass der Familismus generell vom Beziehungsdreieck Individuum – Zivilgesellschaft – Staat und innerhalb d ­ ieses Dreiecks von regionalen und sozialen Gegebenheiten abhänge. Dementsprechend sei Familismus keine Konstante, sondern veränderlich, und zwar selbst im Mezzogiorno.26 Familismus als „Rückzug auf die Familie“ zu umschreiben, ist ebenfalls irreführend, weil damit eine voll entwickelte Umgebung vorausgesetzt wird, aus der man sich mangels öffentlichen Moralbewusstseins zurückzieht. In Wirklichkeit funktioniert diese Umgebung jedoch nicht so, dass es Wahlfreiheit bei der Entscheidung der Mittel für kollektive Selbstbehauptung oder persönliches Fortkommen gibt. Zumindest ist die Mehrheit der Auffassung, keine Alternative zum Rückgriff auf Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Klientel bzw. Patron zu haben, weil von Fairness, Chancengleichheit und Rechtsförmigkeit in vielen Fällen keine Rede sein kann. Dass auf diese Weise das System des Gebens und Nehmens immer aufs Neue stabilisiert und gesellschaftliche Mobilität oder sozialer Wandel erschwert wird, liegt auf der Hand. Familismus kann man nicht messen, nur indirekt ermitteln und beschreiben: mit Blick auf Handlungsoptionen, Karrieren, Besitzverhältnisse und natürlich auf Skandale. Italien ist daher voll von Skandalgeschichten, denn eigentlich, d. h. gemessen am Entwicklungsstand des Landes insgesamt, müssten, das weiß jeder, Dinge wie Bewerbungen, berufliches Fortkommen usw. den Regeln folgen. Die Regelwerke befinden sich nämlich auf der Höhe der Zeit. Was beispielsweise den Eintritt in den öffentlichen Dienst betrifft – vom Hausmeister über den Polizeianwärter bis zum Professor – müsste das System des concorso eigentlich sicherstellen, dass nur die Besten zum Zuge kommen. In Wirklichkeit dagegen förderten entsprechende Recherchen etwa zum Personalbestand der Universität Rom auffallende Verwandtschaftsbeziehungen ­zwischen vielen Ordinarien zutage, vielfach handelt es sich sogar um Vater und Sohn. Vergleichbares gilt für die Politik, in der immer wieder dieselben Familiennamen begegnen – rechts wie links.27 Es ist hier nicht von simpler Bestechung die Rede, sondern von offensichtlichen 25 Edward C. Banfield, The Moral Basis of a Backward Society, Glencoe/Illinois 1958 (ital. Übers. 1976). Im Buch heißt die untersuchte Gemeinde Montegrano. 26 Paul Ginsborg, Familismo. In: Ders. (Hg.), Stato dell’Italia (wie Anm. 1), S. 78 – 82. 27 Eine Fülle bizarrer Beispiele findet sich in Zeitungsartikeln, die zusammengestellt sind in: http://lafrusta1.homestead.com/Riv_familismo.html (24. 1. 2006). Ein ganz anderes Thema ist die Offenheit der Eliten, die in der modernen Gesellschaft regelmäßig überschätzt wird. Zur

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Familienstrategien, die von der Erfahrung gespeist sind, dass weder Verfahren noch Institutionen zu trauen ist, sondern nur den ‚eigenen Leuten‘. Entsprechend weist die italienische Familie signifikant andere Erziehungsziele auf als die deutsche oder beispielsweise dänische. In einer Umfrage der EU im Jahre 1993 bejahten einen Wert wie Unabhängigkeit 59 Prozent der dänischen und 62 Prozent der deutschen Eltern, aber nur 18 Prozent der italienischen und gar nur 15 Prozent der spanischen. Das kann nur bedeuten, dass südlich der Alpen bzw. im Mittelmeerraum insgesamt Abhängigkeit vielleicht gar als Tugend, jedenfalls als Lebensklugheit gilt.28 Familismus ist ein Relikt der Vormoderne. Der den aufgeklärt-­revolutionären Grundwerten verpflichtete liberale Staat sah in der Durchsetzung von Gleichheit im Sinne von Gleichberechtigung eine wichtige Aufgabe. In der Paulskirchenverfassung kündigte sie sich als „neuer Leitbegriff“ an.29 Im ­­Zeichen des Sozialstaats kam der Schutz für die Familie als weiteres Staatsziel hinzu. Die Weimarer Verfassung formulierte das als erste in Europa,30 die italienische Republik zog 1948 nach.31 Es kommt jedoch weniger auf die Normen als auf deren Implementierung an. In dieser Hinsicht zeigt sich rasch, dass in Deutschland seit 1919 der Staat seine Verpflichtung in Form vielfältiger Schutz-, Unterstützungs- und freilich auch Kontrollmaßnahmen unter wechselnden weltanschaulichen Vorzeichen mit entsprechend gegensätzlichen Absichten ins Werk gesetzt hat. Immer größere Transferleistungen sind die Folge, die seit den 1970er Jahren auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau stückweise voranbringen. Familienpolitik hat dementsprechend in Deutschland (wie seinerzeit auch in der DDR) hohen politischen Rang und ist entsprechend umstritten.32 Vergleichbares lässt sich von Italien kaum sagen. Seit seiner Gründung zeigt sich der italienische Staat den Familien gegenüber nur selten entgegenkommend, und zwar nicht nur in direkter sozialpolitischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf Erscheinungsform und Verhalten gegenüber seinen Bürgern.33 Weder Bundesrepublik s. Michael Hartmann, Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt, New York 2002. 28 Ginsborg, L’Italia (wie Anm. 7), S. 156 f. 29 Otto Dann, Gleichheit. In: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-­sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 1036. Vgl. Frankfurter Reichsverfassung, § 137 [1849]. Im Statuto albertino von 1848 ist von ‚Gleichheit‘ dagegen nicht die Rede, sondern vom „gleichen Genuss“ der bürgerlichen und politischen Rechte (Art. 24). 30 Dazu Rebecca Heinemann, Familie z­ wischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik, München 2004, mit weiteren Nachweisen. Vgl. Weimarer Reichsverfassung, Art. 119 – 122. 31 Costituzione italiana, Art.  29 – 31. 32 Als erster Überblick Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 32013, S. 47 ff., mit umfangreichen Literaturangaben. 33 Umso großzügiger bedenkt der Staat das Riesenheer seiner Angestellten mit Wohltaten, ja man kann, vor allem was den Mezzogiorno betrifft, davon sprechen, dass der aufgeblähte öffentliche Dienst selber eine Form von Sozial- und damit auch von Familienpolitik ist. Zu den

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familiengerechte Besteuerung noch Zulagen wie Kindergeld oder Ähnliches noch das, was die Schweizer als service public bezeichnen, gehört zu den Merkmalen der italienischen Politik. Sie ermutigt im übrigen weder zu bürgerschaftlichem Engagement noch kümmert sie sich sonderlich um Schutz und Entwicklung öffentlicher Räume. In dieser Hinsicht rangiert Italien unter den europäischen Schlusslichtern. Wenn Soziologen versichern, seit dem Zweiten Weltkrieg habe die Zivilgesellschaft in Italien zwei Entwicklungsschübe erlebt – in den späten 1960er und in den 1990er Jahren −, deren Träger zum Teil explizit dem Familismus den Kampf angesagt hätten,34 so müssen ­solche Aussagen differenziert werden. Erstens beschränken sie sich dabei auf die in Vereinen Organisierten, zweitens spiegelt sich in deren Mitgliederstruktur die traditionelle Nord-­Süd-­Teilung des Landes wider und drittens sind etwa Sportvereine, die mit Abstand an der Spitze stehen, und erst recht die modernen Sportarten nicht unbedingt Vorreiter des Gemeinsinns. Umweltgruppen wie Legambiente, von der Sache her altruistisch, rekrutieren gerade einmal zehn Prozent aller Organisierten,35 NGOs machen öfter durch radikale Aktivitäten als politisch auf sich aufmerksam. Rechnerisch ist jeder zwanzigste Italiener Mitglied in einem Verein. Deutschland kann in dieser Hinsicht mit ganz anderen Zahlen aufwarten, aber es genügt vielleicht der Hinweis, dass die Dachverbände der deutschen Schützen, Turner, Sänger, Sportler und Fußballer sowie der ADAC die jeweils mitgliederstärksten Vereine weltweit sind.36 Schon die nationale Bewegung des 19. Jahrhunderts stand, anders als das Risorgimento, auf breitem gesellschaftlichem, vor allem von Vereinen getragenem Fundament.37 Bürgerschaftlichen Aktivitäten ist es auch zu danken, wenn in der Bundesrepublik der Bau einiger Kernkraftwerke verhindert, der Ort des Endlagers immer noch nicht beschlossen, ungezählte Straßenprojekte gestoppt, dafür aber der Bau des zentralen Holocaustdenkmals in Berlin durchgesetzt wurde. Nicht ganz damit vergleichbar sind die seit 1974 abgehaltenen zahlreichen italienischen Referenden, die jeweils 500.000 Unterschriften benötigen und deshalb fast immer von Parteien und Gewerkschaften, neuerdings auch

familienspezifischen Privilegien der Staatsdiener zählt u. a. das Recht, während der Dienststunden die Kinder zur Schule oder zum Arzt zu bringen. Das decreto legge n. 112 vom 26. 6. 2008 versuchte damit aufzuräumen, entfesselte damit zunächst aber nur den zu erwartenden Sturm der Empörung, der sogar im Ausland wahrgenommen wird. Dirk Schümer, Commissario Brunetta. In: FAZ, 20. 8. 2008, S. 39. 34 Siehe etwa die Abschnitte zum Thema L’associazionismo in Ginsborg (Hg.), Stato dell’Italia (wie Anm. 1), S. 324 – 338. 35 Legambiente hat eigenen Angaben zufolge derzeit 115.000 Mitglieder in ca. 1.000 Ortsgruppen (Italien hat ca. 8.100 Gemeinden), der deutsche NABU gegenwärtig 450.000 in 1.500 Ortsgruppen (die Bundesrepublik hat ca. 12.200 Gemeinden), der BUND weitere 390.000. 36 Vgl. die Homepages der jeweiligen Verbände. 37 Beispielhaft die beiden Aufsätze über die Turner und Sänger von Dieter Langewiesche in seinen gesammelten Aufsätzen: Nation, Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000.

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von der ­Kirche organisiert werden. Immerhin erreichen sie in Abständen eine erhebliche Mobilisierung der Bürger und fuhren den Regierungen mehrfach mächtig in die Parade. Vieles ist also in Bewegung gekommen, doch sind die Tempi in beiden Ländern unterschiedlich. Ein von den mehrfachen gesellschaftlichen Zusammenbrüchen des 20. Jahrhunderts forcierter, in den 1970er Jahren und nach 2000 durch Gesetze, dazwischen vor allem aber durch die Rechtsprechung weiter beschleunigter Wandel hat die Familien in Deutschland erheblichen Veränderungen unterworfen. Am meisten an Macht verloren haben die Inhaber traditionell privilegierter Positionen: sowohl die Eltern gegenüber den Kindern als auch der Ehemann gegenüber seiner Frau.38 Die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, wegen ihrer doppelten Herausforderung ein in allen westlichen Gesellschaften höchst umstrittenes Thema und so etwas wie der Abschluss der Verflüssigung der jahrhundertealten Familienform, ist in Deutschland seit 2001 realisiert in Italien seit 2016.39 Seine Familien weisen überhaupt, so viele Beobachter, eine spezifische Mischung aus europäischer Moderne und italienischer Tradition auf: Sie nahmen an der Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre teil, vermeiden trotzdem uneheliche Kinder fast ganz und bewahren sich das überlieferte Zusammenleben dreier Generationen. Wer will, kann das alles Sonntag für Sonntag im Restaurant beobachten. Industrie und Technikkultur Dass die Industrialisierung zum materiellen Kernbestand der Moderne gehört, bedarf keines weiteren Nachweises. Die lange Zeit weltbeherrschende Stellung des ‚Westens‘ ist ohne den Eintritt Europas und Nordamerikas ins Maschinenzeitalter schlechterdings nicht denkbar, aber nur in Europa wurden Industrie und industrielle Beschäftigung zu einer Haupterfahrung. Hier ist deshalb auch die Moderne in besonderer Weise industrie-­ basiert, d. h. auf klassischer Technik beruhend, und entsprechend krisenhaft gestaltet sich bei uns der Abschied aus dieser Daseinsform. Aber so sehr die wissenschaftlich-­ technische Zivilisation die Moderne einst hervorbrachte und bis heute immer neu erschafft, so sehr gehören auch die Reaktionen auf diese, menschheitsgeschichtlich gesehen, ganz neuartige Herausforderung zur Moderne, sind die Abwehr- und Einhegungsversuche ein Bestandteil unserer modernen Existenz.

38 Das gilt auch für alle anderen hierarchisch strukturierten Beziehungskonstellationen, sei es gegenüber Schülern, Soldaten oder Gefangenen. Spiegelbildlich wurde die Entmündigung erschwert. Beispiele für diesen als Liberalisierung gedeuteten Prozess bei Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 – 1980, Göttingen 2002, Abschn. IV. 39 Mit weniger Rechten als beim deutschen Gegenstück; so ist beispielsweise die Adoption grundsätzlich nicht gestattet.

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Eine der Begleiterscheinungen dieser Art von technisch-­industrieller Moderne ist die ‚Inselwelt‘, die sie auf ihrem Siegeszug durch Europa schuf – ein Archipel der unterschiedlichsten Branchen, Geschwindigkeiten und Wege.40 Es fanden in den letzten zweihundert Jahren natürlich Annäherungen statt, aus ihnen wurde aber niemals eine zusammenhängende Landmasse. Demgegenüber zeigt die informationstechnologisch basierte Moderne ein ganz anderes, nämlich ein fast zur selben Zeit entstandenes, weltumspannendes Gesicht. Der Inselcharakter jener ersten technischen Moderne brachte hingegen eine Vielzahl unterschiedlicher Technikstile und Technikkulturen hervor. Zwei davon wollen wir uns im Folgenden etwas genauer ansehen, wohl wissend, dass dies ein ziemlich vermessenes Unterfangen ist, denn die klassische Technikgeschichte ist hierbei keine große Hilfe. Ich will und muss mich daher auf zwei Schnappschüsse beschränken. Der erste gilt den ersten Industrialisierungsschritten Italiens aus deutscher Perspektive, der zweite unserer Gegenwart. Als der mit einem Reisestipendium versehene junge Mailänder Ingenieur ­Giambattista Pirelli im Sommer 1871 in Essen die berühmte Firma Krupp besichtigte, war er z­ wischen Bewunderung und Sorge hin- und hergerissen. Vom Wasserturm aus erblickte er eine lärmende, mit Dampf erfüllte Welt, in der 9.000 Arbeiter in geradezu militärischer Disziplin, wie er feststellte, rund um die Uhr Wunderwerke schwerer Guss- und Schmiedestahlprodukte herstellten und weitere 3.000 in den Zechen nach Erz gruben. Das war die eine Seite. Auf der anderen sah er die Gefahren der „großen Industrie“: Sie zerstöre die Hütten ländlicher Arbeiter, errichte über Kohleflözen und Wasserströmen „zyklopische Gebäude“, schicke die „Jugend in stickige Bergwerke, wo sie ihr bitteres Brot mit schleichendem Tod bezahlt“ – doch zuvor verfalle ihr abgetöteter Geist der heraufziehenden Arbeiterbewegung. Krupp allerdings habe es bisher verstanden, seine Arbeiter dank vorbildlicher Sozialleistungen an sich zu binden: „Auf dem erhabenen Altar der Industrie errichtete er jenen bescheideneren, aber wertvolleren der Familie, zu deren gewissenhaftem Priester er sich machte“. Eigentlich aber, so beschwört Pirelli am Schluss seines Berichts die italienischen Leser, sollte die Zukunft der „kleinen Industrie“ gehören, die, wenn sie „die gesunden Rezepte der Arbeitsteilung und der Spezialisierung“ beherzige, sich der großen gewachsen zeigen werde und ihr vorzuziehen sei. Auf dem Lande angesiedelt („tra la sparsa popolazione“) bzw. in enger Verbindung mit dem Heimgewerbe stehend, gebe sie Spinner und Weber „der geheiligten Heimstatt der Familie“ zurück. „Dank Kraftübertragung über große Entfernungen und dank wirtschaftlichem Kleinmotor zeigt sich schon das Morgenrot eines schönen Tags. Im Mittagslicht dann werden sich die gefährlichen Lästerer der Menschenrechte, die fanatischen Träumer eines zersetzenden Kommunismus nicht länger als Beschützer von Leiden aufspielen, die nicht die ihren sind, sondern die

40 Anschaulich die beiden Karten bei Sidney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760 – 1970, Oxford 1981, S. XIV f.

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wahren Freunde des menschlichen Fortschritts werden vergnügt die Heraufkunft von Erlösung und Frieden feiern, die schließlich Kapital und Arbeit zum brüderlichen Bankett versammelt, an dessen Spitze Einsicht und Liebe sitzen.“41 Pirellis ausführlicher Bericht legt unzweideutig wichtige Unterschiede ­zwischen deutscher und italienischer Industrie und, wichtiger noch, Wirtschaftsgesinnung der Eliten offen, die tatsächlich die Entwicklung beider Länder gekennzeichnet hat. Natürlich gibt es in beiden Gesellschaften Ausnahmen. Zu ihnen zählt Pirelli selbst, der zwei Jahre s­päter eine Gummifabrik gründete, die alsbald weit mehr der Firma Krupp ähneln sollte als dem Ideal der über das Land verstreuten ‚kleinen Industrie‘. Andererseits wurde in Deutschland natürlich ebenfalls das Lob der ‚kleinen Industrie‘ gesungen.42 Insgesamt jedoch ist unbestritten, dass der Weg in die industrielle Moderne nördlich und südlich der Alpen sehr verschieden verlaufen ist. Nur: Wie bewertet man das angemessen? Solange man diesen Prozess mit Großbetrieben, Gruben und Hochöfen, Metallverarbeitung, Eisenbahnen und rauchenden Schloten rundweg gleichzusetzen pflegte, die kleine Städte in ganze ‚Reviere‘ und Tagelöhner und Handwerker in Heere von Fabrikarbeitern umgeschaffen haben, sprach die Forschung im Hinblick auf Italien von ‚Verspätung‘ und suchte sowohl deren Ursachen als auch die Strategien zur Überwindung dieser ‚Rückständigkeit‘.43 Das Unbehagen an ­diesem Ansatz, der nur ein einziges Entwicklungsmodell kennt, führte vor einigen Jahren zum Versuch, mediterrane Industrialisierung als eigenständigen Typus zu verstehen. In ­diesem Zusammenhang werden zunächst einmal Entwicklungshindernisse wie Armut, Analphabetismus, fehlende Bodenschätze, mangelhafte Infrastruktur und eben auch ein offener oder verkappter Anti-­Industrialismus der führenden Schichten diskutiert.44 Was diesen betrifft, so herrschte, wie gesagt, allerdings auch in Deutschland damals nicht nur

41 Giambattista Pirelli, La fabbrica d’acciaio fuso del sig. Federico Krupp. In: Il Politecnico, Fasz. 10/11 (1871), S. 770 f. Übersetzung teilweise aus Volker Hunecke, Arbeiterschaft und Industrielle Revolution in Mailand 1859 – 1892. Zur Entstehungsgeschichte der italienischen Industrie und Arbeiterbewegung, Göttingen 1978, S. 41. Zu den Studienreisen italienischer Nachwuchsunternehmer Alberto M. Banti, Storia della borghesia italiana. L’età liberale, Rom 1996, S. 157 ff. Deutsche Unternehmer pflegten eine bis zwei Generationen früher ins Ausland zu reisen – nach England vor allem – und erhielten dafür ebenfalls gelegentlich Stipendien. Dazu Martin Schumacher, Auslandsreisen deutscher Unternehmer 1750 – 1851, unter bes. Berücksichtigung von Rheinland und Westfalen, Köln 1968. 42 Vgl. als zufällig ausgewähltes Beispiel Rudolf Boch, Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814 – 1857, Göttingen 1991, bes. Kap. 3. 43 Maßgeblich hierfür Alexander Gerschenkrons Aufsatzband: Economic Backwardness in Histo­ rical Perspective. A Book of Essays, Cambridge/Massachusetts, London 1968. 44 Zu den Verlaufsformen und Eigenheiten der mediterranen Industrialisierung der entsprechende Aufsatz weiter vorne in ­diesem Band. Zum Anti-­Industrialismus im Italien des 19. Jahrhunderts Volker Hunecke (wie Anm. 41), Arbeiterschaft, passim.

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Begeisterung über das, was sich an Rhein und Ruhr oder in Oberschlesien vollzog. Die 1880er und 1890er Jahre hallten von der Besorgnis über das Verschwinden des Handwerksbetriebs wider, obwohl Gustav Schmoller 1892 für Nüchternheit plädiert und anhand der Reichsstatistik vorgerechnet hat, dass auch bei den Großbetrieben die Bäume keineswegs in den Himmel wüchsen: „Jenen Großbetrieben mit über 1000 Personen [gehören] wahrscheinlich noch keine Million Menschen“ an.45 Den Trend zum Großbetrieb leugnete Schmoller freilich keineswegs. Und so fühlte sich das Reich 1897 veranlasst, ein Handwerkergesetz zu verabschieden, das sogar Zwangsinnungen vorsah, von denen in der Folge ausgiebig Gebrauch gemacht wurde. Es ist die für Deutschland typische Mischung aus Naturwüchsigkeit und Interventionsstaat, wie sie nach der sogenannten Zweiten Reichsgründung für ein ganzes Jahrhundert den Gang der Entwicklung bestimmte. Damit konnte sich das damalige Italien in keiner Weise messen. Für ­dieses Land ist vielmehr ein anhaltender Schwebezustand ­zwischen Proto- und ‚richtiger‘ Industrialisierung zu beobachten, der ein weiteres Merkmal mediterraner Industrialisierung ist. Der Abstand zu den dahineilenden Wirtschaften Nordwest- und Mitteleuropas vergrößerte sich daher bis zur Jahrhundertwende, um dann für weitere fünfzig Jahre die Distanz zu halten.46 Die Industrien, die das schnellere Wachstum in Deutschland und andernorts in Westeuropa vor 1900 getragen haben – Kohle und Stahl −, fehlen in Italien fast völlig. Die vom Staat betriebene Gründung des Stahlwerks in Terni 1884 stellte keine Initialzündung dar, sondern blieb militärische Vorsorge. Mit den schwerindustriellen Großbetrieben und -konzernen fehlte aber auch die entsprechende, geologisch bedingte regionale Zusammenballung in dieser Phase, die ganze Landstriche mit Lärm und Ruß zuschüttete.47 Sombart lobte im Blick auf Italien „die geringe Anwendung der Dampfkraft, das Vorwiegen der Wassernutzung und neuerdings die Anwendung der Elektrizität“ und sah hierin bemerkenswerterweise die Energiegewinnung der Zukunft.48 In der Tat wurde Oberitalien zum Prototyp der modernen Industrielandschaften, wo im 20. Jahrhundert Chemie, Textilerzeugung und -verarbeitung, Maschinenbau,

45 Gustav Schmoller, Ueber die Entwicklung des Großbetriebes. In: Preußische Jahrbücher 69 (1892), S. 469. Abgedr. in: Walter Steitz (Hg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Reichsgründung bis zum ­Ersten Weltkrieg, Darmstadt 1985, S. 162. 46 Vgl. Gabriel Tortella, Patterns of Economic Retardation and Recovery in South-­Western Europe in the 19th and 20th Centuries. In: Economic History Review 47 (1994), Tab. 1 und 2 sowie Abb. 1. 47 Diese brachte entsprechend früh Dinge wie Natur- und Heimatschutz sowie Technikfolgenabschätzung hervor. Vgl. die vergleichende Studie von Gustavo Corni, Der Umgang mit Landschaft und Umwelt. In: Christof Dipper (Hg.), Deutschland und Italien 1860 – 1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich, München 2005, S. 39 – 67. Um einen gelungenen Versuch, Umweltdiskussion, Arbeitssicherheit und wirtschaftliche Fragen miteinander zu kombinieren, handelt es sich bei Arne Andersen, Historische Technikfolgenabschätzung am Beispiel des Metallhüttenwesens und der Chemieindustrie 1850 – 1933, Stuttgart 1996. 48 Werner Sombart, Italienische Briefe III. In: Socialpolitisches Centralblatt 3, H. 31 (1894), S. 365.

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Eisenbahnen und zuletzt selbst Eisen- bzw. Stahlherstellung elektrisch betrieben werden. Das rohstoffbasierte 19. Jahrhundert wurde gewissermaßen übersprungen, Italien kam früher und weniger belastet im 20. Jahrhundert an. Wohl auch deshalb hat der von Geschwindigkeit und Fliegen faszinierte Futurismus in Deutschland kein Gegenstück.49 Und so ist es vielleicht kein allzu kühnes Bild, wenn man die italienische Industriekultur mit einer Frau identifiziert: im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Verteilung der Arbeitsplätze als soziale Tatsache und weil Naturwissenschaften und Mathematik, die die Grundlage dieser modernen Branchen bilden, stets als weibliche Sophia versinnbildlicht werden. Die seit frühindustriellen Zeiten hochentwickelten Gewerbegebiete Thüringens und Sachsens haben, obwohl älter als die Schwerindustrie, nicht – und das ist der bemerkenswerte Unterschied zu Italien – die Technikkultur Deutschlands geprägt. Das taten vielmehr die eisen- und kohlebasierten Monolithen Westfalens und Oberschlesiens mit der Brutalität ihrer Naturzerstörung und der „Zyklopenhaftigkeit“ (Pirelli) ihrer Erscheinungsform. Bergbau und Hüttenwesen begründeten nicht nur im In- und Ausland den Ruf der deutschen Technik, sie machten für lange Zeit geradezu ihr Wesen aus: kraftbetont, männlich, hochgradig präzise und doch auch stark erfahrungsgesättigt – die ‚Werkbank‘ zur Metapher ingenieursmäßiger Tüftelei machend. Selbst die modernste Technik des frühen 20. Jahrhunderts, Elektrizität und organische Chemie, basierten in Deutschland auf der einheimischen Kohle, die die unerschöpfliche Grundlage der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Größe des Reiches bildete. Brechen wir an dieser Stelle ab und machen einen Sprung in die Gegenwart. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten beide Länder ein ‚Wirtschaftswunder‘. Italien erfuhr nun, dass viele seiner bisherigen Nachteile sich in Vorteile verwandelten, und durchlief als erstes Land das, was die Fachleute heute ‚mediterrane Industrialisierung‘ nennen.50 Zu deren Merkmalen zählt aus deutscher Perspektive insbesondere, dass die Zahl der Industriearbeiter vergleichsweise bescheiden blieb und die meisten überdies in Mittelund Kleinbetrieben Beschäftigung fanden. Dagegen banden zweitens Bauwirtschaft und Tourismus ungewöhnlich viele Arbeitskräfte. Dies deshalb, weil drittens viele der in der Landwirtschaft Freigesetzten direkt in den Dienstleistungssektor abwanderten, der deshalb gegenüber den alten Industriestaaten ungewöhnlich früh einen hohen Anteil hatte. Endlich besaß viertens der Konsumgüterbereich durchgehend eine vergleichsweise hohe Bedeutung, so dass die Versorgung der Italiener mit Radios, Elektrogeräten und

49 Noch weniger die Tatsache, dass er sich erfolgreich dem Faschismus andiente, während der Nationalsozialismus einen Kulturkrieg gegen die meisten Erscheinungsformen der künstlerischen Moderne führte. Die 1909 ins Leben getretene futuristische Bewegung hoffte, dass mit ihr zugleich der Übergang zur Industrialisierung stattfinde. Dazu Wolfgang Schieder, Die Zukunft der Avantgarde. Kunst und Politik im italienischen Futurismus 1909 – 1922 [2000]. In: Ders., Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 57 – 72. 50 Vgl. Anm. 44 und 46.

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Autos nur wenig zeitversetzt gegenüber Deutschland verlief. Mit anderen Worten: Das Land wandelte sich von einer Agrar- in eine Dienstleistungsgesellschaft mit zwischenzeitlich beachtlicher, aber niemals überwiegender Industriearbeit. Westdeutschlands ‚Wirtschaftswunder‘ veränderte die Struktur der Industrie weit weniger, obwohl oder weil die Nationalsozialisten das Land im Zuge der Autarkiepolitik der dreißiger Jahre in die überwunden geglaubte Kohleabhängigkeit zurückgeführt hatten. Gegen Weltmarkt und Stand der Technik war Kohle wieder als privilegierte Grundlage aller Produktion bevorzugt worden. Benzin aus Kohle, Gummi aus Kohle, Stahl aus armen deutschen Erzen – das waren ab 1933/34 die Ziele staatlicher Technologiepolitik. Die Montanindustrie aber besitzt, wie gezeigt, eine spezifische, man könnte sagen: vulkanische Technikkultur. Der Wiederaufbau vollzog sich zwar im ­­Zeichen behutsamer Öffnung gegenüber dem Weltmarkt, aber die Devisenarmut verwies das Land – ja, siehe Ruhrstatut, ganz Westeuropa – auf die Ruhr als der Grundlage der Industrie überhaupt. Ein weiteres Mal wurden die Kohle zur wirtschaftlichen Grundlage und die Bergleute zu den Hätschelkindern der Industriepolitik. Die allmähliche Umstellung auf Öl ab Ende der 1950er Jahre änderte an dieser Industriestruktur nicht viel und an der technischen Kultur gar nichts. Ihr fühlte sich auch die an Bedeutung zunehmende Konsumgüterproduktion verpflichtet. Für Einheitlichkeit und Traditionsorientierung sorgten nicht zuletzt die Technischen Hochschulen, deren stolzes Ausbildungsziel bis in die jüngste Vergangenheit der grundlagenorientierte und überaus gründlich ausgebildete ‚deutsche Ingenieur‘ war. Die Abschaffung des Diploms kommt daher einer wahren Kulturrevolution gleich, aber der ‚deutsche Ingenieur‘ drohte im internationalen Vergleich offenbar ins Hinter­ treffen zu geraten. Betrachtet man industrielle Arbeit als Zeichen ­­ der Moderne, so war Italien verspätet. Sieht man jene Moderne dagegen mit den Augen des 21. Jahrhunderts, so ist Italien früher in der Gegenwart angekommen, indem es sich auf die Etappe der Industriearbeit, nicht viel anders übrigens als die USA , gar nicht erst ganz eingelassen hat. Solange nicht die Globalisierung die hergebrachte Gewichtsverteilung durcheinander brachte, behauptete sich die italienische Wirtschaft auffallend gut. Auch sie hatte bis Anfang der 1990er Jahre Weltgeltung, war aber natürlich für andere Leistungen berühmt als die deutsche Konkurrenz. Im Hinblick auf die Technikkultur fallen dabei zwei Dinge ins Auge. Erstens die Begabung für innovative, aber klein dimensionierte Produkte wie Motorroller und Kleinwagen, die Anfang der 1950er Jahre einmalig waren; zweitens für Formgebung, die nichts weniger als das Lebensgefühl der europäischen, nicht der amerikanischen Moderne zum Ausdruck bringt: Klasse und Eleganz.51 Ein gutes 51 Zum Thema des Transfers ­dieses Könnens nach Deutschland namentlich in den 1950er Jahren siehe Albrecht Bangert, Italienisches Design in Deutschland oder die Methodik eines modernen Kulturtransfers. In: Gustavo Corni / Christof Dipper (Hg.), Italiener in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Kontakte, Wahrnehmungen, Einflüsse, Berlin 2012, S. 321 – 326.

