Paradies: Topografien der Sehnsucht 9783412212353, 9783412202903

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Paradies: Topografien der Sehnsucht
 9783412212353, 9783412202903

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Literatur – Kultur – Geschlecht Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte In Verbindung mit Jost Hermand, Gert Mattenklott, Klaus R. Scherpe und Lutz Winckler herausgegeben von Inge Stephan und Sigrid Weigel Kleine Reihe Band 27

Paradies Topografien der Sehnsucht

Herausgegeben von

Claudia Benthien und Manuela Gerlof

2010

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: »Paradies«, Fotographin & Copyright © Nicole Ibele

© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Layout: Götz Zuber-Goos, Berlin Druck und Bindung: TZ-Verlag & Print GmbH, Roßdorf Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20290-3

Inhalt Topografien der Sehnsucht – Zur Einführung Claudia Benthien und Manuela Gerlof .......................................................... 7

I. Gärten Eden. Zur religiösen Imagologie des Paradieses Zwischen Himmel und Heiligtum Paradiesvorstellungen im Judentum und Christentum Simone Rosenkranz Verhelst.......................................................................31 Islamische Gärten als Sinnbilder des Paradieses Peter Heine..................................................................................................49 „Daz ander paradîse“ Künstliche Paradiese in der Literatur des Mittelalters Mireille Schnyder .........................................................................................63 „Qui habitat in caelis irridebit eos“ Paradiesisches und irdisches Lachen in Dantes Divina Commedia Marc Föcking ..............................................................................................77

II. Geschlecht, Differenz, Erkenntnis Anthropologische Konsequenzen des Sündenfalls Die biblische Paradieserzählung als ‚Gründungsmythos‘ der Geschlechter Helen Schüngel-Straumann..........................................................................99 Wüstenparadies. Die Wildnis als Nicht-Ort und heilige Leere im frühen Neu-England Ulrike Brunotte .........................................................................................115

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Inhalt

Vom (White) American Adam zur (Black) American Eve Identitäten und Utopien in Toni Morrisons Roman Paradise Thomas Claviez.........................................................................................135 De profundis. Geodizee statt Theodizee Elisabeth von Samsonow............................................................................155

III. Paradise Lost. Säkulare Orte der Sehnsucht „Auch ich war in Arkadien“ Psychoanalytische Hypothesen zur Architektur innerer Räume Benigna Gerisch .........................................................................................171 Zwischen Südseetraum und Tivoli Sehnsuchtsorte in der modernen und zeitgenössischen Kunst Alma-Elisa Kittner ...................................................................................191 Topografien des Glücks An den Kreuzungen von Migration und Tourismus Regina Römhild .........................................................................................217 Zwischen Parodie und Phantasmagorie Das ‚Paradies‘ in Werner Herzogs Fata Morgana Anton Kaes ...............................................................................................231 Eldorado: Mythos, Tapete und Video Topologien einer Projektion Kristin Marek ...........................................................................................249

Abbildungen..............................................................................................271 Autorinnen und Autoren ........................................................................273

Topografien der Sehnsucht Zur Einführung Claudia Benthien und Manuela Gerlof Die Beschreibung des paradiesischen Garten Eden als Ort von Vollkommenheit, Harmonie und Unschuld eröffnet die biblische Narration der Menschheitsgenese. Sie erweist sich als anthropologische Konstante und gibt zugleich Einblicke in die Hybridität der abendländischen Geschichte, indem sie verschiedene religiöse Zusammenhänge und Erbschaften unterschiedlicher Kulturen verschränkt und einen wirkmächtigen Topos evoziert, der bis in die Gegenwart relevant ist. Viele Religionen kennen Vorstellungen eines Paradieses: Ob im Judentum, Christentum, Islam oder Buddhismus, das Paradies hat die Funktion eines positiv bestimmten Ortes, es fungiert als „ein Raum der Lebensfreude, Einsicht und Erkenntnis, eine Stätte des Friedens und der Fülle.“1 Mal ist die Paradies-Erzählung am Anfang der Menschheits- oder Individualgeschichte situiert, mal an deren Ende: entweder als verlorene Ur-Heimat oder aber als „imaginär-zukünftiger Ort“ bzw. zu erlangende „innerliche Größe im Menschen selbst“2, d.h. als eine ausschließlich „geistige Realität“3, die sich in Kontemplation und Gebet einstellt. Insbesondere in frühjüdischer und frühchristlicher Lesart ist das Paradies Ursprung der Menschheit, aber auch „himmlische[s] Jerusalem“4, also ein temporal zukünftiger und topografisch jenseitiger „Ort der Gerechten“ und „Heimstätte derer, die selig sterben“.5 Die beiden Hauptmotive der Paradies-Darstellungen in der christlichen Kunst sind damit die Gartenlandschaft der biblischen Genesis sowie der künftige Aufenthaltsort der Seligen im Jenseits.6 In der Offenbarung des Johannes am Ende des Neuen Testaments verbindet sich das ursprüngliche mit dem jenseitigen Paradies im Motiv vom Baum des Lebens, der bereits in der Genesis erwähnt wird (Gen 2) und von dem auch die Gerechten nach dem Jüngsten Gericht essen werden (Offb 22). Mit der Vorstellung eines Geschehens im Rahmen der Schöpfung am Anfang der Welt und der Eschatologie am Ende der Zeit sind die beiden Pole benannt, zwischen denen sich die Paradiesvorstellung insbesondere in der christlichen Imagination bewegt. Die entsprechende zeitliche Struktur – entweder retrospektiv oder prospektiv ausgerichtet – ist für die Kulturgeschichte des Topos leitend, insofern es beiderseits um eine nicht-präsente und ‚zeitenthobene‘ Periode geht.

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Der Entwurf einer idealisierten Gegenwelt, die sich einer festen räumlichen wie zeitlichen Determinierung entzieht, verbindet das Paradies mit der Utopie. Während jedoch Vorstellungen des Paradieses eng an religiöse bzw. spirituelle Aspekte gebunden sind, rekurrieren Utopien zumeist auf Gemeinschaften und konkrete soziale Verhältnisse. Mit Thomas Morus’ Utopia (1516) entsteht in der Frühen Neuzeit die Utopie als literarische Gattung, die eine lange politische Tradition begründet und zugleich den engen Zusammenhang von Literatur und utopischem Denken etabliert. Bei diesen frühen Entwürfen handelt es sich um räumliche Utopien mit gesellschaftskritischem Impetus: Die glücklichere Welt oder bessere Sozietät wird in einem exterioren geographischen Raum angesiedelt, z.B. auf einem einsamen Eiland. Der paradigmatische Insel-Topos kennzeichnet die Utopie paradoxerweise als zugleich in der Welt und aus ihr herausgelöst. Der andere Raum enthält Charakteristika des Ortlosen und Phantastischen, was im Wort utopia – griechisch ouk topos: kein Ort, Nicht-Ort; davon literarisch abgeleitet u-topia: Land, das nirgends ist – abgebildet wird. Doch ist die Sozial- und Kulturgeschichte auch geprägt von Bestrebungen, utopische Entwürfe zu verwirklichen;7 die damit einhergehenden Vorstellungen werden seit den 1970er Jahren konzeptionell als ‚Realutopien‘ gefasst. Auch Negativentwürfe (Dystopien), wie sie sich epochenund kulturübergreifend in den unterschiedlichsten Ausprägungen finden, kennzeichnen die Wirklichkeitspotentiale des Utopischen im Sinne einer Kritik des Bestehenden oder des in der Zukunft zu Erwartenden. Schon im 18. Jahrhundert wandelt sich die eher statische Figur der Raumutopie zur dynamischen Zeitutopie, die die Erreichung der Ideale in die nahe oder ferne Zukunft projiziert.8 Als verlorener Ursprung, ideales Naturverhältnis oder tröstliche Aussicht haben Paradiesvorstellungen und utopische Entwürfe auch in säkularen und postmodernen Gesellschaften ihren Ort.9 Der vorliegende Band möchte daher nicht nur nach den Ursprüngen, sondern auch nach den historischen Konjunkturen des religiösen ‚Topos‘ des Paradieses fragen: nach dem imaginierten, idealen oder utopischen Ort einerseits, seinen rhetorischen Figuren und Konfigurationen andererseits. Zu untersuchen ist, wann und warum der Topos relevant wurde und wie sich heutige Entwürfe paradiesischer Gegenwelten innerhalb dieser wechselhaften Geschichte verorten. In Abgrenzung zu theologischen Untersuchungen, die sich primär um eine Deutung im Rahmen der jeweiligen Konfession bemühen, ebenso wie die bisherige kultur- und geisteswissenschaftlichen Forschung, die den Begriff vor allem metaphorisch gebraucht, soll das

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Paradies hier als religiöser und säkularer Topos interdisziplinär und kulturübergreifend in seinem historischen Wandel und seinen bedeutendsten Ausprägungen untersucht werden. Gefragt wird insbesondere, welche spezifischen Utopien und Projektionen mithilfe des Topos, implizit oder auch explizit, vermittelt werden. Während mittelalterliche Theologen noch darüber stritten, wo das Paradies geographisch zu situieren sei – ob im Zentrum oder an der Peripherie der ihnen bekannten Welt –, erscheint diese Frage mit Beginn der wissenschaftlichen Erforschung der Erde schon in der Frühen Neuzeit obsolet. In der Folge regte gerade die Nicht-Lokalisierbarkeit des Paradieses das utopische Denken und die Phantasie an.10 Die Beiträge dieses Bandes fokussieren darum auch das spannungsreiche Verhältnis von Wirklichkeit und Imagination, welches Ideale des Paradiesischen durchweg kennzeichnet. Untersucht werden jene sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen vollziehenden individuellen und kollektiven Dynamiken des Imaginären, die sich nicht auf den Aspekt eines psychischen Eskapismus reduzieren lassen, sondern im Gegenteil oft konkrete Prozesse der kulturellen und sozialen Veränderung generieren. Denn trotz ihres imaginären Charakters dienen Paradies-Entwürfe als Handlungsantrieb und können daher auf die Realität zurückwirken. Die Frage nach dem Spannungsverhältnis von Veränderungspotential und Verhinderungsdynamik dieser Vorstellungen, ob und in welcher Form sie Einfluss auf die gesellschaftliche wie mediale Realität ausüben, steht damit im Zentrum dieses Bandes. Paradiese werden als positiv und ‚eigentlich‘ markierte Gegenwelten verstanden, „in denen das Leben in voller Entfaltung realisiert wird“11; ein wichtiges Motiv in diesem Zusammenhang ist das der Unsterblichkeit oder des ewigen Lebens – eine als befreiend erlebte Zeitlosigkeit. Schon in der Antike, ebenso wie in nachfolgenden Epochen, wird das Paradies mit in Vergangenheit oder Zukunft projizierten paganen idealisierten Orten und Epochen analogisiert, in denen der Mensch in müßigem Einklang mit der Natur lebt – so etwa mit Arkadien, den Elysischen Gefilden, der Insel der Seligen in der griechischen Mythologie, dem märchenhaften Schlaraffenland, dem Goldenen Zeitalter (und seiner frühneuzeitlichen Wiederaufnahme, dem siglo de oro) oder mit mythischen (Nicht-)Orten wie Shangri-La, Eldorado und Atlantis.12 Mit zunehmender Säkularisierung wird seit der Renaissance und vor allem später im Klassizismus die Antike als Ort der harmonischen Einheit von Körper und Geist imaginiert und im übertragenen Sinne als verlorenes Paradies gefasst.13 Aber auch Realutopien der Moderne, wie die des ‚Neuen Menschen‘ im frühen

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20. Jahrhundert, und ihre sozialen Experimente – z.B. die SüdseeAussteiger oder die Gründung der Siedlung Monte Verità bei Ascona14 – rekurrieren noch deutlich auf Paradies-Topoi. Der Verlust der Verheißung eines heilbringenden Jenseits charakterisiert die säkulare Welt und evoziert ein energisches Streben nach Realisierung des Glücks im Diesseits. Doch auch die Moderne kommt nicht ohne idealisierende Ursprungserzählungen aus und selbst hochtechnisierte und vermeintlich säkularisierte Gesellschaften der Gegenwart greifen, wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, vielfach auf Paradies-Vorstellungen zurück. Zeitgleich mit dem Versprechen einer virtuellen Realisierung des Paradieses in digitalen Medien – exemplarisch genannt seien Computerspiele wie Second Life oder The Endless Forest – entwirft die moderne Populärkultur aber auch apokalyptische Gegenbilder des Paradieses. So erlangen etwa dystopische Imagologien eines Ortes der Verdammten und Szenarien eines katastrophalen Weltuntergangs – unter intertextuellem und ikonographischem Rekurs auf die biblische Apokalypse – zunehmend an Relevanz: Katastrophen- und Kriegsfilme, Fernsehbilder von Umweltkatastrophen oder computeranimierte Simulationen eines künftigen Klimakollapses aktualisieren biblische Motive von Sintflut und Untergang und fragen nach der Verantwortung für die Schöpfung. Im Gegensatz zur biblischen Offenbarung erscheint die säkularisierte Endzeit jedoch nicht als Durchgangsstadium eines Neubeginns, sondern als globales Ende aller Utopien. Die Beiträge des vorliegenden Buches sind in drei thematischen Abschnitten zusammengefasst. Der erste Teil befasst sich mit religiösen Paradiesvorstellungen in den drei monotheistischen Religionen, die zahlreiche Überschneidungen und Anleihen aufweisen, und widmet sich insbesondere der religiösen Imagologie des Paradieses als Garten. Im zweiten Teil werden dann die in der biblischen Erzählung von Paradies und Sündenfall zentralen Kategorien Geschlecht, Differenz und Erkenntnis unter anthropologischen und kulturtheoretischen Gesichtspunkten behandelt und auf unterschiedliche kulturelle Phänomene projiziert. Der dritte Teil des Bandes spürt den verlorenen Paradiesen und säkularen Orten der Sehnsucht im 20. und 21. Jahrhundert nach, ihren Topografien, Leitmotiven und medialen Bildern.

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I. Gärten Eden. Zur religiösen Imagologie des Paradieses „Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaute und bewahrte“ (Gen 2,15).15 Hoffnungsfroh beginnt die biblische Erzählung vom ersten Menschen, den Gott „zu seinem Bilde“ (Gen 1,27) schuf und in eine harmonische Umgebung setzte, in der er ein bequemes Auskommen hätte haben können. Doch ist dieser verheißungsvolle doppelte Anfang nur die Exposition einer dramatischen Szene. Es folgen: der Erlass eines nicht näher begründeten Gebotes; die Schaffung einer Gefährtin für ‚den Menschen‘; der Auftritt einer Schlange, die im Dialog mit der Frau den Genuss der verbotenen Frucht anregt; die Verletzung des göttlichen Gebotes durch die Frau und den Mann; die wundersame Öffnung ihrer Augen und die Erkenntnis der eigenen Nacktheit und Scham; schließlich der Auftritt Gottes, der nach kurzer Anhörung alle Beteiligten bestraft und sie aus dem Garten Eden verweist. Diese Erzählung – oder besser, dieses Drama des Verlustes eines Ortes ursprünglicher Einheit und Harmonie zwischen Mensch und Gott, Mann und Frau sowie Mensch und Natur – kennen alle drei monotheistischen Religionen. Judentum und Christentum überlieferten sie in der hier wiedergegebenen Version des Alten Testaments; sie findet sich aber mit einigen Änderungen auch im Koran.16 Es handelt sich um eine der bekanntesten und gleichzeitig meistinterpretierten Erzählungen der Bibel.17 Bis ins 17. Jahrhundert zurück reicht die theologische Auseinandersetzung um die Frage, ob der Garten Eden als historischer Ort mit realen Personen zu verstehen sei oder ob es sich um einen allegorischen Entwurf handelt; und noch in den 1950er Jahren propagierte die katholische Kirche die Ablehnung der Evolutionstheorie und ein wortgetreues Verständnis der biblischen Paradies-Erzählung. Gleichermaßen behaupten die in den USA bis heute prominenten Kreationisten in immer wieder neuen Abgrenzungsversuchen zur darwinistischen Evolutionsgeschichte, dass der Mensch sich nicht aus anderen Arten entwickelt habe, sondern die biblische Schöpfung tatsächlich stattgefunden hätte – jüngsten Umfragen zufolge vertreten mehr als die Hälfte der US-Amerikaner diese Auffassung.18 Vor dem Hintergrund dieses weiten Interpretationsspektrums der Paradies-Norm fragt der erste Teil des Bandes nach den Ursprüngen dieser religiösen Topoi, nach kanonischen und nicht kanonischen Texten, die an seiner Herausbildung beteiligt waren, ebenso wie nach

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den Interferenzen zwischen den Religionen. Es erfolgt eine religionsgeschichtliche Betrachtung der Imagologie vom Paradies als utopischem Ort einer ursprünglichen oder aber zukünftigen Vollkommenheit und Harmonie von Mensch, Gott und Natur. Die Texte, ihre Exegese, Adaption und Wirkungsgeschichte in Religion und Literatur werden exemplarisch dargestellt. Im Zentrum steht die Relation zwischen metaphorischer Auslegung und den Bestrebungen einer irdischen Realisierung paradiesischer Räume. Gefragt wird nach Konstanten von Paradies-Vorstellungen und ihren Varianten in den verschiedenen Glaubensrichtungen. Denn Judentum, Christentum und Islam standen, bei allen Bestrebungen, sich voneinander abzugrenzen, über die Jahrhunderte hinweg in einem lebhaften Austausch miteinander. Augenfällig im Religionsvergleich ist die bereits genannte Differenzierung zwischen einem irdischen und einem himmlischen Paradies. Das irdische Paradies als Garten Eden, der laut Altem Testament gen Osten liegt (an Euphrat und Tigris, also in der Gegend des heutigen Irak), auf mittelalterlichen Karten aber im Zentrum der Welt verzeichnet wird, beruft sich auf die biblische Ursprungserzählung und gilt als unwiederbringlich verloren. Auf ihn richtet sich die unerfüllbare Sehnsucht nach einem Ort von Frieden und Harmonie. Darüber hinaus entwerfen alle genannten Religionen ein zukünftiges, jenseitiges Paradies als ausschließlich positives, desambiguiertes Gegenbild zur Hölle, als Heilserwartung, in den die Gerechten bzw. Seligen entweder sofort nach dem individuellen Tod oder aber kollektiv nach dem Jüngsten Gericht eingehen werden.19 Bei manchen Kirchenvätern wird dieses Paradies mit dem Reich Gottes gleichgesetzt, bei anderen hingegen als eine Art „Vorraum“20 desselben verstanden. Jüdische Texte verwenden demgegenüber die Begriffe ‚Garten Eden‘, ‚die Tage des Messias‘ und ‚die kommende Welt‘ synonym.21 Im frühen Judentum und Christentum wird dieser Ort in Anspielung auf den Tempel als eschatologisch imaginiert, als Ort göttlicher Gegenwart und Offenbarung, wie die Religionswissenschaftlerin Simone Rosenkranz Verhelst in ihrem Beitrag anhand von außerbiblischen Texten frühjüdischer und frühchristlicher Literatur zeigen kann. Während das biblische Paradies in der Schöpfungserzählung als Garten geschildert wird (Gen 2), so ihr Befund, wird das himmlische Paradies eher mit dem Tempel in Verbindung gebracht – in der Bibel wird dies bereits angedeutet, doch nicht entfaltet (Jesaia 51,3). Das Paradies wird so zum Ort der Gottesnähe und der Gottesbegegnung par excellence; seine Verhandlung aber steht im engen Zusammenhang

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mit den zeitgenössischen politischen Auseinandersetzungen und reflektiert die Haltung der jeweiligen Verfasser gegenüber der in hellenistischer Zeit umstrittenen Tempelpolitik. Vorislamischen arabischen religiösen Vorstellungen war ein Weiterleben nach dem Tod noch unbekannt; erst der Islam favorisiert, analog zum Judentum, die Vorstellung eines Paradieses in der kommenden Welt, nach dem göttlichen Gericht, als Belohnung für jene Menschen, die fest im Glauben waren und gute Taten vollbrachten.22 Analog zu den jüdischen und christlichen lässt sich auch in islamischen Paradies-Vorstellungen ein enges Wechselspiel von Realität und Imagination nachweisen. In den ausschweifenden Schilderungen von Harmonie, Fülle und Überfluss spiegeln sich die Entbehrungen des irdischen Lebens in geographischen Regionen, die von Wasser- und Nahrungsmittelknappheit gezeichnet sind, und in Gesellschaften, in denen Genuss und Sexualität streng reglementiert werden. Der Koran beschreibt ausführlich die Wonnen des Gottesgartens Eden,23 der durch Motive charakterisiert ist, die an europäische Vorstellungen vom Schlaraffenland erinnern: Flüsse führen nicht nur Wasser, sondern auch Milch, Wein und Honig, es gibt ein überbordendes Angebot an Früchten, Fleisch und anderen Genussmitteln. Die Bewohner tragen reiche Gewänder und Schmuck, sie verweilen auf weichen Kissen und edlen Teppichen und werden von paradiesischen Jungfrauen und Jünglingen bedient.24 Diese detaillierten Ausschmückungen dienten, wie der islamwissenschaftliche Beitrag von Peter Heine zeigt, als Vorlage für eine islamische Gartenkultur, die ebenfalls danach strebt, das Paradies auf Erden erfahrbar zu machen. Im 16. und 17. Jahrhundert entstanden in Andalusien, Indien und dem Irak prächtige Gärten und Grabanlagen, die sich an religiösen Vorstellungen orientierten und die den Toten, aber auch den Lebenden einen Vorgeschmack auf das Paradies geben sollten. Das Paradies wurde seiner etymologischen Herleitung pairi-daeza25 nach mit einem ummauerten Lustgarten assoziiert, der kulturgeschichtlich als Ort göttlicher oder königlicher Gegenwart voll Schönheit und Genuss verstanden, der selbstverständlich auch erotisch konnotiert war. Als Inbegriff von Fruchtbarkeit, Werden und Vergehen, Vollkommenheit und Harmonie gestalteten Architektur und Gartenbau schon seit dem Mittelalter Orte der Kreativität, der Muße und Entspannung, die sich Vorstellungen des Paradieses anzunähern suchten. Auch mittelalterliche Klostergärten mit ihrer Weltabgeschiedenheit, Stille und Abwesenheit von Gefahren wurden explizit anhand des ‚Modells‘ des Paradieses konzipiert. Entsprechend der biblischen Narration wie auch der altiranischen Etymologie des Begriffs ‚Paradies‘

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wird der mythische Ursprungsort der Menschheit zumeist als umfriedeter Park oder von Mauern umgebener Obstgarten vorgestellt,26 eine Leitvorstellung, wie sie sich auch in anderen Religionen (Islam, Buddhismus) findet.27 Der Paradiesgarten erhält im Christentum weibliche Konnotationen – sei es in Form der Erotisierung wie im Hohelied, wo die Geliebte vom Bräutigam selbst als ein Lustgarten imaginiert wird (Hld 4,12-15), sei es in Form der Spiritualisierung wie in der Gleichsetzung der Jungfrau Maria mit dem hortus conclusus in der Mystik.28 Auch das theologisch je unterschiedlich bewertete Faktum, dass Eva gemäß biblischer Überlieferung das einzige Lebewesen ist, das nicht aus Erde geschaffen wurde und überdies im Garten des Paradieses selbst entstand – Adam hingegen wurde hineingesetzt –,29 stärkt die oben genannte Nähe zwischen Weiblichkeit und Paradies. Da es sich bei Judentum, Christentum und Islam um Buchreligionen handelt, liegt es nahe, die narrativen Strukturen der Schriften weiter zu verfolgen. Gerade die Literatur prägte neben der bildenden Kunst im christlichen Mittelalter und in der Renaissance die Vorstellungen vom Paradies, wie sie bis zum heutigen Tag fortwirken. Im Anschluss an die zahlreichen Analysen der Paradies-Schilderungen in Dante Alighieris Paradiso, dem dritten Teil seiner Divina Commedia (ca. 1308-21), und John Miltons Paradise Lost (1667) befragt der Band weitere einschlägige Texte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit auf die Konzeption utopischer Orte hin. So entwirft die erzählende Literatur des Mittelalters paradiesische Orte der Liebe oder der Gesellschaftsutopie, die durch eine magische Umgrenzung geschützt sind. Die Verletzung dieser Grenze markiert entsprechend den Verlust der Harmonie durch den Einbruch von Gewalt und Zerstörung. Die Mediävistin Mireille Schnyder analysiert solche schwer zugänglichen und topografisch entfernt liegenden ‚anderen‘ Paradiese – den Liebesgarten, den aventiure-Garten und den Teufelsgarten –, die als Teil einer artifiziellen, magischen, nicht-christlichen Welt dem Helden als Täuschung der Wahrnehmung, als Verlockung und Herausforderung entgegentreten und die es im Sinne des christlichen Erlösungsgedankens zu überwinden gilt. Dantes Divina Commedia hingegen vollzieht, wie der Romanist Marc Föcking mit differenziertem Blick auf die antike Tradition und die mittelalterlichen theologischen Auseinandersetzungen nachweisen kann, eine Umwertung des Lachens vom sündhaften und bösen in ein himmlisches, ein paradiesisches Lachen. Entgegen der pauschalisierenden Annahme eines lachfeindlichen Diskurses innerhalb der christlichen mittelalterlichen Literatur kann Föcking zeigen, dass an-

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schließend an eine viel differenziertere Tradition „riso“ und „sorriso“ – Lachen und Lächeln – in Dantes Göttlicher Komödie ins Positive gewendet und mit dem Himmlischen, dem Paradies, assoziiert werden.

II. Geschlecht, Differenz, Erkenntnis Anthropologische Konsequenzen des Sündenfalls Die Erzählung von Paradies und Sündenfall korreliert die Genese des Menschen mit seiner Vergeschlechtung. Der zweite Teil des Bandes stellt deshalb die für den Paradies-Topos zentrale Verschränkung von geschlechtlicher Differenz und Erkenntnis in den Mittelpunkt, wie sie bereits in der biblischen Verwendung des Verbs jadac (‚erkennen‘) aufscheint, das ein weites Bedeutungsspektrum u.a. von ‚verstehen‘, ‚wahrnehmen‘, ‚lieben‘ und ‚den Geschlechtsakt vollziehen‘ umfasst.30 Während die Menschwerdung wesentlich durch Differenzsetzungen zu anderen Existenzformen erfolgt – Adam wird sowohl Gott als auch den Tieren kontrastiert –, wird die Aufspaltung innerhalb der Gattung ausgelöst durch die eigene, gleichermaßen unwillkürliche wie autonome körperliche Selbst- und Fremdwahrnehmung der beiden Akteure. Das Essen von den Früchten des wissenserweiternden Baumes ist es, das Adam und Eva die Augen öffnet – und „sie erkannten, daß sie nackt waren“ (Gen 3,7). Im Zentrum der Szene steht die Wahrnehmung geschlechtlicher Differenz: Der biblischen Narration zufolge wird die Scham dadurch initiiert, dass sich Mann und Frau als ungleich wahrnehmen und das voneinander Abweichende vor dem jeweils anderen unmittelbar durch die Anfertigung von Lendenschurzen voreinander zu verbergen suchen. Zwar identifiziert Adam Eva nach ihrer Erschaffung durch Gott, im Unterschied zu allen Tieren, sofort als Seinesgleichen – als „Fleisch von meinem Fleisch“ (Gen 2,23) –, doch beruht diese vermeintliche Identität auf einer primären Verkennung, wie sich dann herausstellt: Die Ätiologie der Geschlechter offenbart sich als konstruktiv und phantasmatisch. Erst im Anschluss wird die selbst getroffene Differenzierung durch die Erteilung gender-spezifischer Sanktionen durch die höchste Instanz bestätigt. Von Gott erhalten Adam und Eva – wie auch die Schlange – jeweils zwei Strafen: die Plage der körperlichen Arbeit auf dem Feld wird dem Mann auferlegt, ebenso wie die Sterblichkeit;31 die Schmerzen der Geburt und das unerfüllte Begehren der Frau („dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr

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sein“32); schließlich wird das Menschenpaar aus dem Paradies vertrieben. Adams Strafen sind allgemeinmenschlicher Art, sie betreffen die conditio humana, während Evas Strafen eine ergänzende geschlechtlichbiologische Dimension beinhalten, die sich auf ihre körperliche Lust und die Reproduktion beziehen. Kontrovers diskutiert wurde, ob Adams Strafen sich automatisch auch auf Eva auswirken, insofern auch sie mit der Vertreibung aus dem Paradies sterblich wird und fortan arbeiten muss. Kennzeichnend ist, dass die Schuld des ersten Paares trotz der Aufsichnahme der genannten Bürden nicht abgetragen werden kann, sondern eine Beständigkeit besitzt, die sich in Form der Erbschuld sogar auf sämtliche Nachfahren überträgt und Schuldhaftigkeit so ein Teil der menschlichen Existenz wird. Ein zweites Merkmal der biblischen Schamszene ist es, dass Gott selbst dem in den Büschen verborgenen Paar Kleidung anfertigt – „Röcke von Fellen“ (Gen 3,21) macht – und sie ihnen sogar eigenhändig anzieht. Er nimmt ihnen so zwar ihre Körperscham durch einen kulturellen Akt, gleichwohl bleibt eine Beschämbarkeit latent, die gleichermaßen in der Kreatürlichkeit und Blöße wie in der geschlechtlichen Differenz besteht. Begründungen von Geschlechterdifferenz und –hierarchie wurden historisch an der Genesis-Erzählung ebenso festgemacht wie die Utopie einer ursprünglichen Gleichheit und Ganzheit, die wiederum in Idealen der Differenzlosigkeit resultiert. Wenn die Erfahrung von Differenz jener Effekt ist, den die Paradieserzählung beschreibt, so stellt sich die Frage, was dies für das Verhältnis der Geschlechter bedeutet. Diese Thematik beleuchtet die evangelische Theologin Helen Schüngel-Straumann aus der Entstehungsgeschichte der Paradieserzählungen in patriarchalen Gesellschaften heraus, indem sie die biblische Narration exegetisch nachvollzieht und dabei insbesondere die frauenfeindlichen und -freundlichen Aspekte herausstellt.33 Die Schwelle des Paradiesgartens ist der biblischen Anthropologie zufolge jener liminale Ort, an dem conditio humana und Geschlechtlichkeit fixiert sowie weitere grundlegende Wandlungen vollzogen werden: Im Zentrum der Geschichte steht eine globale Veränderung des Lebens, welche sich räumlich in der Vertreibung aus dem Garten darstellt (er ist künftig für den Menschen unerreichbar ‚fern‘) und welche eine Reihe von Transformationen beinhaltet: Aus einem Leben ohne Tod wird ein Leben mit Tod, aus der (akulturellen) Nacktheit wird die (kulturelle) Bekleidung, aus dem Status des Sammlers wird der des Ackerbauern bzw. Viehzüchters, aus dem (asexuellen) Verhalten ohne Scham das (sexuelle) schamvolle Verhalten, aus der Unzurechnungsfähigkeit die Zurech-

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nungsfähigkeit, aus der harmonischen Gemeinschaft mit Tieren und Gott die wechselseitige Trennung.34

Erst im Anschluss an die Sündenfall-Erzählung wird von Individuen gehandelt und nicht mehr von Gattungswesen, insofern in Gen 4 erstmals Eigennamen genannt werden.35 Die postlapsale Existenz wird kulturtheoretisch nicht nur als Mangel interpretiert, sondern auch als aktiv erlangte Emanzipation, als Übergang aus der naiven, glücklichen Kindheit in ein eigenverantwortliches, erwachsenes Dasein, das die kindliche Sicherheit und Geborgenheit hinter sich lässt. So findet sich beispielsweise bei Sigmund Freud die Deutung des Paradieses als kollektive Erinnerung der individuellen – verlorenen – Kindheit, wobei die Adoleszenz mit dem Moment der Vertreibung aus dem Paradies assoziiert wird: Diese der Scham entbehrende Kindheit erscheint unserer Rückschau später als ein Paradies, und das Paradies selbst ist nichts anderes als die Massenphantasie von der Kindheit des einzelnen. Darum sind auch im Paradies die Menschen nackt und schämen sich nicht voreinander, bis ein Moment kommt, in dem die Scham und die Angst erwachen, die Vertreibung erfolgt, das Geschlechtsleben und die Kulturarbeit beginnt. In dieses Paradies kann uns nur der Traum allnächtlich zurückführen [...].36

In der Tradition jüdischer und christlicher Gelehrsamkeit, zu der zum Beispiel Philo, Origines, Ambrosius und der frühe Augustinus zählten, findet sich eine ethisch-allegorische Auslegung des Sündenfalls als notwendige Trennung von Körper und Seele und als Gegenüberstellung von sinnlicher Wahrnehmung und Vernunft;37 und im 18. Jahrhundert schließlich lesen aufgeklärte Denker wie Immanuel Kant und Friedrich Schiller die Genesis-Erzählung als „glücklichste und größte Begebenheit der Menschengeschichte“38, die das Hinausgetriebensein aus dem „harmlosen und sicheren Zustand der Kindespflege, gleichsam aus einem Garten, der ihn ohne Mühe versorgte“39, als Eintritt des Menschen in Geschichte, Kultur, Freiheit und Mündigkeit interpretiert: „Der Mensch hat gewonnen; denn die Bestimmung seiner Gattung ist das Fortschreiten zur Vollkommenheit. Es ehrt den Menschen, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein.“40 Schiller deutet die ‚Ursünde‘ als „erste Äußerung der Selbsttätigkeit“ um: Mit dem Sündenfall gelange der Mensch aus dem „Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft“ und beginne sich einem „Paradies der Erkenntnis und der Freiheit“ anzunähern.41 Anknüpfend daran, bezeichnet der Philosoph Johannes Agnoli Eva als „Ver-

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körperung der ersten Subversion“, insofern sie sich gegen Fremdbestimmung als Handelnde emanzipiert: Eva ist [...] das erste weltgeschichtliche Symbol der Emanzipation. Sie subvertiert schon deshalb, weil sie handelt. Sie handelt; sie folgt der Schlange und pflückt den Apfel. Sie handelt, obwohl sie ein Abgeleitetes ist, ein Geschöpf Gottes. Das ist das Eigentümliche an dieser Gestalt, daß sie im doppelten Sinne abgeleitet ist: Abgeleitet aus der Rippe Adams, und abgeleitet zugleich aus der hierarchischen Struktur der ursprünglichen paradiesischen Familie. Also: Aus dem Zustand doppelter Ableitung und Fremdbestimmung subvertiert sie die Ordnung.42

Kurt Flasch hat darauf hingewiesen, dass Eva nicht nur „an allem schuld“ war, sondern auch „für vieles gut. Sie war nicht nur die Mutter der Sünde, sondern auch die Mutter der Zeit. Mit ihr begann die Geschichte.“43 Die Figur der Mutter hat in der Tradition des Sündenfalls, vielleicht auch durch ihre Konnotation mit der Urmutter Eva, derjenigen, die die Erbsünde in die Welt gebracht hat, eine höchst ambivalente Position in westlichen patriarchalischen Gesellschaften. Nicht zuletzt trifft das auch die ‚Mutter Erde‘, deren Behandlung als ‚zweitbester‘ Ort nach dem Paradies entsprechend zerstörerische Züge trägt. Diesem Topos widmet sich die Philosophin Elisabeth von Samsonow in ihrem Aufsatz, in dem sie, die Tradition der Theodizee Leibnizens fort- und umschreibend, eine „Geodizee“ vorschlägt, die unser Verhältnis zur Erde neu bestimmen könnte. Sie bezieht sich dabei auf unterschiedliche ökologische und philosophische Utopien und Naturkonzepte, so etwa auf die Biosphären-Lehre des frühen 20. Jahrhunderts oder auf pharmakologische Ideen der Transformation des Menschen durch die Einverleibung von Natursubstanzen, die im Essen der paradiesischen Frucht ihr Urbild sehen. Projektionen und Idealisierungen jenes ‚paradiesischen Seins‘ vor dem Sündenfall sind gekennzeichnet durch Mühelosigkeit, Fruchtbarkeit der Natur, Harmonie von Mensch, Tier und Natur sowie Ruhe und Frieden. Das Paradies fungiert weiterhin als Leitmetapher für jegliche Zustände physischer Wunscherfüllung, seelischer Ausgeglichenheit und narzisstischer Vollkommenheit. Zu untersuchen ist daher auch die eigentümliche Körperlichkeit paradiesischer Seinsformen, wie sie im Blick zurück phantasmatisch erscheint. Anschließend an die korporale Einheit von Adam und Eva im Paradies, ist an den platonischen Aristophanes-Mythos des ursprünglich zweigeschlechtlichen, ganzheitlich-vollkommenen „Kugelwesens“ (Platon: Gastmahl, 189c-191d) zu denken, das in mythischer Zeit getrennt

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wurde und seitdem auf der ganzen Welt vergeblich seine verlorene Hälfte sucht. Dem Mythos zufolge machte dieses androgyne Doppelgeschlecht die Götter neidisch, die es deshalb durch einen folgenreichen Schnitt trennten. Bei einigen Kirchenvätern findet sich überdies die platonische Vorstellung, dass den Menschen im Paradies ein pneumatischer, immateriell-transparenter Leib eigen war.44 Dem gegenüber steht etwa die Auffassung Augustinus’, wonach es im Garten Eden sehr wohl geschlechtliche Körper gab und zu Sexualität und Reproduktion kam – oder zumindest hätte kommen können, sofern Adam und Eva darin verblieben wären, denn nach patristischer Lehrmeinung währte der Aufenthalt von Adam und Eva im Paradies nur sieben Stunden.45 Der paradiesische Geschlechtsverkehr des ersten Menschenpaars, so es ihn gegeben habe, sei zwar mit gaudium (‚innerer Freude‘), aber ohne voluptas (‚leidenschaftliche Begierde‘) vollzogen worden. Die sich in den Genitalien konzentrierende sexuelle Lust hingegen sei erst mit der Erbsünde entstanden.46 Das Fehlen der Geschlechtslust im Paradies wird daher zu einem der zentralen Dogmen der Kirchengeschichte.47 Die Auffassung vom ursprünglich ‚reinen‘ Geschlechtsverkehr der Ehegatten teilt noch Luther in seinem Genesis-Kommentar. Andere Theologen berufen sich hingegen auf eine primäre Geschlechtslosigkeit oder Androgynie ‚des Menschen‘ (womit allerdings in der Regel nur Adam gemeint ist, in seinem körperlichen Zustand vor der Erschaffung Evas).48 Vorstellungen eines zweiten Paradieses als räumlichem Bereich und Zustand vor dem Einzug in den Himmel, wie etwa von Thomas von Aquin entwickelt und von Dante im Paradiso dargestellt, sind bisweilen ähnlich rein, körper- und geschlechtslos wie der vermeintliche ‚Urzustand‘ vor dem Fall. Kirchenamtlich wurde der „Transit-Raum“49 Paradies aber bereits im 13. Jahrhundert abgeschafft, wodurch es offiziell keinen temporären Aufenthaltsort für die Seelen der frommen Verstorbenen mehr gab. Wenn die Erzählung des Paradieses als eines immer schon verlorengegangenen Ortes Menschheitsgeschichte historisiert, so stellt sie zugleich eine Vision dar, deren Erreichbarkeit zwar bezweifelt werden mag, die aber als movens von Kultur immer auch utopischen Charakter trägt. Die Vertreibung hat demnach vielleicht auch einen positiven Effekt, schließlich erzählt sie auch vom nachfolgenden Versuch, gemeinsam zu leben – und das immer in Bewegung. Solche Züge trug auch die Geschichte der großen Auswanderungsbewegung aus Europa in den Westen, nach Amerika, womit sich der Aufsatz der Religionswissenschaftlerin Ulrike Brunotte befasst. Dargestellt

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wird, wie die New World, etwa die Gebiete Neuenglands, unter Ausblendung der Tatsache, dass das Land bereits bewohnt war, von den Siedlern als ,unbefleckte‘ Wildnis imaginiert wurde, die unter Rückgriff auf biblische Topoi einer Wüstenlandschaft aus Dornen und Disteln, dem Durchgangsort Adams und Evas nach dem Sündenfall, analogisiert wurde.50 Der Utopie des Neuanfangs in ‚unschuldiger‘ Natur kontrastiert jedoch die parallele horror vacui-Vorstellung der wilderness als Ödnis und ungeformter, nicht zu kultivierender roher Natur. Ausgehend von Toni Morrisons Roman Paradise beschäftigt sich auch Thomas Claviez mit der ‚Neuen Welt‘ und den ambivalenten Heldengeschichten ihrer Besiedlung. Der mythischen Figur des weißhäutigen ‚amerikanischen Adam‘ und dem Topos von dessen durch Gott auf neuem Boden gegebener ‚zweiten Chance‘ setzt Morrison eine afroamerikanische weibliche Protagonistin entgegen, die „Black American Eve“, der mit dem Konzept der Hospitalität eine Utopie und Ethik der Gemeinschaft eingeschrieben ist, welche die durch die Genesis initiierte Differenzsetzung zu überwinden sucht.

III. Paradise Lost. Säkulare Orte der Sehnsucht In der heutigen Umgangssprache verwendet man den Begriff ‚Paradies‘, um auf Situationen, die „von Überfluss, Mühelosigkeit, dem Zauber des Unbekannten, Anrüchigen, Sensationellen“ geprägt sind, hinzuweisen; er steht für einen Ort, „an dem Wünsche sofort bedient werden, käuflich für Geld, perfekt inszeniert, abgestimmt und abgestellt auf die Erwartungen des passiven Benutzers: Ferienparadies, Einkaufsparadies, Drogenparadies, paradiesische Zustände.“51 Allen hier genannten konsumistischen Formeln ist ein Versprechen auf Erreichbarkeit, Erlangbarkeit dieser – temporären – so genannten ‚Paradiese‘ inhärent. Wurde zuvor konstatiert, dass Entwürfe des Paradieses kulturgeschichtlich an die Vorstellung vollkommener, doch aus strukturellen Gründen unerreichbarer Orte geknüpft seien, so ergibt sich hier eine neue, durchaus konträre Sinndimension des Paradies-Begriffs, und es ist, daran anschließend, zu fragen, ob das Paradies heute ausschließlich als (überstrapazierte) Metapher Verwendung findet für etwas, das sehr wohl ‚zu haben‘ ist. Im dritten Teil des Bandes wird einerseits nach den Semantisierungen weltlicher paradiesischer Orte gefragt, andererseits nach Versuchen ihrer utopischen Besetzung und der aktiven räumlichen Bewegung auf sie zu. Zu

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unterscheiden sind dabei geographisch lokalisierbare, faktisch existente Orte – wie z.B. die Südsee, Indien, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika (als ‚Neue Welt‘) sowie zunehmend auch Westeuropa –, die als Fremde idealisiert werden, weit entfernt liegen oder schwer zugänglich sind und ihr Glücksversprechen daher nur dann einlösen müssen, wenn man sich auf sie zu bewegt, von solchen Orten, die ausschließlich als imaginär verstanden werden und entweder in zeitlicher Dimension als vergangen und damit verloren gelten oder überhaupt nur im Modus des Phantastischen existieren. Der dritte Teil behandelt die konkrete Ausgestaltung paradiesischer Wunschwelten in einer postreligiösen Welt. Dabei wird insbesondere jene Dynamik fokussiert, positive Gegenwelten zu schaffen, um defizitäre oder leidvolle Erlebnisse und Gefühle in der realen Welt zu kompensieren52 – Benigna Gerisch spricht in ihrem psychoanalytischen Beitrag treffend von „Idyllenbildung als Abwehrorganisation traumatischer Erfahrungen“. Die „Desambiguierung“53 der gegenwärtigen Welt, so bereits die religionspsychologische Einsicht, wird dadurch erreicht, dass Zweideutigkeiten eliminiert und polare Gegenwelten entwickelt werden – exemplarisch wird auf die jüdischchristliche Vorstellung von der Hölle als Ort der Verdammten und dem Paradies als Wohnstätte der Gerechten verwiesen. In den Blick kommen jene sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen vollziehenden individuellen oder kollektiven Dynamiken des Imaginären, die sich nicht auf den Aspekt einer psychischen Realitätsabwehr – oder, wie Gerisch sagt, eines psychic retreat – reduzieren lassen, sondern, im Gegenteil, oft konkrete Prozesse der kulturellen und sozialen Veränderung generieren. Paradiesvorstellungen stehen, so die Hypothese, in einem Spannungsverhältnis von Veränderungspotential und Verhinderungsdynamik. Es ist daher auch zu fragen, in welcher Form sie Einfluss auf die gesellschaftliche Realität ausüben. Der abschließende Teil des Bandes widmet sich Phänomenen der Moderne und der Gegenwart und ihren ökonomischen, touristischen und libidinösen Wunscherfüllungen. So gilt die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit als eine der elementarsten Antriebskräfte des Tourismus. Regina Römhild behandelt in ihrem kulturanthropologischen Beitrag am Beispiel Griechenlands die ‚Kreuzung‘ von Migration und Tourismus als reziproke Bewegungen, die von der Imagination eines erfüllteren Daseins angetrieben werden. Die Aufsätze der Kunsthistorikerinnen Alma-Elisa Kittner und Kristin Marek nehmen die Ambivalenzen des Paradies-Topos in der bildenden Kunst in den Blick und zugleich die in der Gegenwartskunst formulierte Kritik am Kon-

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sumismus moderner Paradiese. In beiden Aufsätzen stehen räumliche Bewegungen von Künstlern und Protagonisten im Zentrum: einerseits die exotistischen Südseereisen des frühen 20. Jahrhunderts, andererseits die Asylsuche im ‚gelobten Land‘ Europa. Alte und Neue Welt, Mythos und Postmoderne werden derart durch haltlose Versprechen und wieder und wieder verlorene Ursprünge verschränkt. Durch die Südsee-Gemälde, zum Beispiel die des im Beitrag von Kittner diskutierten Tahiti-Reisenden Paul Gauguins, wurde die exotisierte und zum Paradies erklärte Fremde in den europäischen Salon überführt, ähnlich wie dies schon zuvor exklusive Papier- und Panoramatapeten ermöglichten, die paradiesische Stimmungen in der Wohnstube herzustellen suchten, wie Marek darstellt. In der von ihr untersuchten Installation Eldorado von Danica Dakić wird die optische Wunschwelt der gleichnamigen Wandtapete zur irrealen Kulisse, vor der die Artikulation persönlicher Träume und Zukunftsphantasien Asyl suchender Jugendlicher einen harten Kontrast wirft. Auf der Suche nach immer neuen irdischen Paradiesen, nach Durchgangs- und Sehnsuchtsorten, macht der Mensch eine eher komische Figur, wie uns Anton Kaes anhand des in der Sahara gedrehten experimentellen Filmes Fata Morgana von Werner Herzog vorführt. Kaes verdeutlicht, welche utopischen Funktionen der Kunst insgesamt und insbesondere dem in und mit ihr verhandelten Paradies-Topos Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zukamen. Der Wüstenlandschaft Afrikas – als vermeintlicher Ursprung und auch Ende der Menschheit – eignet eine herausragende Bedeutung; ihre Gefährdung wird durch Natur- und Tierdokumentationen, auf die Herzog deutlich rekurriert (insbesondere Serengeti darf nicht sterben), ebenso thematisiert, wie die in dieser Zeit entstehende und bis heute andauernde Ökobewegung. Paradiesvorstellungen sind nicht allein zeitlich, sondern auch räumlich strukturiert. In den meisten Religionen und Denksystemen werden ihnen polare Gegenwelten kontrastiert, die eben nicht nur aufgrund ihrer Eigenschaften, sondern auch topografisch zum Paradies komplementär situiert werden. Der sogenannte spatial turn in den Kulturwissenschaften hat die Frage nach Räumen und Orten in ein neues Licht gesetzt. Vergleichbar mit der Denkbewegung der Frühen Neuzeit, deren Erkenntnis der Unendlichkeit des Raumes die Frage nach einem Ort Gottes aufwarf, wird im Zeichen der Globalisierung erneut die Frage gestellt, wo in der Welt noch Sicherheit und Geborgenheit herrschen. War Gott als der ‚unbewegte Beweger‘ mittelalterlicher Vorstellungen der Garant einer Ordnung von Welt, so stellt sich heute zu-

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nehmend die Frage nach einem von Marktstrategien unberührten, ‚unschuldigen‘ Ort. Für die Re-Lektüre der Paradies-Erzählung wirkt sich seit den 1970er Jahren auch das ökologische Krisenbewusstsein produktiv aus und kreiert entsprechende neue ökopolitische Semantiken (z.B. des ‚Biologisch-Dynamischen‘).54 Flüchteten noch in den 1980er Jahren nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl Heilsuchende auf die Inseln des Mittelmeers, der Karibik oder Asiens, so wird heute vergeblich ein bergender Raum gesucht. Auf der Nord-Süd-Achse kreuzen sich zudem unterschiedliche ökonomische Ziele und die Suche nach Paradiesen auf Zeit: Während die einen glauben, in einer Arbeitswelt, die sie immer weniger durchschauen, funktionieren zu müssen und aus dieser nur kurzzeitig auf paradiesische, romantische, zumeist südliche Enklaven flüchten zu können, suchen die anderen Zutritt zu eben dieser Arbeitswelt, die das Versprechen auf ein vermeintlich sorgloses Leben birgt. Mit diesen Perspektiven schließt der Band auch an die aktuelle Globalisierungsdebatte an, nähert sich ihr jedoch von der kulturhistorisch relevanten Paradies-Thematik. Derart wird das ‚Nachleben‘55 des Religiösen, wie es Aby Warburg für die Antikenrezeption der Renaissance vorgeführt hat, in der säkularen Welt untersucht. Implizit wirkende Traditionen werden so zum expliziten Forschungsgegenstand. Die diesem Band im April 2008 vorangegangene Tagung, die die Herausgeberinnen gemeinsam mit der Philosophin Stefanie Wenner konzipiert und veranstaltet haben, fand daher ganz bewusst im traditionsreichen Hamburger Warburg-Haus statt, für dessen Gastfreundschaft wir danken möchten. Den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie der Mitveranstalterin gebührt Dank dafür, dass sie ihre Zeit und Kreativität einbrachten, um die Tagung mit Leben zu füllen, und nachfolgend ihre Vorträge zu Aufsätzen ausarbeiteten. Ferner möchten wir uns bei Ann-Kristin Düber, Falko Schnicke, Guntrud Argo, Anna Burgdorf, Markus Redlich und Götz Zuber-Goos für die Mitarbeit bei der Tagungsorganisation sowie bei der Erstellung des Bandes bedanken. Der Forschungsabteilung der Universität Hamburg danken wir für die großzügige Finanzierung der Tagung und des hiermit vorgelegten Buches.

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Schipper, Bernd U. „Religiöse Paradiese. Gegenwelten – Paradiesvorstellungen in den Religionen“. 1001 Nacht. Wege ins Paradies. Hg. v. Andrea Müller u. Hartmut Roder. Mainz, 2006. 37-44, S. 37. Ebd. Louth, Andrew. „Paradies IV: Theologiegeschichtlich“. Theologische Realenzyklopädie 25. Hg. v. Gerhard Müller. Berlin u.a., 1995. 714-719, S. 714. Pezzoli-Olgiati, Daria. „Paradies I: Religionswissenschaftlich“. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft 6. Hg. v. Hans Dieter Betz u.a. 4. Aufl. Tübingen, 2003. 909-911, Sp. 910. Schipper (Anm. 1), S. 39. Vgl. Zahlten, Johannes. „Paradies VI: Ikonographisch“. Theologische Realenzyklopädie 25. Hg. v. Gerhard Müller. Berlin u.a., 1995. 725-726, S. 725. Vgl. Determann, Eva. „Geschlossene Gesellschaften – Sozialutopien von Thomas Morus bis Walt Disney“. 1001 Nacht. Wege ins Paradies. Hg. v. Andrea Müller u. Hartmut Roder. Mainz, 2006. 69-76. Vgl. Voßkamp, Wilhelm. „Einleitung“. Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie 1. Hg. v. dems. Stuttgart, 1982. 1-10, S. 5 f. Vgl. u.a. Hahn, Alois. Soziologie der Paradiesvorstellungen. Trier, 1976. Vgl. Müller, Andrea. „Geographische Utopien. Wo liegt das Paradies? Von Irrfahrten und Paradiessuchern“. 1001 Nacht. Wege ins Paradies. Hg. v. ders. u. Hartmut Roder. Mainz, 2006. 157-164. Pezzoli-Olgiati (Anm. 4), Sp. 910. Vgl. Müller (Anm. 10); Baumann, Bruno. „Auf der Suche nach ShangriLa“. 1001 Nacht. Wege ins Paradies. Hg. v. Andrea Müller u. Hartmut Roder. Mainz, 2006. 173-180. Vgl. Fridrich, Raimund. ‚Sehnsucht nach dem Verlorenen‘. Winckelmanns Ästhetik und ihre frühe Rezeption. Bern u.a., 2003. Vgl. Lepp, Nicola (Hg.) Der neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Ausst.-Kat. Berlin, 1997; Klein, Dieter. „Der Sonnenorden in der Südsee – Engelhardts Traum vom Paradies“. 1001 Nacht. Wege ins Paradies. Hg. v. Andrea Müller u. Hartmut Roder. Mainz, 2006. 85-92; Niemann, Renate. „Monte Verità – das Paradies auf dem Berge“. 1001 Nacht. Wege ins Paradies. Hg. v. Andrea Müller u. Hartmut Roder. Mainz, 2006. 77-84. Soweit nicht gesondert angegeben, folgen die Zitate aus der Bibel der Übersetzung durch Martin Luther. Vgl. zur Übersetzung des Alten Testaments in der jüdischen Tradition: Die fünf Bücher der Weisung. Übers. v. Martin Buber u. Franz Rosenzweig. 10. verb. Aufl. Stuttgart, 1992. Zur Überlieferung der Erzählung von Adam und Eva im Koran vgl. das Stichwort „Adam and Eve, Story of IV. Islam“. The Encyclopedia of the Bible and its Reception 1. Hg. v. Hans-Josef Klauck, Bernard McGinn u.a. Berlin, New York, 2009, S. 350 f.

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Vgl. Luttikhuizen, Gerhard. P. „Paradise Interpreted“. Representations of Biblical Paradise in Judaism and Christianity. Hg. v. dems. Leiden u.a., 1999. 1-20. Vgl. Becker, Markus. „Kreationisten in den USA. Mit Gottes Wort gegen die Wissenschaft“. Spiegel-Online (http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/ 0,1518,379334,00.html; 31.7.09); Numbers, Ronald L. The Creationists. From scientific Creationism to Intelligent Design. Cambridge (Mass.), 2006. Vgl. Stolz, Fritz. „Paradies und Gegenwelten“. Zeitschrift für Religionswissenschaft 1 (1993): 5-24; ders. „Paradies I: Religionsgeschichtlich“. Theologische Realenzyklopädie 25. Hg. v. Gerhard Müller. Berlin u.a., 1995. 705-708, S. 705. Louth (Anm. 3), S. 715. Vgl. Schipper (Anm. 1), S. 40. Vgl. Horovitz, Josef. „Das koranische Paradies“. Der Koran. Hg. v. Rudi Paret. Darmstadt, 1975, 53-73; Heine, Peter. „Paradies V: Islam.“ Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft 6. Hg. v. Hans Dieter Betz u.a. 4. Aufl. Tübingen, 2003. 915-916. Das hebräische edaen bedeutet ‚Wonne‘; vgl. Waschke, Ernst-Joachim. „Paradies II: Biblisch“. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft 6. Hg. v. Hans Dieter Betz u.a. 4. Aufl. Tübingen, 2003. 911-913, Sp. 912. Vgl. Heine (Anm. 22), Sp. 915 f. Aus dem altiranischen pairi-daeza, wörtlich: ‚Umwallung‘. Diese Bezeichnung erscheint als Lehnwort in vielen anderen Sprachen und steht für einen eingefriedeten Park, eine Gartenanlage oder auch eine königliche Domäne. Vgl. Pezzoli-Olgiati (Anm. 4), Sp. 909. Während der hebräische Text das Wort ‚Paradies‘ noch nicht kannte, ging es mit der griechischen Übersetzung in die Erzählung vom Garten Eden ein. Vgl. Theologische Realenzyklopädie XXV. Hg. in Gemeinschaft mit Horst Balz u.a. Berlin, New York, 1995, S. 705. Vgl. Stolz 1995 (Anm. 19), S. 705; Krauss, Heinrich. Das Paradies. Eine kleine Kulturgeschichte. München, 2004, S. 21. Vgl. u.a. Brock-Utne, Albert. Der Gottesgarten. Eine vergleichende religionsgeschichtliche Studie. Oslo, 1935. Vgl. Frühe, Ursula. Das Paradies ein Garten – der Garten ein Paradies. Studien zur Literatur des Mittelalters unter Berücksichtigung der bildenden Kunst und Architektur. Frankfurt a. M. u.a., 2002. Vgl. Flasch, Kurt. Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos. München, 2004, S. 31 u. 68. Vgl. Schüngel-Straumann, Helen. Die Frau am Anfang. Eva und die Folgen. 3. Aufl. Münster, 1999, S. 100. „Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren ein Leben lang. […] Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zur Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.“ (Gen 1,17-19).

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Claudia Benthien und Manuela Gerlof „Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühe schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein.“ (Gen 1,16). Sie knüpft damit an ihre wegweisende Publikation an: vgl. SchüngelStraumann (Anm. 30). Stolz, Fritz. „Paradies II: Biblisch“. Theologische Realenzyklopädie 25. Hg. v. Gerhard Müller. Berlin u.a., 1995. 708-11, S. 708. Vgl. Schüngel-Straumann (Anm. 30), S. 81 u. 114 f. Freud, Sigmund. Die Traumdeutung. 12. Aufl. Frankfurt a. M., 2005, S. 252. Vgl. Flasch (Anm. 29), S. 87. Schiller, Friedrich. „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde“. Friedrich Schiller. Werke und Briefe 6. Historische Schriften und Erzählungen I. Hg. v. Otto Dann u.a. Frankfurt a. M., 2000. 432-450, S. 434. Kant, Immanuel. „Muthmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte“ [1912/23]. Kants Werke VIII. Abhandlungen nach 1781. Berlin, 1968. 107123, S. 114. Flasch (Anm. 29), S. 86. Schiller (Anm. 38), S. 433 f. Agnoli, Johannes. Subversive Theorie ‚Die Sache Selbst‘ und ihre Geschichte. Eine Berliner Vorlesung. Hg. v. Christoph Hühne. Freiburg i. Br., 1996, S. 34. Flasch (Anm. 29), S. 16. Vgl. Krauss (Anm. 26), S. 58. Vgl. Flasch (Anm. 29), S. 74. Vgl. Krauss (Anm. 26), S. 60. Vgl. Waschke (Anm. 23), Sp. 913. Vgl. Krauss (Anm. 26), S. 46; Flasch (Anm. 29), S. 22. Krauss (Anm. 26), S. 138. Vgl. Steinheimer, Frank D. „Die Suche nach dem verlorenen Paradies – Bedeutungswandel der Paradies- und Wildnisvorstellungen“. 1001 Nacht. Wege ins Paradies. Hg. v. Andrea Müller u. Hartmut Roder. Mainz, 2006. 133-139, S. 133 f. Presler, Gerd. „Paradies V: Praktisch-theologisch“. Theologische Realenzyklopädie 25. Hg. v. Gerhard Müller. Berlin u.a., 1995. 719-721, S. 719. Vgl. Scheffczyk, Leo. „Paradies II: Biblisch-theologisch“. Lexikon für Theologie und Kirche 7. Hg. v. Walter Kasper u.a. Freiburg i. Br. u.a., 1998. 1360-1362, Sp. 1360 f. Pezzoli-Olgiati (Anm. 4), Sp. 911. Vgl. Wiederkehr, Dietrich. „Paradies VI: Systematisch-theologisch“. Theologische Realenzyklopädie 25. Hg. v. Gerhard Müller. Berlin u.a., 1995. 721-724, S. 723. Der Begriff des Nachlebens wurde von Warburg erst retrospektiv mit Blick auf seine Arbeit entwickelt; vgl. Schoell-Glass, Charlotte. „Aby Warburg (1866-1929)“. Klassiker der Kunstgeschichte. Von Winckelmann bis Warburg 1. Hg. v. Ulrich Pfisterer. München, 2007. 181-93, S. 186. So heißt es bei Warburg

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etwa: „Inwieweit ist der Eintritt des stilistischen Umschwungs in der Darstellung menschlicher Erscheinungen in der italienischen Kunst als international bedingter Auseinandersetzungsprozeß mit den nachlebenden bildlichen Vorstellungen der heidnischen Kultur der östlichen Mittelmeervölker anzusehen?“ Warburg, Aby. Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Hg. v. Gertrud Bing unter Mitarbeit v. Fritz Rougemont. Leipzig u. Berlin, 1932, S. 478 f. [Reprint in: Aby Warburg. Gesammelte Schriften. Studienausgabe 1.1. Berlin, 1998.]