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­ eispiel für die Kombination beider Stärken ist die legendäre Vespa, die 1946 das Licht B der Welt erblickte und längst Kultstatus erreicht hat; ein anderes der Fiat Cinquecento samt seinem seit 1936 gebauten Vorgänger, dem Topolino. Nicht zufällig erlebt er in unseren Tagen ein Comeback, freilich im ­­Zeichen postindustrieller Spaßkultur. Nicht von ungefähr dient hier ein Auto als Beispiel, weil ­dieses Erzeugnis herkömmlicherweise viel eher mit der deutschen Industrie in Verbindung gebracht wird. Deutschland betrachtet sich schließlich voller Stolz als die Wiege benzingetriebener Vehikel. Blickt man auf die Leidensgeschichte des Smart, der allein in den engen Gassen Italiens erfolgreich ist, so haben dessen Konstrukteure freilich wenig Anlass zu triumphalistischen Gesten. An seiner Misere lassen sich vielmehr bleibende technikkulturelle Unterschiede aufzeigen. Allem voran der Werkstattcharakter deutscher Technik, das Selbstverständnis des aufwandverliebten homo faber, der nicht einfache, sondern aufwendige, teure und gleichsam für die Ewigkeit gebaute Lösungen bevorzugt. Ein gutes Beispiel ist der Katalysator, den die deutsche Automobilindustrie gegen das ungleich billigere und technisch schlichtere Verfahren der Franzosen durchsetzte, die magere Mischungen dank sparsamer Motoren vorgezogen hätten, in Brüssel aber schließlich den kürzeren zogen. Inzwischen haben die deutschen Mittel- und Oberklassekarossen hierzulande denselben Status wie in der Schweiz das Bankgeheimnis. Die ernsthafte Reduzierung von Kohlendioxid in Europa scheitert an den deutschen Hubräumen, die von Kohlenmonoxyd am deutschen Faible für Dieselmotoren – noch jedenfalls. Deutsche Technik hatte und hat eine Tendenz zum over-­engineering, zu einem Übermaß an Aufwand. Deutsche Häuser haben dickere Mauern als in den Nachbarländern und kosten deshalb ein Vielfaches. Deutsche Autos haben ähnliche Merkmale und gleichen in ihren vielbewunderten Paradestücken eher einer verschließbaren und feuerfesten Dokumententruhe als der schon immer gleichsam postmodernen roten Nervosität jenseits der Alpen, wo technische Fehlerfreiheit nicht alles ist und Ästhetik einen umso größeren Stellenwert genießt. Schluss Es ist nicht meine Absicht, das Geschilderte abschließend auf einen Nenner zu bringen und ihm dadurch Gewalt anzutun. Stattdessen möchte ich die eingangs angesprochene Frage der ‚Vielfalt der Moderne‘ und der verschiedenen Wege dorthin aufgreifen. Nichts wäre verfehlter, als in den deutsch-­italienischen Unterschieden Ausprägungen eines wie immer beschaffenen Nationalcharakters zu sehen. Dagegen sprechen schon die enormen Differenzen innerhalb der beiden Länder. Vielmehr handelt es sich um Antworten auf Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume, die natürlich auch bestimmte Dispo­ sitionen hervorbringen und als Traditionen oder Umbrüche an unterschiedlichen Stellen zutage treten. Mag also die Physiognomie der Familie in beiden Ländern, ja im vereinten Europa noch so einheitlich sein: Sozialpolitik, Rechtsfortbildung und Zivilgesellschaft

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determinieren, wenn auch nicht als einzige Einflussgrößen, die Binnenverhältnisse der Familien und damit ihre erheblichen Unterschiede ­zwischen Nord und Süd bzw. West und Ost und nicht nur z­ wischen Deutschland und Italien. Nämliches gilt für die Industrie, wo Rohstoffbasierung, Umstände des Take-­off und Ausbildungssystem sowie weitere Determinanten erklären helfen, weshalb die deutsche Technikkultur eher mit ‚groß‘ und ‚schwer‘, die italienische dagegen mit ‚klein‘ und ‚leicht‘ assoziiert wird, und zwar auch nach dem Ende des Kohlezeitalters. Sosehr wir uns, vor allem ausweislich quantifizierbarer Parameter, seit längerem „auf dem Wege zu einer europäischen Gesellschaft“ befinden,52 sosehr muss zugleich bezweifelt werden, dass wir damit auch schon den Weg zu einer einheitlichen europäischen Kultur eingeschlagen haben. Die europäische Moderne gibt es daher nur, wenn man die Vogelperspektive wählt.

52 Hartmut Kaelble, Auf dem Wege zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880 – 1980, München 1987. Ders./ Martin Hirsch (Hg.), Selbstverständnis und Gesellschaft der Europäer. Aspekte der sozialen und kulturellen Europäisierung im späten 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2007.

Gleichgewicht oder Asymmetrie? Die deutsch-­italienischen Beziehungen vom Zweiten Weltkrieg bis heute Die deutsch-­italienischen Beziehungen beschäftigt die Geschichts- und Politikwissenschaft beider Länder seit längerem nahezu ohne Unterlass, und das provoziert die Frage, ob dies eher ein gutes oder nicht vielleicht ein schlechtes Zeichen ­­ ist; die ständige Rückversicherung gleichsam als das sprichwörtliche Pfeifen im Walde. 2007 wurde daraus ein regelrechter Alarmruf. Enrico Rusconi diagnostizierte die estraniazione strisciante, die „schleichende Entfremdung“, und bekam mit seiner Diagnose große Aufmerksamkeit.1 Damals hat ihm Hans Woller vehement widersprochen, während Stefan Ulrich, Henning Klüver und Angelo Bolaffi ihm zur Seite sprangen. Seither haben sich auf vielen Gebieten die Dinge nicht zum Besseren entwickelt und so hat Bolaffi mit Cuore tedesco monographisch noch einmal nachgelegt und zum Wohle nicht nur Italiens, sondern Europas von der Bundesrepublik die Selbstanerkennung als europäische Hegemonialmacht verlangt.2 So gesehen kann man den Vorstoß Matteo Renzis Mitte Dezember 2015 fast als verspätete Antwort auf Bolaffis Therapievorschlag verstehen, als er nach dem EU -Flüchtlingsgipfel in Brüssel in seiner Pressekonferenz Bundeskanzlerin Merkel angriff und scheinbar unvermittelt lospoltere. „Dobbiamo uscire da questa cultura della subalternità“.3 Genugtuung in der italienischen, Überraschung in der deutschen, ja selbst internationalen Presse. Ungläubig fragte Financial Times nach und erhielt zur Antwort, er schätze Frau Merkel, aber Italien müsse auf Gleichwertigkeit aller 28 Mitgliedstaaten des geeinten Europas beharren. „People used to grimace

1 Das Wort fiel zuerst auf einer Tagung in Trient 2007. Der Tagungsband erschien in zwei ­Sprachen, die deutsche Version hat den Titel: Gian Enrico Rusconi / Thomas Schlemmer / Hans ­Woller (Hg.), Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer, ­München 2008. Der Untertitel fehlt in der italienischen Version, was Rusconis These eines Teils ihres Arguments beraubt. 2 Angelo Bolaffi, Deutsches Herz. Das Modell Deutschland und die europäische Krise, Stuttgart 2014. Das italienische Original erschien 2013. Im Interview mit Sandra Kegel benutzte auch Bolaffi das Wort von der ‚schleichenden Entfremdung‘. Deutschland ist für uns der Bösewicht – zu Unrecht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 12. 2014, S. 15. 3 „Wir müssen aus dieser Kultur der Unterordnung herauskommen“. Vertice Ue: terrorismo, banche. Renzi a Merkel: „Non raccontarci che donate sangue all’Europa“; Repubblica, 18. 12. 2015 (http:// www.repubblica.it/esteri/2015/12/18/news/consiglio_europeo_vertice_ue-129743907/ [19. 12. 2015]). Laut Corriere della Sera sagte Renzi: „Nemmeno bisogna sembrare subalterni, come forse può essere sembrato che fossimo in passato“ („Nicht im entferntesten dürfen wir den Eindruck einer untergeordneten Position erwecken, wie das früher vielleicht der Fall gewesen sein mag“); Vertice Ue, tensione Renzi Merkel. „Non dite che donate sangue“; Corriere della Sera, 19. 12. 2015 (http://www.corriere.it/esteri/15_dicembre_18/ue-­germania-­nessun-­conflitto-­il-­governo-­italiano -9cc90aa0-a57b-11e5-a238-fd021b6faac8.shtml [19. 12. 2015]).

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when Italy spoke, but that era is over. There’s another Italy now which is in a position to say what it thinks of Europe“.4 Es sind vorwiegend Italiener, die das Klagelied anstimmen, während Deutsche zu widersprechen suchen oder überhaupt die Ansicht vertreten, das deutsch-­italienische Verhältnis sei von einem wachsenden Grad an Gemeinsamkeiten (Jens Petersen),5 von unaufhaltsamer Annäherung (Rudolf Lill),6 wenn nicht gar von „special relationship“ (Hans ­Woller)7 gekennzeichnet. Nur Antonio Missiroli kommt zum selben Urteil wie Jens Petersen,8 während der geopolitisch denkende Lucio Caracciolo die „Angst vor Deutschland“ als Leitmotiv des Verhältnisses zum Nachbarn im Norden auszumachen glaubt.9 Das sollte zu denken geben. Ist der italienische Blick ein anderer als der deutsche, und wollen das die Deutschen, womöglich aus notorisch schlechtem Gewissen, nicht gerne wahrhaben? Das würde gut zur These der von vielen Parallelen geprägten deutschen und italienischen Geschichte passen, die nach 1945 ebenfalls vorwiegend in Deutschland anzutreffen ist.10 Die Antwort darauf verlangt vorneweg eine Klärung der Frage, was unter ‚Beziehungen‘ verstanden werden soll. Jedenfalls nicht nur die der ‚großen Männer‘. Missiroli hat einen Vorschlag gemacht, der ganz allgemein den komplex gewordenen Bedingungen der Gegenwart gerecht zu werden versucht. Er unterschied z­ wischen dem schwer zu erfassenden, volatilen „Verhältnis“ und den besser zu konkretisierenden „Beziehungen“, fügte aber sogleich hinzu, z­ wischen beide schiebe sich wie eine „Schnittstelle“ ein Ensemble von Filtern, bestehend aus den Medien und einem sehr kleinen Kern sachkundiger Kommentatoren und Analytiker. Hinzu komme die politisch wirksame gelebte Erfahrung vieler Menschen (durch Migration, Tourismus sowie wirtschaftliche und wissenschaftliche Kontakte bzw. Austausch), die in der jüngeren Vergangenheit

4 Eurozone austerity fanning populist flames, says Renzi; Financial Times, 21. 12. 2015 (http://www. ft.com/intl/cms/s/08ba78f8-a805 – 11e5 – 955c-1e1d6de94879 [22. 12. 2015]). 5 Jens Petersen, Deutschland – Italien. Eine fruchtbare und spannungsreiche Nachbarschaft. In: Zibaldone, H. 16 (1993), S. 5 – 16. 6 Rudolf Lill, Die Bundesrepublik Deutschland und Italien. Etappen einer europäischen Annähe­ rung. In: Fridericiana. Zeitschrift der Universität Karlsruhe (TH), H. 47 (1993), S. 27 – 37. 7 Hans Woller, Vom Mythos der schleichenden Entfremdung. In: Rusconi / Schlemmer / Woller (Hg.), Schleichende Entfremdung? (wie Anm. 1), S. 23. Woller übernahm den englischen Begriff von einem amerikanischen Autor, der ihn freilich auf die italienisch-­amerikanischen Beziehungen gemünzt hatte. James Edward Miller, Der Weg zu einer „special relationship“. Italien und die Vereinigten Staaten 1943 – 1947. In: Hans Woller (Hg.), Italien und die Großmächte 1943 – 1949, München 1988, S. 49 – 68. Tiziana Di Maio hat das aufgenommen; Tiziana Di Maio, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer. Zwischen Überwindung der Vergangenheit und europäischem Integrationsprozess (1945 – 1954), Frankfurt am Main 2014 (ital. Original 2004), S. 339 ff. 8 Antonio Missiroli, Italia – Germania. Le affinità selettive. In: Il Mulino, H. 44/2 (1994), S. 26 – 40. 9 Lucio Caracciolo, Angst vor Deutschland. Wie man mit Germanophobie Geopolitik macht. In: Gian Enrico Rusconi / Hans Woller (Hg.), Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945 – 2000, Berlin 2005, S. 505 – 526. 10 Dazu unten: Ferne Nachbarn. Aspekte der Moderne in Deutschland und Italien.

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enorm zugenommen hat, und endlich die zumeist k­ urzen, aber bleibende Eindrücke vermittelnden Ereignisse massenkulturellen Charakters (unter ihnen neuerdings vor allem der Fußball).11 Petra Terhoeven hat dagegen mit den von ihr vorgestellten fünf Bestimmungsgrößen des deutsch-­italienischen Verhältnisses die Sache enger gefasst und damit auch besser handhabbar gemacht. Es ­seien dies echte politische Übereinstimmung, realpolitische Kalküle, Interessen, parteipolitische Zwänge und Reste gegenseitigen Misstrauens. Sie fügte gleich hinzu, dass damit für das deutsch-­italienische Verhältnis schwierigere Bedingungen herrschten als für andere westliche Länder (Frankreich ausgenommen)12 – ein klares Votum gegen die oben zitierten, Harmlosigkeit beschwörenden Aussagen namentlich von deutscher Seite. Die Umsetzung ihres Vorschlags würde den zur Verfügung stehenden Raum bei weitem sprengen. Hier sollen im Folgenden lediglich die Beziehungen im Sinne Missirolis behandelt werden, freilich mit Terhoevens Caveat im Hinterkopf, dass sie stets spannungsgeladen waren. Der Obertitel, an Ludwig Dehios seinerzeit bahnbrechender Studie von 1948 angelehnt,13 stellt gewissermaßen den basso continuo deutsch-­italienischer Beziehungen auf höchster politischer Ebene dar. Gleichgewicht ist die Maxime, Asymmetrie, wahrgenommen als Hegemonie, die sich allmählich herausbildende, unübersehbare, aber nicht bewusst angestrebte Tatsache. Die Gewichtsverschiebung kann nicht folgenlos bleiben. Das ist die These ­dieses Aufsatzes. Er bietet daher keine in strengem Sinne Entwicklungsgeschichte, sondern, um im Bild zu bleiben, Modulationen des Leitgedankens, getragen von der ebenso fundamentalen wie letztlich banalen Tatsache, dass die außenpolitischen Aktivitäten nach wie vor von nationalen Interessen bestimmt sind und keineswegs im Zuge der entstehenden europäischen Einigung in dieser aufgingen bzw. aufgehen. Die Renaissance des Nationalstaats (vielfach in neuer Gestalt und veränderter Funktion 14) seit 1990 parallel zum Ausbau der europäischen Institutionen, in den neu zur Union hinzugestoßenen Ländern des ehemaligen Ostblocks stärker gelebt als in ihren Gründerstaaten und in Großbritannien 2016 zum Brexit führend, ist der paradoxe und darum gerne ignorierte Sachverhalt, der die Krise der Europäischen Gemeinschaft ebenso erklärt wie die zunehmenden Friktionen der deutsch-­italienischen Beziehungen. Die politikorientierte Geschichtsschreibung mit ihrer Fixierung auf Daten und offizielle Dokumente geht wie selbstverständlich von einer durch 1945 ausgelösten

11 Missiroli, Italia – Germania (wie Anm. 8), S. 39. 12 Petra Terhoeven, Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der 70er Jahre als transnationales Phänomen, München 2014, S. 516. 13 Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Krefeld 1948. Die das Buch tragende Hauptthese, der gleichsam naturwüchsige Machttrieb als Hauptantriebskraft der europäischen Staatengeschichte, ist für ­dieses Thema ungeeignet. 14 Es geht neuerdings vor allem um Identitätsbewahrung, Schutz sozialer Standards und Korrektur von Folgen der fehlkonstruierten Währungsunion.

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Stunde Null in den deutsch-­italienischen Beziehungen aus. Nach 1945 war das eine oft zu hörende Diagnose, massenmedial verbreitet durch den zu Teilen im Spätjahr 1947 in Berlin gedrehten und 1948 in die Kinos gekommenen Film Roberto Rosselinis Germania anno zero. Aber gerade der Umstand, dass Rosselini damals in Berlin ­filmen konnte (und anschließend deutsche Darsteller mit nach Italien nahm), lässt die Vorstellung vom vollständigen Abbruch aller Beziehungen fragwürdig erscheinen. In der Tat: Wenn man die Perspektive weitet und einerseits die Wirtschaft in den Blick nimmt und andererseits die Geschichte ‚von unten‘ betrachtet, bekommt man ein anderes Bild zu sehen.15 In ihm zeigt sich viel mehr Fortsetzung als zumeist angenommen, und zwar schon deshalb, weil bei Kriegsende sich nicht nur Hunderttausende Soldaten gezwungenermaßen, sondern auch viele Tausende Zivilpersonen freiwillig und oft seit langer Zeit im jeweils anderen Land aufhielten, dort Wurzeln geschlagen hatten, ihrer Arbeit nachgingen oder sie so rasch als möglich wieder aufzunehmen wünschten. Alles in allem kann man für das gegenseitige Verhältnis in den zehn Jahren nach 1945 eine dreistufige Entwicklung feststellen. Im vorpolitischen Raum, der das private Leben ebenso wie wissenschaftliche und gewerblich-­industrielle Kontakte umfasst, wurden die Beziehungen, sofern überhaupt unterbrochen, schon sehr bald wieder aufgenommen. Das gilt auch für den grenzüberschreitenden Postund Bahnverkehr. Politische Kontakte, beschränkt auf Christdemokraten, ließen ebenfalls nicht lange auf sich warten. Sie bilden den Übergang zur zweiten Stufe, den diplomatischen Beziehungen, die natürlich die Gründung der Bundesrepublik zur Voraussetzung hatten, während es konsularische Kontakte schon seit 1946/47 gab. Erst auf der dritten und letzten Stufe erscheinen die offiziellen Kulturkontakte, denn gerade in Italien mussten angesichts der kulturellen Hegemonie der Linken mit ihren erheblichen Vorbehalten gegenüber Westdeutschland viele Jahre ins Land gehen, bevor die deutschen Kulturinstitute zurückkehren durften und ihre beschlagnahmten Gebäude und Bibliotheken zurückerhielten. Politische Kontakte beschränkten sich, wie eben schon angesprochen, zunächst auf die Christlichen Demokraten beider Länder, weil die SPD angesichts ihrer Exilerfahrungen lange Zeit ganz auf Großbritannien fixiert blieb. Es war der bayerische CSUVorsitzende Josef Müller, der schon vor dem Krieg enge Verbindungen zu kirchlichen Kreisen im allgemeinen und zum Vatikan im besonderen und als entschiedener Gegner des NS-Regimes im Auftrag des Amtes Ausland/Abwehr des OKW bis zu seiner Verhaf­ tung im April 1943 mehrfach in Rom die Bereitschaft von Papst Pius XII. zur Vermittlung von Friedensverhandlungen mit den Westalliierten sondiert hatte,16 der Anfang September 1947 über einen Mittelsmann Alcide De Gasperi brieflich um die Aufnahme 15 Einzelheiten oben in: Unversehens in Feindesland. Deutsche und Italiener in der Nachkriegszeit. 16 Dazu neben Müllers eigenen Erinnerungen (Josef Müller, Bis zur letzten Konsequenz, Ein Leben für Frieden u. Freiheit, München 1975) vor allem Romedio Graf Thun-­Hohenstein, Der Verschwörer. General Oster und die Militäropposition, Berlin 1982, S. 148 f., 189 ff., 236 ff.

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parteipolitischer Kontakte bat.17 Inhaltlich beschränkte er sich auf den Wunsch, mit Gottes Hilfe gemeinsam „ein auf die christlich-­abendländische Kultur gegründetes Europa zu schaffen“.18 1947 war das diesseits der Sozialisten bzw. Sozialdemokraten politisch gängige Münze und entsprechend wenig originell. Als im Mai 1948 Müllers Vertrauter, der Landtagsabgeordnete Otto Schefbeck, anlässlich seines Besuchs der Mailänder Messe mit dem dortigen DC-Sekretär Giovanni Spagnolli, einem gebürtigen Trentiner, der fließend Deutsch sprach, gegenseitige Einladungen zu Parteikongressen besprach, war die Entwicklung aber schon viel weiter. Zwei Jahre nach Kriegsende, 1947, war in Europa und namentlich in Mitteleuropa von wirtschaftlicher Erholung kaum etwas zu spüren und die Amerikaner wurden es leid, auf unbestimmte Zeit den Kontinent mit Hilfslieferungen, die den Charakter von Almosen hatten, über Wasser zu halten. Eng damit verbunden war die Sorge vor der Bedrohung durch den Kommunismus. In Frankreich hatte die Kommunistische Partei 28,5 Prozent der Wählerstimmen erhalten, in Italien 19, und ob die Westdeutschen angesichts von Hunger und Elend den Versprechungen Stalins länger würden standhalten können, schien ebenfalls ungewiss. Die US -Regierung änderte daher nach der ergebnislosen Außenministerkonferenz in Moskau Ende April ihre Europapolitik. Unversehens befand man sich im Kalten Krieg, der den Blick auf Westdeutschland zwangsläufig drastisch verändern sollte. Seine lange Grenze zum kommunistisch beherrschten Teil Europas, seine schwache Landwirtschaft, seine noch immer stark gestörte Infrastruktur, aber seine trotz der Bombardements vergleichsweise gut arbeitende Schwerindustrie waren auf einmal zur ‚Rettung des Abendlandes‘ unverzichtbar. Man brauchte die Deutschen, egal wie gut sie inzwischen politisch umerzogen, d. h. vor allem entnazifiziert und demokratisiert waren.19 Also entwarfen die Amerikaner 1948 zur entschiedenen Unterstützung Europas den Marshall-­Plan und verlangten, dass die Europäer die Gelder gemeinsam verwalten und verteilen, die (West-)Deutschen eingeschlossen. Den Siegern, Engländern und besonders Franzosen, sofern sie nicht zu den Anhängern Robert Schumans zählten, war das anfangs schwer vermittelbar. Die italienische Regierung hingegen brauchte nicht lange überzeugt zu werden, sie nutzte die veränderte europa-, wenn nicht weltpolitische Konstellation, um als Fürsprecherin der Westdeutschen die eigene Aufwertung voranzubringen. Die Christdemokraten beider Länder zogen an einem Strang. Die Voraussetzungen dazu wurden gerade in ­diesem entscheidenden Jahr geschaffen. In der neutral gebliebenen Schweiz mit ihrer intakt gebliebenen Infrastruktur 17 Ich stütze mich hier im Wesentlichen auf Di Maio, De Gasperi (wie Anm. 7), Kap. 2. 18 Zit. ebd., S. 180. 19 Sehr anschaulich sind die pragmatischen Überlegungen George F. Kennans, der von Außenminister Marshall mit der Umplanung der amerikanischen Europapolitik beauftragt worden war. George F. Kennan, Memoiren eines Diplomaten, Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 328 ff. Zu Deutschland S. 336 f. (aus einer Ansprache Kennans vor der US-amerikanischen Kriegsakademie am 6. Mai 1947).

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und vergleichsweise guten Versorgungslage versammelten sich neben etlichen anderen mit der Rettung Europas befassten Organisationen auch die westeuropäischen Christdemokraten. Nach 1946 begonnenen Vorarbeiten begegneten einander die Führungspersönlichkeiten zu vertraulichen Gesprächen im Rahmen des sogenannten Genfer Kreises, während die Parteiorgane sich in den 1947 gegründeten Nouvelles Équipes Internationales zusammenfanden. „Deutschland exkulpieren und Europa aufbauen“ – das war die selbstgestellte Aufgabe dieser Gesprächskreise, die so wichtig wie kurzlebig waren, denn nach der Institutionalisierung internationaler Gremien hatten diese transnationalen Gesprächskreise viel von ihrer ursprünglichen Bedeutung verloren.20 Anfangs jedoch dienten sie neben dem Aufbau vertrauensvoller Kontakte der vertraulich bleibenden Rückendeckung der Protagonisten gegenüber ihren innerparteilichen Widersachern und Gegnern in anderen Parteien. So durfte etwa Georges Bidault (er vertrat Schuman, der nie zu diesen Treffen kam, weil der MRP eine institutionalisierte Verbindung mit anderen christdemokratischen Parteien ablehnte) damals unter keinen Umständen erkennen lassen, dass er sich mit deutschen Politikern traf, während Konrad Adenauer die dort erlangte Rückversicherung benötigte, um Anhängern einer gesamtdeutsch-­neutralistischen Deutschlandpolitik wie Heinrich Brüning und Jakob K ­ aiser in der eigenen Partei oder Kurt Schumacher in der SPD bzw. Reinhold Maier in der FDP /DVP überzeugend entgegentreten zu können. Die italienischen Christdemokraten waren allerdings so gespalten und brachten die eigene Regierung derart in Schwierigkeiten, dass De Gasperi sich damals keine noch so kurze Abwesenheit leisten konnte;21 so kamen immer nur Vertreter der zweiten Garnitur zu den Gesprächen. Italiener spielten daher, wie ­später lange Zeit auch in Brüssel,22 keine große Rolle. Bezeichnenderweise nahm die bis heute kaum bekannte DC -Journalistin Lina Morino 23 oft die wichtigste Rolle bei den Gesprächen mit Politikern anderer Länder ein.

20 Näheres bei Wolfram ­Kaiser, Deutschland exkulpieren und Europa aufbauen. Parteienkooperation der europäischen Christdemokraten in den Nouvelles Equipes Internationales. In: Michael Gehler u. a. (Hg.), Christdemokratie im 20. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2001, S. 695 – 719; sowie Michael Gehler, Begegnungsort des Kalten Krieges. Der „Genfer Kreis“ und die geheimen Absprachen westeuropäischer Christdemokraten 1947 – 1955. Ebd., S. 642 – 694. 21 Andreotti, damals persönlicher Sekretär De Gasperis, musste diesen von der Pariser Friedenskonferenz vorzeitig zurückrufen, weil Giovanni Gronchi und der nicht näher zu erschließende Anwalt Padoan mit ihren Flügeln die Regierung in große Schwierigkeiten brachten. Di Maio, De Gasperi (wie Anm. 7), S. 143. 22 „Bruxelles era considerato una specie di esilio dalle delizie di Montecitorio“ („Brüssel galt als eine Art Vertreibung aus dem Paradies namens Montecitorio“, dem Sitz der Abgeordnetenkammer und seiner damit verbundenen zahlreichen Privilegien). Paul Ginsborg, L’Italia del tempo presente. Famiglia, società civile, Stato 1980 – 1996, Turin 1998, S.453. 23 Informationen zu ihr unter http://www.consiglio.regione.lazio.it/binary/consiglio_regionale/ tbl_eventi_consulta/Schede_delle_donne_presentate_convegno_150_anni.pdf, S.  2 (13. 1. 2016).