 

Zwischen Himmel und Heiligtum Paradiesvorstellungen im Judentum und Christentum Simone Rosenkranz Verhelst Das Paradies ist ein urzeitlich und endzeitlich gedachter Ort der Vollkommenheit, in den Idealvorstellungen projiziert werden: Was im Diesseits, in der Gegenwart mangelhaft ist, wird im Paradies rehabilitiert. Paradiesvorstellungen reflektieren dadurch nicht nur Glaubensinhalte und Wertvorstellungen der jeweiligen religiösen Trägergruppe, sondern sie spiegeln auch konkrete soziale und politische Umstände wieder. Die Jahrhunderte vor und nach der Zeitenwende sind in der jüdischen Geschichte durch politische, kulturelle und religiöse Umwälzungen geprägt: Die Hellenisierungspolitik der Seleukiden spaltete die jüdische Bevölkerung Palästinas, die Aufstände gegen Rom führten im Jahre 70 n. Chr. zur Tempelzerstörung. Der Verlust des religiösen Bezugspunktes, des Tempels, ermöglichte schließlich aber auch den Aufstieg einer neuen religiösen Führungsschicht, die der Rabbinen, welche die Grundlagen für die späteren Entwicklungen des Judentums bis heute legte. In den folgenden Ausführungen sollen einerseits die Adaptierungen und Veränderungen, welche die frühjüdischen und rabbinischen Paradiesvorstellungen durch die erwähnten historischen Kontexte erfahren haben, untersucht werden. Andererseits soll gefragt werden, wie sich die Unterschiede zwischen Judentum und Christentum in den Paradiesvorstellungen widerspiegeln. Der protologische Aufenthaltsort des ersten Menschenpaares wird im zweiten und dritten Kapitel der Genesis als Garten beschrieben, in dem Bäume wachsen und vier Flüsse entspringen, welche die Erde bewässern. Das erste Menschenpaar ist nackt und ernährt sich offensichtlich von den Früchten der Bäume. Spannungen zwischen Mann und Frau sowie zwischen Mensch und Tier gibt es noch nicht. Auch die Kommunikation zwischen Mensch und Gott verläuft direkt. An diesem protologischen Garten Eden orientieren sich die späteren eschatologischen Paradiesvorstellungen. Neben diesen ausführlichen Paradiesbeschreibungen finden sich in der jüdischen Literatur über die Jahrhunderte hinweg auch skeptisch-zurückhaltende Paradiesdeutungen, welche die paradiesischen Freuden eher spirituell interpretieren.1 Das Paradies ist in der jüdischen Literatur außerdem eine

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Chiffre für den mystischen Aufstieg.2 Auf diese spirituellen und mystischen Paradiesdeutungen soll im Folgenden nicht eingegangen werden. Als Ausgangspunkt soll stattdessen eine Paradiesbeschreibung aus dem Yalqut Schimoni, einer weit verbreiteten spätmittelalterlichen Midrasch-Sammlung, dienen, in der sich zahlreiche ältere Traditionen über das Paradies finden3: Rabbi Jehoschua Ben Lewi sagte: Im Paradies (Gan cEden) gibt es zwei Tore aus Edelsteinen, über denen sechzig Myriaden Dienstengel sind. Das Gesicht jedes einzelnen von ihnen strahlt wie der Glanz des Himmelsgewölbes. Zur Stunde, in welcher der Gerechte (Zaddiq) den Garten Eden betritt, ziehen ihm [die Engel] die Kleider aus, die er im Grab getragen hat, und legen ihm acht Kleider aus den Wolken der Herrlichkeit (cAnane kavod) an und setzen ihm zwei Kronen auf, eine aus Edelsteinen und Perlen und eine aus Parwayim-Gold (Zehav Parwayim).4 Sie geben ihm acht Myrtenzweige in die Hand und preisen ihn: „Geh und iss dein Brot in Freude!“ (Koh 9,7). Sie führen ihn an einen von Wasserströmen umgebenen Ort, an dem 800 Arten von Rosen und Myrten wachsen. Jeder Gerechte hat einen Baldachin (Chuppa) gemäss seiner Ehre (Kevodo) wie es heisst Denn über allem liegt als Baldachin die Herrlichkeit (Kevod) des Herrn (Jes 4,5). Von diesem [Baldachin] gehen vier Ströme aus, einer von Milch, einer von Wein, einer von Balsam und einer von Honig. Über jedem Baldachin hat es eine Weinrebe aus Parwayim-Gold und 30 Perlen sind daran befestigt, die wie der Glanz des Lichtes (Noga) strahlen. In jedem Baldachin hat es einen Tisch aus Edelsteinen und Perlen. Sechzig Engel stehen am Kopf jedes Gerechten und sagen ihm: „Iss in Freude Honig, denn du hast dich mit der Tora beschäftigt, die mit Honig verglichen wird: Die Urteile des Herrn […] sind süsser als Honig (Ps 19,10 f.) […] Und trink vom Wein, dessen Trauben seit den sechs Schöpfungstagen aufbewahrt werden, denn du hast dich mit der Tora beschäftigt, die mit Wein verglichen wird: Würzwein gebe ich dir zu trinken (Cant 8,2)“ […]. Es gibt bei ihnen keine Nacht, denn es heißt: Die Gerechten sind wie das Licht am Morgen (Prov 4,18). Die drei Nachtwachen erneuern sich ihnen [als die drei Lebensalter]: In der ersten Wache wird [der Gerechte] klein und tritt in die Abteilung der Kleinen (Qetanim) ein und freut sich an den Freuden der Kleinen; in der zweiten Wache wird er zu einem jungen Mann (Bachur) und tritt in die Abteilung der jungen Männer ein und freut sich an den Vergnügungen der jungen Männer. In der dritten Wache wird er zu einem Greis (Zaqen) und tritt in die Abteilung der Greise ein und freut sich an deren Vergnügungen. Es gibt im Garten Eden 80 Myriaden Arten von Bäumen. […] Der Lebensbaum ist in der Mitte und seine Zweige bedecken den ganzen Garten Eden. Es hat an ihm [Früchte] von 15’000 Geschmacksrichtungen. Weder in Bezug auf das Aussehen noch den Duft gleichen sie einander. [...] Unter ihm erklären die Talmud-Gelehrten die Tora. […] Es gibt im Garten Eden sieben Häuser von Gerechten: Das erste sind die

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Märtyrer wie Rabbi Akiva und seine Gefährten. Das zweite diejenigen, die im Meer ertrunken sind; das dritte Rabban Jochanan Ben Zakkai und seine Schüler. […] Der Heilige – gelobt sei Er – sitzt unter ihnen und erklärt ihnen die Tora wie es heisst: Meine Augen suchen die Treuen des Landes, sie sollen bei mir wohnen (Ps 101,6).5

Mit der Beschreibung des Gartens Eden aus dem Buch Genesis hat diese jüdische mittelalterliche Schilderung nur noch wenig gemeinsam: Das Paradies wird zwar immer noch als Garten gedacht, doch eine ganze Reihe von weiteren Eigenschaften und Bildern tritt hinzu: So wird das Paradies zu einer Art Schlaraffenland überhöht: Die vier Paradiesesströme bestehen statt aus Wasser aus Milch, Honig, Wein und Balsam. Die Paradiesbäume sind sowohl in ihrer Art als auch durch ihre Anzahl und Vielfalt ins Fantastische gesteigert. In diesem Paradiesgarten gibt es außerdem zahlreiche bauliche Konstruktionen: Dazu zählen die Baldachine ebenso wie die Häuser für die verschiedenen Klassen von Gerechten. Auch zeichnet sich das Paradies durch die Präsenz von Gold, Perlen und Edelsteinen aus, die teilweise geformt und behauen sind. Zum Paradies gehört zudem eine Art ‚Garderobepflicht‘: Bevor die Gerechten das Paradies betreten können, werden sie von den Engeln neu eingekleidet. Das Paradies ist im mittelalterlichen Text kein Ort, an dem alle gleich sind, sondern es gibt Hierarchien verschiedener Art: Die Baldachine der Gerechten und die sieben Abteilungen schaffen Unterschiede zwischen den Paradiesbewohnern. Das Paradies ist weder zeitlos noch ein Ort ewiger Jugend: Die irdische Zeiteinteilung gibt es zwar nicht, doch diese wird ersetzt durch eine ideale Wiederholung der drei menschlichen Lebenszeitalter: Kindheit, Erwachsenen- und Greisenalter. Die Paradiesschilderung im Yalqut Schimoni enthält zudem erotische Konnotationen. Dazu gehören die Baldachine, die auf Hebräisch „Chuppa“ heißen, ein Wort, das seit biblischer Zeit den Hochzeitsbaldachin bezeichnet. Dieses Paradies ist schließlich nicht einfach ein Garten, sondern es ist ein Bet Midrasch, ein Lehrhaus, wo Gott höchstpersönlich die Tora lehrt. Der Text scheint auf den ersten Blick das Produkt einer ausschweifenden mittelalterlichen Phantasie zu sein. Die Paradiesbeschreibung aus dem Yalqut Schimoni greift jedoch zahlreiche Motive älterer Paradiesvorstellungen und Heiligtumssymboliken auf. Um die Imagologie jüdischer Paradiesvorstellungen aufzuzeigen, sollen zunächst einige dieser Motive aufgegriffen und in ihrem historischen Kontext verortet werden (Abschnitt I-II). In einem zweiten Teil (Ab-

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schnitt III-IV) sollen diese jüdischen Paradiesbilder mit christlichen Vorstellungen verglichen werden.

I. Das Paradies als Heiligtum Bereits in der Bibel finden sich neben der Erzählung über den Garten Eden Fragmente weiterer Paradiesvorstellungen. Diese in der Bibel nur bruchstückhaft enthaltenen Bilder werden in der außerbiblischen frühjüdischen Literatur ausführlich dargestellt. Ezechiel 28 enthält ein solches bruchstückhaftes Paradiesbild, das in den außerbiblischen Texten ausführlicher und ursprünglicher aufscheint. In Kapitel 28 des Ezechielbuches wird eine Totenklage über die mächtige Handels- und Hafenstadt Tyrus angestimmt, wobei der Fall von Tyrus als Fall aus dem Gottesgarten beschrieben wird. Dieser ezechielische Gottesgarten unterscheidet sich aber wesentlich vom Paradies in der Genesiserzählung (Ez 28,13f.): (13) In Eden, dem Garten Gottes, warst du, von kostbaren Steinen aller Art war deine Decke, Sarder, Topas, Mondstein, Türkis, Karneol und Jaspis, Lapislazuli, Granat und Smaragd, aus Gold war die Arbeit deiner Fassung und Verzierungen, am Tag, da du geschaffen wurdest, wurden sie befestigt. (14) Du warst ein gewaltiger, schützender Kerub, ich habe dich eingesetzt. Du warst auf dem heiligen Berg Gottes, mitten unter feurigen Steinen wandeltest du.

Das Paradies, Eden, ist bei Ezechiel der mit Gold und Edelsteinen besetzte Berg Gottes. Die im Yalqut Schimoni erwähnten Edelsteine entspringen nicht nur der Sehnsucht nach Prunk und Luxus, sondern sie greifen eine alte Symbolik auf: Edelsteine spielten in der Bilderwelt des Tempels eine wichtige Rolle, so zierten zwölf Edelsteine als Symbol für die zwölf Stämme Israels das Amtskleid des Hohenpriesters (Ex 28). Zur Tempelsymbolik passt auch die Parallelsetzung von Berg Gottes, Garten Gottes und Eden im Text von Ezechiel.6 Dieser bei Ezechiel angedeutete Zusammenhang zwischen dem Berg Gottes, dem Tempel und Eden erscheint deutlicher im „Buch der Wächter“ des „Äthiopischen Henochbuches“, einem Text, der wohl im 4. oder 3. vorchristlichen Jahrhundert entstanden und nur in Äthiopisch vollständig überliefert ist. Sein Held ist Henoch, der auch in Gen 5,24 kurz erwähnt wird. Dieser Henoch ist in der nach ihm benannten Literatur der eigentliche Offenbarungsträger und steht

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damit in einer gewissen Konkurrenz zu Moses. Henoch werden auf Reisen über die Erde und in den Himmel die Geheimnisse der Schöpfung offenbart.7 In den Kapiteln 24 und 25 des „Äthiopischen Henochbuches“ wird erzählt, wie Henoch auf einer seiner Reisen nach Nordwesten gelangt und dort sieben herrliche Berge aus prachtvollen Steinen sieht. Der siebte und höchste, von duftenden Bäumen umgebene Berg ist der Thron Gottes mit dem Baum des Lebens, der am Ende der Zeiten nach Norden an den ‚Heiligen Ort zum Haus des Herrn‘, also zum Jerusalemer Tempel, verpflanzt werden wird. Paradies und Tempel werden gemäß dieser Vorstellung am Ende der Tage praktisch miteinander verschmelzen. Auch die Edelsteine deuten auf den kultischen, heiligtumshaften Charakter des Paradieses hin. Der Thron Gottes – wie bei Ezechiel als Edelstein-Berg vorgestellt –, der Jerusalemer Tempel und das Paradies stehen in engster Verbindung zueinander. Von diesem endzeitlichen Paradies wird im „Buch der Wächter“ das Paradies Adams und Evas unterschieden, das gemäß äthHen 32,3-6 im Nordosten liegt und sich durch schöne wohlriechende Bäume auszeichnet, von denen der prachtvollste der Baum der Erkenntnis ist, der einer Pinie gleicht, Blätter wie ein Johannisbrotbaum und traubenähnliche Früchte hat. Das „Äthiopische Henochbuch“ kennt damit zwei Paradiese, das protologische mit dem Baum der Erkenntnis und das eschatologische mit dem Lebensbaum, das am Ende der Zeiten mit dem Tempel verschmelzen wird. Zahlreiche weitere frühjüdische Texte nehmen die Verbindung Tempel – Paradies auf: Die Kombination Heiligtum – Tempel – Paradies durchzieht die frühjüdischen Paradiesvorstellungen wie ein roter Faden. Das Paradies kann eine Art Parallel- oder Konkurrenz-Heiligtum zum Jerusalemer Tempel sein. Diese ‚Tempel-Nähe‘ des Paradieses zeigt sich an verschiedenen Details, von denen hier zwei gezeigt werden sollen. Das „Jubiläenbuch“, dessen Verfasserschaft den Henoch-Kreisen ideologisch nahegestanden haben dürfte und das wohl im zweiten vorchristlichen Jahrhundert entstanden ist, beschreibt das Paradies folgendermaßen (Jub 8,19):8 Und Noah erkannte, dass der Garten Eden das Heilige des Heiligen sei und Wohnung des Herrn und der Berg Sinai die Mitte der Wüste und der Berg Zion die Mitte der Erde. Und diese drei, dieser gegenüber jenem, sind zu Heiligtümern geschaffen.

Der Garten Eden ist zusammen mit dem Berg Zion und dem Sinai ein Heiligtum, ja sogar das ‚Heilige des Heiligen‘, offenbar das be-

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deutendste der drei Heiligtümer. Dieser Heiligtumscharakter des Paradieses wird an einer anderen Stelle des „Jubiläenbuches“ nochmals betont, indem die für den Tempel gültigen Reinheitsgebote auch in Bezug auf den Garten Eden eingehalten werden müssen. So wird Adam 40 Tage nach seiner Erschaffung, Eva 80 Tage nach ihrer Erschaffung ins Paradies versetzt. Dies entspricht den Fristen, die eine Frau gemäß Levitikus 12,2-5 nach der Geburt eines Knaben bzw. eines Mädchens einhalten muss, bis sie den Tempel wieder betreten darf. Deutlicher könnte wohl nicht ausgedrückt werden, dass auch das Paradies als Tempel, als Heiligtum, betrachtet wird. Ein weiterer frühjüdischer Text, in dem das Paradies deutlich als Tempel dargestellt wird, ist die griechisch erhaltene „Apokalypse des Moses“ und das eng damit verwandte lateinisch erhaltene Buch „Das Leben Adams und Evas“, das im Zeitraum zwischen dem ersten vorund nachchristlichen Jahrhundert entstanden ist. Die beiden Werke sind Teil einer eigenen frühjüdischen und frühchristlichen ‚Adamsliteratur‘, zu der auch die syrische Schatzhöhle und die gnostische Adamsapokalypse neben anderen Texten gehören. 9 Das Paradies nimmt in dieser um Adam und Eva kreisenden Literatur naturgemäß eine wichtige Stellung ein. Es wird ähnlich wie in der Genesis als Garten geschildert, allerdings mit einem interessanten zusätzlichen Detail: In Kapitel 15 der Apokalypse erzählt Eva ihren Kindern die Geschichte vom Sündenfall und schildert das Paradies dabei folgendermaßen:10 Es geschah aber beim Bewachen des Paradieses, als ein jeder von uns den ihm von Gott zugewiesenen Teil bewachte. Ich aber bewachte als meinen Teil den Süden und den Westen. Es ging aber der Teufel in den Bezirk des Adam, wo die männlichen Tiere waren: Gott teilte alle männlichen Tiere und gab sie unserem Vater, und alle weiblichen Tiere gab er mir.

Diese Trennung zwischen Weiblichem und Männlichem ist wohl ein Hinweis darauf, dass das Paradies ein Heiligtum ist: Auch im Tempel waren die Frauen während des Gottesdienstes von den Männern getrennt. Während die Frauen nur bis zum Frauenvorhof zugelassen waren, standen die Männer im weiter nach innen liegenden Israelitenvorhof. Selbst die nach innen konzentrisch zunehmende Heiligkeit des Tempels scheint im „Leben Adams und Evas“ angesprochen zu sein: Obwohl so nicht ausdrücklich erwähnt, haftet der Adam zugeteilten Himmelsrichtung, dem Norden, auf dem Hintergrund von Ezechiel 1,4 und dem „Äthiopischen Henochbuch“ 77,3 eine besondere, größere Heiligkeit an als Evas Teil. Der Gedanke der nach in-

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nen steigenden Heiligkeit vom Frauen- zum Israelitenvorhof scheint hier angesprochen. Ein weiterer Hinweis auf den Heiligtumscharakter des Paradieses ist das „wohlriechende Öl“, das aus dem Lebensbaum – als Ölbaum gedacht – hervorgeht und mit dem die Gerechten, bevor sie am Ende der Zeiten das Paradies betreten werden, gesalbt werden (ApkMos 9,3-4). Dieses steht wohl mit dem „Gewürzöl“ aus Exodus 30 in Verbindung, mit dem Aaron und seine Söhne zu Priestern geweiht werden. Wie die Priester vor dem Tempeldienst, so müssen die Gerechten vor ihrem Eintritt ins Paradies-Heiligtum geweiht werden, um sie über den profanen Bereich zu erheben. In diesen Kontext gehören wohl auch die Gewänder Adams und der Gerechten, die in zahlreichen jüdischen und christlichen Paradiesvorstellungen, so auch im Yalqut Schimoni, eine Rolle spielen.11 Die bis jetzt angesprochenen frühjüdischen Paradiese befinden sich alle auf der Erde, allerdings an deren Extremen, an einem ausgezeichneten Ort, sei es auf einem hohen Berg oder an einem durch Mauern oder andere Hindernisse von der Umgebung abgetrennten Ort. Das Paradies ist in diesen Vorstellungen ein irdischer Grenzbereich. Das Frühjudentum kennt jedoch auch die Vorstellung eines himmlischen Paradieses. Diese wurde besonders nach der traumatischen Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 durch die Römer aktuell: Die Tempelzerstörung stellt eine Zäsur dar, die den Glauben an eine kontinuierliche irdische Heilsgeschichte erschütterte. Die irdische Welt war nach dieser Katastrophe als Bühne des endzeitlichen Heilsgeschehens nicht mehr denkbar. So gehört das Paradies im „Syrischen Baruchbuch“, das am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts entstand und die Tempelzerstörung theologisch zu verarbeiten sucht, zur himmlischen Welt – ebenso wie die Stadt Jerusalem mit dem Tempel (syrBar 4,1-3):12 Oder meinst du vielleicht, dies sei die Stadt, von der ich gesagt habe: in meine Handfläche habe ich dich gezeichnet (Jes 49,16). Nicht ist es dieser Bau, der nun in eurer Mitte aufgebaut ist. Es ist bei mir, was offenbar werden wird, was hier seit der Zeit bereitet ward, in der zu schaffen ich das Paradies beschlossen hatte.

Dieses himmlische Paradies wird folgendermaßen geschildert (syrBar 51,11):13 Des Paradieses weite Räume werden für sie ausgebreitet; gezeigt wird ihnen die hoheitsvolle Schönheit der lebendigen Wesen werden, die unter meinem Thron sind, und aller Engel Heere, die nun durch meine Worte festgehalten werden, so dass sie sich nicht sehen lassen.

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Auch im „Syrischen Baruchbuch“ wird das Paradies als Heiligtum geschildert: Der Thron Gottes wird ausdrücklich erwähnt, die „lebendigen Wesen“ sind wohl die Keruben, die den Thronwagen Gottes tragen und im Allerheiligsten des Tempels den thronenden Gott bezeichnen (1.Chron 28,18). Das Paradies im „Syrischen Baruchbuch“ fällt demnach mit dem himmlischen Heiligtum zusammen, es wird jedoch anders als in den bereits besprochenen Schriften, die vor der Tempelzerstörung entstanden sind, als Folge der pessimistischen Weltschau der Verfasser im Himmel bleiben und den Gerechten dort oben seine Tore öffnen. Die wenigen angeführten Beispiele zeigen, dass der Tempel die frühjüdischen Paradiesvorstellungen entscheidend beeinflusst hat. Der Grund für diese starke Tempel-Bezogenheit der Paradiesvorstellungen dürfte wohl in der konkreten Zeitgeschichte liegen. Der Tempel stand in den drei letzten vorchristlichen und im 1. nachchristlichen Jahrhundert im Brennpunkt des Interesses. Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. war der gesamte Nahe Osten, darunter auch Palästina mit Jerusalem, durch die Eroberungen Alexanders des Großen unter den Einfluss des Hellenismus geraten. Die Hellenisierungspolitik spaltete die jüdische Bevölkerung Palästinas. Während ein Teil sich den Hellenisten kulturell weitgehend anpassen wollte, widersetzten sich andere der Hellenisierung. Dieser Streit betraf auch und gerade die Priesterschaft, die teilweise zu den eifrigsten Befürwortern einer Hellenisierungspolitik gehörte. Andere priesterliche Gruppen wandten sich aber vom Jerusalemer Tempel und seiner hellenisierten Priesterschaft ab, beispielsweise die Qumrangemeinde. Die Krise spitzte sich unter den seleukidischen Königen zu: 168 v. Chr. hatte der König Antiochus IV. den Tempel entweiht, was einen Aufstand unter der Führung einer Priesterfamilie, den Makkabäern, auslöste, die später in Personalunion das Amt des Königs und Hohenpriesters ausübten.14 Die konkreten politischen Umstände, der umkämpfte Tempel mit der zerstrittenen Priesterschaft, beeinflussten demnach die Paradiesvorstellungen, sodass die der altorientalischen Paradiesvorstellung innewohnenden Heiligtumstraditionen in hellenistischer und römischer Zeit besonders hervorgehoben und betont wurden. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass das vor der hellenistischen Krise entstandene „Wächterbuch“ aus dem „Äthiopischen Henochbuch“ den Jerusalemer Tempel und das Paradies bedenkenlos gleichsetzen kann, während die späteren Schriften skeptischer sind und eine solche Identifizierung jedenfalls explizit nicht festhalten.

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Die Tempelzerstörung im Jahre 70 hatte für die weitere Entwicklung des Judentums gravierende Folgen und beeinflusste auch die Paradiesvorstellungen. Nach dem ersten Schock über die Tempelzerstörung hatten sich die Juden mit der neuen tempellosen Situation abgefunden. Sein Wiederaufbau wurde nun für die messianische Zeit erhofft und erwartet. Das Studium der Heiligen Schriften trat anstelle des Tempeldienstes ins Zentrum jüdischen Lebens, dieses Studium galt teilweise sogar als Ersatz für die Tempelopfer.15 Nicht mehr der Priester, sondern der Gelehrte, der Rabbine, machte für die folgenden Jahrhunderte die religiöse Elite aus. So darf es wohl nicht verwundern, dass das rabbinische Lehrhaus die Paradiesvorstellung mitprägte wie der Text aus dem Yalqut Schimoni zeigt: Die paradiesische Gottesgemeinschaft ist ein gemeinsames Lernen und spiegelt dadurch den neuen Mittelpunkt des jüdisch-religiösen Lebens wieder. Dennoch bleiben die Heiligtumstraditionen in der rabbinischen Literatur erhalten – wenn auch häufig nur noch versteckt. Der Tempel behielt ja seine Bedeutung im rabbinischen Judentum bei, allerdings nicht mehr für die Gegenwart, sondern auf die Endzeit bezogen. Explizit erscheint die Verbindung Jerusalem – Tempel – Paradies in einem Dictum von Resch Laqisch, einem Gelehrten des 3. Jahrhunderts, der das eschatologische Jerusalem durch das Aufsprießen von tausend Gärten in paradiesischen Zügen schildert: „Resch Laqisch sagte: dereinst wird der Heilige, gepriesen sei Er, in Jerusalem tausend Gärten, tausend Türme, tausend Burgen und tausend Zugänge hinzufügen“ (bBB 75b). Auch im eingangs zitierten Text aus dem Yalqut Schimoni finden sich Anspielungen auf den Heiligtumscharakter des Paradieses. Die Bedeutung der Edelsteine für die Tempelsymbolik wurde bereits erwähnt. Die Unterteilung des Paradieses in sieben nach innen ‚heiligere‘ Abteilungen evoziert Assoziationen an die nach innen konzentrisch zunehmende Heiligkeit des Tempels. Auch die Weihung der Gerechten vor deren Eintritt ins Paradies durch spezielle Gewänder betont den Heiligtumscharakter des Paradieses. Die aus Gold gefertigten Weinranken über den Baldachinen der Gerechten waren schließlich gemäß mMid 3,8 ein Attribut des Tempels: „Und ein goldener Weinstock stand über dem Eingang des Heiligtums und war emporgehalten auf Stämmen.“

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II. Das Paradies als persisch-hellenistischer Garten Paradiesvorstellungen wurden nicht nur durch politische Ereignisse beeinflusst, sie waren auch gegenüber zeitgenössischen kulturellen ‚Modeströmungen‘ keineswegs immun. Bereits das griechische aus dem Persischen entlehnte Wort paradeisos, mit dem die Septuaginta das hebräische ‚Garten Eden‘ übersetzt, impliziert ja gewisse kulturelle Vorstellungen.16 Auch die Rabbinen konnten sich der persischen und hellenistischen Kultur nicht verschließen.17 Sogar das Paradies wurde diesen fremden Einflüssen angepasst: So weisen die goldenen Weinreben, welche die Baldachine der Gerechten sowie den Tempel schmücken, auf persische Einflüsse hin. Griechische Schriftsteller berichten von goldenen Weinreben, welche Darius I. von einem reichen Geber erhielt.18 Auch die paradiesische Flora des Yalqut Schimoni, Rosen und Myrten, weist auf hellenistische Gärten hin.19 Selbst das urzeitliche Paradies blieb nicht frei von hellenistischen Einflüssen: So beschreibt Rabbi Jehuda Ben Tema, wie Adam sich im Paradies zurücklehnte, während die Engel ihm Fleisch brieten und Wein mischten – ein klassisches hellenistisches, nur im Kreise von Männern genossenes Bankett (bSan 59b).

III. Das Paradies zwischen Diesseits und Jenseits Das Paradies gehört gemäß der jüdischen und der christlichen Tradition zur protologischen oder zur eschatologischen Zeit, dennoch besteht zwischen dem Paradies und dem Diesseits keine absolute Trennung. Bereits die Bibel selbst greift die Paradiesthematik immer wieder auf. Ein Text, der von der Paradiesmetaphorik durchzogen ist, ohne dass dieses explizit erwähnt wird, ist das Hohe Lied: Die sowohl von Juden als auch Christen allegorisch auf das Verhältnis zwischen Gott, Israel bzw. der Kirche gedeutete Liebeslyrik spiegelt demnach das Paradies. Dies bedeutet aber, dass die Liebe zwischen Gott und der Synagoge bzw. der Kirche das Paradies – wenigstens ein bisschen – vorwegnimmt20. Dieses Hineinwirken des Paradieses in die Gegenwart ist besonders im Christentum deutlich ausgedrückt. Das Christentum geht ja davon aus, dass mit dem Kommen Jesu die Endzeit bereits angebrochen sei. Die vollständige Erfüllung der endzeitlichen Verheißungen steht allerdings auch für die Christen noch aus und wird erst mit dem

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zweiten Kommen Jesu realisiert werden. Die christliche Gemeinschaft, die Kirche, verwirklicht das Paradies jedoch bereits jetzt, in der Gegenwart. Das Paradies und das Reich Gottes werden in der christlichen Literatur häufig gleichgesetzt. So bezeichnet der Kirchenvater Cyrill von Jerusalem den Eintritt in die christliche Gemeinschaft durch die Taufe als Eintritt ins Paradies. In einer Predigt für neue Täuflinge schreibt er Folgendes:21 (15) Dann möge sich jedem von euch – ob Mann, ob Frau – die Türe des Paradieses öffnen! Dann sollt ihr an dem wohlriechenden Wasser teilhaben, welches Christum bringt. […] (16) Gross ist die Taufe, die ihr empfangen sollt. Lösegeld ist sie den Gefangenen, Tod der Sündenschuld, Wiedergeburt der Seele. Sie ist ein leuchtendes Gewand, ein heiliges, unverbrüchliches Siegel, der Wagen zum Himmel, des Paradieses Wonne, des Reiches Bürgerrecht.

Klösterliche Gemeinschaften wurden als ‚Paradies‘ bezeichnet, so meint Bernhard von Clairvaux, dass der heilige Malachias sein Kloster „wie ein Paradies gepflanzt habe“.22 Die klösterliche Architektur selber nimmt durch ihre Mauern, die sie von der Außenwelt abschirmen, ihre Kreuzgänge und Gärten Züge des Paradieses auf.23 Auch das Judentum kennt ein solches ‚Hineinwirken des Paradieses‘ in die Gegenwart. Am deutlichsten ausgedrückt ist dieses wohl in den Schriften aus Qumran. In den „Hodayot“, psalmenartigen Lobliedern, werden die Gemeindemitglieder als Paradiesbäume beschrieben, die im Moment noch von so genannten „Wasserbäumen“, einer Chiffre für die Widersacher der Qumrangemeinde, verdeckt werden. Doch diese Wasserbäume werden am Ende von Wasserfluten ausgerissen werden, so dass die „Pflanzung der Frucht […] ewig zu einem Eden der Herrlichkeit und Frucht“ werden wird (1QH 8,20).24 Das Erscheinen des Paradieses steht zwar noch aus, das Paradies ist aber in der Pflanzung der vorläufig noch versteckten Bäume bereits angelegt. Die Gemeinde von Qumran selbst ist der Schößling für das zukünftige Paradies. Doch auch das spätere rabbinische Judentum sieht das Paradies nicht als rein jenseitig. Deutlich klingt dies in folgendem Diktum aus einem späten Midrasch, den „Buchstaben des Rabbi Akiva“ an, wo der Schabbat als ein Sechzigstel der kommenden Welt bezeichnet wird.25 Der Schabbat nimmt demnach die jenseitige Welt bereits ins Diesseits hinein. Diesseits und Jenseits, Paradies und irdisches Dasein sind weder im Judentum noch im Christentum strikt voneinander zu trennen: Das Paradies kann in die Gegenwart hineinwirken.

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IV. Zwischen jüdischen und christlichen Paradiesvorstellungen Paradiesvorstellungen sind nicht nur in bestimmten historischen und kulturellen Kontexten verortet, sondern sie spiegeln auch die Wertvorstellungen einer bestimmten religiösen Gruppe wider. Jüdische und christliche Paradiesvorstellungen haben sehr viel miteinander gemeinsam: Beide beziehen sich auf dieselben biblischen Vorlagen. Die frühjüdischen Schriften wurden nicht nur in der rabbinischen Literatur rezipiert, auch die Kirche tradierte diese Texte. Das Paradies wird sowohl im jüdischen als auch im christlichen Kontext als Garten gedacht, der mit dem Heiligtum, der Stadt Jerusalem oder dem Tempel verschmelzen kann. Aus dem christlichen Kontext ist in diesem Zusammenhang besonders Kapitel 21 aus der Johannesapokalypse zu nennen, wo das himmlische Jerusalem mit paradiesischen Attributen geschildert wird: Die Mauern der himmlischen Stadt sind mit Edelsteinen aller Art geschmückt, die Stadt selber ist aus reinem Gold und die zwölf Tore aus je einer riesigen Perle. Inmitten der Stadt steht der Thron Gottes, von dem ein Strom mit dem Wasser des Lebens ausgeht. Um diesen Wasserstrom stehen Bäume des Lebens, die jeden Monat Früchte tragen. Für beide Religionen ist das Paradies außerdem nicht etwas nur Jenseitiges, sondern wirkt in die Gegenwart hinein – wenn dieser Aspekt im Christentum auch zentraler ist. Dennoch bestehen zwischen jüdischen und christlichen Paradiesvorstellungen Unterschiede, welche die Unterschiede zwischen den beiden Religionen reflektieren. Für die christliche Paradiesvorstellung spielt Jesus eine zentrale Rolle: Anders als das Judentum geht das Christentum von der Erbsündenlehre aus. Adam und Eva haben durch ihre Übertretung des göttlichen Gebotes im Paradies die Sünde und damit den Verlust des vertrauten Verhältnisses zu Gott und den Tod der gesamten Menschheit vererbt. Wie Adam durch seine Sünde über die ganze Menschheit Tod brachte, so bringt Christus durch sein Erlösungswerk Leben. Der Gegenpol Adams, der das Paradies verloren hat, ist daher Jesus, der das Paradies wieder öffnen wird; das Gegenstück zu Eva, die durch ihre Sünde den Tod gebracht hat, ist Maria, die den Erlöser gebiert. Jesus ist der neue Adam, Maria die neue Eva, die den Sündenfall rückgängig machen. Diese Gegenüberstellung von Adam und Jesus im Paradies zeigt sich deutlich in der christlichen Ikonographie, wo das Kreuz als Baum des Lebens dargestellt wird.26

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Demgegenüber kann der Messias in jüdischen Paradiesvorstellungen eine Rolle spielen, muss aber nicht. Im Testament der zwölf Patriarchen öffnet der Messias den Gerechten das Paradies.27 Zahlreiche andere jüdische Paradiesbilder kommen jedoch ohne den Messias aus. Ein weiterer Unterschied zwischen Judentum und Christentum betrifft die Rolle der Erotik sowohl im protologischen als auch im eschatologischen Paradies. Für das Judentum ist die Fortpflanzung ein wichtiges Gebot (Gen 1,28), Sexualität und die Gründung einer Familie wurden und werden daher positiv bewertet, asketische Strömungen gab es im Judentum zwar auch, sie sind aber marginal geblieben. 28 Frühjüdische Quellen machen unterschiedliche Angaben, ob Adam und Eva zum ersten Mal vor ihrer Versetzung in den Garten, in ihm oder nach dem Sündenfall Geschlechtsverkehr hatten. „Das Jubiläenbuch“ erwähnt ausdrücklich, dass Adam und Eva vor ihrer Versetzung ins Paradies sexuell miteinander verkehrten (Jub 3,2). Da das Paradies im „Jubiläenbuch“ als Heiligtum verstanden wird, kann der Geschlechtsverkehr wegen der Reinheitsvorschriften für den Tempel nicht innerhalb des Paradieses stattfinden. Sexualität ist jedoch gemäß dem „Jubiläenbuch“ keine Folge des Sündenfalls! In der rabbinischen Literatur finden sich zahlreiche Beispiele dafür, dass Adam und Eva bereits im Paradies miteinander Geschlechtsverkehr hatten. Die Rabbinen störten sich offenbar nicht daran, dass der Heiligtumscharakter des Paradieses Geschlechtsverkehr eigentlich nicht zulassen würde. Dies ist möglicherweise ein weiterer Hinweis darauf, dass für die Rabbinen das Paradies als Heiligtum nicht mehr im Mittelpunkt stand. Auf die paradiesische Erotik weist bereits einer der sieben Segenssprüche hin, die über das Brautpaar gesprochen werden: „Erfreue die, die sich lieben, wie du damals dein Geschöpf im Garten Eden erfreut hast.“29 An anderen Stellen wird der von Adam und Eva im Paradies vollzogene Geschlechtsverkehr ganz explizit erwähnt, so etwa im Midrasch Rabba zu Gen 3,2, wo gefragt wird, warum die Schlange sich an die Frau und nicht an den Mann gewendet habe. Die Antwort des Midrasch darauf lautet, dass Adam mit Eva Geschlechtsverkehr gehabt habe und nun schlafe.30 Die Erschaffung Evas und ihre Präsentation vor Adam wird in zahlreichen Stellen der rabbinischen Literatur als eine Art Verlobungszeremonie geschildert:31 Rabbi Simeon Ben Jochai meinte: Gott putzte Eva wie eine Braut und führte sie dem Adam zu. […] In dem Eden Gottes (Ez 28,13). Das heisst:

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Simone Rosenkranz Verhelst Gott machte die Wände zum Baldachin (Chuppa) Adams aus Gold, das Gebälk aber aus Edelsteinen und Perlen.

Gott höchstpersönlich ist hier der Brautführer, der nicht nur die Braut herrichtet, sondern auch den Traubaldachin schmückt!32 Die Anklänge an den eingangs zitierten Text aus dem Yalqut Schimoni sind deutlich: Die mit Edelsteinen und Perlen geschmückten Baldachine („Chuppot“) aus dem Yalqut werden im Midrasch Rabba mit der Trauungszeremonie in Verbindung gebracht. Auch die Tatsache, dass gemäß dem Yalqut eine der paradiesischen Glückseligkeiten darin besteht, die Freuden der drei menschlichen Lebensalter jeden Tag zu erleben und zu genießen, weist auf eine paradiesische Erotik hin. Es ist demnach durchaus möglich, dass erotische Freuden nicht nur zu Adams Paradies gehörten, sondern auch Teil des eschatologischen Paradieses sein werden: Wenn dies auch ausdrücklich nicht in unseren Texten steht, so sind die erotischen Konnotationen doch deutlich. Im Christentum spielen Erotik, Sexualität und Fortpflanzung bekanntlich eine andere Rolle als im Judentum. Bereits Paulus sah in sexueller Enthaltsamkeit eine Tugend (1.Kor 7,7), und die frühen Kirchenväter vertraten eine teils sehr rigoristische Ehelehre. Gemäß den Evangelien gibt es in der kommenden Welt keine Ehe, sondern die Auferstandenen werden wie die Engel sein (Lk 20,27-40). So ist es vielleicht nicht erstaunlich, dass verschiedene frühchristliche Autoren davon ausgehen, dass der erste sexuelle Kontakt zwischen Adam und Eva erst nach dem Fall, nach der Vertreibung aus dem Paradies stattgefunden hat. Der Kirchenvater Augustinus vertritt die Meinung, dass Adam und Eva zwar im Paradies eine Art von Geschlechtsverkehr gehabt hätten, dass es sich dabei aber um eine reine Form der Fortpflanzung, ohne Lust und Begierde, gehandelt habe. Die Lust sei eine Folge des Sündenfalls: „Ist doch erst nach der Sünde diese Lust entstanden.“33 In der christlichen Literatur findet sich auch die Auffassung, dass die Geschlechtlichkeit an sich eine Folge des Sündenfalls sei. So meint etwa Gregor von Nyssa, dass der erste Schritt für eine Rückkehr ins Paradies darin bestehen müsse, die Ehe aufzugeben, denn sie sei der letzte Schritt aus dem Paradies heraus gewesen.34 Johannes Chrysostomos sieht die Ehe ähnlich als „Sklavenkleid des durch die Geschlechtlichkeit seit der Sünde unter die Engel erniedrigten Menschen.“35 Folgerichtig ist es denn auch, wenn ehelos lebende klösterliche Gemeinschaften als Paradies beschrieben werden.

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V. Fazit Das Paradies ist sowohl im Judentum als auch im Christentum Teil der protologischen und der eschatologischen Welt, ohne jedoch vom Diesseits ganz getrennt zu sein. So ist das paradiesische Jenseits von diesseitiger Politik, von diesseitiger Kultur und diesseitigen Einrichtungen beeinflusst: Als der Tempel im Fokus des jüdischen Interesses stand, orientierten sich Paradiesvorstellungen am Tempel. Diese Bezüge traten im späteren rabbinischen Judentum zurück, blieben aber bestehen. Zusätzlich beeinflusste nun auch die zentrale Einrichtung der rabbinischen Welt, das Lehrhaus, die Paradiesvorstellungen, so dass die paradiesische Gottesgemeinschaft als ein gemeinsames Torastudium gedacht wurde. Das Paradies ist kein vollkommen statischer Ort, sondern wird – wie das Diesseits – von einer gewissen Dynamik geprägt. Das Paradies ist kein vollkommen jenseitiger Ort, es wirkt bereits im Hier und Jetzt in die Gegenwart hinein, besonders deutlich ist dies im Christentum. Aber auch das Judentum kennt ‚paradiesische Momente‘ in der Gegenwart. Jüdische und christliche Paradiesbilder sind sich ähnlich: Beide stellen sich das Paradies als Garten, häufig auch als Heiligtum vor. Daneben gibt es Unterschiede, welche die Doktrinen der jeweiligen Religionen widerspiegeln. Dazu gehört die Rolle von Jesus sowie – sicher weniger zentral – Vorstellungen über eine mögliche paradiesische Erotik.

Anmerkungen 1

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Vgl. die Aussagen von Rab, einem jüdischen Gelehrten, der im 3. Jh. im Gebiet des heutigen Irak wirkte und meinte, dass es in der künftigen Welt weder Essen noch Trinken noch Neid, Hass und Streit gebe, sondern dass sich die Gerechten am Glanz der Göttlichkeit erfreuten (bBer 17a). – Die frühjüdische und rabbinische Literatur wird gemäß dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie zitiert: Schwertner, Siegfried M. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. 2. Aufl. Berlin, 1991. Wo nicht anders angegeben, stammt die Übersetzung von der Verfasserin. Die Transkription aus dem Hebräischen erfolgt gemäß der deutschen Phonetik. Vgl. De Conick, April D. (Hg.). Paradise now. Essays on early Jewish and Christian Mysticism. Leiden, 2006.

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Simone Rosenkranz Verhelst Vgl. Yalqut Schimoni § 20 zu Gen 2,8 (Shiloni, Yizhaq (Hg.) Yalqut Shim’oni le-Rabbenu Shim’on ha-Darshan 1. Jerusalem, 1973, S. 70 f.). Der Yalqut Schimoni ist wohl in Frankfurt im 13. Jahrhundert kompiliert worden, zur Datierung siehe Elbaum, Jacob. „Yalqut Schimoni“. Encyclopaedia Judaica Second Edition 21. Detroit, 2007, S. 275 f. Gemäß 2.Chron 3,6 schmückte Salomon den Tempel mit Gold aus Parwayim, einem Ort auf der arabischen Halbinsel. Die Beschreibung nimmt zahlreiche ältere Schilderungen auf: So erwähnt bereits der frühe Midrasch Sifre zu Deut 1,10 die sieben Klassen von Gerechten. Die Baldachine werden im Midrasch Ruth Rabba 3,4 erwähnt usw. Zur Paradiesbeschreibung bei Ezechiel siehe Noort, Ed. „Gan-Eden in the Context of the Mythology of the Hebrew Bibel“. Paradise Interpreted. Representations of Biblical Paradise in Judaism and Christianity. Hg. v. Gerhard P. Luttikhuisen. Leiden, 1999. 21-36. Zu Datierung und Charakterisierung des „Äthiopischen Henochbuches“ vgl. Boccaccini, Gabriele (Hg.) The early Henoch Literature. Leiden, 2007; Sacchi, Paolo. „Henochgestalt/Henochliteratur“. Theologische Realenzyklopädie 15. Berlin, 1986. 42-54; Uhlig, Siegbert. „Das äthiopische Henochbuch“. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 5. Hg. v. Georg Kümmel. Gütersloh, 1984. 463-780, S. 491-494. Zur Datierung des „Jubiläenbuches“ vgl. Berger, Klaus. Das Buch der Jubiläen. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 2.3. Hg. v. Georg Kümmel. Gütersloh, 1981. 275-575, S. 298-300. Zit. n. ebd., S. 372 f. Datierung und Entstehungsort der Schrift sind umstritten, vgl. dazu Tromp, Johannes. The Life of Adam and Eve in Greek. A critical Edition. Leiden, 2005, S. 67-107; Merk, Otto. Das Leben Adams und Evas. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 2.5. Hg. v. Georg Kümmel. Gütersloh, 1998. 739-870, S. 764-769. Vgl. Merk (Anm. 9), S. 825 f. Zu den Kleidern des Paradieses vgl. Lambden, Stephen N. „From Fig leaves to Fingernails: some Notes on the Garments of Adam and Eve in the Hebrew Bible and Select Early Postbiblical Jewish Writings“. A Walk in the Garden. Biblical, Iconographical and Literary Images of Eden. Hg. v. Paul Morris. Sheffield, 1992. 74-90. Vgl. Klijn, Albertus F. J. Die syrische Baruch-Apokalypse. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 5. Hg. v. Georg Kümmel. Gütersloh, 1982. 107191, S. 124 f. Vgl. Klijn (Anm. 12), S. 156 f. Zu einem Überblick über die Geschichte Palästinas in hellenistisch-römischer Zeit vgl. Goodman, Martin. „Jews and Judaism in the Second Temple Period“. The Oxford Handbook of Jewish Studies. Hg. v. dems. Oxford, 2002. 36-52. Zur Bedeutung des Torastudiums nach der Tempelzerstörung vgl. beispielsweise bBer 17a; bBer 32b.

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Vgl. dazu Bremmer, Jan N. „Paradise: from Persia, via Greece, into the Septuagint“. Paradise Interpreted. Representations of Biblical Paradise in Judaism and Christianity. Hg. v. Gerhard P. Luttikhuisen. Leiden, 1999. 1-20. Die Literatur über hellenistische Einflüsse auf das Judentum ist unüberblickbar geworden. Der Einfluss auf das rabbinische Judentum wird heute größer eingeschätzt, vgl. beispielsweise Boyarin, Daniel. „Hellenism in Jewish Babylonia“. The Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature. Hg. v. Charlotte Elisheva Fonrobert. Cambridge, 2007. 336-363. Vgl. Herodot. Historiae. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Carolus Hude. Oxonii, 1927, VII 27. Zu den Einflüssen persischer und hellenistischer Gartenkultur auf die rabbinischen Vorstellungen vgl. Shimoff, Sandra R. „Gardens: from Eden to Jerusalem“. Journal for the Study of Judaism 26,2 (1995): 145-155, S. 147. In bBB 84a erscheinen die Rosen sogar als wichtiges Charakteristikum des Paradieses! Zu einer solchen Deutung des Hohen Liedes vgl. Zakovitch, Yair. Das Hohelied. Freiburg i. Br., 2004, S. 255-257. Procatechesis 15.16 (Des Heiligen Cyrillus Bischofs von Jerusalem Katechesen. Übs. u. mit einer Einleitung versehen v. Philipp Haeuser. München, 1922, S. 26). Vita Sancti Malachiae Episcopi § 13 (Bernard de Clairvaux. Vie de Saint Malachie. Introductions, Traductions. Paris, 1990. 217-219). Vgl. dazu Krauss, Heinrich. Das Paradies. Eine kleine Kulturgeschichte. München, 2004, S. 76-81. Maier, Johann. Die Qumran-Essener: die Texte vom Toten Meer 1. München, 1993-1994, S. 90 f. Vgl. Aus Israels Lehrhallen. Kleine Midraschim zur jüdischen Ethik, Buchstabenund Zahlen-Symbolik. Übs. v. August Wünsche. Leipzig, 1909, S. 195. Zur christlichen Ikonographie des Lebensbaumes vgl. O’Really, Jennifer. „The Trees of Eden in Mediaeval Iconography“. A Walk in the Garden. Biblical, Iconographical and Literary Images of Eden. Hg. v. Paul Morris. Sheffield, 1992. 167-204. Vgl. Text XII.Lev 18,1-14 (Becker, Jürgen. Die Testamente der zwölf Patriarchen. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 3. Hg. v. Georg Kümmel. Gütersloh, 1974. 1-63, S. 60 f.). Zu einer Übersicht über die Bedeutung von Sexualität im rabbinischen Judentum vgl. Satlow, Michael L. „Rabbinic Views on Marriage, Sexuality, and the Family“. The Cambridge History of Judaism 4. Hg. v. Steven E. Katz. Cambridge, 1984-2006. 612-626. Das jüdische Gebetbuch. Hg. v. Jonathan Magonet. Gütersloh, 1997, S. 553. BerR 19,3 (Der Midrasch Bereschit Rabba. Übs. v. August Wünsche. Leipzig, 1888, S. 82). BerR 18,1; Wünsche (Anm. 30), S. 78. Zur Erotik des protologischen Paradieses vgl. Anderson, Gary. „Celibacy or Consummation in the Garden? Reflections on Early Jewish and

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Simone Rosenkranz Verhelst Christian Interpretations of the Garden of Eden“. Harvard Theological Review 82,2 (1989): 121-148. Augustinus, De Civitate Dei 14,21 (vgl. auch 14,10). (Des Heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat. Übs. v. Alfred Schröder. München, 1914, S. 323 f.). Gregor von Nyssa. De virginitate 12 (Traité de la virginité. Introduction, texte critique, traduction, commentaire et index de Michel Aubineau. Paris, 1966). Kommentar zu Gen 15-18 (Chrysostome, Jean. Sermons sur la Genèse. Introduction, texte critique, traduction et notes par Laurence Brottier. Paris, 1998).

Islamische Gärten als Sinnbilder des Paradieses Peter Heine I. Das Paradies im Koran Die arabischen Worte für Paradies sind ‚Firdaus‘, Singular ‚farâdîs‘, ein Fremdwort aus dem Griechischen bzw. Persischen, und ‚Janna‘, das die Bedeutung Garten hat. Jede Vorstellung von einem Weiterleben nach dem Tod war der vor-islamischen arabischen Gesellschaft fremd. Die Totenklagen der Dichter waren stoisch, aber auch verzweifelt. So sagt Malik ibn Nuwaira, der um die Zeit der Entstehung des Islams lebte und mit dessen Bekenntnis zum Islam es offenkundig nicht weit her war: Ich weiß es wohl, es hilft kein Widerstreben, mich rafft der Zeitlauf; doch siehst du mich beben? Er hat Moharriks Stamm und Aad gerafft Und sie zerstreut und das, was sie geschafft. Ich zähl all meine Väter, die begraben, und rief sie an, die mir nicht Antwort gaben, sie gingen; nie hol’ ich sie ein, betroffen hat sie der Nachtgraus und der Weg all offen.1

Dagegen lehrt der Koran, dass sich der Mensch am Jüngsten Tag vor seinem göttlichen Richter wird verantworten müssen: „Die Stunde kommt bestimmt. An ihr ist kein Zweifel möglich“ (Sure 50, 59). 2 Der Koran droht mit der Strafe des Höllenfeuers denen, die dem Willen Gottes nicht entsprechen, und verspricht das Paradies denen, die die Gebote Gottes und seines Propheten achten: Diejenigen, die den Bund Gottes halten und die Verpflichtung nicht brechen, und die verbinden, was Gott zu verbinden befohlen hat, ihren Herrn fürchten und Angst vor einer bösen Abrechnung haben, und die geduldig sind nach dem Antlitz ihres Herrn, das Gebet verrichten und von dem, was Wir ihnen beschert haben, geheim und offen spenden, und das Böse mit dem Guten abwehren, diese werden die jenseitigen Wohnstätten erhalten, die Gärten von Eden, in die sie eingehen werden, sie und diejenigen von ihren Vätern, ihren Gattinnen und ihrer Nachkommenschaft, die Gutes getan haben. Und die Engel treten zu ihnen ein durch alle Tore: „Friede sei über euch dafür, dass ihr geduldig wart!“ Welch vorzügliche jenseitige Wohnstätte (Sure 13, 20-24).

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Ausführlich beschreibt der Koran die Wonnen des Paradieses. Der Islam ist eine städtische Religion. Die in der Regel als Innenhofhäuser konstruierten Wohnstätten nutzen den Innenraum auch für die Anpflanzung von einzelnen Frucht- und Schattenbäumen (hadîqa). Daneben gab es am Rand der Besiedlung auch Gartenanlagen, die man als Plantagen bezeichnen könnte (bustân). Hierhin zogen sich die Besitzer und ihre Familien auch zur Erholung zurück. Sie hatten daher auch einfache Übernachtungsmöglichkeiten. Der Koran nimmt diese Möglichkeiten auf und überhöht sie in Ausstattung und Annehmlichkeiten. Die folgenden Verse nutzen auch die rhetorische Technik der Wiederholung (hier in der Übersetzung von Friedrich Rückert): Dem Frommen wird sein Herr zwei Gärten zuerkennen / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Zwei laubige Gartentennen/ Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Worin zwei Quellen rinnen / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Von jeder Frucht sind Doppelarten drinnen / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Wo sie auf seidnen Polstern lehnen, des Gartens Früchten nah den Händen / Welche Gnad’ des Herrn wollt ihr verkennen? / Worin besteht der Lohn für Schönes als im Schönen? / Welche Gnad eures Herrn wollt ihr verkennen? / Und noch zwei Gärten außer jenen / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Die dunkel grünen / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Und auch zwei Quellen träufeln drinnen / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Auch Frucht, Palm und Granat in ihnen? / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Und drin die guten auch und schönen / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Huris in ihren Zeltvorhängen / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Die nie zuvor berührt hat einer der Menschen oder Genien / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Wo sie auf grünen Kissen lehnen und Teppichen, den schönen / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen? / Gepriesen sei der Name deines Herren, der mit Ehrfurcht ist zu nennen (Sure 55, 46f.).

In der folgenden Sure wird das Paradies noch weiter beschrieben (Übersetzung Khoury): Und die Allerersten, ja sie werden die Allerersten sein. Das sind die, die in die Nähe Gottes zugelassen werden, in den Gärten der Wonne. Eine große Schar von den Früheren und wenige von den Späteren. Auf durchwobenen Betten lehnen sie sich einander gegenüber. Unter ihnen machen ewig junge Knaben die Runde mit Humpen und Krügen und einem Becher aus einem Quell, von dem sie weder Kopfweh bekommen, noch sich berauschen, und mit Früchten von dem, was sie sich auswäh-

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len und Fleisch von Geflügel, von dem, was sie begehren. Und darin sind großäugige Huri, gleich wohlverwahrten Perlen. Dies als Lohn für das, was sie zu tun pflegten. Sie hören darin keine unbedachte Rede und nichts Sündhaftes, sondern nur das Wort „Friede, Friede!“ Die von der rechten Seite – was sind die von der rechten Seite? Sie sind unter Zizyphusbäumen ohne Dornen und übereinander gereihten Bananen und ausgestrecktem Schatten, an Wasser, das sich ergießt, mit vielen Früchten, die weder aufhören, noch verwehrt sind, und auf erhöhten Unterlagen. Wir haben sie (die Huri) eigens entstehen lassen und sie zu Jungfrauen gemacht, liebevoll und gleichaltrig, für die von der rechten Seite. Eine große Schar von den Früheren und eine große Schar von den Späteren (Sure 76, 5-22).

Das Leben im Paradies ist überaus angenehm: „Darin erfasst sie kein Unheil und sie werden daraus nicht vertrieben“ (Sure 15, 50). Im Garten finden sich Ströme mit Wasser, Milch, Wein und Honig: „Mit dem Paradies, das dem Gottesfürchtigen versprochen ist, ist es so: Darin sind Bäche mit Wasser, das nicht faul ist, und Bäche von Milch, deren Geschmack sich nicht ändert, und Bäche mit Wein, der genussvoll ist für die, die davon trinken, und Bäche mit gefiltertem Honig.“ (Sure 47, 15). Die Paradiesbewohner trinken also Wein, von dem sie nicht berauscht werden und von dem sie kein Kopfweh bekommen. Die Tatsache, dass der Wein den Muslimen auf der Welt verboten ist, im Paradies aber erlaubt, hat muslimische Fromme immer wieder irritiert. Sie haben sich gerne damit beruhigt, dass es sich bei den Getränken im Paradies gar nicht um Wein handele. Dieser Einschätzung stehen aber zahlreiche Traditionen der Interpretation gegenüber, die dem widersprechen. Deren Haltung kann man so zusammenfassen: Der Koran unterscheidet zwischen dem Weinkonsum auf der Erde und im Paradies. Auf der Erde kann der Weinkonsum ethisch und sozial destruktiv wirken. Schließlich besteht auch die Gefahr, dass er den Menschen von Gott entfernt. Im Übrigen zeichnet Nüchternheit die Propheten aus, auf die sich der Islam beruft. Trunkene Ekstase ist seine Sache nicht. Wenn der Koran positiv auf Wein Bezug nimmt, dann stets als eins der Werke Gottes. Wein weist auf die Schöpferkraft Gottes hin. Dieser Hinweis wird dann im Paradies bestätigt. Das Paradies zeichnet sich aus durch jegliches Fehlen von Veränderungen. Daher kann es im Paradies auch keine Dinge geben, die die Seligen vom rechten Pfad abirren lassen. Das irdische Leben ist durch Ungewissheit gekennzeichnet, das Paradies der perfekte Ort der Sicherheit und Stabilität.3

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Wenn man die Paradiesbeschreibungen im Koran zusammenfasst, so ist von einem oder mehreren Gärten die Rede, also einer umfänglichen Gartenanlage. Bemerkenswert sind die zahlreichen Hinweise auf Wasserläufe, Bäche, Quellen und die grünen Bäume und Pflanzen. Bei dieser Beschreibung ist zu bedenken, dass der Islam, wie auch das Judentum, in einer geographischen Umgebung entstanden ist, in der die Frage der Wasserversorgung bis auf den heutigen Tag eine zentrale Rolle für Leben, Gesundheit und Weiterbestehen der Gesellschaft spielt. Bis heute werden die ersten Regenfälle in vielen Teilen der islamischen Welt mit verschiedenartigen Freudenkundgebungen gefeiert. Sie stellen eine Top-Nachricht in den entsprechenden TV- und Radio-Meldungen dar. So darf es nicht erstaunen, wenn ein wasserreicher Garten mit zahlreichen Bäumen und anderen Pflanzen Menschen in Trockenzonen ‚paradiesisch‘ erscheint. Auch die Vorstellung von dem Überfluss an Früchten und Geflügel hängt mit den Erfahrungen von Gesellschaften zusammen, die durch ständige Nahrungsmittelknappheit gekennzeichnet sind. Die sehr handfeste Beschreibung von den Tauben, die einem jedoch nicht in den Mund fliegen, erinnert an die mittelalterlichen europäischen säkularen Wunschvorstellungen vom Schlaraffenland. Nicht minder konkret sind auch die sexuellen Bilder, die der Koran zeichnet. Für Gesellschaften, in denen es streng geregelte Beziehungen zwischen den Geschlechtern gibt, ist die Idee von jungen Männern und jungen Frauen, die den Seligen nahe sind, unbedingt verführerisch.