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Statt weiterer Details hier nun die für die deutsch-­italienischen Beziehungen maßgeblichen Bindeglieder:24 erstens die gemeinsame, traumatische totalitäre Erfahrung; zweitens das Wissen, im Ost-­West-­Konflikt an vorderster Front zu stehen; drittens der neuerlich sich kraftvoll manifestierende politische Katholizismus – er sollte in den 1970er Jahren vom ostpolitischen Aufbruch der Linksparteien abgelöst werden ‒ und viertens der Umstand, dass es sich ab 1948/49 um die ersten postnationalen Staaten Europas handelte 25 bzw., um korrekt zu sein, dass ihre maßgeblichen Führungspersönlichkeiten, aber auch große Teile der Öffentlichkeit, hergebrachte nationale Selbstverständlichkeiten auf wirtschaftlichem, militärischem und politischem Gebiet der friedlichen Zukunft in freilich unterschiedlichem Ausmaß zu opfern bereit waren. Daraus leiteten sich Grundsätze ab, die natürlich ebenfalls ein hohes Maß an Übereinstimmung aufwiesen. Oberste Priorität hatte die Einsicht, dass beide Länder – von denen das eine nicht einmal mehr über zentrale Institutionen verfügte –, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, „Pariastatus“26 besaßen, den sie so rasch als möglich loswerden wollten. Der kürzeste Weg dazu führte für beide über Europa, denn jenseits aller nostalgisch-­katholischen Abendlandrhetorik und medienwirksamen Zerstörung von Schlagbäumen durch Mitglieder der Jungen Europäischen Föderalisten bot nur der Interessenausgleich in einem institutionalisierten europäischen Rahmen eine Chance für politischen und wirtschaftlichen Wiederaufstieg und nur so konnte man hoffen, dass sich die USA, die einen politischen Zusammenschluss seit Außenminister Byrnes‘ Stuttgarter Rede von 1946 öffentlich propagierten, für längere Zeit auch materiell engagierten. Eine kaum zu umgehende politische Aporie war es, dass sämtliche pro-­europäischen Aktivitäten letztlich nationalen Interessen dienten. Den skeptisch gebliebenen Wählern gegenüber hat man das von Anfang an eingestanden. So sagte etwa der ganz und gar enthusiastische Europapolitiker und italienische Außenminister Carlo Sforza im Sommer 1948 seinen Zuhörern, nachdem er an das Manifest von Ventotene 1941 erinnert hatte,27 wegen des Ansehens- und Bedeutungsverlusts

24 Nach Angelo Bolaffi, Eine unendliche Geschichte als Fortsetzungsroman? In: Rusconi / ­Schlemmer / Woller (Hg.), Schleichende Entfremdung? (wie Anm. 1), S. 38 f. Bolaffis fünftes Element, die gemeinsame Eigenschaft als ‚verspätete‘ Nation, geht m. E. im vierten auf. 25 Die italienische Verfassung vom 1. 1. 1948 räumt in Art. 11, das Grundgesetz vom 23. 5. 1949 in Art. 24 Souveränitätsverzicht zugunsten überstaatlicher Organisationen ein. 26 Woller, Vom Mythos. In: Rusconi / Schlemmer / Woller (Hg.), Schleichende Entfremdung? (wie Anm. 7), S. 19. Maddalena Guiotto betont dagegen die erheblichen Unterschiede ­zwischen ­beiden Ländern, besonders nach dem Friedensvertrag von 1947. Maddalena Guiotto, Der Europagedanke in den christdemokratischen Parteien. CDU/CSU und DC in den fünfziger Jahren. In: Rusconi / Woller (Hg.), Parallele Geschichte? (wie Anm. 9), S. 178 f. 27 Das Manifest von Ventotene (eigentlich „Per un’Europa libera e unita. Progetto d’un manifesto“) ist eine 1941 auf Ventotene, der ihnen als Zwangsaufenthalt zugewiesenen Insel im Tyrrhenischen Meer, verfasste programmatische Schrift der italienischen Antifaschisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni, in der diese das Ideal eines europäischen Föderalismus entwarfen.

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der Europäer im Gefolge zweier Weltkriege „dobbiamo dirci che se non vogliamo fare l’unità dell’Europa per amore, dovremo farla per interesse.“28 Der instrumentelle Charakter der Europapolitik ist also offensichtlich. De Gasperi leitete aus ihr ein Mitspracherecht bei der ‚deutschen Frage‘ ab,29 Adenauer die Gleichberechtigung des deutschen Reststaates.30 Beide versprachen sich davon die Rückkehr ihres Landes in die Staatengemeinschaft. Bei genauem Zusehen waren die Positionen jedoch schon damals asymmetrisch und diese Asymmetrie war kein Zufall. Aus italienischer, und nicht nur italienischer, Perspektive war selbst das derzeit am Boden liegende Deutschland wegen seiner geistigen und militärischen Traditionen und wegen seiner Wirtschaftskraft eine potentielle Bedrohung. Der Letztgrund kollektiver Bündnisse in Westeuropa war darum mit den legendären Worten Lord Ismays, des ersten NATO-Generalsekretärs, „to keep the Americans in, the Russians out and the Germans down“. Kurz: „Ohne die Angst vor Deutschland hätten wir heute keine Europäische Union“.31 Die beiden ersten Ziele Ismays bzw. der NATO teilten mit Adenauer Millionen Deutsche, aber von Italien ist in ­diesem Zusammenhang, d. h. in deutschen Quellen zur strategischen Verortung des Landes nie die Rede. Niemand konnte sich vorstellen, die Italiener zur Re-­Integration nötig zu haben. Den deutsch-­italienischen Beziehungen, bevor sie überhaupt auf diplomatischer Ebene beschlossen und eingerichtet wurden, haftete so gesehen eine Asymmetrie des Letztgrundes an: Sicherheit und Gleichberechtigung von italienischer Seite, Pragmatik von deutscher. Gleichgewicht statt Asymmetrie war das wichtigste italienische Anliegen, hinter dem sich ein erfahrungsgesättigter italienischer Minderwertigkeitskomplex 28 „Wir müssen uns sagen, dass wir, wenn schon nicht aus Liebe, dann aus Eigeninteresse die Einheit Europas herstellen müssen“. Prolusione pronunciata all’Università per gli stranieri in Perugia il 18 luglio 1948. In: Carlo Sforza, Cinque anni a Palazzo Chigi. La politica estera italiana dal 1947 al 1951, Rom 1952, S. 486. 29 „Unsere historisch-­geographische Lage verleiht uns […] den Charakter eines Vermittlers, der auch Deutschland für ­dieses neue Europa und für die Form der Demokratie gewinnen möchte“. Rede in der Abgeordnetenkammer im Frühjahr 1948. Anlass war der Brüsseler Pakt vom 17. 3. 1948, ein Militärbündnis ­zwischen Großbritannien, Frankreich und den Benelux-­Ländern, also ohne Italien und natürlich erst recht ohne deutsche Beteiligung. Zit. Guiotto, Europagedanke (wie Anm. 26), S. 181. 30 „Das weitere Ziel habe ich eben schon genannt: Die Schaffung eines föderativen Europas unter Einbeziehung Deutschlands als gleichberechtigtes und gleichverpflichtetes Land. Nur wenn das erreicht wird, wird Deutschland und Europa und damit die Welt auch wieder zum Frieden kommen (starker, lang anhaltender Beifall)“. Konrad Adenauer, Rede vor Studenten der Universität Bonn, 21. 7. 1948. In: Ders., Reden 1917 – 1967. Eine Auswahl, hg. v. Hans-­Peter Schwarz, Stuttgart 1975, S. 121. Die Formel des gleichberechtigten und gleichverpflichteten Landes begegnet bei Adenauer in jenen Jahren sehr häufig. 31 Das Ismay-­Zitat und die zitierte Ableitung bei Caracciolo, Angst (wie Anm. 9), S. 505 f. Zur Angst vor Deutschland als politischer Konstante, aber nur Frankreich und Polen als Fallstudien untersuchend, jetzt Pierre-­Frédéric Weber, Timor Teutonorum. Angst vor Deutschland seit 1945. Eine europäische Emotion im Wandel, Paderborn 2015.

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namentlich gegenüber Deutschland verbarg, während die Westdeutschen natürlich keine Asymmetrie anstrebten, aber zehn Jahre nach Kriegsende Italien einfach überholt hatten: wirtschaftlich als Folge des sogenannten Wirtschaftswunders, politisch wegen ihrer geopolitischen Schlüsselstellung. Das blieb in Rom nicht unbemerkt. Die junge Bundesrepublik war noch nicht einmal souverän, da wurde italienischerseits schon die Warnung vor deutscher Hegemonie laut. Ministerpräsident Mario Scelba sagte in einer Kabinettssitzung 1954: „Wir werden nicht tolerieren, dass Deutschland eine weitere Großmacht wird, wenn wir in einer niedrigen Stellung bleiben.“32 Im folgenden Jahr stellten die in Italien akkreditierten deutschen Konsuln bei ihrer Jahreskonferenz fest, dass die Bedeutung Westdeutschlands zu-, diejenige Italiens dagegen abgenommen habe und dass die Italiener „eine bestimmte Eifersucht“ wegen der gewachsenen Bedeutung der Bundesrepublik erkennen ließen; die Beziehungen hätten sich seit den Zeiten De Gasperis abgekühlt. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, ein paar Worte zur Rolle der persönlichen Beziehungen ­zwischen Spitzenpolitikern verschiedener Länder zu machen. Es hat sich seit langem eingebürgert, Adenauer und De Gasperi gewissermaßen zum Dioskurenpaar des deutsch-­italienischen Verhältnisses, ja zu den „Gründungsvätern Europas“33 zu erklären, deren persönliche Freundschaft die bilaterale und Europapolitik wenn schon nicht begründet, so jedenfalls stark vereinfacht habe. Man übersieht dabei leicht, dass ­solche Redensarten in Deutschland schon zeitgenössisch begegnen, in Italien aber nicht. Von Adenauer sind Aussagen dazu überliefert, öffentliche sowieso,34 aber auch in internen Dokumenten.35 De Gasperi hat sich mit derartigen Zeugnissen dagegen zurückgehalten. Sein politischer Ziehvater, Don Sturzo, hielt sich sogar für verpflichtet, seinen Zögling noch nach dessen Tode ausdrücklich vor der Behauptung in Schutz nehmen zu müssen, dessen Politik sei Ergebnis seiner Deutschfreundlichkeit.36 In der Tat 32 Zit. Federico Scarano, Antonio Segni und Deutschland. In: Michael Gehler / Maddalena Guiotto (Hg.), Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa. Ein Dreiecksverhältnis und seine wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart, Wien, Köln, Weimar 2012, S. 154. Das nächste Zitat ebd. 33 Wolfgang Schäuble, De Gasperi und Adenauer – Gründungsväter Europas. Zit. Eike Petering, Altkanzler und Denkmäler. Strategien des Erinnerns, Norderstedt 2011, S. 42. 34 Die immer wieder zitierte Passage „Mit de (sic) Gasperi verband mich eine aufrichtige Freundschaft“ findet sich allerdings erst in Band 3 seiner Memoiren. Konrad Adenauer, Erinnerungen 1955 – 1959, Stuttgart 1967, S. 259. 35 Adenauer schrieb an Schuman am 23. 8. 1951: „Ich werte es hierbei als besonders günstiges, ja glückliches ­­Zeichen, daß die ganze Last der gesellschaftlichen Aufgaben auf den Schultern von Männern ruht, die wie Sie, unser gemeinsamer Freund, Ministerpräsident de (sic) Gasperi, und ich von dem Willen erfüllt sind, den Neuaufbau der europäischen Welt auf christlichen Grundlagen zu entwickeln und zu verwirklichen“. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1949/51, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München 1989, S. 463. 36 „Das Handeln De Gasperis war nicht von Germanophilie bestimmt; er besaß noch den Argwohn des Gebirglers und die Erinnerungen an die Beziehungen ­zwischen Wien und Berlin vor dem

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pflegte De Gasperi den instrumentellen Charakter seiner Haltung gegenüber Deutschland zu betonen.37 Die beiden gemeinsame Wertordnung hat die politische Zusammenarbeit fraglos erleichtert: katholische Prägung, sozialmoralischer Konservatismus, Vatikanbindung, Antikommunismus, Westorientierung; hinzu kommt De Gasperis enge Vertrautheit mit der deutschen Kultur. Aber die sich über Jahrzehnte erstreckende Asymmetrie des Freundschaftsnarrativs legt die Vermutung nahe, dass sich hinter ihm selber Absichten verbergen oder aber eine zutiefst laienhafte Vorstellung von Politik, gar Außenpolitik. Politiker sehen es als ihre Aufgabe an, parteipolitisch beeinflusste Vorstellungen von nationalen Interessen zur Geltung zu bringen, und daher spielen Bilder, Zwänge und Kalküle eine erhebliche Rolle. Deshalb sei an Petra Terhoevens fünf Bestimmungsgrößen des deutsch-­italienischen Verhältnisses erinnert.38 Wenn die deutschen Konsuln von abgekühlten Beziehungen im Jahre 1955 berichten, überrascht das angesichts der Tatsache, dass gerade in d­ iesem Jahr das deutsch-­italienische Anwerbeabkommen unterzeichnet wurde, das angesichts der seit 1939/40 drastisch gesunkenen Auswanderungsmöglichkeiten für Italien 39 sehr wichtig war. Und dass in der zweiten Jahreshälfte 1955 Antonio Segni Ministerpräsident war, der zu Adenauer eine ebenso intensive persönliche Beziehung entwickelte wie der soeben gestorbene De Gasperi.40 Die Abkühlung, von der die Konsuln berichteten, hatte nichts mit Antipathie zu tun, vielmehr stand Scelba einem Mitte-­Links-­Kabinett vor und war schon dadurch an jedem Anschein von Deutschfreundlichkeit gehindert, Segni wiederum einer rein christdemokratischen Minderheitsregierung, der es genügte, dass sie im Parlament von den (damals weit rechts stehenden) Liberalen unterstützt wurde. Damit kommen die italienischen Kommunisten einerseits in den Blick und andererseits die geradezu staatstragende Rolle des Antikommunismus in der deutschen politischen Kultur bis zum Fall der Mauer. Er stieß, je länger desto mehr, auf Unverständnis seitens italienischer Politiker – von den Intellektuellen ganz zu schweigen – und verursachte erhebliche bilaterale Spannungen in den 1970er Jahren, als die DC unter Moro den ‚historischen Kompromiss‘ anstrebte.41 Denn immer, wenn sich die italienischen Christdemokraten

­ rsten Weltkrieg. Aber was Europa anging, sah er klar, dass es sich nur geeint retten konnte“. E Luigi Sturzo, Prefazione. In: Edgar Alexander, Adenauer e la nuova Germania, Neapel 1959, S. 41 f. Zit. Pietro Scoppola, Alcide De Gasperi – Konrad Adenauer. Ähnlichkeiten und Unterschiede. In: Rusconi / Woller (Hg.), Parallele Geschichte? (wie Anm. 9), S. 213. 37 Wie Anm. 29. 38 Wie Anm. 12. 39 De Gasperi hatte im April 1947 geradezu flehentlich an Präsident Truman geschrieben: „Solange Italien nicht wieder auf den Tourismus, auf die Emigration und auf den Seehandel zählen und seine Exporte nach Deutschland wiederaufnehmen kann, ist eine ausgeglichene Handelsbilanz nicht zu erreichen.“ Zit. Guiotto, Europagedanke (wie Anm. 26), S. 180. 40 Wie Anm. 32. 41 Der compromesso storico „konnte nicht ohne Auswirkungen für die deutsch-­italienischen Beziehungen bleiben“; Terhoeven, Deutscher Herbst (wie Anm. 12), S. 468.

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auf die KPI zubewegten, verschlechterten sich die Regierungskontakte, ganz unabhängig, w ­ elche Partei in Bonn den Kanzler stellte. Die von Spaltung und KPD-Verbot geprägten deutschen politischen Eliten irritierte dauerhaft die Stärke der Kommunistischen Partei in Italien. Adenauer erklärte sich deren Stärke mit der „zum Teil unvorstellbaren Not der Bevölkerung“ vor allem „im südlichen Teil des Landes“,42 und selbst als die KPI in den späten 1970er Jahren geradezu zur staatstragenden Partei wurde und „über jedes Stöckchen sprang, das ihr die Christdemokraten hinhielten“,43 verkündete Helmut Schmidt auf einer Pressekonferenz 1976, er wünsche keine Kommunisten an der Regierung in irgendeinem Land der Erde, und sei es Italien.44 „So wichtig eine gute italienisch-­deutsche Zusammenarbeit war, zu einem erfolgreichen Abschluß der europäischen Einigung waren von entscheidender Bedeutung die französisch-­deutschen Beziehungen“, schrieb Adenauer 1966 im Blick auf 1956.45 Mit Europa verband Bonn zunächst die Rückkehr in die Staatengemeinschaft, dann Schutz vor der russischen Bedrohung und nicht zuletzt Sicherung seiner wirtschaft­ lichen Interessen. Italien dagegen sah in einem geeinten Europa vor allem eine Sicherung vor deutscher Hegemonie. Damit war und ist es nicht allein. Auch der Euro verdankt sich wesentlich jener verbreiteten „Vorstellung von Integration, die auf Eindämmung Deutschlands abzielt“.46 Dass die fehlkonstruierte Währungsunion das Gegenteil daraus gemacht hat, ist einer der wichtigsten Gründe für die gegenwärtige Krise der Europäischen Union und für die Wiederkehr des Nationalstaats, von dem man sich den Schutz der unterschiedlichen nationalen Sozialmodelle erhofft. Für unser Thema ist jedenfalls die Erkenntnis wichtig, dass das italienisch-­deutsche Verhältnis nach 1945 im Grunde nur mit Blick auf Europa erklärlich ist und die rein bilaterale Perspektive Wichtiges verdeckt. Und dieser Blick auf Europa hatte, wie schon mehrfach betont, unterschiedliche Motive. Der Umgang mit der Deutschlandfrage bot bis zur Wiedervereinigung immer wieder Anlass zur Verstimmung, denn Italien hielt sich seit De Gasperi für berechtigt, zu den Gesprächen beigezogen zu werden. Um dies zu unterstreichen, bot die Regierung Segni in der Suezkrise 1956, als Frankreich und Großbritannien gewissermaßen auf der Anklagebank der Weltöffentlichkeit saßen, ihre guten Dienste an, um die UN Vollversammlung mit der deutschen Frage zu befassen.47 Die Westalliierten lehnten rundweg ab, sie wollten sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen. Auch von

42 Wie Anm. 34. 43 Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 315. 44 Giovanni Bernardini, The SPD and the Rising Star of Bettino Craxi. In: Gehler / Guiotto (Hg.), Italien, Österreich (wie Anm. 32), S. 216. 45 Adenauer, Erinnerungen (wie Anm. 34), S. 262. 46 Caracciolo, Angst (wie Anm. 9), S. 505. 47 Das Folgende nach Scarano, Antonio Segni. In: Gehler / Guiotto (Hg.), Italien, Österreich (wie Anm. 32), S. 160 ff. Das folgende Zitat S. 165.

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den internen Gesprächen bzw. Verhandlungen z­ wischen den Westalliierten und der Bundesrepublik der Jahre 1956/57 blieb die italienische Regierung zu ihrem großen Ärger ausgeschlossen. Alles, was Bonn tun konnte bzw. wollte, war die Zusage ausführlicher Unterrichtung, die natürlich kein Ersatz sein konnte. Als Außenminister G ­ aetano Martino auf der Sitzung des NATO-Rats im Mai 1957 offiziell die Zuständigkeit des Viererausschusses akzeptierte, tadelte ihn Segni umgehend und bestand „auch aus innenpolitischen Gründen“ auf der Beteiligung seines Landes. Eine größere Krise verhinderte der Sturz des Kabinetts Segni. Die Nachfolger hatten mit anderen Problemen zu kämpfen. Als Segni im Februar 1959 erneut Ministerpräsident wurde, wiederholte sich die Situation. Segni verlangte vorbereitende Gespräche ­zwischen Italien, Frankreich und Deutschland sowie Teilnahme am Viererausschuss. Von de Gaulle gedrängt, lehnte Adenauer ab und kompensierte sein Nein gegen den Widerstand seiner Minister mit der Erfüllung wirtschaftlicher Wünsche. Bevor Segni zu Besuch nach Bonn kam, betonte Adenauer auf der Kabinettsitzung, „daß es notwendig sei, Italien zu helfen und die Regierung Segni zu unterstützen“.48 Auch Segni spürte Gegenwind. Sein Bonner Botschafter schrieb, die Regierung Adenauer habe sich daran gewöhnt, die italienische Unterstützung als gegeben zu betrachten; wenigstens bei den nächsten Schritten zur europäischen Integration müsse Westdeutschland Italien entgegenkommen. Ob aber die agrarpolitischen Zugeständnisse der Bundesrepublik, die Anfang 1962 – da war Segni Außenminister – den Gemeinsamen Markt einen großen Schritt voranbrachten, tatsächlich, wie Scarano meint, den Italienern und nicht vielmehr den Franzosen zuliebe gemacht wurden, wäre noch zu prüfen. Immerhin schickten sich die beiden im Anschluss persönliche Dankesbriefe und die katholische Monatsschrift Fiamma nuova brachte ein Titelbild, auf dem sich Adenauer und Segni die Hände schüttelten – eine offensichtliche Anspielung auf das emblematische Foto des Handschlags Adenauer-­ De Gasperi. Die beiden konservativen Katholiken, Gegner sowohl Papst Johannes‘ XXIII. wie auch Kennedys, verstanden sich offenbar auch privat sehr gut und trafen sich wiederholt in Rom und Cadenabbia.49 Politisch war jedoch die Zeit der beiden Staatsmänner abgelaufen. Der Druck zu innenpolitischen Reformen im großen Stil und zu außenpolitischer Neuausrichtung brachte in der Bundesrepublik die Sozialdemokratie an die Macht, eine das politische System stabilisierende ‚Wachablösung‘, zu der es in Italien während der gesamten E ­ rsten Republik nie gekommen ist. Dort begann damals der Höhenflug des Eurokommunismus, der der KPI zunächst weitere Wahlerfolge bescherte,50 doch drohte die zunehmend fraktionierte, handlungsunfähige, aber kraft eines kapillaren Systems mit Staat 48 59. Kabinettsitzung, 18. 3. 1957, TOP C: Besuch von Ministerpräsident Segni (http://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0000/k/k1959k/kap1_2/kap2_11/para3_3.html [16. 1. 2016]). 49 Einzelheiten bei Scarano, Antonio Segni. In: Gehler / Guiotto (Hg.), Italien, Österreich (wie Anm. 32), S. 170 f. 50 1976 das Maximum mit 34,4 % der Stimmen.

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und Gesellschaft fest verbundene DC das Land in den Abgrund zu reißen. Weil es unter den veränderten Gegebenheiten aber keine parteipolitische Grundgemeinsamkeit mehr gab, entschloss sich die SPD 1973 zur Gründung einer Außenstelle der Friedrich-­ Ebert-­Stiftung in Rom, der ersten in einem demokratischen europäischen Land, um wenigstens mit den italienischen Sozialisten Kontakt aufzunehmen, denn gegenüber der KPI blieben sowohl Brandt wie auch Schmidt auf Distanz (auch wenn es lockere Verbindungen gab, vor allem z­ wischen Enrico Berlinguer und Horst Ehmke).51 Diese Art intensiver Parteizusammenarbeit hatten die Christdemokraten nie gekannt. Ziel der SPD war es, in Westeuropa einen linken Reformkurs zu installieren, weshalb sie alles unternahm, um Bettino Craxi vom rechten Flügel des PSI in Italien und innerhalb der Sozialistischen Internationale aufzubauen, und tatsächlich ist der Aufstieg Craxis zum Parteichef und die Entscheidung 1980 für eine neuerliche Koalition mit der DC ohne Unterstützung durch die Bonner ‚Baracke‘52 nicht denkbar. Ob sich diese Anstrengungen aus Sicht der SPD gelohnt haben, mag man bezweifeln. Das hat nichts damit zu tun, dass Craxis politische Laufbahn in einem als Tangentopoli bekannten Korruptionsskandal ohnegleichen enden sollte, der den Zusammenbruch der ­Ersten Republik zur Folge hatte, denn da war die SPD längst in der Opposition. Vielmehr erreichten in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die deutsch-­italienischen Beziehungen einen historischen Tiefpunkt. Schuld war aus Bonner Perspektive das als Folge von Wirtschafts-, Haushalts-, politischen Krisen und Terror sich dem Abgrund nähernde Italien, aus römischer Sicht die Flucht des SS-Führers Kappler als angeblich übergriffige Tat deutscher Dienststellen und der Deutsche Herbst als Gefährdung der westdeutschen Verfassungsordnung durch Ausnahmegesetze. Das berüchtigte Titelbild auf dem SPIEGEL-Heft 31/1977 mit der Pistole auf dem Spaghettiteller zeigt ebenso wie die problematischen Schlagzeilen in Lotta continua oder Il Manifesto,53 wie sehr in ­diesem Jahr die öffentliche Meinung von Alarmismus und gegenseitiger Abneigung geprägt war. Schon seit 1967/68 existierte in Westeuropa eine transnationale Gegenkultur, die die Terroristen beider Länder ebenso wie ihre Unterstützer- und Sympathisantenszene zusammenbrachte und zu einer ‚kumulativen Radikalisierung‘ mit dem Höhepunkt der ‚Nacht von Stammheim‘ und der anschließenden Welle von Gewalt und Zerstörung gegen alles führte, was in Italien als ‚deutsch‘ galt. Für einmal war die Asymmetrie umgekehrt, denn die von europaweit bekannten Intellektuellen befeuerte „Kultur des 51 Das Folgende nach Bernardini, The SPD (wie Anm. 44). In: Gehler / Guiotto (Hg.), Italien, Österreich, S. 215 ff. 52 Im damaligen Politjargon das Erich-­Ollenhauer-­Haus, die seinerzeitige SPD-Zentrale in Bonn. 53 Der Historiker Enzo Colotti hielt die Menschenrechte in der Bundesrepublik für derart gefährdet, dass er in Il Manifesto im Oktober 1977 einen Appell mit dem Titel „La Germania è oggi cuore infetto dell’Europa“ überschrieb. Zit. Terhoeven, Deutscher Herbst (wie Anm. 12), S. 591, Anm. 517. Bolaffi, damals Humboldt-­Stipendiat an der FU Berlin, beurteilte das ähnlich, sah aber auch Chancen für deutsche Selbsthilfe; Terrorismo e repressione nella rft. In: Rinascita, September 1977. Zit. ebd., S. 524, A. 295. Das Folgende ebenfalls nach Terhoeven.

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Verdachts“54 hatte auf deutscher Seite kein Gegenstück, da die vergleichbar Gebildeten hierzulande traditionell eher italophil zu sein, jedenfalls ihre Vorbehalte gegenüber der italienischen Wirklichkeit kaum offen zu artikulieren pflegen. Zu keinem anderen westlichen Land war 1977 das gegenseitige Verhältnis vergleichbar belastet wie zu Italien.55 Von störungsfreien Regierungskontakten konnte unter diesen Bedingungen keine Rede sein. Dass der schwerkranke Kriegsverbrecher Kappler das römische Militärkrankenhaus ohne regierungsamtliche Hilfe ‚einfach so‘ hatte verlassen können, schien nach aller Fürsprache, die der SS-Obersturmbannführer über Jahrzehnte von deutschen Geistlichen und höchsten politischen Instanzen erhalten hatte,56 und dem elf Tage dauernden Schweigen der Bundesregierung nach seiner Flucht kaum glaubhaft. Für erhebliche Irritationen deutscherseits sorgte die Weigerung Roms, die von palästinensischen Terroristen entführte und in Fiumicino zwischengelandete Lufthansamaschine Landshut am Weiterflug zu hindern, obwohl Innenminister Maihofer zweimal telefonisch darum gebeten hatte.57 Erst recht natürlich die schweren Ausschreitungen nach dem 18. Oktober, für die sich Außenminister Amintore Fanfani entschuldigte. Andererseits leisteten italienische Ärzte auf dem Flughafen von Mogadischu nach der Geiselbefreiung Hilfe, für die Staatsminister Wischnewski „sehr dankbar“ war 58 und für die sich Kanzler Schmidt auf Bitten des deutschen Botschafters bei Giulio Andreotti ebenfalls bedankte, diesen Dank aber bezeichnenderweise nicht der deutschen Öffentlichkeit mitteilte.59 (West-)Deutsche Entschlossenheit und Tatkraft besaßen jedoch nach wie vor grenzüberschreitende Ausstrahlung. Für die Brigate rosse war die RAF ein wichtiger Bezugspunkt,60 der italienische Staat errichtete in aller Stille drei Hochsicherheitsgefängnisse und baute eine GSG-9-ähnliche Sondereinheit auf. Das brauchte Zeit und so hatten die Italiener allen Anlass, sich vom internationalen Terror, aber auch von der alltäg­ lichen Gewalt auf den Straßen mehr bedroht zu fühlen als von der angeblich drohenden Machtergreifung der Rechten in der Bundesrepublik. Jedenfalls landete ausgerechnet im 54 Jens Petersen, Italianisierung Deutschlands? „Germanizzazione dell’Italia“? Das Bild des anderen in der jeweiligen Selbstperzeption. In: Rusconi / Woller (Hg.), Parallele Geschichte? (wie Anm. 9), S. 57. 55 Missiroli spricht vom „annus terribilis“; Italia – Germania (wie Anm. 8), S.34. 56 Noch im Januar 1977 hatte sich Schmidt gegenüber Andreotti für eine Begnadigung Kapplers eingesetzt. Aufzeichnung des Gesprächs ­zwischen Bundeskanzler Schmidt und Ministerpräsident Andreotti in Bonn, 18. 1. 1977. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik. 1977, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München 2008, Teilband 1, S. 29. Zum Vorgang insgesamt Felix Bohr, Flucht aus Rom. Das spektakuläre Ende des ‚Falles Kappler‘ im August 1977. In: VfZ 60 (2012), S.  111 – 141. 57 Gegenüber den zu sich in den Kanzlerbungalow eingeladenen führenden deutschsprachigen Intellektuellen sprach Schmidt offen von „feigen“ Italienern. Zit. Terhoeven, Deutscher Herbst (wie Anm. 12), S. 509. 58 Hans-­Jürgen Wischnewski, Mit Leidenschaft und Augenmaß. In Mogadischu und anderswo. Politische Memoiren, München 1989, S. 230. 59 Terhoeven, Deutscher Herbst (wie Anm. 12), S. 514. 60 Ebd., passim. Für die nächsten Aussagen siehe S. 638.