II. Das Paradies in den Prophetentraditionen Verstärkt wurden die koranischen Paradiesbeschreibungen im Bewusstsein der Muslime durch die zweite autoritative Quelle des Islams, die Prophetentraditionen, Hadîth. In diesen Überlieferungen, die seit dem 9. Jahrhundert gesammelt, einer kritischen Würdigung unterzogen und schließlich kanonisiert wurden, ist sehr häufig vom Paradies und seinen Freuden die Rede.4 Die dem Propheten Muhammad zugeschriebenen Aussprüche über das Paradies ergänzen die Feststellungen des Korans und schmücken sie lebhaft aus. So erfahren die Gläubigen in diesen Texten etwas über die Lokalisierung des Paradieses. Während der Garten Eden, in dem das erste Menschenpaar lebte, nach der Überlieferung im südlichen Mesopotamien angesiedelt war, wo Reisenden der Baum der Erkenntnis noch in den

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1960er Jahren gezeigt wurde,5 befindet sich das Paradies, in das die Seligen nach der Auferstehung gelangen, unter dem Thron Gottes über dem höchsten der sieben Himmel. Wie schon aus dem Koran herauszulesen ist, gibt es verschiedene Ebenen des Paradieses, zu denen man nach der Aussage der Prophetentraditionen durch acht Tore gelangt. Diese Tore werden in den Prophetentraditionen in ihren Abmessungen und ihrer Entfernung voneinander beschrieben. Die angegebenen Zahlen machen deutlich, dass es sich beim Paradies um einen grenzenlosen Raum handelt. Der Schlüssel zu diesen Toren besteht aus dem Bekenntnis zur Einheit Gottes (tauhîd), dem Gehorsam gegenüber Gott und der Vermeidung böser Handlungen. Manche Prophetensprüche ergänzen diese Trias noch um das ‚Schwert auf dem Wege Gottes‘. Doch es gibt auch andere Möglichkeiten, ins Paradies zu gelangen. So wird der Satz des Propheten überliefert: „Wer für Gott eine Moschee baut, für den baut Gott ein Haus im Paradies.“6 Auch wenn das Paradies schon jetzt existiert, wird doch die Mehrzahl der Menschen erst nach dem Richterspruch Gottes beim Jüngsten Gericht dorthin gelangen können. Bis dahin müssen sie im Grab auf den Gerichtsruf warten, der durch Trompeten des Engels Gabriel und anderer Engel erfolgt. Die Traditionen beschreiben auch die Reihenfolge, in der die Seligen nach der Entscheidung des göttlichen Richters durch die Tore ins Paradies gelangen. Diese Tore tragen Namen. So heißt das Tor, durch das diejenigen eintreten, die das Fasten im Monat Ramadan eingehalten haben, das Tor des Durstlöschers (rayyân).7 Die Gläubigen gelangen durch die Billigung Gottes (ridwân) ins Paradies. Da Ridwân ein durchaus geläufiger Männername ist, hat die muslimische Volkstradition daraus einen Torwächter des Paradieses mit Namen Ridwân gemacht, mit dem sich manche paradigmatische Geschichte ebenso wie witzige Formulierung verbindet. Vor allem aber wird als erster der Prophet Muhammad das Paradies betreten, die Armen werden den Vortritt gegenüber den Reichen haben. Auch die späteren islamischen Gelehrten und die Mystiker waren von der besonderen Stellung der Armen im Paradies überzeugt. Nach einer Tradition, die der bedeutende Gelehrte alGhazzâlî (1059-1111) überliefert, sollten die Reichen 500 Jahre nach den Armen das Paradies betreten dürfen. 8 Frauen, die zwei oder drei Kinder verloren haben, ist das Paradies sicher.9 Aus einer seiner Predigten wird der Satz überliefert: „Keinem Muslim, der seine Waschungen korrekt durchführt und dann zwei Gebetseinheiten (rak´a) in vollkommener Ernsthaftigkeit des Körpers und der Seele vollzieht,

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wird ein Platz im Paradies verweigert.“ Bei der gleichen Gelegenheit soll er auch gesagt haben: Jeder unter euch, der die rituellen Waschungen korrekt durchführt und dann sagt: Ich bekenne, dass es keinen Gott außer Gott gibt und dass er sein Diener und Gesandter ist, wird erleben, wie sich die acht Tore des Paradieses für ihn öffnen und es ihm ermöglichen, das Paradies zu betreten durch jedes Tor, das er auswählt.10

Muslimen, die den Koran im Leben andächtig rezitiert haben, wird beim Betreten des Paradieses geraten: „Geht voran und rezitiert den Koran so langsam, wie ihr es auf Erden getan habt; denn eure hohe Position wird abhängig sein vom letzten Vers, den ihr rezitiert.“11 Bemerkenswert ist auch die Feststellung, dass jedem, bei dessen Tod drei Reihen von Muslimen das Totengebet vollziehen, seine Sünden vergeben werden und er daher ins Paradies gelangt.12 Das Paradies verwehrt ist neben Sündern auch dem, der die Beziehungen zu seinen Verwandten abbricht.13 Zu der Erscheinung der Gläubigen, die das Paradies betreten, hat sich der Prophet öfters geäußert: Die ersten Leute aus meiner Gemeinschaft, die das Paradies betreten werden, werden scheinen wie der Vollmond.14 Die, die ihnen folgen, werden glänzen wie die Sterne am Himmel. Die, die nach diesen kommen, werden in unterschiedlicher Stärke glänzen. Sie werden nicht mehr defäzieren, urinieren, ihre Nase schnäuzen oder ausspucken. Ihre Kämme werden aus purem Gold sein. In ihren Räuchergefäßen wird Aloe rauchen; ihr Schweiß wird den Duft von Moschus haben.15

Engel werden sie mit wunderbarer arabischer Musik willkommen heißen. Arabisch wird im Übrigen die einzige Sprache sein, die im Paradies gesprochen wird.16 Nach den Prophetentraditionen wird im Paradies ein ewiger Frühling herrschen. Ein Tag im Paradies entspricht 1000 Tagen auf der Erde. Die Paläste, in denen die Seligen wohnen, bestehen aus Gold, Silber, Perlen, Rubinen, Topasen etc. „Das Paradies besteht aus zwei Silbergärten, in denen Gefäße und alles andere aus Silber gemacht sind, und aus zwei Goldgärten, in denen alle Gefäße und alles andere aus Gold gemacht sind.“17 Seiner ersten Frau Khadîja hatte Muhammad im Paradies ein Haus aus Schilfrohr versprochen. Späteren Interpreten dieses Versprechens war das eine zu einfache Behausung. Sie ergänzten, dass die Schilfrohre mit Perlen und Edelsteinen behängt wären.18 Der Paradiesstrom Kauthar, von dem im Koran in Sure 108, 1 die Rede ist, hat einen Duft feiner als der von Moschus. Er fließt zwischen Bänken von Perlen und Rubinen her. Im Paradies

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gibt es zahllose Pflanzen und Fruchtbäume. Als Muhammad eine Vision vom Paradies schildert, sagt er: „Bei einer Gelegenheit stellte ich mir vor, dass ich eine Weintraube des Paradieses pflücken wollte.“19 Ein Pferd müsste einhundert Jahre galoppieren, um den Schatten eines Bananenbaumes zu verlassen. Ein einziges Blatt eines LotosBaums würde ausreichen, um die gesamte Gemeinde der Seligen zu beschatten. Für die Seligen gibt es im Paradies strahlend weiße Pferde und Kamele, und es gibt den aus Rubinen geschaffenen Vogel Rafraf, der den Paradiesbewohnern als Reittier zur Verfügung steht. Zu den Freuden des Paradieses gehören auch die persönlichen Umstände, in denen sich die Seligen befinden. Sie alle werden die gleiche Statur wie Adam haben, 60 Ellen mal 7 Ellen. Sie alle werden so alt sein wie Jesus, 33 Jahre.20 Sie werden wunderbare Kleider tragen, z.B. Mäntel aus Seide.21 Die Annehmlichkeiten des Essens und Trinkens werden in den Prophetentraditionen in aller Ausführlichkeit beschrieben. Auch die Erwähnung der Huris, der paradiesischen Jungfrauen, gibt Gelegenheit zu endlosen Kommentaren. Das Vergnügen des Umgangs mit ihnen ist hundert Mal größer als jedes irdische Vergnügen. Aber das Ansehen der gläubigen Frauen, die wegen ihrer guten Taten ins Paradies gekommen sind, ist bei Gott 70000 Mal größer als das der Huris. Das ganze Paradies ist erfüllt von wunderbarer Musik, die von Engeln, den Seligen, Vögeln und allen anderen Geschöpfen des Paradieses gemacht wird. Die schönste Melodie aber ist die Stimme Gottes, der die Seligen einlädt, am freitäglichen Gebet nahe dem Throne Gottes teilzunehmen. Überhaupt äußert sich der Prophet zum Paradies auch in einer eher theologischen als sensualistischen Weise: Gott wandte sich an die Bewohner des Paradieses, indem er sagte: „Leute des Paradieses!“ Sie antworteten: „Wir stehen Dir ganz zur Verfügung, unser Herr.“ Gott fragte: „Seid ihr zufrieden?“ Sie antworteten: „Wie können wir nicht zufrieden sein, da Du uns doch alles gegeben hast, was Du keiner anderen Deiner Kreaturen gabst.“ Gott antwortete: „Ich werde euch etwas noch hervorragenderes geben als das.“ Da riefen sie: „Herr, was kann denn noch hervorragender sein?“ Er antwortete: „Ich lasse meine Zufriedenheit (ridwân) auf euch herabkommen und ich werde mich nie mehr unzufrieden mit euch zeigen.“22

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III. Das Paradies in Theologie, Mystik und Öffentlichkeit Die Beschreibungen des Paradieses in Koran und Prophetentraditionen haben die muslimischen Vorstellungen vom Paradies tief durchdrungen. Das gilt für die Vergangenheit ebenso wie für die Gegenwart. Die vielfältigen Beschreibungen all der wunderbaren Dinge im Paradies fanden aber auch manchen Spötter. So berichtet eine mittelalterliche Anekdote, dass ein Witzbold, dem die ungeheure Größe der Häuser der Seligen im Paradies beschrieben wurde, darauf trocken feststellte: „Das wird im Januar aber doch recht kalt werden.“ 23 In der Kultpraxis des Islams spielen Erwähnungen des Paradieses vor allem im Zusammenhang mit Tod und Beerdigung eine große Rolle. Wünsche für die Toten, wie sie auf Grabsteinen eingraviert sind, machen dies deutlich. Dort heißt es: „Führe ihn in deinen Garten“; „Lass ihn in deinem Garten wohnen“; „Mach das Tor für ihn weit“. Neben diesen verbalen Hinweisen auf das Paradies gibt es auf Grabsteinen auch bildliche Darstellungen wie eine Rose, die für die Blumen des Paradieses steht.24 Die Vertreter der islamischen Theologie (kalâm) wie der islamischen Philosophie (falsafa) haben sich ihre Gedanken über das Paradies gemacht, vor allem aber waren die Anhänger der reichen islamischen Mystik (tasawwuf) vom Paradiesgedanken fasziniert, der für sie vielfältige Aspekte hatte. So wird einerseits von der frühen islamischen Mystikerin Rabî´a (8. Jh.) berichtet, dass sie durch Basra gelaufen sei mit einer Fackel in der einen Hand und einem Eimer, gefüllt mit Wasser, in der anderen. Gefragt, was das zu bedeuten habe, antwortete sie, dass sie mit der Fackel das Paradies verbrennen und mit dem Wasser das Höllenfeuer auslöschen wolle, um den Willen Gottes nicht aus Furcht vor der Strafe des Feuers oder der Belohnung durch das Verweilen im Paradiesgarten zu erfüllen, sondern aus Liebe zu dem göttlichen Geliebten. Dieses Motiv taucht in der Folge bei zahlreichen weiteren Mystikern auf.25 Andere sahen Gott als den ewigen Gärtner, dem sie sich in Liebe zu nähern bemühten. Die in der islamischen Mystik eine bedeutende Rolle spielenden Blumen des Paradieses, zu denen vor allem Rosen und Tulpen gehören, sind ein häufig verwendetes Bild zur Beschreibung des göttlichen Geliebten. Die Mystiker sagen: Die Schönheit der Rose stammt von der Schönheit Gottes. Sie lacht aus Sehnsucht nach Gott.26 Die Tulpe dagegen trank Herzblut aus Liebe zu Gott und wurde dadurch rot.27 Die Nähe zu

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den Paradiesbeschreibungen ist in den Texten der Sufis nicht selten. So sagt der Mystiker Fakhr al-Din al-Iraqi (gestorben 1287): Ich sah die Blüten der Gärten, die Felder und die Steppen: Er [der göttliche Geliebte] war die Rosengärten. In den Feldern sah ich nur Ihn. O du tolles Herz, schreite hin zum Weinhaus! Denn in Weinkrug und Weinmaß sah ich nur ihn. Im Weinhaus und im Rosenhag schlürfe leuchtenden Wein, rieche der Rose und der Lilie Duft; denn in ihnen sah ich nur Ihn.28

So wie den Seligen im Paradiesgarten, in dem sie Gott nahe sind, der Weingenuss möglich ist, so sind für den Mystiker Rosengarten und Weinhaus Möglichkeiten, schon im Diesseits Gott zu erfahren.

IV. Der islamische Garten Die Frage nach der Bedeutung der Beschreibungen des Paradiesgartens für die Anlage von irdischen islamischen Gärten hat Kulturhistoriker durchaus vor die Frage nach der Henne und dem Ei gestellt.29 Sind es die Paradiesbeschreibungen, die die Anlage von Gärten befruchtet haben, oder waren es die Berichte von arabischen Händlern und Reisenden, die vor der Entstehung des Islams Syrien und Mesopotamien besuchten und dort Gärten kennengelernt hatten, die das koranische Paradiesbild prägten? Die Frage ist kaum endgültig zu beantworten. Aus muslimischer Sicht ist eine Beeinflussung der koranischen Aussagen durch menschliche Erfahrungen ohnehin eine nicht zulässige Frage. Im Übrigen und vor allem aber muss auf eines hingewiesen werden: Wenn im Folgenden vom islamischen Garten gesprochen wird, ist zu bedenken, dass es sich um ein kulturgeschichtliches Phänomen handelt, das sich über einen enormen geographischen Raum erstreckt. Gerade Gärten sind abhängig von den lokalen geographischen, klimatischen und daher natürlich auch den botanischen Gegebenheiten. Sie stellen sich in den verschiedenen Regionen zwischen dem andalusischen Spanien und dem Reich der Mogulherrscher in Indien recht unterschiedlich dar. Die islamische Gartenarchitektur hat darüber hinaus eine ca. 1300-jährige Geschichte, wenn man davon ausgeht, dass islamische Gärten systematisch seit dem 2. Jahrhundert islamischer Zeitrechnung angelegt worden sind. In den folgenden kurzen Bemerkungen (die islamische Gartenarchitektur hat sich inzwischen geradezu zu einem eigenständigen Bereich der islamischen Kulturgeschichte entwickelt30) soll es

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vor allem darum gehen, die formalen Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen islamischen Gartenformen und denen mit koranischen Prägungen herauszuarbeiten. Islamische Gärten sind in der Mehrzahl der Fälle Teil einer größeren architektonischen Einheit. Sie gehören zu einer großen Palastanlage oder sind im Kontext der islamischen Innenhofhäuser angelegt. Ein zentrales Moment dieser Gartenanlagen ist ihre Abgeschlossenheit. Auch bei dichten Bebauungen, wie wir sie in den großen islamischen Städten beobachten können, sind die Gärten für unbefugte Augen nicht einsehbar. Die Gärten in Innenhöfen werden von den sie umgebenden Bauten eingefriedet, und Gärten, die nicht nach mehreren Seiten von Gebäuden eingeschlossen sind, sind von hohen Mauern umgeben. In diesen Fällen schließen sie oft an ein Gebäude an und sind in ihrer Lage so ausgerichtet, dass man in sie von diesem Gebäude aus direkt eintreten, vor allem aber den Blick über sie schweifen lassen kann. Die Vorstellung von der Umfriedung des Gartens kann auf die Paradiesvorstellung zurückgeführt werden, in der ja auch eine Umfassung von Bedeutung ist, durch deren Tore die Seligen ins Paradies gelangen. Andererseits ist jedoch sicher auch das durchaus säkulare Streben nach Privatheit von Bedeutung, das den häuslichen Bereich in traditionellen islamischen Gesellschaften kennzeichnet. Näher am koranischen Vorbild mögen die unterschiedlichen Formen von Bewässerung sein. Natürlich ist die Wasserversorgung ein wichtiger Faktor zum Betrieb eines Gartens, zumal wenn er in Gegenden angelegt wird, die nicht durch häufige Niederschläge gekennzeichnet sind. Wenn eben möglich, haben die Schöpfer islamischer Gärten Wasserläufe durch ihre Gartenanlagen geleitet, wobei sie die unterschiedlichsten Formen und Konstruktionen eingesetzt haben. Man nutzte das natürliche Gefälle eines Geländes oder stellte ein derartiges Gefälle künstlich her. Daneben wurden komplizierte Pumpanlagen eingesetzt. Wenn die finanziellen Möglichkeiten der Gartenbesitzer für solche aufwendigen Einrichtungen nicht ausreichten, wurden doch zumindest kleine Brunnen oder Fontänen installiert, deren Wasserzufluss kontrolliert werden konnte. Zumindest in Gartenbeschreibungen aus der Feder arabischer, iranischer oder indischer Autoren wird im Zusammenhang mit den Wasseranlagen gerne Bezug auf die Flüsse des Paradieses genommen. Im Zentrum dieses irdischen Paradieses fließt ein heiliger Strom langsam und voller Eleganz und Süße. Dieser Strom fließt entzückend, faszinierend und erheiternd durch den Garten und bewässert die Blumenbete.

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Sein Lächeln ist wie das Lächeln der Sonne. Er verbreitet so viel Frische, dass die Locken seiner Wellen, um die Braut des Gartens zu täuschen, das Bouquet der Blumen mit einer Kordel der Sonne auf elegante Art festgebunden haben. Der Mond ist die Beleuchtungsquelle in der Dunkelheit. Er erhält sein Licht von dem Schwert des Wassers in diesem Strom. Sein Wasser ist so herrlich wie Laubwerk. Durch seine Existenz ist die göttliche Gnade offenkundig. Der große Strom ist wie Wolken, die Regen niedergehen lassen. Er öffnet das Tor zur göttlichen Gnade. Seine gezackten Einfassungen sind wie eine Institution des Gottesdienstes, in der die Herzen der Gläubigen erhellt werden.31

So beschreibt der Moguldichter Salih Kambo um 1646 den Shahlimar Garten des Mogulkaisers Shah Jehan. Und über das Verhältnis von Wasserspielen und Pflanzen sagt er: Manchmal vergießt der Springbrunnen Tränen wegen des Anblicks der Zypressen. Manchmal überraschen süße Melodien des Springbrunnens die Zypressen. Es ist als ob zwei Liebende in diesem wunderbaren Garten Blumen der Liebe und der engen Beziehung pflücken. Ehre sei Gott, welch wunderbare Szene. Die Rose dreht und wendet sich ob der Schönheit dieses Anblicks. Der Garten ist rein gemacht von jeder Dunkelheit und Unsauberkeit wie das Herz frommer Menschen. Seine Tore verstreuen unbegrenztes Glück und Liebe wie die Tore des Himmels.32

Von Innenhofgärten abgesehen, waren die Gärten auch mit kleinen Bauwerken, Pavillons oder Kiosken versehen, die für Unterhaltungen, die Einnahme kleiner Erfrischungen oder für Brettspiele genutzt wurden. Den Dichtern bot sich hier Gelegenheit, deren Schönheit mit der der Wohnstätten der Seligen im Paradies zu vergleichen. Es entwickelte sich eine Form der Naturdichtung, die sich in den unterschiedlichen Dichterschulen feststellen lässt.33 Der Koran nennt vor allem Lotos und Zizyphus als Bäume des Paradieses. Da der Erfolg der Anpflanzung von Bäumen von den lokalen Bedingungen abhängig ist, lässt sich in der islamischen Gartenarchitektur hier kaum eine einheitliche Tradition erkennen. Von Blumen ist im Koran allgemein die Rede. Das hat sich auch auf den heutigen Sprachgebrauch ausgewirkt. In vielen islamischen Sprachen wird lediglich allgemein von Blumen gesprochen. Eine Sonderstellung nimmt die Rose ein, die ebenfalls als generelle Bezeichnung für Blumen Verwendung findet.34 Angesichts der Distanz, die die islamische Kultur der Darstellung von lebenden Wesen entgegenbringt, finden sich zwar Naturdarstellungen; Paradiesdarstellungen, wie sie aus der mittelalterlichen abendländischen Malerei bekannt sind, lassen sich dagegen kaum fin-

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den.35 Insofern bleiben die islamischen Paradiesvorstellungen auf die literarische Darstellung begrenzt.

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Friedrich Rückerts Werke 2. Werke 1846/1847: Hamâsa oder die ältesten arabischen Volkslieder. Historisch-kritische Ausgabe („Schweinfurter Edition“). Hg. v. Hans Wollschläger u. Rudolf Kreutner. Göttingen, 2004, Erster Teil, S. 389. Wo nicht anders angegeben, wird die Koran-Übersetzung von Khoury zitiert. Der Koran. Übs. v. Theodor Adel Khoury. Gütersloh, 1987. Vgl. Kueny, Kathryn. The Rhetoric of Sobriety. Wine in Early Islam. New York, 2001, S. 22 f.; zur Frage des Weins in den Prophetentraditionen vgl. ebd., S. 48, 57. In der westlichen Islamwissenschaft gibt es diverse Debatten um die Authentizität dieser Prophetenaussprüche. Vgl. Dickson, Eerik. The Development of Early Sunnitic Hadith Criticism. Leiden, 2001; Gilliot, Claude und Tilman Nagel (Hg.) Das Prophetenhadîth. Dimensionen einer islamischen Literaturgattung. Göttingen, 2005; Motzki, Harald. The Origin of Islamic Jurisprudence. Meccan Fiqh before the Classical Age. Leiden, 2002. Eigene Erfahrungen aus dem Januar 1967. Juynboll, G. H. A. Encyclopedia of Canonical Hadith. Leiden, 2007, S. 14. Vgl. ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 61; Helmut Ritter. Das Meer der Seele. Leiden, 1955, S. 223. Vgl. Juynboll (Anm. 6), S. 360. Ebd., S. 416. Ebd., S. 638. Vgl. ebd., S. 423. Vgl. ebd., S. 581. Der Vollmond (badr) gilt in der frühen und mittelalterlichen islamischen Welt als Beispiel für besondere Schönheit. Juynboll (Anm. 6), S. 57. Wie intensiv diese Überlieferung heute bei türkischen, persischen, indonesischen oder indischen Muslimen debattiert wird, wäre ein interessantes Forschungsthema. Juynboll (Anm. 6), S. 20. Vgl. ebd., S. 193, 249. Ebd., S. 17 f. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 48. Ebd., S. 307. Fischer, August (Hg.). Arabische Chrestomatie. Leipzig, 1966, S. 4.

Islamische Gärten als Sinnbild des Paradieses 24 25 26 27

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Vgl. Diem, Werner. The Living and the Dead in Islam. Studies in Arabic Epitaphs 1. Epigraphs as Texts. Wiesbaden, 2004, passim. Vgl. Ritter (Anm. 8), S. 524 f. Vgl. ebd., S. 456, 515, 610. Vgl. ebd., S. 515; die Tulpe wurde eine so beliebte Blume in osmanischer Zeit, dass man eine ganze Periode (1703-1730) nach ihr benannte. Für die Islamische Revolution (1979) im Iran wurde die Tulpe zu einem Zeichen, das sich heute in verschiedenen offiziellen Symbolen der Islamischen Republik Iran wiederfindet. Ritter (Anm. 8), S. 485. Zur Geschichte der islamischen Gärten: McDougall, Elisabeth u. Ettinghausen, Richard (Hg.) The Islamic Garden. Washington, 1976; Moynihan, Elizabeth B. Paradise as a Garden in Persia and Mughal India. New York, 1976; Lehrman, Jonas. Earthly Paradise. Gardens and Courtyards in Islam. Berkeley, 1980; Brooks, John. Gardens of Paradise. The History and Design of Islamic Gardens. New York, 1987. Die ersten westlichen Darstellungen islamischer Gärten gehen auf das erste Viertel des 20. Jahrhunderts zurück, z.B. Villiers-Stuart, Constance C. M. Gardens of the Great Mughals. New Delhi, 1913. Sie hatten oft einen stark romantisierenden Charakter. Nüchterner sind die auf islamische Gärten bezogenen Kapitel von Gothein, Marile Louise. Geschichte der Gartenkunst. Jena, 1913. Doch lange Zeit blieb das Interesse der westlichen Forschung an den Realien der islamischen Welt marginal. Es sind neben Annemarie Schimmel vor allem britische und amerikanische Forscher, die sich seit den 1970er Jahren intensiv mit der islamischen Gartenarchitektur und ihrer Ideologie auseinandersetzen. Zu nennen ist vor allem Lehrman, Jonas. Earthly Paradise. Garden and Courtyard in Islam. Berkeley, 1980; Moynihan, Elizabeth. Paradise as a Garden in Persia and Mughal India. New York, 1979, vor allem aber die Ergebnisse des Dumberton Oaks Colloquium über islamische Gärten: Ettinghausen, Richard u. McDougal, Barbara B. (Hg.). The Islamic Garden. Washington, 1976. Manche Ergebnisse dieser Forschungen werden inzwischen auch kritisch gesehen; vgl. etwa Petruccioli, Attillio (Hg.) The Gardens in the Time of the Great Muslim Empires. Theory and Design. Leiden, 1997. Rehman, Abdul. „Garden Types in Mughal Lahore According to Early Seventeenth-Century Written and Visual Sources“. Gardens in the Time of the Great Muslim Empires. Theory and Design. Hg. v. Attilio Petruccioli. Leiden, 1997. 161-171, S. 164. Ebd., S. 165. Vgl. Schöler, Gregor. Arabische Naturdichtung. Beirut, 1974. Zur Bedeutung von Blumen in der islamischen Kultur allgemein Goody, Jack. The Culture of Flowers. Cambridge, 1993. 101-119. Vgl. Naef, Silvia. Bild und Bilderverbot im Islam. München, 2007.

 

„Daz ander paradîse“ Künstliche Paradiese in der Literatur des Mittelalters Mireille Schnyder Wie der Titel dieses Beitrags schon andeutet, geht es hier nicht um das biblische Paradies, wie es in unzähligen Bildern und geistlichen Texten des Mittelalters imaginiert ist, als ‚irdisches Paradies‘ in allen Reiseberichten, Weltchroniken und Karten verortet ist, als der Ort, aus dem Adam und Eva verstoßen wurden, an dem Eva aus der Rippe des Mannes entstand, und der irgendwo hinter Indien, hinter Wäldern, Wüsten, Bergen und Drachen, beschützt von einem feurigen Engel und einer riesigen Mauer, zu finden ist.1 Oder, wie es im Lucidarius, einem auf ein Werk von Honorius Augustodunensis zurückgehendes, in den verschiedensten Volkssprachen tradiertes, dialogisch aufgebautes Lehrbuch auf die Frage des Schülers nach dem Paradies heißt: Daz paradis ist ostert in dirre welte vnde lit alse nahe bi dem himele, daz ez hoher ist dan die erde. Do sprach der iunger: So lanc daz paradis uf dirre erden ist, warumbe muge wir dar in nith comen? Der meister sprach: Da stat groz gebirge vnde geuuelde da uor, vnde da uor ist so getan nebel, daz nieman dar in mac comen wen mit gůten werken.2 (‚Das Paradies ist im Osten dieser Welt und liegt so nahe am Himmel, dass es höher ist als die Erde. Da sagte der Schüler: Wenn das Paradies auf dieser Erde ist, warum können wir dann nicht hineinkommen? Der Meister sagte: Es hat große Berge und Wälder davor, und davor einen solchen Nebel, dass niemand hineinkommen kann, außer mit guten Werken.‘)3

So wie hier der Zugang zum Paradies ein moralischer, kein praktischer ist, ist auch seine Verortung auf den Karten eine eigentliche Ent-Ortung. Das Paradies liegt zwar in der Nähe Indiens und lässt sich auf den Karten zeichenhaft fixieren, ist aber nicht als realer Ort auffindbar, sondern lediglich unter dem tropologischen Sinn zugänglich.4 Deshalb interessieren mich hier mehr die zugänglichen Paradiese, diese Gärten und Orte in der Welt, die in ihrer Qualität als Paradies wahrgenommen werden und über die berichtet werden kann. Zugängliche Paradiese, die sich in der einen oder andern Art dann aber immer als uneigentlich, als falsches oder eben: ‚anderes, zweites

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Paradies‘ entpuppen. Anhand von drei Beispielen, die je einen Typus dieser Paradiesillusionen vertreten, sollen Grundmuster der Darstellung und damit auch Funktionalisierungen dieser paradiesischen Orte herausgestellt werden.

I. Der Liebesgarten Die Literatur des Mittelalters ist voll von wunderschönen, amönen Orten, versteckt hinter Mauern und unzugänglich für alle nicht dazu Berufenen. In einer Gesellschaft der Öffentlichkeit, der sichtbaren Ordnung, sind es Exklaven der Lust, in denen sich eine Minne ereignen kann, die sich den gesellschaftlichen Ansprüchen entzieht und entsprechend eine gewisse Absolutheit hat. An einem prägnanten und nicht ganz unbekannten Beispiel aus der höfischen Erzählliteratur des Mittelalters, dem Garten des Mabonagrin, soll die Struktur dieser Gärten vorgestellt werden. Am Schluss des gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstandenen Artusromans Erec von Hartmann von Aue5 muss der Held der Erzählung seine größte und endliche âventiure bestehen: In einem Burg-Garten sitzt ein schrecklicher Ritter mit seiner Geliebten und tötet jeden Eindringling. Ein langer Zaun mit aufgespießten Köpfen zeugt von seiner Stärke. Der Garten ist zwar Teil eines Burgkomplexes, davon aber durch eine magische Wolken-Grenze abgetrennt (V. 8704-8714); ein Kunstmittel, das heute, wie der Erzähler sagt, keiner mehr beherrscht. Nur über einen kleinen, versteckten Pfad kann man den Garten betreten (V. 8758, 8883 ff., 8709-9714), in dessen Innerem sich alles findet, was topisch zum paradiesischen Garten gehört: Die lineare Zeit ist in der Gleichzeitigkeit aufgehoben (es gibt Blüten und Früchte an den Bäumen), die Luft ist voll Vogelsang und die Wiese bunt von Blumen. Es ist ein Ort, an dem jeder Kummer vergeht (V. 8735 ff.). Im Narrativ ist der Garten also nicht nur in eine durch magische Künste ausgeschlossene Welt versetzt, sondern auch in eine frühere, durch andere Wissenskonzepte bestimmte Zeit sowie einen Raum, der aus der erfahrbaren Zeit herausfällt. Dass der Erzähler überhaupt davon berichten kann, verdankt er anderen Büchern, auf die er sich explizit beruft.6 Damit wird das Beschriebene zum Erlesenen, textuell Erfahrenen, das hier und jetzt im Erzählen als Sprachgebilde entsteht. Ein Sprachgebilde, das die imaginatio des Zuhörers/Lesers mo-

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bilisiert, nicht aber, um Erinnerungsbilder wachzurufen, sondern um das Unvorstellbare, das noch nie Gesehene als jede Erfahrung sprengende Einbildung im Kopf der Zuhörer zu bilden. Das fiktionale Erzählen wird so zum Schlüssel, über den sich das kollektive Imaginäre eines paradiesischen Ortes konkretisiert. Es geht nicht um einen wie auch immer inszenierten Augenzeugenblick, sondern um das Erzählen fremder Erzählungen, das Vermitteln des Vermittelten. Wobei sich in dem Akt des Erzählens und des Vermittelns das Paradies neu realisiert. Erec, der Held, dringt nun in diesen Garten ein. Als erstes sieht er ein Zelt, auf dem Männer und Frauen, Vögel und Tiere dargestellt sind, als wenn sie lebendig wären (V. 8896-8925): eine die Wahrnehmung irritierende Kunstschöpfung. Trotz der Warnung der schönen Frau, die Erec in diesem Zelt trifft, nimmt er die Herausforderung an und lässt sich mit dem heranreitenden Herrn des Gartens, Mabonagrin, auf einen Kampf ein. Nach langem, schwerem Streit, bei dem der ganze Garten zertrampelt wird, so dass er winterlich öde erscheint (V. 9162-9166), besiegt Erec – unter Gottes Schutz (V. 8855 ff., 8891) – den Gegner. Es ist ein Gegner, der nicht nur als Riese erscheint (V. 9013), sondern auch vâlant, Teufel, genannt wird (V. 9197, 9270). Den Besiegten tötet Erec aber nicht, sondern setzt sich nach dessen Unterwerfung mit ihm zusammen aufs Gras und lässt sich erzählen, warum er, Mabonagrin, so lange ohne Gesellschaft außer seiner Geliebten in diesem Garten blieb (V. 9398 ff.). Die Geschichte, die nun erzählt wird, ist eine Art pervertierte Geschichte des Sündenfalls. Denn es ist das Begehren, das Mabonagrin in diesen verschlossenen Garten getrieben hatte, und das Versprechen, das ihn in den Garten zwang. In seiner Liebe (V. 9498) hatte er seiner Geliebten, die er aus einem fernen Land als Mädchen entführt hatte, alles versprochen, worum sie ihn bitten würde. Sie aber bat ihn, mit ihr in diesem Garten zu bleiben, bis ein Stärkerer käme – in der Meinung, dass dies nie der Fall sein würde. Mabonagrin musste sein Versprechen halten und ihr diesen Wunsch gewähren. Die Reaktion der Geliebten darauf zitiert er Erec gegenüber folgendermaßen: „si sprach: ‚wol mir daz ich lebe / alsô wünneclîcher gebe / der mich got hât gewert. / allez des mîn herze gert, / daz hân ich umbevangen. / ez ist mir wol ergangen. / ouch wil ich mich vermezzen, / wir haben hie besezzen / daz ander paradîse.“ (‚sie sprach: ‚wohl mir, dass ich so wonnige Gabe erlebe, die mir Gott gewährte. Alles, was ich mir nur wünsche, habe ich umschlossen. Es ist mir gut ergangen. Auch will ich be-

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haupten, dass wir hier das zweite Paradies eingenommen haben‘; V. 9534-9542). Damit wird über die von Mabonagrin in seiner Erzählung zitierte Rhetorik der Frau der Baumgarten zum Paradies gezeichnet. Wobei sich für sie das Paradies als Erfüllung ihrer Wünsche definiert. Von Mabonagrin wird dieser Ort der Minne aber auch durch die vollkommene Willenseinheit der Liebenden bestimmt: „swaz si wil, daz wil ouch ich, / und swaz ich wil des wert si mich.“ (‚was immer sie will, das will auch ich, / und was ich will, das gewährt sie mir‘; V. 9508 f.). Dass diese absolute Einheit beschworen werden kann, hängt auch damit zusammen, dass es hier keine Konkurrenz gibt. Die Geliebte von Mabonagrin ist glücklich, in diesem Garten zu sein, „âne angest vor andern wîben“ (‚ohne Angst vor andern Frauen‘; V. 9555). Die Einheit der zwei Liebenden im Paradiesgarten ist gleichzeitig der Ausschluss einer Gesellschaft, die immer Konkurrenz und Aufbrechen der Dualität bedeutet. Dass hier ein pervertiertes Paradies gezeigt ist, wird deutlich darin, dass es den Pakt, das Versprechen braucht, um den Raum geschlossen zu halten. Die postlapsalische Zweiheit wird nur im Versprechen zur Einheit, die jedoch ständig bedroht ist und nur durch die Auslöschung jeglicher Konkurrenz in ihrer paradiesischen Ruhe bewahrt werden kann. Die von beiden beschworene Kongruenz des Willens bedeutet letztlich auch eine Herzenskommunikation, die scheinbar den paradiesischen, vormedialen Zustand aufnimmt. De facto aber wird in diesem Gott-losen Garten mitten in der zeichenverfallenen Welt die Unmenschlichkeit der Situation dieser verschlossenen Zweisamkeit deutlich. Dass es sich bei diesem erzwungenen, durch das Liebesversprechen magisch abgeschlossenen Paradiesgarten, dessen Exklusivität sich gerade über das Liebes-Begehren konstituiert, um eine zeitenthobene, gesellschaftsfeindliche und gesellschaftsferne Daseinsform handelt, ist deutlich. Durch das magische Mittel der Ausgrenzung wird die absolute, gesellschaftsenthobene Minne in den Kontext des Zaubers und damit in eine Reihe mit vielen anderen dieser exklusiven, gesellschaftsfeindlichen Minnebindungen der mittelalterlichen Literatur gestellt.7 Das in diesem Paradiesgarten sitzende Liebespaar wird von Erec nicht aus dem Garten verstoßen, weil ihnen die Augen aufgingen und sie sich in ihrer Nacktheit erkannt haben, sondern sie werden aus dem Garten befreit, in dem sie sich selber gefangen halten durch das Band des Treue-Schwurs, das sie blind macht für die Welt. Auf der der Szenerie unterlegten Folie des Sündenfalls und des

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paradiesischen Zustands von Adam und Eva kommt es so zu einer narrativen Perversionsfigur, über die das hier beschriebene ‚zweite Paradies‘ als verkehrtes Paradies erkennbar wird. Der exklusive Ort der Liebe – konkretisiert im erzählerischen Sprachwerk – ist, als imaginierter Ort, zwar Ort der Erfüllung aller Herzenswünsche und Ort der absoluten Freude (V. 8735), als reflektierter Ort aber auch ein Ort, der sich nur auf Kosten der höfischen Freude und der Freude der Gesellschaft erhalten kann. Das rhetorisch evozierte, aus Büchern bekannte fiktionale Paradies entpuppt sich im Narrativ des Erzählers als falsches Paradies. Entsprechend wird der Bruch seiner Umschließung zur Erlösung stilisiert, zum Ende des paradox in dieser Leidlosigkeit (V. 8735) begründeten „kumbers“ (‚Kummers‘; V. 9586).

II. Der âventiure-Garten In den höfischen Romanen, aber auch der Heldenepik, gehört es zur Topik, dass der Held auf seiner âventiure-Suche zu einem paradiesähnlichen Ort kommt, den er mutwillig zerstört, womit er eine andersweltliche Macht provoziert, die er dann zu bestehen hat. Im Iwein von Hartmann von Aue ist es das fremde Reich der Laudine, das sich hinter einem paradiesischen Ort mit Brunnen, ewigem Sommer und Vogelgezwitscher auftut, im Moment, wo durch das provokative Begießen des Brunnensteins in die stillgestellte Zeit des Ortes eingegriffen wird.8 Aber auch in der Dietrichsepik sind es die paradiesischen Gefilde der Zwergenwelt, deren Zerstörung dem Helden die größte âventiure und dann den größten Ruhm bringt. So soll als Beispiel dieses Schemas der spätmittelalterliche Laurin herangezogen werden, eine vielfältig überlieferte Erzählung, die zum Komplex der Dietrichsepik gehört.9 Die Erzählung beginnt mit einem Gespräch über den Ruhm Dietrichs. Hildebrant, der Erzieher Dietrichs, wendet ein, dass man erst ein richtiger Held sein könne, wenn man das Zwergenvolk besiegt habe. Damit wird das Zwergenreich von Laurin, dem „alliu wildiu lant“ (‚alle fremden/wilden Gegenden‘; V. 62) dienen, als ultimative Herausforderung und Bestätigung für Dietrich von Bern eingeführt, als größte âventiure (V. 29-40). Sofort macht sich Dietrich auf den Weg in den Wald in Tirol. Mitten im Dickicht stößt er – genau wie Hildebrant es beschrieben hatte – auf einen Rosengarten, der durch

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einen Goldfaden eingefasst ist und dessen Blumen mit Gold und Edelsteinen behängt sind. Der Draufgänger Witege zerstört diesen Garten ohne ersichtlichen Grund: Witege der wîgant sluoc die rôsen abe zehant in dem rôsengarten. die guldînen borten wurden getreten in den plân: daz gesteine muost sîn schînen lân. alsô wir ez haben gehœret, diu wunne wart dâ zerstœret, swaz freuden an dem garten lac. die rôsen liezen iren smac und dar zuo ir liehten schîn. (‚Der Held Witege / köpfte sofort die Rosen / im Rosengarten. / Die goldene Borte / wurde in die Erde getreten: / die Edelsteine verloren ihren Glanz. / So wie wir es gehört haben, / wurde da die Wonne zerstört, / alles was es an Freuden im Garten hatte. / Die Rosen verloren ihren Duft / und auch ihren hellen Glanz‘; V. 135-145.)

Dass dies die Ursache kommender Unbill ist, wird vom Erzähler gleich klargemacht: „des kômen si in grôze pîn. / der vadem wart zerbrochen: / daz war an in gerochen“. (‚Deshalb kamen sie in große Not. Der Faden wurde zerbrochen, das wurde an ihnen gerächt‘; V. 135-148). Laurin, der Zwergenkönig, kommt denn auch unverzüglich auf den Plan: Laurîn kam für geriten, die fürsten heten sîn gebiten. dô ez in kam sô nâhen daz siz beide ane sâhen, dô sprach Wietge der degen „got müeze unsers heiles phlegen, Dietrîch lieber selle mîn. daz mac vil wol ein engel sîn, sente Michahêl der wîse, und rîtet ûz dem paradîse.“ dô sprach der von Berne „den engel sihe ich gerne. den helm soltu verbinden baz, ich fürhte er trage uns beiden haz. und ist sîn eigen dirre plân, sô hât ez guot reht dar an.“

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(‚Laurin kam herangeritten / die Fürsten hatten ihn erwartet. / Als er ihnen so nahe war, / dass sie ihn beide sahen, / sprach Witege der Held: / „Gott möge uns bewahren, / Dietrich, mein lieber Geselle, / das ist wohl ein Engel, / der Heilige Michael, der weise, / der aus dem Paradies reitet.“ / Da sagte der von Bern: „diesen Engel sehe ich gern. Binde dir den Helm fest, / ich fürchte, er ist uns beiden feindlich gesonnen. / Und wenn ihm diese Ebene gehört, / so ist er im Recht.“‘; V. 231-246.)

Es ist der Provokateur Witege, der in der heranreitenden Rächerfigur des blendend kostbar gerüsteten Laurin den Engel Michael sieht, der das Paradies verteidigt. Auch wenn der Vergleich wohl eine ironisierende Note hat und vor allem auf die Macht des Gegners zielt, die hier hyperbolisch betont werden soll, ist damit die Szene doch durch die Paradiesszenerie überblendet. Die Reaktion von Dietrich, der meint, dass er diesen Engel gern sehen würde, sie aber die Helme nun gut schließen und sich für die Konfrontation wappnen sollten, macht die Situation nicht nur im religiösen Kontext zur hybriden Grenzüberschreitung. Und explizit nennt Dietrich ihr Eindringen in den Rosengarten einen Verstoß gegen das Recht: „und ist sîn eigen dirre plân, / sô hât ez guot reht dar an“ (‚und wenn ihm diese Ebene gehört, so ist er im Recht‘; V. 245 f.). Die von Dietrich gesuchte ultimative Herausforderung wird in den assoziativen Kontext einer Zerstörung des Paradieses und eines Rechtsbruchs gestellt. Damit ist diese Szene typisch für ähnliche Einbrüche in Pardiesgärten, die topisch mit sinnloser Zerstörung und klar bezeichnetem Rechtsbruch einhergehen. 10 Diese in der Regel als ‚zweites Paradies‘ (ander paradîse) bezeichneten âventiure-Orte, die durch einen Eindringling sinnlos und rechtswidrig zerstört werden, sind Liminalbereiche, hinter denen sich durch die Zerstörung ihrer stillstehenden Schönheit ein neuer Raum, eine zweite Welt auftut. Sowohl der Schwellenbereich wie das sich darüber erschließende andere Reich gehören einer mythischen, nichtchristlichen Welt an. Geprägt sind diese Paradiesgärten durch eine übermäßige Künstlichkeit und Kostbarkeit, es sind Orte des Reichtums und der Schönheit, bestückt mit Gegenständen der Magie und des Zaubers (Zauberringe, Zaubergürtel etc.). So ist auch im Laurin das scheinbare Paradies ein höchst kunstvoll gefertigtes Menschenwerk (Zwergenwerk) mit einem durch Edelsteine, Gold und Seide vollkommen denaturierten Rosengarten. Entsprechend ist das Leuchten des hier auftretenden Engels der kostbare Glanz von wundervoll verarbeitetem Gold und Edelsteinen. Die Wahrnehmung ist

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kunstvoll getäuscht. Wobei die Wahrnehmung, die aisthesis, durch die religiöse Imagination (das kollektiv Imaginäre des Paradieses) gelenkt ist. Die künstliche Inszenierung (er)füllt insofern nur die ästhetische Leere einer Vorstellung. In der die imaginatio stimulierenden Artifizialität liegt auch die Gefahr dieser Gärten. Nicht nur sind sie schöpfungsfern und täuschen eine die Schöpfung übersteigende Perfektion vor, sondern ihre Perfektion ist auch irritierend, ist ein Affront gegenüber der zeitgebundenen, makelhaften Welt eines Helden, der sich ausschließlich über sein Handeln konstituiert und bewährt. Nach einem erbitterten Kampf und einer scheinbaren Versöhnung11 werden die Helden von Laurin ins Innere des Berges eingeladen. Vor dessen Eingang findet sich ein weiterer Ort der vollkommenen Schönheit und Freude. Dietrich wähnt sich hier im Paradies: „dô sprach der Bernære / ‚zergangen ist mîn swære. / mich entriegen alle mîne sinne, / wir sîn in dem paradîse hinne.‘“ (‚Da sprach der Berner: / „mein Kummer ist dahin; / wenn mich nicht alle Sinne täuschen, / sind wir hier im Paradies“‘; V. 925-928). Wolfhart dagegen erkennt hier den Ort der gesuchten, erzählenswerten âventiure, einer von Gott gegebenen Herausforderung. Damit macht er die Szene prospektiv zu einer Erzählung: „dô sprach Wolfhart zehant / ‚uns hât got her gesant, / daz wir dâ heime mugen jehen / daz uns âventiure sî geschehen. / ich spriche daz für wâr wol / der plân ist aller sælden wol.‘“ (‚da sagte Wolfhart sofort: / „Gott hat uns hergeschickt, / damit wir zuhause erzählen können, / dass uns âventiure widerfahren sei. / Wahrlich, ich sage euch, diese Ebene ist voller Heil‘“; V. 929-934). Und Hildebrant, der alte Lehrmeister, warnt und verweist auf den Gebrauch des Verstandes, um sich vor unliebsamen Überraschungen zu schützen: „dô sprach Hildebrant der degen / ‚ir sult iuwer sinne phlegen. / daz gevellet mir vil wol: / tac man zâbende loben sol.‘“ (‚da sagte Hildebrant, der Held: / „ihr solltet Euren Verstand brauchen, / das wäre gut: man soll den Tag nicht vor dem Abend loben‘“; V. 935-938). Witege dagegen warnt vor den Künsten des Zwergs und seiner Fähigkeit zu Betrug und Täuschung: „dô sprach Witege der degen / ‚woldet ir mînes râtes phlegen / und volgen mir aleine, / ja betrüge uns nie der kleine./ er ist der liste alsô vol / daz im nieman getrûwen sol.‘“ (‚da sagte Witege, der Held: / „wenn ihr meinen Rat hören wollt / und mir folgen würdet, / dann würde uns der Kleine nicht betrügen. / Er ist so listenreich, / dass ihm niemand trauen sollte‘“; V. 939-944). Ist der Ort in der direkten Sinneswahrnehmung ein Paradies, ist er prospektiv in der späteren Erzählung Ort der âventiure, Ort eines

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unvorhergesehenen Ereignisses und einer Bewährung. Im Licht der ratio ist er noch zu prüfen, und in der misstrauischen Reflexion ist er ein Ort des Trugs. Damit wird die direkte Sinneswahrnehmung, über die das Paradies entsteht, problematisch, und das scheinbare Paradies wird, als unerhörte und damit erzählenswerte Begebenheit, zum Anlass eines höfischen Erzählens. Genau so, wie am Anfang Hildebrant diesen Ort als Anfang einer den Ruhm Dietrichs befestigenden Geschichte gesetzt hatte. In letzter Konsequenz aber wird dieses „Paradies“ als mögliches Gaukelwerk eines Zwergs reflektiert.12 So sind diese falschen Paradiese sowohl Sinnestäuschung wie Verlockung und Herausforderung des heldischen Selbstgefühls. Es sind keine Räume des Friedens, der Unmittelbarkeit und des zeitlosen Glücks – wie es zunächst scheint –, sondern notwendige Irritationen als Anfang der âventiure. Âventiure aber ist das zu einer Erzählung sich gliedernde Ereignis, über das sich der Held, aber auch der heldische Raum, retrospektiv erschaffen. Die totale Künstlichkeit, in der sogar die Rosen noch mit Edelsteinen und Gold behängt sind, stellt nicht nur die Schöpfungsferne dieses Ortes aus, sondern ist Anlass späterer Erzählung. Als kostbare Kunst führt dieses Paradies zur exquisiten Narration. Und als solche, als Kunst und Erzählung, ist es eine Nebenwelt, der nicht zu trauen ist: Gaukelwerk.

III. Der Teufelsgarten Handelt es sich bei den bisher beschriebenen falschen Paradiesen um Orte einer fiktiven Welt des Erzählens, finden sich aber auch in der Reiseliteratur und der Chronistik falsche Paradiese. Paradebeispiel dafür ist der Paradiesgarten des Alten vom Berge, wie er in fast allen Reiseberichten des 13. und 14. Jahrhunderts auftaucht.13 So zum Beispiel in dem Bericht von dem franziskanischen Missionar Oderich von Pordenone (um 1330).14 Da wird beschrieben, wie er in ein schönes und reiches Land kommt, in dem der Alte vom Berge sitzt und herrscht. In der deutschen Übersetzung von Konrad Steckel (1359) heißt es dann: Der hatt czwischn zwain pergn daz edlest vnd daz schónst tal veruangn mit gemewr, daß gesein mag. Do sind jnn die schónsten prúnne, die gesein múgn, vnd aller lúst. Vnd schónn junkchfrawn, die zewcht [er] auch darjnne, vnd die schónsten rózz, vnd chúrczleich allez daz, daz zu glust gehórt auff der welt. Auch hat er gelaittet haimlichew gerichtu vnder der

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Mireille Schnyder erdn, daß er hin in létt vlíezzn wein, honikch, milich vnd waß er wil. […] Daß tal haizzt er ein paradeiß. (‚Der hatte zwischen zwei Bergen das edelste und schönste Tal, das es gibt, durch Mauern eingeschlossen. Darin sind die schönsten Quellen, die es gibt, und alle nur erdenklichen Lustbarkeiten. Auch schöne Jungfrauen zieht er darin und schöne Pferde und, kurz gesagt, alles, was zur Lust gehört in der Welt. Auch hat er verborgene Anlagen unter der Erde eingerichtet, so dass er Wein hineinfließen lässt, Honig, Milch und was immer er will. […] Das Tal nennt er ein Paradies‘; Z. 930-938.)

Durch die Abgrenzung von der Welt, die exorbitante Schönheit, vor allem aber mittels Raffinesse der Technik ermöglichten Wunder, wird hier durch den Alten vom Berge ein zweites, falsches Paradies geschaffen und entsprechend benannt: „Paradeiß“. Sinn und Zweck dieses Paradieses ist es, als Sehnsuchtsort gesetzt zu werden. Denn will der Alte vom Berge einen seiner adligen Feinde ermorden, lässt er einen der Paradiesinsassen – lauter junge Männer – durch einen Trank betäuben und aus dem exklusiven Raum herausholen. Wacht dieser dann auf, will er nichts anderes, als wieder ins Paradies zurück. Dies wird ihm versprochen, sofern er zuvor den gewünschten Mord begeht. Diese zum Suchtmittel instrumentalisierte technische Wunderwelt wird – vor allem im Text der deutschen Übersetzung – in ihrer Gegenbildlichkeit zum biblischen Paradies deutlich. Da heißt es: Wenn si dann erwachnt, so múgn noch enchunnen (557r) si sich nicht enthalten, si werdnt alß ein tóbiger vnd begernt wider in […] daz paradyß. So fúrt man si zu dem herrn. Den bittent si, daß er [sy] wider in daz paradeiß seczt. So spricht der herr: „Gérn. Stécht mír den herrn oder den ze tod oder den fúristenn. Chvmpt ír denn von dann, so laz jch ewch wider in daz paradyß.“ Die habnt dann sémlich begír hin wider [in], daz sie [nichteß] nicht fúrseczent, si túnt, waz in der herr gepewt. (‚Wenn sie dann aufwachen, so können noch mögen sie an sich halten, sie werden wie wahnsinnig und wollen wieder in das Paradies zurück. So führt man sie zu dem Herrn. Den bitten sie, dass er sie wieder ins Paradies setze. Da sagt der Herr: ‚Gern. Tötet mir den oder den Herrn oder Fürsten. Wenn ihr dann davonkommt, so lass ich euch wieder in das Paradies.‘ Sie haben dann solches Begehren, wieder in das Paradies zu kommen, dass sie nichts fürchten und machen, was er ihnen befiehlt‘; Z. 944-951.)

Während im lateinischen Text konsequent vom Alten (senex) die Rede ist, von dem die Jünglinge geführt werden, den sie bitten, dessen Befehl sie gehorchen, wird dieser in der deutschen Übersetzung zum

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„Herrn“.15 Die assoziative Überblendung mit dem Herrn der Schöpfung in der Genesis entlarvt dieses künstliche Paradies – als Wunder menschlicher Technik – in seiner Perversion. Und so wie der Alte vom Berge ein falscher Gott ist, ist das Paradies hier eine Hölle, in der Mörder sich tummeln, die auf Befehl ihres Herrn Tod in die Welt bringen. Die hier inszenierten paradiesischen Freuden sind die gesteigerten weltlichen Lüste, wobei die islamische Paradiesvorstellung natürlich mit im pervertierenden Spiel ist. Die Zerstörung dieses Paradieses ist nun aber nicht Anfang einer âventiure, ist auch nicht der Moment, in dem sich eine weitere Welt auftut, sondern Ende des todbringenden Betrugs und Anfang einer Erlösung der Welt. So ist es auch kein Einzelkämpfer, der damit Ruhm erwirbt, sondern es sind die Tataren (Mongolen), als Instrumente Gottes, über die sich heilsgeschichtliche Hoffnung erfüllt: Da auer die Táttrer die landt dasselbß alle betwungn vnd die lant vest allesampt, do chómen sie auch an sein landt. Do lie er die mórder all auzz dem paradyß. Die tótten der Táttrer gar vil. Darvmb [dy Tattrer] zornikch wúrdn vnd legttn sich fúr sein statt vnd chómen nicht von dann, vncz si sey gewunnen. Da ward [der selb herre] vnd die seinen mit den mórdern schémlich vnd grewlich getótt vnd daß paradyß zerprochn vnd die púrg vnd stett gewúst. (‚Als aber die Mongolen die Länder dort eroberten und alle Festungen, da kamen sie auch in sein Land. Da ließ er die Mörder alle aus dem Paradies. Diese töteten sehr viel von den Mongolen. Deshalb wurden die Mongolen zornig und belagerten seine Festung und zogen nicht ab, bevor sie sie nicht erobert hatten. Da wurden dieser Herr und seine Leute mit den Mördern schändlich und grausam getötet und das Paradies wurde aufgebrochen, die Burgen und Städte aber zerstört‘; Z. 953-959.)

Das zerstörte Paradies und das verwüstete Land sind das Ende der Todesherrschaft. Sie sind aber auch der Anfang einer heilsgeschichtlich codierten Welterzählung.

IV. Schluss Bei allen diesen falschen Paradiesen, die explizit im Text mit dem Begriff des Paradieses belegt werden, fällt auf, dass es sich um Orte handelt, die geprägt sind von Kunst, Technik, Magie. Es sind Nebenund Kunstwelten, artifizielle Paradiese, deren Zerstörung immer als Erlösung gezeigt wird. Es ist das Als-ob, das diese Räume bestimmt:

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ein Zelt, auf dem die Tiere dargestellt sind, als wenn sie lebendig wären, ein Rosengarten, dessen Blumen durch Gold und Edelsteine ins Künstliche überhöht sind, und ein Tal, in dem durch ein raffiniertes Röhrensystem Quellen mit Milch und Honig fließen. Alle diese Orte haben keine Jetzt-Zeit. Sie sind im Narrativ immer in die Vergangenheit verlegt und schon zerstört, wenn sie erzählt werden. Ja, erst ihre Zerstörung ermöglicht ihre Erzählung und damit ihre Präsenz in der Imagination. Insofern sind diese ‚anderen Paradiese‘ immer die Konkretisierungen einer unvorstellbaren Zeit- und Ortlosigkeit des Paradieses in den narrativen Ordnungen der Welt. Damit handelt es sich in jedem Fall um artifizielle Paradiese der Sprachkünste. Es sind Kunst-Produkte, die die imaginative Leerstelle des christlich-religiösen Paradieses füllen, sich davon aber durch die ausgestellte Artifizialität, die oft auch magische (und pharmakologische) Mittel mit einschließt, absetzen.

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Zum Paradiesbild in der Literatur des Mittelalters vgl. u.a. Grimm, Reinhold R. Paradisus coelestis, paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200. München, 1977; Peters, Elisabeth. Paradiesvorstellungen in der deutschen Dichtung vom 9. bis 12. Jahrhundert. Hildesheim, New York, 1977; Frühe, Ursula. Das Paradies ein Garten – der Garten ein Paradies: Studien zur Literatur des Mittelalters unter Berücksichtigung der bildenden Kunst und Architektur. Frankfurt a. M., Berlin u.a., 2002. Der deutsche ‚Lucidarius‘ 1. Kritischer Text nach den Handschriften. Hg. v. Dagmar Gottschall u. Georg Steer. Tübingen, 1994, S. 13 f. Alle Übersetzungen sind, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin dieses Aufsatzes. Ausgeklammert sind hier die Erzählungen der großen Eroberungs- und Entdeckungsreisen, in denen die Grenzen des Paradieses als unüberwindliches Ende menschlicher Neugier inszeniert sind. Vgl. u.a. die Alexanderromane: Pfaffe, Lambrecht. Alexanderroman. Hg., übs. u. komm. v. Elisabeth Lienert. Stuttgart, 2007. Hartmann von Aue. Erec. Hg. v. Albert Leitzmann, fortgef. v. Ludwig Wolff. 6. Aufl. Tübingen, 1985. Die Zitation erfolgt durch Versangaben im Haupttext. „Ob uns daz buoch niht liuget“ („Wenn das Buch nicht lügt“; V. 8698); „als ich ez las“ („wie ich es gelesen habe“; V. 9019).

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Vgl. die Liebe von Tristan und Isolde in: Gottfried von Strassburg. Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke. Hg., übs. u. kom. v. Rüdiger Krohn. 6. Aufl. Stuttgart, 1993; die Liebe von Amurfina und Gawein in: Heinrîch von dem Türlîn. Diu Crône. Hg. v. Gottlob Heinrich Scholl. Nachdr. Amsterdam, 1966. Hartmann von Aue. Iwein. Hg. u. übs. v. Volker Mertens. Frankfurt a. M., 2004. „Laurin und Walberan“. Deutsches Heldenbuch 1. Mit Benutzung der von Franz Roth gesammelten Abschriften und Vergleichungen. Hg. v. Karl Müllenhoff. Nachdr. Berlin u. Zürich, 1963. 201-257. Die Zitation erfolgt durch Versangaben im Haupttext. Vgl. auch die Zerstörung der Laudine-Quelle im Iwein; Hartmann von Aue (Anm. 7), V. 629-730; V. 989-1011. Ausschlaggebend für die Versöhnung ist die Tatsache, dass die Schwester von Dietrichs Begleiter Dietleib in Laurins Gewalt ist und von ihm als Königin (gefangen) gehalten wird. Interessant ist, dass in einer andern Version Laurin zum Schluss als Gaukler an Dietrichs Hof gehalten wird. Vgl. Laurin und der kleine Rosengarten. Hg. v. Georg Holz. Halle, 1897. Version A, V. 1574. Mit dem „Alten vom Berge“ wurde der Führer der Sekte der Assassinen bezeichnet (vor allem der von 1163-1193 herrschende Rashidaddin Sinan). Vgl. dazu Lyons, M. C. (mit Meyer, W.). „Assassinen“. Lexikon des Mittelalters 1. Hg. v. Norbert Angermann u.a. München, 2002, Sp. 1118. Konrad Steckels deutsche Übertragung der Reise nach China des Odorico de Pordenone. Kritisch hg. v. Gilbert Strasmann. Berlin, 1968, S. 126-131. Zitation im Folgenden durch Zeilenangabe im Haupttext. Die konkrete lateinische Vorlage von Steckel ist nicht bekannt. Die Überlegungen beziehen sich auf die kritische Ausgabe des lateinischen Textes von Anastasius van den Wyngaert, die von Strasmann seiner Edition des deutschen Textes beigegeben ist. Der Vergleich kann also nur eine Tendenz, keine präzise Überarbeitungsintention aufzeigen.

 

„Qui habitat in caelis irridebit eos“ Paradiesisches und irdisches Lachen in Dantes Divina Commedia Marc Föcking „Wo man lacht, da lass’ dich ruhig nieder, böse Menschen lachen immer wieder“, sagt James Bond zu den Killern des Schurken Mister Big in der deutschen Fassung des James-Bond-Films Leben und sterben lassen von 1973. Tatsächlich scheint die pessimistische Abwandlung des Sprichwortes ‚Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder, böse Menschen kennen keine Lieder‘ die Negativität des lauten Lachens in der populären Literatur des Kriminalromans exakt zu charakterisieren: Der Verbrecher lacht laut, und dieses laute Lachen ist böse, mehr noch – es ist das Böse selbst: In Dorothy Sayers Kriminalroman Die neun Schneider (Nine Taylors) von 1936 lacht der Schurke Jeff Deacon nicht von ungefähr „teuflisch“1 – eine Prädikation, die für die Komiker von Monty Pythons Flying Circus schon zur idée reçue abgesunken ist: Im klassischen Sketch „The Spanish Inquisition“ von 1970 wird das (natürlich böse, übertriebene) „Ha! Ha! Ha!“ des Inquisitors Ximenes mit der Einblendung „Diabolical Laughter“ kommentiert.2 Diese trivialisierte Rückbindung des lauten Lachens an moralische Verworfenheit, Boshaftigkeit, ja, an ein metaphysisches Böses, hat eine lange Geschichte: Sie reicht weit zurück in die frühchristliche und mittelalterliche Literatur und scheint die immer wieder betonte ‚Lachfeindlichkeit‘ der theologischen Literatur des Mittelalters zu bestätigen. Doch hätte Dorothy Sayers, die nicht nur Autorin von Kriminalromanen, sondern auch Übersetzerin von Dantes Divina Commedia war, in eben dieser Commedia eine für das Mittelalter bemerkenswerte Umbesetzung des Lachens als Auszeichnung des Himmlischen finden können – die eines Lachens, bei dem Dante stets riso („Lachen“) auf paradiso reimt. Dass Dante auf eine keineswegs apokryphe Tradition biblischen und theologischen Schrifttums zurückgreift, um das von allen Konnotationen des Bösen befreite Lachen zu einem paradiesischen riso dell’universo zu erheben, wird Thema der folgenden Ausführungen sein.