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Oktober 1977 bei einer repräsentativen Meinungsumfrage bei der Frage, welches Land man sich als Vorbild für das eigene wünsche, die Bundesrepublik hinter den Vereinigten Staaten auf Platz zwei.61 Wenn umgekehrt Schmidt im Dezember desselben Jahres Andreotti versicherte, das deutsche Volk „empfinde eine tiefe Sympathie für Italien“, galt das nicht für ihn selber, sondern war lediglich der Goodwill-­Mission geschuldet, die der Bundeskanzler nach allem Vorgefallenen glaubte Italien schuldig zu sein.62 Im folgenden Jahrzehnt bewegten sich die deutsch-­italienischen Beziehungen in der bekannten Bandbreite: dank wirtschaftlicher Erholung Italiens 63 und gemeinsamer Linie beim Thema NATO -Doppelbeschluss sowie der Europa-­Initiative der beiden Außenminister Hans-­Dietrich Genscher und Emilio Colombo im Herbst 198164 entspannt, doch reagierte Rom wie gewohnt allergisch auf jede, wie man es dort empfand, Zurücksetzung bei den (seltener werdenden) Vierergesprächen und irritiert, wenn Bonn aus Gründen der Entspannungspolitik und Förderung seiner Exportwirtschaft Mäßigung bei Strafmaßnahmen gegen das mit Notstandsgesetzen regierende Jaruzelski-­ Regime in Polen oder gegen Moskau wegen dessen Afghanistan-­Einmarsches an den Tag legte. Irritiert registrierte man auch in Italien den von der Raketenstationierung im Raum Schwäbisch Gmünd ausgelösten Schub antiamerikanischer Stimmung speziell bei den deutschen Eliten, da umgekehrt im Falle von Comiso nichts Vergleichbares zu bemerken war. Mit anderen Worten: Die im engeren Sinne bilateralen Beziehungen waren problemlos, Deutschland avancierte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gar zum „Modell“ dank seiner auffallenden politischen und wirtschaftlichen Stabilität,65 beide Länder reagierten aber ausgesprochen empfindlich bei Berührung der jeweiligen neuralgischen Punkte Asymmetrie und Deutschlandfrage. 1984 wurden beide gleichzeitig berührt und entsprechend gingen die Wogen hoch. Zuerst fühlte sich Andreotti brüskiert, als Helmut Kohl und François Mitterand einseitig den Wegfall von Grenzkontrollen beschlossen, und protestierte.66 Er revanchierte sich mit einer scheinbar 61 Ebd., S. 513. 62 Aufzeichnung des Gesprächs ­zwischen Bundeskanzler Schmidt und Ministerpräsident Andreotti in Valeggio sul Mincio, 1. 12. 1977. In: Akten 1977, Teilband 2 (wie Anm. 56), S. 1651. 63 Das Land, das den mit Gold besicherten „maxi prestito“ der Bundesbank vorzeitig zurückgezahlt hat, wurde 1980 ohne Zutun Bonns in die G7-Gruppe aufgenommen. 64 Dazu Ulrich Lappenküper, Hans-­Dietrich Genscher, Emilio Colombo und der Kampf gegen die „Eurosklerose“. In: Gehler / Guiotto (Hg.), Italien, Österreich (wie Anm. 32), S. 225 – 242. Aus persönlicher Perspektive Hans-­Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 362 ff.: „Eine Rakete wird gezündet. Die Genscher-­Colombo-­Initiative“. 65 Missiroli führt das auf die gerade dank vertiefter wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultu­ reller Kontakte besser wahrgenommene Auseinanderentwicklung der beiden Systeme zurück; Italia – Germania (wie Anm. 8), S. 36 f. 66 Eine deutsch-­französische Hegemonie in Europa war der italienischen Politik immer verdächtig. Selbst der überzeugte Europäer Emilio Colombo warnte davor 1980 in einem aufsehenerregenden Interview. Lappenküper, Genscher – Colombo. In: Gehler / Guiotto (Hg.), Italien, Österreich (wie Anm. 32), S. 229.

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­beiläufigen Bemerkung über „Pangermanismus“ und den Vorteil der deutschen Teilung für Europa. Botschafter Vittorio Graf Ferraris wurde frühmorgens ins Bonner Außenministerium bestellt, die Botschaft „von Protesten überflutet“.67 Es war gelungen, die beiderseitigen Beziehungen damals „einigermaßen auszubalancieren“, d. h. beide Länder begegneten sich (in der Regel) auf Augenhöhe, doch aus der Rückschau fügte Graf Ferraris gleich hinzu: „Später mischt sich vor der ‚Grande Germania‘ in Italien ein Hauch von Verunsicherung“.68 Das ist die diplomatische Umschreibung dessen, was sich beim Fall der Mauer und seither beobachten lässt: Das Gleichgewicht wird immer weniger, die Asymmetrie immer deutlicher spürbar. Im Rückblick ist auch klar, dass Symmetrie und Harmonie nur „im Schatten von Mauer und deutscher Teilung“ haben gedeihen können.69 Deshalb nahmen mit dem Mauerfall die Friktionen sofort zu. Noch im Spätjahr 1989 wiederholte Andreotti seine ‚pangermanistische‘ Skepsis bezüglich der Europaverträglichkeit des wiedervereinigten Deutschland,70 die nicht zufällig an Margret Thatchers Aussage gegenüber Michail Gorbatschow erinnert.71 Der entscheidende Unterschied war, dass Großbritannien selbstverständlich an den Zwei-­Plus-­Vier-­Gesprächen beteiligt war, während der italienische Außenminister Gianni De Michelis (ebenso wie sein holländischer Kollege Hans van den Broek) seine Teilnahme während der NATOKonferenz in Ottawa im Februar 1990 einforderte, von Genscher jedoch mit dem alsbald publik gewordenen Satz zurückgewiesen wurden: „You are not part of the game!“72 Mit seiner Prognose, der 3. Oktober 1990 markiere den Beginn der deutschen Hegemonie und die Auslöschung der deutschen Kriegsniederlage, sollte der Journalist Indro Montanelli recht behalten.73 Weil sich in den seither vergangenen fünfundzwanzig Jahren daran nichts geändert hat, kann man auf weitere Beispiele für Irritationen verzichten 74 und mag es genügen, die fünf Gründe für die „schleichende Entfremdung“ nur zu benennen. 67 Luigi Vittorio Graf Ferraris, Deutsch-­italienische Beziehungen in den 1990er Jahren. Aufzeichnungen aus italienischen diplomatischen Akten. In: Ebd., S. 256 f. Auch sonst stütze ich mich hier vielfach auf diesen instruktiven Beitrag des ungewöhnlich engagierten italienischen Botschafters von 1980 bis 1987. 68 Ebd., S. 260. 69 Bolaffi, Unendliche Geschichte. In: Rusconi / Schlemmer / Woller (Hg.), Schleichende Entfremdung? (wie Anm. 1), S. 38. 70 Missiroli, Italia – Germania (wie Anm. 8), S. 38. 71 Nachzulesen in: Patrick Salmon (Hg.), German unification 1989 – 90. Documents on British policy overseas, London 2009, S. 79, Anm. 4. Vgl. Margaret Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf 1993, S. 1097. Eine italienische Aktenedition zu ­diesem Thema ist nicht absehbar; die Sperrfrist beträgt offiziell 40 Jahre, aber die Edition der Documenti Diplomatici Italiani hat momentan erst das Jahr 1952 erreicht. 72 Genscher, Erinnerungen (wie Anm. 64), S. 729. 73 In seiner Zeitung Il Giornale Nuovo. Zit. Petersen, Deutschland ‒ Italien (wie Anm. 5), S. 15. 74 Vielleicht am meisten gedemütigt musste sich Italien durch den allerdings fehlgeschlagenen Versuch von Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Josef Fischer fühlen, der Bundesrepublik einen Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu sichern.

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Erstens hat sich durch das Ende der sowjetischen Beherrschung Osteuropas die geopolitische Lage Europas fundamental geändert. Deutschland ist in der E ­ uropäischen Union nach wie vor nicht der größte Staat, hat aber die größte Bevölkerung. Wichtiger: Der Süden rückte zwangsläufig stärker an den Rand, die Mitte wurde aufgewertet. Diese Verschiebung wurde, zweitens, unterstützt durch den Rückzug der Vereinigten Staaten aus Europa, die nicht nur ihre Friedensdividende in Gestalt des Truppenabzugs einstreichen wollten, sondern sich weltpolitisch ohnedies neu orientierten. Drittens hat sich die Europäische Union auf inzwischen 28 Länder erweitert 75 und diese enorme Zunahme relativiert ganz von alleine die Rolle der einzelnen Mitglieder. Viertens reagierten Deutschland und Italien auf die von Globalisierung und Neoliberalismus verursachten Krisen nach der Jahrtausendwende sehr verschieden. In einem, wie sich herausstellen sollte, geradezu selbstmörderischen Kraftakt setzte in der Bundesrepublik, beraten von den Wirtschaftsverbänden und -instituten, der rechte Flügel der SPD zusammen mit den Grünen eine Reihe von Reformen auf dem Arbeitsmarkt durch, die das Handeln von Wirtschaft und Politik merklich veränderten und so für ein technologie- und investitionsfreundlicheres Klima, ja letztlich für den Aufstieg Deutschlands zur wirtschaftlichen Führungsmacht im gegenwärtigen Europa sorgten. Italien dagegen kommt seit geraumer Zeit mit den neuen Ordnungsmustern viel weniger zurecht. Für energische Reformen fehlen angesichts der exorbitanten Staatsschulden der Regierung nicht nur die Mittel, sondern auch die politische Kraft, da sie es nicht mit Parteien im mittel- und nordeuropäischen Sinne zu tun hat und überdies dem Druck einer starken Systemopposition (M5S, Lega) ausgesetzt ist. Auch die hergebrachten Instrumente zur Besserung der Konkurrenzlage – Abwertung, Inflationsgestaltung – sind ihr durch den Euro genommen. Damit sind wir beim fünften und letzten Gesichtspunkt, der inzwischen jahrzehntealten, multiplen Krise Italiens. Dieses Land ist nicht nur geopolitisch, also durch äußere Umstände, marginalisiert worden, sondern seine politischen Eliten haben geradezu alles unternommen, um es auch mit eigener ‚Kraft‘ zu marginalisieren. Die bis Anfang der 1990er Jahre tonangebenden Parteien sind im Zusammenbruch der E ­ rsten Republik verschwunden, so dass die hergebrachten politischen und kulturellen Kommunikationskanäle mit den Nachbarn versandet sind. Sodann hat Silvio Berlusconis malgoverno die Institutionen des Landes, seinen Haushalt und seinen Ruf im Ausland derart beschädigt, dass es nur durch komplizierte, schmerzhafte Reparaturen saniert werden kann. Die aber werden durch die herrschende politische Kultur nicht eben erleichtert. Die geschilderten Gründe haben kaum etwas mit den deutsch-­italienischen Beziehungen zu tun, sondern sind die Folge der Selbstlähmung Italiens und der veränderten Rahmenbedingungen innerhalb Europas. Deutschland kommt als europäische Führungsmacht ins Spiel, hat aber in dieser ihm eher zugewachsenen als angestrebten

75 Geschrieben vor dem britischen Plebiszit zum Austritt aus der EU am 23. 6. 2016.

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Rolle Reibungspunkte mit einer ganzen Reihe von Ländern, die ihre Souveränitätsverluste gegenwärtig besonders schmerzlich spüren. Die „schleichende Entfremdung“, von der eingangs die Rede war, wäre nur zu beenden, wenn beide Länder wieder parallele Interessen entwickelten und sich bei deren Verwirklichung gegenseitig unterstützten. Davon ist im Moment nichts zu sehen. Umso bedeutsamer ist es, dass die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und anderen Begegnungen enger sind als je und die Kontakte im Alltag eine früher nicht für möglich gehaltene Dichte eingenommen haben. Sie sind längst eine Selbstverständlichkeit. In dieser Hinsicht ist von einer Krise der deutsch-­italienischen Beziehungen nichts zu spüren. Nichts zeigt besser den schleichenden Bedeutungsverlust der herkömmlichen Außenpolitik innerhalb des geeinten Europas.

Ferne Nachbarn Deutschland und Italien 1860 – 1960 * Der deutsch-­italienische Vergleich Deutschland und Italien gelten gemeinhin als diejenigen unter allen Völkern Europas, die die meisten Parallelen in ihrer Geschichte aufweisen. Aberhunderte Schriften erzählen wieder und wieder, wie beide Völker seit dem Mittelalter ihren Weg weithin gemeinsam gegangen sind: erst vereint unter der altehrwürdigen Kaiserherrlichkeit, dann zum Nachteil beider in zahlreiche Einzelstaaten zerfallen und zur Beute der Nachbarn, der Franzosen (um genau zu sein) geworden, entsprechend verspätet deshalb zu nationaler Einheit findend und schließlich zweimal zur alten Waffenbrüderschaft zurückkehrend, die freilich ebenfalls zweimal durch Verrat (von italienischer Seite wohlgemerkt) beendet wurde. Weniger glanzvoll also die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber immer noch parallel, bis hin zur gemeinsamen Erfahrung faschistischer Diktatur, aus deren Klauen wiederum beide Nationen von auswärtigen Mächten befreit wurden. Die zweite Nachkriegszeit hat das Empfinden gemeinsamer Geschichte im Zeichen ­­ amerikanischer Vormacht, kommunistischer Bedrohung und jahrzehntelanger christdemokratischer Regierungsverantwortung noch einmal kräftig befestigt. „Die Epoche des Nachkriegs in Deutschland und Italien stellt ein weiteres Beispiel für die Ähnlichkeit oder Gleichheit im Verlauf der nationalen Geschichte beider Nationen dar“, versicherte 1973 mit Theodor Schieder ein Historiker,1 der dem historischen Vergleich keineswegs unkritisch gegenüber stand.2 Wenn man einmal versucht, dieser Geschichtserzählung auf den Grund zu gehen, so stößt man auf zwei Erkenntnisse: Erstens ist sie (erst) im 19. Jahrhundert ­entstanden und zweitens findet sie sich vor allem nördlich der Alpen. Ersteres ist nicht weiter * Bei ­diesem Aufsatz handelt es sich um die vor allem im zweiten Abschnitt erheblich überarbeitete Einleitung zu dem von mir herausgegebenen Sammelband Deutschland und Italien 1860 – 1960, München 2005. Wie bei solchen Texten üblich, enthält dieser weniger eine in sich geschlossene Argumentation, sondern begründet stattdessen Fragestellung, Hypothesen und Zeitausschnitt. Der dritte Abschnitt stellte im Original die Beiträge der einzelnen Autoren vor. Auch wenn diese hier fehlen und nur ihre Titel (zur leichteren Unterscheidung kursiv) in den Fußnoten genannt werden, sollte auf die Ergebnisse nicht verzichtet werden. Dieser Abschnitt enthält daher weniger meine Gedanken oder Forschungsergebnisse als vor allem die der Referenten an der Tagung im Historischen Kolleg München im Jahre 1999. 1 Theodor Schieder, Vorwort. In: Von der Diktatur zur Demokratie. Deutschland und Italien in der Epoche nach 1943. Referate der 9. deutsch-­italienischen Historikertagung, Salerno, 15. – 17. Juni 1971, Braunschweig 1973, S. 5. 2 Ders., Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden in der Geschichtswissenschaft [1965]. Jetzt in: Ders., Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, München 21968, S.  195 – 219.

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verwunderlich, denn die meisten unserer Geschichtsbilder entstammen jener Zeit, als man die großen nationalen Synthesen zu schreiben begann – natürlich alles andere als frei von zeitgenössischen politischen Nebenerwägungen, wie vielleicht am besten der Streit z­ wischen Sybel und Ficker um die Italienpolitik der deutschen K ­ aiser zeigt.3 Das ist also bekannt. Letzteres wird von Deutschen dagegen meist übersehen, und das ist natürlich auch nicht weiter überraschend, denn das Bild deutsch-­italienischer Parallelgeschichte enthält insgeheim einen deutlichen Schuss Suprematieanspruch, es weist den Italienern die Rolle der Geführten, Schwächeren zu, auch wenn sie Verbündete sind.4 „Großmütig“ eilte Karl der Große Leo III. zu Hilfe, der ihm „zum Dank“ die Kaiserkrone aufsetzte, wie es in einem hunderttausendfach verbreiteten Bildband hieß.5 Alfred Rethels Kolossalgemälde von 1852, das diesen Moment festhielt, war früher bei uns in jedem Schulgeschichtsbuch zu finden. Am Weihnachtstag des Jahres 800 begann die deutsch-­italienische Parallelgeschichte gleich mit einer guten Tat. Der Dank hielt sich in der Folgezeit allerdings in Grenzen, selbst auf seiten der Päpste, ja gerade sie wurden zu den Anführern des Kampfes gegen die Deutschen. Canossa mag als Stichwort genügen,6 ­später der Lombardische Bund gegen Barbarossa. Amos Cassiolis Gemälde der 1176 stattgefundenen Schlacht von Legnano aus dem Jahre 1870 − neben Pontida, wo 1167 die Lega Lombarda sich gegen Friedrich Barbarossa verschwor, der Erinnerungsort der separatistischen Lega Nord − findet man in deutschen Geschichtsbüchern 3 Der bekannte Historiker Heinrich von Sybel verurteilte 1859 die auf Italien ausgerichtete Politik deutscher ­Kaiser als unnational; sie hätten besser ihr Augenmerk auf die dem Reich im Osten vorgelagerten Gebiete gerichtet. So wäre die (1859 noch keineswegs absehbare) deutsche Einheit sehr befördert worden. Ihm widersprach 1861 Julius Ficker, der die Italienpolitik als in vielen Hinsichten sinnvoll bezeichnete. Der Streit erfasste große Teile der deutschen Mediävistik und dauerte bis 1938. Mehr dazu bei Thomas Brechenmacher, Wieviel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse ­zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859 – 1862). In: Ulrich Muhlack (Hg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 87 – 112. 4 Anders fällt bekanntlich das Bild deutsch-­italienischer Kulturkontakte aus, wo die Deutschen seit jeher eher die Nehmenden sind. Das ist aber hier nicht das Thema. 5 Cigaretten-­Bilderdienst (Hg.), Bilder deutscher Geschichte, Hamburg-­Bahrenfeld 1936, Bild Nr.4: Alfred Rethel, Krönung Karls des Großen in Rom, 25. Dezember 800 (Die Bildunterschrift lautet: „Papst Leo III. war durch persönliche Feinde vertrieben worden und zu Karl dem Großen geflüchtet. Dieser führte ihn wieder nach Rom zurück. Zum Dank für diese großmütig gewährte Hilfe krönte ihn der Papst in der Peterskirche zum K ­ aiser und Nachfolger der römischen Cäsaren“. Trotz des Erscheinungsjahrs hat diese Deutung nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun, der in seinem offiziellen Geschichtsbild bis in den Krieg hinein sehr auf Distanz zum ‚Sachsenschlächter‘ blieb, auch wenn man ihn auf dem Erfurter Historikertag 1937 zu „Karl dem Germanen“ machte). Bei dem Bild handelt es sich in Wahrheit um das von seinem Schüler Josef Kehren im Aachener Rathaus gemalte Fresko, für das Rethel bereits 1840 den Entwurf gezeichnet und damit den Wettbewerb gewonnen hatte. 6 Zur außerordentlichen Rolle ­dieses Ereignisses in der kollektiven Erinnerung der Deutschen meisterlich Otto Gerhard Oexle, Canossa. In: Etienne François / Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 56 – 67.

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selten, Verdis gleichnamige, schon 1849 im revolutionären Rom uraufgeführte Oper wird hierzulande selten gespielt.7 Gabriele De Rosas Begrüßungsworte zur eingangs angesprochenen deutsch-­italienischen Historikertagung enthalten nicht den mindesten Hinweis auf eine Parallelgeschichte, obwohl die Umstände das nahelegten. Aber offenbar gab es damals auf italienischer Seite ­dieses Bild von den Parallelen nicht oder man wollte es verschweigen. Oder hat es etwa ein solches nie gegeben? Wir wissen es nicht. Die Historie ­dieses Geschichtsbildes ist noch nicht geschrieben. Dieser Aufsatz stellt sich ganz bewusst nicht in die Tradition deutsch-­italienischer Parallelgeschichten, liefern sie doch immer schon ein Interpretament, das es erst noch zu überprüfen gälte. Etwas anders ist der historische Vergleich. Er ist ein Verfahren zur Urteilsbildung, vielen anderen dadurch von vornherein überlegen, dass es die Kriterien der Fragestellung offenzulegen zwingt und zwangsläufig einen Maßstab liefert, der der Zeit, um die es geht, entnommen ist. Ob man Cavour mit Bismarck vergleicht,8 Hitler mit Mussolini,9 die Revolution von 1848 nördlich und südlich der Alpen 10 oder den „Imperialismus im unfertigen Nationalstaat“11 – stets ist man gezwungen, sein Vorhaben zu begründen und seine Erkenntnisabsichten zu benennen, und stets vermag man dank der Unterschiede das Spezifische des Falles zu erkennen und dadurch die Defizite unseres Geschichtsbilds noch am ehesten zu beheben. Das erwartet man natürlich auch von anderen historiographischen Verfahren, doch zeigt ein Blick in die Literatur, dass vergleichende Arbeiten in aller Regel methodisch reflektierter vorgehen als andere. Es ist hier nicht der Ort, Grundsätzliches zum historischen Vergleich zu sagen. Dazu ist in den vergangenen Jahren viel geschrieben worden.12 Die Komparatisten, so scheint es, haben sich Mut gemacht. Aber hat es viel genützt? Hartmut Kaelble hat die komparatistischen sozialgeschichtlichen Titel in Europa und den Vereinigten Staaten gezählt, die z­ wischen 1970 und 1995 erschienen sind, und mit einigem guten 7 Aus Anlass des 200. Geburtstags Verdis im Jahre 2013 brachte die Hamburger Staatsoper die Risorgimento-­Oper des Maestros zur Aufführung. 8 Siegfried A. Kaehler, Cavour, Louis Napoleon und Bismarck im Spiegel des Jahres 1848 [1947]. In: Ders., Vorurteile und Tatsachen. Drei geschichtliche Vorträge, Hameln 1949, S. 36 – 58. Neu ist, dass ein italienischer Historiker sich d ­ ieses Themas annimmt: Gian Enrico Rusconi, Cavour und Bismarck. Zwei Staatsmänner im Spannungsfeld von Liberalismus und Cäsarismus, München 2013. 9 Ein konzeptionell misslungenes Beispiel ist Walter Rauscher, Hitler und Mussolini. Macht, Krieg und Terror, Graz, Wien, Köln 2001. 10 Vgl. in ­diesem Band: Revolution und Risorgimento. Italien 1848/49 aus deutscher Perspektive. 11 Wolfgang Schieder, Imperialismus im unfertigen Nationalstaat. Einige vergleichende Überlegungen zu Deutschland und Italien [1998]. Jetzt in: Ders., Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 341 – 352. 12 Heinz-­Gerhard Haupt / Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/M., New York 1996. Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt / M., New York 1999.

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Willen kann man seinen Befund als beginnenden Aufschwung interpretieren.13 In Deutschland sei „der eigentliche Start“ in den 1980er Jahren zu verzeichnen, schreibt er an anderer Stelle.14 Aber wenn es noch eines Beweises für die Aschenputtelrolle der vergleichenden Forschung in der deutschen Geschichtswissenschaft bedarf, so sehe man sich die Indexgliederung für das 2012 eingestellte Jahrbuch der Historischen Forschung an; sie kannte geographisch nur Länder und Territorien und methodologisch nur ganz wenige Kategorien. Ein Buch, das zwei Länder vergleicht, war darin nie und nimmer angemessen unterzubringen; gerade dass Europa eine eigene Kennziffer erhalten hatte. Umso wichtiger sind daher vergleichende Studien. An anderer Stelle habe ich mich zu den denkbaren Aufgaben eines deutsch-­italienischen Vergleichs geäußert.15 Es wurden dort vier Gründe genannt, die hier nur knapp wiederholt werden sollen. Erstens seine Funktion als Korrektiv zur Parallelgeschichte, ihren Verkürzungen und Fehlwahrnehmungen. Zweitens als Korrektiv zur Sonderwegsthese, die ihre – schwindende – Überzeugungskraft vor allem dem falschen Vergleichsmaßstab, den angelsächsischen Gesellschaften, verdankt. Drittens als Ergänzung der Wahrnehmungsund Beziehungsstudien, die vor allem in den letzten Jahren unser Wissen beträchtlich erweitert haben. Und schließlich und vor allem viertens die eigentliche Aufgabe: den Vergleich der von beiden Gesellschaften eingeschlagenen Wege in die Moderne. Deren wesentliche Etappen – Aufklärung, Revolution, Nationalstaatsgründung, Umbrüche um 1900, Diktatur, Wirtschaftswunder und bald darauf schon Krise der Industriemoderne – sind allesamt Stationen, die auf den ersten Blick hier wie dort nach denselben Mustern abliefen und dieselben Ergebnisse hervorbrachten. Doch der zweite Blick bringt Unterschiede zum Vorschein, die alles andere als nebensächlich sind: So wies die italienische Aufklärung niemals jenen Popularisierungsgrad auf wie ihr deutsches Gegenstück, die Revolution war dagegen bei den Eliten in Italien ungleich populärer als hierzulande, von Napoleon ganz zu schweigen, die Integration der Italiener in ihren Nationalstaat – im Unterschied zu seiner Gründung – hatte viel größere Hindernisse zu überwinden als bei seinem deutschen Gegenstück, die modernen Wissenschaften hatten auf die Weltbilder der Deutschen ungleich größeren Einfluss als auf die der Italiener und die Gesellschaft wurde vom Nationalsozialismus und seinen Folgen erheblich stärker umgeformt als vom Faschismus, weshalb nach 1945 der als ‚Verwestlichung‘ bezeichnete Komplex an Umgestaltung in Deutschland deutlich anders verlief und viel mehr Bereiche erfasste als in Italien, was aber kaum der Grund dafür sein 13 Kaelble, Vergleich (wie Anm. 12), Schaubild 1. 14 Ders., Vergleichende Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Forschungen europäischer Historiker. In: Haupt / Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich (wie Anm. 12), S. 97. 15 Christof Dipper, Italien und Deutschland seit 1800. Zwei Gesellschaften auf dem Weg in die Moderne. In: Ders. / Lutz Klinkhammer / Alexander Nützenadel (Hg.), Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 485 – 503.

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kann, dass wir gerade in der Gegenwart ganz erhebliche institutionelle und kulturelle Unterschiede beobachten. Kurz: Man hat den Eindruck, als weise die Moderne im 19. und 20. Jahrhundert nördlich und südlich der Alpen zum Teil recht unterschiedliche Gestalt auf. Dies ist erklärungsbedürftig. Mehr Unterschiede als Parallelen Das kann der nachfolgende Beitrag natürlich nur ansatzweise beantworten. Ausgeklammert bleiben muss der wirtschaftsgeschichtliche Vergleich. Wenn überhaupt ein Thema eine lange Tradition komparatistischer Beiträge aufweist, dann ist es d ­ ieses, genauer: die Industrialisierung. Das hat mehrere Ursachen. Zunächst machte der Vorgang selber, anders als lange Zeit von den Historikern hernach beschrieben, vor politischen Grenzen nicht Halt. Weder die gewerblichen Zentren noch gar die Märkte respektierten sie.16 Das blieb den Zeitgenossen natürlich nicht verborgen und so blickten Industrielle, Minister, parlamentarische Kommissionen, Sozialreformer und nicht zuletzt Revolutionäre allzeit auf die Vorreiter, um die künftige Entwicklung in ihrem eigenen Lande rechtzeitig zu erkennen. Eine Masse beschreibender Quellen ist die Folge. Und schließlich haben die Statistiker seit Jahrzehnten eine s­ olche Menge an Datenmaterial zu d ­ iesem Vorgang angehäuft – für das 19. Jahrhundert freilich oft genug extrapoliert und entsprechend problematisch −, dass vergleichenden Studien inzwischen keine sonderlichen Schwierigkeiten mehr entgegenstehen.17 Eine komparative deutsch-­italienische Industriegeschichte ist freilich nach wie vor Desiderat 18 und erst recht gilt dies für den von enormen Ungleichheiten gekennzeichneten Agrarsektor. Die erkenntnisleitende Absicht ist sodann auch nicht eine klassisch sozialhistorische, wie das noch vor fünfzehn bis zwanzig Jahren sicherlich der Fall gewesen wäre. Nicht dass wir dazu über eine hinreichende Zahl vergleichender Untersuchungen verfügten; eher ist das Gegenteil der Fall.19 Eine Studie, wie sie Hartmut Kaelble für die sich angleichenden

16 Stellvertretend für die vielen, wenn auch keineswegs unübersehbaren vergleichenden Überblicke sei Sidney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760 – 1970, Oxford 1981, genannt, weil hier erstmals die Regionen anstelle der Nationalstaaten als geographisches Substrat dienen. 17 Wiederum nur stellvertretend für viele andere sei verwiesen auf B[rian] R. Mitchell, European Historical Statistics 1750 – 1970, London 1975, sowie auf die beiden im Dienste der Modernisierungstheorie angelegten Datenhandbücher von Peter Flora u. a., State, Economy, and Society in Western Europa 1815 – 1975, 2 Bde., Frankfurt/M., London, Chicago 1983/87. 18 Nicht zu verwechseln mit Darstellungen der wirtschaftlichen, und das meint vor allem industriellen Beziehungen, für die inzwischen etliche substanzreiche Bücher namentlich aus deutscher Feder vorliegen. 19 Hilfreich ist die bei Kaelble, Vergleich (wie Anm. 12), im Anhang aufgelistete „Auswahl von vergleichenden sozialhistorischen Arbeiten“.

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deutsch-­französischen Verhältnisse vorgelegt hat,20 sucht man für andere Länder vergebens. Immerhin mag seine ebenfalls singuläre Sozialgeschichte Westeuropas von 1880 bis 1980, in der auch Italien berücksichtigt ist, die Lücke ein wenig verschmerzen lassen. Allerdings geht Kaelble von einer anderen Fragestellung bzw. Ausgangshypothese aus, nämlich von der erkennbaren Annäherung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Beobachtungszeitraum. Das eben sei die Besonderheit Europas im Weltmaßstab.21 Mögen auch in Europa zunehmend vergleichbare Arbeitsordnungen, Schulsysteme, Formen sozialer Sicherung, Urbanisierung und Familienstrukturen existieren, so sieht doch jedermann die großen Unterschiede z­ wischen den einzelnen Ländern schon auf den ersten Blick, sobald er nur die Grenze überschreitet. Es sind zumeist Dinge, die der Kultur (im weitesten Sinne) zugehören und sich dadurch auszeichnen, dass sie mehr oder minder alte Traditionen repräsentieren und deshalb den von zahllosen Basisprozessen ausgehenden egalisierenden Tendenzen Widerstand leisten bzw., wie es wohl die Regel ist, diese sich auf je spezifische Art anverwandeln. Das mag im ersten Moment banal klingen, aber es ist diese Perspektive, die den Blick auf die Vielfalt öffnet. Das soll im Folgenden mit einigen Beispielen aus der ‚erweiterten Sozialgeschichte‘ (Werner Conze) illustriert werden. Die wenigen deutsch-­italienischen Studien legen erhebliche Unterschiede auch dort nahe, wo sich auf den ersten Blick Ähnlichkeiten, Parallelen zeigen. Sie mögen im Zeitverlauf abnehmen, verschwinden werden sie nicht. Wie vor geraumer Zeit schon Carlo Capra 22 hat Marco Meriggi neuerdings den Vorschlag gemacht, auch im Falle Italiens von einer Notabelngesellschaft zu sprechen. Das überzeugt schon deshalb, weil von hier aus die politische Repräsentanz und schließlich das politische System überhaupt in den Blick kommen; die vielfältigen Übereinstimmungen mit Frankreich sind alles andere als zufällig. Von hier aus bieten sich Zugänge für die vergleichende Untersuchung der Staatseliten an, die Arpad von Klimó vorgelegt hat, denn sie unterstreicht diese Befunde und stellt als Folge davon fest, dass in gewissem Sinne die höhere Beamtenschaft Italiens das Opfer davon war, weil sie von den bis ins Parlament reichenden Notabeln daran gehindert wurde, ein eigenes Standesbewusstsein zu entwickeln und es durch Zugangs- und Beförderungsregeln gegen Eingriffe von außen abzuschotten. Italien habe neben der Schweiz „in dieser Beziehung […] einen europäischen Sonderfall“ dargestellt.23 Entsprechend 20 Hartmut Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991. Schon der Titel enthält den wichtigen Hinweis, dass es sich bei dem beobachteten Prozess nicht um eine lineare Entwicklung handelt. 21 Ders., Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880 – 1980, München 1987; ders., Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945 – 1989, München 2011. 22 Carlo Capra, Nobili, notabili, élites. Dal „modello“ francese al caso italiano. In: Quaderni storici 37 (1978), S. 12 – 42. 23 Arpad von Klimó, Staat und Klientel im 19. Jahrhundert. Administrative Eliten in Italien und Preußen im Vergleich, 1860 – 1918, Vierow 1997, S. 230.

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gering war lange Zeit der soziale Status der Ministerialbürokratie, deutlich geringer als im vorunitarischen Piemont. In Preußen kam es dagegen, wie man weiß, in ­diesem Bereich tatsächlich zu der sonst vermissten Elitenfusion – mit den bekannten Folgen. Das Stichwort Notabelnregime legt dann auch den Schluss nahe, dass der Adel südlich der Alpen eine andere Sozialfigur war als nördlich, und in der Tat akzeptierten die Habsburger 1814 bei ihrer Rückkehr in die Lombardei den einheimischen Adel nur noch in Ausnahmefällen bei Hofe – anders als vor der Revolution.24 Die napoleonische Zeit bedeutete also doch eine Wasserscheide, die vom einzigen komparatistischen Werk zum Adel in Europa, das Italien wenigstens einigermaßen berücksichtigt, stark unterschätzt wird.25 Wie ganz anders der italienische Adel im 19. und 20. Jahrhundert tatsächlich, verglichen mit Deutschland, beschaffen war, geht aus Jens Petersens knappem, aber glänzendem Überblick hervor.26 Vor kurzem entdeckten auch deutsche Historiker jedoch endlich die Agrarbourgeoisie,27 und schon verschieben sich die Gewichte etwas mehr in Richtung gesellschaftlicher Normalverteilung in Europa. Sie blieb nördlich der Alpen auf Nord- und Ostdeutschland beschränkt und ließ dem Adel meist den Vortritt, während sie in Italien die Landwirtschaft trotz unterschiedlicher Agrarverfassungen großenteils unter ihre Kontrolle brachte, bis sie nach dem ­Ersten Weltkrieg vielerorts gegenüber den neuen Genossenschaften den Rückzug anzutreten begann. Das ist ein weiteres Argument, in der Geschichte des Bürgertums künftig regional deutlicher unterscheiden zu müssen.28

24 Die schon mittelfristig ungeheuren politischen Kosten, die sich aus dieser am deutschen Adelsbild ausgerichteten Politik ergaben, sind Gegenstand von Marco Meriggi, Amministrazione e classi sociali nel Lombardo-­Veneto 1814 – 1848, Bologna 1983. 25 Das legt schon die im englischen Titel ausgedrückte starke These nahe: Arno J. Mayer, The Persistence of the Old Regime. Europe to the Great War, New York 1981. In der italienischen Übersetzung lautet der Titel nicht viel anders: Il potere dell’Ancien Régime fino alla prima guerra mondiale, Bari 1982. Deutliche Kritik an Mayers Weigerung, den von der Revolution verursachten sozialen Wandel anzuerkennen, liest man in den von Passato e Presente 4 (1983), S. 11 – 33 abgedruckten Kommentaren; Innocenzo Cervelli bezieht sich dabei übrigens mehr als auf die italienische auf die preußisch-­deutsche Adelsgeschichte. 26 Jens Petersen, Der italienische Adel von 1861 bis 1946. In: Hans Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750 – 1950, Göttingen 1990, S. 243 – 259. 27 Klaus Heß, Junker und bürgerliche Großgrundbesitzer im Kaiserreich, Stuttgart 1990. Axel ­Flügel, Bürgerliche Rittergüter. Sozialer Wandel und politische Reform in Kursachsen 1680 – 1844, Göttingen 2000. Trotz des starken Anteils des Ancien Regime liefert d ­ ieses Buch Argumente für eine Erweiterung des deutschen Bürgertumsbegriffs. Aus italienischer Perspektive hat vor Jahren Alberto Maria Banti, Terra e denaro. Una borghesia padana dell’Ottocento, Venedig 1989, versucht, ostelbische Gutsbesitzer und oberitalienische Agrarbourgeoisie miteinander in Beziehung zu setzen. 28 Ein äußerst gelungenes Beispiel für den Vorteil regional vergleichender Studien bietet Thomas Götz, Bürgertum und Liberalismus in Tirol 1840 – 1873. Zwischen Stadt und ‚Region‘, Staat und Nation, Köln 2001. Er zeichnet die gewunden Pfade der unterschiedlichen politischen Soziali­ sation des bürgerlichen Liberalismus im habsburgischen Alt-­Tirol nach und führt dabei die

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Alles zusammengenommen, überrascht es daher nicht, dass Marco Meriggi mit Blick auf das 19. Jahrhundert erhebliche Distanzen ­zwischen deutschem und italienischem Bürgertum festgestellt hat,29 insofern es auf der Apenninenhalbinsel zu einer adlig-­ bürgerlichen Elitenfusion kam, zu der die napoleonische Zeit den Grund gelegt hatte, in Deutschland aber nicht. Die beiden Gruppen seit langem gemeinsame städtische Lebensweise südlich der Alpen erleichterte die Amalgamierung. So wurde Grundbesitz vollends zum Merkmal italienischer ‚Bürgerlichkeit‘ und blieb es bis ins 20. Jahrhundert. Im deutschen Kulturraum korrespondierte sie dagegen mit dem Bildungsbürgertum, das dort besonders stark war, wo es sich fortlaufend aus dem evangelischen Pfarrhaus ergänzen konnte.30 Die für Deutschland so wichtige konfessionelle Trennlinie besaß in Italien ihre Entsprechung in der Trennung z­ wischen Nord und Süd. Denn während im Norden der Sozialstatus der borghesia umanistica schon mangels vergleichbarer Selbststilisierung geringer war als in Deutschland, repräsentierten in Neapel die Advokaten das Bürgertum par excellence. Ihre Standespolitik in Richtung Freie Advokatur, die mit vielen anderen und insbesondere politischen Tätigkeiten verbunden werden konnte, war auch auf nationaler Ebene so erfolgreich, dass ihre Landsleute in Mittel- und Norditalien ­dieses Sozialmodell übernahmen.31 Der Avvocato ist dank seiner Kombination mit Grundbesitz oder Unternehmertätigkeit – man denke nur an Gianni Agnelli, Hauptaktionär und Chef von Fiat, Politiker, Lebemann, zu Lebzeiten nur l’Avvocato genannt – und mit politischen Funktionen auf allen Ebenen noch immer der Inbegriff italienischer Bürgerlichkeit. Nicht unwichtig ist, dass zu seinen wichtigen Reproduktionswerkzeugen das Liceo classico zählt, das sich im Unterschied zum humanistisch-­altsprachlichen Gymnasium hierzulande anhaltender Nachfrage erfreut, auch wenn es seit den Universitätsreformen der 1970er Jahre nicht mehr den ausschließlichen Zugang zum Studium verschafft.

altbekannte teleologische Deutung ad absurdum, derzufolge die Spaltung entlang der Sprachgrenze von Anfang an die einzig mögliche gewesen sei. 29 Marco Meriggi, Italienisches und deutsches Bürgertum im Vergleich. In: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1, München 1988, S. 141 – 158. Ergänzend ders., Soziale Klassen, Institutionen und Nationalisierung im liberalen Italien. In: GG 26 (2000), S. 201 – 218. Außerdem ders., Milano borghese. Circoli ed élites nell’Ottocento, Venedig 1992. 30 Vgl. insbes. das Großprojekt des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, 4 Bde., Stuttgart 1985/92. Ferner Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987. Siehe auch Oliver Janz, Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850 – 1914, Berlin, New York 1994. 31 Dazu grundlegend Hannes Siegrist, Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz, 18.–20. Jahrhundert, 2 Bde., Frankfurt/M. 1996. Eine ausschnitthafte Zusammenfassung: Ders., Verrechtlichung und Professionalisierung. Die Rechtsanwaltschaft im 19. und 20. Jahrhundert. In: Christof Dipper (Hg.), Rechtskultur, Rechtswissenschaft, Rechtsberufe im 19. Jahrhundert. Professionalisierung und Verrechtlichung in Deutschland und Italien, Berlin 2000, S. 101 – 124. Der nächste Gedanke, der „Politiker-­Advokat als komplette bürgerliche Persönlichkeit“, wird bei Siegrist, Advokat, Bd. 2, S. 912 ff., abgehandelt.

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Von weiteren, am besten natürlich vergleichenden Arbeiten wird es also abhängen, ob die herkömmliche Vorstellung, das deutsche Bürgertum habe wenig mit dem finanziellen, das italienische dafür wenig mit dem kulturellen Kapital zu tun gehabt bzw. haben wollen, noch weiterhin aufrecht erhalten werden kann. Ich bin hier eher skeptisch.32 Eine noch weitgehend unbekannte Rolle spielt die unterschiedliche Professionalisierung bzw. spielen die unterschiedlichen Vorstellungen von Professionalität in beiden Kulturen. Die in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts auf Ausschließlichkeit und Spezialisierung zielende und damit paradoxerweise den neuhumanistischen Bildungsbegriff   33 zunehmend unterlaufende Geschichte der Professionalisierung hat im Süden kein Gegenstück. Dort ist es noch heute möglich, und oft begegnende Praxis, Anwalt, Professor, Schriftsteller und Politiker zugleich zu sein. Kulturelles und Sozialkapital addieren sich zwanglos und verleihen der italienischen Elite eine deutlich andere Physiognomie als der deutschen. Natürlich hat das seinen Preis, zumal in der Gegenwart mit ihren international enorm gestiegenen Anforderungen an sogenannte Profilbildung, die heutigentags als Inbegriff von Professionalität gilt. Auch die Industriebourgeoisie unterschied sich bei allen Ähnlichkeiten in den politischen Werthaltungen aufgrund des andersartigen Charakters und Verlaufs der italienischen Industrialisierung deutlich von ihrem deutschen Gegenstück. Die berühmten ‚Schlotbarone‘ wird man südlich der Alpen vergebens suchen. Dort fällt im Gegenteil auf, dass zahlreiche große Unternehmerpersönlichkeiten nicht nur vom Lande kamen, sondern dort auch ihre Fabriken errichteten. Vor allem gilt das für die Textilindustrie, bei der man den Eindruck hat, dass sich von ihren proto-­industriellen Ursprüngen trotz vollständiger Mechanisierung sehr viel mehr erhalten hat als in anderen Sektoren. Auch das Finanzkapital weist in Italien eine deutlich andere soziale Physiognomie auf. Es ist bzw. war mindestens bis vor kurzem familistisch organisiert, was eine enge Bindung an die halbstaatlichen Großkonzerne keineswegs ausschloss, aber die Bedeutung der Börsen erheblich relativierte.34 Eine vergleichende Unternehmergeschichte existiert jedoch nicht.

32 Zu mehr Klarheit verhilft auch nicht Marco Meriggi / Pierangelo Schiera (Hg.), Dalla città alla nazione. Borghesie ottocentesche in Italia e in Germania, Bologna 1993, weil die Beiträge mit einer rühmlichen Ausnahme nicht vergleichend angelegt sind. Bei der Ausnahme handelt es sich um Silvia Marzagalli, deren meisterhafte komparatistische Studie über das Bürgertum der Seehandelsstädte der Revolutionszeit hier, auch wenn nicht einschlägig, wenigstens genannt werden soll: Les boulevards de la fraude. Le négoce maritime et le Blocus continental 1806 – 1813. Bordeaux, Hambourg, Livourne, Villeneuve d’Ascq 1999. 33 Er lasse sich „in seinem vollen Bedeutungsgehalt […] in anderen Sprachen nicht auffinden“. Rudolf Vierhaus, Bildung. In: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-­sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 508. 34 Einzelheiten bei Fabrizio Barca (Hg.), Storia del capitalismo italiano dal dopoguerra a oggi, Rom 1997.

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Cum grano salis lässt sich dasselbe vom Proletariat und infolgedessen auch von der Arbeiterbewegung sagen, denn außer einer älteren, freilich vom besten Kenner – und letzten Zeugen dessen, was er schrieb – verfassten Übersicht für die Zeit bis zum Ende des ­Ersten Weltkriegs gibt es praktisch keine vergleichende Literatur.35 Dass in beiden Ländern das Fabrikproletariat ländlichen Ursprungs war, besagt noch nicht allzu viel. Entscheidend war vielmehr, dass in Italien der Anteil der Frauen und Kinder unter den Fabrikarbeitern dauerhaft hoch blieb, vor allem aber dass im 19. Jahrhundert das Landarbeiterproletariat, dessen Ursprünge weit zurückliegen, von manchen bis in die spätantike Zeit verlegt werden,36 ganz erheblich an Umfang zunahm,37 viel zahlreicher als die Fabrikarbeiter war und von Anfang an die Arbeiterbewegung prägte.38 Neben deren sozialistisch-­sozialreformerischem Flügel gab es daher stets auch einen anarchistischen. Die Folge waren Parteienkonkurrenz, Spaltungen schon lange vor 1917, Richtungskämpfe, Streiks, die oft zu Aufständen wurden, und scharfe staat­ liche Repression. Die Spannbreite reichte von ‚direkter Aktion‘ und Attentaten – König Umberto I. wurde 1900 erschossen – bis zu parlamentarischer Präsenz mit Einfluss 35 Leo Valiani, Il movimento operaio e socialista in Italia e in Germania dal 1870 al 1920. In: Ders. / Adam Wandruszka (Hg.), Il movimento operaio e socialista in Italia e in Germania dal 1870 al 1920, Bologna 1978, S. 7 – 28. Ausgeklammert bleibt hier der Fall Triest, dessen Arbeiterschaft multinational und dessen Parteiorganisation internationalistisch war, was schon einige Zeit vor Ausbruch des ­Ersten Weltkriegs zu Spannungen mit der Wiener Parteispitze führte. Dazu zuletzt Marina Cattaruzza, Socialismo adriatico. La socialdemocrazia di lingua italiana nei territori costieri della Monarchia asburgica 1888 – 1915, Manduria, Rom, Bari 22001. 36 Romanos Bilanz seiner wirtschaftsgeschichtlichen Studien lautete: „Die Wirtschaftsgeschichte Italiens stellt sich als ein Block von fünfzehn Jahrhunderten dar, freilich mit einem – noch nicht vollständig vollzogenen – Bruch ­zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart“. Ruggiero Romano, Versuch einer ökonomischen Typologie. In: Eva Maek-­Gérard (Hg.), Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Fünf Studien zur Geschichte Italiens, Frankfurt/M. 1980, S. 66 f. Das Original war in: Ders. / Corrado Vivanti (Hg.), Storia d’Italia, Band 1: I caratteri originali, Turin 1972, erschien. 37 Eine zwangsläufig nicht mehr ganz aktuelle Übersicht stammt von Volker Hunecke, Soziale Ungleichheit und Klassenbildung in Italien vom Ende des 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Hans-­Ulrich Wehler (Hg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 210 – 232. Zuvor hatte Hunecke mittels einer Kombination von Wirtschafts-, Sozial- und Erfahrungsgeschichte am Beispiel Mailands den italienischen Weg der Industrialisierung beschrieben. Dieser wollte die in anderen Ländern beobachteten sozialen Erschütterungen vermeiden, hat aber gerade dadurch, so die These, die Militanz der Fabrikarbeiterbewegung um die Jahrhundertwende bewirkt: Volker Hunecke, Arbeiterschaft und Industrielle Revolution in Mailand 1859 – 1892. Zur Entstehungsgeschichte der italienischen Industrie und Arbeiterbewegung, Göttingen 1978. 38 Das hatte sich in gewissem Sinne bereits 1848 abgezeichnet, und zwar insofern, als in Italien, anders als in Deutschland und Frankreich, die ländlichen Aufständischen nicht in die bürgerlich-­ nationale Bewegung zu integrieren waren – kein Wunder allerdings, wo doch deren Führer als Grundbesitzer die Besitzverhältnisse auf dem Lande nicht in Frage stellen ließen. Dazu C ­ hristof Dipper, Revolutionäre Bewegungen auf dem Lande. Deutschland, Frankreich, Italien. In: ­Dieter Dowe / Heinz-­Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 555 – 585.

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auf die Regierung zu Zeiten Giolittis, zu dem allerdings 1911 wegen des Libyenkriegs die Brücken abgebrochen wurden. Wie damals in Frankreich litt auch der italienische Sozialismus an den Spannungen ­zwischen einem ‚Ouvrierismus‘ vor allem an der (im Vergleich zu Deutschland schmalen) Basis und gebildeten Spitzenvertretern, unter ihnen, im Kaiserreich ganz undenkbar, Professoren und andere bürgerliche Honoratioren. Es war ein demokratischer Verleger, zugleich Senator des Königreichs, der das Kapital erstmals in 43 Folgen von 1882 bis 1884, in Buchform 1886 erscheinen ließ, und so musste das überall sonst in Europa viel populärere Kommunistische Manifest bis 1891 warten und kam dann im anarchistischen Milieu zum Druck. Ob in Italien unter diesen Umständen eine auch nur ‚negative Integration‘ stattgefunden hat,39 ist schwer zu sagen, ja einer neueren Studie zufolge ist sogar fraglich, ob die italienischen Landarbeiter wenigstens in die gewerkschaftliche Bewegung wirklich integriert waren. Bernd Kölling fiel nämlich auf, dass nach 1918 die bislang gut organisierten, hochgradig streikbereiten Landarbeiter der Lomellina ebenso rasch zu den Rechten überliefen wie ihr Pendant in Pommern, von dem man das ohnedies annahm. Beide Male war es die Erfahrung der Ohnmacht, d. h. der Unmöglichkeit, ihre elementaren Interessen mit Hilfe sozialistischer Organisationen durchzusetzen.40 Auch hier bestätigt sich im übrigen der Wert regionaler Untersuchungen, zumal mehr noch als im Falle des Bürger­tums die Arbeiterbewegung in beiden Ländern geographisch sehr ungleich verteilt war. In Deutschland schaffte es die SPD immerhin nach der Jahrhundertwende, und zwar als einzige deutsche Partei, in sämtlichen Reichstagswahlkreisen Kandidaten aufzustellen, auch wenn diese oft nur Zählkandidat waren. Für eine vergleichende Geschichte von Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung sind das allenfalls Stichworte. Zu ihnen gehört auch die von Spannungen, ja deutscherseits von Verstörtheiten nicht freie Beziehungsgeschichte der sozialistischen Parteien und erst recht der Gewerkschaften.41 Denn die politische Kultur war im Kaiserreich doch ziemlich anders, sie färbte auch auf die ‚Reichsfeinde‘ ab. Umgekehrt hat der nach Italien ausgewanderte Soziologe Robert Michels bekanntlich von dort aus 1911 seine Oligarchisierungsthese politischer Großorganisationen mit Blick auf die SPD entwickelt.42 Dem polyzentrischen italienischen Sozialismus fehlte dazu jegliche Voraussetzung.

39 Im Kaiserreich war das einer berühmten These zufolge der Fall: Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des ­Ersten Weltkrieges, Frankfurt/M. 1973. 40 Bernd Kölling, Familienwirtschaft und Klassenbildung. Landarbeiter im Arbeitskonflikt. Das ostelbische Pommern und die norditalienische Lomellina 1901 – 1921, Vierow 1996. 41 Das wird auch sehr gut sichtbar bei dem Vergleich von Marina Cattaruzza, „Organisierter Konflikt“ und „Direkte Aktion“. Zwei Formen des Arbeiterkampfes am Beispiel des Werftarbeiterstreiks in Hamburg und Triest (1880 – 1914). In: AfS 20 (1980), S. 325 – 355. 42 Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911 (ND 1957).

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Deutsch-­italienische sozialgeschichtliche Vergleiche enden fast regelmäßig mit dem ­Ersten Weltkrieg. In der übrigen Literatur ist das nicht viel anders. Erstens hat die moderne Sozialgeschichte ihren Ursprungsort im 19. Jahrhundert und zweitens ändern sich im 20. als Folge der ‚Verwissenschaftlichung des Sozialen‘ (Lutz Raphael) die Quellen dafür in einem solchen Maße, dass es für Historiker noch schwieriger wird, sie auszuwerten. Drittens werden die Zeiten danach für Regimevergleiche attraktiver als vorher, wie überhaupt Faschismus und Nationalsozialismus auf die Forschung eine anhaltende Faszination ausüben. Soweit diese Arbeiten dem Versuch dienen, in vergleichender Absicht eine Faschismustheorie auszuarbeiten, spielte die Ermittlung des Sozialprofils der Anhänger und Aktivisten zeitweise eine wichtige, teils sogar zentrale Rolle. Schon die Zeitgenossen haben deshalb und dann wieder die Forschung namentlich der 1960er und 1970er Jahre auf der Suche nach der gesellschaftlichen Grundlage des Faschismus bzw. Nationalsozialismus mit einem wohl einzigartigen Aufwand an Quellenrecherchen und Analyseverfahren eine nicht mehr zu überblickende Zahl entsprechender Beiträge hervorgebracht. Gerade die Fülle empirischer Einzelforschung hat aber explizit vergleichende Arbeiten tendenziell eher erschwert. Zu den wenigen Ausnahmen zählt darum die frühe Zwischenbilanz der von Wolfgang Schieder für den Braunschweiger Historikertag 1974 zusammengerufenen Referenten, deren Beiträge freilich wie so oft Italien und Deutschland getrennt behandeln. Schieder fasste die Ergebnisse mit der Feststellung zusammen, die alte Mittelstandsthese habe an Plausibilität verloren; dass PNF und NSDAP „sukzessive ein breiteres soziales Spektrum ausgefüllt haben, [sei] weiter erhärtet“ worden.43 Mit solchen – richtigen – Einsichten hat sich die sozialhisto­rische Faschismusforschung freilich selber relativiert, denn je mehr man erkannte, dass die Anhänger Hitlers und Mussolinis schon in der sogenannten Bewegungsphase (danach gaben bekanntlich ganz andere Dinge den Ausschlag für die Mitgliedschaft 44) – bei allerdings starker Fluktuation – aus allen Schichten kamen und beide Geschlechter erfassten, desto mehr verlor sie natürlich an Erklärungskraft für die offensichtlichen Unterschiede. Sven Reichardt betont darum mit Recht in seiner Arbeit über die Kampfbünde − eines der ganz wenigen wirklich komparatistischen Bücher zum Faschismus −, dass es zwar „immer noch einiges“ erkläre, wenn man „den Nationalsozialismus als stärker mittelständisch geprägte Bewegung mit […] antiproletarischen Reflexen“ begreife, fährt dann freilich fort: „Aber im Vergleich mit anderen Ländern, auch und gerade mit dem italienischen Ursprungsland, wird die These von einem gemeinsamen sozialen Substrat des Faschismus äußerst problematisch, da sich etwa in

43 Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Göttingen 21983, S. 8. Vgl. zur Mittelstandsthese auch die Ausführungen von Adrian Lyttleton und Bernd Weisbrod in: Richard Bessel (Hg.), Fascist Italy and Nazi Germany. Comparisons and Contrasts, Cambridge 21997. 44 In den 1930ern galt PNF als Abkürzung für „per necessità familiari“ – „aus Gründen des Familien­ unterhalts“.

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Italien auch der aufsteigende Mittelstand in der faschistischen Bewegung engagierte“.45 Dort fehlte statt dessen, könnte man hinzufügen, um ein weiteres aktuelles Forschungsergebnis zu zitieren, der nach Zehntausenden zählende deklassierte Kleinadel, der in der Weimarer Republik, von Schlagworten wie „Neuadel“ und „Führertum“ elektrisiert, schließlich großenteils auf die Nationalsozialisten setzte.46 Die Faschismustheorie erhofft sich folglich neuerdings mehr Erklärungskraft vom Blick auf die faschistische Praxis, die tatsächlich ein wichtiges Merkmal war.47 Auf dem Umweg über die Frage, ob sich die eine oder andere (Erlebnis-)Generation von dieser Praxis besonders angezogen fühlte, kommen freilich sozialgeschichtliche Fragestellungen und Sachverhalte erneut zur Geltung.48 Die Perspektive auf die Praxis macht freilich auch den Blick frei für die Wahrnehmung wesentlicher, wenn nicht gar wesensmäßiger Unterschiede z­ wischen den beiden Faschismen, die im Zeichen ­­ der frühen Faschismustheorie bestritten, mindestens jedoch kleingeredet wurden. Es hatte jedenfalls Folgen, dass der Faschismus in einem Land hervorgebracht worden ist, das kulturell zu den führenden Nationen zählte und in seinen politischen Institutionen auf der Höhe der Zeit, sozioökonomisch dagegen ein Schwellenland war; auch dass der (italienische) Papst im Lande residierte, bis 1929 allerdings als ‚Gefangener im Vatikan‘, und die Monarchie sich nach wie vor großer Popularität erfreute, konnte nicht ohne Folgen bleiben. Zu diesen zählen an erster Stelle, dass Mussolini seine Vermittlungsdiktatur nicht zum propagierten stato totalitario hat vorantreiben können (was den Gewalteinsatz im Innern nach der Machtergreifungsphase deutlich begrenzt und die hergebrachte Distanz der Bevölkerung zum Staat nur wenig vermindert hat), sie andererseits bis 1939/40 auch Züge einer Entwicklungsdiktatur annahm, deren biopolitisch motivierte Eingriffe in den ‚Volkskörper‘ jedoch von der katholischen Kultur verhindert worden sind. Diese schützte die Juden zwar nicht vor Verfolgung, aber vor der Ermordung durch das Regime, das freilich vor allem ausländische, seit Ende 1943 auch italienische Juden bereitwillig

45 Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002, S. 24 f. 46 Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel ­zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003. 47 Die zahlreichen ideengeschichtlichen Deutungsversuche des Faschismus und Nationalsozialismus bleiben hier angesichts ihrer geringen Erklärungskraft für die Regimegeschichte außer Betracht. Pointiert sprach Schieder im Falle Italiens von „nachgelagerter Ideologie“: Wolfgang Schieder, Der italienische Faschismus 1919 – 1945, München 2010, S. 58. Für das deutsche Gegenstück ist dagegen mindestens das Ziel rassenbiologisch motivierter Umgestaltung Europas ein dauerhaftes weltanschauliches Merkmal. 48 Aus Vergleichsperspektive neben Schieder, Faschistische Diktaturen (wie Anm. 11), und Reichardt, Faschistische Kampfbünde (wie Anm. 45) auch ders. / Armin Nolzen (Hg.), Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005. Aus italienischer Feder nur Marco Tarchi, La „rivoluzione legale“. Identità collettive e crollo della democrazia in Italia e Germania, Bologna 1993.

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den Deutschen überstellt hat – im Wissen, was deren Schicksal sein würde.49 Erst als deutscher Satellitenstaat kam der Faschismus gewissermaßen zu sich selbst, denn in der Repubblica Sociale Italiana verbanden sich Kriegsregime und Totalitarismus zu einem System, in dem Kampf einen Wert an sich hatte.50 Damit war der Faschismus dorthin gelangt, wozu sich der Nationalsozialismus schon nach der Machtergreifungsphase durchgekämpft hatte. Hitler entledigte sich der für Mäßigung stehenden fiancheggiatori nach Hindenburgs Tod 1934 schlagartig mit Hilfe einer Truppe, wie sie Mussolini vor 1943 niemals besaß: der ihm bedingungslos ergebenen SS. Dass Hitlers Herrschaft außerdem auf einer funktionierenden, zunehmend willfährigen Beamtenschaft, einem für rasche Aufrüstung trainierten und auf Revanche sinnenden Heer, einer der führenden Volkswirtschaften und nicht zuletzt auf einem international hochangesehenen System naturwissenschaftlicher und technischer Großforschung aufruhte, macht weitere wesentliche Unterschiede zum italienischen Fall aus und erklärt auch die ungleich größere Durchschlagskraft. Aber alle diese Faktoren hätten ohne eine geistige Prädisposition, ohne grundsätzliches Einverständnis der deutschen Eliten keine solchen Früchte getragen. Angebote an Erklärungen gibt es seit Jahrzehnten in großer Zahl. Eine besonders überzeugende offerierte vor kurzem der Historiker Per Leo, der zwar wie so viele andere vor ihm ebenfalls die deutsche Geistesgeschichte der hundert Jahre vor der nationalsozialistischen Machtergreifung durchmustert hat, aber das Problem der manifest gewordenen Gewaltutopie nicht mit der verbreiteten Entgegensetzung von ‚Barbarei‘ und ‚Kultur‘ zu entschlüsseln sucht, sondern diese beiden Antinomien im Rahmen einer Ideen-, Denk- und Mentalitätsgeschichte des deutschen bürgerlich-­gebildeten Milieus miteinander verband.51 Weshalb, so lautet die beklemmende Frage, traf die von Anfang an und ohne taktische Einschränkungen oder pragmatische Zugeständnisse alle Deutschen der biopolitisch-­rassischen Prüfung unterwerfende nationalsozialistische Herrschaftspraxis, die für die solchermaßen als sozial und rassisch ‚minderwertig‘ aus der ‚Volksgemeinschaft‘ Ausgeschlossenen brutale Folgen hatte, nicht etwa auf schweigende Duldung als Folge terroristischer Bedrohung – das auch −, sondern bei erheblichen Teilen der Eliten auf offene Zustimmung? Weshalb findet sich diese Disposition so weder in Italien noch in irgendeinem anderen westlichen 49 Aus der neuerdings reichlich erscheinenden Literatur ­seien lediglich jene Titel hervorgehoben, die das Tathandeln in den Mittelpunkt stellen: Carlo Moos, Ausgrenzung, Internierung, Deportation. Antisemitismus und Gewalt im späten italienischen Faschismus (1938 – 1945), Zürich 2004. Thomas Schlemmer / Hans Woller, Der italienische Faschismus und die Juden. In: VfZ 53 (2005), S. 164 – 210. Linda Thomas, Die Juden im faschistischen Italien. Die Razzien im römischen Ghetto und im Ghetto von Venedig, Frankfurt/M. 2009. Michele Sarfatti, Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung, Berlin 2014 (ital. Original 22007). 50 Noch immer maßgeblich ist Lutz Klinkhammer, Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò, Tübingen 1993. 51 Per Leo, Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890 – 1940, Berlin 2013.