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I. Hat Christus gelacht? ‚Böses‘ versus ‚gutes‘ Lachen im Mittelalter Ist von einer mittelalterlichen Lachfeindlichkeit die Rede, dann meist mit Rekurs auf die im frühen Christentum weithin verbreitete Auffassung vom Lachen als Ausdruck menschlicher Sündhaftigkeit.3 Christus, von dem es im Hebräerbrief 4,15, heißt, er sei in allem dem Menschen gleich „absque peccato“, kann also nicht gelacht haben. Dieser seit dem frühen Christentum kursierenden Auffassung vom nie lachenden Christus4 hat der 1421 von Petrarcas Freund Giacomo Colonna entdeckte so genannte ‚Lentulus-Brief‘ eine gewisse dokumentarische Evidenz zu verleihen versucht: Zwar ist der von einem angeblichen Vorgesetzten des Pontius Pilatus, einem bei der Verurteilung Christi zufällig in Jerusalem weilenden Konsul namens Lentulus, stammende Brief eine durch viele Hände gegangene Fälschung aus dem byzantinischen 12. Jahrhundert,5 in der ein verdächtig an die byzantinische Tradition der imago Christi erinnerndes Portrait Christi mit der Aussage unterlegt wird, „man habe ihn nie lachen, aber umso öfter weinen gesehen.“6 Doch spricht gerade die Tatsache dieser Fälschung für eine dogmatisch begründete Ächtung des Lachens im Hochmittelalter. Gleichzeitig aber ist – glaubt man Michail Bachtin – die offizielle kirchliche Lehre kaum in der Lage, „den universellen Charakter des mittelalterlichen Lachens“7 zurückzudrängen. Diese ubiquitäre Lachkultur spürt Bachtin in Fabliaux und Schwänken, Tierepen und Farcen auf – Texten, die er allesamt als Erzeugnisse einer vom Lachen durchdrungenen Populärkultur dem lachfeindlichen Ernst des „offiziellen christlichen Kults“8 entgegenstellt und gleichzeitig zum notwendigen Komplement dieser „offiziellen“ Kultur erklärt. Sie ist ihm Ausdruck von Freiheit inmitten einer Welt des Zwangs und der Reglementierung. Diese versucht ihrerseits, das befreiende Lachen der Populärkultur zu kolonialisieren, indem sie es an bestimmten Feiertagen zulässt und dadurch eine überwachte, zeitlich begrenzte Druckabfuhr ermöglicht – eine Druckabfuhr allerdings, die stets in Gefahr ist, das umschließende Normsystem zu zersprengen. Umberto Eco hat in seinem Roman Il nome della rosa dem düsteren Mönch Jorge von Burgos eben diese Theorie Bachtins in den Mund gelegt: Il riso è la debolezza, la corruzione, l’insipidità della nostra carne. È il sollazzo per il contadino, la licenza per l’avvinazzato, anche la chiesa nella sua saggezza ha concesso il momento della festa, del carnevale,

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della fiera, questa polluzione diurna che scarica gli umori e trattiene da altri desideri e da altre ambizioni.9

Sicher, die Evidenz, die Eco hier Bachtins Theorie des mittelalterlichen Lachens verleiht, ist eine fiktionale, keine empirische – wie auch die Gründe für Bachtins Exaltierung einer nach Freiheit von einer offiziellen Kultur des Ernstes strebenden populären Lachkultur eher in der Situation des Intellektuellen in der Sowjetunion von Stalin bis Breschnew liegen mögen als in den tatsächlichen Gegebenheiten der Position, die das Lachen in den theologischen und literarischen Diskursen des Mittelalters einnimmt. Dennoch hat sich trotz aller Kritik an Bachtins Dichotomie von populärer Kultur des Lachens und offizieller Kultur des Ernstes eine Funktionsbestimmung des Lachens im Sinne eines „Entspannungs- bzw. Entlastungseffekts“10 gehalten, die das Lachen nach wie vor als eine den Ansprüchen des Ernsten, Heiligen, Immateriellen, Metaphysischen entgegengesetzte körperliche Reaktion begreift. Wer mit diesen Erwartungen die Divina Commedia nach der Rolle befragt, die riso und sorriso im Textuniversum der Jenseitsreise spielen, kann sich auf einige Überraschungen gefasst machen – Überraschungen, die sich in der Wortkonkordanz quantitativ niederschlagen: Das Wort ‚riso‘ taucht im Inferno ein einziges Mal auf, im Purgatorio sieben und im Paradiso fünfzehn Mal. Wirft man das gesamte Wortmaterial ‚Lachen‘/‚Lächeln‘ zusammen, dann ergibt sich ein Zahlenverhältnis von 2 zu 19 zu 46. Mit dieser konstanten Klimax bei annähernd gleich bleibenden Zahlenverhältnissen macht Dante deutlich, dass der sich steigernde Weg vom Nicht-Lachen zum Lachen derselbe ist wie der vom Inferno zum Paradiso. Damit hätte Dante die vermeintliche Sündhaftigkeit des Lachens in deren eschatologisches Gegenteil verkehrt und gleichzeitig die These von der Entlastungsfunktion des Lachens vom ‚Ernsten‘ und ‚Heiligen‘ entwertet. Dass Dante diese radikale Umkehrung vornehmen kann, lässt vermuten, dass die mittelalterlichen Positionen zum ‚Lachen‘ reichhaltiger und widersprüchlicher sind, als es die Legende vom weinenden Christus vermuten lassen kann. Die groben Züge dieser Positionen lassen sich heute allerdings sehr viel umfangreicher rekonstruieren, als das die noch im jüngsten Buch von Jacques Le Goff zum Lachen im Mittelalter von 1999 ausgebeutete ‚Fundgrube‘, Ernst Robert Curtius’ Klassiker Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter von 1948, möglich macht.11 Befragt man die Volltext-Datenbank Library of Latin Texts des Verlags Brepols12 nach dem Lemma ‚risus‘, erhält man mit gut 500 Einträgen von

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Tertullian bis zu Jean Calvin ein weit weniger eindeutiges Bild von der kirchlichen Beurteilung des Lachens, als der eher zur offiziellen Lachfeindlichkeit tendierende Exkurs zu „Scherz und Ernst in mittelalterlicher Literatur“ in Ernst Robert Curtius’ Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter und auch noch Le Goffs Buch zum Lachen im Mittelalter nahelegen. Deutlich sichtbar wird zunächst, dass seit den christlichen Schriftstellern der Spätantike das Problem besteht, die beiden konträren antiken Auffassungen zum Lachen untereinander und diese mit den ihrerseits gegensätzlich argumentierenden biblischen Stellungnahmen in Einklang zu bringen. Die Antike stellt im Wesentlichen zwei Positionen zum Lachen bereit, eine platonische und eine aristotelische, die so etwas wie zwei alternative Anthropologien des Lachens bieten: Bei Platon bleibt das Lachen aus der Idee des Menschlichen ausgeschlossen, da nur die das Ideale unterschreitende Fehlerhaftigkeit des menschlichen Verhaltens Anlass des Lachens und Ursprung seines Refrenten – des Komischen – werden kann. Da sich Platon in seinem Dialog Philebos (48b-e)13 auf das Verlachen beschränkt und er den Lach-Anlass in der Unvernunft, im ‚Sich-nicht-selbst-erkennen‘ des anderen sieht, verfällt das Lachen als Lachen über den Schaden des Mitmenschen einem doppelten Verdikt: Es ist unmoralisch, weil es sich aus der Schadenfreude als Form des invertierten Neides speist; und es ist unvernünftig, weil es die Unvernunft des Verlachten zur Steigerung der eigenen Lust gebraucht und damit zu etwas der Vernunft Opponierendem. Lachen verbietet sich in dem Maße, in dem die Einsicht in die Gesetze des Ethos wie des Logos steigt, und schließt sich im Bereich göttlicher Vernunft völlig aus. Das ist auch der Grund, warum Platon in der Politeia das Lachen aus der Erziehung des idealen Staatsbürgers verbannt und Homer für die Darstellung lachender Götter tadelt: Man darf es also schon nicht hingehen lassen, wenn ein Dichter bedeutende Menschen sich maßlos der Lachlust hingeben läßt, noch viel weniger aber, wenn Götter. [...] Wir dürfen also dem Homer nicht Äußerungen wie die folgenden über die Götter hingehen lassen: „Doch unermeßliches Lachen erscholl den seligen Göttern, als sie sahen, wie Hephaistos im Saal so geschäftig umherging“.14

Wie zu erwarten vertritt Aristoteles die Gegenposition zu dieser Trennung von Vernunft und Lachen, denn seine berühmte Definition des Menschen aus dem Liber Perihermenias lautet in der Übersetzung von Marius Victorinus, „homo est animal rationale mortale terrenum bipes risus capax“15. Hier wird das Lachen der Kategorie des

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proprium zugeschlagen und ist somit das, was zwar nicht das Wesen eines Dings bezeichnet, aber nur ihm zukommt und deshalb für es gesetzt werden kann.16 „Risus capax“ und „animal rationale“ stünden also in einem solchen logischen Austauschverhältnis, was dann wiederum in kompletter Umkehrung der platonischen Verhältnisse die grundsätzliche Kompatibilität von ratio und risus impliziert. In der Nikomachischen Ethik wird diese grundsätzliche Kompatibilität im Rahmen menschlicher Verhaltenspraxis dann näher bestimmt: Analog zur Lehre vom Rechten Maß, die Aristoteles auf Tugenden wie Besonnenheit oder Tapferkeit anwendet, liegt das vernunftgemäße Lachen zwischen dem Lachzwang der ‚Possenreißer‘ und dem tierischen Ernst derer, die als ‚steif und trocken‘ bezeichnet werden. Um die auch ethische Positivität dieses vernunftgemäßen Lachens zu kennzeichnen, nennt Aristoteles es in Anklang an die eudaimonia als Ziel ethischen Handelns „eutrapelia“.17 Wie folgenreich diese beiden Alternativen für die Bewertung des Lachens im christlichen Schrifttum sind, zeigt bereits der Epheserbrief des Apostels Paulus, der den Begriff der eutrapelia negativiert und so die aristotelische Unterscheidung eines vernunftgemäßen und eines unvernünftigen Lachens platonisch zurücknimmt: In seinem Sündenkatalog findet sich neben Unzucht, Schamlosigkeit, Habgier, Sittenlosigkeit und dummem Geschwätz („morologia“) auch „eutrapelia“ (Eph. 5,3), was Hieronymus in der Vulgata mit „stultiloquium“ und „scurrilitas“ übersetzt18 und in seinem Kommentar zum Epheserbrief in die Nähe der „jocularitas“ mit dem Ziel „ut risum moveat audientibus“ (‚dass sich die Zuhörer vor Lachen ausschütten‘19) rückt. Mit dem Epheserbrief legt Paulus eine platonisierende Spur der Lachfeindlichkeit, die etwa bei Augustinus in De vera religione explizit mit dem Movens des Neides und der Schadenfreude verknüpft wird, wie man es aus Platons Philebos kennt.20 Es ist diese Spur, die sich über die das Lachen unter Sündenverdacht stellenden Mönchsregeln des Früh- und Hochmittelalters21 bis hin zur Legende des nie lachenden Christus im gefälschten ‚Lentulus-Brief‘ zieht. Allerdings wirft die Verabsolutierung dieser intransigenten Position eine Reihe von Problemen auf, denn sie deckt sich kaum mit anderen einschlägigen Stellen des Alten wie (in geringerem Maße) Neuen Testaments, und sie steht in der Gefahr, dem in der Spätantike erreichten dogmatischen Abschluss der Diskussion um das gleichermaßen göttliche wie menschliche Wesen Christi zu widersprechen. Lachen nämlich wird in den Büchern des Alten und Neuen Testaments sehr viel differenzierter behandelt, als Paulus im Epheser-

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brief dies tut: Von Gott, der über die Pläne der irdischen Könige triumphiert, heißt es in den Psalmen 2,4 „qui habitat in caelis irridebit eos“ („der in den Himmeln wohnt wird über sie lachen“); Sarah und Abraham lachen bei der Verheißung der Geburt ihres Sohnes Isaak, dessen Name übersetzt ‚Er lacht‘ oder ‚Gott lacht‘ lautet (Gen. 17,1518, 34); im Buch Hiob (8,21) wird dem Gerechten verheißen, Gott „wird deinen Mund mit Lachen erfüllen und deine Lippen mit Jubel“; Kohelet 2,2 nimmt sein Verdikt „Über das Lachen sagte ich: Wie verblendet!“ mit der Einsicht in die Zeitgebundenheit menschlichen Tuns zurück: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit […] eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen“ (Kohelet 3,1-4); und er differenziert Lachen moralisch nach der unterschiedlichen intellektuellen Ausstattung ihrer Träger: „Denn wie das Prasseln unter dem Kessel, so ist Lachen des Ungebildeten“ (7,6). Jesus Sirach (21,20) unterscheidet davon ausgehend verschiedene Arten des Lachens: „Der Tor lacht mit lauter Stimme, der Kluge aber lächelt kaum leise“. Und auch, wenn die verhältnismäßig wenigen einschlägigen Stellen des Neuen Testaments ein Lachen im Diesseits einem guten Lachen im Jenseits gegenüberstellen – etwa in den Prophezeiungen der Bergpredigt „Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen“ und „Weh euch, die ihr jetzt lacht, denn ihr werdet klagen“ (Lk. 6,21; 25)–, so ist doch damit umso nachdrücklicher dem platonischen Ausschluss des Lachens aus der Sphäre der göttlichen Vernunft widersprochen. Wenn im Alten wie Neuen Testament zwar keine konsistente Theorie des Lachens geboten wird, so kann doch keine Rede sein von dessen durchgehender Negativierung. Im Gegenteil: Selbst Gott und Abraham und Sarah, die Stammeltern des Erwählten Volkes, lachen. Es ist also nicht der platonische Theoriestrang, mit dem sich im christlichen Schrifttum die (hier nur unvollständig wiedergegebenen) vielfältigen und nicht leicht harmonisierbaren biblischen Aussagen zum Lachen parallelisieren lassen, sondern eher der differenziertere und geschmeidigere des Stagiriten, der Lachen in der menschlichen Natur wie in der Vernunft verankert. Dessen Definition des Menschen als „animal rationale mortale terrenum bipes risus capax“22 kann sich seit Marius Victorinus’ Ars Rhetorica aus dem vierten Jahrhundert durch die Schriften der Kirchenväter und -lehrer ziehen23 und geht in die großen Enzyklopädien des Mittelalters ein, so in Isidors Etymologiarum sive Originum libri XX: „risus capax: est enim solum hominis, quod ridet“.24 Thomas von Aquin greift sie in De ente et essentia VI auf,25 verleiht dem risus capax aber auch jenseits der Beispielhaftigkeit für die Kategorie des aristotelischen proprium in der

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Summa Theologiae (I, II, q. 38, art. 2, arg. 2) einen bemerkenswerten Zusatz: Lachen ist hier ein nur dem Menschen möglicher physischer Ausdruck, dessen emotionale Ursache in der laetitia liegt. Laetitia aber ist bei Thomas der Beginn einer sich über gaudium und felicitas zur beatitudo steigernden Stufenfolge geistlicher Freude26 und damit das vollständige Gegenteil der invidia (‚Schadenfreude‘) aus dem platonischen Philebos. Ist auf dieser Basis das Lachen tendenziell vom Generalverdacht der Sündhaftigkeit befreit und gleichzeitig Teil der natürlichen Ausstattung des Menschen, können in Analogie zur aristotelischen Differenzierung vom unvernünftigen Lachen der ‚Possenreißer‘ und vom vernünftigen der eutrapelia die diversen biblischen Aussagen zum lauten Lachen der Toren und zum leisen Lächeln der Weisen – so Jesus Sirach 21,20 – zu einer Hierarchie von unterschiedlichen Trägern, Ursachen und Zielen des Lachens ausgebaut werden – und zwar nicht erst, wie Le Goff nahelegt,27 in der Scholastik, sondern bereits seit der christlichen Spätantike. Dem Negativ-Pol des ‚Possenreißers‘ und ‚Toren‘, dem die Einsicht in das Gesetz der Gottes- und Nächstenliebe fehlt, wird ein Lachen zugeordnet, das von purer Albernheit bis hin zum ‚bösen Lachen‘, zum ‚Verlachen‘ als derisio oder irrisio reicht und – so der Terminus des Thomas von Aquin – ein Lachen der detractio, der Zerstörung, ist:28 Es wird als lautes, das Gesicht zur Grimasse verzerrendes Lachen des Körpers beschrieben, als – so die Formulierung von Dantes Zeitgenossen Salimbene da Parma – „risus dentium“.29 Wegen des grimassenhaften, weit geöffneten Mundes dieses Lachens sieht Hieronymus unter Rückgriff auf die schon bei Quintilian gängige Etymologie von rictus („weit aufgerissener Mund“) und risus eine Ähnlichkeit zwischen dem rictus des risus dentium und dem des schmerzverzerrten Gesichts. Er parallelisiert damit nicht nur die Sündhaftigkeit dieses Lachens mit den Strafen, die dafür zu erwarten sind, sondern verschiebt den risus dentium in den Bereich des freudlosen, schmerzhaften Grimassierens.30 Diesem letztlich in den Bereich der Muskelzuckung verschobenen risus dentium kontrastiert das Lächeln des Weisen, der – so Gregor der Große – risus cordis, der aus der Zustimmung zum göttlichen Gesetz, aus der Liebe zu Gott und seinen Geschöpfen und der daraus erwachsenden laetitia und der sicheren Zuversicht in die Liebe Gottes erwächst.31 In dieser Fassung ist das Lachen selbst für rigide Ordensgeistliche akzeptabel, die das laute Lachen und jede scurrilitas innerhalb den Klostermauern verfolgen: Bernhard von Clairvaux lobt in seinen Sermones de diversis den „risus caritatis“, „quia hilaris est: laeta quidem, non tamen dissoluta“.32 Dieser risus caritatis ist somit doppelt gerechtfertigt – er ist gleichzeitig positive Wertantwort und Mittel der

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Abb. 1: Darstellung der Seligen am Fürstenportal des Bamberger Doms

seelischen und körperlichen recreatio einer christlichen eutrapelia, wie sie Thomas von Aquin formuliert.33 Prägungen wie risus cordis und das Adjektiv hilaris deuten natürlich auch an, dass zwischen dem rictus des risus dentium und dem vultus hilaris des risus caritatis ein gewaltiger physiognomischer Unterschied besteht, denn das Lachen des Weisen verklärt die Gesichtszüge, ohne sie zur Grimasse zu verzerren, die Zähne zu entblößen und Gelächter hören zu lassen. Der risus caritatis kann als Lächeln nur gesehen, nicht gehört werden.34 Genau so werden die mit geschlossenem Mund still lächelnden Seligen im Fürstenportal des Bamberger Doms dargestellt (Abb. 1). Die Verdammten hingegen zeigen ihre Zähne, so dass zwischen schmerzverzerrtem Gesicht und lachender Grimasse kaum noch ein Unterschied zu bestehen scheint (Abb. 2):

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Abb. 2: Darstellung der Verdammten am Fürstenportal des Bamberger Doms

Sobald sich das zentrifugale Oppositionspaar von risus dentium und risus caritatis etabliert hat, können sich beide Typen des Lachens aus dem Bereich des Menschlichen hinaus in die metaphysischen Extreme von Hölle und Himmel verlängern lassen. Das Lachen Gottes aus dem Alten Testament ist damit kein grundsätzliches Problem mehr, wenn auch Gregor der Große einige argumentative Volten schlagen muss, um das offensichtlich destruktive Lachen Gottes über die Qualen der Unschuldigen („de poenis innocentium rideat“) in Hiob 9,23 als Freude Gottes über das qualvolle Sehnen der Unschuldigen nach der Vereinigung mit ihm zu erklären.35 Dass Gott als Inbegriff der caritas im christlichen Schrifttum gerade dort zum Inbegriff des risus caritatis werden kann, wo sich seine Liebe in der Inkarnation Christi materialisiert, zeigen die seit Hieronymus und Augustinus immer wieder vorgelegten Interpretationen

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einer Stelle des Alten Testaments, in der das Lachen als zentraler Ausdruck der Freude über Gottes Verheißung aufgefasst wird. In Genesis 17,13-20 erfahren wir Folgendes von der Prophezeiung der Geburt Isaaks an Abraham und Sarah und der Namensgebung, die am Beginn des Bundes wie des Stammbaumes Jesu Christi steht: „So soll mein Bund, dessen Zeichen ihr an eurem Fleisch tragt, ein ewiger Bund sein“. Weiter sprach Gott zu Abraham: „Deine Frau Sarai sollst du nicht mehr Sarai nennen, sondern Sara (Herrin) soll sie heißen. Ich will sie segnen und dir auch von ihr einen Sohn geben. Ich segne sie, so daß Völker aus ihr hervorgehen [...]“. Da fiel Abraham auf sein Gesicht nieder und lachte. Er dachte: „Können einem Hundertjährigen noch Kinder geboren werden und kann Sara als Neunzigjährige noch gebären?“. [...] Gott entgegnete: „Nein, deine Frau Sara wird dir einen Sohn gebären, und du sollst ihn Isaak nennen. Ich werde meinen Bund mit ihm schließen und einen ewigen Bund für seine Nachkommen.“

Das Lachen der Eltern, mehr noch der von Gott vorgegebene Name für das erste Glied in der Kette des Bundes hat die Exegeten der Genesis von jeher beschäftigt. Es ist ihnen keineswegs verborgen geblieben, dass ‚Isaak‘ im Hebräischen eine Kurzform für Jizchaq-El ist, was soviel heißt wie ‚Gott möge lächeln‘ oder ‚Gott hat gelacht‘.36 Die Wurzel ‚sahak‘ des Namens meint dabei das ‚fröhliche, schallende Lachen‘ im Gegensatz zum Hebräischen La’ag als herabsetzendem, spöttischem Lachen.37 Dieses Wissen um die Wortbedeutung von Isaak ist im christlichen Westen bekannt, seit Ambrosius erklärte: „Isaak etenim risus latine significatur, risus autem insigne laetitae est“38. Von Augustinus und Hieronymus über Gregor, Isidor von Sevilla und bis über Thomas von Aquin hinaus bleibt diese Namenserklärung lebendig.39 Und, was für unseren Zusammenhang noch wichtiger ist, sie wird figural als Hinweis auf das gaudium magnum der Geburt Christi gedeutet – so bei Beda Venerabilis („Risus autem decenter significat gaudium novi testamenti, in quo filii promissionis“) oder Hrabanus Maurus.40 Noch im 14. Jahrhundert schreibt Francesco Petrarca wie selbstverständlich diese typologische Deutung in De viris illustribus fort: „Certe enim promisso tempore natus puer, et a risu nomen nactus Ysaac, unigenitus parentibus suis fuit, figuram gestans Unigeniti eterni et instar illius a Patre etiam sacrificio designatus.“41 Christus als ‚neuer Isaak‘, als ‚neues Lachen‘ – das ist die extreme Gegenposition zum risus dentium und seinem infernalischen Drall in Richtung der höllischen Finsternis, wo Heulen und Zähneknirschen („stridor dentium“) jedes Lachen auslöschen (Matth. 22,13). Zwi-

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schen diesen durch die Pole von Glauben und Unglauben, Erlösung und Verdammung gekennzeichneten Formen des Lachens als Wertantworten bleibt im christlichen Schrifttum des Mittelalters kaum Platz für ein nicht durch eine spirituelle Bedeutung gekennzeichnetes Lachen: Der theologische Diskurs kennt kein Lachen, das im aristotelischen Sinne lediglich ‚zeichen-freies‘ proprium des Menschlichen wäre, körperlicher Ausdruck einer individuellen Emotion oder ästhetisches Element eines Schönheitskatalogs. Eben diese semiotischanagogische Festlegung des riso auf einen fixierten theologischen Diskurs ist es auch, die seinen Einsatz bei Dante steuert.

II. Infernalisches und paradiesisches Lachen bei Dante „Riso“, so schreibt Emilio Pasquini in der Enciclopedia Dantesca42 (IV, 977), sei eine „parola-chiave nel mondo dantesco“, um sich dann aber sogleich korrigieren zu müssen: Denn im Dante „comico“ – in Il Fiore – spielen Lexik und Semantik des Lachens kaum eine Rolle, und auch in den Rime (CXVI, 58) oder in der Vita Nova (XXI, 8) stoßen wir nur höchst selten auf das lexikalische Material des ‚Lachens‘ oder ‚Lächelns‘. So unerwartet es aus dem Rückblick späterer Liebeslyrik – insbesondere der Petrarcas – erscheinen mag: Das Lächeln der donna spielt weder in der Lyrik der scuola siciliana noch im dolce stil nuovo und auch nicht in Dantes Lyrik eine inhaltlich wie lexikalisch herausragende Rolle: Die Beatrice der Vita Nova lacht nie und lächelt ein einziges Mal, und zwar im Sonett „Negli occhi porta la mia donna Amore“, wo es heißt: „Quel ch’ella par quando un poco sorride/non si può dicer né tener a mente.“43 Diesem hapax legomenon sekundiert der Unsagbarkeitstopos, mit dem das Lyrische wie das kommentierende Ich sich in der Vita Nova für unfähig erklärt, das wunderbare Lächeln der Dame zu qualifizieren. Es fehlen ihm dazu schlicht die Worte. Dagegen explodieren Semantik und Lexik des ‚Lächelns‘ und des ‚Lachens‘ geradezu in der Commedia – hier wird an 70 Stellen gelacht, gelächelt oder über das Lachen gesprochen. Hier, so scheint es, hat Dante zu dem Diskurs gefunden, der das Reden über das Lachen möglich macht. Parola-chiave ist riso also nicht im mondo dantesco insgesamt, sondern im mondo della commedia. Das kann man – ohne hier im Einzelnen dem zurückhaltenden Einsatz von riso in der frühen italienischen Liebeslyrik nachgehen zu können – als Indiz für die starke theologische Semantik von riso interpretieren, die ihren prominenten

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Ort eher im theologischen Weltgebäude der Commedia findet als in einer auch noch so auf Theologisierung der Liebe und der Sanktifizierung der Dame angelegten Liebeslyrik. Dass sich Dante über diese bloßen Konjekturen hinaus des besonderen anagogischen Werts von riso bewusst gewesen ist, zeigt sein Kommentar zur zweiten Canzone („Amor che nella mente mi ragiona“) des Convivio (III, xv, 1ff.): Cose appariscon ne lo suo aspetto, / che mostran de’ piacer di Paradiso, / dico ne li occhi e nel suo dolce riso, / che le vi reca Amor com’a suo loco. / Ella soverchian lo nostro intelletto, / come raggio di sole un frale viso.44

‚Riso - paradiso‘– diesen Reim hat vor Dante nur Giacomo da Lentini verwendet, im Sonett „Io m’aggia posto in core a Dio servire“, und auch hier wird Lachen als Ausdruck der Freude der Erlösten im Paradies gekennzeichnet: Io m’aggio posto in core a Dio servire, / com’io potesse gire in paradiso, / al santo loco ch’aggio audito dire, / u’ si mantien sollazzo, gioco e riso. / Senza mia donna non vi voria gire, / quella c’ha blonda testa e claro viso.45

Dass Giacomos lyrisches Ich diesen Ort verschmäht, wenn er dort nicht seine Dame vorfindet, gibt dem Text nicht nur einen leicht heterodoxen Charakter, es bestätigt auch die Vermutung, dass in der frühen italienischen Lyrik die religiöse Semantik des Lachens mit dem Reden über die irdische Liebe nicht problemlos kompatibel gewesen ist. In Dantes Canzone des Convivio nun wird aus der semantischen Differenz zwischen den Reimen „paradiso“/„riso“ hier und „viso“ der Dame dort ein einheitliches Bedeutungsfeld, denn Dante knüpft im Kommentar das Lachen an die zur Allegorie der Sapienza erklärten „donna gentile“.46 Damit führt er Lachen, Vernunft, Glückseligkeit und Paradies zusammen – um den Preis des Heraustretens aus der Liebesdichtung in den Bereich des Theologisch-Philosophischen, der nun dem in der Vita Nova noch unmöglichen Reden über den riso zur Sprache verhilft. Es ist die Sprache, die der theologische Diskurs für das Lachen des Weisen erarbeitet hat – und eben diese setzt Dante ein: Das zeichenhafte Lachen der Dame Sapienza ist als Lachen „una corruscazione de la dilettazione dell’anima“, also ein physiognomisches ‚Ausstrahlen‘ der Seelenfreude. Dante hat hier offensichtlich das Begriffsspektrum von laetitia und gaudium als Movens des guten Lachens/Lächelns präsent. Dieses Strahlen des Gesichts „con onesta severitate e con poco movimento de la sua faccia“ hat nichts mit dem Gegackere des Toren zu tun („schiamazzare come gallina“); es kann

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nur gesehen, nicht gehört werden („che mai non si sentia se non de l’occhio“).47 Diese Passage des Convivio bereitet vor, was Dante in der Divina Commedia inszenieren wird: die Apotheose des Lachens. Tatsächlich: des Lachens, und nicht eines Lachens. Denn sucht man nach dem bösen Lachen des Toren, dem risus dentium als rictum dort, wo man es nach mittelalterlicher Lesart erwarten würde, sieht man sich getäuscht. Die Verdammten des Inferno lachen nicht ‚böse‘, sie lachen überhaupt nicht. Warum das so ist, erfahren wir aus dem Rückblick des Irdischen Paradieses, denn hier erklärt Matelda die Konsequenzen der Vertreibung Adams aus dem Garten Eden: „Per sua diffalta qui dimorò poco; / Per sua diffalta in pianto ed in affanno / Cambiò onesto riso e dolce gioco.“48 Ein einziges Mal nur taucht das Wort riso im Inferno auf, und zwar an der berühmten Stelle, an der Francesca da Rimini von ihrer gemeinsamen Lektüre des Lancialotto, der Kussszene und ihren Folgen berichtet: „Quando leggemmo il disiato riso / Esser baciato da cotanto amante, / questi, che mai da me non fia diviso, / la bocca mi bacciò tutta tremante.“49 Francesca und Paolo – könnte man vermuten – sind im Inferno zwar nicht mehr fähig zu lachen, aber Dante adelt die beiden trotz allem mit großer Sympathie beschriebenen Liebenden durch den indirekten Zusammenhang, den er zwischen ihnen und dem riso herstellt.50 Den übrigen Verdammten wird ein solcher Kontext verweigert, ja mehr noch: Dante bemüht sich ganz offensichtlich, den risus dentium in Richtung des zähnefletschenden Grimassierens zu verschieben und damit ganz ähnlich wie Hieronymus dem bösen Lachen den letzten Rest an Lust zu nehmen. Vom risus dentium bleiben im Inferno nur noch die gebleckten Zähne – das Wort denti im Plural behält Dante allein der Hölle vor –, so in den Zähne bleckenden Fratzen der grotesk-körperlichen Teufel der fünften „bolgia“ des achten Höllenkreises: Ed elli a me: „Non vo’ che tu paventi: / Lasciali digrignar pur a lor senno, / ch’e’ fanno ciò per i lessi dolenti.“ / Per l’argine sinistra volta dienno; / Ma prima avea ciascuna la lingua stretta / Coi denti verso lor duca per cenno; / Ed elli avea del cul fatto trombetta.51

Dass Dante das Lachen der Hölle vorenthält und allein das Personal des Purgatorio und des Paradiso lächeln und lachen lässt, folgt der Logik des theologischen Diskurses und der in ihm möglichen Apotheose des Lachens im Christus risus noster. Das Lachen der Weisen in diesen beiden Reichen kann folglich nur ein lautloses Lächeln, ein sorriso auch dort sein, wo Dante vom riso spricht. Tatsächlich – und wie

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im Convivio formuliert – kann das Lachen hier nie gehört, es kann nur gesehen werden: „un lampo di riso dimostromi“52 oder „e vidi che con riso /udito avean l’ultimo concetto“53. Doch obwohl riso und sorriso in den Überlegungen zum Lachen der Weisen im theologischen Diskurs bedeutungsgleich verwendet werden, findet Dante dennoch Möglichkeiten, die beiden unterschiedlichen Lexeme für eine sukzessive Steigerung des Lachens auf dem Weg vom Purgatorio zum Paradiso nutzbar zu machen – und zwar durch ihre quantitative Verteilung und durch die Technik semantischer Verdichtung. Wirft man einen Blick auf die Verteilung der Lexemfamilie riso und sorriso, dann wird zum einen deutlich, dass im Purgatorio weniger als halb so viel gelacht bzw. gelächelt wird wie im Paradiso – nämlich 19 zu 46. Innerhalb der Cantiche aber ergibt sich eine Verschiebung der Zahlenverhältnisse zugunsten des riso, die man angesichts der semantischen Nivellierung von riso und sorriso nicht erwarten würde: Im Purgatorio liegt das Verhältnis von sorriso etc. zu riso bei 1:2 (6 zu 13), im Paradiso bei 1:3,5 (10 zu 36). Nichts läge näher als die Annahme, dass Dante hier sehr wohl riso als Steigerung zu sorriso einsetzt. Blickt man auf die Träger von sorriso und riso und die Konzentration des Wortmaterials auf einzelne Gesänge, dann scheint sich diese Vermutung zu erhärten: Vergil als Führer durch Inferno und Purgatorio lächelt hauptsächlich (wenn auch nicht oft), nämlich dreimal (Inferno IV, 94-99; Purgatorio XII, 136; XXVII, 44). Beatrice hingegen lässt Dante fünfmal lächeln, aber 13mal lachen.54 Schließlich lacht Dantes in den Marshimmel versetzter Urahn Cacciaguida ausschließlich, und zwar dreimal (Paradiso XVI, 34; XVII, 36; XVIII, 121). Zur sehr gezielten und bedeutungstragenden Verteilung des Wortmaterials auf einzelne Gesänge sei nur auf einen Fall hingewiesen, nämlich den 28. Gesang des Purgatorio. Es ist der erste Gesang des Paradiso celeste, der Ort des „onesto riso e dolce gioco“55 – und allein hier hat Dante viermal das Wort riso etc. untergebracht. Neben Dantes sehr kalkulierter Technik lexikalischer Dosierung ist aber noch die Steigerungstechnik durch semantische Verdichtung von Belang. Bereits im Convivio hat Dante das Lachen des Weisen als „corruscazione dell’anima“ bezeichnet, als ‚Leuchten der Seele‘. Mit dieser Kombination von physischem Ausdruck und Lichtsymbolik hat er sich die grundsätzliche Möglichkeit geschaffen, das Licht selbst zum Lachen zu erklären und damit aus der Sphäre menschlicher Physis herauszunehmen. Damit lässt sich eine Steigerung vom physischen Lachen/Lächeln als Leuchten zum Leuchten als Lachen denken, und eben dieses lässt sich grosso modo beim Gang durch das Purgatorio zum Paradiso beob-

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achten. Im Purgatorio bleiben die Pole des lachenden Lichts und des menschlichen Lachens noch getrennt: Im ersten Gesang des Purgatorio lässt die Sonne den Osten rein metaphorisch lachen („Lo bel pianeta che amar conforta/faceva tutto rider l’oriente“56). Das ändert sich im Paradiso, denn hier wird die Teilhabe am göttlichen Licht substantiell mit dem glückseligen Lachen der laetitia verknüpft, das für ‚Dante‘ als irdischen Besucher so vernichtend wäre wie das Licht Jupiters für die mythische Semele. Als ‚Dante‘ im Paradiso – im siebten, im Saturnhimmel – in der Erwartung ihres Lächelns Beatrice anblickt, lacht diese folglich nicht. Der Grund ist folgender: E quella non ridea; ma „S’io ridessi“ / mi cominciò, „tu ti faresti quale / fu Semele quando di cener fessi; / chè la bellezza mia, che per le scale / dell’eterno palazzo più s’ascende, / com’hai veduto, quanto più si sale, / se non si temprasse, tanto splende, / che’l tuo mortal podere, al suo fulgore, / sarebbe fronda che trono scoscende.57

Das sich immer stärker mit dem sich intensivierenden Licht der Himmelssphären identifizierende Lachen Beatrices wird schließlich in den sublimsten Sphären zum kosmischen Lachen (wiederum: zum riso, nicht zum sorriso), zum „riso dell’universo“58, ja später zum die Seligen bestrahlenden Lachen Gottes gesteigert: „Vedea visi a carità suadi /d’altrui lume fregiati e di suo riso“59. Damit hat Dante die Möglichkeiten, die der theologische Diskurs durch Formulierungen wie Christus risus noster geboten hat, auf für die mittelalterliche Literatur Italiens beispiellose Weise aufgegriffen und radikalisiert. Allerdings würde der Eindruck täuschen, Dante betreibe eine lineare und sukzessive Entmaterialisierung des riso. Wenn eine solche Tendenz auch in der Zielrichtung des riso dell’universo oder des Lachens Gottes in den letzten Gesängen des Paradiso liegt, so gibt es doch gleichzeitig ein konstantes Residuum des physischen Lachens – und dieses Residuum heißt Beatrice. Dass ‚Dante‘ deren Lachen wiedersehen wird, prophezeit Vergil schon im sechsten Purgatoriumsgesang (V. 48): „Tu la vedrai ridente e felice“. Nachdem ‚Dante‘ schließlich in Purgatorio XXXII Beatrices „santo riso“ (V. 5) wiedergefunden hat, da hält es ihn bis zum XXX. Gesang des Paradiso in der „antica rete“ der in der Vita Nova ausgebreiteten Liebe gefangen. Bisweilen lenkt dieses Lachen ‚Dante‘ geradezu von dem ab, was er zu unternehmen begonnen hat – vom himmlischen Paradies und seiner Dichtung: Obwohl bereits tief in die Schau des Paradieses vorgedrungen, glaubt der Wanderer im fünfzehnten Gesang in den lachenden Augen Beatrices sein persönliches (Alternativ-)Paradies zu

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erblicken: „Chè dentro alli occhi suoi ardeva un riso / Tal, ch’io pensai co’ miei toccar lo fondo / Della mia grazia e del mio paradiso.”60 Die letzte Nennung von Beatrices „dolce riso“ im Paradiso, die den Bogen zurückschlägt zum „primo giorno ch’ i’ vidi il suo viso“ – also zum Beginn der Liebesgeschichte der Vita Nova –, zeigt den textinternen Dante im deutlichen Konflikt zwischen dem Lob ihrer Schönheit und ihres Lachens und der Verpflichtung, endlich die Dichtung seines Paradiesweges fortzusetzen: „ma or convien che mio seguir desista / più dietro a sua bellezza, poetando, /e all’ultimo suo ciascun artista.“61 Dass schließlich riso im Paradiso neunmal als Reim erscheint und damit die Neun als allegorische Zahl Beatrices aus der Vita Nova („ella era uno nove“)62 noch einmal auf makrotextueller Ebene des Paradiso mit dem Wort riso verknüpft wird, passt zu gut in Dantes Denk-Universum, um zufällig sein zu können.63 Obwohl ‚Dante‘ im Purgatorio bekennt, er habe Beatrices „santo riso“ wiedergefunden, gewinnt ihr Lachen erst in der Divina Commedia die Prominenz, die ihr aufgrund der Sprachlosigkeit des lyrischen Ich in der Vita Nova abging. Denn erst im sacro poema kann Dante den zeitgenössischen theologischen Diskurs in voller Breite einsetzen und damit auch zu einer Sprache finden, mit der Beatrices Lachen in Worte gefasst werden kann. Der Preis für dieses Zur-Sprache-Finden des Lachens musste zwangsläufig das Herüberwechseln Beatrices aus dem Liebes- in den theologischen Diskurs sein – wenn sie ihr Herkommen auch im neuen Kontext nie ganz verleugnen kann. Erst Petrarca wird das durch Dantes Divina Commedia derart etablierte Lachen der Geliebten zurückführen in die Liebeslyrik, in der der dolce riso der Dame dann eine ganz andere – weltliche – Prominenz erlangen kann als in der italienischen Liebeslyrik vor ihm.

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Sayers, Dorothy. Die neun Schneider. Übs. v. Helene Homeyer. Frankfurt a. M., 1971, S. 252. Dt. Fassung: Chapman, Graham, u.a.: Monty Python’s Flying Circus 1. Sämtliche Worte. Übs. v. Sven Böttcher, Eugen Egner u.a. Zürich, 2000, S. 265. Vgl. etwa Le Goff, Jacques. Das Lachen im Mittelalter. Übs. v. Jochen Grube. Stuttgart, 2004, S. 47-68. Vgl. Resnick, Irven M. „‚Risus Monasticus‘. Laughter and Medieval Monastic Culture“. Revue Bénédictine 97 (1987): 90-100. Vgl. insgesamt auch Braet, Herman, Latré, Guido u. Verbeke, Werner (Hg.) Risus medievalis. Laughter in Medieval Literature and Art. Leuven, 2003, und Bouché, Thérèse u. Charpentier, Hélène (Hg.) Le rire au moyen âge dans la littérature et dans les arts. Bordeaux, 1990. Der Erstdruck des ‚Lentulus-Briefes‘ erfolgte im Leben Christi von Ludolph dem Karthäuser, Köln 1474. „According to the manuscript of Jena, a certain Giacomo Colonna found the letter in 1421 in an ancient Roman document sent to Rome from Constantinople. It must be of Greek origin, and translated into Latin during the thirteenth century, though it received it’s present form at the hand of humanists of the fifteenth or sixteenth century”, Catholic Encyclopedia, http://www.new advent.org/cathen/09154a.htm [19.01.2006]. The Apocryphical New Testament. Hg. v. Montague Rhodes James. Oxford, 1926, S. 477. Bachtin, Michail M. Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M., 1990, S. 32. Ebd., S. 33. Eco, Umberto. Il nome della rosa. Milano, 1980, S. 477. Fichte, Joerg O. „Ergebnisprotokoll der Sektion ‚Mittelalter‘“. Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Hg. v. dems., Lothar Fietz u. HansWerner Ludwig. Tübingen, 1996. 117-120, S. 118. Vgl. Le Goff (Anm. 3), S. 17; dieser hält Curtius’ Buch erstaunlicherweise für „ein heute zwar weithin unbekanntes Werk, aber trotzdem eine Goldgrube für Texte, Themen und Reflexionen”. Vgl. Curtius, Ernst Robert. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 10. Aufl. Bern, 1984, S. 421-423. Vgl. http://clt.brepolis.net/clt [17.6.2007]. Vgl. Platon. Sämtliche Dialoge IV. Philebos. Hg. v. Otto Appelt. Hamburg, 2004, S. 99 f. Platon. Sämtliche Dialoge V. Der Staat. Hg. v. Otto Appelt. Hamburg, 2004, S. 91.

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Marc Föcking Marius Victorinus. „De definitionibus“. Tulliana et Mario-Victoriniana. Hg. v. Thomas Stangl. München, 1888, abgedr. In : Hadot, Pierre. Marius Victorinus. Recherches sur la vie et ses oeuvres. Paris, 1971. S. 338 (1.12 f.). Zur Aristotelischen Analytik vgl. Zemb, Jean Marie. Aristoteles. Reinbek bei Hamburg, 1961, S. 68. Aristoteles. Nikomachische Ethik. Hg. v. Günther Bien. Übs. v. Eugen Rolfes. 4. Aufl. Hamburg, 1985, S. 96f. (IV, 1128a5). Zur Platonischen wie Aristotelischen Auffassung des Lachens vgl. Kablitz, Andreas. „Lachen und Komik als Gegenstand frühneuzeitlicher Theoriebildung: Rezeption und Verwandlung antiker Definitionen von ‚risus‘ und ‚ridiculum‘ in der italienischen Renaissance“. Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Hg. v. Lothar Fietz, Joerg O. Fichte u. Hans-Werner Ludwig. Tübingen, 1996. 124-132. Biblia sacra vulgatae editionis. Hg. v. P. Michael Hetzenauer. Regensburg, Rom, 1922, S. 1140. Hieronymus. In Ephesim. Patrologia Latina XXVI. Hg. v. Jacques Paul Migne. Paris, 1844, Sp. 520a. Vgl. Le Goff (Anm. 3), S. 53. Vgl. Augustinus. De vera religione. Corpus Christianorum. Series Latina XXXII. Hg. v. Klaus-Detlef Daur. Tournhout, 1962, S. 187-260, Kap. 40, Z. 36: „qui gaudent miseriis alenis et risus sibi ac ludicra spectacula vel exhiberi volunt eversionibus et erroribis aliorum“. Augustinus. Confessionum libri tredecim. Corpus Christianorum. Series Latina XXVII. Hg. v. Luc Verhejen. Tournhout, 1981, II, 9 („risus erat titillato corde, quod fallebamus eos, qui haec a nobis fieri non putabant et vehementer nolebant“). Vgl. Resnick (Anm. 4), S. 93-96, und Le Goff (Anm. 3), S. 45-68. Marius Victorinus (Anm. 15), S. 338 (1.12 f.). Und zwar im Wesentlichen, aber nicht allein dort, wo die aristotelische Kategorie des proprium erläutert wird: So bei Martianus Capella in De nuptiis Philologiae et Mercurii (IV, 348) oder in Boethius ‘In Porphyrii Isagogen commentorum editio prima (I, 4), vgl. Resnick (Anm. 4), S. 98 f. Isidor von Sevilla. Etymologiarum sive Originum libri XX. Hg. v. Wallace Martin Lindsay. Oxford, 1911, II, 25, 1-4. Vgl. Thomas von Aquin. De ente et essentia. Editio Leonina XLII. Rom, 1976, S. 367-381 (IV, 380, 87): „sicut risibile consequitur in homine formam, quia risu contigit ex aliqua apprehensione anime hominis“. Vgl. Dufeil, Michel Marie. „Risus in Theologia Sancti Thomae“. Le rire au moyen age dans la littérature et dans les arts. Hg. v. Thérèse Bouché und Hélène Charpentier. Bordeaux, 1990. 147-163, S. 149, 157. Vgl. Le Goff (Anm. 3), S. 65. Vgl. Dufeil (Anm. 26), S. 155. Salimbene da Parma. Cronica. Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis CXXV. Hg. v. Giuseppe Scalia. Tournhout, 1998, S. 181; vgl. Tertullian. De patientia. Corpus Christianorum. Hg. v. Jan W. Borleffs, Tournhout,

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1954, XV, 4: „motus frequens capitis in diabolum et minax risus“ steht hier im Gegensatz zu „os taciturnitas honore signatum“. Vgl. Hieronymus. In Hieremiam prophetam libri VI. Corpus Christianorum. Series Latina LXXIV. Hg. v. Siegfried Reiter. Tournhout, 1960, VI, II, 115, 21: „in hebraico autem non tam ‚dolor‘ est, qui graece oduné, quam meidiama, quod nos interpretari possumus ‚rictum‘ oris dolore contracti et habentem risus similitudinem“. Vgl. zum rictus bei Thomas von Aquin: Dufeil (Anm. 26), S. 155. Gregor der Große. Moralia in Job. Corpus Christianorum. Series Latina CXLIII. Hg. v. Marcus Adriaen. Tournhout, 1979-81, VIII, 52, 10 („nam risus cordis tunc de laetitia nascetur securitatis“). Bernhard von Clairvaux. „Sermones de diversis”. Bernardi opera 6.1. Hg. v. Jean Leclerq u. Henri Marie Rochais. Rom, 1970, S. 350. (Sermo 93). Vgl. Dufeil (Anm. 27), S. 151. Vgl. Thomas de Celano. „Vita prima sancti Francisci, Legendae S. Francisci Assisiensis saeculis XIII et XIV conscriptae”. Analecta Franciscana X. Quaracchi, 1924-41, S. 1-117 (I, 38,15: „Casti amplexus suaves affectus osculum sanctum dulce colloquium risu modestus iucundus oculus simplex animus supplex lingua placabilis responsio mollis idem propositum promptum obsequium et indefessa manus“). Vgl. Resnick (Anm. 4), S. 92 f. Vgl. Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Hg. v. Alfons Deissler u. Anton Vögtle. 11. Aufl. Freiburg, Basel u. Wien, 2000, S. 33. Vgl. Le Goff (Anm. 3), S. 31. Ambrosius. De Isaac vel anima. Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum XXXII/1. Hg. v. Carolus Schenkl. Wien, 1897, S. 641. Vgl. Ambrosius, „De Abraham II”. Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum XXXII/1. Hg. v. Carolus Schenkl. Wien, 1897, S. 636; Augustinus. De civitate dei. Corpus christianorum. Series Latina XLVII-XLVIII. Hg. v. Bernhard Dombart u. Alphonse Kalb. Tournhout, 1955, XVI, 26 („eum que nominavit isaac, quod interpretatur risus“), ebenso XVI, 31; von Sevilla, Isidor. Etymologiarum sive Originum libri XX. Hg. v. Wallace Martin Lindsay. Oxonii, 1911, VII, 7,3 („Ex hac ergo causa nomen accipit Issac; interpretatur enim risus“); Abaelardus, Petrus. Commentaria in epistulam Pauli ad Romanos. Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis XI. Hg. v. Éloi M. Buytaert. Tournhout, 1969, S. 41-340, II, 4, 915 („Dicitus et de Sara quod riserit occulte, post ostium; de Abraham vero quod riserit corde potius quam ore; vidilicet risus cordis gaudium intelligatur mentis [...]“) Zu Thomas von Aquins typologischer Deutung Isaaks vgl. Dufeil (Anm. 26), S. 149. Vgl. Beda Venerabilis. Libri quattuor in pricipium Genesis usque ad nativitatem Isaac et eiectionem Ismahelis adnotationum (sive Hexaemeron). Corpus Christianorum. Series Latina CXVIII. Hg. v. C. W. Jones. Tournhout, 1976, IV, cap. 17; Hrabanus Maurus. Expositio in Matthaeum. Corpus Christianorum. Con-

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Marc Föcking tinuatio Mediaevalis CLXXIV. Hg. v. Bengt Löfstedt. Tournhout, 2000, I, 23, 46 („Idem Isaac – risus – significat illum, de quo dixit ad pastores angelus: Adnuntio vobis gaudium magnum. [...] Et ipsa Veritas suis discipulis ait: Iterum videbo vos, et gaudebit cor vestrum“. Petrarca, Francesco. De viris illustribus II (Issac), veröffentlicht von Pierre de Nolhac in: ders. De viris illustribus‘ de Pétrarque. Paris 1890, S. 15. Enciclopedia Dantesca 4. Hg. v. Umberto Bosco u.a. Rom, 1970-1976, S. 977-978 (Lemma ,riso‘). Alighieri, Dante. Vita Nova. Hg. v. Guglielmo Gorni. Torino, 1996, S. 12. Alighieri, Dante. Opere. Hg. v. Michele Barbi u.a. Firenze, 1921, S. 203, V. 55-60. Antologia della poesia italiana. Duecento. Hg. v. Cesare Segre und Carlo Ossola. Torino, 1999, S. 43 f. Dante (Anm. 44), S. 238. Dante (Anm. 44), S. 222. Dante (Anm. 44), S. 698 (Purgatorio XXVIII, 94). Dante (Anm. 44), S. 500 (Inferno V, 133-135). Vgl. Enciclopedia Dantesca (Anm. 42), S. 987. Dante (Anm. 44), S. 553 (Inferno, XXI, 133-139). Dante (Anm. 44), 675 (Purgatorio XXII, 26). Dante (Anm. 44), S. 699 (Purgatorio XXVIII, 146f.). Zudem taucht der sorriso Beatrices nur einmal in Reimposition auf, riso hingegen neunmal, vgl. Dauphiné, James, „Le rire de Béatrice“. Le rire au moyen age dans la littérature et dans les arts. Hg. v. Thérèse Bouché und Hélène Charpentier. Bordeaux, 1990, 138-143, S. 138. Zu Beatrices Abschiedslächeln siehe Borges, Jorge Luis, „La última sonrisa de Beatriz“. Borges, Jorge Luis. Nueve ensayos dantescos. Madrid, 2002, S. 91-98. Dante (Anm. 44), S. 698 (Purgatorio XXVIII, 96). Dante (Anm. 44), S. 601 (Purgatorio I, 20). Dante (Anm. 44), S. 790 (Paradiso XXI, 4-12). Dante (Anm. 44), S. 811 (Paradiso XXVII, 4). Dante (Anm. 44), S. 827 (Paradiso XXXI, 50). Dante (Anm. 44), S. 769 (Paradiso XV, 34). Dante (Anm. 44), S. 822 (Paradiso XXX, 31-33). Dante (Anm. 43), S. 171. Vgl. Dauphiné (Anm. 54), S. 142.