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Land, sondern ausschließlich in Deutschland und allenfalls noch Österreich? Die Antwort sieht Leo in dem von ihm entdeckten charakterologischen Denkstil, einer der zahlreichen intellektuellen Missgeburten des im Niedergang befindlichen deutschen Idealismus, der auf der Suche nach einem angemessenen Weltverhältnis zur Moderne beim deutschen Nationalcharakter landete. Schon mindestens seit den 1860er Jahren stand die Frage, was eigentlich ‚deutsch‘ sei, auf der Tagesordnung. Von Anfang an verband sich damit die Frage, wer eigentlich ‚deutsch‘ sei.52 Antworten sollten nicht bloß geistige Orientierung in der fremd und unsicher gewordenen Welt bieten, sondern Werkzeuge, um den sich tarnenden Feind zu erkennen. Diese lieferte der charakterologische Denkstil seit ca. 1900, indem er den „Experten zur Herstellung von Deutschen“ 53 ein Klassifikationsschema an die Hand gab. Die Wirkmächtigkeit d ­ ieses Denkstils liegt darin begründet, „dass hier Weltanschauungsautoren die Vorstellung einer kategorialen Ungleichheit der Menschen in alle Gebiete des ­Wissens überführen“ und so „das obsessive Nachdenken über die Juden als ‚das Andere‘ in Politik, Wirtschaft und Kunst“ mit Philosophie und ganzheitlichem wissenschaftlichem Denken zusammenbrachten und auf diese Weise adelten.54 Das ganze Denken dieser Gebildeten drehte sich um Deutsch-­ Sein einerseits, um Identifikation und Beseitigung des ‚Fremden‘ andererseits. Der von ihnen gebrauchte Denkstil bevorzugte eine Sicht auf die Gesellschaft, die auf wertende Unterscheidung, Abgrenzung und Klassifikation angelegt war: Für grundsätzlich verschieden, auch verschiedenwertig, hielt man die Kategorien ‚Mann‘ und ‚Frau‘, ‚Herr‘ und ‚Knecht‘, ‚Deutscher‘ und ‚Ausländer‘, ‚Arier und ‚Jude‘, so dass Nationalismus, Sexualität und Rassendiskurs eine unauflösliche Verbindung eingingen, und weil damit ein Bedrohungsszenario verbunden war, konnte die ‚Lösung‘ nur in der ‚Reinigung‘ des ‚Volkskörpers‘ bestehen. Judenfeindschaft war deshalb für diese Kreise ein Gebot der Vernunft. Bereits um 1900 war darum die völkisch grundierte Kultur des Antisemitismus im bürgerlichen und gebildeten Milieu fest verankert. Was der Nationalsozialismus s­ päter programmatisch verkündete, war bekanntlich völlig unoriginell und erregte deshalb bei ­diesem Teil der Deutschen keinerlei Aufsehen, und als er zur Tat schritt, setzte er ‚nur‘ ein Programm um, das d ­ ieses Milieu seit langem zur Reinigung und Befreiung erhofft

52 Eine nachgerade klassisch gewordene und entsprechend verbreitete Antwort lieferte Richard Wagner in seinem großen Essay „Deutsche Kunst und deutsche Politik“ von 1868 (als Artikelfolge bereits 1867): Deutsch sei „die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude willen treiben“, wozu Juden als Nutznießer der von der Moderne geschaffenen Missstände völlig unfähig ­seien. Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 8, Leipzig 1907, S. 96 f. Ähnlich in dem ­kurzen Aufsatz „Was ist deutsch?“ von 1878. Ebd., Bd. 10, S. 36 – 53. 53 Per Leo, Flut und Boden. Roman einer Familie, Stuttgart 2014, S. 79. Dieses Buch steht in engem Zusammenhang mit Leos Dissertation; beiden liegen die eigene Familiengeschichte und der ererbte Bücherschrank mit der einschlägigen Literatur zugrunde. 54 Nicolas Berg, Rezension zu: Per Leo, Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890 – 1940. Berlin 2013 . In: H-Soz-­ Kult, 20. 02. 2015, (30. 6. 2016).

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hatte, ohne einen Weg dahin zu wissen. Insofern ist der Nationalsozialismus ein Teil der deutschen Innerlichkeit, der ‚gebildete National­sozialist‘ seinerseits Teil eines Milieus, das „Täter in großer Zahl hervorbringen konnte“.55 Schon seit 1890 war also Antisemitismus so verbreitet, dass man von ihm geradezu als einem ‚kulturellen Code‘ (Shulamit Volkov) gesprochen hat, eine klassenübergreifende und entsprechend weit verbreitete Sprechweise, ja Weltdeutung. Hinzu kamen die judenfeindliche Theologie des Luthertums und die deutschnationale Haltung seines Führungspersonals, der seit langem institutionalisierte Antisemitismus der Verbände vom Alpen­verein bis zu den Burschenschaften (ein vergleichbar intensives Verbandsleben war in Italien überhaupt unbekannt) und personalpolitische Grundsätze in Bürokratie und Militär, die Juden bis mindestens 1918 massiv diskriminierten. Aus anderer Wurzel stammt der brutale Umgang mit psychisch Kranken spätestens seit dem ­Ersten Weltkrieg, und zwar im Zuge des Aufstiegs der Experten und der damit einhergehenden Aufwertung ihrer Wissensbestände, die der gesellschaftlichen Steuerung dienten.56 Das alles lief nicht geradewegs auf den Holocaust zu, erklärt aber in jedem Falle, weshalb nach 1933 in Deutschland gegen Zwangssterilisation, Entrechtung und Vertreibung so wenig Widerspruch gekommen ist. Vergleichbares war in Italien viel weniger zu finden. Die katholische Kultur bestimmte auch das Weltverhältnis vieler Gebildeter. Dem von ihr vermittelten Weltbild, aufruhend auf Erbsünde und Versöhnungsgebot, fehlte theoretisch jede nationale Fixiertheit, auch wenn die Praxis im Zuge der imperialistischen Aspirationen des Landes nach der Jahrhundertwende von der Überlegenheit der Weißen, gemeint waren die Italiener, zu sprechen begann. Es war eher ein politischer als sozialbiologisch inspirierter Rassismus. Weil dieser auch an den Universitäten kaum eine Rolle spielte – typischerweise fand auch der Kriminalanthropologe Cesare Lombroso im eigenen Land kaum Anhänger −, blieb die Judenfeindschaft religiös grundiert und damit ein Merkmal vor allem der ‚kleinen Leute‘, die man in immer neuen Wellen mit dem klassischen Ritualmordvorwurf judenfeindlich zu konditionieren suchte. Vor allem wer in Neapel studiert hatte, war dort mit Hegels Lehre in Berührung gekommen, von der aus gleichfalls kein Weg zu obsessivem Denken in nationalistischen Kategorien führte. Eher schon zu einem Risorgimento-­Verständnis, das die Juden, nicht anders als die Masse der katholisch orientierten Bevölkerung, einem rigiden Assimilationsdruck zu unterwerfen versuchte und ‚Andersartigkeit‘ nicht zu akzeptieren bereit war. Es ist heute zwar unbestritten, dass es einen autochthonen italienischen Antisemitismus gab, doch blieb dieser selbst nach der Machtergreifung des PNF, an dessen Gründung sechs Juden beteiligt waren, auf einen noch jahrelang eher einflusslosen Flügel beschränkt. Die 1938 im Inland einsetzende Verfolgung ist darum als 55 Leo, Der Wille zum Wesen (wie Anm. 51), S. 32. 56 Dazu vor allem Lutz Raphael, Sozialexperten in Deutschland ­zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918 – 1945). In: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 327 – 346.

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„Staatsantisemitismus“ (Michele Sarfatti) bezeichnet worden,57 die weder von pogromartigen Gewaltmaßnahmen begleitet noch den Gebildeten als überfällige Maßnahme zur Sicherung des italienischen Volkes begrüßt wurde. Dass die Judenverfolgung darum harmloser gewesen sei, ist ein von der Forschung inzwischen widerlegter Irrtum.58 Mussolinis Herrschaft beruhte, jedenfalls nach vorherrschender Ansicht, eher auf breitem Konsens (der sich allerdings nach Kriegsbeginn rasch verflüchtigte) als auf der Selbstmobilisierung einer namhaften Zahl überzeugter Angehöriger von Eliten, die seine Machtergreifung als lang ersehnte Erlösung betrachteten. Dem Duce wurde auch nicht ‚entgegengearbeitet‘ (Ian Kershaw), sondern der PNF fungierte nach seiner 1932 verfügten Öffnung „in hohem Maße als Instrument zur politischen Kontrolle der italienischen Gesellschaft“,59 wenn 1939 etwa die Hälfte der Einwohner der Halbinsel in irgendeiner Weise faschistisch organisiert waren. Das alles zusammengenommen gibt Anlass zur Hypothese, dass die Unterschiede ­zwischen den beiden faschistischen Regimen vor allem dann zutage treten, wenn man die sie tragende Kultur ins Auge fasst. Wie geht man dann aber mit der unterschied­ lichen Gewaltsamkeit beider um? Mit dem Begriff des ‚Zivilisationsbruchs‘ (Dan Diner) ist, so irrige Assoziationen er auch begünstigen mag,60 das Urteil über die national­ sozialistische Herrschaft offenbar für viele schon gesprochen. Verglichen damit erscheint Mussolinis Herrschaft weit weniger gewaltsam. Vielfach dient dieser Gedanke geradezu der Entlastung des faschistischen ventennio und blendet geflissentlich den brutalen Charakter der RSI aus. Harmlos war der Faschismus aber schon deshalb nicht, weil er die ohnedies schon autoritären Herrschaftsmethoden des liberalen Königreichs drastisch verschärfte und Tausende ins Exil trieb. Der republikanische Faschismus von 1943 bis 1945 zeigt vollends, wozu er fähig war, sobald die fiancheggiatori entfallen waren und die Nationalsozialisten ihn vor dem Zusammenbruch bewahrten: Renaissance des brutalen squadrismo der frühen zwanziger Jahre. Dieses Regime war überhaupt nur noch auf Unterdrückung und Ausplünderung angelegt, konnte aber auch jetzt noch auf Duldung, wenn nicht Unterstützung durch Beamte, Journalisten, Unternehmer und Klerus rechnen. Das erklärt sowohl den Zulauf zur Widerstandsbewegung seit

57 Für die nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen von „Staatsantisemitismus“ zu sprechen, wie es manchmal in der Literatur geschieht, ist dagegen völlig verfehlt. 58 Sehr anschaulich Frauke Wildvang, Der Feind von nebenan. Judenverfolgung im faschistischen Italien 1936 – 1944, Köln 2008. 59 Schieder, Italienischer Faschismus (wie Anm. 47), S. 66. Schieder vermeidet in seinem Buch den Begriff ‚Konsens‘. 60 Irrig deswegen, weil er ein normatives Bild der Moderne verrät: Sie sei an sich gut, der National­ sozialismus gehöre nicht zu ihr, daher der ‚Zivilisationsbruch‘. Dass der Holocaust eine der Möglichkeiten der Moderne repräsentiert – „die schlimmste Version der Modernität“ (Ralf ­Dahrendorf, Dahrendorf über Dahrendorf. Gesellschaft und Demokratie in Deutschland – nach vierzig Jahren. In: FAZ, 11. 1. 1989) −, möchten Anhänger einer irgendwie gearteten Fortschrittstheorie nicht zugestehen.

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Sommer 1944 – junge Männer hatten im Einflussbereich der RSI nur die Wahl z­ wischen Zwangsrekrutierung für Mussolinis Repressionsapparate oder für Arbeit in deutschen Fabriken oder eben Flucht zu den Partisanen −, als auch den Bürgerkrieg, der mit der Erschießung Mussolinis und der deutschen Kapitulation in Oberitalien keineswegs zu Ende war,61 sondern als Klassenkrieg und blutige Abrechnung bis mindestens 1946 andauerte und zehn- bis fünfzehntausend Menschen das Leben kostete.62 Was das Ende faschistischer Herrschaft in beiden Ländern sozialkulturell bedeutete, war zunächst stark umstritten. In Deutschland herrschte lange das Verlustargument vor, 1945 und nicht 1933 wurde als katastrophisches Schlüsseljahr angesehen. Dagegen wurde schon in den 1950er Jahren argumentiert. Seit Ralf Dahrendorfs äußerst einflussreichem Essay von 1965 wissen wir jedoch nicht nur, wie modern der Nationalsozialismus war, sondern dass er − selbstverständlich unabsichtlich − auch eine um vieles modernere Gesellschaft hinterlassen hat. „Zukünftigen autoritären Regierungen nach dem Muster der deutschen Tradition [hat er] die soziale Grundlage genommen“.63 Dahrendorf sprach darum von der „Revolution der nationalsozialistischen Zeit“. Auch die National­ sozialisten hatten sich als Revolutionäre bezeichnet, aber Dahrendorf meinte natürlich etwas anderes. Inzwischen haben andere Interpretationsvorschläge Dahrendorfs These variiert.64 Gleichwohl fand 1945 unbestritten ein fundamentaler Umbruch statt, war das Faszinosum Hitler auf einmal wie weggeblasen. Das entsprach schließlich auch der allgemeinen Erfahrung, der Anschauung, dem Lebensgefühl. ‚So viel Anfang war nie …‘ Dahrendorfs Paradoxon gilt umgekehrt aber auch für Italien und hilft dort die Schwächen der Demokratie und den Untergang dessen zu erklären, was man Erste Republik zu nennen pflegt.65 Der Faschismus hat der italienischen Gesellschaft weit weniger Modernisierungsimpulse vermittelt als der Nationalsozialismus der deutschen. Daher vermochten die alten Eliten am 25. Juli 1943, den Duce, bevor dieser durch seine 61 Vom dreifachen Bürgerkrieg sprach als erster Claudio Pavone, Una guerra civile. Saggio storico sulla moralità della Resistenza, Turin 1991, und löste damit anfangs einen Historikerstreit aus. 62 Hans Woller, Ausgebliebene Säuberung? Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien. In: Ders. / Klaus-­Dietmar Henke (Hg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 183. 63 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland [1965]. Taschenbuchausg., München 51977, S. 431. Ebd. das folgende Zitat. 64 Am wirkmächtigsten war die Debatte um die ‚Westernisierung‘ der bundesrepublikanischen Gesellschaft, weil sich aus ihr eine mit dem Moderne-­Konzept vereinbare Sicht auf die Nachkriegsgeschichte mit einer breiten Übergangszone z­ wischen 1965 und 1975 entwickelt hat. Sie besitzt momentan die größte Überzeugungskraft. Knapp dazu Anselm Doering-­Manteuffel, Die deutsche Geschichte in Zeitbögen des 20. Jahrhunderts. In: VfZ 62 (2014), S. 321 – 348. Zeitlich und thematisch weiter ausgreifend Thomas Raithel / Andreas Rödder / Andreas Wirsching (Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009. 65 Das Folgende nach Carl Levy, From Fascism to ‚post-­Fascists‘: Italian roads to modernity. In: Richard Bessel (Hg.), Fascist Italy and Nazi Germany. Comparisons and Contrasts, Cambridge 21997, bes. S. 182 ff.

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militärischen Abenteuer deren Besitzstände vollends auf Spiel setzte, abzusetzen. Nur so war ihre Erhaltung gesichert. Tatsächlich fand im sogenannten Königreich des Südens, zu dem ab August 1944 auch die Hauptstadt Rom mit den Zentralbehörden gehörte, nur ein minimaler Elitenwechsel statt. Der letztlich ungesäuberte Verwaltungs-, Polizei- und Militärapparat hat eine wirkliche Modernisierung des Lands immer wieder im Bündnis mit den daran ebensowenig interessierten Wählergruppen verhindert, wobei das letzte Mittel des Staatsstreichs nicht ausgeschlossen wurde (aber nicht funktionierte 66). So gesehen hat der Faschismus eine außerordentlich dauerhafte Koalition von Nutznießern geschaffen, deren Herrschaft durch die italienische Version der Bollwerktheorie – die Stärke der KPI, anfangs unterstützt durch die prokommunistischen Sozialisten, machte die DC unantastbar – bis 1989/90 verlängert worden ist. In vielen Hinsichten beerbte Berlusconi nur die 1994 untergegangene DC und passte sie den gewandelten Zeitumständen an, weshalb mit Recht gefragt wird, ob die Rede von der Zweiten Republik nicht vor allem einer Strategie der Selbstexkulpation dient.67 Soziokulturell waren und sind die beiden Länder sehr verschieden – Nachbarn zwar, aber in vielen Hinsichten durch einen Zaun getrennt, der die Sicht behindert. Der frühere italienische Botschafter in Deutschland, Luigi Vittorio Graf Ferraris, stellte denn auch einmal ironisch fest, Italiener und Deutsche kennten sich seit vielen Jahrhunderten „vielleicht zu gut bis hin zu dem Punkt, an dem sie sich gegenseitig verkennen“.68 Aspekte der Moderne Historiker haben sich bisher eher selten die Frage gestellt, wie überhaupt und wie intensiv die Moderne beide Gesellschaften erfasst hat, und mangels Vorarbeiten greift man daher durchaus pragmatisch jene Th ­ emen auf, die hilfreiche Antworten versprechen. Wenn es um politische und kulturelle Strukturprobleme geht, mag der Umgang mit den drei Größen Institutionen, Lebenslagen, Erinnerung besonders interessant sein. 66 Genannt s­ eien nur Organisationen wie P 2, Rosa dei venti und die 1990 aufgedeckte, von NATO und CIA betriebene Geheimorganisation Gladio sowie die in den sechziger Jahren von rechten Kräften in Regierung und Parteien im Rahmen der „Strategie der Spannung“ entwickelten Staatsstreichpläne (piano SIGMA, piano Solo). Konkrete Anschläge unternahmen allerdings nur rechts- und linksradikale Organisationen. 67 Angesichts der weiterhin existierenden charakteristischen Merkmale der sogenannten Ersten Republik stellte Giovanni D’Ottavio kürzlich diese provokante Frage. Giovanni D’Ottavio, Seconda Repubblica. In: Richard Brütting / Birgid Rauen (Hg.), Italien-Lexikon, Berlin 22016, S. 844. Auch Christian Jansen glaubt nicht an die Tatsache einer Zweiten Republik, weil politisches Personal und „die alten klientelistischen und familiaristischen Strukturen nicht an[ge]tastet“ worden seien. Mehr noch: „Die (Nicht)Aufarbeitung des Zusammenbruchs der Ersten Republik zeigte manche Parallele zur (Nicht)Aufarbeitung des fascismo“. Christian Jansen, Italien seit 1945, Göttingen 2007, S. 210 68 Luigi Vittorio Ferraris, Wenn schon, denn schon – aber ohne Hysterie. An meine deutschen Freunde, München 1988, S. 141

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Warum der gewählte Zeitausschnitt? Er ist in doppelter Weise begründungspflichtig. Denn Kaelbles Forschungsbilanz hat ergeben, dass „die lange zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts […] bisher das Eldorado der vergleichenden Sozialgeschichte“ sei.69 Kaelble liefert auch den Grund dazu: Diese Jahrzehnte s­eien „ohne Zweifel eine Schlüsselepoche für das Aufkommen säkularer europäischer Entwicklungen, die auch unsere heutige Gesellschaft noch prägen“. Wenn dieser Ausschnitt dennoch nicht gewählt wurde, so vor allem deshalb, weil hier, wie schon mehrfach betont, Sozialgeschichte nicht im Mittelpunkt steht. Er wäre auch, was Italien betrifft, ziemlich ungeeignet, denn wichtige wirtschaftliche und soziale Entwicklungen bzw. Umbrüche würden damit kaum oder gar nicht erfasst: Industrialisierung, Alphabetisierung, Sozialstaat, Urbanisierung und anderes mehr. Die ersten drei Errungenschaften fanden dort s­ päter statt, die Urbanisierung lange zuvor. Wenn also nicht, wie so oft, von 1850 bis 1914, welcher Zeitraum dann? Die im Mittelpunkt stehenden politischen und kulturellen Strukturprobleme lenken unseren Blick auf den anderen wichtigen Baustein der Moderne: den Nationalstaat. Mit ihm kam etwas ganz Neues in die Welt. Selbst wo er keine Grenzen verschob und sich ins ererbte Gefäß der frühneuzeitlichen Monarchien einpasste, vollzog sich seine Geburt nicht ohne Gewalt. Denn er war politisch anders verfasst als seine Vorgänger, legitimierte sich anders und verlieh seinen Bürgern eine neue Form von Identität. Er erwartete deshalb von ihnen auch mehr und beschwor neuartige Krisen herauf. Damit ist der Beginn des Untersuchungszeitraums festgelegt. Auf der Apenninenhalbinsel entstand der Nationalstaat ziemlich genau 1860, bei uns nur wenig ­später. Schwieriger zu begründen ist das Ende. Hundert Jahre sind zunächst einmal keine in der ‚Geschichte selbst‘ vorfindliche Größe, sondern ein Konstrukt wie jede andere Periodisierung auch, allerdings ein scheinbar besonders wenig wertbefrachtetes. Was geht um 1960 zu Ende, das mit 1860 im Zusammenhang steht? Klammert man das Thema ‚Klassengesellschaft‘ aus, so ist es in jedem Falle der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. In Italien und Deutschland hat dieser Staat besonders viele Krisen hervorgerufen, weil er in den Augen seiner Bürger lange Zeit als unvollständig, unfertig und ungerecht, ja als illegitim empfunden wurde und sich deshalb seinerseits von zahlreichen Feinden außer- und namentlich innerhalb seiner Grenzen bedroht glaubte. Es bedurfte der Erfahrung zweier Weltkriege und der bis dahin schlimmsten Diktaturen Europas, damit die beiden Nationen sich selbst anerkannten und zugleich mit den Nachbarn auszukommen lernten. Dass diese Zäsur sich mit anderen verband – mit nachgeholter, sich in wahrhaft atemberaubendem Tempo vollziehender Industrialisierung in Italien, mit Wohlstandsgesellschaft und einem neuen Schub von Städtewachstum und mit der beginnenden Einsicht in die

69 Kaelble, Vergleichende Sozialgeschichte (wie Anm. 14), in: Haupt / Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich, S. 100. Ebd. auch das nächste Zitat.

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ökologischen Folgen beider −, macht die Entscheidung umso plausibler. Gesellschaftsgeschichtlich beginnt, so meinen inzwischen viele Histo­riker, nach den 1960ern eine neue Epoche: unsere Gegenwart.70 Nationalstaaten brauchen Hauptstädte und in den allermeisten Fällen steht die Wahl von vornherein fest. Anders in Deutschland und Italien. Ferdinand Seibts Rom-­Buch, zu dem sich der Autor von der deutschen Hauptstadtfrage nach 1990 hat inspirieren lassen, lässt erahnen, was es hierzu aus vergleichender Perspektive alles zu sagen gäbe.71 An histo­ rischen Hauptstädten ist Deutschland besonders reich – Wien, Regensburg, Aachen und vor allem Frankfurt, s­päter Berlin und von 1949 bis 1991 auch noch Bonn −, aber hierzulande scheint das Thema erledigt. Dagegen gibt es an dauerhaften Rivalen in Italien keinen Mangel; namentlich der Anspruch Mailands, sowohl die moralische als auch die wirtschaftliche Kapitale des Lands zu sein, wird von Rom wohl niemals zu entkräften sein.72 Eine ganz andere Dimension tut sich freilich auf, sobald man die Bedeutung der einmal gewählten Hauptstadt für ihr Land zu ermessen sucht. Um Berlin gab es weder Krieg noch eine internationale Diskussion Gebildeter und Frommer, niemand musste bei seiner Wahl den Fluch der ­Kirche fürchten noch hat Berlin als Hauptstadt die deutsche Politik überfordert. Das alles lässt sich aber von Rom sagen. Es hat sich als schwer verdaulicher Brocken im italienischen Magen erwiesen. Für unsere Leitfrage der Funktion der einzelnen Th ­ emen für die Moderne, so könnte man diese Gedankenskizze abschließen, ist jedenfalls so viel klar: „Roma aeterna“ bedeutet Aura, Geschichtsschwere, Erblast. Berlin dagegen steht seit 1870 immer wieder als Symbol für Neubeginn, Moderne, Nüchternheit, Tempo. Die Entscheidung für Rom bindet das Land mehr als nur symbolisch mit Bleigewichten an die Vergangenheit. Das kann man schon am Stadtbild ablesen. Der Nationalstaat war immer nur kurzfristig, also in Ausnahmefällen, in der Lage, der Stadt seinen Stempel aufzudrücken. Am ehesten ist das noch Mussolini gelungen, der die mittelalterlichen Viertel bis auf geringe Reste abreißen und für die geplante Weltausstellung von 1942 an der südwestlichen Peripherie den nach ihr benannten Stadtteil EUR errichten ließ. Dieses Viertel einschließlich des Palazzo della Civiltà Romana ist, was seine tatsächlich realisierte Formsprache betrifft, neuerdings als Ergebnis deutschen Einflusses identifiziert worden, den Mussolini bei seinem Staatsbesuch in Berlin im September 1937 aufgenommen hat; er ließ daraufhin die Pläne umarbeiten.73 Aber insgesamt gesehen wurde Rom niemals wirklich modern

70 Wie Anm. 64. 71 Ferdinand Seibt, Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt, Berlin 2001. 72 Meist wird übersehen, dass es in Italien von 1943 bis 1945 nicht weniger als drei Hauptstädte gab: Brindisi bzw. Salerno als Hauptstadt des „Königreichs des Südens“, Salò bzw. Verona oder Mailand als Hauptstadt der Repubblica Sociale Italiana und natürlich das päpstliche Rom, in dem nach wie vor auch die meisten Ministerien, nicht jedoch die Minister angesiedelt waren. 73 Nicole Timmermann, Repräsentative „Staatsbaukunst“ im faschistischen Italien und im national­ sozialistischen Deutschland. Der Einfluß der Berlin-­Planung auf die EUR, Stuttgart 2003.

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(und wo es das sein will, missrät der Versuch in aller Regel; die ganze moderne Urbanistik ist verpfuscht): Im Zentrum die Reste der Antike und eine Stadt auf barockem Grundriss, an ihren Rändern Slums, die einen gelegentlich glauben lassen, man befinde sich schon in der Dritten Welt. Ob der Regionalismus ein Relikt der Vormoderne oder Vorbote der Postmoderne sei, könnte man sich fragen.74 Dazu muss man wissen, dass weder die italienischen Regionen noch die deutschen Länder mit den historischen Staaten identisch und daher künstlich sind; einzige Ausnahme sind Sardinien und Sizilien sowie Bayern und Sachsen. Trotzdem gibt es hier wie dort ein lebendiges Regionalbewusstsein, das sich aus kollektiven Interessen und Leistungen speist und im Wettbewerb steht. Seit den 1890ern ist das zu beobachten, und zwar vor allem in den entstehenden wirtschaftlichen Ballungsgebieten, deren Arbeiterklasse mit ihren parteipolitischen Präferenzen den Trend noch verstärkte. Während in Deutschland der konfessionelle und sogar der innerprotestantische Gegensatz die Differenzierung noch zusätzlich begünstigte, aber geographisch anders verteilte, so dass sich insgesamt eine größere Vielfalt ergab, sind in Italien wirtschaftliches, intellektuelles und sozialistisches Zentrum zusammengefallen und haben der Lombardei zu einem neuen Selbstbewusstsein verholfen. Den faschistischen Regimen war regionales Sonderbewusstsein ein Dorn im Auge, sie bekämpften es nach Kräften, doch brachten sich über die Provinzfürsten (schon ihre Bezeichnungen Gauleiter bzw. federali sorgte dafür) die Regionen immer wieder aufs Neue in Erinnerung. Nach 1945 sollte deshalb der Regionalismus der Stärkung der Demokratie dienen und wurde von den Alliierten bzw. der Resistenza verordnet, aber bis zum Ende des hier behandelten Zeitraums hatte Rom den Verfassungsauftrag nicht umgesetzt. Gerade das zeigt, dass der Regionalismus kein Relikt der Vergangenheit, sondern eher so etwas wie ein gesellschaftlicher Jungbrunnen ist, dessen Wasser die Loyalitäten immer wieder neu sprudeln lassen. Anderes bestätigt dagegen unsere landläufigen Vorstellungen vom deutsch-­italie­ nischen Gegensatz. Das Verhältnis zur Natur, der Umgang mit der Landschaft ist in beiden Gesellschaften sehr verschieden.75 Naturschutz gilt als Bestandteil der deutschen Kultur, in Italien gibt es allenfalls bei den Eliten ein ökologisches Gefährdungsbewusstsein. Bevor die Deutschen sich nun selbstgefällig zurücklehnen, sollten sie bedenken, dass ökologisches Denken in dem hier zur Diskussion stehenden Zeitausschnitt vor allem von antiliberalen Kräften getragen wurde. Bauerntümelei diente der Abwehr von vielem: der Arbeiterbewegung, der Industrie, der Großstadt, des Judentums und eben auch der Naturzerstörung – kurz, der Moderne. Als die Grünen in den 1980er Jahren die Ökologie endgültig zum Bestandteil der Moderne zu machen begannen, boten selbst sie manchen altvertrauten kulturpessimistischen Stimmen zunächst eine Heimat. Im Blick auf ungute deutsche Traditionen darf man also durchaus von einer erfolgreichen

74 Marco Meriggi, Regionalismus. Relikt der Vormoderne oder Vorbote der Postmoderne. 75 Gustavo Corni, Der Umgang mit Landschaft und Umwelt.

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Kulturrevolution sprechen, aber für die Zeit z­ wischen 1860 und 1960 tut man sich mit einem Urteil schwerer. Wenn das „machet Euch die Erde untertan“ (1. Mo. 1, 28) einen vormodernen Umgang mit Natur bedeutet, der schonende Umgang mit ihr dagegen für Moderne steht, dann müsste der aus dem deutschen Idealismus hervorgehende Gedanke des Naturschutzes angesichts der ‚Nebenwirkungen‘, insbesondere seines hohen politischen Preises, als ein weiteres Beispiel für reactionary modernism (Jeffry Herff) gewertet werden. Aber was für eine Moderne ist dann jene, die, wofür das italienische Beispiel steht, im ­­Zeichen liberaler Weltsicht Eingriffe in den Raubbau an unserer Umwelt ablehnt oder jedenfalls verhindert? Die Dinge verhielten sich vielleicht anders, wenn alle unter Gemeinwohl dasselbe verstünden. Das ist nun freilich nicht der Fall, weil das jahrhundertelang allgemein anerkannte und verbindliche Normensystem unter dem Einfluss des Naturrechts und der klassischen Nationalökonomie seit dem 18. Jahrhundert an unmittelbarer Geltungskraft verloren und in den modernen Verfassungen den Staat nur noch auf eine nicht näher bestimmte und jedenfalls ethisch neutralisierte ‚Wohlfahrt‘ verpflichtet hat.76 Der liberale Staat und das Kaiserreich sind dann aber Ende des 19. Jahrhunderts sehr nachdrücklich an ihre Gemeinwohlverpflichtung erinnert worden, und zwar einerseits von der katholischen Soziallehre, andererseits von Gierkes Idee der Genossenschaft. Praktische, wenn auch begrenzte Wirkung erzielte jedoch der Kathedersozialismus, und auch das nur nördlich der Alpen; in Italien blieb diese Lehre auf die Universitätskatheder beschränkt. Andere Motive traten hinzu und entsprechend unterschiedlich war denn auch die Ausgestaltung des Sozialstaats bis in die 1960er Jahre beschaffen. Daran zeigt sich, dass der Staat, namentlich der italienische, gewissermaßen zu bürgerlich war.77 Der Staat des Bürgertums ist im 19. Jh. eben der nationale gewesen, ihm hat man die Lösung auch aller anderen Probleme zugetraut, so dass man beispielsweise auf sozialpolitische Zweckbestimmungen geglaubt hat verzichten zu können. Dabei war dieser Nationalstaat ganz konkret weder in Italien noch in Deutschland unter namhafter bürgerlicher Beteiligung entstanden. Offensichtlich waren aber moderne Staaten nur in der Weise zu organisieren, dass sie von vornherein die bürgerlich-­liberale Ordnung realisierten, obwohl diese nur von einer Minderheit der Bewohner geteilt wurde. Tatsächlich bezeichnete sich das faschistische Italien als „la grande proletaria“ und auch der Nationalsozialismus stützte sich in seiner Propaganda stark auf antibürgerliche Affekte. Was bedeutet das für die Frage nach der Moderne? Es habe von ihr zu viel auf einmal gegeben, so die These Wolfgang Schieders.78 Die nationale Identitätsfindung, die politische Verfassungsbildung und der wirtschaftliche Strukturwandel ­seien überall stets von erheblichen Konflikten begleitet gewesen. Alle 76 Pierangelo Schiera, Gemeinwohl in Italien und Deutschland von der konstitutionellen Ära bis zum Totalitarismus. Schlagwort, politische Praxis oder Lehre? 77 Dies die These von Franz Bauer, Wie bürgerlich war der Nationalstaat in Deutschland und Italien? 78 Wolfgang Schieder, Die Geburt des Faschismus aus der Krise der Moderne.

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europäischen Staaten hätten sie nur einzeln bewältigen können und wo dazu nicht die Zeit war, ­seien sie zusammengebrochen. Der Faschismus italienischer und deutscher Spielart ist für Schieder deshalb ein „Krisenprodukt der Moderne“. Seine Führer gaben sich als Vermittler einer antimodernen Allianz aus, benutzten aber nicht nur im Falle der Massenmobilisierung erfolgreich modernere Strategien als ihre bürgerlichen und kommunistischen Konkurrenten, sondern ihnen gelangen auch nach der Machtergreifung im Falle der nationalen Identitätsbildung und des wirtschaftlichen Wandels erhebliche Erfolge. Zum Ausgleich betrieben sie an anderen Fronten – das Beispiel der Rolle der Frauen wird von der Wissenschaft aus guten Gründen immer wieder hervorgehoben – eine antimodernistische Politik, freilich mit modernen Mitteln. Die vom Faschismus erzeugten Modernisierungsschübe – sie fielen südlich der Alpen viel geringer aus als nördlich davon − waren deshalb teils gewollt, teils waren sie eine unbeabsichtigte Folge seiner Politik. Im deutschen Falle sorgte sie dafür, dass seither Modernisierungskrisen nicht mehr zum Zusammenbruch des politischen Systems geführt haben, während die Ende der 1980er / Anfang 1990er Jahre Italien erschütternde schwere Krise durchaus als eine Folge mangelnder Anpassungsfähigkeit des Systems und der sie tragenden Eliten gedeutet werden kann. Faschistische bzw. nationalsozialistische Praxis war in erster Linie Gewalt. Weil das noch nicht allseits anerkannt ist und weil Historiker sich ganz allgemein dem Thema ‚Gewalt‘ eher zu verschließen pflegen,79 bleibt nicht viel mehr als ein lediglich kurso­ rischer Durchgang der Repression als moderner Herrschaftstechnik.80 Mit dem herge­ brachten Bild kontrastiert auffallend der Befund, dass das ‚bürgerlichere‘ italienische Königreich wesentlich repressiver war als das Deutsche Reich. Die politische Gewalt war geradezu strukturell, weil die italienische Notabeln- bzw. Honoratiorenherrschaft mangels sozialen Rückhalts sich anders nicht hätte halten können. Das setzte sich im ­Ersten Weltkrieg mit Tausenden ausgesprochener und Hunderten vollstreckter Todesurteile fort. Im Vorfeld der Machtergreifung des italienischen Faschismus ging es, erst recht gemessen an der k­ urzen Zeitspanne, ebenfalls ungleich gewaltsamer zu als in der Weimarer Republik. Die spezifisch faschistische Gewalt konnte sich nahezu ungehindert austoben, weil Polizei, Militär und Justiz mindestens wegsahen. Vergleichbare Gewaltorgien gab es in Deutschland erst nach dem 30. Januar 1933 und gerade das macht die Willfährigkeit der Ordnungskräfte besonders erklärungsbedürftig. Hinsichtlich der sichtbaren, demonstrativ zur Schau gestellten Gewalt blieben sich die beiden Faschismen gegenseitig also nichts schuldig. Der Nationalsozialismus entwickelte darüber

79 Der Grund besteht darin, dass sie, wie Vertreter benachbarter Disziplinen auch, stillschweigend glauben, dass im Zuge der Moderne die Gewalt abnehme. Dies bündig offengelegt zu haben, ist das Verdienst von Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008. 80 Lutz Klinkhammer, Staatliche Repression als politisches Instrument. Deutschland und Italien z­ wischen Monarchie, Diktatur und Republik.

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hinaus jedoch ein auffallend hohes Maß an administrativer Gewalt, deren Gipfelpunkt Heydrichs „kämpfende Verwaltung“ bildete. Sie setzte den Holocaust in Deutschland, West- und Südeuropa nahezu geräuschlos ins Werk. Im Osten kamen jedoch genuin faschistische Methoden zur Anwendung, und dies nicht nur beim Holocaust, sondern ebenso im Alltag der Besatzung – auch wo diese aus Italienern bestand.81 Militärs und Sondertruppen arbeiteten dabei reibungslos mit der Verwaltung zusammen. Wie aber lässt sich die Geschichte der Gewalt nach 1945 fassen? Verschwand sie tatsächlich oder wurde sie nur unsichtbar, weil nun der Kommunismus von den Christdemokraten und ihren Verbündeten zum Feind erklärt wurde? Jedenfalls änderten sich die Mittel staatlicher Repressionsinstrumente: statt Ausnahmezustand und Schießbefehl verfassungsrechtliche und politische Vorkehrungen. Als unser Untersuchungszeitraum endete, betrat eine andere Form von Gewalt die Szene: der Terror. Er verschwand bis heute nicht und signalisiert damit ein neues Merkmal der Moderne. Der modellhaft angelegte Vergleich der italienischen und preußischen Kommunalpolitik und -verfassung bringt ebenfalls am Ende vertraute Vorstellungen durcheinander.82 Auf der normativen Ebene waren die Unterschiede erheblich, ihre Wesenselemente schlossen sich gegenseitig aus. Man kann sie mit den Begriffen ‚Autonomie‘ für das preußische und ‚Demokratie‘ für das italienische System umschreiben – ‚Demokratie‘ verstanden als Versuch, ein echtes Mehrebenensystem zu verhindern, indem die Parla­ mentsmehrheit bzw. die von ihr gestellte Regierung (über die Provinzen hinweg) ein direktes Durchgriffsrecht auf die Kommunen erhielt, deren gewählten Körperschaften man von Rom aus misstraute.83 Das erleichterte dem Faschismus die Machtergreifung, er musste ‚nur noch‘ die Wahlen abschaffen. In Preußen hat dagegen der Demokratisierungsschub der Revolution von 1918 an der kommunalen Autonomie nichts geändert – viele Bürgermeister blieben im Amt, zumal so prominente wie Adenauer in Köln und Jarres in Duisburg −, so dass der Nationalsozialismus beide beseitigte, dabei aber kolla­borierende Bürgermeister wie Goerdeler in Leipzig zunächst noch duldete. Rugges provokanten Feststellungen für die Zeit bis 1922/33 wird man kaum widersprechen können: Erstens sorgten die Parteien dafür, dass die beiden Systeme sich aufeinander zubewegten, und zwar im Interesse ihrer Machtausübung. Zweitens wirkte die Demokratie auf kommunaler Ebene in Italien konfliktsteigernd und störte den Zusammenhalt von Staat und Nation, weil die Regierung häufig unliebsame

81 Vgl. Brunello Mantelli, Die Italiener auf dem Balkan 1941 – 1943. In: Christof Dipper / Lutz Klinkhammer / Alexander Nützenadel (Hg.), Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 57 – 74. 82 Fabio Rugge, Die Gemeinde z­ wischen Bürger und Staat. 83 Es ist nicht nebensächlich, wenn cittadino, ein Schlüsselbegriff im „Land der hundert Städte“ (Carlo Cattaneo), seine ursprüngliche Bedeutung aufgab, sie an den Staat verlor, während im Preußen der Reformzeit eigens der „Staatsbürger“ geschaffen wurde, weil „Bürger“ an die Stadt gebunden blieb.

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Gemeinde­räte auflöste und Bürgermeister absetzte. Nach 1945 lebte in den (west-) deutschen Ländern, wie man jetzt sagen muss, die Autonomie, in Italien die Demokratie nicht mehr im alten Sinne auf. Die Parteienherrschaft steuerte nun noch direkter mittels Personalpolitik und Finanzzuweisungen den Gang der Dinge, nur konnte man das in den ersten beiden Jahrzehnten angesichts fortbestehender Honoratiorenpolitik und steigender Staatszuschüsse noch übersehen. Was ist modern? Die Beseitigung der kommunalen Autonomie. In normativer Hinsicht hatte Italien deshalb jahrzehntelang einen Vorsprung,84 aber auf den Übergang zur Leistungsverwaltung – das war ihre wichtigste neue Vermittlungsaufgabe z­ wischen Bürger und Staat – gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte das offenbar keinen markanten Einfluss. Beim Blick auf die Minderheitenpolitik nach dem ­Ersten Weltkrieg zeigt sich, dass die eklatanten deutsch-­italienischen Unterschiede ­zwischen 1919 und 193985 eine Anomalie waren.86 In beiden Staaten lebten die ‚eigentlichen‘ Minderheiten im Osten, waren also Slawen und damit in den Augen Deutscher wie Italiener kulturell rückständig bis minderwertig und auch gefährlich. Dementsprechend fand in beiden Staaten eine vergleichbare politische Mobilisierung bis hin zu Grenzkämpfen statt; die Grenzlandrhetorik war hier wie dort dieselbe. Was Berlin von der Fortsetzung der preußischen Entnationalisierungspolitik der Vorkriegszeit abhielt, war seine Sorge um die Grenz- und Auslandsdeutschen – auch in Südtirol −, während Rom sich von solchen Rücksichten frei wusste. Es begann darum sofort eine harte Assimilationspolitik; D’Annunzios Anhänger und der sogenannte Grenzfaschismus taten ein übriges. Nach dem Marsch auf Rom änderte sich nichts wesentliches mehr. Das Reich besaß hingegen erst nach der Zerschlagung Polens wieder eine nennenswerte polnische Minderheit. Teile von ihr sollten eingedeutscht werden, für die übrigen (und vor allem für die Juden) ordnete Hitler schon Anfang Oktober 1939 Umsiedlung zugunsten der vor der Tür stehenden Volksdeutschen an. Damit kam Gewaltanwendung ins Spiel, buchstäblich Mord und Totschlag. Die Slawenpolitik Hitlers war rassistisch wie seine Politik überhaupt. Am Rassismus Mussolinis kann aber nach allem, was wir mittlerweile wissen, ebenfalls kein vernünftiger Zweifel mehr bestehen. Er richtete sich allerdings eher gegen andere

84 Er verringert sich, wenn man andere deutsche Staaten heranzieht. In Süddeutschland ist nach 1806 der Trend zur Verstaatlichung der Kommunen weit vorangekommen, die Regierungen orientierten sich, wie ­später das Italienische Königreich, am französischen Vorbild. In der Rheinprovinz hatte ­dieses ohnehin Geltung. 85 Und nicht schon 1933. Da Hitler sich niemals an gegebene Zusagen gebunden fühlte, konnte er sich, um Zeit zu gewinnen, in den Anfangsjahren eine weit konziliantere Politik gegenüber Polen erlauben als die Weimarer Republik, obwohl diese von den Siegermächten kontrolliert wurde. 86 Rolf Wörsdörfer, Die Grenze, der Osten, die Minderheiten und die Modernisierung. Nationalstaat und ethnische Gruppen in Deutschland und in Italien. Die Juden werden, was plausibel ist, von ­Wörsdörfer ausgeklammert. Umfassend, nämlich auch die jugoslawische Politik miteinbeziehend, jetzt ders., Krisenherd Adria 1915 – 1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-­jugoslawischen Grenzraum, Paderborn 2004.

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Gruppen. Die einverleibten Slowenen und Kroaten bezeichnete man als „alloglotti“, Anderssprachige, die man also ‚nur‘ italianisieren müsse. Im Krieg, 1941, gab es bezüglich der annektierten „Provinz Ljubljana“ dann aber auch dort einen Vorschlag, die Slowenen umzusiedeln.87 Die Unterschiede relativierten sich also mit Kriegsbeginn. Genau besehen endete aber, was den Umgang mit nationalen Minderheiten betrifft, in Italien die Tradition des 19. Jahrhunderts schon mit den Grenzverschiebungen nach 1918, denn diese ließen sich mit den herkömmlichen Risorgimento-­Argumenten nicht mehr rechtfertigen, auch wenn das natürlich mit abenteuerlichen Theorien versucht wurde. Die im Zuge der spätimperialistischen Politik nach 1940 annektierten Bevölkerungen sollten gar nicht mehr assimiliert werden. Aus der Sicht der Diktatoren war es deshalb nur logisch, sie umzusiedeln oder zu vertreiben. Die Alliierten haben sich im Zweiten Weltkrieg diese Logik zu eigen gemacht, so dass Italien und Deutschland am Ende unseres Untersuchungszeitraums ethnisch homogener waren als zuvor, ein eindeutiges Merkmal der in dieser Hinsicht düsteren Industriemoderne. Rassismus ist eine moderne Welterklärung und für seine Anhänger absolut rational, weil wissenschaftlich fundiert.88 Vor allem die damals modernen Disziplinen Biologie und Anthropologie haben viel zu seinem Aufstieg und zu seiner Glaubwürdigkeit beigetragen. Er war für alle jene attraktiv und überzeugend, die zu den wissenschaftsgläubigen Milieus zählten – vom Professor über den Lehrer bis zum gebildeten Arbeiter −, denn er ‚erklärte‘ mehr als nur den längst vor 1880 thematisierten Unterschied der Rassen: Er half die Menschheitsentwicklung und die kulturellen Unterschiede besser zu verstehen (nämlich weder christlich noch idealistisch, sondern materialistisch, nach damaligem Verständnis also wissenschaftlich), lieferte Rezepte für die Lösung der nationalen und der sozialen Frage, rechtfertigte den Imperialismus und vieles mehr. Betrachtet man die Vorgänge in Italien bis 1945, werden sofort die Parallelen und Unterschiede zu Deutschland klar.89 Gemeinsam ist die naturwissenschaftliche Fundierung, die Hierarchisierung der Rassen mit dem eigenen Volk an der Spitze („razza latina“ bzw. „Arier“) und die Suche nach Handlungsmöglichkeiten, die die – für bedroht gehaltene – Spitzenstellung sichern sollten. Die Unterschiede sind jedoch erheblich. Auf der Ebene der Weltanschauung findet der religiös-­sexuelle Komplex in Italien selber keine (wohl aber in den Kolonien), der antisemitische nur eine wenig Anhänger überzeugende Entsprechung; auf der Ebene des Drängens zur Praxis geht 87 Mantelli, Italiener (wie Anm. 81), S. 65. Dazu ist es dann nicht gekommen, aber auf die in Gang gekommene Umsiedlung der Südtiroler sei hier wenigstens hingewiesen. 88 Ulrich Herbert hat das knapp, aber bündig ausgeführt: Rassismus und rationales Kalkül. Zum Stellenwert utilitaristisch verbrämter Legitimationsstrategien in der nationalsozialistischen „Weltanschauung“. In: Wolfgang Schneider (Hg.), „Vernichtungspolitik“. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991, bes. S. 27 ff. 89 Brunello Mantelli, Rassismus als wissenschaftliche Welterklärung. Über die tiefen kulturellen Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus in Italien und anderswo.

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es in beiden Rassismen um Prävention und Kontrolle, aber Auslese bzw. Züchtung und gar Ausmerze finden sich nur in Deutschland. Der wichtigste Unterschied besteht sicherlich im Umstand, dass der deutsche Rassismus eine unlösbare Einheit mit dem völkischen Denken eingegangen ist, und das ließ ihn geradezu volkskulturelle Züge annehmen;90 in Italien gibt es hierzu keine Entsprechung. Die Breitenwirkung war in Italien also geringer, gerade − das war entscheidend − bei den Gebildeten: wegen der geringeren Bedeutung der Naturwissenschaften im Bildungssystem 91 (selbst rassistische Vorstellungen wurden oft in kulturell-­literarischen Bezügen formuliert) und folglich auch ihrer Experten im Alltag,92 wegen der anhaltenden Bedeutung des katholischen Weltbildes und weil die Konflikte im damaligen Italien offen ausgetragen wurden, so dass es keiner Suche nach verborgenen Gegnern im Hintergrund bedurfte. Die Judenfeindschaft, die hier freilich nur gestreift werden soll, spielte innerhalb der katholischen Amtskirche bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine tragende Rolle,93 schon weil der italienische Nationalstaat den Juden weiter entgegengekommen war als irgendein anderer in Europa.94 Auch im frühen 20. Jahrhundert blieb, wie sich nach 1938 zeigen sollte, der klerikale Antisemitismus trotz schwindender Virulenz einflussreich. Gleiches gilt für die Vorbehalte gegen die bleibende ‚Andersartigkeit‘ der jüdischen Minderheit unter Liberalen, die eine vollständige Assimilation als Dank für die Emanzipation durch das Risorgimento erwartet hatten.95 Mit anderen Worten: Unter einer ruhigen Oberfläche waren bei erheblichen Teilen der Italiener Vorurteile verwurzelt, die bei geschickter politischer Vorbereitung abgerufen werden konnten. 90 Näher dazu oben, S. 337 f. 91 Mussolinis Unterrichtsminister Giovanni Gentile hat in seiner berühmten Reform 1923 in den maßstabsetzenden klassischen Gymnasien die naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer nahezu abgeschafft. Näheres bei Jürgen Charnitzky, Die Schulpolitik des faschistischen Regimes in Italien, Tübingen 1994. 92 Italienische Anthropologen begannen zwar ab 1938 auch, die Italiener in Karteien zu erfassen (sie begannen mit den Bewohnern der faschistischen Siedlerstädte; weiter kamen sie nicht, denn dann wurde Mussolini gestürzt), aber im KZ Auschwitz Zwillinge und Liliputaner einzusperren und an ihnen in Absprache mit Universitätsinstituten und finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft barbarische genetische Versuche vorzunehmen – diese medizinisch pervertierte Forscherpraxis ist in italienischen Lagern schlechterdings nicht vorstellbar. Zum italienischen Rassismus, der in den letzten Jahren intensiv erforscht worden ist, den neuen Überblick bei Alessandro Visani, Genere, identità e razzismo nell’Italia fascista, Rom 2012. 93 Zu Italien nach wie vor am besten Giovanni Miccoli, Santa Sede, questione ebraica e antisemitismo fra Otto e Novecento. In: Corrado Vivanti (Hg.), Storia d’Italia. Annali, Bd. 11/2. Gli ebrei in Italia, Turin 1997, S. 1370 – 1574. Zu Deutschland Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997. 94 Das Land hatte vor dem ­Ersten Weltkrieg drei Ministerpräsidenten jüdischer Herkunft: ­Alessandro Fortis, Sidney Sonnino und Luigi Luzzati. Nicht einmal die III. Republik kam auf diese Zahl, von anderen Ländern ganz zu schweigen. 95 Dazu Mario Toscano, L’uguaglianza senza diversità. Stato, società e questione ebraica nell’Italia liberale. In: Storia contemporanea 25 (1994), S. 685 – 712.

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Vollkommen undenkbar jedoch bei seinem nationalsozialistischen Gegenstück, blieb der Antisemitismus in den Anfängen des italienischen Faschismus auf den Flügel um Farinacci beschränkt; unter den Mitgliedern des PNF gab es Juden, Mussolini hatte mit Margherita Sarfatti zeitweise eine jüdische Geliebte. Aber das hat in der Folge dazu geführt, dass er jahrzehntelang erheblich unterschätzt worden ist. Mantelli stellt hierzu einiges klar, mittlerweile ist auch in deutscher Sprache etliches zum Thema zu lesen.96 Lange vor 1938 sorgten statistische Erhebungen dafür, dass die Überrepräsentanz der winzigen jüdischen Minderheit in einigen Berufen zum Gesprächsstoff selbst in den Bars wurde. Das hat das Klima vergiftet und es ermöglicht, dass wie in Deutschland die Entrechtung und Ausplünderung nach 1938 durchaus populär war. Über die Haltung der katholischen K ­ irche zur Judenverfolgung ab 1938 herrscht wie im Falle Deutschlands Uneinigkeit. Unstrittig ist nur, dass Klerus und Klöster in Rom und Oberitalien zur Rettung der Verfolgten 1944/45 Außerordentliches geleistet haben. Aber der Beitrag der judenfeindlichen Theologie und Volksfrömmigkeit und die Politik des Vatikans sind bis heute nicht wirklich geklärt − was den Vatikan betrifft, auch wegen seiner dubiosen Archivpolitik, die den Verdacht geradezu provoziert.97 Im Blick auf Deutschland sei aber nochmals betont, dass in Italien nicht nur der Rassismus weniger Breitenwirkung genoss, sondern dass, wichtiger noch, eine Reihe von Denkhaltungen und Institutionen fehlte, die rassistisches und antisemitisches Gedankengut popularisierten und ihm das Odium des Verwerflichen nahmen. Kurz: Auch wenn ein eingehender deutsch-­italienischer Vergleich in Sachen Antisemitismus und mehr noch in Sachen Rassismus bislang aussteht, wird man immerhin sagen können, dass in Italien beide eine deutlich geringere Breitenwirkung hatten. Beides sind moderne Weltsichten, ihrer Verbreitung standen auf der Apenninenhalbinsel jedoch die allgegenwärtige katholisch geprägte Volkskultur, der noch immer vergleichsweise hohe Anteil mindestens funktionaler Analphabeten und das überlieferte Familiensystem entgegen. Gegen die in staatliches Handeln umgesetzten modernen Weltsichten – und das

96 Der bis dahin wichtigste Beitrag in deutscher Sprache stammt von Enzo Collotti, Die Historiker und die Rassengesetze in Italien. In: Christof Dipper / Rainer Hudemann / Jens Petersen (Hg.), Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag, Vierow 1998, S. 59 – 77. Eine Fallstudie ist Gabriele Schneider, Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936 – 1941, Köln 2000. Die Kontinuität der Judenfeindschaft vom 19. Jahrhundert bis in den Faschismus skizziert Carlo Moos, Das Italien der Einigungs- und Nach-­Einigungszeit und die Juden. In: Olaf Blaschke / Aram Mattioli (Hg.), Katholischer Antisemitismus im 19. Jahrhundert. Ursachen und Traditionen im internationalen Vergleich, Zürich 2000, S. 229 – 238. Verwiesen sei nochmals auf Wildvang, Der Feind von nebenan (wie Anm. 58). 97 Vgl. dazu den kritischen Überblick von einem der besten Kenner der Materie: Giovanni Miccoli, I dilemmi e i silenzi di Pio XII, Mailand 2000. In deutscher Sprache liegt von ihm vor: Das katholische Italien und der Faschismus. In: QFIAB 78 (1998), S. 539 – 566. Unzuverlässig in den Urteilen und inhaltlich wenig Neues bietet das dennoch hochgelobte Buch von David I. Kertzer, Der Erste Stellvertreter. Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus, Darmstadt 2016.

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war ab 1937 der Fall, als unter ausdrücklicher Billigung des Vatikans 98 im italienischen Kolonialreich die Rassentrennung eingeführt wurde −, bot das kaum Schutz. Das erklärt den Rassismus im Besatzungsalltag auf dem Balkan, von dem Mantelli schreibt, und die rasche Entrechtung und Ausplünderung der italienischen Juden, erst recht natürlich die Drangsalierung der ausländischen nach 1938. Mildernden Effekt hatte allenfalls die in Jahrhunderten eingeübte Verweigerungshaltung gegenüber der Obrigkeit. Die hochherzigen und mutigen Rettungsaktionen erfolgten bezeichnenderweise erst in einem Augenblick, als das Leben der Juden erkennbar bedroht war, und zwar, wie man zu glauben geneigt war, ausschließlich durch die deutsche Besatzungsmacht. Viele dieser Unterschiede erklären sich gewissermaßen implizit, wenn man ins Auge fasst, was die beiden Gesellschaften landesweit als Kultur praktizierten.99 Auch die Techniken bzw. Medien und Institutionen für die Herstellung einer nationalen Kultur finden dabei Interesse. Für die beiden sich seit langem als Kulturnationen verstehenden Gesellschaften trat mit der Einheit gewissermaßen der Ernstfall ein, den Deutschland dank überlegener institutioneller Voraussetzungen besser bewältigte als Italien. Bis 1945 kann man für Italien eine landeseinheitliche literarisch-­humanistische Hochkultur mit vergleichsweise schmaler sozialer Basis, d. h. in anhaltender Konkurrenz zu den lebenskräftigen, regional unterschiedlichen Varianten katholischer Volkskultur, diagnostizieren. In Deutschland dagegen herrschte eine inhaltlich differenziertere, auch die Realien einschließende Hochkultur, die außerdem institutionell ungleich besser abgesichert war. Gerade das erklärt den kulturellen Bürgerkrieg, der um 1900 in Deutschland gegen die sich formierende Avantgarde ausgerufen wurde 100 und der nach 1918 sogar die politische Stabilität zu unterminieren half. Die Nationalsozialisten ergriffen scheinbar für die überlieferte Hochkultur Partei, was ihnen deren Anhänger in Scharen zuführte, und beendeten den Kulturkrieg 1933 gewaltsam; die Unterhaltungskultur ließen sie indessen gewähren. Der italienische Faschismus war, was die Inhalte betrifft, kulturpolitisch viel weniger festgelegt, ihm ging es vornehmlich um die Vergrößerung der Reichweite, die dank seiner Aussöhnung mit dem Vatikan und großer technischer Anstrengungen ein gutes Stück vorankam. Zwischen 1945 und 1960 bildete sich der Kanon nationaler Hochkultur in Deutschland erheblich rascher zurück als in Italien. Dort leisteten nicht nur Katholiken und Kommunisten Widerstand, sondern es gelang dem Land sogar, mit Produkten wie Essen und Design besonders gut sichtbare und entsprechend bedeutsame Segmente in

98 Eine wichtige Voraussetzung dafür war, dass der Vatikan die Koptische ­Kirche nicht als wirklich christliche akzeptierte. 99 Lutz Raphael, Von der liberalen Kulturnation zur nationalistischen Kulturgemeinschaft. Deutsche und italienische Erfahrungen mit der Nationalkultur ­zwischen 1800 und 1960. 100 Als latenten Bürgerkrieg zweier Kulturen wird man den in Italien besonders lang anhaltenden Kulturkampf bezeichnen dürfen, dessen Exponenten Jesuiten und Freimaurer waren. Ernsthafte Versuche zu seiner Beilegung unternahm Giolitti, beendet hat ihn erst Mussolinis Lateranabkommen von 1929. Verlierer war der Laizismus.