Die biblische Paradieserzählung als ‚Gründungsmythos‘ der Geschlechter Helen Schüngel-Straumann Feministische Theologie und Exegese haben zur feministischen Wissenschaft ein gespanntes Verhältnis. Große Teile der feministischen Bewegung sind der Meinung, die Bibel sei so patriarchal, dass sie für Frauen nicht mehr akzeptabel ist (so z.B. Mary Daly), andere, mehr christlich-konservativ geprägte Frauen haben Reserven gegen feministische Theologie. So führt eine Exegetin, die sich zugleich als Feministin bezeichnet, häufig einen Zweifrontenkampf: Sie muss sich auf beiden Seiten immer rechtfertigen. Dies ist in nicht geringem Maß der christlichen Auslegung der ersten Kapitel der Bibel zu verdanken. Die ersten drei Kapitel der Bibel (Gen 1-3) sind die Schicksalstexte von Frauen durch mehr als zweitausend Jahre gewesen. Sie haben vor allem ein christliches, nicht-egalitäres Frauenbild geprägt. Diese Konstruktion der Geschlechterverhältnisse, sprich die Überordnung des Mannes und die Unterordnung der Frau, das Verständnis des Männlichen als Geist, der über das Weibliche (Körper, Leib, Sexualität) den Vorrang beansprucht, durchzieht die ganze abendländische Geistesgeschichte und wurde immer wieder unter Zuhilfenahme biblischer Texte der Genesis theologisch (d.h. von Gott verfügt, in der ‚Schöpfungsordnung‘ begründet) legitimiert und untermauert. Dies gilt in Bezug auf das christliche Frauenbild. Im jüdischen Verständnis ist es weniger ausgeprägt, weil es dort kein correct reading, kein Dogma gibt. Die jüdischen Interpretationen haben den christlichen voraus, dass sie sich nicht mit den Implikationen der christlichen Auslegungsgeschichte, die stark vom Neuen Testament ausgingen, auseinandersetzen müssen. Vor allem haben sie keinen Anteil gehabt an der unseligen Entgegensetzung von Eva und Maria, mit der die christliche Tradition seit dem 2. Jahrhundert belastet ist, ebenso wenig wie an den dogmatischen Auslegungen über den so genannten Sündenfall und die ‚Erbsünde‘, wie sie seit Augustinus bestehen. Dies ist für das Gesamtverständnis wichtig. Interessant wäre auch die Auseinandersetzung mit dem Islam. Die Diskussion ist auch hier im Gange. Weil die Aussage so typisch ist, sei hier lediglich die Außenansicht einer Islamwissenschaftlerin zitiert, die nach längerem Studium der christlichen Auslegungsgeschichte

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von Gen 1-3 folgende Quintessenz sieht (sie spricht von „drei theologischen Grundannahmen“): Diese drei Annahmen sind, dass das erste Wesen, das Gott erschaffen hat, ein ‚Mann‘ und nicht eine Frau war, da die Frau angeblich aus der Rippe des Mannes geschaffen wurde, daher abgeleitet und ontologisch sekundär ist; dass die ‚Frau‘ und nicht der Mann das Hauptwerkzeug dessen war, was meist als ‚der Sündenfall‘ oder ‚die Vertreibung aus dem Paradies‘ bezeichnet wird und daher allen ‚Evastöchtern‘ mit Hass, Misstrauen und Verachtung begegnet werden muss; und dass die Frau nicht nur aus dem Mann, sondern auch ‚für‘ den Mann geschaffen wurde, was ihre Existenz nur instrumental, nicht fundamental macht.1

Das eigentliche Problem liegt somit nicht in den biblischen Texten selbst, sondern in einer mehr als zweitausendjährigen androzentrischen Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte. Dabei hat besonders das Neue Testament eine verhängnisvolle Rolle gespielt, weil es bereits die hellenistisch geprägten frauenfeindlichen Rezeptionen, wie sie sich auch in zahlreichen – schon vorchristlichen – Apokryphen2 fanden, benutzt hat. Die antike Rezeption im griechischsprachigen Raum hat die Bibel schon nicht mehr im hebräischen Urtext, sondern zumeist in der griechischen Übersetzung der Septuaginta (LXX) gelesen, wobei zahlreiche frauenfeindliche Argumente aus der griechischen Popularphilosophie, u.a. auch die Verbindung der bösen, verführerischen Eva mit Pandora, der Frau, die in der griechischen Tradition alles Unglück über die Menschheit bringt, eine Rolle spielt. Die lange Rezeptionsgeschichte hier auch nur in groben Zügen darzulegen, ist nicht möglich, sie füllt ganze Bibliotheken. Vor zwanzig Jahren habe ich diese Entwicklung bereits in einem Buch dargestellt.3

I. Geschlechtsspezifische Aspekte in Genesis 2 und 3 Die beiden Kapitel, die von einem Garten handeln (das Wort ‚Paradies‘ kommt nicht vor) sind vom gleichen Verfasser und stammen aus der Königszeit Israels, also aus der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. Dass es sich um eine mythische Erzählung handelt, die mit anderen, älteren Erzählungen aus dem mesopotamischen Raum verwandt ist, ist inzwischen Gemeingut der Exegeten. Darum sind alle historisch geprägten Fragestellungen an die Texte von vornherein verkehrt. Die beiden Kapitel, die die Ambivalenz des menschlichen Lebens schildern, sind parallel (nebeneinander) zu lesen: Gen 2 schil-

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dert, wie Gott die Erschaffung von Mann und Frau geplant hat, d.h. das ideale Miteinander der Geschlechter, Gen 3 dagegen die Verhältnisse, wie sie de facto sind. Sobald man nach Vorher oder Nachher fragt, z.B. nach einem ‚Urzustand‘, der verloren gegangen ist, wird die Intention der Erzählung verfehlt. Für mythische Texte ist es charakteristisch, dass sie zeit- und ortlos sind. Sie gelten für alle Menschen, nicht nur für ein bestimmtes Volk, hier Israel. Die Geschichte Israels beginnt erst mit Abraham in Gen 12. In Gen 1-11, der so genannten Urgeschichte, sind Erzählungen gesammelt, die über und jenseits aller Geschichte spielen, Menschheitserfahrungen. Sie sind „am Anfang“ situiert, so das erste Wort der Bibel. Gen 2-3 sind seltsam ortlos, es wird ein „Garten im Osten“ angegeben, eine äußerst vage Geographie. Die Personen haben auch keine Namen, sie sind nur mit ihren Gattungsbezeichnungen benannt oder mit ihren Rollen, „Mensch“ und – später – „Mann und Frau“. Damit wäre ich schon bei einem ausschlaggebenden Missverständnis der hebräischen Texte, nämlich bei der Rede von ‚Adam‘ und ‚Eva‘. Die Namen der beiden ersten Menschen finden sich in den Texten selbst nicht, sondern sind erst seit der Übersetzung ins Griechische gebräuchlich geworden. Sie halten sich mit konstanter Bosheit bis in die heutige Reklame-Kultur. Dabei ist dies gerade für das gender-Verständnis ein äußerst wichtiger Punkt. Darum sei gleich zu Anfang diese wichtige Weichenstellung in der Interpretation am Text überprüft. Unterstrichen wird dies noch dadurch, dass in der gesamten hebräischen Bibel die beiden Namen Adam und Eva zusammen nicht mehr vorkommen! Das ist doch sehr erstaunlich, sollten dies die Namen für das erste Menschenpaar gewesen sein.4

II. Anthropologische Semantiken der Paradieserzählung Der Verfasser der beiden Kapitel, um die es hier geht, arbeitet äußerst gern mit Wortspielen. Mindestens vier solcher Wortspiele setzt er ein, wobei sich einige auch in den folgenden Kapiteln der Urgeschichte fortsetzen. (1) Das erste und zentrale Wortspiel ist ‚adam (‚Mensch‘) und ‚adamah (‚Erde‘, ‚Ackerboden‘); ‚adamah, der feminine Begriff ist eine fast personifizierte Größe. Gen 2,6 spricht vom „Angesicht der Erde“ (pene ha’adamah), dieser Begriff kommt in Gen 6 zu Beginn der

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Sintflut wieder. ‚adamah (‚Mutter Erde‘ vgl. Sir 40,1) ist dem daraus entstandenen Geschöpf ‚adam im Text vorgeordnet. ‚adam (‚Erdling‘) wird aus der ‚adamah geschaffen und bezeichnet die Menschheit insgesamt, Männer und Frauen; ‚adam ist ein Kollektivbegriff, er kommt nur im Singular vor, er kann übersetzt werden mit ‚Mensch‘, ‚Menschheit‘ oder ‚alle Menschen‘. Gen 6,1 beginnt die Erzählung von den Übergriffen der Göttersöhne auf die Menschentöchter mit dem Satz: „Als aber die Menschen [‚adam] anfingen, sich auf der Erde [‚adamah] zu vermehren und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Göttersöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich alle von ihnen, die ihnen gefielen, zu Frauen.“ Alle Untaten der Menschen vor der Flut sind auf der ‚adamah situiert, so der Mord Kains an seinem Bruder Abel (Gen 4), die Gewalttaten Lamechs, die Untaten der Göttersöhne, die sich an den Menschentöchtern vergreifen (Gen 6,1-4), bis zu der pauschalen Aussage über die Verderbtheit der ganzen Menschheit (‚adam), die Gott in der Rede vor der Flut beklagt (Gen 6,5-7). Wären in der Sintfluterzählung mit ‚adam nur die Männer gemeint, wären die Frauen nicht ertrunken – ein absurder Gedanke!5 ‚adam und ‚adamah ist somit das erste und tragende Wortspiel in Gen 2 und 3. ‚adamah wird dann in der Kain und Abel-Erzählung (Gen 4), wo das Blut Abels von der ‚adamah zu JHWH6 schreit sowie in der Vertreibung Kains „vom Angesicht der Erde“ (pene ha’adamah) wiederkehren. In der älteren Version der Fluterzählung, die vom gleichen Verfasser stammt wie Gen 2 und 3, wird Bezug auf die Erschaffung von ‚adam aus der ‚adamah genommen, wenn JHWH sagt: „Ich will die Menschen [‚adam], die ich geschaffen habe, vom Angesicht der Erde [pene ha’adamah] vertilgen“ (Gen 6,7). Auch in dem SchlussFazit Gottes von Gen 3, wo JHWH-‚elohim7 sagt: „‚adam ist geworden wie unsereiner“, entspricht dem kollektiven ‚adam der göttliche Plural. Selbstverständlich bezieht sich die Aussage auf beide Geschlechter. Beide haben ja vom Baum der Erkenntnis gegessen. In allen Erzählungen der Urgeschichte bedeutet ‚adam damit Mensch und schließt regelmäßig die Frau ein.8 Eine traditionsgeschichtliche Betrachtung unserer Texte kommt zum Ergebnis, dass der Verfasser eine Vorlage bearbeitet hat, wie sie ähnlich in anderen altorientalischen Mythen vorliegt: ‚adam wird aus der ‚adamah geschaffen (‚getöpfert‘); ‚adam erhält ein Verbot; ‚adam übertritt das Verbot; ‚adam wird aus dem Garten vertrieben und muss wieder zur ‚adamah zurück, d.h. sterben. Ein ähnlicher Aufbau liegt einem Mythos zugrunde, der in Ezechiel 28 überliefert ist. Alle ge-

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nannten Aussagen betreffen Mann und Frau. Wäre dem nicht so, würde nur der Mann aus dem Garten vertrieben, zudem müsste die Frau nicht sterben, d.h. zur ‚adamah zurückkehren. Die Vorlage, die der Verfasser bearbeitet hat, macht somit Aussagen über die gesamte Menschheit, über alle Menschen. Aus dieser Vorlage stammt auch der Baum des Lebens, der in der Mitte des Gartens steht. Dieser Baum des Lebens oder das Lebenskraut spielt in allen altorientalischen Schöpfungsmythen eine zentrale Rolle, am bekanntesten ist hier das Gilgamesch-Epos. Inkonsequenzen in unserem Text ergeben sich daraus, dass man in der Antike ein neues, eigenes Anliegen einfach hinzufügen konnte, ohne die Texte logisch zu glätten, wie das ein moderner Lektor tun würde. So fügt unser Verfasser dem Lebensbaum den „Baum der Erkenntnis von Gut und Bös“ hinzu, so dass nun in der Mitte des Gartens eigentlich zwei Bäume stehen. Dies hat antike Autoren nicht gestört, in der Rezeptionsgeschichte hat dies aber zu vielen abenteuerlichen Interpretationen geführt. Weil nun aber der Verfasser von Gen 2-11 besonders an Beziehungen interessiert war, fügt er in das Grundkonzept mit dem Begriff ‚adam die Erschaffung der Frau eigens hinzu. In Gen 2 und 3 soll das grundlegende und erste Verhältnis, nämlich die Beziehung zwischen Mann und Frau geklärt werden, in Gen 4 dann das Verhältnis von Brüdern (Kain und Abel), weiter dann das von Hirten und Ackerbauern sowie von Stadt- und Landbewohnern, in Gen 6 sogar die Beziehungen zwischen Himmlischen und Irdischen. Immer werden dabei die Anfälligkeiten, die Störungen der Beziehungen thematisiert. Bei dieser Überarbeitung älterer Vorlagen, bei denen die Frau fehlte – es gibt im ganzen Alten Orient keine einzige Schöpfungserzählung, die die Erschaffung der Frau eigens thematisiert – kommt es natürlich zu einer Reihe von Unebenheiten und Widersprüchen, an denen sich Generationen von Interpreten die Zähne ausgebissen haben. 9 Als Fazit dieser Ausführungen zum ersten Wortspiel steht die Erkenntnis, dass das zuerst erschaffene Menschenwesen kein Mann ist. ‚adam (‚Erdling‘) meint die Menschheit insgesamt und schließt männlich und weiblich ein. Erst die hellenistische Interpretation hat ‚adam an vielen Stellen als Eigennamen gelesen und entsprechend übersetzt (Adam). Damit wurde der Sinn verändert. Zahlreiche Aussagen, die für Mann und Frau in der gleichen Weise gelten, wurden so auf den Mann eingeschränkt. Diese Interpretation, die vor allem über das Neue Testament verheerende Folgen für Frauen hatte, ist die Crux der gesamten Auslegungsgeschichte. Bei dieser Sicht fallen Frauen aus wesentlichen Aussagen einfach heraus, z.B. bei der Gottebenbild-

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lichkeit von Gen 1. Die Wiedergabe von ‚adam ist somit der Knackpunkt bei der Interpretation von Gen 2 und 3 sowie der Urgeschichte überhaupt. Der erste Satz von den „drei Grundannahmen“ Riffat Hassans aus islamischer Sicht ist somit durch den Text selbst von Gen 2 widerlegt; das zuerst geschaffene Wesen war kein Mann. 10 (2) Zunächst sollten meine Ausführungen auf die Kapitel 2 und 3 der Genesis beschränkt bleiben. Es kann aber nicht angehen, die theologisch so wichtigen Aussagen über die Gottebenbildlichkeit der Menschen (‚adam), wie sie in Gen 1 berichtet werden, einfach zu übergehen. Der Grund dafür ist, dass schon in der gesamten Antike und auch in der christlichen Auslegungsgeschichte die ersten drei Kapitel einfach vermischt worden sind, d.h. erst seit der Aufklärung wurden die beiden Komplexe nach den unterschiedlichen Verfassern, der anderen Zeit und der anderen Sprache berücksichtigt. Gen 1, ein Kapitel, das aus dem babylonischen Exil stammt (6. Jh. v. Chr.), und den Anfang der gesamten hebräischen Bibel bildet, ist in der Exegese wesentlich weniger umstritten als die beiden narrativen Kapitel Gen 2-3. Dem Kernsatz für die Erschaffung des Menschen am Ende der sechs Schöpfungstage (Gen 1,27) geht ein ausdrücklicher Vorsatz Gottes voraus: Und Gott sagte: „Lasst uns Menschen [‚adam] machen als unser Bild: etwa in unserer Gestalt, damit sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über alles wilde Getier der Erde und über alles Kriechgetier, das auf der Erde kriecht.“ Und es erschuf Gott den Menschen [‚adam] als sein Bild; als Bild Gottes erschuf er ihn, männlich und weiblich erschuf er sie. (Gen 1,26f )

Der springende Punkt einer verkehrten Auslegung dieser Sätze hängt wiederum am Begriff ‚adam, der in den drei Zeilen von Vers 27 grammatisch zwischen Singular und Plural wechselt, weil ‚adam nur im Singular vorkommt. Bei der letzten Zeile „männlich und weiblich“ muss daher das Pronomen („sie“) im Plural stehen, obwohl sich dieser Satzteil auf das singulare, gesamtmenschliche ‚adam bezieht. Kein Exeget kann heute mehr bezweifeln – so er sich denn nicht lächerlich machen will –, dass hier von der gesamten Menschheit, insbesondere von den beiden Geschlechtern, die als Bild Gottes erschaffen werden, die Rede ist. Was dies genau bezeichnet, sei an dieser Stelle nicht detailliert ausgeführt, auch darüber gibt es eine uferlose Diskussion. Es ist jedenfalls etwas Bleibendes, zutiefst mit dem Menschsein an sich Verbundenes, es geht weder durch eine wie auch

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immer geartete Sünde noch durch die Sintflut verloren. Im Gegenteil: Explizit wird nach der großen Flut die Aussage wiederholt und bestätigt (Gen 9,6, wo auch der Segen wiederholt wird, diesmal über Noah und seine Nachkommen). Die Inhalte der Aussagen über die Gottebenbildlichkeit des Menschen sind im Übrigen in das eingegangen, was heute als Menschenrechte bezeichnet wird, wenn dies auch nicht ohne Auseinandersetzungen geschah. Das Problem in der Antike war nun, dass man wie bei der Rede von Adam und Eva den Begriff ‚adam, wie er in Gen 1 gebraucht wird, zunehmend auf den Mann eingeschränkt hatte. Ein Mensch im Vollsinn war nur der Mann, darum kann das Bild Gottes im Vollsinn eigentlich auch nur der Mann sein. Diese Einschränkung hat schon Paulus aufgrund der antiken Interpretationen von Gen 1 übernommen, indem er im 1. Korintherbrief sagt: „Jedes Mannes Haupt ist Christus, / das Haupt der Frau ist der Mann, / das Haupt Christi aber ist Gott.“ (1 Kor 11,3) Mit dem Haupt-Sein ist die Über- und Unterordnung gemeint, eine klare Hierarchie liegt hier vor: Gott – Christus – Mann – Frau, wobei die Frau an die letzte Stelle kommt. Weil das Neue Testament ernster genommen wurde als die grundsätzliche Aussage des Alten Testaments auf der ersten Seite der Bibel, haben diese Sätze und die folgenden von 1 Kor 11 eine geradezu katastrophale Wirkung für das christliche Frauenbild entfaltet. Die Fortsetzung in 1 Kor 11 bezieht sich dann ausdrücklich auf den biblischen Ursprungstext, indem Paulus direkt auf Gen 1,27 Bezug nimmt: Der Mann ist Gleichbild und Abbild Gottes,11 die Frau aber ist Abbild des Mannes. Denn: Nicht ist der Mann aus der Frau, sondern die Frau aus dem Mann. Nicht ist der Mann wegen der Frau geschaffen, sondern die Frau wegen des Mannes.12 (1 Kor 11,7-9)

Der erste Satz wird in der lateinischen Bibel, der so genannten Vulgata, die für das ganze Mittelalter verbindlich war, so übersetzt: Vir imago et gloria Dei est, mulier autem gloria viri est (‚Der Mann ist Bild und Abglanz Gottes, die Frau dagegen Abglanz des Mannes‘). Die Folgen dieser falschen Überlieferung und Übersetzung dauern bis heute an, wenigstens in bestimmten Fragen. Denn auch Thomas von Aquin, sozusagen Hoftheologe des gesamten Mittelalters, hat die Auffassung dieser verminderten Gottebenbildlichkeit der Frau übernommen. Er hat ein aristotelisches Menschenbild zugrunde gelegt, das auf falschen biologischen Voraussetzungen beruhte. Dies

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kann man ihm nicht vorwerfen. Dass man aber rund 800 Jahre später die Folgerungen, die daraus gezogen wurden, noch immer nicht berichtigt hat, ist ein Skandal. Vor allem wegen dieser Minderbewertung der Gottebenbildlichkeit der Frau wird bis heute u.a. in der katholischen Kirche der Ausschluss von Frauen aus allen Ämtern begründet. Ich zitiere hier den entscheidenden Satz des Thomas, der eine klare Parallelsetzung von ‚Mann‘ und ‚Gott‘ aufweist: Vir est principium mulieris et finis, sicut Deus est principium et finis totius creaturae. (‚Der Mann ist Ursprung der Frau und ihr Ziel, so wie Gott Ursprung und Ziel aller Kreatur ist‘; STh I 93 a 4.ad 1)

Solche Sätze liegen auch noch päpstlichen Verlautbarungen wie Mulieris Dignitatem (1988) zugrunde.13 Die Interpretation der Texte sowohl von Gen 2-3 wie auch von Gen 1 arbeiten somit Hand in Hand für eine Minderbewertung der Frau, für eine Zementierung des männlichen Anspruchs auf Überordnung. Dies liegt in erster Linie daran, dass alle Übersetzer und Interpreten der Bibel Männer waren, und zwar bis ins 20. Jahrhundert. (3) Das Wortspiel ‚‚iš’ – ‚‚iššah’ (‚Mann‘ – ‚Frau‘: Außer dem zentralen Wortspiel ‚adam – ‚adamah enthält Gen 2-3 noch ein zweites: ‚iš – ‚iššah, das besonders für die gender-Rollen zentral ist. Die beiden Begriffe für Mann und Frau sind übrigens nur klanglich ähnlich, sie haben jedoch eine unterschiedliche Wortwurzel. Insofern ist die Übersetzung Luthers mit „Mann“ – „Männin“ heute philologisch überholt. Diese enthielt ja auch wieder die überlieferte Auffassung, dass die Frau irgendwie vom Mann abgeleitet sei. Nachdem Gott festgestellt hatte, es sei nicht gut für ‚adam, allein zu sein, will er für ihn eine Hilfe schaffen. Daraufhin kreiert er aus der ‚adamah (wie beim ersten Menschen!) verschiedene Tiere, die aber dem Menschen nicht entsprechen.14 So lässt Gott einen Tiefschlaf auf ‚adam fallen, entnimmt ihm eine Seite und baut daraus eine Frau (iššah). Es wird hier ein anderes Verb gebraucht als bei der Erschaffung von ‚adam, nämlich banah (‚bauen‘), ein Verb, das auch für den Tempelbau verwendet wird. Gott führt die neugeschaffene Frau zu ‚adam, dieser ruft Vers 23 aus (wörtlich übersetzt): „Diese endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch, / Frau [‚iššah] soll sie genannt werden, / denn von Mann [‚iš] genommen ist diese [zot]!“ Dieser Höhepunkt des Kapitels 2 – der poetische Vers beginnt mit „diese“ und endet mit dem gleichen Ausdruck – will

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ätiologisch das Aneinanderhängen der Geschlechter begründen. Sie wollen, wie das Ende des Textes sagt, wieder „ein Fleisch“ werden, so wie sie ursprünglich aus einem Stück sind. Die Terminologie dieses Verses stimmt aber nicht mit dem Kontext überein. In der zweiten Zeile fällt erstmals in der Bibel das Wort ‚iš (‚Mann‘). Es heißt, ‚iššah sei vom ‚iš genommen, der Kontext sprach aber von ‚adam. Hier kann man die Nahtstelle der Vorlage erkennen: Einem Grundtext mit der allgemeinen Bezeichnung ‚Mensch‘ ist die Szene von der Erschaffung der Frau eingefügt worden. So ergibt sich eine terminologische Inkonsequenz. Damit werden aber auch die Weichenstellungen für spätere Fehlinterpretationen sichtbar. Denn der Text ist ohne Zweifel in einer patriarchalen Gesellschaft mit entsprechend androzentrischer Perspektive verfasst worden. Interessant ist, dass der Begriff ‚iššah (‚Frau‘) der erste geschlechtspezifische Ausdruck in Gen 2 und damit der ganzen Bibel ist. Erst nach der Erschaffung der Frau wird der Mensch zum Mann. So wie das feminine ‚adamah dem maskulinen ‚adam vorgeordnet war, ist das feminine iššah dem maskulinen ‚iš vorgeordnet. In der später dazugekommenen Erklärung in Vers 24: „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhangen“ finden sich wieder die beiden Begriffe ‚iš und ‚iššah. Der mit ‚Darum‘ eingeleitete Satz gibt sich klar als spätere Ergänzung zu erkennen, denn ‚Vater und Mutter‘ haben in diesem Text ja keine Grundlage. Der letzte Satz aber (Vers 25), der noch zur alten Vorlage gehörte, hat ‚adam ergänzt mit „und seine Frau“: „Der Mensch [‚adam] und seine Frau waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.“ Dieser Vers bringt die Überleitung zu Kapitel 3, wo es um Nacktheit und Scham geht. Nacktheit und Scham sind in der Antike sehr wichtig, sie sind das zentrale Thema von Gen 3, nicht ein wie auch immer gearteter ‚Sündenfall‘. (4) Am Schluss des 3. Kapitels findet sich erstmals so etwas wie ein Name. Dieses Wortspiel verbindet Kapitel 3 und 4 (Kain und Abel), nur an diesen zwei Stellen, in Gen 3,20 und im ersten Satz von Gen 4 findet sich der Name, der später mit ‚Eva‘ wiedergegeben wird, hawwah, vom Wort haj (‚Leben‘) abgeleitet. Es wird auch damit begründet: „denn sie ist [wurde] Mutter alles Lebendigen“. Diese Benennung hat keinerlei Anhalt in Gen 2 und 3, denn dort geht es nicht um Kinder, sondern um die Beziehung der Geschlechter. Erst in Gen 4 wird die Geburt des ersten Kindes (Kain) thematisiert, und hier ist der Name auch passend.15 Bei dem Namen hawwah handelt es sich offenbar um den alten Namen einer Urmutter, der hier an vermeintlich passender Stelle ein-

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gefügt wurde. Dass er im Text schlecht verankert ist, zeigt auch die Tatsache, dass dieser wichtige Name, wie bereits erwähnt, in der ganzen hebräischen Bibel nicht mehr vorkommt. Die übliche Übersetzung mit ‚Mutter aller Menschen‘ ist auch falsch, richtig muss es heißen ‚Mutter alles Lebendigen‘ (col-haj) oder ‚allen Lebens‘. Solches kann von einem Menschen gar nicht ausgesagt werden, darum spricht hier viel dafür, dass der Titel einer alten Göttin an dieser Stelle eingefügt wurde. Dies ist jedenfalls heute Meinung zahlreicher Exegeten. 16

III. Die so genannte Sündenfallerzählung Theologisch am meisten frauenfeindlich hat in der Tradition gewirkt, dass der Frau die Schuld am so genannten Sündenfall, am Tod und dem schwierigen Schicksal der Menschheit überhaupt angelastet wurde.17 Dies ist vom Text her nicht gedeckt. Man hat z.B. nicht beachtet, dass Gen 2 und 3 keinen einzigen der mehr als ein halbes Dutzend hebräischer Begriffe für Sünde oder Schuld enthalten. Davon ist erst in Kapitel 4 die Rede, in der Geschichte von Kain und Abel. Hier warnt Gott Kain vor dem Mord an seinem Bruder Abel mit den Worten: „die Sünde lauert vor der Tür, du aber sollst sie beherrschen“ (Gen 4,7). Dass die Frau in Gen 3,1-5 die Hauptperson ist, die allein mit der Schlange spricht, ist fast immer dahingehend interpretiert worden, dass die Frau eine größere Nähe zur Sünde habe, dass sie anfälliger sei für das Böse, schwächer, fleischlicher, verführbarer usw. (Manche Kirchenväter haben sogar betont, dass sich der Satan/Teufel an den Mann, das Ebenbild Gottes (!) gar nicht gewagt hätte. Einmal wurde in der Tradition aus der Schlange – hebräisch maskulin und als ein Geschöpf Gottes bezeichnet (Gen 3,1) – der Teufel, weiter geht aus dem Satz hervor, dass die Frau nicht als Ebenbild Gottes betrachtet wird.)18 Was ist genau mit ‚Erkenntnis‘ gemeint, die die Frau hier sucht? Sie ist für sie zentral, sie will klug werden (der Mann dagegen ist in Gen 3, obwohl anwesend, völlig passiv, nicht daran interessiert; er isst nur). Die Schlange, wie sie in den mythologischen Texten vorkommt, ist ja u.a. auch ein Symbol für Weisheit. Diese Weisheit als weibliche Vorstellung ist sehr oft mit einem Baum verbunden. Sicher kann niemand behaupten, das Streben nach Weisheit oder der Wunsch, klug zu werden, sei etwas Verbotenes, etwas Schlechtes! Was wird nun genau mit dem Ausdruck „erkennen von gut und bös“

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in Gen 3 bezeichnet? Bei dieser Formel geht es nicht um etwas Moralisches, sondern um eine Ganzheitssaussage. Gutes und Böses erkennen kann man deuten als das Leben kennenlernen, Zusammenhänge durchschauen, aus der Naivität heraustreten, in die Geschichte eintreten und vieles andere. Auch im Gilgamesch-Epos wird der männliche Held, der noch bei den Tieren (!) lebt, durch eine Frau aus dem Naturzustand in das Leben eines zivilisierten Menschen eingeführt. Solche Traditionen waren unserem Verfasser geläufig. Der Begriff jada’ (‚erkennen‘), den er hier verwendet, heißt ‚sich mit etwas vertraut machen‘, ‚intim werden‘, ‚Erfahrung machen mit‘, und zwar ohne Berührungsängste. jada’ kann gebraucht werden für die tiefste Gotteserkenntnis wie auch für die geschlechtliche Begegnung von Mann und Frau wie es Gen 4,1 tut: „Und ‚adam [‚Mensch‘] erkannte seine Frau [hawwah], und sie wurde schwanger und gebar den Kain.“ ‚Gut und bös erkennen‘ schließt somit auch eine sexuelle Komponente ein, geht aber weit darüber hinaus. Wenn also der Verfasser hier dieses Motiv von Lebensbaum und Schlange verwenden wollte, dann konnte er gar nicht anders, als diesem Motiv die Frau zuzuordnen. Jeder Mensch ist seiner Zeit und deren Vorstellungswelt verpflichtet – dies gilt in alten Kulturen und Bilderwelten noch viel mehr als in modernen, wo jeder machen kann, was er will. Wie das veröffentlichte Bildmaterial zur altorientalischen Ikonographie – das heute ein ungeheueres Maß angenommen hat, von dem frühere Zeiten nichts wussten – zeigt, war der Verfasser diesen Zusammenhängen verpflichtet. Das Motiv Frau – Baum – Schlange gehört als Komplex zusammen und ist zunächst wertfrei. Die Folgerungen einer frauenfeindlichen Tradition gehen sämtlich an dem Text vorbei. Inzwischen ist solches Bildmaterial bekannt durch das große Werk von Urs Winter und Silvia Schroer.19 An der Grenze zwischen Kapitel 2 und 3 arbeitet der Verfasser nochmals mit einem Wortspiel, das zum Thema Wissen/Erkenntnis gehört. Es ist das vierte in diesen Texten, und zwar geht es um ‚arom (‚nackt‘) und ‚arum (‚klug‘, ‚weise‘). Da im Hebräischen nur die Konsonanten zählen, schreiben sich die Worte gleich, sie klingen auch ähnlich. Gen 2,25 hatte damit aufgehört: „Die Menschen waren nackt [‚arom], aber sie schämten sich nicht voreinander.“ In Gen 3,1 wird dann die Schlange eingeführt mit den Worten: „Die Schlange aber war klüger [‚arum, ‚listiger‘, ‚gerissener‘ – oder auch ‚nackter‘?] als alle Tiere des Feldes, die JHWH-‚elohim gemacht hatte.“ Der Verfasser spielt also mit den beiden Begriffen: Die Menschen sind nackt, und schämen sich nicht voreinander. Die Schlange ist klüger (nackter?) als alle Tiere des

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Feldes. Das Essen der Frucht sollte die Menschen klüger, weiser machen – aber, als ihnen die Augen aufgehen, erkennen sie nicht ihre größere Weisheit, sondern nur ihre Nacktheit (Gen 3,7). Die Schlange hatte eigentlich gar nicht gelogen, sie hat sich vielmehr nur um die Begriffe ‚nackt‘/‚klug‘ gewunden, und die Menschen gewinnen Erkenntnis, aber nicht die, die sie sich vorgestellt hatten. Die Reaktion ist eine solche der Scham: Sie machen sich aus Feigenblättern Schürzen, um ihre Nacktheit zu verdecken. Bei diesem vierten und letzten Wortspiel in den Texten von Gen 2 und 3 kann man ermessen, wie schwierig es ist, solche Feinheiten in einer Übersetzung adäquat wiederzugeben. Dies war vor allem in der Antike ein Problem, wo man grundsätzlich nicht mehr aus den Urtexten, sondern schon aus der griechischen, später dann aus der lateinischen Übersetzung zitiert hat. Dies gilt, wie oben gezeigt, bereits für das Neue Testament. Es bleibt als Resultat, dass beide Menschen, Mann und Frau, das Gebot Gottes übertreten. Das Essen vom verbotenen Baum wird in einem Satz erzählt, wobei wie in einem Stakkato von fünf Verben die Tat erzählt wurde: „Die Frau sah, […] sie nahm, aß […], gab auch ihrem Mann neben ihr, und er aß.“ (Gen 3,6) Die spätere Tradition hat in zahlreichen Apokryphen diesen einen Satz in viele Akte aufgeteilt, so dass es aussah, als hätte es einer langen Verführung durch die Frau gebraucht, damit auch der Mann aß. Nirgendwo kommt in der Erzählung bezüglich der Frau ein Wort wie ‚verführen‘ vor. Nur von der Schlange wurde gesagt, dass sie „täuscht“. Für den Verfasser sind Menschen, Männer und Frauen, von Anfang an solche, die die Gebote Gottes übertreten, wenn ihnen dies nur in passender Weise schmackhaft gemacht wird. So wie der Mensch zur Zeit des Verfassers ist, so war er auch am Anfang. Der Verfasser gibt keine Erklärung für das Böse in der Welt, er zählt lediglich in diesem und den folgenden Kapiteln die vielen Facetten des Bösen und der Gewalt auf. Der Mensch, wie er ihn sieht, soll diesen Möglichkeiten widerstehen, wie besonders Kapitel 4 zeigt. Alle diese Erzählungen haben auch zum Ziel zu zeigen, dass jeder Fortschritt, jede neue Erkenntnis, auch mit Gefahren verbunden ist. In Gen 3 finden sich drei Blöcke poetisch abgefasster Sprüche, die ganz offensichtlich aus unterschiedlichen Zeiten stammen und sukzessive gewachsen sind. In der ursprünglichen Vorlage kam nur ‚adam vor, und für ihn, den Menschen (Mann und Frau) gilt die Mühe auf der Ackererde und das Schicksal, wieder zur ‚adamah, zur Erde zurückzukehren. In diesem letzten der drei Sprüche kommt wieder das Wortspiel ‚adam und ‚adamah wie zu Beginn von Gen 2 zum

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Zuge. Beide Tatsachen entsprechen dem Leben im Alten Orient: Mann und Frau sind sterblich und beide arbeiten auf dem Feld und auf dem Acker. Eine Arbeitsteilung wie in der Frühen Neuzeit oder später gab es in dieser Zeit noch nicht (etwa nach dem mittelalterlichen Spruch ‚Und Adam grub, und Eva spann‘). In dem mittleren Spruch über die Frau geht es recht eigentlich um gender-Fragen. Zwei spezifische Themen für das Leben der Frau sind angesprochen, nämlich das Kindergebären und die Beziehung zum Mann. Der Verfasser schildert hier die Zustände, wie er sie in der Königszeit Israels vorfindet: Die Frau hat viele Mühen mit Schwangerschaft und Geburt – man denke an die hohe Kinder- und Frauensterblichkeit – und sie ist gesellschaftlich dem Mann untergeordnet. Diese Zustände werden durch den Textzusammenhang selbst als Unheilszustand benannt: So sollte es nicht sein. Diese Unheilszustände sind Folgen der Übertretung, Folgen des Auseinanderbrechens des Vertrauens, einmal zwischen Gott und Mensch, aber dann auch zwischen Mann und Frau, wo der eine die andere anklagt. Ihre Solidarität ist dahin, und von der Freude in dem Spruch von Gen 2 ist nicht mehr die Rede. Die geltende Geschlechterordnung in diesem Vers ist aus der Sicht des Verfassers korrigierbar, es werden Zustände genannt, wie sie nicht sein sollten. Leider hat aber die Tradition diese Sätze weitgehend als Gebot gelesen, was häufig durch eine falsche Übersetzung suggeriert wurde: „Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären […]. Er aber soll dein Herr sein!“20 Solche falschen Übersetzungen sind aus neueren Bibelübersetzungen weitgehend verschwunden, und die frauenfeindliche Interpretation wird auch zunehmend explizit in der exegetischen Literatur aufgearbeitet, manches kommt inzwischen schon in Lexika zum Ausdruck, leider aber noch kaum in der Praxis. Besonders gilt dies für den Satz über die Frau in Gen 3,16b, den Carol Meyers sogar für den problematischsten Satz in der ganzen hebräischen Bibel hält 21. Er drückt eine klare Geschlechterordnung aus: „Nach deinem Mann [‚iš] geht dein Verlangen, / er aber wird über dich herrschen!“ Der Begriff ‚verlangen‘, ‚sehnen‘ (tešukah) kommt außer an dieser Stelle nur noch zweimal im Alten Testament vor, und zwar in Gen 4,7 (dem schon zitierten Wort an Kain über die Sünde) und Hld 7,11. Im Hohenlied ist die Aussage genau konträr zu Gen 3,16b; hier sagt die Frau: „Ich gehöre meinem Geliebten, / und nach mir geht sein Verlangen [tešukah]“. Hier ist eine Gegenseitigkeit, ein Verhältnis ausgedrückt, wie es auch dem Jubelruf des Mannes in Gen 2 entspricht. Wo diese Gegenseitigkeit nicht mehr gewährleistet ist

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und der Mann seine Position zur Unterdrückung der Frau ausnützt, kommt es zur Verkehrung eines guten Zustandes. Das Hohelied im Alten Testament wird von zahlreichen Exeget/innen geradezu als Gegenstück zur so genannten Paradieserzählung gelesen.22

IV. Fazit Der biblische Text selbst ist bei Weitem nicht so frauenfeindlich wie eine lange christliche Rezeptionsgeschichte glauben macht. Vielmehr ist es erstaunlich, wie stark die Aussagen zur gender-Problematik die Gleichheit, die Gleichwertigkeit und die Stellung der Frau hervorheben, und dies trotz der Entstehung in einer klar patriarchal strukturierten Gesellschaft. Die negativen Konsequenzen, die eine lange frauenfeindliche Tradition gezogen hat, lagen zum großen Teil an einer unglücklichen Vermischung ursprünglich nicht zusammenhängender antiker Traditionen. Diese wurden weitergeführt von christlichen Theologen – ausschließlich Männern –, die ein großes Interesse daran hatten, ihre Vormachtstellung über die Frauen theologisch zu begründen sowie einen Sündenbock für Sünde, Tod und Übel der Welt zu finden. So krass wird heute nicht mehr argumentiert, aber zahlreiche subtile Unterscheidungen spielen bis heute noch eine große Rolle. Vor allem aber sind die Konsequenzen einer frauenfeindlichen Interpretationsgeschichte noch nicht beseitigt. 23

Anmerkungen 1

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Hassan, Riffat. „Feministische Interpretationen des Islam“. Feminismus – Islam – Nation. Hg. v. Claudia Schöning-Kalender und Ayla Neusel. Frankfurt a. M., 1997. 217-233, S. 220. Es wird sich zeigen, dass nicht ein einziger dieser Sätze an den Texten selbst verifizierbar ist. Apokryphen sind fromme Schriften, antike Auslegungen biblischer Texte und ähnliche, die später nicht in den Kanon, in das Verzeichnis der für die christlichen Kirchen maßgebenden Bücher aufgenommen wurden. Vgl. Schüngel-Straumann, Helen. Die Frau am Anfang. Eva und die Folgen. 3. Aufl. Münster, 1999 [1. Aufl. Freiburg, 1989]. Einzig in Gen 3,20 wird die erste Frau hawwah, von haj (‚Leben‘), genannt, dies führte in der späteren Tradition zu „Eva“. Vgl. zum Kontext von Gen 1-11: Schüngel-Straumann, Helen. Gen 1-11. Die Urgeschichte. Kompendium Feministischer Bibelauslegung. Gütersloh, 1998,

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S. 1-11; Baumgart, Norbert C. Die Umkehr des Schöpfergottes. Zu Komposition und religionsgeschichtlichem Hintergrund von Gen 5-9. Freiburg, 1999. Dies ist der biblische Gottesname, das so genannte Tetragramm, das aus vier hebräischen Konsonanten besteht. Diese Kombination des Gottesnamens, einmal das für Israel typische Tetragramm mit dem gemeinorientalischen Plural ‚elohim für die Gottheit bzw. die Götter, findet sich in der hebräischen Bibel nur in Gen 2 und 3. Der Verfasser will wohl in dieser Menschheitserzählung damit ausdrücken, dass die Gottheit par excellence, die für uns JHWH heißt, hier am Werk sei. Dies gilt nicht für die Stammbäume. Diese gehören einer anderen, späteren Quelle an. Durch die Einarbeitung der Szene über die Erschaffung der Frau – dies ist das spezifische Interesse unseres Verfassers – hat er allerdings Weichen gestellt für viele späteren Missverständnisse: An einigen Stellen wurde dem grundlegenden Begriff ‚adam die Zufügung ‚und seine Frau‘ beigegeben. Damit ändert sich natürlich der Sinn von ‚adam. Dies kommt in Gen 2 nur einmal vor, 2,25, in Gen 3 dreimal: Gen 3,8.20.21. Dies war natürlich vor der Aufklärung, in der Zeit, in der man die Texte wörtlich und historisch verstand, besonders tragisch. Hier als Beispiel einer der stärksten Widersprüche in Gen 2 und 3: An ‚adam erging das Verbot, von dem Baum zu essen. Die Frau hat es aber zuerst übertreten. Wie konnte sie von dem Verbot wissen, sie war doch noch gar nicht geschaffen! Wenn man ‚adam als Mann versteht, lässt sich dieser Widerspruch schlecht auflösen. Vgl. Miltons Langgedicht Paradise lost (1667). Wie sehr hier die androzentrische Interpretation bei der Betonung von der Überordnung des Männlichen mit den Argumenten schlicht jongliert, sei an einem Beispiel ergänzt: In der Interpretation von Gen 1, wo die Menschen am Schluss geschaffen werden, als letztes Werk am 6. Tag, wird der Mensch (gemeint ist natürlich der Mann) als „Krone der Schöpfung“ bezeichnet. In Gen 2 wird die Frau als letztes Schöpfungswerk genannt, hier gilt dann plötzlich das gegenteilige Prinzip: Der Erste ist der Beste! Dieses griechische Prinzip der Reihenfolge spielt im Alten Testament gar keine Rolle. Ganz im Gegenteil: Immer wieder wird der jüngste Sohn dem älteren vorgezogen, z.B. David bei seiner Auswahl zum König Israels. Dass Paulus hier zwei Begriffe für die Aussage der Gottebenbildlichkeit gebraucht, zeigt, dass er Gen 1,27 vor Augen hat, allerdings in der griechischen Übersetzung der LXX. Küchler, Max. Schweigen, Schmuck und Schleier. Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der Frauen auf dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Exegese des Alten Testaments im antiken Judentum. Göttingen, 1986, S. 75. Auch hier zeigt sich die Vermischung der Aussagen von Gen 1 mit denen von Gen 2 und 3! Vgl. zum Mittelalter: Gössmann, Elisabeth. „Gottebenbildlichkeit“. Wörterbuch der Feministischen Theologie. 2. Aufl. Gütersloh, 2002, S. 262 f.

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Dies dürfte eine Anleihe aus verschiedenen altorientalischen Mythen sein, u.a. auch dem Gilgamesch-Epos, wo der erste Mann zuerst mit den Tieren lebt. Gen 4,1 lautet: „Und der Mensch [‚adam] erkannte seine Frau [Hawwah] und sie wurde schwanger und gebar den Kain.“ Vgl. z.B. Keel, Othmar u. Schroer, Silvia. Eva – Mutter alles Lebendigen. Freiburg i.d. Schweiz, 2004. Vgl. z.B. außer der in Anm. 3 angegebenen Literatur: Leisch-Kiesl, Monika. Eva als andere. Eine exemplarische Untersuchung zu Frühchristentum und Mittelalter. Köln, 1992; Gössmann, Elisabeth. Eva – Gottes Meisterwerk. 2. Aufl. München, 2000. Seit dem Spätmittelalter, besonders dann aber in der Frühen Neuzeit, wird die Verunglimpfung alles Weiblichen im Rahmen der so genannten Sündenfallerzählung immer drastischer: In zahlreichen Bilddarstellungen wird die Schlange mit einem Frauenkopf, ja mit einem weiblichen Oberkörper – gleich der Eva – dargestellt. Und dies im klaren Gegensatz sowohl zum hebräisch maskulinen Wort für Schlange wie auch zum Lateinischen (serpens). Winter, Urs. Frau und Göttin, Exegetische und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im Alten Israel und in dessen Umwelt. 2. Aufl. Fribourg u. Göttingen, 1987. Hier finden sich auch Hunderte von Abbildungen. Schroer, Silva. In Israel gab es Bilder. Fribourg, Göttingen, 1987. Die Inkonsequenz einer Jahrhunderte langen männlichen Interpretation hat besonders treffend Othmar Keel angeprangert: „Man hat in der kirchlichen Praxis die Worte von den Schmerzen der Geburt und die von der Herrschaft des Mannes über die Frau nicht selten als Gebot aufgefasst, statt sie als das zu nehmen, was sie sind, nämlich die Beschreibung eines Unheilszustands, der überwunden werden muss. So hat man sich mit Hilfe von Gen 3,16a bis in die neueste Zeit gegen Bemühungen um eine schmerzarme Geburt zur Wehr gesetzt. Das Verräterische daran ist, dass man nicht gleichzeitig unter Berufung auf Gen 3,17-19 gegen die Einführung von Traktoren und Motorsägen zu Felde gezogen ist, die den von Gen 3,19 bei der Feldarbeit vorgesehenen Schweiß verringern.“ Keel, Othmar. „Die Stellung der Frau in der Erzählung von Schöpfung und Sündenfall“. Orientierung 39 (1975): 74-76, S. 75. Vgl. Meyers, Carol. Discovering Eve. Ancient Israelite Women in Context. New York, 1988, S. 113. So meiner Kenntnis nach zuerst von Trible, Phyllis. „Gegen das patriarchalische Prinzip in Bibelinterpretationen“. Frauenbefreiung. Biblische und theologische Argumente. Hg. v. Elisabeth Moltmann-Wendel. München, 1978. 93-117. Dies gilt in vielen christlichen Kirchen besonders für die Ordination von Frauen, vgl. Gössmann (Anm. 13).

Wüstenparadies Die Wildnis als Nicht-Ort und heilige Leere im frühen Neu-England Ulrike Brunotte I. Topografische Repräsentationen Spätestens in der Epoche der frühen amerikanischen Republik stiegen Darstellungen idealer Naturräume in Malerei und Literatur zu zentralen Figuren nationaler Repräsentation auf.1 Zugleich setzte sich um diese Zeit ein Rationalisierungsprozess durch, der, über ihre kartografische Vermessung, der amerikanischen Natur ein neutrales Gitter-Muster einschrieb: „Das ‚grid‘ sollte der Landschaft eine technisch-mediale Inschrift geben“2, die „diese erst entleert, um sie von einer abstrakten geometrischen Struktur her zu beschreiben.“3 Dabei widersprach die landschaftsmalerische Konstruktion unendlicher und wilder Erhabenheit diesem kartografischen Umcodierungsprozess grundsätzlich nicht, trug sie doch selbst durch ihren multiperspektivischen Blick zur Vision eines tendenziell unendlichen und dabei „ebenen, aperspektivischen Raumes“4 bei. So lässt sich die ästhetische Aufwertung der amerikanischen Natur „als zentrales Moment einer imperialen Landnahme begreifen, wie sie sich im ‚American Grid‘ materialisierte“5. Andererseits ist das Erhabene als ästhetische Kategorie selbst ambivalent. Die wilderness wird darin zur Allegorie des Widerstands gegen die Praktiken ihrer Inbesitznahme. Die Ambivalenz des ästhetischen Konzepts hat eine puritanische Vorgeschichte. Denn die erhabene Leere der religiös verfassten wilderness fungierte auch als Zeichen des unendlichen Gottes, Statthalter des Heterogenen und Nichtrepräsentierbaren einer noch nicht ‚geformten‘ Gerechtigkeit.6 Sie war damit in ihrer Negativität zwar, nach christlich-platonischem Verständnis, Teil des gesamten Kosmos der geordneten Natur, aber eben zugleich der furchterregende Rest göttlicher Abskondität und Zeichen des Inkommensurablen (an) der Natur selbst. Ethik und Ästhetik berührten sich auf paradoxe Weise in dieser (frühen) Gestalt des Erhabenen.7 In Landschaftsmalerei, Naturphilosophie und Literatur des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts verdichtete sich zudem in den USA ein

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topografisch verfasster Mythos primordialen Neubeginns: der des American paradise. Amerika bedeutet den Bruch mit der Geschichte, die Absage an die „sepulcres of the fathers“, die Möglichkeit [...] einer „original relation to the universe“. Es definierte sich gerade dadurch, dass es gegenüber Europa reine Natur war, vor-geschichtliche Wildnis, Ur-Landschaft.8

Der Widerspruch, der sich zwischen dem Paradieskonzept und dem der vorgeschichtlichen Wildnis auftut, hat eine religionshistorische Vorgeschichte und impliziert traditionsreiche, religionsphilosophische Konzepte. Freilich steht auch die diskursive Entleerung der Landschaft im grid system, so die These von Richard Sennett, in der longue durée kolonial-puritanischer Wissensformen: „Die Welt, in der die Puritaner gelandet waren, musste wie eine ‚leere Leinwand‘ behandelt werden – unter dem doppelten Zwang, die alte Welt zu verabschieden und das eigene Leben in die Hand zu nehmen, indem man in einer neuen Welt von vorn begann.“9 Als die puritanischen Siedler und Flüchtlinge ihr koloniales Unternehmen im 17. Jahrhundert an der Küste Nordamerikas begannen, wurden sie mit der Realität einer ganz materialen, bedrohlichen und darüber hinaus von native americans codierten Natur konfrontiert. Gleichwohl versuchten sie, diese widerständige Realität als wilderness neu zu erschaffen. Das altenglische wild-deor-ness meint jeden ungeordneten Raum, „an uncultivated region, waste; wild; any barren, empty, or open area, as of ocean.“10 Etymologisch transportiert der Begriff wilderness noch die Vorstellung eines waldreichen Raumes der wilden Tiere.11 Menschen, die diesen Raum betreten oder durchsegeln, laufen Gefahr, selbst in einen wilden, unkontrollierten Zustand zu verfallen, verzaubert, wirr oder monströs zu werden. Die enge Verknüpfung von biblischer Wüste und wilderness entstand freilich durch die englischen Bibelübersetzungen seit dem 15. Jahrhundert.12 Erst dadurch avancierte die wilderness schließlich zum Synonym für treeless wasteland. Für ihr koloniales Bewältigungsunternehmen konnten die puritanischen Siedler demnach auf eine Jahrtausende alte religiöse Semantik zurückgreifen: „The wilderness had become, in fact, a complex symbol of significance both for the corporate and for the personal expression of the Christian life.“13 Durch harte Arbeit, so ein Grundtenor puritanischer Predigten der ersten Jahre, kann die Wildnis gemeistert und in einen „Garten Gottes“14 verwandelt werden. So verbindet der zusammengesetzte Begriff ‚Wüstenparadies‘ im Titel des Beitrags zwei sowohl religionsgeografisch als auch religions-

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geschichtlich seit der Zeit der hebräischen Bibel in spannungsvoller Dialektik verbundene religiöse Topoi. Noch in den christlichen Paradiesvorstellungen vom geschützten Garten, dem mittelalterlichen hortus conclusus schwingt die Vorstellung einer Garten-Oase als Inbegriff des bewässerten und kultivierten Landes mit. Die Wüste oder Wildnis hingegen ist zugleich der Inbegriff des unfruchtbaren, trockenen, öden Landes, metonymisch aber auch der Raum des Todes und Verweilort der aus dem Paradies Verbannten. Darüber hinaus bietet die Wüste als Herrschaftsraum Satans vielerlei Dämonen eine Heimstatt. Zugleich hat das Gegensatzpaar von Wüste und Paradies Anteil am biblischen Gegenüber der ‚Religion der Wüste‘ (Israel) und der ‚Religion der Stadt‘ (Ägypten/Babylon), wobei das ‚Neue Jerusalem‘ der apokalyptischen Visionen auch als ein ‚Zweites Eden‘ erhofft wird. Die Wüste erfährt allerdings bereits in der Exodustheologie als Durchgangsraum der Wüstenwanderung des Volkes Israel eine heilsgeschichtliche Aufladung: Hier findet die Erwählung durch den einen Gott statt. Folgen wir dem religionsphilosophischen Konzept, das Paul Tillich 1932 entwirft, wird im Denkraum der Wüste die polytheistisch verfasste Herrschaft der kultisch hergestellten heiligen Räume zugunsten eines ebenso ortlosen wie bilderlosen Gottes der Zeit gebrochen. 15 Max Webers Blick auf das Judentum erfasst diesen Prozess eher als Entzauberung, er meint darin eine „Wahlverwandtschaft zwischen Judentum und asketischem Protestantismus“16 zu erkennen und erforscht das „Eindringen alttestamentlich-jüdischen Geistes in den Puritanismus“17. Jan Assmann spricht in diesem Zusammenhang nicht allein von einer entscheidenden „Umbuchung politischer Bindungen auf Gott“18, sondern von einer „Sakralisierung der Ethik“19. Will man die komplexen Prozesse der puritanischen Semantisierung des eigenen Unternehmens und des nordamerikanischen Naturraumes rekonstruieren, dann sind Figuren und Kulturtechniken der Reinheit und der Reinigung, der Konversion und des Gerichts von zentraler Bedeutung.20 Die Religionsforscherin und Anthropologin Mary Douglas hat bereits 1966 in ihrem Buch Reinheit und Gefährdung auf die soziale Signifikanz religiöser Reinheitsvorstellungen und ihre Rolle bei der Symbolisierung gesellschaftlicher Grenzen aufmerksam gemacht. Wird beispielsweise das Heilige als Ordnung und Unversehrtheit vorgestellt, so werden darin Ängste vor der drohenden Auflösung und dem Zerbrechen der Gemeinschaft ausgedrückt.21 In vielen Religionen ist es vor allem der menschliche Körper, der, so Douglas, zum „Symbol für die Gesellschaft“22 geworden sei. Auch

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für die Betrachtung von Religionen wie dem Puritanismus, die das Bilderverbot und die Ritualkritik zu ihrem Programm erhoben haben, sind die Studien von Douglas von Nutzen. Weisen sie doch darauf hin, dass gerade in der moralischen Rhetorik dieser Gemeinschaften, kultische und körperliche Vorstellungen von Reinheit und Verunreinigung, Form und Formlosigkeit weiter wirksam sind.

II. Gender und Raum: Virgin land Nun forcierten die Puritaner in ihren Gründungslegenden und Selbststilisierungen als ‚New Israel in the Wilderness‘ einerseits den Prozess der Rationalisierung, in dem sie die Natur Neu-Englands als wilderness zuerst dämonisierten und dann neutralisierten. Andererseits definierten sie ihre Gemeinde bzw. die Siedlung in den ersten Jahrzehnten als „well-ordered Garden of the Saints“23, den nicht mehr die steinerne Mauer mittelalterlicher Städte, sondern „God’s Hedge“ oder eine „Hedge of Grace“24 vor der Wildnis schützte. Die wilderness wurde allerdings nicht allein als dämonischer Raum, sondern auch als reiner Ort spiritueller Gottesbegegnung und Kirchenerneuerung semantisiert. In diesen Zusammenhang gehört die Vorstellung der Natur der Neuen Welt als virgin land oder als undefiled (‚unbefleckt‘). Die Rede vom jungfräulich-unberührten Land ist Teil des älteren kolonialen Diskursreservoirs. Sie fungierte in den USA allerdings bis weit ins 20. Jahrhundert als Dispositiv der Selbstdarstellung.25 In ihrem Buch The Pastoral Impulse in American Writing hat Annette Kolodny als erste Forscherin die in den Metaphern des Landes und seiner Erschließung mitlaufende Geschlechterspannung zum Thema gemacht. Insbesondere angesichts der von Hakluyt gesammelten frühen Schilderungen der Besiedlung bemerkt sie: The consistent evocation of the land as feminine, and the vocabulary of a desired return to maternal comforts and infantile gratifications is the heart of what I am calling the pastoral impuls. [...] [T]he soul’s home [...] is that place where the conditions of exile – from Eden or from the primal harmony – do not obtain. It is the place where harmony, love, peace and community are restored – the place the American continent had long promised to be.26

Nun verbindet sich die Rede von der jungfräulichen Unberührtheit mit dem sehnsuchtsvollen Bild einer üppigen Geliebten und mütterlich gebender Fruchtbarkeit. Dieses in sich widersprüchliche Bild pa-

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radiesischer Fülle tritt besonders in den katholisch oder anglikanisch inspirierten Reiseberichten auf. Ein sehr deutliches Beispiel gibt George Alsops Schilderung Marylands von 1655: Pleasant, in respect of the multitude of Navigable Rivers and Creeks that conveniently and most profitably lodge within the armes of her green, spreading, and delightful woods; whose natural womb (by her plenty) maintains and preserves the several diversities of Animals that rangingly inhabit her Woods; as she doth otherwise generously fructile this piece of Earth with almost all sorts of Vegetables, as well Flowers with their varieties of colours and smells.27

Bei diesen Paradiesvorstellungen ist „the image of the land consistently the image of the mother, appropriately the place to begin again, the birthplace of man and colony.“28 In anderen Schilderungen überwiegt das verlockende Bild eines schönen Frauenkörpers, den es zu erforschen gilt. So schrieb Richard Johnson, ein früher Bewunderer Virginias und Autor der Nova Brittania (1609), dass die frühen Pioniere überwältigt waren von der Schönheit des Landes: „[R]avisht with the admirable sweetnesse of the stream, and with the pleasant land […] the valleyes and plaines streaming with sweete Springs, like veynes in a naturall bodie and hills and mountaines making a sensible proffer of hidden treasure never yet searched.“29 Auch die puritanischen Prediger und Ankläger von Dekadenz und Misswirtschaft verwenden die Weiblichkeitsmetaphorik. So versucht beispielsweise Urian Oakes angesichts des zunehmenden landrush seine Gemeinde folgendermaßen aufzurütteln: Sad it is, that many good men have so far forgotten their great Errand into this wilderness. Sure there were other and better Things the People of God came hither for, than the best Spot of Ground, the richest Soil in the World [...].You would think, if the Land were full of Idols, and men were generally addicted to ‚Idolatrous‘ practises, that the land were greatly ‚defiled‘, and that God would lay all desolate.30

III. Soziales Paradies: city upon a hill Die Wildnis als Raum der ‚perfekten Gemeinschaft‘ – zugleich Raum der Katharsis und der Reinheit – steht in mehrfacher Spannung zur kolonialen Heterotopie31 der Puritaner. Gemeint ist hier der Begriff eines realisierten ‚anderen Raumes‘: „Das wäre also“, so Michel Foucault,

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nicht die Illusionsheterotopie, sondern die Kompensationsheterotopie, und ich frage mich, ob nicht Kolonien ein bisschen so funktioniert haben [...]. Ich denke an die erste Kolonisationswelle im 17. Jahrhundert, an die puritanischen Gesellschaften, die die Engländer in Amerika gründeten und die absolut vollkommen andere Orte waren. [...] Die Christenheit markierte so mit ihrem Grundzeichen den Raum und die Geografie der amerikanischen Welt.32

Die frühen puritanischen Kolonien verstanden sich als ‚leuchtendes Vorbild‘ für die gesamte christliche Welt, als die „tatsächlich realisierte Utopie“33 einer idealen Gemeinschaft. Mit den Worten eines führenden Predigers von Boston, John Cotton, erwuchsen die Siedlungen der puritanischen Kirchen in der wilderness der Neuen Welt wie „a Paradise, as if this – the churches – were the garden of Eden“34. Nach Ursula Brumm spiegelt sich im theologischen Konstrukt ‚Wildnis‘ sowohl die Suche nach „staatspolitischer Freiheit“35 als auch das innere Streben des einzelnen Puritaners nach reinem Glauben und Gottesnähe. Eine zusätzliche religionsgeschichtliche Bedeutung erhält die amerikanische Wildnis jedoch als Wiedergängerin der biblischen Wüste. Dieser symbolische Transport von heilsgeschichtlichem Sinn auf das eigene Projekt eines errand into the wilderness wurde möglich durch die eigenwillige Anwendung der christlichen Typologie. 36 Werden bei der traditionellen Typologie Ereignisse und Figuren der Geschichte Israels zu ‚Schatten‘ oder Allegorien der durch Christus bewirkten Erlösung, so beziehen die amerikanischen Puritaner ihre „prophetische Typologie“ (Brumm) auf gegenwärtige oder noch zu erwartende irdische Ereignisse. Im Grunde wandern unterschiedlichste biblische Traditionen in den millenaristischen Impuls der neuenglischen Pilgrim Fathers und Puritaner ein, ab 1620 eine re-reformed church als garden enclosed in der Wildnis Neu-Englands zu errichten. Es sollte ein realisiertes, aber auch ein spirituelles Paradies in der Wüste der Welt sein. Sacvan Bercovitch spricht von einer damit verbundenen Sakralisierung der wilderness, wenn er den herrschenden Tenor puritanischer Predigten im 17. Jahrhundert kommentiert: The newness of New England becomes both literal and eschatological, and the American ‚wilderness‘ takes on the double significance of secular and sacred place. If for the individual believer it remained part of the wilderness of the world, for God’s ‚peculiar people‘ it was a territory endowed with special symbolic import, like the wilderness through which the Israelites passed to the promised land. [...] Migration and pilgrimage entwined in the progress of New England’s holy commonwealth.37

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Dieser Prozess der Umdeutung und Positivierung ist freilich ein langsamer und höchst komplexer Vorgang. In dem frühen, vor der Ankunft entwickelten, gleichsam antizipatorischen Projektionsbild wilderness geht es den Glaubensflüchtlingen und Exilanten vor allem um einen mehr oder weniger durch Negationen von Europa abgegrenzten Raum der Potenzialität. Wenn überhaupt – in Bezug auf das Land und die Gemeinschaft der Puritaner – von Sakralisierung gesprochen werden kann, dann (noch) nicht im Sinne einer kultischen Aufladung des (nationalen) Bodens. Eher könnte man von einer spirituellen Integration des als leer und ungeformt imaginierten Raumes sprechen, dessen vorgestellte Wildheit und Leere sich als Emblematik der Reinheit und Freiheit des religiösen und politischen Experiments anbot.

IV. Nicht-Ort und heilige Leere Die ‚Leere‘ der Wildnis geht allerdings weder in einer kolonialen Machtsymbolik, noch in der Beschwörung von Potenzialität auf, sondern transportiert eine melancholische Dimension. So wird die Wildnis oft nicht als ‚Land, wo Milch und Honig fließt‘, sondern als bloßer Durchgangsraum stilisiert. Die darin zusammengefügten Bestimmungen weisen auf das ‚übermoderne‘ Konzept der Nicht-Orte voraus. Marc Augé38 versucht mit seinem Begriff des Non-Lieu („Nicht-Ort“) Orte zu erfassen, die „das Gegenteil der Utopie“39 seien, in denen „keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit“ geschaffen werde. „Der Raum des NichtOrtes befreit den, der ihn betritt, von seinen gewohnten Bestimmungen“40, er überführt gleichwohl in eine unbestimmte Leere. Motive der Angst, der Melancholie und der Depression begegnen uns häufig in der Fülle autobiografischer Aufzeichnungen der puritanischen Siedler aus dem 17. Jahrhundert. In ihren eher repräsentativen Selbststilisierungen hingegen versuchen die Kolonialleiter diesen melancholischen Innenraum zu externalisieren und territorial zu binden. Dabei deuten sie ihn in eine „Kompensationsheterotopie“41 um. Der Auserwähltheitsglaube und eine zum leuchtenden Bild verwandelte wilderness bereitet dabei zugleich die Techniken ihrer kolonialen Herstellung vor. So erscheint besonders in den Schriften der ersten Siedlergeneration die Wildnis NeuEnglands oft einfach als „void“ oder als „tabula rasa“.42 Ihre Reinheit ist eins mit der Leere einer noch ungeprägten Matrize. Offensichtlich ist die projektive Beschwörung eines void and empty place, wie sie uns be-

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sonders eindringlich in der Farewell-Predigt John Cottons von 1630 begegnet, von dem besitzergreifenden Anspruch auf das Land hinter dem Atlantik überformt und rationalisiert. In der promotional rhetoric der ersten Generation ist damit eine definitive Rhetorik der Kolonisierung zu entdecken. In diesem Sinne beantwortet John Cotton, wie einige Jahre vor ihm John Winthrop, die Frage, wie Gott Raum für sein Volk schafft: „When he makes a country though not altogether void of inhabitants, yet void in that place where they reside. Where there is a vacant place, there is liberty for the sons of Adam or Noah to come and inhabite, though they neither buy it, nor ask their leaves.“43 Einzig der das Unternehmen von Anfang an begleitende Chiliasmus könnte als Statthalter der melancholischen Leere gedeutet werden.

V. Himmlisches Paradies Als empty continent war Amerika in den Augen der englischen Siedler aber auch der Experimentierraum, das religiöse und gesellschaftliche Laboratorium eines zu Ende geführten Protestantismus, ja einer millenaristisch an ihr Ende geführten Heilsgeschichte. Jetzt erfahren die internalisierten spiritualistischen Ideale auf dem Boden Neu-Englands eine geografische und soziale Relokation: Die Neue Welt ist nicht allein für John Winthrop das „good land“44. Letztlich erhält die wilderness gleichwohl erst als eschatologische Wüste aus Offenbarung 12, in die das Weib vor dem Drachen flieht und von Gott genährt wird, den maßgeblichen Subtext. Die empirische Tatsache ihrer indigenen Bewohner sollte freilich dieser Metapher schnell das dämonische Vexierbild der howling and barbarious wilderness als Arena des endzeitlichen Kampfes zur Seite stellen. Auch als Wiedergängerin der biblischen Wüste lebt in der wilderness eine ungelöste Ambivalenz weiter. Die hebräischen Worte für wilderness in der Bibel sind sehr zahlreich.45 Als geografischer Raum bedeutete Wildnis/Wüste für die Anrainerstaaten zuallererst den unkultivierten Raum jenseits des bewässerten Kulturlandes. Als mythischer Raum jenseits der Grenze des geordneten Gartenkosmos war die Wüste zudem der Ort der Dämonen und des Todes. Die wilderness bedrohte ständig den Garten, in der hebräischen Tradition auch als Strafe des göttlichen Zorns. Zudem hatte sie Anteil an der Abgrunddimension des primordialen Chaos, das t’ehom und tohu wa bohu (‚wüst und öd‘) aus Gen 1,2.

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Für die Puritaner trägt die wilderness bzw. Wüste die Spannung des Widerspruchs in sich: Ort der Katharsis und der Bundesschließung zu sein, zugleich jedoch Strafmacht Gottes und dämonischer Raum Satans. Nichts haben die frühen Kolonieleiter zudem mehr gefürchtet als die Akkulturation an die Wildnis und ihre Bewohner. 46 So steht die Metapher der wilderness nicht nur in Spannung zur Symbol-, Ritual- und Bilderfeindlichkeit des strengen Puritanismus, sondern ist integraler Bestandteil ihrer religiösen und sozialen Grenzziehungen und Machtdiskurse. Als typologisch grundierte Konstruktion eines äußeren Raumes ist sie zugleich kultureller Speicherraum historisch ungelöster Konflikte, codiert den Prozess der Kolonisierung und repräsentiert eine Ambivalenz der Gefühlsregungen, die nach Mary Douglas Tabus strukturiert. Die Qualität des Formlosen, die zugleich im Inneren des Einzelnen wie innerhalb der Gemeinschaft, besonders allerdings in den ambivalenten Symbolisierungen der geophysischen Wildnis wirksam werden konnte, versuchten die Puritaner diskursiv und praktisch durch Tabubildung, Grenzziehung und Reinigung zu depotenzieren. Im Kampf gegen Geister und Dämonen trieben sie vermeintliche Hexen aus und suchten das grenzenlose Wirken des ‚Geistes‘ so beim Antinomistenstreit um Anne Hutchinson, in die soziale Geschlechterordnung einzudämmen. Aber gerade dort, wo die Kirchen- und Bilderkritiker die Reinheit der Wildnis mit Religion und Gottesnähe in Zusammenhang brachten, erhielt die ‚reine Leere‘ eine zusätzliche Qualität, sie sollte undefiled (‚unbefleckt‘) sein. So wird das in NeuEngland erwartete Reich Gottes von Thomas Shepard 1633 folgendermaßen beschrieben: It is undefiled, never yet polluted with any sin […]. Consider of the glory of the bodies of the saints in this place: the Lord shall change our vile bodies, which are but as dirt upon our wings and clogs at our feet. […] It shall be an incorruptible body: it shall never die, nor rot again.47

Cotton Mather greift noch 1702 auf dieses verbreitete Reinheitsvokabular zurück, wenn er von den puritanischen Emigranten schreibt, sie kamen nach Amerika auf der Suche nach „pure and undefiled Religion“.48 Nun bedeutet to defile sowohl „to make dirty“ und „to make ceremonially unclean“ als auch „to violate the chastity; to deflower“49; kultische und sexuelle Symbolik sind hier ungetrennt. Woraus speist sich die mitlaufende Bildlichkeit, die diese Reinheitsvorstellung codiert? Die Herstellung von ‚reiner‘, ‚unbefleckter‘ Religion im „heiligen Refugium der unkorrumpierten und unbefleckten Wild-

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nis“, so Brumm, „ist die Frucht der Vereinigung des puritanischen Gläubigen mit Christus“.50 Die reine, differenzlose Homogenität der ‚Erwählten‘ entspringt also letztlich aus ihrer Christusebenbildlichkeit. Aus dem von Jeremia und anderen Propheten beschworenen Bild ‚bräutlicher‘ Nähe zwischen Volk Israel und Gott während der Wüstenzeit des Exodus ist hier eine Vorstellung spiritueller Verschmelzung von Gläubigem und Christus geworden, die den Glauben und die Wildnis unter ein kultisches und moralisches Reinheitsgebot stellt. Zugleich greift das puritanische Gebot der Reinheit auf die frühchristliche Bedeutung von Jungfräulichkeit zurück. Als Beschreibung der Keuschheit beider Geschlechter übertrat dort eschatologisch gefasste „Jungfräulichkeit“ die Geschlechtergrenzen: „Angesichts der Erwartung des baldigen Endes, auch mit Blick auf den Sündenfall Adams und Evas“, schreibt Peter Brown, „suchten die Christen in der Askese und im Kult der Jungfräulichkeit die Nähe zu Gott“.51 Es war vor allem der millenaristische Impuls und ihre Suche nach dem ‚unberührten‘ Ort der Gottesbegegnung, der die neuenglischen Puritaner auf frühchristliche Reinheitsvorstellungen zurückgreifen ließ. So heißt es in der Johannesapokalypse über diejenigen, die das irdische Regiment mit Christus führen werden (14,4): „Diese sind’s, die sich mit Frauen nicht befleckt haben, denn sie sind jungfräulich, und folgen dem Lamme nach, wo es hingeht.“ Es handelt sich in Plymouth und Massachusetts jedoch nicht um den Rückzug in die Wüste ‚außerweltlicher Askese‘ oder die spirituelle Sehnsucht nach der ‚himmlischen Stadt‘, sondern um ein historisches Projekt und um die dazu notwendigen Anstrengungen „innerweltlicher Askese“ (Max Weber). Deutlich sind hier die mit dem Idealbild spiritueller Reinheit und Körperlosigkeit verknüpften Sehnsüchte von Ewigkeit, Unsterblichkeit und Macht. Geflohen waren die Puritaner vor der verderbten, ‚babylonischen Welt‘ Europas. Kommt die zu schaffende Gesellschaft als Garant oder als Störfaktor der Spiritualität in Betracht, oder hat ihre Struktur eine neue spirituelle Relevanz? Sind in der Neuen Welt Amerika soziale Bündnisse möglich, die die wilderness mit all ihrer inneren und imaginären Relevanz zu integrieren und zu verwandeln vermögen? Oder wird die reine Wildnis erneut zum Refugium der Flucht vor den Versuchungen der Gesellschaft? Das Ideal der unbefleckten Wildnis kann allerdings auch zum Vorbild einer völlig homogenisierten, gereinigten Gesellschaft der Wiedergeborenen werden, die dann als himmlisches Paradies der Erwählten zum Bollwerk gegen die Drohungen und Lockungen einer vollends dämonisierten Wildnis der Welt erstarrt.

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VI. Die Erfindung von wilderness und conversion Ein berühmtes Beispiel puritanischer Wildnisrhetorik der Frühzeit ist die 1630 unter dem Titel Of Plymouth Plantation von William Bradford publizierte Ankunftsschilderung der Mayflower am Cape Cod im September 1620. Bedeutsam ist der Bericht Bradfords auch darum, weil er die religiöse Negativität der howling wilderness, in die Gott dennoch seine Erwählten gesandt hat, durch typologische Überbietungen der biblischen Wüstenwanderung und die Missionsfahrten des Paulus auflädt. Darüber hinaus verortet er die Ankunft des „Garden of God’s Church“ (John Cotton) inmitten der wilderness konkret in den meteorologischen und geophysischen Realitäten des neuenglischen Waldes und des beginnenden Winters. Er verweigert sich dabei ebenso dem werbenden pastoralen Impuls52 wie der kolonialen Vorstellung eines ‚leeren Landes‘. Dagegen entwirft Bradford die folgenreiche Rhetorik der wilderness. Er zeichnet zuerst ein Gegenüber von ebenso bedrohlicher wie undifferenziert-wilder Natur auf der einen und europäischer Zivilisation auf der anderen Seite. Angesichts der Religionskriege in England ist freilich auch in Old-England die ‚wahre Kirche‘ gefährdet. Er schildert nun die eschatologisch auf das Reich Gottes ausgerichtete Geschichte der Flucht in die Wildnis, die die Separatisten nach ihrem holländischen Exil 1620 von Leyden aus antraten: „Having thus passed the vast ocean, and that sea of troubles before while they were making their preparations, they now had no friends to welcome them, nor inns to entertain and refresh their weatherbeaten bodies, nor houses – much less towns – to repair to.“53 Die durch eine Kette von Verneinungen evozierte erste Semantisierung des Landes liegt auf der Unwirtlichkeit. Die Erfahrungen der Atlantiküberfahrt the vast ocean und das Meer treten bereits zusammen, um sich mit der Kette der Negationen zu verknüpfen. Ohne dass der Begriff wilderness hier schon auftaucht, wird dem Leser klar, dass es Bradford um die Beschwörung der desolate und horrid wilderness als Gegenbild zur städtischen Zivilisation und nicht um den Garten Eden zu tun ist. In der Folge stellt er die Atlantiküberquerung und Ankunft der Pilgrim Fathers in teils vergleichende, teils direkt typologische Zusammenhänge sowohl mit den Seereisen des Apostel Paulus als auch mit der Wüstenwanderung des Volkes Israel. Wurde Paulus nach einem Schiffbruch von den barbarians des Mittelmeerraums gastlich aufgenommen, so prophezeit der auktoriale Erzähler, dass die „savage barbarians“ der Neuen Welt „were readier to fill their sides full

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of arrows than otherwise“54. Danach spricht Bradford den folgenreichen Begriff wilderness zum ersten Mal aus, das jedoch gleich in dreifacher Wiederholung: As for the season, it was winter, and those who have experienced the winters of the country know them to be sharp and severe, and subject to fierce storms, when it is dangerous to travel to known places – much more to search an unknown coast. Besides, what could they see but a desolate wilderness, full of wild beasts and wild men; and what multitude there might be of them they knew not!55

Nun greift er zu einem zweiten typologischen Bezug, indem er auf den großen Auswanderführer des Volkes Israel, Moses, verweist. Ihm war zwar nicht das Betreten des Gelobten Landes vergönnt, aber doch wenigstens ein Blick auf ‚das Land, wo Milch und Honig fließt‘ vom Berg Pisgah aus. Aber selbst dieser Blick auf ein materiales Kanaan ist den Glaubensflüchtlingen nicht vergönnt. Das Elend der Pilger erscheint im Wortsinne aporetisch: Neither could they, as it where, go up to the top of Pisgah, to view from this wilderness a more goodly country to feed their hopes; for which way soever they turned their eyes (save upward to the heavens!) they could gain little solace from any outward object. […] The whole country, full of woods and thickets, presented a wild and savage view. [...] there was the mighty ocean, which they had passed, and was now a gulf separating them from all civilized parts of the world.56

In dieser Szene kulminiert die religiöse Programmatik der Ankunftsschilderung. Die Glaubensflüchtlinge werden von einer Schreckensszenerie der wilden Natur regelrecht eingekreist. Theologische Semantisierung erfährt die Szene darüber hinaus freilich durch die Konstruktion eines Auswegs in vertikaler Richtung. Auf ihrer Suche nach Trost werden sich diese Ankommenden ganz sicher zunächst von allen äußeren Objekten der Natur und des Landes abwenden und den Weg gen Himmel antreten. Face to face mit ebenso schrecklicher wie differenzloser Natur – wildest ocean/gulf –, die den physischen Menschen überwältigt und ihn seine Ohnmacht spüren lässt, treibt die negative Energie des Schocks und der Abstoßung in eine Aufwärtsbewegung zu Gott. Der spirituelle Aufstieg ist jedoch zugleich einer nach Innen und in die soziale Kohäsion. Im inneren Raum des reinen Glaubens geschieht zwar der Übergang zum Transzendenten, aber das Überleben der ‚wahren Kirche‘ in der Wildnis ist nur als und in der Gemeinschaft möglich. Diese ist der eigentliche ‚Garten Gottes‘.

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Für William Bradford wie für viele Puritaner nach ihm, bedeutete allerdings bereits die gelungene Atlantiküberfahrt nicht nur die Objektivierung der individuellen Erneuerung, sondern markierte einen kollektiven, heilsgeschichtlichen Sprung auf der Pilgerreise ins Reich Gottes. Die Konfrontation mit der schreckenerregenden Natur verdoppelt nun diese Deutung: Denn es ist die Gruppe, die als body politic und ideale Einheit in die Figur des Mose eintritt. Später sollte vor allem die traumatische Erfahrung der Bekehrung des Paulus von den Puritanern eschatologisch zum kollektiven Modell der Konversion und Wiedergeburt erhoben werden. Sie gestaltet sich dann zum Verwandlungsmodell ‚paradiesischer Ergriffenheit‘ – einer, so George Williams, „paradisic rapture“57 und erfährt in den puritanischen Kolonien zentrale Bedeutung als soziales Modell der true regeneration.58 Die Sozialität der Reinen und Perfekten befindet sich inmitten der wilderness auf dem Weg zu einem noch zu erringenden irdischen Paradies. Dass dieses auch als ein juridischer, sozialer und relationaler Prozess verstanden wurde, erhält nicht zuletzt durch die große Rolle Evidenz, die Bundes- und Vertragsschließungen seit dem mayflower compact von 1620 spielen sollten. Ein anderer tragender Pfeiler der großen Massachusetts Bay Colony war die Verwandlung der Wildnis in ‚Gottes Garten‘: die so genannte Indianermission. Die Vorstellung von der Herrschaft der Electi über die Nichtwiedergeborenen – seien sie nun innere oder äußere ‚Wilde‘ – spiegelt sich auch in dem Ideal der homogenen Gemeinschaft der Erwählten, wie es der puritanische Governor John Winthrop 1630 in seiner Rede A Model of Christian Charity an Bord der Arbella im Bild der city upon a hill proklamierte. Wie die irdische Heiligkeit errungen werden kann, das beantwortet Winthrop mit einer aufschlussreichen Analogiebildung. Er überträgt die Vorstellung von der Heiligkeit des jüdischen Gottesdienstes auf die ‚Feindesüberwindung‘ der Puritaner: „We shall find that the God of Israel is among us, when ten of us shall be able to resist a thousand of our enemies.“59 Dabei war die Macht der Wiedergeborenen und freeholder über das Siedlungsland und die an den Stufen der Erleuchtung und sozialen Unterwerfung orientierte Vergabe desselben nicht von geringer Relevanz. Die räumliche Ordnung wurde zum Repräsentationsraum der sozialen und der religiösen Hierarchie. Grenzgängertum oder gar sexueller Kontakt mit der indigenen Bevölkerung wurden rigoros – d.h. mit Ausweisung nach England oder mit dem Tod – bestraft. Ebenso hart bestrafte man freilich Dissidenten und Andersgläubige. Sie wurden oft genug in die ‚Wüste‘ geschickt.

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Von Anfang an standen somit mindestens zwei Modelle von Raum- und Naturverhältnis, so zuerst Peter Carroll60, die zugleich Entwürfe von Sozialität implizierten, in den puritanischen WildernessDiskursen spannungsvoll nebeneinander: Das Gemeinschaftsmodell einer mehr oder weniger mittelalterlich codierten city upon a hill, die sich durch walls of fire and grace als kontrolliert geformter ‚Garten Gottes‘ vom Chaos und der satanic darkness abgrenzte und die Vorstellung eines Neuen Israel auf dem Weg durch die Wüste ins Gelobte Land. Eine dritte, apokalyptische Vorstellung sollte freilich immer mehr Gewicht erhalten. Hierbei wandelte sich die wilderness vom Refugium der fliehenden Kirche am Ende der Tage zur Katastrophenarena des ‚letzten Kampfes Christi‘ gegen die ‚Armeen Satans‘.

VII. Frontier Insbesondere durch neue Einwandererströme, zunehmenden landrush und die damit verbundenen neuen Siedlungen wie – nicht zuletzt – als Folge der ersten Indianerkriege, erhält die Frontier, d.h. die Grenze zur Wildnis, immer größere Relevanz für das religiöse Selbstverständnis der Puritaner. In seiner berühmten Rede The Significance of the Frontier in American History, die Frederick Jackson Turner 1893 vor der American Historical Association hielt, zitiert er an mehreren Stellen aus A new Guide for Emigrants, der 1837 von einem baptistischen Missionar verfasst worden war. Die zentrale Figur einer ‚Neugeburt‘ oder ‚Verwandlung‘ des weißen Pioniers an der Frontier zur Wildnis, wie sie Turner in seiner Rede entwirft, kann nun ihrerseits als eine der für das amerikanische Selbstverständnis einflussreichsten Transformationen puritanischer Konzepte im Amerikadiskurs gedeutet werden:61 The frontier is the line of most rapid and effective Americanization. The wilderness masters the colonist. […] It strips off the garments of civilization and arrays him in the hunting shirt and the moccasin. […] American social development has been continually beginning over again on the frontier. This perennial rebirth, this fluidity of American life, this expansion westward with its new opportunities, its continuous touch with the simplicity of primitive society, furnish the forces dominating American character.62

Wie zuletzt Nathanial Philbrick herausgearbeitet hat63, waren es neben dem landrush vor allem die frühen Indianerkriege, die das Modell

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einer Expansion des Glaubens und damit einer voranschreitenden Frontier gegenüber dem des statischen hortus conclusus im frühen Puritanismus durchsetzten. Hatten die Leiter der Kolonie lange die westliche Expansion und das unkontrollierte Leben in den frontier communities mit Argwohn verfolgt, so erhielt die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis nun eine neue Bedeutung. Mehr und mehr wurden die Kämpfe an der Frontier als Prüfungen Gottes gedeutet. Von ihrem Ausgang hing der Sinn der gesamten Unternehmung ab. Gelang es den weißen Kriegern, die wilderness und die ‚wilden Völker‘ zu überwinden, dann war die Gemeinschaft als Ganze gerechtfertigt vor Gott, unterlagen sie, bekam Satan neue Gewalt. Denn die Faszination der wilderness und die Bedrohung der puritanischen Reinheit durch indianization erschien nicht gebannt. Stellte die symbolische Wildnis für die erste Generation entweder das good land oder den leeren, heiligen Raum der Gottesbegegnung dar, so wandelt sie sich durch die Erfahrung von zwei Generationen vor Ort zum faszinierend gefährlichen Raum der temptations und trials of faith. Dieses Bild sollte als Teil einer Mythologie der wilderness die Indianerkriege überleben. So schreibt Cotton Mather knapp 20 Jahre nach der Vernichtung aller autonomen Indianerstämme innerhalb der Grenze der Kolonien in einem Traktat über Hexerei: The Wilderness through which we are passing to the Promised Land is all over fill’d with Fiery flying serpents. But, blessed be God, none of them have hitherto so fastened upon us to confound us utterly! All our way to Heaven lies by Dens of Lions and the Mounts of Leopards; there are incredible droves of Devils in our way.64

Spätestens durch die Kriege erhielt der ständige Kampf an der Frontier und die mit ihm verbundene wilderness condition moralische Bedeutung: „This did not, of course, mean that the individual was automatically redeemed or even ennobled by mere contact with the vernal wood, but that its vicissitudes could try his faith and that success in the struggle might be a mark of grace.“65 Hatte noch die erste Generation mit ihrem Festhalten an mittelalterlichen Sozial- und Stadtmodellen gegenüber neuen Expansionsbewegungen gen Westen eine ambivalente Haltung eingenommen, so entwickelt die dritte Generation gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine religiöse Theorie der Expansion und der Frontier, deren Relevanz bis in die Moderne reicht. Wenn auch die „Wildnisaffinität“ (Brumm) hier noch nicht (wieder) Ausdruck von Nonkonformität ist und das Eingehen in die Wildnis für den puritanischen Heros noch nicht zum Wiedergeburts-

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erlebnis führt, kündigen sich in ihrer religiösen Rhetorik von Katharsis und Überwindung diese modernen amerikanischen Vorstellungen hier bereits an. Von einer derartigen Verschiebung des Interesses an der Frontier zeugt schon Cotton Mathers Text Frontiers Well-Defended von 1707: „An Address is now making to a people, who ought on some Great Accounts, to be the best People in the Land. It is unto You, O our dear Brethern, who are a people Exposed to inexpressible Hazards and Sorrows by your being in the Exposed Frontiers of the Land.“66 Wenn auch die Qualität der geforderten Tugenden sich in drei Generationen gewandelt hat und sie nun zu einer Funktion der wilderness condition geworden sind, so hat sich „the Puritan’s notion of God’s special interest in a wilderness people“ 67 darin bestätigt. Selbst das alte Reinheitsideal des vacuum domicilium setzt sich im – nun freilich gewaltsamen Prozess ständiger Überwindung der Wilderness durch. Ganz im Sinne der Visionen vom letzten Kampf Christi gegen den Antichristen wurde in der Geschichtsschreibung von Cotton Mather und William Hubbard bereits King Philips War zum Ritual von Reinigung und Erneuerung. Daraus entwickelte sich in der Folge eine Rhetorik der Konfliktlösung, die soziale und politische Krisen naturalisiert und in ein millenaristisches Szenario umdeutet. Richard Slotkin kommentiert: [T]he Indian war became a symbolic drama of compelling force a myth. The Puritans came to understand the chaotic history of events as a scenario of guilt and purgation, in which the destruction of the Indians ― representing in their character all of the sinful nature of Man in general, and of New England in particular.68

Dieser historisch und geografisch konkret gewordene Millenarismus entpuppte sich jedoch zugleich als die Geburtsstunde des Mythos Amerika, wie wir ihn bis heute kennen. So wie sich Cotton Mather vorstellen konnte, dass der „last conflict with antichrist“ irgendwo „westward“ stattfinden werde, fantasierte er auch das Neue Jerusalem nicht mehr innerhalb der Grenzen Neu-Englands, sondern in den unergründlichen und weiten Räumen von Amerika. Irgendwo in „the brave Countries and Gardens, which fill the American Hemisphere, (would be) the Holy City in America; a City, the Street whereof will be Pure Gold.“69 Ist für Richard Sennett vor allem „das Moment der Neutralisierung der Effekt eines puritanisch geleiteten Blicks auf die Umwelt“70, und sieht er zuerst im grid, das heute amerikanische Landschaft und

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Städte durchzieht und formt, „das Ergebnis der protestantischen Ethik des Raumes“71, so haben die widersprüchlichen Wildniskonzepte und Paradiesfantasien der Puritaner kollektive Mythen hervorgebracht. Als Konglomerat aus nonkonformistischen und kolonialen Fiktionen, aufklärerischen Visionen von Freiheit und romantischen Träumen innerer Fluchten, oszilliert die wilderness zwischen Lebenstraum und Todessehnsucht, Verwandlungshoffung und Gewalt: von Emersons Nature über Thoreaus Walden bis hin zu Jean Penns Verfilmung (2007) von Jon Krakauers ebenso freiheits- wie todessüchtigen Roman Into the Wild.

Anmerkungen 1

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Vgl. den großartigen Ausstellungskatalog der Ausstellung Bilder der Neuen Welt. Amerikanische Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. v. Thomas W. Gaehtgens. München, 1988. Kaufmann, Stefan. Soziologie der Landschaft. Stadt, Raum und Gesellschaft. Wiesbaden, 2005, S. 175. Ebd., S. 184 f. Schäffner, Wolfgang. „Operationale Topographie. Repräsentationsräume in den Niederlanden um 1600“. Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Hg. v. Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner u. Bettina Wahrig-Schmidt. Berlin, 1997. 63-90, S. 65. Kaufmann (Anm. 2), S. 235. Diese unkonventionelle Lesart des Erhabenen hat im Rahmen seiner ästhetischen Theorie an zentraler Stelle besonders Theodor W. Adorno stark gemacht. Dort heißt es vom Erhabenen: „In den Zügen des Herrschaftlichen, die seiner Macht und Größe einbeschrieben sind, spricht es gegen Herrschaft“. Adorno, Theodor W. Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M., 1970, S. 293 f. Vgl. ausführlich dazu: Brunotte, Ulrike. Puritanismus und Pioniergeist. Die Faszination der Wildnis im frühen Neu-England. Berlin, New York, 2000, S. 183-197. Christadler, Martin. „Heilsgeschichte und Offenbarung. Sinnzuschreibung an Landschaft in der Malerei der amerikanischen Romantik“. Landschaft. Hg. v. Manfred Smuda. Frankfurt a. M., 1986. 135-158, S. 139. Sennett, Richard. Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt a. M., 1991, S. 67. [Hervorh. v. U. B.] Webster’s New World Dictionary. 3. Aufl. New York, 1988, S. 1528. Vgl. Origins. A Short Etymological Dictionary of Modern English. Hg. v. Eric Patridge. London, 1958, S. 805 f.

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Vgl. Nash, Roderick. Wilderness and the American Mind. New Haven, London, 1974, S. 3. Willliams, George H. Wilderness and Paradise in Christian Thought. New York, 1958, S. 4. Ebd., S. 99. Vgl. Tillich, Paul. Die sozialistische Entscheidung. Berlin, 1980, bes. S. 24-31. Schluchter, Wolfgang. Religion und Lebensführung 2. Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie. Frankfurt a. M., 1988, S. 134. Weber, Max. Religionssoziologie I. Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 8. Aufl. München, 1986, S. 110, Anm. 1. Assmann, Jan. Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. München, Wien, 2000, S. 79 f. Ebd., S. 69. Vgl. Brunotte. (Anm. 7), S. 161-233. Vgl. Douglas, Mary. Reinheit und Gefährdung. Studien zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Übs. v. Brigitte Luchesi. Berlin, 1985, S. 164. Ebd., S. 152. Carroll, Peter. Puritanism and the Wilderness. Intellectual Significance of the New England Frontier 1629-1700. New York, London, 1969, S. 112. Ebd., S. 100. Dieser Zusammenhang schreibt sich bis in die Titelwahl wissenschaftlicher Abhandlungen fort, wie beispielsweise in: Smith, Henry Nash. Virgin Land. Cambridge, 1950; Marine, Gene. America the Raped. New York, 1969. Kolodny, Annette. The Pastoral Impuls in American Writing, 1590-1850. A Psychological Approach. Michigan, 1979, S. 3. Alsop, George. Character of the Province of Maryland, 1655. Zit. n.: Kolodny (Anm. 26), S. 44 f. Ebd., S. 45. Johnson, Richard. Nova Brittania. Hg. v. Peter Force. Washington, 1836, S. 11. Oakes, Urian. New England pleaded with. Boston, 1673, S. 33. [Hervorh. v. U. B.] Vgl. Foucault, Michel: „Andere Räume“. Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. v. Karlheinz Barck u.a. Leipzig, 1992. 34-46. Ebd., S. 45 f. Ebd., S. 39. Williams (Anm. 13), S. 100. Brumm, Ursula. Geschichte und Wildnis in der amerikanischen Literatur. Berlin u. Wien, 1980, S. 73. So lautete der Titel der ‚Election Sermon‘ die Samuel Danforth 1670 in Neu England hielt. Dieser Titel diente wiederum Perry Miller zum Anlass für einen gleichnamigen und bis heute klassischen Essay. Bercovitch, Sacvan. The American Jeremiad. Wisconsin, 1978, S. 15.

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Augé, Marc. Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Übs. v. Michael Bischoff. Frankfurt a. M., 1992. Ebd., S. 130. Beide ebd., S. 120 f. Foucault (Anm. 31), S. 45. Z.B. bei, einem Mitglied der Separatistengruppe von Leyden. Er reiste erst 1621, ein Jahr nach der Mayflower-Überfahrt nach Neu-England. In seinem einleitenden Text zu einem Kompendium mit dem Titel Reasons and Considerings Touching the Lawfulness of Removing out of England into the Parts of America heißt es: „[T]o them (the Heathens) we may go, their land is empty [...] their land is spacious and void.“ Cushman, Thomas. Reasons and Considerings Touching the Lawfulness of Removing out of England into the Parts of America. Zit. n.: Heimert, Alan u. Delbanco, Andrew. The Puritans in America. A Narrative Anthology. Cambridge (Mass.), London, 1985, S. 43. Cotton, John. God’s Promise to his Plantation. London, 1630, S. 3 f. Winthrop – Zit. n.: Carroll (Anm. 23), S. 120. „A desolate, dry, lonely place = midbar, arabah, tsiyyah, tohu, chorbah, yeshimon; eremia, eremos.“ Williams (Anm. 13), S. 12. Vgl. dazu ausführlich in: Canup, John. Out of the Willderness. The Emergence of an American Identity in Colonial New England. Middletown (Conn.), 1990. Thomas, Shepard. The Sound Believer. Zit. n.: Heimert u. Delbanco (Anm. 43), S. 34 f. Mather, Cotton. Magnalia Christi Americana 1. 2. Aufl. Hartford (Conn.), 1820, S. 7. Vgl. Webster´s New World Dictionary (Anm. 10). Brumm (Anm. 35), S. 76. Brown, Peter. Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum. Übs. v. Martin Pfeiffer. München, 1994, S. 3. Vgl. Kolodny (Anm. 26). Bradford, William. History of Plymouth Plantation. New York, 1948, S. 85. Ebd., S. 86. Ebd. Ebd. Williams (Anm. 13), S. 39. Vgl. Brunotte (Anm. 7). Winthrop, John. A Model of Christian Charity. Zit. n.: Heimert u. Delbanco (Anm. 42), S. 91. Vgl. Carroll (Anm. 23). Vgl. Williams (Anm. 13), S. 3. Turner, Frederick Jackson. „The Significance of the Frontier in American History“. The Turner Thesis. Hg. v. George Rogers Taylor. Lexington (Mass.), 1956. 2-18, S. 2. Vgl. Philbrick, Nathanial. Mayflower. A Story of Courage, Community and War. New York, 2006.

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Mather, Cotton. The Wonders of the Invisible World. Boston, 1693, S. 63. Heimert, Alan. „Puritanism, the ‚Wilderness‘ and the Frontier“. New England Quarterly 26 (1953): 361-382, S. 379. Mather, Cotton. Frontiers Well-Defended. Boston, 1707, S. 3. Heimert (Anm. 65), S. 379. Slotkin, Richard u. Folsom, James K. So Dreadful a Judgement. Puritan Responses to King Philip’s War, 1676-77. Middletown (Conn.), 1987, S. 39. Mather, Cotton. Magnalia Christi Americana 2. 2. Aufl. Hartford (Conn.), 1820, S. 97. Kaufmann (Anm. 2), S. 214. Sennett (Anm. 9), S. 71.

Vom (White) American Adam zur (Black) American Eve Identitäten und Utopien in Toni Morrisons Paradise Thomas Claviez I. Einleitung Als Toni Morrisons Roman 1997 erschien, stieß er auf ein gemischtes Echo, sowohl seitens der Leserschaft als auch seitens der Kritiker.1 Neben seiner nachgerade einzigartigen Verschmelzung eines fabelähnlichen Plots mit zahlreichen metaphorischen und symbolischen Ebenen, und einer faulkneresken Polyphonie narrativer Stränge, war es vor allem die Interaktion dreier, politisch hochaufgeladener Bereiche, die sowohl dem Publikum als auch den Kritikern einiges Kopfzerbrechen bereiteten. Der erste, und vielleicht sichtbarste, ist der der Bildung einer Gemeinschaft oder Nation.2 Dieser Strang spiegelt sich wider im epischen Versuch von neun Familien, die ausschließlich (tief-)schwarzen Gemeinden erst von Haven, und später Ruby, zu gründen.3 Diese erste Bedeutungsebene eines errands into the wilderness impliziert jedoch zugleich eine zweite: die der ethnischen Identität. Was diese ohnehin sehr explosive Verquickung noch verschärft, ist der gender-Aspekt, der sich insbesondere im Convent fokussiert, der – außerhalb der Stadt Ruby gelegen – sechs schwarzen und einer weißen Frau Zuflucht gewährt. Durch einen der am meisten kommentierten narrativen Schachzüge Morrisons jedoch erfährt der Leser nie, welche der sechs Frauen eine weiße Hautfarbe besitzt. Wir erfahren nur über sie, was uns der erste Satz mitteilt: „They killed the white woman first“4; umgebracht wurde sie, wie der weitere Verlauf des Romans zeigen wird, durch einen aufgebrachten Mob verärgerter Männer aus Ruby. Nichts deutet im weiteren Verlauf der Geschichte darauf hin, welche der sechs Frauen ‚anders‘ ist. Obwohl Paradise noch weitere Aspekte beinhaltet, die diese ohnehin schon komplexe Gemengelage politisch hochbrisanter Themen weiter problematisiert, möchte ich meine Analyse innerhalb dieses topischen Dreiecks belassen. Dies u.a. auch, um die intrikaten Interaktionen und Spannungen dieser drei Bereiche zu erörtern, ohne dabei den Anspruch zu erheben, sie (auf) zu lösen. Ich werde sie viel-

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mehr versuchen zu verbinden und ihre gegenseitigen Resonanzen auszuloten mit Hilfe eines Konzepts, das sich in neueren theoretischen Debatten – insbesondere der zum Kosmopolitanismus – als sehr einflussreich erwiesen hat: das der Gastfreundschaft oder hospitality. Ich werde die Grundzüge dieses radikalen Konzepts von Gastfreundschaft, wie es von Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida entwickelt und vertreten wurde, weiter unten genauer umreißen. An dieser Stelle sei aber bereits darauf hingewiesen, dass es als eine Art Klammer fungieren kann, die nicht nur Begrifflichkeiten wie ‚Reinheit‘, Grenzlinien, und Ausschlussmechanismen umschließt, die sich als zentral in den Debatten um den Nationalstaat erwiesen haben; es generiert – in seiner Lévinasschen Variante – auch einen gender-Aspekt, der einen ebenso wichtigen (wenn auch selten explizit gemachten) Teil der Nationalismusdebatte darstellt.

II. Der (White) American – ein Blick zurück Einige Kommentatoren haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Morrisons Roman auf imaginäre und experimentelle Weise die Idee einer schwarzen, amerikanischen Eva – einer Black American Eve – nicht nur der im kulturhistorischen Kontext der USA notorischen Figur des White American Adam gegenüberstellt.5 Mittels der Diaspora und der Stadtgründungen von Haven und später Ruby durch eine hochgradig patriarchalisch strukturierte Gemeinschaft wird diese schwarze Eva auch mit einem Black American Adam kontrastiert und konfrontiert. Um diese komplexe Gemengelage zu durchdringen, erscheint es sinnvoll, einen kurzen Abriss der Entwicklung dieses kulturgeschichtlich so bedeutsamen Mythos zu geben. Seinem 1955 erschienenen Buch The American Adam stellt einer der Gründerväter der American Studies, Richard W. B. Lewis, die These voran, dass der Mythos Amerikas und seine Darstellung in der Literaturgeschichte des Landes auf einer zentralen Figur beruht: der des ‚amerikanischen Adams‘. Der authentische Amerikaner, so Lewis, sei „a figure of heroic innocence and vast potentialities, poised at the start of a new history.“6 Und er präzisiert etwas später: „The American myth saw life and history as just beginning. It described the world as starting up again under fresh initiative, in a divinely granted second chance for the human race, after the first chance had been so disastrously fumbled in the darkening Old World.“7

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Die Echos, die dieses Zitat erzeugt, wenn man es vor dem Hintergrund von Paradise liest, sind vielfältig; Lewis’ Bezug auf eine „darkening Old World“ ist nur eine, wenngleich sicher unbeabsichtigte Referenz. Die Überzeugung, eine ‚zweite Chance’ für einen Neuanfang erhalten zu haben, stellt in der Tat einen der Grundpfeiler der Anfänge der beginnenden amerikanischen Kultur- und Religionsgeschichte dar. So waren die Puritaner, die 1620 mit der Mayflower und später der Arabella die Küsten Neuenglands erreichten, getrieben von der Überzeugung und dem Wunsch, eine neue, ‚reinere‘ Form der Religion zu etablieren; zu etablieren auf einem Kontinent, dessen vermeintliche tabula rasa einen solchen Neubeginn ermöglichte. Nach dem Bruch des covenants of works, dem paradiesischen Fall, war ihnen durch Gottes Gnade eine zweite Chance, der covenant of grace gegeben worden; die Möglichkeit, eine modellhafte city upon a hill zu errichten, deren Integrität und Religiosität exemplarisch für eben jene sich verdunkelnde, ‚Alte Welt‘ sein sollte, auf die sich Lewis bezieht. Eine solche Projektion jedoch – und hier zeigt sich bereits am Ursprung des adamischen Mythos Amerikas eine komplizierte Ausgangslage – speist sich aus der Hoffnung der Puritaner auf ein virgin land und aus einer ganzen Reihe von Projektionen, deren Inhalte, wenngleich paradiesisch, keineswegs nur religiös motiviert waren. Vorstellungen eines Eldorado, eines Atlantis oder eines Garten Eden hatten den Kontinent imaginär ‚besiedelt‘, lange bevor die Puritaner dies taten. Darüber hinaus mussten diese bereits während des ersten, harten Winters feststellen, dass der Kontinent weder unbesiedelt war, noch dass Milch und Honig unbedingt im Überfluss vorhanden waren. Von Beginn an bedeutete das vermeintliche Paradies sowohl Gefahr als auch Verführung; verstärkt wurde diese Haltung zudem durch das, was Max Weber als die ablehnende Einstellung der Puritaner gegenüber allem ‚kreatürlichen‘ beschrieben hat8. So konnte der neue Kontinent den Puritanern keineswegs als ‚Paradies auf Erden‘ gelten, da das Leben auf Erden nur einen, wenn auch notwendigen, Übergangscharakter besitzen konnte – eine Art Intermezzo, für das die ‚Verführung‘ durch jegliche paradiesischen Zustände eher gefährlich als zuträglich erscheinen musste, und das von der protestantischen Arbeitsethik bestimmt wurde. Dass diese Verführung durch irdische und natürliche Ressourcen durchaus eine Bedrohung für das puritanische Unternehmen darstellt, muss bereits nach kurzer Zeit William Bradford, der erste Chronist und zweite Gouverneur von Neuengland feststellen, wenn er bereits 12 Jahre nach Ankunft der puritanischen Siedler konstatiert:

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For now as their stocks increased, and the increase vendible, there was no longer any holding them together, but now they must of necessity go to their great lots. They could not otherwise keep their cattle, and having oxen grown they must have land for plowing and tillage. And no man now thought he could live except he had cattle and a great deal of ground to keep them, all striving to increase their stocks. By which means they were scattered all over the Bay quickly and the town in which they lived compactly till now was left thin and in a short time almost desolate.9

Die Säkularisierung der city upon a hill, so muss auch Bradford erkennen, ist nicht aufzuhalten, und sie geht einher mit der zunehmenden Erschließung, und später auch Urbanisierung, Amerikas. Und wenngleich der yeoman, der Farmer, der durch ehrliche Arbeit und den unmittelbaren Kontakt zur Natur seine moralische Integrität bewahrt, einen Submythos des American Adam darstellt, den noch 150 Jahre später Thomas Jefferson zum Idealtypus stilisieren wird, so ist es doch eine andere, adamische Figur, die einen emblematischen Status im mythischen Imaginären der USA erreichen wird: die des frontierHelden. Genrehistorisch betrachtet verbindet beide Figuren das Narrativ des Pastoralen, wie Leo Marx, einer der anderen, einflussreichen Gründerväter der American Studies in seinem Buch The Machine in the Garden (1964) konstatiert. Die klassische Form dieser Pastorale jedoch – in der ein Flöte spielender Schäfer in einem weitgehend statischen Arkadien verweilt, das sowohl dem Unbill wilder Natur als auch allen negativen Einflüssen der Zivilisation enthoben ist – ist von Beginn an in Bewegung. Die Schlange in diesem amerikanischen Garten hat die Form eines Zuges angenommen, der die fortschreitende Zivilisierung und somit vielleicht gar den zweiten, paradiesischen Fall symbolisiert, den in seinen rudimentären Anfängen schon Bradford diagnostiziert. Diese moving frontier, die der Historiker Frederick Jackson Turner 1893 als einen der zentralen, amerikanisierenden Faktoren der amerikanischen Geschichte identifizieren wird, bringt einen ‚Helden‘ hervor, dessen Ambivalenz zugleich auch die Ambivalenz der amerikanischen Paradies-Vorstellung umgreift. Was Turner als die frontier-Erfahrung beschreibt, die diesen Amerikanisierungsprozess hervorbringt, definiert zugleich den American Adam und das amerikanische Paradies in einer perpetuellen Bewegung; tatsächlich, einen umgekehrten fall into paradise, oder vielmehr eine Art Mischung aus Sündenfall und paradiesischem Neuanfang:

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The wilderness masters the colonist. It finds him a European in dress, industries, tools, modes of travel, and thought. It takes him from the railroad car and puts him in the birch canoe. It strips off the garments of civilization and arrays him in the hunting shirt and the moccasin. It puts him in the log cabin of the Cherokee and Iroquois and runs an Indian palisade around him. Before long he has gone to planting Indian corn and plowing with a sharp stick, he shouts the war cry and takes the scalp in orthodox Indian fashion. In short, at the frontier the environment is at first too strong for the man. He must accept the conditions which it furnishes, or perish, and so he fits himself into the Indian clearings and follows the Indian trails. Little by little he transforms the wilderness, but the outcome is not the old Europe, not simply the development of Germanic germs, any more than the first phenomenon was a case of reversion to the Germanic mark. The fact is, that here is a new product that is American.10

Dieser Prozess der Amerikanisierung umfasst verschiedene Phasen: Zum einen flieht der amerikanische Adam vor dem dekadenten und moralisch diskreditierten Europa, erschafft sich quasi neu. Zum anderen jedoch sieht er sich einer Natur gegenüber, die überwunden werden, gezähmt und zivilisiert werden muss; ein Zivilisationsprozess, den er zugleich selbst durchläuft. Das Paradies jedoch wird in dieser Metamorphose ‚verbraucht‘; daher ist die frontier – die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation – eine sich fortwährend bewegende, da immer neue Grenzerfahrungen gemacht werden müssen, und immer neue, unverbrauchte Natur dafür benötigt wird. Paradoxerweise werden in Turners frontier-These die imperialen Implikationen eines solchen nationalen Mythos augenfällig in einem historischen Moment (wir schreiben das Jahr 1893), in dem das Bureau of Census die frontier für geschlossen erklärt hat. Die Kriege mit Spanien um Kuba und die Philippinen in den darauf folgenden Jahren sollten zeigen, dass die Grenze zwischen nationalem Mythos und imperialer Ideologie sich als überaus durchlässig erweist, und dass der amerikanische Adam auf der Suche nach neuen Wirkungsfeldern seine Unschuld zunehmend verlieren sollte. Im 19. Jahrhundert jedoch wird der frontier-Held zur emblematischen, kulturellen Adamsfigur. Und in einer der bekanntesten dieser Figuren – Natty Bumppo, dem Held der Leatherstocking-Romane James Fenimore Coopers – wird das überaus problematische Verhältnis nicht nur zur American Eve, sondern auch zum Paradies deutlich. Um seine Unschuld zu bewahren, muss er nicht nur den Verführungen der Zivilisation entgehen (die sie interessanterweise von der Natur übernom-

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men hat), sondern auch denen des weiblichen Geschlechts. Der amerikanische Adam jedoch muss diesen Verführungen widerstehen; er bleibt für immer allein. Das Paradoxe an einer Figur wie Natty Bumppo ist es, dass er einerseits der Zivilisation den Weg in die Wildnis ebnet, ihr jedoch zugleich immer wieder entflieht; würde er sich niederlassen – sei dies als Siedler und/oder Ehemann – würde er seine Identität und seine Freiheit verlieren, die durch die immer wiederkehrende Grenzerfahrung ermöglicht wird. Der amerikanische Adam ist im wahrsten Sinne des Wortes nicht nur ‚asozial‘, sondern in gewissem Maße auch impotent, da er keine Verbindung mit der amerikanischen Eva eingehen, und sich somit praktisch auch nicht fortpflanzen kann; dieser Sündenfall darf und wird nicht eintreten. Es bedarf jedoch hierbei der Feststellung, dass das amerikanische frontier-Szenario drei weibliche Rollen umfasst: Zum einen gilt die Zivilisation der ‚Alten Welt‘, also Europas, als effeminiert und effeminierend zugleich; diesem Einfluss sucht der amerikanische Adam zu entgehen. Zum zweiten überträgt sich diese Effeminierung auf das bereits zivilisierte Amerika, als dessen Symbol wiederholt die (vornehmlich weiße) amerikanische Eva fungiert, die den Helden in seiner Unabhängigkeit und Freiheit bedroht. Was die Gemengelage jedoch zusätzlich kompliziert, ist die Tatsache, dass auch die Natur selbst feminin definiert wird – was nicht zuletzt in Vorstellungen wie der des virgin land deutlich wird. Annette Kolodny ist in zwei einflussreichen Studien – The Lay of the Land und The Land Before Her – diesen Phänomenen nachgegangen. Sie zeigt auf, dass das Imaginäre des amerikanischen Naturverständnisses auf der Annahme einer daily reality of harmony [...] based on an experience of the land as essentially feminine – that is, not simply the land as mother, but the land as woman, the total female principle of gratification – enclosing the individual in an environment of receptivity, repose, and painless and integral satisfaction11

basiert. Und sie weist bereits zu Beginn ihrer Untersuchung auf das der Paradies-Erfahrung inhärente Paradox hin: Colonization brought with it an ‚inevitable‘ paradox: the success of settlement depended on the ability to master the land, transforming the virgin territories into something else – a farm, a village, a road, a canal, a railway, a mine, a factory, a city, and finally an urban nation. As a result, those who had initially responded to the promise inherent in a feminine landscape were now faced with the consequences of that response: either they recoiled in horror from the meaning of their manipulation of a

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naturally generous world, accusing one another, as did John Hammond in 1656, of raping and deflowering the ‚naturall fertility and comelinesse‘, or, like those whom Robert Beverley and William Byrd accused of ‚slothful Indolence‘, they succumbed to a life of easeful regression, ‚spung[ing] upon the Blessings of a warm Sun, and a fruitful Soil‘, and ‚approach[ing] nearer to the description of Lubberland than any other.‘ Neither response, however, obviated the fact that the despoilation of the land appeared more and more an ‚inevitable‘ consequence of human habitation – any more than it terminated the pastoral impulse itself.12

Mit der Flucht vor der essentiell als weiblich verstandenen Zivilisation des alten Europas – und ihrer Verkörperung durch die amerikanische Eva – geht die Vergewaltigung eines als ebenfalls essentiell weiblich verstandenen Paradieses einher. Da die Natur in Kolodnys Perspektive entweder als Mutter oder als Geliebte konzipiert wird, stellt sich der Prozess der Besiedlung notwendigerweise entweder als Inzest mit Ersterer, oder als Vergewaltigung Letzterer dar – ein Prozess, dessen Unvermeidbarkeit Kolodny zweimal betont. Dies führt wiederum ironischerweise dazu, dass der Versuch Kolodnys, in ihrem zweiten Buch, The Land Before Her, die bedeutende Rolle der American Eve für die Besiedlung des Kontinents herauszustellen, letztlich darin mündet, diese Eva der Mittäterschaft in diesem Inzest- bzw. Vergewaltigungsszenario zu überführen.13 Dennoch stellen Kolodnys Beiträge zweifelsohne einen begrüßenswerten Versuch dar, die nahezu ausschließliche Fixierung der ersten Generation von Amerikanisten in den USA – von Henry Nash Smith über Leo Marx und Perry Miller bis hin zu Richard W. B. Lewis – auf die männliche Adamsfigur in Frage zu stellen. So ist es in der Tat bemerkenswert, dass Lewis in der Einleitung zu The American Adam darauf hinweist, dass das menschliche Gehirn die Welt durch Dichotomien strukturiert und somit dialektisch wahrnimmt14, er aber der Antithese zum American Adam – der American Eve – keinerlei Beachtung schenkt. Diese monomythische Fixierung auf „Melodramas of Beset Manhood“, wie sie die amerikanische Feministin Nina Baym so treffend beschrieben hat15, ist in vielen Werken der 1960er, 1970er und 1980er Jahre kritisiert und hinreichend analysiert worden. Es ist mir nicht möglich, diese Diskussion hier im Einzelnen nachzuzeichnen; eine der noch immer ungelösten Fragen jedoch, scheint das hartnäckige Problem des Essentialismus’ zu sein, das nach Ansicht vieler poststrukturalistischer Kritiker inhärent mit der dichotomischen Auffassung von Welt verbunden ist, wie sie Lewis und andere

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Kommentatoren voraussetzen, und das sich nicht zuletzt auch in binären Oppositionen wie der von Adam und Eva fortsetzt. Die durch die ideologiekritischen Beiträge der 1960er und 1970er Jahre und später den Revisionismus der 1980er und 1990er Jahre entzündete Debatte hat zwar zu einem begrüßenswerten Aufweichen des amerikanischen Kanons geführt – weg von der Fixierung auf besagte Melodramen obsessiver Männlichkeit – hat jedoch, entgegen den theoretischen Annahmen, und unter dem Druck akademischer, institutioneller und politischer Notwendigkeiten, eher zu Auswüchsen einer bestimmten Form der identity politics geführt; zu Auswüchsen, so meine These, gegen die sich Morrisons Roman Paradise richtet. Der Roman tut dies auf eine Weise, die zum einen überaus bemerkenswert ist, zum anderen jedoch Probleme birgt und aufwirft, die verstärkt hervortreten, wenn man ihn vor dem Hintergrund des American Adam/American Eve-Topos und der Fragen liest, die die oben genannten Debatten nur unzureichend beantwortet haben: Ist die amerikanische Eva einfach (und unvermeidlich) impliziert im gewaltsamen Prozess der Besiedlung des Kontinents und der Schaffung einer Nation? Ist bzw. war sie dies aktiv, und trägt sie somit Verantwortung dafür? Oder hatte sie eine passive Rolle in einem Drama, das sie nicht vermeiden konnte, und das sich nicht vermeiden ließ? Hätte das Drama verhindert werden können oder einen anderen Verlauf genommen, wäre sie aktiver involviert gewesen? Hätte es weniger tragische Züge angenommen? Oder war sie durchaus aktiv, und als mäßigende Kraft tätig? Oder sind solche Fragen an sich schon fehlgeleitet und falsch gestellt, da die Annahme einer amerikanischen Eva – unabhängig von ihrer Hautfarbe – einem unangemessenen Essentialismus das Wort redet? Kann ein solcher Essentialismus (sei er so strategisch, wie er will) vermieden werden im Versuch, ein Gegenmodell zur weithin männlich dominierten Geschichte des Nationalstaates zu skizzieren, sowie den ebenso männlich konnotierten Mechanismen, auf die dieser aufbaut, wie etwa Eigentum, Ausschluss, Reinheit, Homogenität? (Interessanterweise werden gerade diese Konzepte eher sorgloser als männlich essentialisiert im Vergleich zur überaus zögerlicheren Essentialisierung ihrer vermeintlich weiblichen Gegenstücke). Oder gibt es ein weibliches Anderes, das uns erlauben würde, alternative Strategien von Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung zu entwerfen und zu entwickeln? Kann es, sollte dieses Andere nicht positiv (dialektisch gesprochen) gedacht werden, und nicht ausschließlich negativ, wie Luce Irigaray dies fordert? Oder bleibt es – qua seiner Alterität – unrepräsentierbar, wie

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Hélène Cixous argumentiert?16 Ich möchte diesen Fragen anhand einer Lektüre von Morrisons Paradise weiter nachgehen.

III. Identität vs. Gastfreundschaft? Die (Black) American Eve Eine solche Lektüre bietet sich nicht zuletzt deswegen an, weil Morrisons Roman, fast fabelartig, den Mythos der Neubesiedelung Amerikas – wenn auch auf der etwas verkleinerten Basis einer Kleinstadt, und mit afro-amerikanischen Protagonisten – quasi neu schreibt. Die Parallelen zwischen den ersten Siedlern – die im übrigen schon zu Beginn fast 30% afro-amerikanische Sklaven umfassten – und den „8-rock“-Familien Morrisons sind so augenscheinlich, dass mir die Forderung einiger Kritiker, man müsse den Roman ausschließlich im Kontext eines black nationalism lesen, aus folgenden Gründen unangebracht erscheint: (1) In beiden Fällen werden die Protagonisten aus ihrer Heimat vertrieben, wo sie als ‚Andere‘ angesehen und verfolgt werden; (2) beide Gruppen streben danach, eine homogene und ‚reine‘ Gemeinschaft zu gründen, obwohl die Geschichte uns gelehrt hat, dass eine solche Reinheit unmöglich ist; dass sie, im Gegenteil, von Beginn an ‚verunreinigt‘ ist. (Geschichte erodiert die ‚Heiligkeit‘ des ersten Ursprungs, den jeder Gründungsmythos beschreibt, und der Prozess der Säkularisierung treibt Keile in die vermeintliche Homogenität der Gemeinschaft, die wiederum Hierarchisierungs- und Ausschlussmechanismen nach sich ziehen); (3) beide reagieren aggressiv gegenüber einer Außenwelt und einem ‚Anderen‘ (bezeichnenderweise verweist die Vor-Geschichte des Konvents als boarding school für Indianer auf jenes ‚Andere‘ der Puritaner), auf das alle Ängste der Unreinheit projiziert werden, und das somit nur als unmoralisch und bedrohlich wahrgenommen werden kann; (4) in beiden Fällen sind Männer die treibende Kraft, die den Beitrag der Frauen ignoriert. Diese vielfältigen und augenscheinlichen Übereinstimmungen legen nahe, dass es sich bei den Gründungen von Haven und später Ruby um einen Fall sich wiederholender Geschichte handelt. Deshalb scheint mir die Behauptung, dass die schwarzen Gründerväter von Ruby ‚Opfer‘ des oder infiziert vom ausschließlichen Mythos wießer Reinheit seien, dazu zu nötigen, einen Großteil des Romans auszublenden. Was Paradise so bemerkenswert – ja fast politisch ‚inkorrekt‘ – macht, ist nicht nur, dass die schwarzen Gründerväter und -dynastien

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von Haven und Ruby dieselben Ausschluss-, Unterdrückungs- und Hierarchisierungsstrategien wie ihre weißen historischen Vorgänger an den Tag legen; hinzu kommt, dass die Gründung von Haven als ausschließlich (tief-)schwarze Gemeinde („midnight black“) ein für diese Gemeinschaft zentrales, historisches Trauma wiederholt. Dieses ist die Erfahrung einer mehrfachen Zurückweisung – also der Verweigerung von Gastfreundschaft – die ihnen (von Schwarzen und Weißen gleichermaßen) entgegenschlägt. Dieses Erlebnis von „hospitality withheld“, das als „disallowing“ im narrativen Ursprungsmythos der „8-rock“-Familien verewigt ist – „Everything anybody wanted to know about the citizens of Haven or Ruby lay in the ramifications of that one rebuff out of many“17 – wird in Form eines traumatischen Wiederholungszwangs im Freudschen Sinne nun auf alle weißen (und ‚nicht-ganz-so-schwarzen‘) Besucher und Bewohner projiziert. Die Bewahrung ethnischer Identität wird somit gleichbedeutend mit dem Gebot, ‚Anderen‘ die Gastfreundschaft zu verweigern, um gleichsam die Porösität einer ‚offenen Tür‘ zu vermeiden. Genauso gnadenlos, wie sie zurückgewiesen und vertrieben wurden, weisen sie eine Gruppe weißer Jugendlicher aus der Stadt, die sich dorthin ‚verirrt’ haben. Worauf sich der Titel ihres Romans bezieht, bleibt bis zum Ende ungewiss. Zum einen könnte er sich in einer ironischen Art und Weise beziehen auf eben jene Neugründung Amerikas, wie sie in Form der zwei schwarzen Städte durchgespielt wird; zum anderen könnte er das Paradies der sieben Frauen beschreiben, die sich in einem Konvent außerhalb der Stadt eine Zufluchtsstätte schaffen, die von den Einwohnern Rubys überaus ambivalent beäugt wird.18 Diese Enklave am Rande von Ruby bietet nicht nur den sieben Frauen, deren Geschichte der Roman erzählt, eine Zufluchtsstätte, sondern erweist sich auch für einige Bewohner der Stadt als kurzfristiges Refugium – und ‚bedroht‘ somit die homogene Abgeschlossenheit des patriarchalisch organisierten Stadtraums. Die Utopie/Dystopie, die der Roman mit dem alternativen Lebensraum des ausschließlich von Frauen bewohnten Klosters entwirft – der allerdings auch einigen der Männer der Stadt zwischenzeitlich Zuflucht gewährt – entfaltet seine Wirkung vor dem Hintergrund der Stadt Ruby und ihrer Geschichte. Was den Konvent und seine Bewohner charakterisiert, ist genau jene radikale und undiskriminierte/undiskriminierende Offenheit, deren Gegenstück die Abgeschlossenheit und vermeintlich ethnische Reinheit von Ruby darstellt. Dies wird auch symbolisiert durch die überaus wechselvolle Vorge-

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schichte, in der der Komplex unter anderem, wie bereits erwähnt, als Indianerschule, aber auch als Kloster gedient hat, und darüber hinaus – angedeutet durch zahlreiche erotische Skulpturen und Malereien in seinen Mauern – offensichtlich zu einem früheren Zeitpunkt auch als eine Art heidnische Kultstätte. Ähnlich heterogen wie die Geschichte des Konvents ist die der Frauen, die dort Zuflucht suchen. Diese Heterogenität – erzeugt durch die Porösität eben jener open door policy, die Ruby verweigert, und verbunden mit den psychischen und körperlichen Wunden der Frauen – führt zu einer überaus spannungshaften Koexistenz seiner Bewohnerinnen. Wird die Heterogenität der Stadt (zumindest oberflächlich) durch die Ausschluss-, Unterdrückungs-, und Hierarchisierungs-Stratageme der dynastisch privilegierten „8-rock“-Familien gewährleistet, so droht die narrative Vielschichtigkeit der Frauen im Konvent jederzeit zu Spannungen und Dissens zu führen. Ironischerweise erweist sich jedoch auch der vermeintlich homonome Ursprungsmythos von Ruby als anfällig für polyphone Heteronomien und Dissonanzen. In einem brillanten Kommentar auf die Problematik jedweden Gründungsmythos’19 – und die unvermeidlichen Versuche, sich diesen aus ideologischen Gründen zu Nutze zu machen – inszeniert Morrison diesen Mythos in der Form eines Ofens, der zum einen zu Beginn ganz pragmatisch das Überleben der Beteiligten sichert, der aber zum anderen eine Inschrift enthält, die zum Zankapfel der unterschiedlichen Fraktionen wird und die frühere Einheit und Homogenität des Städtchens zu zerreißen droht. Die ursprüngliche Inschrift (obwohl das Original, wie bei jedem Mythos, nie geklärt werden wird), wird von den Gründervätern als „Beware the Furrow of His Brow!“ (‚Sei gewahr der Falte in seiner Braue!‘) interpretiert. Da aber ein Teil der Inschrift durch den Zahn der Zeit vernichtet wurde, lesen ihn neuere Generationen als „Be the Furrow of His Brow!“ (‚Sei die Falte in seiner Braue!‘), oder gar „We Are the Furrow of His Brow!“ (‚Wir sind die Falte in seiner Braue!‘) – was verständlicherweise grundsätzlich unterschiedliche Ausdeutungen und Auffassungen der jeweiligen Mission (oder Ideologie) bzw. graduelle Unterschiede von Selbstermächtigung impliziert.20 Was der Roman hier narrativ und fast parodistisch vor Augen führt, ist die in der Philosophie und Anthropologie verbreitete Einsicht, dass es keinen ‚originalen‘ Mythos gibt bzw., dass sein Ursprung (und somit auch seine ‚Wahrheit‘) nie endgültig lokalisiert werden kann; zugleich jedoch macht er die Ausschlussmechanismen deutlich, die jede dieser Inter-

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pretationen und die mit ihnen verbundenen Geltungsansprüche implizieren. Diese Ausschlussmechanismen wiederum manifestieren sich nicht nur in dem Versuch der ‚ethnischen Reinhaltung‘ – (und im deutschen Kontext hat dieser Begriff einen überaus ominösen Beiklang) – der Stadt, sondern auch in der allergischen Reaktion gegenüber den Frauen des Konvents und deren radikaler Offenheit gegenüber allem ‚Anderen‘. Dass Morrison diese sowohl interpretativen wie auch sozialen Ausschlussmechanismen als männlich konnotiert, wird deutlich am Kommentar von Sloane Morgan, der Frau einer der beiden Meinungsführer von Ruby: Minus the baptisms the Oven had no real value. What was needed back in Haven’s early days had never been needed in Ruby […] The women nodded when the men took the Oven apart, packed, moved, and reassembled it. But privately they resented the truck space given over to it. […] Oh, how the men loved putting it back together; how proud it had made them, how devoted. A good thing, she thought, as far as it went, but it went too far. A utility became a shrine […].21

Während der Verlust seines praktischen Wertes – als Gegenstand, der einst die Ernährung und das Überleben aller Mitglieder der Gemeinschaft sicherte – den Ofen für die Frauen bedeutungslos macht, so zeigen sich an den (männlichen) Auseinandersetzungen über die Deutungshoheit der Inschrift nicht nur der offensichtliche FetischCharakter, den der Ofen inzwischen erreicht hat, sondern auch die unterschwelligen Verwerfungen: Die unterschiedlichen Ausdeutungen durch verschiedene Generationen verdeutlichen den Zerfallsprozess, dem kontingente Geschichte den vermeintlich reinen, ‚heiligen‘ Ursprung unterwirft. Das dystopische Ende dieses Romans – auf das ich weiter unten noch zu sprechen kommen werde – in dem die Frauen zum Teil getötet, zum Teil auf ihrer Flucht in alle Himmelsrichtungen zerstreut werden – sowie die Zentralität des Topos der Gastfreundschaft einerseits, und das, was ich als ‚allergische Reaktion gegenüber Andersheit‘ andererseits beschrieben habe – rücken Morrisons Roman in die Nähe einer philosophisch-religiösen Utopie bzw. Dystopie, die ihre Wurzeln im Werk von Emmanuel Lévinas haben. Lévinas’ ‚Ethik des Anderen‘ sowie dessen Radikalisierung des Konzeptes der Gastfreundschaft, aus dem auch die letzten Beiträge Jacques Derridas zu den Themen hospitality und cosmopolitanism ihre Inspiration ziehen, basiert auf der radikalen Neudefinition des Begriffes der Gerechtig-

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keit und Ethik. Der ‚allergischen Reaktion auf Alterität‘, deren Lévinas’ Ethik zum einen Rechnung trägt, die er aber andererseits zu umgehen sucht, begegnet er mit einer radikalen Neudefinition des Ethischen als explizit nicht-reziprok.22 Das Ich, so Lévinas, ist dem anderen gegenüber nicht in einer Situation des Paritätischen, Gleichen, oder Äquivalenten; das Ich besitzt vielmehr eine Verantwortlichkeit gegenüber dem Anderen, der es nie entsprechen, da es sie nie erfüllen kann. Ich bin durchaus nicht versucht, Lévinas’ komplexes philosophisches Gebäude hier in wenigen, skizzenhaften Ausführungen zu erläutern; das habe ich in aller Ausführlichkeit an anderer Stelle getan.23 Diese Lévinas’sche Ethik – und vielleicht ist sie eine moralphilosophische Utopie – bildet jedoch die Grundlage für Jacques Derridas letzte Werke zur Gastfreundschaft, wobei hier insbesondere On Cosmopolitanism and Forgiveness (2001) und Of Hospitality (2000) Erwähnung finden müssen. Ohne suggerieren zu wollen, dass Morrison mit dem Spätwerk von Derrida vertraut war, als sie diesen Roman schrieb, so nähert sie sich literarisch-imaginativ jener radikalen, ‚unmöglichen‘ Gastfreundschaft – und damit auch jenem sowohl utopisches als auch dystopischen Paradies – an, das Derrida folgendermaßen beschreibt: Let us say yes to who or what turns up, before any determination, before any anticipation, before any identification, whether or not it has to do with a foreigner, an invited guest, or an unexpected visitor, whether or not the new arrival is the citizen of another country, a human, animal, or divine creature, a living or a dead thing, male or female.24