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die westliche Wohlstandskultur zu integrieren. So gesehen ist Italien heute ein Stück weit Weltmacht. Im Gegenzug drang vor 1960 die a-­nationale Massenkultur auf der Apenninenhalbinsel nur langsam vor. In der Bundesrepublik waren die die traditionelle Hochkultur absichernden Eliten durch den Krieg stark geschwächt, wenn nicht verschwunden, ihre Reste suchten die Trägerschichten mit der westlichen Industriegesellschaft auszusöhnen 101 − erfolgreich, wie sich herausstellen sollte. Diese mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einhergehende hochkulturelle Zäsur begegnet naheliegenderweise auch beim Umgang mit der Vergangenheit. Bis dahin hatte es lediglich hie und da Retuschen gegeben.102 Insbesondere der Faschismus hat geschichtspolitisch in beide Gesellschaften unterschiedlich stark eingegriffen. Während in Deutschland im wesentlichen die im 19. Jahrhundert geschaffenen Bilder und Mythen fortbestanden – es war die fünffache Siegergeschichte von Arminius über Barbarossa, Luther und die Befreiungskriege bis zur Reichsgründung 1871 −, erweiterte Mussolinis Romkult die hergebrachte Zweigipfligkeit – Hochmittelalter und Risorgimento – um einen weiteren Gipfel beträchtlich nach rückwärts und suchte damit seine spätimperia­listischen Ausgriffe historisch zu rechtfertigen.103 Die Fachwissenschaft vermochte dem nicht zu folgen, wohingegen Hitlers konventionelles Geschichtsbild den Historikern nicht allzu viel Anpassung abverlangte. Dass die im 19. Jahrhundert zur nationalen Erbauung geschaffenen Geschichtsbilder und -mythen der verschiedenen Nationen miteinander vereinbar sind, wird man schwerlich erwarten. Sie sollten ja gerade die im Kampf gegen die Feinde entstandenen Nationen repräsentieren. Aus italienischer Sicht hatten die ‚Deutschen‘ die Italiener über Jahrhunderte daran gehindert, sich zu einem Staat zusammenzuschließen, die mittelalterlichen K ­ aiser nicht anders als die Habsburger im Zeitalter des Risorgimento. So erklären sich die gewissermaßen antagonistischen Bilder der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts.104 Während sich die Deutschen und Italiener aber dieser kontrastiven Identitätsgeschichte, die das tatsächliche Verhalten der beiden Nationen zueinander übrigens nur marginal beeinflusst hat, nach 1945 entledigten, schuf nunmehr der Umgang mit der totalitären Vergangenheit neue Unterschiede. In Italien avancierte die Resistenza

101 Eines der in dieser Hinsicht einflussreichsten Bücher war ohne Zweifel Hans Freyers ­Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955. Er erklärte dem gebildeten Publikum die Industriegesellschaft als das unüberwindliche Hauptmerkmal der Gegenwart und tröstete es über die Verluste mit dem Hinweis auf Zuwachs an Freiheit im Sinne unbegrenzter Möglichkeiten hinweg. 102 Hans-­Ulrich Thamer, Der öffentliche Umgang mit der Vergangenheit im deutschen und italienischen Nationalstaat. 103 Dass die römische ein Bestandteil der italienischen Geschichte sei, war europaweit bis ins 18. Jahrhundert nahezu selbstverständlich. Erst das Entstehen der modernen Nationen und der Wissen­ schaftlichkeit der Historiographie ‒ beides hing miteinander zusammen ‒ machte ­diesem Geschichtsbild ein Ende. Dazu jetzt Antonino De Francesco, The Antiquity of the Italian Nation. The Cultural Origins of the Political Myth in Modern Italy, 1796 – 1943, Oxford 2014. 104 Eindrucksvolle Belege im Katalog zur gleichnamigen Ausstellung: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, Berlin 1998.

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zum „Gründungsmythos“ (Jens Petersen) der Republik, mit dessen Hilfe man sich eine nähere Auseinandersetzung mit dem Faschismus ersparte – weit über die 1960er Jahre hinaus. Psychologisch entschuldeten sich die Italiener durch den Neologismus des Nazifascismo, gegen den die Resistenza gekämpft habe; dieser Begriff verbuchte alles wahrhaft Schlimme bei den Deutschen. Die italienische Zeitrechnung setzt darum bei 1943 die entscheidende Zäsur an, mit dem Koalitionswechsel am 8. September habe etwas Neues begonnen. So konnte selbst die optische ‚Entsorgung der Vergangenheit‘ in Italien denkbar knapp ausfallen. Der Holocaust hat den Westdeutschen einen ähnlichen Ausweg verbaut. Stattdessen versuchten öffentliche Meinung und Geschichtswissenschaft, die Epoche des Nationalsozialismus aus dem Kontinuum deutscher Geschichte hinauszudrängen. Diese Strategie scheiterte nicht schon mit Brachers Buch zur Weimarer Republik,105 sondern erst im Verlauf der sogenannten Fischer-­Kontroverse, die 1961 einsetzte. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Suche nach positiven Seiten der deutschen Vergangenheit und angesichts der deutschen Teilung stieß auch die Selbstanerkennung der Bundesrepublik lange Zeit auf große Schwierigkeiten. Der Widerstand gegen Hitler zählte anfangs nicht zu ihnen, der 17. Juni erwies sich als ungeeignet, die Freiheitstraditionen des 19. Jahrhunderts blieben trotz der Gedenkfeiern 1948 reichlich abstrakt. Einen Ausweg versprach am ehesten der Blick auf die Regional- und Stadtgeschichte und beide Wege wurden entsprechend oft betreten. Bücher, Feste, Ausstellungen, zuletzt auch länderspezifische „Häuser der Geschichte“ zeigten und zeigen eine im Frieden mit sich selbst lebende Gesellschaft, die sich in d ­ iesem entpolitisierten Raum nun auch buchstäblich anstandslos der einstmals unter ihr lebenden und retrospektiv zu ‚Mitbürgern‘ erhobenen Juden erinnern konnte.106 Kurz: Gegen Ende unseres Vergleichszeitraums konnten die Deutschen neidvoll auf den Umgang der Italiener mit ihrer jüngsten Vergangenheit blicken. Noch ahnte niemand, dass auf der Apenninenhalbinsel in den 1990ern ein umso radikalerer, geradezu staatsgefährdender Zusammenbruch des nationalen Selbstverständnisses und seiner Geschichtsbilder eintreten würde, der im westlichen Europa Seinesgleichen sucht. Vergleichende Bilanz Wir sind nun tatsächlich am Ende unseres Gangs durch die Ausschnitte deutscher und italienischer Wirklichkeiten ­zwischen 1860 und 1960 angelangt. Von einem Sonderweg fand sich keine Spur. Gleichwohl sind die Unterschiede hochbedeutsam im Hinblick

105 Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart, Düsseldorf 11955. 106 Kritisch dazu Monika Richarz, Luftaufnahme – oder die Schwierigkeiten der Heimatforscher mit der jüdischen Geschichte. In: Babylon 8 (1991), S. 27 – 33.

Deutschland und Italien 1860 – 1960

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auf die eingangs formulierte These, die institutionelle Verfestigung der Moderne habe im 19. und 20. Jahrhundert nördlich und südlich der Alpen unterschiedlich Fuß gefasst. Wenn man, ohne Vollständigkeit anzustreben, ­Kirche, Monarchie, direkte Repression, Gemeinde- bzw. Regionalautonomie und eine auf das Familiensystem gestützte Daseinsvorsorge als stark von der Vormoderne geprägte Erscheinungsformen ansieht, wird der Unterschied schon auf den ersten Blick offensichtlich. Fast alle spielen in Italien eine anhaltende, teilweise bis heute dauernde Rolle. Ausnahmen sind die Monarchie, die 1946 allerdings nur mit knapper Mehrheit abgeschafft wurde und deren männliche Vertreter sicherheitshalber des Landes verwiesen werden mussten, und die schon 1865 beseitigte Gemeindeautonomie, die allerdings der denkbar engen Bindung der Menschen an ihre Heimat nichts hat anhaben können. Natürlich gibt es auch Institutionen der Moderne. Bei ihnen fällt allerdings die lange Zeit begrenzte soziale Reichweite auf, die teilweise erst in der zweiten Nachkriegszeit überwunden wurde. Dazu zählt das Privatrecht, das nicht von ungefähr gerade die Familie bis weit ins 20. Jahrhundert vor staatlichen Eingriffen schützte, ferner die Demokratie, deren politische Reichweite bis 1913 in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer sozialen stand; danach wurde das Land unregierbar – Mussolinis Chance. Einen Sozialstaat, in der Verfassung von 1947/48 versprochen, konnte sich das Land vor den 1970er Jahren nicht leisten, die Selbstorganisation der Bürger in Vereinen beschränkte sich jahrzehntelang auf die Ober- und obere Mittelschicht. Dasselbe gilt für die modernen Weltbilder. Ob die im Risorgimento geschaffene nationale Hochkultur sich jemals durchgesetzt hat, kann man bezweifeln. Sie hatte sich nicht nur äußerst lebenskräftiger Konkurrenten zu erwehren, sondern ihrer Durchsetzung standen auch Analphabetenrate und mangelhafte Kenntnis der Hochsprache entgegen. Als Rundfunk und Fernsehen diesen Mangel beseitigt hatten, war die klassische Nationalkultur einschließlich ihres Geschichtsbildes schon wieder bis auf Reste verschwunden. So verwundert nicht, dass auch der naturwissenschaftlich basierte Rassismus, zeitweise international das attraktivste der modernen Weltbilder, in Italien über die Kreise der in die Nationalkultur Integrierten nicht hinausgelangt ist; zum Hass auf Juden genügen bekanntlich schon weniger moderne Motive. Für die 1919 zu Italien geschlagenen nationalen Minderheiten wirkte sich der dort inzwischen erreichte Grad nationaler Massenmobilisierung nachteilig aus; fünfzig Jahre früher wären sie wahrscheinlich glimpflicher davongekommen. Muss man noch eigens für Deutschland die Gegenrechnung aufmachen? Mehr Aufschluss verspricht die Suche nach den Gründen. Diese können hier nur angedeutet werden. Einerseits sind sie natürlich in den weiterreichenden Eingriffen zu suchen, denen die Deutschen als Untertanen einer reglementierungswütigen und in Grenzen benevolenten Obrigkeit schon lange vor der Entstehung des Nationalstaats ausgesetzt waren; der moderne Staat ist, jedenfalls hierzulande, um einiges älter als der nationale. Sodann erfasste die Industrialisierung die deutsche Gesellschaft ebenfalls früher als die italienische, und auch zu größeren Teilen. Schließlich lockerte der früh ausgebildete

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Sozialstaat bei seinen Klienten unweigerlich die familiären Bande, da auf Versorgungsleistungen nunmehr ein rechtlich verbriefter Anspruch bestand. Vieles andere wäre in ­diesem Zusammenhang noch zu nennen. Stattdessen ist noch ein anderer Erklärungsansatz zu nennen. Er fragt nach der gesellschaftlichen Disposition zur Bewältigung von Umbrüchen und Krisen. Der schwedische Sozialpsychologe Erikson 107 hat den interessanten Versuch unternommen, seine Erkenntnisse über die Entwicklung der menschlichen Identität auf Nationen zu übertragen. Demzufolge wäre auch bei diesen die Art und Weise, wie sie frühere Krisen gelöst haben, für deren weiteren Weg ausschlaggebend – nicht in deterministischem Sinne, sondern als Disposition. Für unser Thema hieße das, dass die beobachteten deutsch-­italienischen Unterschiede zu erheblichen Teilen auf das Krisenmanagement des 19. Jahrhunderts zurückgeführt werden können und dass auch die unterschiedliche Reichweite faschistischer bzw. nationalsozialistischer Diktatur bis zu einem gewissen Grade eine Folge getroffener oder unterlassener Entscheidungen in der Zeit der National­staatsgründung war. Die am offensichtlichsten auf kollektive Erfahrungen der Italiener zurückgehende politische Verhaltensform ist deren Misstrauen, ja Feindschaft gegenüber dem Staat. Mit ihm haben sie überwiegend schlechte Erfahrungen gemacht, und zwar seit Jahrhunderten. Schon mancher Sprachgebrauch ist enthüllend. „Piove! Governo ladro“,108 pflegten früher italienische Landarbeiter zu schimpfen – eine Verwünschung, die deutschen Ohren unfasslich scheint: Am Regen soll die Regierung schuld sein, weil sie ja ohnedies den Armen alles stiehlt. ‚Die Regierung‘: gewöhnlich spricht der Italiener vom Palazzo; auch das Ausdruck tiefsitzender, jahrhundertealter (schlechter) Erfahrungen. Umgekehrt bliebe die in Deutschland anzutreffende Staatsvergottung ohne die entsprechenden (guten) Erfahrungen – nicht immer, aber jedenfalls häufig – durchaus unerklärlich. Die so erzeugten unterschiedlichen Dispositionen haben in beiden Gesellschaften entsprechend unterschiedliche Erwartungen der Bürger und Handlungsspielräume der Politiker zur Folge. Die Probe aufs Exempel liefert in der Gegenwart der Umgang mit den von der Globalisierung verursachten Herausforderungen. Die Regierung Schröder antwortete mit einer an neoliberalen Rezepten orientierten Politik massiver Reformen, die schwere Einschnitte ins soziale Netz mit sich brachte, was Mitglieder und Wähler seiner Partei, der SPD, scharenweise in die Flucht trieb. Die Italiener dagegen waren die traditionellen Parteien leid und haben in der Krise einen Exponenten jener Kreise gewählt, die ihr Ansehen dem Umstand verdanken, Staat und Gesetze an der Nase herumzuführen. So gesehen, sind die Parallelen ­zwischen Deutschland und Italien derzeit eher gering.

107 Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/M. 1974. Dazu Hans-­Ulrich Wehler, Erik Erikson. Der unaufhaltsame Siegeszug der Identität. In: Ders., Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 130 – 135. 108 „Es regnet. Scheißregierung!“

Publikationsnachweis Revolution und Reaktion im Jakobinismus. Die Agrarprogramme der italienischen und deutschen Jakobiner. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Jg. 59, 1979, S. 296 – 333. Der Titel wurde leicht geändert. Deutscher und italienischer Adelsliberalismus. In: Gabriele B. Clemens / Malte König / Marco Meriggi (Hg.), Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im langen 19. Jahrhundert, Berlin, Boston 2011, S. 67 – 93. Der Titel wurde leicht gekürzt. Revolution und Risorgimento. Italien 1848/49 aus deutscher Perspektive. In: Dieter Langewiesche (Hg.), Die Revolutionen von 1848/49 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Perspektiven, München 2000, S. 73 – 89. Helden überkreuz oder: Das Kreuz mit den Helden. Wie Deutsche und Italiener die Heroen der nationalen Einigung (der anderen) wahrnahmen. In: Jahrbuch des Histo­rischen Kollegs 1999 [2000], S. 91 – 130. Stationen der Verrechtlichung und Professionalisierung in Deutschland und Italien. In: Christof Dipper (Hg.), Rechtskultur, Rechtswissenschaft, Rechtsberufe im 19. Jahrhundert. Professionalisierung und Verrechtlichung in Deutschland und Italien, Berlin: 2000, S. 13 – 28. Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze. In: Anna Esposito u. a. (Hg.), Trier – Mainz – Rom. Stationen, Wirkungsfelder, Netzwerke. Festschrift für Michael Matheus zum 60. Geburtstag, Regensburg 2013, S. 379 – 391. Aktualisiert. Faschismus und Moderne. Gesellschaftspolitik in Italien und Deutschland. In: Lutz Klinkhammer / Amedeo Osti Guerazzi / Thomas Schlemmer (Hg.), Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939 – 1945, Paderborn 2010, S. 49 – 79. Erheblich überarbeitet. Nationalsozialistische und faschistische Wissenschaftspolitik. In: Klaus Kempf / Sven Kuttner (Hg.), Das deutsche und italienische Bibliothekswesen im Nationalsozialismus und Faschismus im Vergleich. Versuch einer vergleichenden Bilanz, Wiesbaden 2013, S. 1 – 36. Der Titel ist leicht gekürzt. Unversehens in Feindesland. Deutsche und Italiener in der Nachkriegszeit. In: Michael Matheus (Hg.), Deutsche Forschungs- und Kulturinstitute in Rom in der Nachkriegszeit, Tübingen 2007, S. 1 – 20. Der Titel wurde geändert. Traditionen des Italienbildes in Deutschland. In: Oliver Janz / Roberto Sala (Hg.), Dolce vita? Das Bild der italienischen Migranten in Deutschland, Frankfurt / M., New York 2011, S. 39 – 61. Uguali e diversi. Zwei Fallstudien zur Moderne in Deutschland und Italien. In: Petra Terhoeven (Hg.), Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2010, S. 281 – 299.

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Publikationsnachweis

Gleichgewicht oder Asymmetrie? Die deutsch-­italienischen Beziehungen vom Zweiten Weltkrieg bis heute. Originalbeitrag. Ferne Nachbarn. Deutschland und Italien 1860 – 1960. In: Christof Dipper (Hg.), Deutschland und Italien 1860 – 1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich, München 2005, S. 1 – 28. Der Titel wurde leicht geändert, der Text erheblich überarbeitet.

Abkürzungen AfS AGBG

Archiv für Sozialgeschichte Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie AGIM Arbeitsgruppe für Industrie-­Mathematik Annali ISIG Annali dell’Istituto Storico Italo-­Germanico in Trento/Jahrbücher des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts Trient BA Bundesarchiv BA MA Bundesarchiv Militärarchiv (Freiburg/Br.) BGB Bürgerliches Gesetzbuch BKA Bundeskriminalamt BOT Buoni Ordinari del Tesoro (Schatzanweisungen mit meist kurzer Laufzeit) CLNAI Comitato di Liberazione Nazionale Alta Italia (Kommando der italienischen Widerstandsbewegung in Oberitalien, das im Frühjahr 1945 auch Exekutivbefugnisse besaß) CNR Consiglio Nazionale delle Ricerche DAF Deutsche Arbeitsfront (Zwangszusammenschluss von Arbeitgebern und -nehmern mit entschiedenen sozialpolitischen Zielen) DC Democrazia Cristiana (Die von 1943 bis 1994 bestehende Christlich-­ Demokratische Partei Italiens) DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DHI Deutsches Historisches Institut DMV Deutschen Mathematiker-­Vereinigung EUR Esposizione Universale di Roma (Das für die Weltausstellung 1942 im Süden Roms errichtete neue Stadtviertel) EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung GG Geschichte und Gesellschaft GSG 9 Grenzschutzgruppe 9 (Die Antiterroreinheit der deutschen Bundespolizei) GUF Gruppi Universitari Fascisti (Die bereits 1920 gegründete Faschis­tische Studentenorganisation, entsprechend dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund) HZ Historische Zeitschrift IKRK Internationales Komitee vom Roten Kreuz INAC Istituto Nazionale per le Applicazioni del Calcolo IRI Istituto di Ricostruzione Industriale (1933 gegründete Holding für die in der Weltwirtschaftskrise verstaatlichten Industriebetriebe) KdF Kraft durch Freude (Der DAF unterstehende Freizeitorganisation) KPI Kommunistische Partei Italiens

360 KWG KWI Lega LTI

Abkürzungen

Kaiser-­Wilhelm-­Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V. Kaiser-­Wilhelm-­Institut Lega Nord (Rechtspopulistische systemfeindliche Regionalpartei) Lingua Terti Imperii („Sprache des 3. Reiches“). Buchtitel von Viktor Klemperer aus dem Jahr 1947 M5S Movimento Cinque Stelle (Systemfeindliche Protestbewegung des Komi­ kers Beppe Grillo) MEW Marx-­Engels Werke, 43 Bde. + 3 Registerbände, Berlin (DDR) 1956 – 90 MRP Mouvement Républicain Populaire (Die von 1944 bis 1965 bestehende Christlich-­Demokratische Partei Frankreichs) MVSN Milizia Volontaria di Sicurezza Nazionale (Der SA entsprechende Freiwilligentruppe der Faschistischen Partei) ND Neudruck, Nachdruck NPL Neue Politische Literatur NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei OND Opera Nazionale Dopolavoro (Vorbild bzw. Gegenstück zur KdF) ONMI Opera Nazionale Maternità ed Infanzia OKW Oberkommando der Wehrmacht PA AA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes PNF Partito Nazionale Fascista PSI Partito Socialista Italiano QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken RAF Reichsakademie der Forschung / Rote Armee-­Fraktion RAI Radio Televisione Italiana S. p. A. (Die öffentlich-­rechtliche Rundfunkund Fernsehanstalt Italiens) REM Reichserziehungsministerium RFR Reichsforschungsrat RIM Reichsinstitut für Mathematik RMdI Reichsministerium des Innern ROWA Amt für deutsche Roh- und Wertstoffe (Vorgänger des RWA) RSI Repubblica Sociale Italiana RWA Reichsamt für Wirtschaftsaufbau SD Sicherheitsdienst des Reichsführers SS SIPS Società Italiana per il Progresso delle Scienze SZ Süddeutsche Zeitung TCI Touring Club Italia VDI Verein Deutscher Ingenieure VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte VSWG Vierteljahrschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Sachregister Adel, Patriziat  12, 21, 24, 32, 35 f., 40, 43 – 48, 50, 51 f., 53, 59 – 85, 132, 189, 329, 335 Alphabetisierung  105, 157, 164, 298, 351, 355 Arbeiter, Arbeiterbewegung  9, 10, 23, 24, 102, 137, 154, 160, 161, 164, 172 – 174, 176, 178, 180 – 182, 184 f., 187 – 193, 195 – 197, 245, 278, 297 f., 300, 332 f., 344, 349 Asymmetrie  7, 10 f., 13, 18, 22, 127, 207, 259, 175, 293, 305 – 322, 354 – 356 Aufklärung  14, 21, 26, 32, 40- 43, 50, 66, 139, 168, 266 – 268, 280, 283, 326 Bauern (siehe: Landwirtschaft) Bürgertum, Bürgerlichkeit (Staatsbürger siehe: Staat)  12, 14, 23, 29, 30 f., 34 f., 39 f., 44, 47, 59, 62, 65, 67 – 69, 75, 77 – 82, 89, 90 f., 95, 100, 108, 123, 125, 128 f., 145 f., 149, 151 f., 158, 172, 179, 190, 197, 271 f., 274, 295, 329, 330 – 333, 336 f., 345 f., 355 Deutschlandbilder  60, 118 – 127, 158, 239, 251 f., 259 – 261, 297, 300, 305 f., 319 f., 322 Familie  10 f., 21, 22, 49, 63, 151 f., 169, 174 – 182, 186 f., 190 f., 193 – 195, 197, 199, 285 – 297, 302 f., 328, 331, 341, 351, 355 f. Frauen  19, 112 – 115, 169, 172, 175 – 183, 192 – 194, 199, 243, 271, 289 – 294, 296, 300, 332, 337, 346 Gewalt  12 f., 15 f., 24, 34, 37, 43, 55, 90, 101, 121, 138, 167, 179, 222, 243, 278, 317 f., 335 f., 339, 346 f., 348, 352 Industrie (siehe: Wirtschaft) Italia docet  18 – 20, 46, 105, 108 – 118, 129 – 135, 181, 189, 192 f., 203, 235 – 240, 272 – 275, 278 f., 282 Italienbilder  13, 19, 21, 25, 52, 88 f., 127, 236 – 238, 271, 275, 281, 297 – 299, 305 f., 323 – 327 Katholizismus, katholische Kultur, katholische Kirche  22, 31 – 42, 44, 49, 63 f., 91 f., 95, 99, 103, 113 f., 117 f., 143, 147, 158, 177 f., 199, 246 f., 252 – 254, 267, 271 f.,

288, 291, 314, 316, 335, 338 f., 345, 350 – 352, 355 Krieg, Kriegführung  12 f., 19, 71 – 73, 90, 93 – 101, 103 – 136, 193 – 195, 201, 210 f., 216, 228 – 235, 243 – 247, 254 f., 271 – 273, 275, 342, 346 Landwirtschaft, Bauern, Landarbeiter, Bodenverfassung  11 – 13, 27 – 57, 62, 74, 100 f., 134, 151, 154, 156 – 159, 162, 164, 178, 186, 191, 195 f. Moderne (als Thema)  10 f., 14 – 16, 21, 25 f., 60 – 62, 83 – 85, 154, 167 – 170, 197 – 201, 210, 285 – 288, 296 f., 301 – 303, 326 f., 341 – 354 Nation, Nationalstaat, Nationalisierung  12 f., 29, 61, 71 – 73, 87 – 102, 109 f., 130, 167 f., 204, 210, 212, 270 – 273, 281, 307, 315, 326, 342 – 349, 350, 352 f., 356 Parallelität (als Thema)  21, 60, 87, 107, 127, 136, 272 f., 275 – 284, 306, 323 – 327, Parlament  12 f., 37, 59 – 85, 97 – 102, 110, 122, 124, 139, 142, 144, 147, 149, 270, 273 f., 328, 332, 347 Rassismus, Eugenik  9, 15, 24 f., 170, 174 f., 179 – 183, 193 – 195, 198 f., 209 f., 215, 220 f., 283, 335 – 339, 348 f., 350 – 355 Risorgimento (als Problem)  21, 28 f., 73, 97, 106, 267, 295, 338, 355 Sonderweg  11, 277, 326, 328, 354 Staat  10, 12, 14 – 18, 22, 31, 33, 38, 42 f., 49 – 55, 60 – 85, 90 – 95, 99 – 102, 127, 137 – 152, 155, 159 f., 164 f., 169 f., 174 – 178, 181 – 190, 197 f., 200 f., 210 – 212, 220, 222, 231, 236 f., 241, 250, 262, 266 – 274, 281, 292 – 294, 299 – 301, 310, 335 f., 345, 347, 356 Universität  9, 14 – 20, 24, 125, 132, 137 – 152, 158, 170, 185 f., 192, 198 f., 203 – 241, 251 f., 257, 262 f., 268, 282, 292 f., 326, 330, 334, 336 – 338, 349 f.

362 Unternehmer  158, 191, 194, 214, 218, 221, 226, 248 – 250, 261, 297 f., 327, 330 f., 339 Vatikan, Kirchenstaat  13, 60 f., 63, 91 – 93, 95, 99, 101 f., 109, 111, 113 f., 115 (Abb.5), 119, 133, 177, 252 – 254, 267, 308, 316, 335, 343, 352 Vergleich (als Thema)  7, 10, 17 f., 21 – 25, 60, 88, 148 f., 277 f., 287, 323 – 327, 334, 342, 354 – 356

Sachregister Wirtschaft  10, 14 f., 17, 22, 56, 153 – 166, 188 f., 192 f., 196, 201, 209 – 211, 216 f., 221, 223, 230, 232 f., 240, 249, 296 – 303, 308 f., 326 f., 344 Wissenschaft (siehe: Universität)

ITALIEN IN DER MODERNE HERAUSGEGEBEN VON GABRIELE B. CLEMENS, CHRISTOF DIPPER, OLIVER JANZ, SVEN REICHARDT, WOLFGANG SCHIEDER UND PETRA TERHOEVEN EINE AUSWAHL

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NIKOLAS DÖRR

DIE ROTE GEFAHR DER ITALIENISCHE EUROKOMMUNISMUS ALS SICHERHEITSPOLITISCHE HERAUSFORDERUNG FÜR DIE USA UND WESTDEUTSCHLAND 1969–1979 (ZEITHISTORISCHE STUDIEN, BAND 58)

Mitte der 1970er-Jahre avancierte der italienische Eurokommunismus zu einer massiven sicherheitspolitischen Herausforderung, weil er sich der klassischen Ost-West-Logik entzog. Eine im Nachkriegsitalien noch stark an der Sowjetunion orientierte kommunistische Massenpartei wollte sich in einem geostrategisch zentralen Mitgliedsstaat der NATO von Moskau lösen und infolge demokratischer Wahlen die Regierung übernehmen. Wie reagierte der Westen darauf? Sollte man den Kommunisten Glauben schenken und am Ende möglicherweise einem Trojanischen Pferd Moskaus Einlass in die Machtzirkel des Westens gestatten? Am Beispiel der außen- und sicherheitspolitischen Strategien der USA und Westdeutschlands analysiert Nikolas Dörr die Ängste und Hoffnungen, die mit der eurokommunistischen Herausforderung in Italien verbunden waren und zeigt auf, welche Bedrohungen die westlichen Staaten befürchteten und welche Spannungen sich daraus ergaben. 2017. 568 S. 9 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-50742-8

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HEIKE KNORTZ

GASTARBEITER FÜR EUROPA DIE WIRTSCHAFTSGESCHICHTE DER FRÜHEN EUROPÄISCHEN MIGRATION UND INTEGRATION

Das neue Buch von Heike Knortz verdeutlicht den Zusammenhang von bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzenden Migrationsbewegungen und wirtschaftlicher Zusammenarbeit in Europa. Die Wirtschaftshistorikerin verbindet in ihrer Analyse historische Migrationsforschung mit Wirtschaftsgeschichtsschreibung und macht deutlich, dass dabei insbesondere die frühe italienische Arbeitsmigration als integraler Bestandteil der europäischen Integration und des wirtschaftlichen Wiederauf baus Europas nach 1945 zu sehen ist. Die italienische Regierung suchte mit der Forcierung der Emigration nicht nur die Arbeitslosigkeit in Italien zu reduzieren, sondern über die Heimatüberweisungen der im Ausland arbeitenden Italiener auch ihre Zahlungsbilanz zu entlasten. Entsprechend wurde beispielsweise im Rahmen des Marshall-Plans nach einer europäischen, insgesamt aber auch nach einer globalen internationalen Lösung gesucht. 2015. 232 S. BR. 150 X 230 MM | ISBN 978-3-412-50178-5

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Michael Gehler, Maddalena Guiotto (hG.) unter Mitarbeit von iMke ScharleMann

italien, ÖSterreich und die bundeSrepublik deutSchl and in europa ein dreieckSverhältniS in Seinen wechSelSeitiGen beziehunGen und wahrnehMunGen von 1945/49 biS zur GeGenwart

Dieser Band enthält die Ergebnisse eines interdisziplinär angelegten Symposiums von Historikern und Politikwissenschaftlern, das vom Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim gemeinsam mit dem ItalienischDeutschen Historischen Institut der Fondazione Bruno Kessler Trient im März 2009 veranstaltet wurde. In dem Sammelwerk, das auf einem trilateralen Ländervergleich beruht, werden aufschlussreiche Querverbindungen und neue Zusammenhänge aufgezeigt, die in der bisherigen stark bilateral ausgerichteten deutschen Italienforschung unberührt geblieben sind. Die Beiträge decken eine beachtliche thematische Bandbreite ab: ausgehend vom Stand der Forschung zu den politischen Akteuren und Beziehungen, den unterschiedlichen Erinnerungen an die Geschichte der Weltkriege, den Bewältigungen der Vergangenheit, vom Terrorismus bis zu den Folgen der Veränderungen der Koordinaten der Weltpolitik 1989 sowie der Sicherheitspolitik im Kontext der EU und letztlich auch den verschiedenen EU-Ratspräsidentschaften im Vergleich. 2011. 670 S. Gb. mit SU. 170 x 240 mm. iSbN 978-3-205-78545-3

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