Das ‚Paradies‘ Ruby ist charakterisiert durch mittels mehr oder weniger patriarchale Gewalt erzwungene, aber letztlich scheiternde Harmonie und Homogenität; ein Nein, das sich als Wiederholungszwang eines früheren Traumas geriert. Andererseits aber ist das Resultat des Ja, auf dem die unbegrenzte Gastfreundschaft des Konvents beruht, keineswegs reine Harmonie. Eine solche ließe sich auch nicht veranschlagen für das radikale Konzept von hospitality, das Lévinas und Derrida verfolgen. Der host kann jederzeit zum hostage des Anderen werden; an dieser hyperbolischen Metapher hat sich eine ganze Reihe von Kritiken an Lévinas entzündet, der mit diesem Begriff das irreziproke Verhältnis zwischen Ich und Anderem auf die Spitze treibt.25 Diese hyperbolische Form – deren Opferrhetorik bisweilen gar das Existenzrecht des Einzelnen im Angesicht des Anderen, und angesichts der uneinholbaren Verantwortung gegenüber diesem Anderen in Frage stellt – eröffnet eine ganze Reihe von Problemen und

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Fragen nach der Anwendbarkeit, der pragmatischen Umsetzbarkeit, eines solchen Paradieses, das durch seine Verletzlichkeit jederzeit ins Dystopische kippen kann. So kann selbst das Tier, dessen Einlass Derrida anmahnt, sich als Trojanisches Pferd erweisen. Kann, so die berechtigte Frage, eine solche Ethik programmatisch, d.h. im Sinne einer politischen Handlungsanweisung, umgesetzt werden? Hier lohnt es sich, wieder einen Blick auf Morrisons Roman zu werfen. Interessanterweise kommt es zu einer Zuspitzung der spannungsgeladenen Koexistenz zwischen den Frauen und der Stadt Ruby erst, als die Gründermutter, Consolata, die eher unkoordinierte Offenheit des Konvents in eine idiosynkratische Form religiöser Ideologie, die auf dem brasilianischen Candomblé-Kult beruht, zu überführen sucht. Religion definiere ich hier im Sinne von Althussers ‚Ideologischen Apparaten‘. Erst dieser Versuch ist es, der die Spannungen zum Eskalieren und die allergische Reaktion gegenüber dem ‚Anderen‘ zum gewaltsamen Ausbruch bringt. Dies ließe sich deuten als Morrisons Kommentar zu der Möglichkeit – oder vielmehr, der Unmöglichkeit – , eine Ethik der Gastfreundschaft tatsächlich in eine lebbare Form zu gießen. Diese Unmöglichkeit, so scheint es, wird auch durch das Ende des Romans unterstrichen. Dennoch bleibt die Frage offen, ob Morrisons Allegorie eines unparadiesischen Paradieses – einer dystopischen Utopie, die Differenz anerkennt und auslebt, und nicht unter dem Druck eines patriarchalischen Harmonie- und Homogenitätsdenkens begräbt – nicht so etwas wie einen Essentialismus des Weiblichen voraussetzt oder postuliert. Dieser Vorwurf wurde auch Lévinas gemacht, der die Gastfreundschaft wie folgt als weiblich definiert: [T]he other whose presence is discreetly an absence, with which is accomplished the primary hospitable welcome which describes the field of intimacy, is the Woman. The woman is the condition for recollection, the interiority of the Home, and inhabitation […] The Other who welcomes in intimacy is not the ‚you‘ [‚vous‘] of the face that reveals itself in a dimension of height, but precisely the ‚thou‘ [‚tu‘] of familiarity: a language without teaching, a silent language, an understanding without words, an expression in secret. The I-Thou in which Buber sees the category of interhuman relationship is the relation not with the interlocutor, but with feminine alterity.26

Etwas später mildert Lévinas das, was ihm als essentialistisch vorgeworfen wurde, ab; so wenn er schreibt: „The empirical absence of the human being of ‚the feminine sex‘ in a dwelling nowise affects the

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dimension of femininity which remains open there, as the very welcome of the dwelling.“27 Lassen sich Kategorien des Weiblichen oder Männlichen denken ohne Rückbezug auf Essentialismen, seien sie auch nur vorläufiger/pragmatischer/strategischer Natur? Wie sieht ein Paradies aus der Perspektive von Eva aus? Ist es eine Perspektive, die der unheilvollen Vermischung des Paradieses als weiblich und Eva als Verkörperung des Weiblichen entgeht? Einer Eva, die die Differenz anerkennt als der Projektion der paradiesischen Harmonie des amerikanischen – oder jedweden anderen – Adams zuwiderlaufend? Oder definiert und perpetuiert die binäre Opposition zwischen Adam und Eva eine solche Fragestellung als von vornherein wiederum patriarchalisch strukturiert? Sowohl Lévinas als auch Morrison, so scheint es, kommen nicht vollständig umhin, Differenz auf der Grundlage von Essentialismen zu definieren. Und sowohl Derrida als auch Morrison scheinen die Unmöglichkeit einer solchen Gastfreundschaft – sei sie nun als weiblich ausgewiesen oder nicht – zu untermauern. Dennoch bleibt, so meine These, eine solche Idee der Gastfreundschaft als die eines anderen Paradieses – eines konfliktreichen, aber gewaltarmen oder gar -freien Paradieses – eine Möglichkeit, sich dem anzunähern, was Derrida als „messianicity without messianism“28 bezeichnet. Ob diese Alternative als eine weibliche entworfen und gekennzeichnet wird oder sein muss, bleibt abzuwarten. Was Paradise so bemerkenswert macht ist jedoch, dass es nicht nur die Konfrontation mit der patriarchalischen Rage Rubys ist, die das utopische Projekt der Frauen scheitern lässt. Der Anlass dieser Konfrontation ist vielmehr der Versuch, die anarchische Offenheit der Frauengemeinschaft in eine positive, identitätsstiftende Form (oder Ideologie) zu überführen. Dieser zentrale Gründungsakt hat viele Leser und Kritiker verstört; er ist zentral, weil sich in ihm die Thematiken der Gastfreundschaft, der Identität und des Ausschlusses kreuzen. So verleiht sich nicht nur die Leiterin des Konvents in einem symbolträchtigen Akt einen neuen Namen – sie wird von Connie zu Consolata Sosa; zugleich werden, in einer paradoxen Bewegung, Ausschluss und Gastfreundschaft miteinander verbunden: „If you have a place […] that you should be in and somebody loves you waiting there, then go. If not stay here and follow me. Someone could want to meet you.“ No one left. There were nervous questions, a single burst of frightened giggling, a bit of pouting and simulated outrage, but in no time at all they came to see that they could not leave the one place they were free to leave.29

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Diese Freiheit wird jedoch jäh konterkariert durch eine Konsolidierung von Identität, Autorität und Homogenität, die jener der Patriarchen von Ruby in nichts nachsteht: „I call myself Consolata Sosa. If you want to be here you do what I say. Eat how I say. Sleep when I say. And I will teach you what you are hungry for.“30 Es ist, so scheint es, letztlich unvermeidlich, das amorphe, prä-identitäre Projekt einer indiscriminate hospitality zu transformieren in ein identitätsstiftendes Programm – ein Programm, das den verletzten und traumatisierten Frauen zwar in seiner religiös-spirituellen Ausrichtung Halt und Heilung gewährt, das jedoch auch alle (vermeintlich männlichen) Charakteristiken von Reinheit, Ausschluss und Hierarchisierung aufweist. Dieser Akt, der zugleich Gründung und Konsolidierung darstellt, stellt sich für manchen Leser sicherlich als narrationslogisch fragwürdig und dramaturgisch enttäuschend dar. Er kann aber auch interpretiert werden als Morrisons Konzession an die ‚Wirklichkeit‘; als Dramatisierung der Einsicht, dass jedes Programm, jede dialektisch positive Konturierung eines Ideals von Gastfreundschaft, die Wurzeln ebendieser Gastfreundschaft in Frage zu stellen droht. Nicht umsonst hat sich Jacques Derrida wiederholt geweigert, der Dekonstruktion – und sein Konzept der Gastfreundschaft stellt eine Dekonstruktion der Nationalstaatsidee dar – in konkreten, politischen Handlungsanweisungen und Programmen zu formulieren, was ihm wiederholt Kritik seitens pragmatischer und praxisorientierter Philosophen eingebracht hat. Die Spuren der Sozialromantik, die die Idee des Kosmopolitischen (und die damit verbundene Idee der Gastfreundschaft) in der Tradition des deutschen Idealismus zweifellos trägt, ist jedoch das normative Korrektiv zu einer Politik des Möglichen. Paradise lässt sich somit als Kommentar auf die paradoxe, selbstzerstörerische Dynamik einer Ethik interpretieren, die das politisch Machbare transzendiert, die aber nur und gerade dadurch ein ethischer Horizont bleiben kann. Dass es, trotz des doppelten Scheiterns des Konvent-Projekts, eines solchen imaginären, vielleicht gar idealistischen Prinzips jenseits der politischen Pragmatik bedarf, macht Morrison am Ende des Romans klar, an dem Consolata eine (wiedergeborene?) weiße Frau im Arm hält: There is nothing to beat this solace which is what Piedade’s song is about, although the words evoke memories neither one has had: of reaching age in the company of the other; of speech shared and divided bread smoking from the fire; the unambivalent bliss of going home to be at home – the ease of coming back to love begun. When the ocean heaves sending rhythms of water ashore, Piedade looks to see what has come. Another ship, perhaps, but different, heading to port, crew and

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passengers, lost and saved, atremble, for they have been disconsolate for some time. Now they will rest before shouldering the endless work they were created to do down here in Paradise.31

Nicht nur wird hier noch einmal, mittels des „bread smoking from the fire“ der Topos des Ofens evoziert, in seiner ursprünglichen, pragmatischen, und prä-sakralisierten Funktion; er wird verbunden mit dem Konzept der radikalen und absoluten Gastfreundschaft. Es ist bemerkenswert, dass das Bild eines ‚Open Port‘, das Morrison hier entwirft, tatsächlich ein, wenn auch kleines, Äquivalent in der politischen ‚Wirklichkeit‘ gefunden hat. Einer der beiden Aufsätze, die in Of Hospitality veröffentlicht wurden, ist ein Vortrag, den Derrida anlässlich einer Tagung zum Thema „Cities of Refuge“ 1986 gehalten hat. Diese Städte/Stätten der Zuflucht haben sich zusammengeschlossen zu einem europäischen Netzwerk von Städten (ICORN, International Cities of Refuge Network), die verfolgten Autoren Zuflucht gewähren. Auch diese Städte bilden – mit all den praktischen Problemen, die dies mit sich bringt – eine kosmopolitische Alternative der Gastfreundschaft und, wenngleich stark beschränkt, einen Gegenentwurf zur Idee des Nationalstaates. Wenngleich also die praktisch-politische Umsetzung eines Ideals (und eines überaus problematischen) dieses sowohl zu unterminieren droht als auch ihm seine Grenzen aufzeigt, so bleibt doch das Ideal als etwas die Grenzen des politisch Machbaren transzendierendes, ein unverzichtbarer Bestandteil. Morrisons Roman macht deutlich, dass eine solche Positivität nur als ein Aufflackern gedacht werden kann, das, sobald es sich verstetigt, Gefahr läuft, zum Dogma zu werden. Ein solches, irdisches Paradies erfordert endlose Arbeit, in starkem Kontrast zu allen religiösen Vorstellungen (insbesondere den puritanischen), in denen es zwar Arbeit bedarf, um ins Paradies zu gelangen, sich das Paradies selbst aber durch einen 100%-Anteil von Arbeitslosigkeit definiert. Eine reine Fixierung auf das Machbare, ohne einen Begriff des ‚Sollbaren‘, das ersteres transzendiert, macht eine solche endlose Arbeit zum sinnentleerten Weitermachen; und eine Möglichkeit, eine solch problematische Transzendenz zu entwerfen, bietet die Literatur. Ob, wie Reverend Misner vermutet, der blutige Überfall auf den Konvent auch dem Städtchen Ruby einen Neuanfang ermöglicht – einen dritten Covenant, sozusagen – lässt der Roman offen. Auch sein Entwurf eines Paradieses auf Erden ist eng verbunden mit der Vorstellung eines Zuhauses:

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But can’t you even imagine what it must feel like to have a true home? I don’t mean heaven. I mean a real earthly home. Not some fortress you bought and built up and have to keep everybody locked in or out. A real home. Not some place you went to and invaded and slaughtered people to get. Not some place you claimed, snatched because you got the guns. Not someplace you stole from the people living there, but your own home, where if you go back past your great-great-grandparents, past theirs, and theirs, past the whole of Western history, past the beginning of organized knowledge, past pyramids and poison bows, on back to when rain was new, before plants forgot they could sing and birds thought they were fish, back when God said Good! Good! – there, right there where you know your own people where born and lived and died. Imagine that, Pat. That place. Who was God talking to if not to my people living in my home?32

Diese Vision scheint zwar verwurzelt in einer rückwärts gewandten Mythologie, erweitert aber zugleich, im Verweis auf die Genesis, die Vorstellung von „my people“ auf alle Menschen, und macht die ganze Welt zu ‚meinem Zuhause‘ – eine kosmopolitische Vision, aus der auch der Begriff der Gastfreundschaft entspringt. Wenn, zu guter Letzt, viele Kritiker und Leser bemängeln, dass Paradise im Vergleich zu seinen Vorgängerwerken ein sperriger Roman ist, dessen Komplexität, metaphorische Dichte und narrative Polyphonie verhindern, dass man sich in ihm zu Hause fühlt, so mag das daran liegen, dass das Konzept radikaler hospitality, das der Roman meines Erachtens dramatisiert, dieses Zuhause nicht zu einem Ort der Heimeligkeit und der Gemütlichkeit macht, sondern erweitert zu einem weltweiten Ort endloser Arbeit, die die Begegnung mit dem Anderen erfordert.33 Diese Sisyphus-Arbeit evoziert der Roman, bildet sie mimetisch ab, und gibt sie zugleich an den Leser oder die Leserin weiter – eine Arbeit, die sich aber in jedem Falle lohnt.

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Zu den vermeintlichen Gründen hierfür – insbesondere bezüglich der Anforderungen, die der Roman im Vergleich zu früheren Werken Morrisons stellt, vgl.: Page, Philip. „Furrowing All the Brows: Interpretation and the Transcendent in Toni Morrison’s ‚Paradise‘“. African American Review 35.4 (2001): 637-649. Eine kritische Verortung von Paradise im Kontext der Debatte um einen Black nationalism bietet: Schur, Richard L. „Locating ‚Paradise‘ in the Post-Civil Rights Era: Toni Morrison and Critical Race Theory“. Contemporary Literature 45.2 (2004): 276-299. Die Bezeichnung „8-rock“, die die Gründerfamilien tragen, bezieht sich auf eine tiefe Kohlenformation; vgl. hierzu: Davidson, Rob. „Racial Stock and 8-Rocks: Communal Historiography in Toni Morrison’s ‚Paradise‘“. Twentieth Century Literature 47.3 (2001): 355-373. Morrison, Toni. Paradise. New York, 1975, S. 1. Vgl. hierzu Dalsgård, Katrine. „The One All-Black Town Worth the Pain: (African) American Exceptionalism, Historical Narration, and the Critique of Nationhood in Toni Morrison’s ‚Paradise‘“. African American Review 35.2 (2001): 233-248; Hilfrich, Carola. „Anti-Exodus: Countermemory, Gender, Race, and Everyday Life in Toni Morrison’s ‚Paradise‘“. Modern Fiction Studies 52.2 (2006): 321-349. Lewis, Richard W. B. The American Adam: Innocence, Tragedy, and Tradition in the Nineteenth Century. Chicago, 1955, S. 1. Ebd., S. 5. Vgl. Weber, Max. Gesamtausgabe I.19. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Hg. v. Helwig Schmidt-Glintzer. Tübingen, 1989. Bradford, William. Of Plymouth Plantation. Norton Anthology of American Literature. Hg. v. Nina Baym. 7. Aufl. New York u. London, 2008. 58-75, S. 74. Turner, Fredrick Jackson. The Frontier in American History. New York, 1935, S. 21. Kolodny, Annette. The Lay of the Land. Chapel Hill, 1975, S. 4. Ebd., S. 6 f. [Hervorh. v. T. C.]. Für eine genauere Analyse von Kolodnys Werk vgl.: Claviez, Thomas. Grenzfälle: Mythos – Ideologie – American Studies. Trier, 1998, S. 253 ff. Vgl. Lewis (Anm. 6), S. 13. Baym, Nina. „Melodramas of Beset Manhood: How Theories of American Fiction Exclude Women Authors“. American Quarterly 33 (1981): 123-139. „If it [the feminine other] is truly ‚the other‘, there is nothing to say; it cannot be theorized. The ‚other‘ escapes me. It is elsewhere, outside: absolutely other. It doesn’t settle down.“ Cixous, Hélène u. Clément, Catherine. The Newly Born Woman. London, 1975, S. 71; vgl. auch Irigaray, Luce. I Love to You. Übs. v. Alison Martin. New York, London, 1996, S. 11 ff.

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Thomas Claviez

Morrison (Anm. 4), S. 189. „I was interested in the kind of violent conflict that could happen as a result of efforts to establish a Paradise. Our view of Paradise is so limited: it requires you to think of yourself as the chosen people – chosen by God, that is. Which means your job is to isolate yourself from other people. That’s the nature of Paradise: it’s really defined by who is ‚not’ there as well as who is.“ Sie schränkt aber ein: „The title isn’t an accurate description of the town or the Convent or any other place in the text“; dies kann nicht überraschen, war doch als ursprünglicher Titel War angedacht, den Morrison nur auf Drängen des Verlags änderte. Morrison, Marcus, James u. Toni. „This Side of Paradise: A Conversation with Toni Morrison“, http://www.amazon.com/exec/obidos/tg/feature/-/ 7651/books/107-1133695-5006937 [16.04.2008]. Vgl. „[T]he Old Father recited the stories of that journey: the signs God gave to guide them – to watering places, to Creek with whom they could barter their labors for wagons, horses and pasture; away from prairie-dog towns fifty miles wide and Satan’s malefactions: abandoned women with no belongings, rumours of riverbed gold.“ Morrison (Anm. 4), S. 14. Ebd., S. 107. Für eine genauere Analyse der verschiedenen Bedeutungsfacetten, vgl.: Dalsgård (Anm. 5). Zum theoretischen Verhältnis von Ideologie und Mythos, und der problematischen Funktionalisierung des letzteren durch erstere, vgl. Claviez (Anm. 13). Morrison (Anm. 4), S. 103. Lévinas, Emmanuel. Totality and Infinity. Pittsburgh, 1969. Vgl. Claviez, Thomas. Aesthetics & Ethics, Otherness and Moral Imagination from Aristotle to Lévinas and from ‚Uncle Tom’s Cabin‘ to ‚House Made of Dawn‘. Heidelberg, 2008. Derrida, Jacques u. Dufourmantelle, Anne. Of Hospitality. Stanford, 2000, S. 66. Dies ist jedoch m. E. eine Fehleinschätzung, die auf einer falschen Lektüre Lévinas’ beruht. Vgl. hierzu Claviez 2008 (Anm. 23), S. 216 ff. Lévinas (Anm. 22), S. 55. Lévinas (Anm. 22), S. 158. Derrida, Jacques. The Other Heading. Bloomington, 1992, S. 333. Morrison (Anm. 4), S. 262. Ebd. Ebd., S. 318. Ebd., S. 213. Vgl. auch Bhabha, Homi. The Location of Culture. London, 2004, S. 9-18; Hilfrich (Anm. 5), S. 328 ff.

De profundis. Geodizee statt Theodizee Elisabeth von Samsonow I. Vorrang des Grünen „Jägermythen machen das geopferte Mädchen zur Braut des großen Beutetieres, ob Bär, Büffel oder Wal; der Mythos der Ackerbauern verbindet es mit der Aussaat, die unter die Erde muß, damit die Ernte wiederkehrt.“1 – An dem Ort, an dem wir uns befinden, ist uns die Orientierung aufgegeben. Wir befinden uns als Globalisierte in geologisch kritischem Gebiet. Es ist viel von Territorialität die Rede gewesen, von Deterritorialisation und Reterritorialisation; Begriffen, die kaum ihren Erfindern flüssig von der Lippe gingen – aber was ist das wirklich, der „Nomos der Erde“? Ist dieser Nomos noch verbunden mit der Idee des Weiderechts, ist das der Nomos der Erde, der mit den Mitteln der kriegerischen Landnahme zum Territorialstaat aufzustufen ist, wie Carl Schmitt meinte?2 Die Bedingungen der Terrialisation sind, so viel lässt sich auch für die politische Philosophie festhalten, erstrangig, besitzen Prinzipienstatus. Das heißt, in einer Umkehrung von Ursache und Wirkung in die richtige Reihenfolge, dass erst das Erdregime kommt und in zweiter Linie das Menschenregime folgt. Die eine erfüllte Bedingung, die erfüllte Erdregimebedingung, zieht die nächste nach sich, die Menschenregimebedingung. Das Terrestrische ist der Raum, in dem das der Verkörperung Unentbehrliche vorgefunden wird: Luft, Früchte, Bäume, Tiere, Wasser. In welcher Weise geht also die Erdbeschreibung der Selbstbeschreibung von Menschen voraus? Die theoretische Aufgabe, die nach dem Scheitern der ökologischen Revolution der 1970er Jahre auf uns kommt, ist die Geodizee, die an die Stelle der Theodizee rückt. Die ökologische Perspektive wiederholte oder verschärfte die Natur-Kultur-Differenz. Durch den Imperativ des ‚Schutzes‛, und zwar durch den Imperativ einer reflexiven Abjektion (Menschen befehlen: schützt die Natur vor uns selbst) wurde die hegemoniale Intention gegenüber der Natur depressiv. Die Erde wurde von Naturschützern in den 1970er Jahren als gefährdet bewertet. Sie hat sich aber seitdem immer noch nicht zum Untergang bequemt, zum ökologischen Zusammenbruch, trotz ihres, von Lovelock diagnostizier-

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ten Dauerfiebers durch den menschlichen Parasitenbefall.3 Aus diesem Grunde klingt es neuerdings lächerlich, ja größenwahnsinnig, wenn man sagt, man sei eine/r, die/der die Natur schützen wolle. Uns wird bewusst, dass wir die Natur theoretisch unterschätzt haben. Es beginnt uns zu dämmern, dass unsere Naturdiskussion das Niveau der Einsichten, die die Naturphilosophie der Renaissance und des Hochbarock formuliert, entschieden unterschreitet. Wir fangen an zu erkennen, dass wir auf philosophischer Ebene den Anschluss an die Molekularbiologie, die Festkörper- und Quantenphysik verpasst haben. Aus Treue gegenüber den Traditionen des Denkens – oder sollte man besser sagen: aufgrund der Trägheit, mit der uns die Institutionen anstecken? – sind wir philosophisch vorkopernikanisch geblieben. Wir sind also arrièregardistisch. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts nämlich hatte eine Bewegung eingesetzt, die sich unter dem Titel Biosphärenlehre zusammenfassen lässt. Die Entwicklung dieser Lehre, ihre Ergebnisse bzw. ihr Wirksamwerden wurden durch die zwei Weltkriege verspielt. Der amnetische Status der 1950er, 1960er und 1970er Jahre hatte verhindert, dass auf der Höhe dieser Einsichten weitergedacht worden wäre. Protagonisten der Biosphärenlehre waren vor allem Teilhard de Chardin, Xavier Le Roy, Vladimir Vernadsky, Alfred Lotka, Eduard Süss. Ihre Theorien würde ich als Krypto-Paradieslehren des biologistischen Typs bezeichnen. Sie treten in einem gewissen theoretischen Maximalismus im Stile des Leibnizschen Optimismus auf. Das heißt im Klartext: diese Theorien behaupten die Vollkommenheit des Systems Erde. Teilhard de Chardin, dessen in gewissen Passagen revolutionäre Einsichten wohl auf Grund seines Priesterberufs und eindeutig theologischer Töne heute wenig Prestige genießen, beschreibt das System Erde als in einer drift befindlich. Die Erde entwickle sich in Richtung auf eine von ihm so genannte „Noosphäre“ 4, in der sich zunehmend ausbreitet, was er als „göttliches Milieu“5 bezeichnet. In diesem göttlichen Milieu ist die „alte Erde“6 vollkommen transformiert, und zwar in die, ihr immer schon inhärierende, entelechisch wirkliche Gestalt hineingewachsen. Teilhard de Chardin sagt also der alten Erde einen Erdtod voraus, zum Entzücken des apokalyptischen Lagers. Was bedeutet aber in diesem Zusammenhang die Rede vom „Erdtod“7, vom Ende der alten Erde? Interessanterweise lässt sich Teilhard de Chardin nicht wie viele seiner Kollegen aus allen Religionen dazu hinreißen, die Erde im apokalyptischen Feuer versinken zu lassen. Ihr Tod bedeute vielmehr eine radikale Umgestaltung, eine

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Veränderung, die sie aus sich selbst heraus vollbringe. Insofern Teilhard de Chardin der Erde eine ihr innewohnende Lebendigkeit, eine Biographie, eine Entwicklung, ja sogar eine eigene Heilsgeschichte zuschreibt, kann seine Position als geotheologisch oder geosophisch verstanden werden. Teilhard de Chardin ist der Einzige, so weit ich sehe, der die theologische Rechtfertigung des Menschen an die Rechtfertigung der Erde koppelt und folgerichtig eine „Christologisierung“8 der Erde vornimmt. Die Karriere des Menschen hängt also unmittelbar an der seines Planeten. Umgestaltung des Menschen setzt Umgestaltung seines Milieus voraus. Das ist ökologischer Chiliasmus. Wenn also die territoriale Wesenschaft, die Biosphärianer, eine Erhöhung ihrer Komplexitätsgrade und kulturelle bzw. (in diesem Fall) spirituelle Formen von Größe und Erhabenheit erreichen wollen und können, ist das in diesem Modell eine Folge, die sich aus dem Milieu herleitet, nicht umgekehrt. Wenn eine Kultur sich verdichtet, involviert und orthogenetische „Hubkraft“9 ausbildet, dann geschieht das nach der Vorstellung von Teilhard de Chardin so, dass das gesamte System sich bewegt, von einem Pol angesogen wird. Dieser Pol ist der Punkt Omega, auf den hin eben diese irreversible Bewegung stattfindet, die drift. Im Modus der Territorialität, der ‚Globalisierung‛, die schließlich die Erdfigur zu Ende zeichnet, kommt es zu einer Verdichtung, zu einem neuen Auf-die-Erde-Zurückkommen. Auf die Erde zurückkommen heißt, die systemische Partnerschaft, in der sich die Menschheit mit ihr befindet, im Ganzen sehen und anerkennen. Eine Art Involution zieht das System zusammen, was die Interdependenzen leichter erkennbar werden lässt. Gott, Erde und Menschheit lassen sich nicht jeweils gesondert rechtfertigen. Eine gerechtfertigte Menschheit setzt eine gerechtfertigte Erde voraus. Die Qualität der Erderfahrungen wird durch die Systemeigenschaften der Erde selbst begründet. Es lässt sich klarer sehen, dass von und aus der Erde jene bestimmte Form der Verkörperung kommt, die bestimmte Erfahrungen unausweichlich macht. In der Körpertheorie hat bisher eindeutig der Erdkörper gefehlt. Bis heute hat niemand eingeklagt, dass Geographie und Geologie integraler Teil der Sonderforschungsbereiche zu body und performance zu sein hätten. Die bisherige Körpertheorie, obgleich das dazugehörige Schrifttum Bibliotheken füllt, ist Makulatur, weil sie versäumt hat, die Beschaffenheit des Großkörpers der Erde zu denken. Solange man jedoch nicht begriffen hat, was Erdstofflichkeit ist, wird die Theorie des menschlichen Körpers ohne Anfang und Ende bleiben. Die Erde

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produziert Körper als spezifische Leistung ihrer Stofflichkeit (Körper produzierender Körper), die als ihre Großkörperderivate in der Summe lebendiger Wesen existieren. Bewegt sich also die Menschheit, dann ist, nach dem Buchstaben dieser systemischen Logik, die Erde schon vorausgegangen. Wenn eine neue Phase in der universalen drift beginnt, dann ist die Erde immer schon zuerst in sie eingetreten. Wie die Nahrung, die aus den Erdelementen gezogen wird, Fleisch, Holz, Stein und Metall, so gibt sie auch die Information mit oder durch, die die Architektur der Körper der Lebewesen durchzieht. Sie schleust ihr Wissen in sie ein, indem sie körperliche Masse aufbaut und den Körpern Träume und Visionen eingibt. Die Erde enthält in ihren Pflanzen das erste Bewusstsein, das in die großen Pharmaka hineingesenkt ist, was die Voraussetzung für eine neue Schwellenarbeit (d.h., selbsterkenntnishafte Nivellierung der Kulturschranke gegenüber der Natur) bildet. Umgebung wird Eingebung. Landnahme (Nomos der Erde) ist gegenseitige Vereinnahmung von Mensch und Milieu. Eine Erdlehre, die diesem Echoeffekt Rechnung trägt, also atmosphärische Erdumarmungen als erste Einheiten hat, wird nicht mehr nur auf den Urbanismus aufbauen. Sie wird weder nur Gaia-Theorie sein, wie sie Lovelock in unverhüllter Misanthropie formuliert hat10, noch eine Ökologie, wie sie Bruno Latour als „politique de la nature“11 als System der Zwei Kammern (nach einem politischen parlamentarischen Modell) zur Diskussion gestellt hat. Sie wird in eine Geosophie münden, die etwa Philippe Descola als summum bonum einer jenseits der Zweiwertigkeit von Natur und Kultur angesiedelten Erkenntnisform anpeilt: „Wenn man einmal das alte rechtwinklige Natur-Kultur-Raster verlassen hat, kann eine neue multidimensionale anthropologische Landschaft auftauchen, in welcher Steine und Quarks, kultivierte Pflanzen und die Genomsequenzen, Jagdrituale und die Ölproduktion in so vielen Variationen innerhalb eines einzigen Sets von Beziehungen erkennbar werden, welches sowohl menschliche wie nicht-menschliche Wesen umfasst.“12 In dieser Erdphilosophie treten nicht-menschliche Partner auf, die zu denken man durch totemistische Figuren hindurch einüben kann. Wie der Esel bei Giordano Bruno, der den Eintritt in die Akademie begehrte und bei seinem Aufnahmegespräch keine schlechte Figur gemacht hat (kein Wunder, da er eine Reinkarnation des Aristoteles höchstselbst zu sein beanspruchte) 13, steht die Erde an, selbst in die Gemeinschaft oder Akademie der bewussten Lebewesen aufgenommen zu werden. Ihre Mitgliedschaft nimmt sie in einer be-

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stimmten Zeitform an, im apriorischen Perfekt. Ihre Mitgliedschaft ist nämlich rückwirkend gültig. In der totemistischen Aszendenz liegt ein Konzept der Mittelbarkeit menschlicher Elternschaft vor, die durch die parenté der Erde immer schon gattungsweit überboten ist. Ein Individuum ist das telos seiner Emergenzebene, in welchem sich diese vollendet. Es ist das Milieu, das sich in den individuellen Exemplaren verausgabt. Die Verbindung zwischen Milieu und Individuum ist von den jüngsten Kommentaren der Individuationsthesen Gilbert Simondons zu Gunsten einer politischen Deutung von Individuation als Fall im dialektischen Spiel zwischen Masse und Einzelnem übersehen worden. Das Milieu, so die Interpreten, erscheint im Falle des Menschen als Menschheit. Aber der Prozess der Individuation setzt nicht einfach nur die Menschheit voraus, sondern die Biosphäre, die die Elemente enthält, welche Individuen entstehen lassen. Unter diesen Individuen wiederum solche, die Körper produzierende Körper haben. Simondon unterstreicht, dass die Individuation, der Individuationsprozess selbst eine Darstellung der Spannung in einem übersättigten Sein ist, also ein Phänomen, das aus einem übergroßen Potential, aus einem Reichtum heraus kommt, nicht aus der Zerkleinerungsmaschine trivialer Individuationslogik. Nicht von ungefähr haben deshalb die Naturphilosophen allem die Natur vorausgesetzt, ja mit allem die Natur gleichgesetzt. Scotus Eriugena schrieb daher als ersten Satz des Periphyseon nieder: „die Natur ist alles, was ist und nicht ist“.14 Die Biosphärentheoretiker des beginnenden 20. Jahrhunderts übersetzen diese Theoreme in eine neue Sprache. Alfred Lotka (1880-1949), Autor eines viel gelesenen Werkes mit dem Titel Elements of Physical Biology (1925) unterstreicht, dass die gesamte lebendige Population der Erde mit ihrem Environment ein einziges System konstituiere, welches seinen Betrieb durch die tägliche Zufuhr an Sonnenenergie aufrecht erhält.15 Die Individuen dieses Systems bestehen nach Lotka aus unterschiedlichen chemischen Verbindungen, die sie zu einer definierten Form zusammensetzen und die Fähigkeit, zu wachsen, implizieren. Wachstum heißt, dass sie sich mittels chemischer Reaktionen das Milieu aneignen. Individuen reichern sich an, verdichten die Eigenschaften ihrer Umgebung.16 Der russische Geochemiker Vladimir L. Vernadsky (1863-1945), der weit vorausschauende Autor von La Biosphère, ein Denker, der für Teilhard de Chardin wichtig war, hebt hervor, dass im biologischen Sinne die Natur als Milieu das Grüne ist, Träger des Chlorophyll, also synthetisierte Sonnenenergie. Er konzentriert sich auf den grünen Teil des Lebens, mit welchem die gesamte lebendige Welt dicht

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und untrennbar verbunden ist. Selbst die Wesen, die kein Chlorophyll enthalten, entwickeln sich aus den chemischen Komponenten, die vom Grünen produziert werden. Folglich bilden diese Wesen eine Entwicklungsschicht, die unmittelbar auf jener aufruht, die Sonnenenergie in aktive planetare Kräfte transformiert.17 Alle Körper entstehen aus Transformationsprozessen, die Strahlung, insbesondere Sonnenlicht, verwerten. Dass daher so viel Raum als möglich von Chloroplasten besetzt werden soll, also von der photosynthetisierenden Population, ist klar. Die grüne, lebende Materie dehnt sich auch in die Höhe aus, was ihr gelingt, indem sie mit Hilfe von Bäumen Technologien des Höhenwachstums einsetzt. Das vitale Prinzip ist zugleich Prinzip der Multiplikation, also Prinzip der Verbreitung von Leben. Multiplikation ist der Modus, in dem sich Leben selbst propagiert. Die Bewegung der lebenden Materie drückt sich nach Vernadsky in zweierlei aus: in Atmung, d.h. im Gasaustausch, durch welchen die Lebewesen ihre primordiale Verbindung mit dem „green matter“ haben, und eben in der Multiplikation18. Durch die Multiplikation wiederum wird sowohl „green matter“ als auch Energie transportiert. Transport im Sinne der Ausdehnung und des Wachstums vollzieht sich durch effektive Proliferationsraten19. Vernadsky hatte erfasst, dass dem Energiebegriff eine zentrale Rolle für das Verständnis des Systems zukommt, welches kosmische Strahlung in der Herausbildung und Vermehrung von Individuen bindet. Die Gemeinschaft der Individuen ist durch den Energiezusammenhang prästabiliert, was Gilbert Simondon einer allgemeinen Lehre der Individuation zu Grunde gelegt hat: „Jedenfalls sind wir zu einer Idee gelangt, nach welcher eine Wissenschaft vom Menschen auf eine Energielehre vom Menschen gegründet werden muß. Eine Morphologie ist sehr wichtig, aber eine Energielehre ist notwendig.“20 Die kollektive Teilhabe an den Flüssen der Energie stellt sicher, dass ein Maximum an Energie transformiert und genutzt wird. Vernadsky entwickelt eine Formel, die die Geschwindigkeit der Reduplikation der einzelnen Spezies angibt. Wie Lotka war er der Meinung, dass sich die einzelnen Spezies je nach Größe und Niveau21 nach einem bestimmten Parameter absolut und progressiv vermehren, was dann durch gewisse Umweltbedingungen zu einer tatsächlichen Proliferationsrate moduliert wird22. „Jeder Organismus könnte die gesamte Erdoberfläche bedecken und eine Nachkommenschaft erzeugen, die der Masse des Ozeans, der Erdkruste oder dem Planeten selbst äquivalent ist, wenn er nicht durch äußere Umstände daran gehindert wird.”23

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Die Gruppenbildung, das lernen wir, ist kein menschheitliches Privileg, sondern eine Strategie des Lebens, in die wir uns mit anderen Wesen teilen. Die Natur verausgabt sich nicht in einem Riesenindividuum, sondern produziert rhythmisch die Fülle, das Viele24. Darin besteht ihre Exzellenz. Multitudes innerhalb der Gattungen und Spezies entstehen durch den produktiven drive, den Proliferationsdruck, der die Transformation und Verbreitung von Energie zu höchstmöglicher Effizienz führt.25

II. Fress- und Opferstile Wenn also Menschen sich nur durch Menschen oder ‚die Menschheit‛ herleiten und begründen, dann erfahren sie dadurch nichts. Sie erklären sich tautologisch. Sie erfahren weder, wie sie, jenseits der ‚UrSzene‛, zustande kommen noch, wem sie als Nicht-Ähnliche zur Seite zu stellen sind. Die soziologisch und politisch angelegte Anthropologie operiert daher erstens tautologisch und zweitens barbarisch, wenn sie die Genealogie exklusiv gruppenintern anlegt. Sie unterstützt nämlich damit implizit die Erhebung der Anthropophagie zu ihrem symbolischen Zentrum. Anthropophagie ist die Lehre, die den Menschen einzig durch Menschen genährt und hergestellt haben will. Die zu ihr gehörige Praxis ist das Mahl, die das totemistische Mahl überwindet. Dieses Mahl repräsentiert die christliche, sakrale Form des Essens. Sie wird im Zentrum des Christentums als Überwindung des blutigen Menschenopfers installiert. Die Überwindung der Anthropophagie durch die symbolische Anthropophagie hat aber doch immerhin die anderen Fressstile daran gehindert, zu einer symbolischen Bedeutung aufzusteigen oder irgendwie in ihrer Relevanz aufzufallen. Das Auftreten der symbolischen Anthropophagie als „Theophagie“ 26, um einen Begriff von Jan Kott aufzunehmen, der die Dramatik der unterschiedlichen Fressstile ausgezeichnet verstanden hat, hat schließlich die Aufmerksamkeit vom Tier- und Pflanzenfraß vollständig abgezogen. Durch den Gehorsam Christi, der sich selbst opfert, also der sich selbst als theophage Nahrung zur Verfügung stellt, wird bei John Milton das Paradies wieder hergestellt, welches durch den adamitischen Ungehorsam verloren war. Der adamitische Ungehorsam hatte seinerseits im Verzehr bestanden, nämlich im Verzehr eines Apfels vom „Baum der Erkenntnis“27. In Miltons Text wird der Sieg des Guten

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über das Böse, Christi über den Teufel im Stil einer mittelalterlichen Universitätsdisputation geschildert, im Laufe deren sich der schlechte Rhetor in die Unterlegenheit hineindiskutiert („Bestürzt, verwirrt ob seines Misserfolgs / Stand der Versucher, antwortlos, erkannt / In seiner List, getäuscht in seiner Hoffnung / So oft, wo seine Redekunst, die ihm / Die Zunge glatt macht‟ und so viel gewann / Bei Eva, wenig, nein umsonst war“28), aber worum es geht, tritt deutlich zutage: Es geht um eine verlockende Speise, die verführt, verwöhnt und belohnt. Das Motiv der verbotenen Frucht wird mehrmals zitiert, der Umstand der neuartigen Speisung nur angedeutet („Doch bist du Gottes Sohn, befiel dass er / Dir Brot aus diesen harten Steinen schaff‟, / So rettest du dich selbst und labest uns / Mit Speise, die wir Armen selten kosten.“ Er endete, und Gottes Sohn darauf: „Meinst du im Brot sei solche Kraft? Steht nicht / Geschrieben (andrer bist du, als du scheinst): / Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, vielmehr / Von jedem Worte Gottes, der mit Manna/ Hier unsre Väter speist? Vierzig Tage / War Moses auf dem Berg und aß und trank nicht“29). Man beginnt zu ahnen, welches Maß an unterdrückten Bedeutungen in die diätetischen Imperative eingeschrieben ist. Sie scheinen eine Politik der impliziten Solidaritäten entweder zu etablieren oder zu löschen. Es gibt also ein eigentliches Essen, das als transhumaner kommunikativer Akt von systemischer Bedeutung weder in Zeiten des Christentums noch des Supermarkts rituell oder theoretisch eingeholt wird. Aber die Gegenwart lässt hoffen. Die Allpräsenz von Starköchen, Kochschulen und Kochbüchern lässt darauf schließen, dass der orthogenetische Systemschub angekommen ist. Es geht wieder um das Essen, um den ErdFraß, um die Geophagie. Die totemistische Speisung und die Anthropophagie respektive Theophagie bilden die geläufigeren unter den Essgeboten und -verboten. Aber das in der zitierten Szene aus Miltons Wiedergewonnenem Paradies wirklich verfehlte Ge-/Verbot ist das der Geophagie, das urtümliche Erdmahl, die Kommunion mit der Schlange, die farblos und undramatisch bleibt, obgleich sie die folgenreichste aller Speisungen ist. Man übersieht, dass es die Geophagie oder Phytophagie (Phyton essen, green matter verzehren, vom Schlangenbaum essen) war, der die Erkenntnis folgte. Durch das Essen wurden sie wissend. Welche Erkenntnis war das genau? War es wirklich nur die Scham über die Entdeckung der Genitalien? Oder noch etwas anderes? Kann die Geophagie, das ‚heilige Grasen„, nicht auch bedeutet haben, dass sich das Tor in eine Welt auftat, über die die mächtigen Pflanzen herrschen, dass also der Zugang zum pharmakologischen Wissen (so-

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fern es botanisches ist) und zu einer in ihm sich versprechenden Allhaltigkeit, Einheit und Unsterblichkeit offenstand? Enthält das Verbot, eine pflanzliche Frucht zu essen, die Information, dass eigentlich aus ihr, aus der Pflanze Bewusstsein kommt? Der Ethnopharmakologe Christian Rätsch hat in seiner gewaltigen Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen dargestellt, wozu green matter im Äußersten fähig ist, und es ist genau dieser Erkenntnis- oder Bewusstseinsaspekt, den er aus der Tiefe der Vegetation ans Licht holt. Das anthropophage oder theophage Mahl hat diesen ‚Nährwert‛ der Erdeinheit zu Gunsten eines homologen Surrogats gelöscht und man fing an, sich an das Partielle, an den Rest zu gewöhnen. Speiseverbote und -gebote legen hochambivalente Trennungsschneisen in das System des gegenseitigen Fressens und Gefressenwerdens und erinnern daran, dass für essende Körperbesitzer der Eintritt in das Reich der Schuld ohne Alternative ist. Die Verharmlosung des Vegetabilen durch die vegetarische Bewegung löschte endgültig die informatische Macht der Pflanze. Das Vegetarische wurde auf die alte Pyramide der Wesen zurückbezogen, das der Pflanze einen Ort auf den untersten Rängen, gerade noch oberhalb der Steine einräumt. In jüngerer Zeit kehrt sich diese Pyramide um. Was nämlich ihre Autonomie, ihre Erstrangigkeit und ihre Austattung angeht, sind die Pflanzen – wie das auch die Biosphärentheoretiker gesehen haben – die Ersten und Höchsten. Das totemistische Speiseverbot sicherte sich im Vergleich mit dem vegetabilen Speiseverbot einen geradezu sensationellen Nachhall, weil das mit ihm verknüpfte Koitusverbot in Bezug auf die nächsten Anverwandten als semantische Anreicherung immer mitgedacht ist. Wenn, wie im totemistischen Verbot sichtbar, die parentalen und die nutritiven Gesetze, die Gesetze der Verwandtschaft und die Gesetze der Nahrungskommunion in irgendeiner Weise aufeinander bezogen werden müssen, was bedeutet dann das vegetabile Speiseverbot, der verbotene Apfel, für die politische Organisation? In allen Speisegeboten und -verboten, im Falle des totemistischen wie im Falle des vegetabilen, wird die Systemgrenze der menschlichen Gruppe als offen gesetzt. Durch das Essen werden die Individuen radikal auf das Gewebe der biosphärischen Mitbewohner bezogen und mit diesen intim. Sie werden auf diese in gewisser Weise ausgeliefert, weshalb Rituale der Entschuldigung und der Danksagung eingeführt werden müssen, die zu ihrem Ziel eine symbolische Unabhängigkeit von Gruppen gegenüber ihren Nahrungsgebern haben. Im Verbot den Apfel zu essen, kann man eine Hypersensibilisierung gegenüber den photosynthetisierenden Wesen wiedererkennen, die

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auch Vernadsky, allerdings in umgekehrter Richtung, erfasst zu haben schien, als er seine Ausführung zu green matter schrieb. Eine Sensibilisierung von ähnlicher Qualität ist nur noch in den 1960er Jahren zu verzeichnen gewesen, die dann in der Müsli-Revolution der 1970er Jahre exoterisch versandete. Während das tierische Speiseverbot sich auf die Kollegen, die streunenden Mitbewohner des Territoriums bezog, muss das vegetabile Speiseverbot auf ein Verhältnis zur Erde zurückverfolgt werden, das in der gegenwärtigen Diskussion nicht vorkommt, und zwar deshalb, weil die richtigen Begriffe fehlen und die verfügbaren denkbar unattraktiv sind. Unter den Beispielen, die Individuen im Kontakt und also in der prekären, also in der schizosomatischen Verfassung zeigen, fehlte – wie oben in Blick auf die Körpertheorie kritisch angemerkt – bisher das Hauptbeispiel, das den Menschen mit seinem Großkörper zeigt. Es fehlt eine Analyse, die die Qualität des Verhältnisses zwischen menschlichem Individuum und Groß- oder Milieukörper zum Gegenstand hat, der, wie wir gesehen haben, eben vor allem green matter ist. Es zeigt sich, dass, wenn sich die Mitglieder einer Gruppe in Ausschöpfung des „potentiel préindividuel“ (Simondon) in Konfiguration bringen, sie dies auch immer unter dem wärmenden Horizont des geeigneten Milieus tun. Simondon ist als Denker der Individuation Anti-Platoniker, der das Milieu sowohl im Sinne der Gruppenglocke, als auch als transgenerisches environment deutet. Die metastabile Konfiguration einer Gruppe nährt sich buchstäblich vom Grünen als primärer Energie, weshalb sie die chloroplastische Solidarität zu ihrer Signatur haben muss. Wer jetzt denkt, dass das Evangelium des Grünen einen radikalprimitiven Imperativ einschlösse, soll daran erinnert werden, dass der Tauschwert, mit dem in Eleusis das Wiederkehren der Vegetation rituell abgegolten worden ist, das Mädchen war, Kore, die Hoffnung, das Versprechen zukünftiger Fruchtbarkeit. Kore ist die zentrale politische Figur der Pflanzen- und Pflanzerimperien des Neolithikums. Kore entsprach exakt dem Wert, den die hyperthrophe Mutter der Erde beimaß: sowohl die Erde selbst als auch Kore besaßen den Körper produzierenden Körper. Der Tausch sah folgendermaßen aus: Die von der Erde produzierten Körper (Getreide, Vieh) wanderten zur Mutter/Demeter, der von der Mutter/Demeter produzierte Körper (des Mädchens) wanderte zur Erde (ins Grab). Die Mysterien nahmen ihren Anfang mit dem Versuch, um den Pol der Mutter kreisende Partnerschaften zu errichten: Partnerschaften auf Leben und Tod zwischen dem Grünen und den Menschen. In der

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Geschichte der Persephone wird uns ein Mädchen vorgestellt, das in die Unterwelt geht, damit die Kornmutter ihren Aufgaben nachkommen kann. Das immer noch geltende Konzept eines problematischen Verhältnisses zur Erde, einer durch Schuld gefärbten Mutterbeziehung ließ sich daher im Signifikantenspiel der bürgerlichen Familie ‚fehlenden Mädchen‛ erkennen30. Wenn wir in die Position dieses Erdmädchens gehen (devenir fille), wird uns die negative Mutterprojektion und die mit ihr verbundene Gefangenschaft in ungenügenden Begriffen deutlicher31. Wieso sollte denn die Erde überhaupt Mutter sein? Nur eine Gesellschaft, die das ewig geopferte Mädchen – Persephone, Ophelia, Iphigenie, Elektra, Ariadne – lebendig wieder zurückkommen lassen kann, kann ans Ende ihrer Schuldgeschichte und ihres Mutterhasses kommen. Dann ist der Weg nach Eleusis geebnet, beginnt die Offenbarung des Grünen, der allgemeinen Photosynthese, die Ära der Chloroplasten. Der menschliche Körper offenbart sich dann als ‚verdautes‛ Licht, als Abkömmling der großen Brüder und Schwestern, als Kind jener Wesen, die die Photosynthese beherrschen. Das Mädchen trug als zentrale politische Figur bisher die Kommunikation mit dem Großkörper: als Opfer. In dem Moment, in dem die Pyramide der Wesen auf den Kopf gestellt sein wird, wird sie wiedererkannt als das, was sie ist: als Brücke zwischen den Gattungen. Jenseits dieser Erkenntnis erst enthüllt sich der Charakter der Erde als Körper produzierender Körper, als Spezialistin für alle Formen des Fleisches. Sie ist der bipolare Elektromagnet, der polarisierte (sexed) Körper herstellen kann. Die Meridiane der symbolischen Deutung des Systems werden sich endlich verschieben, wenn man angefangen hat, das symbolische Mädchen in dieser Rolle zu sehen. Und wenn das Erdsystem und seine Körper produzierende Funktion als Ganzes vor unseren Augen liegen, werden sich uns endlich – als nächstes – seine Verbindungen in und zu einem offenen unendlichen Kosmos enthüllen.

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Burkert, Walter. Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen. 2. Aufl. Berlin u.a., 1997, S. 76. Vgl. Schmitt, Carl. Der Nomos der Erde im Völkerrrecht des Ius Publicum Europaeum, Berlin, 1988. Vgl. Lovelock, James. Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen. Übs. v. Jochen Eggert u. Marcus Würmli. München, 1996, bes. Kap. 8 „Die Menschenplage“. Teilhard de Chardin, Pierre. Der Mensch im Kosmos. Übs. v. Othon Marbach. München, 1999 [Nachdruck der Ausgabe v. 1959], S. 282 f. Ders. Das göttliche Milieu. Ein Entwurf des Innern Lebens. Übs. v. Karl Schmitz-Moormann. Düsseldorf, Zürich, 2000, S. 196. Ders. Das Herz der Materie. Kernstück einer genialen Weltsicht. Übs. v. Richard Brüchsel, Berta Augusta Güntensperger u. Günther Schiwyn. Düsseldorf, Zürich, 1995, S. 50 f. Ders. (Anm. 4), bes. Kapitel 3: „Der Endzustand der Erde“: „Das phantastische und unausweichliche Ereignis, dem wir uns mit jedem Tag ein Stück nähern, führt sich so ganz natürlich ein und sucht in unseren Zukunftsaussichten Gestalt anzunehmen: das Ende allen Lebens auf unserem Erdball – der Tod des Planeten – die letzte Phase des Phänomens Mensch.“ S. 282. Ders. (Anm. 5), S. 196: „Ihre [die Erde] Zauber können mir nicht mehr schaden. Seit sie für mich jenseits ihrer selbst der Leib dessen geworden ist, der ist und kommt.“ Ders. (Anm. 4). S. 298 f. Vgl. Lovelock (Anm. 3). „Die Menschen verhalten sich wie krankheitsauslösende Mikroorganismen oder neoplastische Krebszellen“. Ebd., S. 153. Vgl. Latour, Bruno. Politiques de la nature: comment faire entrer la science en démocratie. Paris, 1999. Descola, Phillipe. „Constructing Natures: Symbolic Ecology and Social Practice“. Nature and Society. Anthropological Perspectives. Hg. v. Philippe Descola u. Gisli Pàlsson. London, 1996. 82-102, S. 99. „Zuerst will ich, daß Du weißt, daß ich versuche, Mitglied irgendeines Kollegiums, oder einer Akademie zu werden und mich Doktor zu nennen“, Rede des Esels in: Brunó, Giordano. Die Kabbala des pegasesischen Pferdes. Übs. v. Kai Neubauer. Bearb. v. Sergius Kodera, Hamburg, 2009, S. 123. Vgl. Scotus Eriugena, Johannes. Über die Einteilung der Natur. Übs. v. Ludwig Noack. 3. Aufl. Hamburg, 1994 [Nachdruck der Ausg. v. 1870]. Lotka, Afred. Elements of Physical Biology. Baltimore, 1925, S. 16. Vgl. ebd.; wenig später findet sich ein Hinweis darauf, dass „environment“ mit Milieu gleichgesetzt wird. Ebd., 17.

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Vernadsky, Vladimir L. The Biosphere. Hg. v. Mark A. S. McMenamin. New York, 1997, S. 60. Ebd., S. 61. Simondon, Gilbert. L’individuation psychique et collective, Paris, 1999, S. 63 f. Zit. n.: Roux, Jacques. „Penser le politique avec Simondon“. Multitude 18 (2004): 47-54, S. 49. Ebd. „The specific time required for this is related to the organism‟s size; small and light organisms multiply more rapidly than large and heavy ones.“ Vernadsky (Anm. 17), S. 66. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66. Vernadsky gibt an, dass es ein gewisses Quantum für jede Spezies gebe, das, sobald es erreicht wird, dafür sorgt, dass der Multiplikationsprozess sich verlangsamt: „If the speed of transmission V remains constant, then obviously the quantity D, which defines the intensity of multiplication, must diminish, as the number of individuals approaches the stationary number and the rate of multiplication slows down.“ Ebd., S. 68. Siehe dazu auch: Toscano, Alberto. „La disparation. Politique et sujet chez Simondon“. Multitudes 18 (2004): 77-79. Der Begriff „Theophagie“ ist angeregt durch Kott, Jan. Gott – Essen. Interpretationen griechischer Tragödien. Übs. v. Peter Lachmann. München, Zürich, 1975. „Warum sitzt Gottes Sohn nicht hin und isst? Dies sind verbotene Früchte nicht; kein Bann wehrt, diese reinen Speisen zu berühren; Erkenntnis nicht gibt ihr Genuss, am letzten des Bösen, Leben nur, des Lebens Feind, den Hunger, tötend mit labender Lust. Geister der Luft, des Walds, der Quellen sind hier diese, deine Diener hold, gekommen zu huld‟gen dir, dich ihren Herrn zu nennen; was säumst du, Gottes Sohn? Sitz hin und iss.“ Milton, John. Das wiedergewonnene Paradies 1. Übs. v. Otto Hauser. Weimar, 1914, S. 28. Milton, John. Das wiedergewonnene Paradies 2. Übs. v. Otto Hauser. Weimar, 1914, S. 46. Ebd., S. 12 f. Vgl. dazu die wegweisende Studie: Treusch-Dieter, Gerburg. Die Heilige Hochzeit. Studien zur Totenbraut. 2. Aufl. Herbolzheim, 2001. Vgl. Samsonow, Elisabeth von. Anti-Elektra. Totemismus und Schizogamie. Zürich, Berlin, 2007.

 

„Auch ich war in Arkadien“ Psychoanalytische Hypothesen zur Architektur innerer Räume Benigna Gerisch „Ich wollte über den Tod schreiben, da brach das Leben über mich herein.“1

Et in Arcadia ego – ‚auch ich war in Arkadien‘ – wirft sofort die Frage auf, wer dieses Ich ist, das da so keck behauptet, auch im Paradies gewesen zu sein. Diese Frage ist vom grammatikalischen und philologischen Standpunkt aus leicht zu beantworten: Die korrekte – und von mir im Titelzitat bereits abgewandelte – Übersetzung lautet: „Selbst in Arkadien bin ich“, und das „Subjekt-Ego“ meint ganz unzweifelhaft den Tod.2 Schon jetzt ahne ich eine Enttäuschung bei dem einen oder anderen Leser, da mein Titel es nahelegen könnte, sich auf eine idyllische Reise nach Arkadien zu freuen. Wenn ich diese Vorfreude nun durchkreuze, indem ich jäh den Tod einbrechen lasse, dann hätte ich zumindest schon atmosphärisch meine zentrale These vermittelt. Denn der arkadische und idyllische Diskurs ist immer schon untrennbar mit der Anerkennung und Verleugnung bzw. dem Auftauchen und Verschwinden des Todes sowie seines plötzlichen Hereinbrechens verbunden. So stellt er sich dar als ein Oszillieren zwischen dem Unbewussten, das vom Tod nichts weiß, und der im Bewussten erzwungenen Gewahrwerdung der eigenen Sterblichkeit. Auf erstaunliche Weise hat die Sentenz ‚Et in Arcadia ego‘ über die Jahrtausende hinweg eine der Traumarbeit vergleichbare Verschiebung, Verdichtung und Entstellung erfahren, die vom personifizierten Tod bis hin zu seinem Gegenteil, ‚auch ich bin in Arkadien geboren‘, reicht. Die Verklärung Arkadiens ist historisch betrachtet kein griechisches Erbe, denn in Theokrits Idyllen, verortet übrigens in sizilianischer Szenerie, toben noch dramatische menschliche Tragödien, die sich zumeist um Liebe und Tod ranken. Erst bei Vergil (42 v. Chr.) mit seiner elegisch-römischen Hirtendichtung avancierte der arkadische Landstrich in der Peloponnes obgleich, oder gerade weil er schroff und sehr gebirgig – vor allem aber kaum erreichbar – war, zu einem imaginären

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Reich vollendeter Seligkeit und stillen Friedens.3 Bemerkenswert ist demnach, dass in der Folge nicht etwa die Realität dieser Landschaft selbst, sondern vielmehr die auf sie gerichteten Phantasien und Projektionen phantasmatisch ausgestaltete Kunstproduktionen hervorbrachten. So wurde beispielsweise in der Gartenkunst aus der gepriesenen wilden Natur der Idylle das frisierte und gezähmte „Paradiesgärtlein“4. Die Dissonanzen zwischen menschlichem Leid und vollkommener Umgebung löst Vergil in der Metapher der Abendstimmung5 auf und projiziert von nun an die universellen Tragödien in die Vergangenheit oder Zukunft. Zwar huscht schon bei Vergil flüchtig ein Grab durch Arkadien, aber dann verschwindet der Tod für viele Jahrhunderte, um erst, so paradox es klingen mag, in der Renaissance wiederbelebt zu werden. Der kaum rezipierte italienische Maler Giovanni Francesco Guercino brachte ca. 1618 das Et in Arcadia ego-Thema erstmalig auf die Leinwand und assoziierte das Ego durch das klassische Symbol des Totenkopfes unmissverständlich mit dem Tod.6 Aber erst das berühmte Gemälde – Et in Arcadia ego (Abb. 1), hier abgebildet in der zweiten Fassung um 1650 aus dem Louvre – von Nicolas Poussin war ein „melancholischer Gegenschlag“7 mitten in die arkadische Heiterkeit und stiftete in der Folge die bizarren Übersetzungswirren. Während die erste Fassung um 1630 (Abb. 2) den bereits abgemilderten Einbruch des Todes in die Idylle zeigt, in dem der

Abb. 1: Nicolas Poussin: Et in Arcadia ego, um 1650

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Abb. 2: Nicolas Poussin: Et in Arcadia ego, um 1630

Totenschädel klein gehalten und ästhetisch auf dem schön geschwungenen Sarkophag platziert wurde, und nur die Inschrift des Sarkophages verrät, dass auch in Arkadien, dem Land von Glück und Frieden, der Tod zu Hause ist, verschwindet die Dramatik des memento mori in der zweiten Fassung urplötzlich, und wir sehen die Hirten in Begleitung einer statuenähnlichen Frau in kontemplativer Vertiefung in die Sterblichkeit versunken.

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Von nun an setzte sich die euphemistisch-tröstliche Übersetzung durch, nach der der Verstorbene den Wanderer durch bukolische Gefilde über das Medium der Grabinschrift versichert, dass auch er in Arkadien gewesen sei. Diese elegische Interpretation gipfelte in Johann Wolfgang Goethes Wahlverwandtschaften nicht nur in Charlottes Bemühungen, dem vom Tode geängstigten Eduard den Friedhof in einen „angenehmen Raum zu verwandeln, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gern verweilten“8, sondern schließlich auch in seiner narzisstisch anmutenden toskanischen Verzückung: „Auch ich war im Land der Freude und Schönheit“9. Vorerst können wir mit Maisak zusammenfassen: [A]nders als in dem von irdischer Not befreiten Paradies gibt es in Arkadien Leid und Tod – es ist ein gebrochenes Wunschbild, dessen Glück nicht ungetrübt bleibt. Doch gerade diese Brechung verleiht ihm seinen besonderen, fragilen Reiz, einen schillernden Charakter von gleichermaßen idyllischer und elegischer Prägung. Krieg und Not streifen das Hirtenland, wenn auch nur am Rande und als fernes Schreckensbild, das das Glück inmitten der Bedrohung noch kostbarer erscheinen lässt. Der Tod fordert seinen Tribut, und die Toten werden betrauert, doch ohne übergroßen Schmerz, denn sie haben ihr Leben in Arkadien verbracht.10

I. Psychoanalytische Überlegungen zur Idylle und zur Architektur innerer Räume Aus psychoanalytischer Perspektive ist die Idylle nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine oft überlebensnotwendige Abwehrstrategie gegen eine unerträgliche Realität, angefüllt mit sozialen Ungerechtigkeiten, Trennungen, Schmerz, Versagungen und Tod. Von Anbeginn ist der sich wandelnde Diskurs der Idylle implizit und explizit von dem durchzogen, zu dessen Abwehr er dient: der Todesangst in ihren mannigfaltigen, insbesondere psycho-physischen Ausgestaltungen. Der bemerkenswerte Wandel in den Gemälden zum Et in Arcadia ego-Topos, vor allem aber deren divergierenden Interpretationen, offenbaren das, was sie zu verbergen suchen. Man kann die Idylle ohne den Tod nicht denken oder mit Jean B. Pontalis – im Rekurs auf Freud – gesagt: „Wir werden durch den Tod gelebt.“11 Angeregt wurde mein Interesse am Arkadiendiskurs durch die klinisch-psychoanalytischen Erfahrungen mit mehr oder weniger schwer traumatisierten Patienten, bei denen sich en miniature diese innere Spannung von Idyllenbildung im Sinne einer Abwehr- und Zu-

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fluchtsorganisation einerseits und Todesangst bzw. Angst vor dem identitätsauflösenden Zerfall andererseits abbildete. Diese Bewegung, vom kunst- und kulturhistorischen Abriss der Idylle hin zur Welt der intrapsychischen Kindheitslandschaft, verweist implizit auf die etymologische Bedeutung des Wortes Idylle, das sich vom Griechischen (eidyllion – Schilderung des Ländlichen, welches der Diminutiv von eidos – Bild ist) herleitet.12 Die Idylle ist also ein Bildchen, das im entsprechend kleinen Rahmen gehalten wird, und nichts anderes ist auch der psychoanalytische Raum, der einen umschließenden und projektiv immer schon aufgeladenen Rahmen für mikroskopische Binnenanalysen bereithält. Ich behaupte allerdings keineswegs, dass die Analyse eine Idylle sei, sondern ich möchte darlegen, dass die psychische Matrix der Idylle wie die der Analyse mit ihren regressiven und unbewussten Prozessen sowohl analoge Charakteristika als auch bedeutsame Unterschiede aufweist. Zum einen werden das Idyllische und der psychoanalytische Prozess durch die zwei zentralen Achsen Raum und Zeit bestimmt. Der Idylle ist immer ein begrenzter, abgeschlossener und zugleich Halt gebender Raum immanent, wie auch die Analyse einen Raum – konkret wie im weiter gefassten Sinne – bereithält, der es dem Patienten im günstigen Falle ermöglicht, seine unbekannten, verengten oder verstellten intrapsychischen Räume zu entdecken und zu erweitern. Die Idylle wird nicht selten als Synonym für regressive Zustände verwandt, aber bedeutsam ist, dass in der Idylle wie in der Analyse die Regression zwar befördert, aber durch den Struktur gebenden Rahmen zugleich gehalten wird. Denn so primärprozesshaft, archaisch und regressiv es in der Idylle wie auch in der Analyse zugehen mag, so bleibt die vollständige Regression, die zur Auflösung der Ich-Grenzen und zum Wahnsinn führen würde, in der Regel deutlich gezähmt. Immerzu hat man es in der Idylle wie in der Psychoanalyse mit einem Innen und Außen zu tun, mit der Projektion des Innen in ein Außen, das auf diese Weise verzerrt und entstellt wird, und das Setting ist in besonderer Weise dazu angetan, das Böse im Außen – außerhalb des psychoanalytischen Rahmens – zu belassen, und im Innern das Gute oder, im schlimmsten Falle, vice versa. Die Analogie von Psychoanalyse und Idylle resultiert zweifellos daraus, dass das analytische Setting, welches eigentlich Räume eröffnen soll, „um die von uns geschaffenen Illusionen zu verstehen, selbst einen äußerst potenten Stimulus für jene Wünsche darstellt, welche unsere Illusionen gratifizieren.“13

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Zum anderen: Die eindeutigere strukturelle Verwandtschaft besteht zwischen dem Idyllischen und den regressiv-infantilen Phantasien. So etwa, wenn schon Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik von der Idylle als „Widerschein des früheren Kindlichen“14 spricht. Aber, auch in Ergänzung zu Ignaz Feuerlicht, für den die Idylle „die lustbetonte Rückwendung zur eigenen Kindheit“15 bedeutet, möchte ich hinzufügen, dass die Regression in den idyllischen Raum keineswegs mit einem, in früheren Narzissmuskonzeptionen stets postulierten, primärharmonischen Urzustand identisch ist, eingedenk Freuds Zweifel an einem „ozeanischen Gefühl“.16 Die Idyllenbildung speist sich folglich nicht aus einer – äußerst fraglich erscheinenden – paradiesischen Mutter-Säuglings-Dyade; insbesondere dann nicht, wenn wir uns die frühkindliche, entwicklungspsychologische Genese von Subjektwerdung besser als ein prozesshaftes und permanentes Oszillieren zwischen psychischer Integration und Desintegration vorstellen17. Aber die anthropologische Konstante im Idyllendiskurs wie in regressiven Prozessen korrespondiert mit der Sehnsucht nach dem Mutterleib, „der ersten, wahrscheinlich noch immer ersehnten Behausung, in der man sicher war und sich wohlfühlte“18. Der wesentliche Unterschied zwischen der Idylle und der Psychoanalyse besteht offenkundig darin, dass erstere sich in jeder Hinsicht dem widersetzt, was den psychoanalytischen Prozess kennzeichnet: Eröffnung neuer Räume (im Unterschied zur Einengung und Begrenzung), Bewusstmachung des Unbewussten (im Unterschied zur Erstarrung), Akzeptanz von Realitäten im Sinne der Anerkennung von Getrenntheit, Aggression, Neid, Hass usw. (im Unterschied zur Verleugnung jedweder Feindseligkeit und Trennung) und nicht zuletzt Sprach- und Symbolisierungsfähigkeit (im Unterschied zu Sprachlosigkeit im Sinne präsymbolischer Konkretisierungen und Bebilderungen). Das Idyllische greift zweifellos in das phantasmatisch ausgestaltete Material der präsymbolischen Mutter-Kind-Dyade ein und trägt überdeutliche Grundzüge narzisstischer Zustände. Wir finden hier wie dort die Zeitdimension unbegrenzten Wünschens, das Ungetrenntsein bzw. den Ausschluss des Dritten. Denn in der Idylle gibt es keinen Vater als Repräsentanten des Realitätsprinzips, und wir finden die Ausklammerung bzw. Milderung des Todes, der Rivalität, des Verlustes und der Aggression. Insbesondere die Ausgrenzung der Aggression und deren projektive Verlagerung in ein Draußen lässt sich bereits in Salomon Gessners Idyllen19 anschaulich nachzeichnen: Gessner sei, so Böschenstein-Schäfer, unter den Idyllendichtern gar

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derjenige, „der mit der größten Entschiedenheit allen Formen von Aggression den Einlaß in seine Idyllenwelt verwehrt hat“.20 In der Welt der Idylle gibt es auch keine Trennungen, insbesondere nicht diejenigen, an denen man reifen könnte, indem man sie zu betrauern lernt. Der Rückzug in die Idylle geht mit einer fundamentalen „Entobjektivierung der Objekte“21 einher, so wie es in den traditionellen Idyllen, mit ihrer unzweifelhaft intrauterinen Struktur von Höhlen, Lauben und Hütten, auch keine Mutter im Sinne eines eigenständigen und als getrennt erfahrbaren Objektes gibt. Die Matrix des Symbiotisch-Ungetrennten legt sich gleich einer Firnis über alles bis, zumindest in den traditionellen Idyllen, die Mutter als konturierte Figur noch nicht auftaucht, „(erst die bürgerliche Idylle läßt die Mutter zu); wo Idyllen noch ganz im Grünen angesiedelt sind, geht das Mütterliche in den Raum selbst ein. Dort erscheint es als die gewährende und bergende Natur, in deren Pulsschlag und Zeitrhythmus das menschliche Leben eingestimmt ist.“22 Im Folgenden möchte ich daran anknüpfend einen weiteren Aspekt akzentuieren, nämlich den Zusammenhang zwischen dem innerpsychischen Raum und der Fähigkeit zum Denken. Schon bei Freud – vergleiche das „Fort-Da-Spiel“ in Jenseits des Lustprinzips23 – geht die Befähigung zum Denken und zur Vorstellungsbildung im Sinne der Emergenz des Dritten aus einer erträglichen und integrierbaren Frustrations-, Abwesenheits- und Trauererfahrung24 hervor („keine Milch – daher ein Gedanke“25), die idealtypisch das Aufspannen eines psychischen Raumes befördert, in dem sich psychische Erfahrungen nun in mentalen Repräsentationen und Symbolisierungen abbilden und fortan frei aktiviert sowie dynamisch verbunden werden können.26 Im Rekurs auf Donald W. Winnicott27 und Wilfried Bion28 haben in den letzten Jahren weitere zahlreiche Raummetaphern Einzug in die psychoanalytische Theorie und Praxis gefunden, wenn etwa vom ‚intermediären‘ oder ‚triangulären‘ Raum, vom ‚Container‘- oder ‚Übergangsraum‘, vom ‚belüfteten‘ oder vom ‚sterilen‘ Raum etc. die Rede ist.29 Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass alle Raumbegriffe als Beziehungsbegriffe gedacht und von der Vorstellung geleitet sind, dass ein guter Raum nur durch die Verinnerlichung der alpha-Funktion – das heißt der Integration von vormals noch unverdautem psycho-physischem Rohmaterial – entsteht. Demgegenüber kommt es zur Ausgestaltung eines pathologischen Raumes, wenn der Säugling im Gegenüber einen verschlossenen Raum vorfand, der zur Stagnation der Denkbefähigung führte und der Gleichsetzung von psychi-

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schem und physischem Raum Vorschub leistet. „Eine der größten und überraschenden Merkwürdigkeiten des unbewußten Denkens ist das Denken in Körperinnenräumen [...]. Raumerlebnisse, Raumbegriffe können in Träumen alle Schicksale von Verlassenheiten und Agonien zum Ausdruck bringen“30. Psychoanalytisch betrachtet, hält die idyllische Matrix an dem Zustand vor den eigentlichen Trennungen fest, mit einem äußerst konkretistisch ausgemalten Innenraum, und skizziert kein Modell für Ablösung und Individuation. Im Unterschied zu Freuds Imperativ, „Wo Es war, soll Ich werden“31, sperrt sich die Idylle mit ihrer heimeligen Geborgenheit gegen den aufklärerischen Impetus der Psychoanalyse, die zur Reflexion des „Dramas Heimat zwingt“32. Die Idylle liegt quer zu den entwicklungsspezifischen Trennungs-, Versagungs- und Integrationsanforderungen. Während der psychoanalytische Prozess darauf abzielt, psychisches Wachstum und Entwicklung zu befördern, stellt die Idylle einen hermetisch abgeriegelten, statischen Zufluchtsort dar, mit dessen Hilfe Ungetrenntheitsphantasmen aufrechterhalten werden können und Destruktivität und psychisches Leiden gebunden bzw. neutralisiert werden soll, dadurch aber letztlich selbst zu einer sich destruktiv auswirkenden Blockade wird.

II. Klinische Fallvignetten Im Folgenden möchte ich anhand weniger klinischer Vignetten meine Hypothese ausführen, dass die Idyllenbildung aus psychodynamischer Perspektive keinen ubiquitären, entwicklungstypischen Übergangsraum beschreibt, sondern immer schon als Abwehrkonstrukt, als Ausgestaltung eines pathologischen Raumes zu verstehen ist. Gleichwohl gilt einschränkend anzumerken, dass die Idyllenbildung nur eine Variante von Abwehrorganisationen bei schwer traumatisierten Patienten darstellt. Für gewöhnlich haben wir es im klinischen Alltag mit Menschen zu tun, deren In-die-Welt-Kommen von Anfang an auf die eine oder andere Weise, lautlos oder lärmend, verunglückt ist, und die nun nicht unerheblich traumatisiert, zumindest aber beschädigt sind, gleichsam Risse im Tönernen haben, wenn wir die griechische Wendung des keramos anthropos – der Mensch als tönernes Geschirr – bemühen, oder die sich bereits ganz und gar zerbrochen fühlen. Was wir da an Lebens- und Leidensgeschichten zu hören und zu sehen bekommen, sprengt manchmal die menschliche

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Vorstellungskraft. Wenn etwa eine auf ihrem Gebiet geschätzte Wissenschaftlerin beschreibt, wie schrecklich es sei, dass niemand begreifen könne, wie es sich anfühle, nach einem Vortrag vom Podium zu steigen und zwanghaft getrieben sowie verfangen in ein unauflösbares sadomasochistisches Dilemma ein Pornokino aufsuchen zu müssen, um sich dort von einer ihr völlig fremden Internetbekanntschaft zusammenschlagen zu lassen. Diese Patientin war jahrlang von ihrem Vater, einem ehemaligen SS-Angehörigen, sadistisch gequält, missbraucht und geprügelt worden. Oder wenn sich junge Frauen, aus unvorstellbar asozialen Verhältnissen stammend, in denen es weder je Frühstücke noch Geburtstagsgeschenke gab, infolge sprachloser Verzweiflung mit einem Cutter die Arme und die Brüste zerschneiden. Aber es sind keineswegs nur die spektakulären, frühkindlichen Traumatisierungen, die im Gefolge zur Ausprägung arkadischer Sehnsuchtsorte führen. Frau A und Frau C waren attraktive, gebildete, sozial und beruflich gut integrierte Patientinnen, gleichwohl litten sie an einer ausgeprägten narzisstisch-autodestruktiven Symptomatik mit extremen Leistungsansprüchen einschließlich des quälenden Gefühls, doch nie zu genügen. Beide Patientinnen waren einem chronischen Nicht-Gesehen- und Anerkanntwerden ausgesetzt. Frau W, die ihre Kindheit überwiegend in Heimen und bei der Großmutter verbracht hatte, und die sich schon als Kind den Kopf mit der Faust blutig schlug, um einschlafen zu können, sehnte sich danach, einmal in ihrem Leben ‚alles auf Null‘ zu haben: Alles sollte geordnet, geputzt, geregelt sein: sie selbst, ihre Wohnung, ihr Auto, ihr Beruf, kein Abwasch, kein Hunger, kein Dreck – alles auf Null. „Dann darf man sich nicht mehr bewegen und leben,“ sagte ich zu Frau W. „Wäre besser,“ antwortete sie lakonisch. „Aber auf Null-Sein heißt TotSein,“ sagte ich etwas voreilig. „Nein, nicht Tod, auf Null-Sein ist Ruhe und Frieden für mich.“ Analog dem Ankommen in der Idylle, der immer die Struktur der Rückkehr immanent ist, klingt hier unüberhörbar Freuds Konzept des Todestriebes an, das eine stille und unauffällige Dynamik beschreibt, zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzukehren.33 Es ist hier nicht der Raum geboten, den vielschichtigen Diskurs zum Todestriebkonzept zu rezipieren, der insbesondere von der kleinianischen Schule differenziert ausgearbeitet wurde. Zusammengefasst wird die Tätigkeit des Todestriebes hier u.a. als Ausdruck destruktiver Angriffe verstanden, die sich gegen bestimmte psychische Funktionen richten, die mit emotionalem Wachstum und der Anerkennung von Realitäten, den so genannten „three facts of life“ 34, verbunden sind.35

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André Green skizziert darüber hinaus, was geschieht, wenn die realen Objekterfahrungen so frustrierend und traumatisierend waren, dass das Subjekt, gefangen in Ressentiment, Hass und Verzweiflung, es aufgibt, nach der Verschmelzung mit einem idealisierten Objekt zu streben. In einem solchen Zustand geht es nicht mehr um ein Streben nach Einheit, sondern nach dem Nichts; das heißt, ‚um eine Verminderung der Spannungen zum Nullniveau hin‘, was Annäherung an den psychischen Tod bedeutet. [...] An dieser Stelle wird der Tod zur Figuration eines absoluten Seins. Das Leben wird gleichbedeutend mit dem Tod, insofern er Erlösung von allem Begehren ist.36

III. Theoretische Schlussfolgerungen Bei strukturell stark beschädigten Patienten sind der innerpsychische Raum und ihre Triangulierungskompetenz37 sowie dreidimensionale Repräsentations- und Symbolisierungsstruktur stark beschädigt, verbogen oder eingeengt. Klinisch zeigt sich dies durch die mehr oder minder stark beeinträchtigte Fähigkeit, Realitäten anzuerkennen, Trennung und Getrenntheit zu tolerieren, Affekte und Gefühle annähernd adäquat zu versprachlichen, d.h. zu denken und somit intrapsychisch zu halten. Während die intellektuell-kognitive Kompetenz davon auf erstaunliche Weise gänzlich unberührt bleibt, und autonom reifen kann, manifestiert sich der Mangel im ‚undenkbaren‘ affektiv-emotionalen Bereich einschließlich der erhöhten Tendenz, ‚unverdautes‘ und unbenennbares seelisches Material mittels Körpersprache zu artikulieren – oder eben durch die Abwehrformation der Idyllenbildung aushaltbar zu machen. Was passiert also, wenn der intrapsychische Raum im Zuge des psychoanalytischen Prozesses und durch den Kontakt zum Psychoanalytiker zunehmend in Bedrängnis gerät? Was geschieht, wie es sich in der Sentenz von Goethes Werther ankündigt – „Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt“38–, wenn dieser Selbstheilungsversuch, nämlich die enttäuschte Abkehr von den äußeren Objekten und die hoffnungsvoll anmutende Wendung nach innen, zu einem Desaster wird, weil die inwendige Bewegung eine Innenwelt offenbart, die häufig bevölkert und kontaminiert ist mit destruktiven, abgespaltenen und unerträglichen Objekten? Der Patient kann dann zu einem Ort des seelischen Rückzugs flüchten, der ihm ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, Erlösung von allen Übeln und Schmerz-

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freiheit garantiert und mit Heilungsphantasmen sowie der Aufhebung von Fragmentierungszuständen assoziiert ist. So gelangte ich also zu meiner Hypothese: Die Idyllenbildung ist die konkretisierte Verhüllung einer traumatischen Abwehrorganisation; sie korrespondiert am ehesten mit John Steiners Konzept der Orte des seelischen Rückzugs,39 die auch seinen klinischen Erfahrungen zufolge als Haus, Höhle, Festung oder verlassene Insel beschrieben werden. Psychodynamisch und damit auch topisch betrachtet, können wir uns die Idylle als psychic retreat zwischen der paranoidschizoiden und der depressiven Position angesiedelt vorstellen, wenn wir hier der Terminologie und Denkfigur einer Topographie des intrapsychischen Gefüges von Melanie Klein folgen wollen.40 Die Idylle als Raum in der intrapsychischen Landschaft ist ein pathologisches, gleichermaßen aber auch schöpferisches Phänomen, indem der verengte und beschädigte innere Raum mittels einer Hilfskonstruktion verzweifelt aufzuspannen versucht wird. Konträr zur destruktiv ausgeformten Innenwelt und materiellen Realität taucht bei diesen Patienten in den Behandlungsstunden immer wieder die Flucht in eigens ausstaffierte Glücksräume auf. Aber von besonderer Bedeutung ist, dass in jener Idyllenfiguration das Traumatische gleichermaßen anwesend und abwesend ist und zumeist nur über die sorgfältige Analyse des Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehens dechiffrierbar wird. Denn abgesehen von den klar artikulierten idyllischen Phantasien, mit ihren klassischen Elementen der Oralität und Naturgebundenheit, wenn etwa von prall gefüllten Tischen unter blühenden Apfelbäumen die Rede ist, erschließt sich mir die Idyllensehnsucht primär aus einer bestimmten präsymbolischen Atmosphäre, letztlich aus meiner Gegenübertragung. Es entsteht dann nicht selten eine eigenartige Verflachung in meinem Denken, eine Leere, eine satte Dümmlichkeit und Leichtigkeit. In angenehmer Stimmung verbrachte ich mit der bereits erwähnten Patientin Frau W schlicht Zeit zusammen, durchaus im Schweigen, das so unbeschwert war, nur manchmal von ihr unterbrochen, wenn sie mich, fast ins Du verfallend, auf einen an unserem Fenster vorbeischwebenden Heißluftballon oder auf das Summen einer Biene aufmerksam machte. Die Idylle, so Ernst Bloch, schafft Platz für durchaus Gutes und „Heimisches, als wäre man von weither dahin zurückgekehrt, ein häuslicher Frieden, ein ländlicher Garten, ‚mit sanft anatmender Kühlung.‘ Summen der Bienen umgibt das eingezogene Leben bei Tag, Summen des Teekessels bei Nacht.“41

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Nicht selten tauchte in mir das Bild von uns als Nachbarinnen auf, die, gemeinsam auf ein Kissen gestützt, das Treiben auf der Straße betrachten. Bezeichnenderweise fiel mir in einer solchen, von idyllischer Atmosphäre geprägten Stunde die Arbeit Reimut Reiches ein, der schrieb: „Beide – Analytiker und Analysand – möchten sich sozusagen lieber einfach so unterhalten – das wäre die inzestuöse Tat – und würden dafür durch eine Entgleisung der Behandlung bestraft.“42 Solche Einfälle rissen mich aus meinem idyllengleichen Sog, dem ich nicht selten erlag, und ich besann mich wieder auf mein psychoanalytisch-deutendes Tun, wissend, dass ich, im Erleben der Patientin, unausweichlich zum ‚Täter‘ werden würde, der durch unzumutbare Deutungen den idyllischen Kosmos als eine Variante des Ungetrenntheitsphantasmas zerriss und die Realität im Sinne auch der Anerkennung der ödipalen Konfiguration einsickern ließ. Die gleichermaßen gegebene Anwesenheit und Abwesenheit des Traumatischen verrät sich demgemäß im destruktiven Angriff auf die analytische Technik und den analytischen Prozess schlechthin, der das verhindert, was die Idylle vermeintlich repräsentiert: die Eröffnung von (Denk-)Räumen. Zugleich aber dient die Idyllenbildung immer schon der Abwehr eines wie auch immer gefürchteten traumatischen Einbruchs bzw. geht aus diesem bereits hervor, wie es Winnicott in seiner Arbeit The Fear of Breakdown43 beschrieben hat. In Anbetracht der Tatsache, dass traumatisches Material häufig missrepräsentiert und desymbolisiert, gleichwohl nur scheinbar abwesend ist, vielmehr abgespalten in der innerpsychischen Welt ein Eigenleben führt, ist die Abwehrkonstruktion der Idylle immerzu von der plötzlichen, unkalkulierbaren Kontamination des ‚undenkbar‘ Katastrophisch-Traumatischen bedroht und muss umso rigider verteidigt werden. Auf diese Weise entsteht der paradoxale Teufelskreis der Idylle als Traumaabwehr und dessen potentieller Erzeugung mit einer nahezu identischen Matrix einschließlich folgender Phänomene: Begrenzung bzw. Einengung des intrapsychischen Raumes, Tendenz zu Konkretisierungen und Bebilderungen als Ausdruck von Symbolisierungseinbußen, Spaltungen, Vorherrschen von ein- oder zweidimensionalen Denkstilen, Sprachlosigkeit, das Erleben von stillstehender bzw. eingefrorener Zeit, sowie das – in Korrespondenz zum Wiederholungszwang – Repetitiv-Zyklische psychischer Erfahrungen. Auf ganz besondere Weise maskiert die Idyllenbildung mit ihrer klassischen Figuration von Lieblichkeit, Heimeligkeit und Friedfertigkeit das, zu dessen Abwehr sie dient: Angst vor dem identitätsauflösenden Zerfall, Destruktivität in ihren vielschichtigen Formen und

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psychisches Leiden schlechthin. Diesen Aspekt hat Hermann Beland unlängst in seiner Interpretation des Gedichtes Die Mergelgrube von Annette von Droste-Hülshoff auf beeindruckende Weise exemplifiziert.44 Ohnehin ist bemerkenswert, dass das postmoderne Idyllengenre in der Belletristik durch eben diese Spannung – der Idyllenkonstruktion als Katastrophen- oder Traumaabwehr – gekennzeichnet ist, wie etwa in Undine Gruenters letztem Roman Der verschlossene Garten45, in Nicholson Bakers Roman Die Fermate46 oder in Helena oder das Meer des Sommers von Julián Ayesta47.

IV. Zeiterleben in der Idylle Eines Tages, wieder gefangen in dieser schläfrigen, idyllischen und zeitlosen Atmosphäre, fragte ich Frau W, was denn ihre liebste Phantasie oder ihr schönster Tagtraum wäre. „Ich möchte auf dem Stuhl in Menzels Balkonzimmer sitzen, und der Vorhang bauscht sich ewig“, antwortete sie spontan (Abb. 3). Zweierlei erstaunte mich: Zum einen die erneute Raummetapher, nicht nur befördert durch die Tatsache, dass dieses Gemälde von 1845 tatsächlich eher ein Bildchen ist, nämlich im Original nur 58 x 47 cm misst, sondern das Ausschnitthafte des Raumes, die dicht gedrängten Möbel lassen zudem den Eindruck von Umgrenzung und Begrenzung entstehen, einzig aufgehoben durch die offene Balkontür, die ein Draußen erahnen lässt.48 Wie sich abzeichnet, korrespondiert die idyllische Tiefenstruktur nicht nur mit einer spezifischen Raum-, sondern auch einer Zeitpathologie im Sinne der gleichermaßen ersehnten und gefürchteten Zeitlosigkeit, der Unendlichkeit und des Nie-Aufhörens, die sich zu einer Variante der „romantischen Perversion des Zeiterlebens“49 ausweiten kann, zu einer verklärten „Niemands- oder Niemalszeit“.50 Die Verformungen des Raum-Zeit-Kontinuums bringen sich in der glücklichen, der stillgestandenen, gleichsam „rückwärts erinnerten Zeit“51 der Idylle zum Ausdruck, die sich gegen die Vergänglichkeit und Fortsetzung sträubt; denn die sich fortsetzende, also wieder in Bewegung geratene Zeit, so Roland Barthes52, würde eine unerträglich lange Schleifspur der Leiden, Verletzungen, Ängste und Verzweiflungen nach sich ziehen.

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Abb. 3: Adolph Menzel: Das Balkonzimmer, 1845

Menzels Balkonzimmer bedient keineswegs das traditionelle Genre der Idylle, und doch ist dieses Bild der einzigartige Versuch, „die Schönheit des lichtdurchflossenen Raumes, das faszinierende Spiel des Sonnenlichtes und des leichten Windes in der wehenden Gardine wiederzugeben. Was den Betrachter ergreift, ist das Licht, der Lufthauch, das Atmosphärische des Bildes“53. Dieses Gemälde belegt auf eindrucksvolle Weise, dass

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die bildende Kunst und Literatur wechselweise andere Raum-Zeit-Konzepte ausprobieren, alltäglich funktionierende Raum-Zeit-Konzepte verwerfen, brechen, unterbrechen, an bestimmten, sehr genau wahrnehmbaren Stellen aus den Routinen, dem Wechselspiel der äußeren und inneren Uhren heraustreten, einen anderen Zeitraum, einen Utopos oder Heterotopos erfahrbar machen, einen Riß im Raum oder Sprung in der Zeit.54

Faszinierend ist Das Balkonzimmer eben deshalb, weil ja gerade das Bauschen des Vorhangs für gewöhnlich ein beiläufiger, im Alltag oft unbemerkter Vorgang ist, von einigen Sekunden allenfalls, der, wenn er registriert wird, oft schon vorbei ist. Es ist eben jener fragile, sich so schnell verflüchtigende Moment, den festzuhalten uns eben nicht gelingt, den er uns dafür aber, gleichsam als Ersatz, für immer auf Leinwand gebannt hat – jener Moment, dessen Ende in den Versen von Louis McNeice so jäh angekündigt wird: „Das Sonnenlicht auf dem Garten wird stählern und kalt / Wir können die Minute, in ihrem Netz aus Gold, nicht einsperren.“55 Doch evoziert die Flucht in den hermetisch abgeriegelten, zeitlosen Sehnsuchtsort der Idylle im Umkehrschluss letztlich die unerträgliche Angst, zu deren Abwehr sie dienen soll. In dem Maße, wie sich insbesondere psychisch schwer beeinträchtigte Patienten nach rückwärts erinnern und sich zurück in ein idyllisches Paradies sehnen, sind sie zugleich und kehrseitig vor einer in der Zukunft erwarteten Katastrophe, die sich in Wahrheit als eine Projektion einer vergangenen, aber nicht repräsentierten Schreckenserwatung erweist, nicht gefeit. Unweigerlich wird dieses intrapsychische Arkadien zum unentrinnbaren Labyrinth der projizierten Katastrophe, der Ausweglosigkeit, Agonie und des psychischen wie nicht selten physischen Todes durch radikale Selbstauslöschung. Der Topos des abgeschlossenen Raumes, paradigmatisch für die Paradoxie der Idylle, taucht bereits im Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz von Jean Paul auf,56 der, so Jan Philipp Reemtsma, seinen Titelhelden erinnern läßt, wie er als Kind die Fensterläden schloß, um einen umgrenzten, sicheren Raum – eine Idylle eben – zu schaffen, ‚so warm, so satt, so wohl‘, dann aber mag Wutz die Fenster nicht mehr ansehen, weil sich in ihnen die Stube spiegelt und damit ist die Begrenzung schon wieder aufgehoben, offen allem Unheimlichen, das unter anderem deshalb grenzenlos ist, weil wir es in die Welt hinein phantasieren.57

Erneut bin ich somit an den Anfang zurückgekehrt: Et in Arcadia ego bedeutet, dass, selbst wenn man die Welt aussperrt und sich selbst einsperrt, doch der nun erzwungene spiegelnde oder inwendige Blick

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bleibt, der wieder und wieder Unheimliches, Vergänglichkeit und Tod preiszugeben droht. Denn nicht erst die zerbrochene Idylle wirft das Ich zurück auf das, was es mittels dieser so verzweifelt externalisieren wollte, wie es fast schon beschwörend bei Charles Baudelaire anklingt: Auf Venus’ Insel alles mir zerrann Ein Galgen blieb, daran mein Bild zu schauen. – – Gib, Herr, mir Kraft und Mut, dass ohne Grauen Hinfort ich auf mich selber blicken kann.58

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Woolf, Virginia. Diary of Virginia Woolf 4. 1931-1935. Hg. v. Anne Olivier Bell. London, 1982, S. 139. Vgl. Panowsky, Erwin. „Et in Arcadia Ego: Poussin und die elegische Tradition“. Europäische Bukolik und Georgik. Hg. v. Klaus Garber. Darmstadt, 1976. 271-305. Vgl. Snell, Bruno. „Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft“. Europäische Bukolik und Georgik. Hg. v. Klaus Garber. Darmstadt, 1976. 14-43. Uerscheln, Gabriele u. Michaela Kalusok. Kleines Wörterbuch der europäischen Gartenkunst. Stuttgart, 2001, S. 15. Vergil, Publius Vergilius Maro. „Hirtengedichte“. Vergil. Werke in einem Band. Übs. v. Dietrich Ebener. Berlin, Weimar, 1983. Ekloge V: S. 33 f.; S. 113; Ekloge X: S. 53 - 55; S. 17. Vgl. Panowsky (Anm. 2). Bloch, Ernst. „Arkadien und Utopien“. Europäische Bukolik und Georgik. Hg. v. Klaus Garber. Darmstadt, 1976. 1-7, S. 4. Goethe, Johann Wolfgang von. „Die Wahlverwandtschaften“. Goethe Werke 3. Faust I und II, Die Wahlverwandtschaften. Frankfurt a. M., 1965. 346-565, S. 219. Goethe, Johann Wolfgang von. Italienische Reise. München, 1995. Maisak, Petra. „Nachwort“. Arkadien. Landschaft vergänglichen Glücks. Hg. v. ders. u. Corinna Fiedler. Frankfurt a. M., 1992. 157-180, S. 160. Pontalis, Jean B. Aus dem Blick verlieren. Im Horizont der Psychoanalyse. Übs. v. Hans-Dieter Gondek. München, 1991, S. 209. Vgl. Storfer, Adolf J. Im Dickicht der Sprache. Berlin, 2000, S. 237. Bell, David. „Freud’s Analysis Terminable and Interminable: Disillusion or Disillusionment? Paper, presented to the Scientific Meeting of the British Psycho-Analytical Society on 20th October 1999. Bulletin of the British Psychoanalytical Society 35 (1999): 1-9, S. 1. [Übs. v. B. G.]

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Paul, Jean. Werke 5. Vorschule der Ästhetik. Hg. v. Norbert Miller. München, 1963, S. 258 f. Feuerlicht, Ignaz. „Analyse des Idyllischen“. Psychoanalytische Bewegung 5 (1933): 167-186, S. 171. Freud, Sigmund. „Das Unbehagen in der Kultur“. Gesammelte Werke 16. Werke aus den Jahren 1932-1939. Hg. v. Anna Freud u.a. 2. Aufl. Frankfurt a. M., 1961. 419-506, S. 422. In psychoanalytischen Konzeptualisierungen zur frühkindlichen Entwicklung wird relativ übereinstimmend von der Prämisse ausgegangen, dass der Säugling sich nicht von Anfang an als körperlich-psychische Einheit erlebt, sondern dass er seinen Körper – und damit auch seine noch rudimentäre Identitätskonfiguration – ursprünglich als einen in all seinen Gliedern fragmentiert und als außerhalb seiner Selbst existierend wahrnimmt. Der Körper (bzw. Körperteile) ist somit das erste Objekt, das zunächst vor allem als Quelle von Dysphorie und Unwohlsein wahrgenommen wird, wenn nämlich die innere Homöostase durch Hunger, Kälte oder andere Missempfindungen gestört ist. Eine erste psychische Reifeaufgabe besteht darin, den Körper allmählich als zu sich selbst gehörig zu erleben und die Partialobjekte als Ganzes zu integrieren. Daran anknüpfend wird auch Identitätsbildung nicht mehr als ein linear-kontinuierlicher Prozess gedacht; vielmehr geht dieser immerzu mit der Gefahr einher, durch krisenhafte Erschütterungen erneut labilisiert zu werden, die die Regression auf bereits überwundene Abwehrmechanismen wie Spaltungen, Projektionen und projektive Identifizierungen begünstigen. In diesem Sinne erweist sich Subjektwerdung als ein mitunter überaus störanfälliges Projekt einschließlich des zuweilen rasanten Oszillierens zwischen der paranoid-schizoiden Position – mit ihren paradigmatischen Spaltungsdynamiken – und der psychisch reiferen depressiven Position, für die eine Befähigung zur Dankbarkeit und Wiedergutmachung kennzeichnend ist, und die Anerkennung des Anderen als getrenntes Objekt ertragen werden kann. Freud (Anm. 16), S. 450. Vgl. Gessner, Salomon. Idyllen. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart, 1988. Vgl. auch Böschenstein-Schäfer, Renate. „Gessner und die Wölfe. Zum Verhältnis von Idylle und Aggression“. Maler und Dichter der Idylle: 17301788. Ausstellung zum 250. Geburtstag Salomon Gessners. Braunschweig, 1982. 71-73, S. 72. Pietzcker, Carl. „Narzißtisches Glück und Todesphantasie in Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal“. Literatur und Psychoanalyse. Vorträge des Kolloquiums am 6. und 7. Oktober 1980. Hg. v. Klaus Bohnen. München u.a., 1981. 30-50, S. 40. Thüsen, Joachim von der. „Kindheit ohne Trennungen: Tiefenstrukturen der Idylle“. Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Germanisten-Kongresses. Hg. v. Albrecht Schöne. Tübingen, 1986. 166-176, S. 172.

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Vgl. Freud, Sigmund. „Jenseits des Lustprinzips“. Gesammelte Werke 13. Jenseits des Lustprinzips / Massen-Psychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es. Hg. v. Anna Freud u.a. 3. Aufl. London, Bradford, 1947. 1-69. „Ein Symbol ist wie ein Niederschlag der Trauer um das Objekt.“ Segal, Hanna. Traum, Phantasie und Kunst. Stuttgart, 1996, S. 60. Loch, Wolfgang. „Zur Entstehung aggressiv-destruktiver Reaktionsbereitschaft“. Psyche 24 (1970): 241-259, S. 247. Vgl. Küchenhoff, Joachim. „Suizid – Suche nach Beziehung oder Zerstörung des Dialogs“. ‚Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt.‘ Autodestruktivität und chronische Suizidalität. Hg. v. Benigna Gerisch u. Ilan Gans. Göttingen, 2001. 60-80. Vgl. Winnicott, Donald Wood. „Übergangsobjekte und Übergangsphänomene“. Psyche 23 (1969): 666-682. Vgl. Bion, Wilfried R. Elements of Psycho-Analysis. London, 1984. Vgl. z.B. Küchenhoff (Anm. 26). Beland, Hermann. „Unbewußte Phantasien-strukturierende Beziehungsgeschichten“. Über die verborgenen anthropologischen Entwürfe in der Psychoanalyse. Hg. v. Lili Gast u. Jürgen Körner. Tübingen, 1997. 39-59, S. 54. Freud, Sigmund. „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“. Gesammelte Werke 15. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Hg. v. Anna Freud u.a. 3. Aufl. Frankfurt a. M., 1961. 1-197, S. 86. Thüsen (Anm. 22), S. 168. Vgl. Freud (Anm. 23). Money-Kyrle, Roger. „The Aim of Psychoanalysis”. International Journal of Psychoanalysis 49 (1971): 103-106, S. 104. Vgl. auch Weiß, Heinz. Suizidalität als Ausdruck von ‚Psychic Retreats‘ – Behandlungstechnische Probleme. Unpublizierter Vortrag auf dem Kongress „Suizidalität – Psychoanalyse“, veranstaltet vom Therapiezentrum für Suizidgefährdete in Hamburg, 2001. Green, André. „Vorwort: Der Narzissmuss und die Psychoanalyse“. Die tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebensnarzissmus und Todesnarzissmus. Hg. v. dems. Giessen, 2004. 10-29, S. 23 f. [Hervorh. v. B.G.] Im psychoanalytischen Verständnis wird der trianguläre Raum durch die drei Personen der ödipalen Situation und ihrer Beziehung untereinander gebildet. Von einer Triangulierungskompetenz können wir dann sprechen, wenn es dem Kind gelingt, sowohl eigenständige Beziehungen zu den Protagonisten (zumeinst den Eltern) der Triade herzustellen als auch die elterliche Dyade, aus der das Kind passager ausgeschlossen wird, zu tolerieren. Goethe, Johann Wolfgang von. „Die Leiden des jungen Werther“. Goethe Werke 4. Die Leiden des jungen Werther, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Frankfurt a. M., 1965. 8-112, S. 13. Vgl. Steiner, John. Orte des seelischen Rückzugs. Pathologische Organisationen bei psychotischen, neurotischen und Borderline-Patienten. Stuttgart, 1998.

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Vgl. Klein, Melanie. „Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen“(1962). Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse. Hg. v. Hans A. Thorner. Neuaufl. Stuttgart, 1983. 131-163. Bloch, Ernst. Das Prinzip Hoffnung 3. Frankfurt a. M., 1973, S. 939. Reiche, Reimut. „Subjekt, Patient, Außenwelt“. Vom Werden des Subjekts. Tagungsband der Herbsttagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. Hg. v. Ursula Ostendorf u. Holger Peters. Bad Homburg, 1999. 45-70, S. 53. Winnicott, Donald Wood. „The Fear of Breakdown“. International Review of Psycho-Analysis 1 (1974): 103-107. Vgl. Beland, Hermann. „Todesangst am Anfang des Lebens. Körperliche Getrenntheit und die Induktion von Angst. Psychoanalytischer Versuch über ‚Die Mergelgrube‘ und ‚Der Knabe im Moor‘“. Annette von DrosteHülshoff aus psychoanalytischer Sicht. Hg. v. Gisela Greve u. Hertha E. Harsch. Tübingen, 2003. 65-101. Vgl. Gruenter, Undine. Der verschlossene Garten. Roman. München, 2004. Vgl. Baker, Nicholson. Die Fermate. Roman. Reinbek bei Hamburg, 1994. Vgl. Ayesta, Julián. Helena oder das Meer des Sommers. Roman. 4. Aufl. München, 2004. Vgl. auch Lammel, Gisold. Adolph Menzel. Bildwelt und Bildregie. Dresden, Basel, 1993. Steiner (Anm. 39), S. 116. Vgl. auch Gerisch, Benigna. „Auch ich war in Arkadien: Der traumatische Einbruch in den idyllischen Raum“. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 17.4 (2002): 343-370. Gutwinski-Jeggle, Jutta. „Pathologische Phänomene des Zeiterlebens. In den Vorhöfen von Zeiträumen“. Zeit und Raum im psychoanalytischen Denken. Hg. v. Karsten Münch u.a. Bad Homburg, 2005. 88-106, S. 91. Vgl. Barthes, Roland. Fragmente einer Sprache der Liebe. Übs. v. Hans-Horst Henschen. Frankfurt a. M., 1988. Greve, Gisela. „Der Betrachter im Bild. Zu Adolph Menzels Gemälde ‚Das Balkonzimmer‘“. Kunstbefragung. Dreißig Jahre psychoanalytische Werkinterpretation. Hg. v. ders. Tübingen, 1996. 135-153, S. 144. Gendolla, Peter: „Mehr Zeit in weniger Raum. Zur Zeitwahrnehmung in Literatur und Kunst“. Zeitsprünge. Hg. v. Ursula Keller. Berlin, 1999. 193205, S. 195 f. Mc Neice, Louis. „The Sunlight in the Garden“. The Earth Compels. Hg. v. Louis Mc Neice. London, 1938, S. 28. Vgl. Paul, Jean. Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal. Eine Art Idylle. Stuttgart, 1977. Reemtsma, Jan Philipp. „Komet“. Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 35/36 (2000/01): 10-31, S. 29 f. Baudelaire, Charles. „Eine Reise nach Kythera“. Ausgewählte Werke. Die Blumen des Bösen. Hg. v. Franz Blei. Übs. v. Terese Robinson. München, 1980. 250-255, S. 253.

 

Zwischen Südseetraum und Tivoli Sehnsuchtsorte in der modernen und zeitgenössischen Kunst Alma-Elisa Kittner Während meiner Recherchen zur Aktualität von Paradies-Vorstellungen fragte ich ein 7-jähriges Mädchen, was für sie das Paradies wäre. Die Antwort lautete: „Wenn ich so mache, [macht eine Geste als zöge sie einen Vorhang auf] und dann wäre hier das Meer, und wenn ich dann so mache, [bewegt sich ein wenig zur Seite und zieht erneut einen imaginären Vorhang auf] wären hier die Berge, und dann mach’ ich so, [wieder die gleiche Geste] und ich wäre auf einer bunten Wiese: Das wäre das Paradies.“ In dieser kindlichen Antwort spiegeln sich einige für die bildende Kunst relevante Aspekte der ParadiesVorstellungen. So sind die Natur-Topoi interessant – Berge, Meer und Wiese –, die in der Kunst meist als Landschaft oder Garten auftauchen. Die Vielfältigkeit der Natur erscheint simultan an einem Ort, was eine paradiesisch konnotierte Einheit assoziieren lässt. Vergleichbar wird etwa im Barock das irdische Paradies vor dem Sündenfall, il paradiso terrestre, mit Adam und Eva, häufig inmitten einer üppigen Flora und Fauna dargestellt, zoologisch und botanisch ungemein genau, denn in ihr spiegelt sich die neue Wissenskultur des 17. Jahrhunderts: Die Paradies-Darstellung wird zu einer Art bildlichen Enzyklopädie des Wissens der Welt, ihren Tieren und Pflanzen. Zudem wirkt in der Antwort des kleinen Mädchens diese Einheit vollkommen verfügbar und konsumabel. Sie erscheint gleichsam auf der Bühne und wird zur Kulisse. Schließlich spiegelt sich in ihr die Kraft des regisseurhaften Ichs, das Paradies in einem performativen Akt selbst hervorbringen zu können, zugleich selbst auf dieser Bühne aufzutreten und sie als Möglichkeitsraum eigener Identitätsentwürfe nutzen zu können. Diese Punkte – Simultaneität, Identität, Inszenierung – werden in den folgenden Überlegungen noch wichtig werden.

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I. Das säkulare Paradies Tourismus: Befreiung von der Arbeit Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass sich säkulare Paradies-Vorstellungen der westlichen Welt an vormalig sakrale anlehnen. Die Sehnsucht nach Müßiggang etwa, einem Leben ohne Arbeit, durchzieht sowohl moderne und zeitgenössische Paradies-Vorstellungen als auch Utopie-Modelle und erinnert daran, dass Adam und Eva erst nach der Vertreibung aus dem Paradies für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, weil ihnen die Früchte nun nicht mehr in den Mund wachsen. Das Kuppelmosaik aus dem Baptisterium Florenz aus den Jahren 12801285 etwa zeigt eine solche Vertreibungsszene aus dem Paradies. Der vielgeflügelte Erzengel Michael verjagt Adam und Eva, die bereits ihre – geschlechtsspezifisch differenzierten – Arbeitsinstrumente in der Hand halten: eine Spitzhacke zum Ackerbau und eine Spindel zur Tuchherstellung, um die neu entstandene Scham zu bedecken. Doch die Sehnsucht nach der Befreiung von Arbeit richtet sich in der Moderne und Postmoderne statt auf zeitliche Modelle – wie etwa des Müßiggangs im Jenseits oder einer zukünftigen Reduktion der Arbeit auf ein Minimum im idealkommunistischen Entwurf – zunehmend auf räumliche: auf Sehnsuchtsorte. Sie implizieren zwar ebenfalls eine andere Zeiterfahrung; diese tritt aber erst ein, wenn die Grenze zum anderen Raum überschritten wird. Am stärksten wird dies im Tourismus sichtbar, der kommerziellen, industriellen und massenhaften Organisation und Choreographie reisender Körper zu Sehnsuchtsorten, an denen nicht gearbeitet wird. Mittlerweile ist der Tourismus weltweit der drittgrößte Wirtschaftssektor. Laut der World Tourism Organization (UNWTO) wird im Jahr 2020 die Zahl der Touristen auf unvorstellbare 1,6 Billionen gestiegen sein.1 Diese Zahl ist zwar problematisch, da sich hinter den registrierten Übernachtungen oder Touristenvisa auch Geschäftsreisen und vor allem Migration verbergen können.2 Doch selbst wenn man diese Personengruppen abzieht, sind es immer noch zahlreiche Menschen, die sich zu anderen Orten bewegen, um dort das zu erfahren, was im Alltag nicht möglich scheint: Entspannung, Rausch, befreite Sexualität, Selbsterfahrung, Erlebnisse, Erfahrung des Ichs durch das Fremde. Nach wie vor scheint Hans Magnus Enzensbergers Theorie des Tourismus aus dem Jahr 1958 zuzutreffen, in der er konstatierte: „Die Flut des Tourismus ist eine einzige Flucht aus der Wirklichkeit, mit der unsere Gesellschaftsverfassung uns umstellt.

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Jede Flucht aber, wie töricht, wie ohnmächtig sie auch sein mag, kritisiert das, wovon sie sich abwendet.“3 Weil das ‚gute Leben‘ im Hier und Jetzt nicht möglich ist, fungiert der Urlaub demzufolge als Utopieersatz mit verkümmerten Rest-Paradiesen. Während jedoch Enzensbergers Diagnose der kompensatorischen Wirklichkeitsflucht bis heute immer wieder zitiert und reformuliert wurde, ist dessen Vorstellung, dass der Tourismus auch kritisches Potential besitzt, geflissentlich übersehen worden.

II. Das Paradies als Bild: Paul Gauguin Künstler und Künstlerinnen sind bei der Formulierung dieser Kritik besonders stark beteiligt, denn sie nehmen bei der Imagination säkularer Paradiese, wie der Tourismus eines darstellt, eine wesentliche Rolle ein. Sie bringen paradiesisch konnotierte Topoi stets mit hervor, indem sie den Kreislauf der Vor- und Nach-Bilder durch Zitation und Wiederholung in Gang halten oder neue Bilder in den Bildkreislauf einspeisen. Eine Form der Hervorbringung und Verbreitung von Bildern der Sehnsuchtsorte geschieht mittels der Künstlerreise. Sie war in Europa spätestens seit der Renaissance eine Form der Professionalisierung, die zur Ausbildung gehörte wie etwa das Studium der Antike in Rom. Zunächst war sie jedoch Teil der grand tour der Adligen, die für die Dokumentation der meist zehnmonatigen, oft aber auch mehrjährigen Reise durch Italien oder für Unterrichtsstunden vor Ort Künstler mit auf die Reise nahmen.4 Später verselbstständigte sich die Künstlerreise, bei der das praktische Studieren vor Ort und das Kopieren so genannter Meisterwerke zur Vervollkommnung der künstlerischen Fähigkeiten zentral war. So reisten auch Künstler/innen Vor-Bildern hinterher, wie es etwa Goethe in seiner Italienischen Reise beschreibt, dessen Vater im Frankfurter Haus „die Prospekte von Rom im Vorsaale aufgehängt“5 hatte. Jedoch mit dem Verschwinden einer normativen Ästhetik, die sich an der Antike und der italienischen Renaissance orientierte, begann insbesondere in der klassischen Avantgarde verstärkt das selbst beauftragte Reisen an andere Orte. Diese ‚anderen Orte‘, die auch ‚andere Erfahrungen‘ versprechen, sind dabei – ähnlich wie es Enzensberger implizit für den Tourismus beschreibt – stets auf den Herkunftsort bezogen. Sie scheinen sein Widerlager zu bilden, so dass das Versprechen einer be-

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freienden Orts-Überschreitung mehr über ihn verrät als über den aufgesuchten ‚anderen Ort‘. So spielte Anfang der 1880er Jahre die bildende Kunst im Zuge der Anti-Akademisierung zunehmend eine kulturkritische Rolle. Sehnsuchtsorte waren daher vor allem der Zivilisation, der bürgerlichen Gesellschaft und zum Teil dem urbanen Leben entgegengesetzte Orte. Maler wie Paul Gauguin, Emil Nolde oder Max Pechstein suchten Räume auf, die mit Einfachheit und Ursprünglichkeit konnotiert waren: Im Falle Gauguins war das erst die als volkstümlich geltende Bretagne, wo sich daraufhin recht schnell eine Künstlerkolonie bildete, dann Panama und schließlich Tahiti, wo er sich zweimal mehrere Jahre aufhält (1891-1893 und 1895-1901), bis er 1901 auf die Marquesas übersiedelt, wo er 1903 auf der Insel Hiva Oa stirbt. Zugleich steht diese nicht mehr endende Reise Gauguins und der von ihm geschaffene Künstlermythos im Kontext des avantgardistischen Versuchs, Kunst und Leben zusammenzuführen, was innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nach Ansicht der Künstler/innen nicht gelingen kann. Nachdem Paul Gauguin elf Jahre erfolgreich als Börsenmakler tätig war, bricht er nach dem Börsenkrach von 1882 mit seinem bürgerlichen Leben, verlässt Frau und Kinder und konzentriert sich auf die Malerei. Die Produktion von Paradies-Bildern wird im Falle Gauguins von einer Praxis, der Suche nach dem guten Leben, begleitet und weist weit über eine zehnmonatige grand tour hinaus. Sie ähnelt eher einer „Artist Migration“6 als einer Künstlerreise und ihr geht eine „radikale Konversion“7 vom Bürger zum Künstler voraus. Tatsächlich folgte auch Gauguin verschiedensten Vor-Bildern: etwa der Rezeption der Reise von Louis Antoine de Bougainville, der auf seiner Expedition 1766-1769 unter anderem Tahiti entdeckt und im Auftrage der französischen Regierung in Besitz genommen hatte. Bougainville zeichnete von der ‚Île de la Nouvelle Cythère‘ (NeuKythera) laut Philippe Despoix jedoch ein differenziertes Bild der Tahitianer und Tahitianerinnen, das auch auf Sprachaneignung und späterhin Gesprächen mit einem tahitianischen Häuptling beruhte.8 So wurden neben dem Lob der „glücklichen Insel“ auch grausame Riten beschrieben, die dem rousseauistischen Topos des „edlen Wilden“ zuwiderliefen.9 Dennoch lasen die Zeitgenossen Bougainvilles dessen Aufzeichnungen in diesem Sinne,10 sodass der Topos bis in das 19. Jahrhundert hinein weiter wirkte und etwa den von Gauguin rezipierten Roman von Pierre Loti (Rarahu: idylle polynésie, 1879) prägte. Schließlich finden sich auch Paradies-Vorstellungen eines süßen Lebens ohne Erwerbsarbeit wieder, wenn Gauguin bereits vor

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seiner Reise 1890 in einem Brief Tahiti beschreibt und in deutlicher Abgrenzung zum kritisierten Europa darstellt: Dort unten, unter einem Himmel ohne Winter, auf einem Land von herrlicher Fruchtbarkeit, muß der Tahitianer jedenfalls nur den Arm heben, um seine Nahrung zu ernten; deshalb arbeitet er nie. Während in Europa die Männer und Frauen nur durch unermüdliche Arbeit zur Befriedung ihrer Bedürfnisse gelangen, während sie unter den Qualen von Hunger und Kälte leiden, dem Elend hilflos ausgeliefert, kennen dagegen die Tahitianer, glückliche Bewohner der unbekannten Paradiese Ozeaniens, nur die süßen Seiten des Lebens. Für sie heißt Leben Singen und Lieben. Ich gehe fort, um Ruhe zu finden, um mich vom Einfluss der Zivilisation zu befreien. Ich will nichts als einfache Kunst schaffen: dazu muß ich wieder in die jungfräuliche Natur eintauchen, nur Wilde sehen, ihr Leben leben, ohne ein anderes Interesse, als die Ideen in meinem Kopf wie ein Kind wiederzugeben, nur mit Hilfe primitiver Kunstmittel, der einzigen guten, der einzigen wahren.11

Abb. 1: Paul Gauguin: D’où venons nous? Que sommes nous? Où allons nous?, 1897 Es sind zwar keine ‚primitiven‘ Kunstmittel – bei ihm im positiven Sinne gemeint –, die Gauguin anwendet, wie noch deutlich werden wird; dennoch schuf er Bilder eines imaginären Paradieses, die bis heute ihre Anziehungskraft nicht verloren haben. Es sind Vorstellungen eines ahistorischen Glücksortes, dem man die Plagen des Kolonialismus nicht ansieht und der alte Paradies-Vorstellungen aktualisiert: Das Bild D’où venons nous? Que sommes nous? Où allons nous? (‚Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?‘) aus dem Jahr 1897 zeigt eine solche Paradiesvorstellung (Abb. 1). Gauguin selbst beschreibt es folgendermaßen:

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Es ist eine Leinwand von 4,50 auf 1,70 m Höhe. Die zwei oberen Ecken sind chromgelb mit der Titelinschrift links und meiner Signatur rechts, ähnlich einem an den Ecken abgeblätterten Fresko, das auf einer goldgrundigen Mauer angebracht wurde. Rechts unten ein schlafendes Kleinkind, dann drei kauernde Frauen. Zwei in Purpur gekleidete Frauen vertrauen sich ihre Gedanken an. Eine absichtlich trotz Perspektive sehr groß gegebene hockende Figur hebt die Arme und betrachtet erstaunt diese beiden Personen, die über ihr Schicksal nachzudenken wagen. Eine Gestalt in der Mitte pflückt eine Frucht. Zwei Katzen bei einem Kind. Eine weiße Ziege. Das Idol mit zwei geheimnisvoll und rhythmisch erhobenen Armen scheint auf das Jenseits zu weisen. Eine kauernde Gestalt scheint dem Idol zu lauschen. Ein altes Weib endlich, schon dem Tode nahe, beschließt den Bildtext [légende]. Sie scheint sich drein zu schicken und in ihre Gedanken zurückzuziehen. Ihr zu Füßen versinnbildlicht ein seltsamer weißer Vogel, der eine Eidechse in den Krallen hält, die Nutzlosigkeit leerer Worte.12

Interessanterweise liest Gauguin das Bild entgegen der herkömmlichen Richtung von rechts nach links. Er betont die symbolische Form der Perspektive, denn „trotz Perspektive“, wie er es ausdrückt, werden einige Figuren größer als andere dargestellt. Das Chromgelb spielt laut Gauguin auf spätmittelalterliche, goldgrundige Fresken an. Das scheinbare Abblättern der Farbe an den Ecken und die dort integrierten Schriftzüge setzen zudem einen reflexiven Bruch ins Bild. Auf dem panoramatischen Querformat sind mehrere Szenen zu sehen, die aufgrund der typisierten Personendarstellung ebensogut von der gleichen Figur handeln könnten. Wie bei mittelalterlichen Heiligenlegenden wird dadurch ein Raum geschaffen, in dem sich verschiedene Szenen simultan abspielen.13 Zusammen mit den schwarz umrandeten Farbflächen – das so genannte cloissonné, das die Bleiruteneinfassungen mittelalterlicher Kirchenfenster zitiert – bewirken diese stilistischen Entscheidungen eine Archaisierung und Entzeitlichung des Raumes, in dem die Erzählung stattfindet. Christian Kravagnas Kritik, hier sei die kolonialistische „Verweigerung von Gleichzeitigkeit“14 zu sehen oder besser: die Verweigerung von Geschichtlichkeit, die unterstellt, in Tahiti würde man erleben, wie ‚wir Europäer‘ früher waren, ist daher zum einen berechtigt. Die primitivistische Phantasie verlegt das Geschehen in ein Goldenes Zeitalter – und genau dies zeigt die kolonialistische Rahmung. Zum anderen jedoch ruft Gauguin damit europäische Darstellungen des himmlischen Paradieses aus Mittelalter und Frührenaissance auf: das Motiv des Gartens und das Motiv der verbotenen Frucht, das in Allegorien des Frühlings wie etwa in Sandro Botticellis Darstellung der Primavera wiederkehrt, in der die goldenen Äpfel als Sinnbild der hesperidischen Früchte dienen. Ebenso

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klingt die Ikonographie der drei Lebensalter an, was die Wirkung der Simultaneität verschiedener Narrationen und Zeitformen noch verstärkt und mythische Vorstellungen allgemeinmenschlicher Lebenszyklen reaktiviert. Der Entzug von Geschichte bezieht sich also auch auf das europäische Bildarsenal von Paradies-Vorstellungen und andere Archaismen, die hier auf der zweidimensionalen Fläche des Bildes zusammenkommen. Gauguin nimmt die europäischen Motive und Stile auf und verschiebt sie, indem er sie seiner Darstellung der Polynesierinnen unterlegt. Unsere eigene Bildungstradition, so Karl Schawelka, wird uns in produktiver Weise fremd und entrückt.15 Zugleich, so füge ich hinzu, werden diese Traditionen durch die Mixtur der verschiedenen Archaismen im Sinne der damaligen Auseinandersetzung mit als exotisch aufgefassten Kulturen aktualisiert: Das cloissonné verdankt sich beispielsweise auch der damaligen Rezeption japanischer Farbholzschnitte, die die Figuration aus abstrahierenden Umrisslinien aufbauen und ebenfalls verschiedene Zeitebenen und Perspektiven in einem Bild staffeln. Frauen sind dabei nicht nur die „Hüterinnen des Paradieses“16, sondern weiteres Zeichen der utopisch konnotierten Differenz. Genau zwischen diesen Polen von Verfremdung und Entrückung versus Aktualisierung und Nähe oszilliert Gauguins Paradies als Bild. Dass dieses Paradies unverhohlene Melancholie ausstrahlt, weil es immer schon das verlorene ist,17 passt zur spezifisch modernen, kulturkritischen und zugleich eurozentristischen, männlichen Projektion des Künstlers. Der Uneinholbarkeit des Paradiesischen kann nur im Bild Gegenwärtigkeit eignen. Während Wolf Lepenies innerhalb der Moderne die Melancholie als die Gegenspielerin der Utopie beschreibt,18 verschränken sich in Gauguins Paradies als Bild beide ineinander.

III. Paradies und (touristische) Praxis Das Versprechen des Paradieses als Praxis eines von der Zivilisation befreiten Lebens wurde nicht erfüllt. Die Briefe und Notizen Gauguins strotzen nur so von Larmoyanz, Sexismus, Selbstmitleid, aber auch von Kampfeslust, Einsatz für die Tahitianer und Tahitianerinnen, Verachtung für den Kolonialismus (aus dem er sich selbstverständlich ausschließt) und vor allem von Trauer über das Paradies, das er in Tahiti nicht fand. Es war bereits eine vom Kolonialismus zerstörte Idylle mit von Alkoholismus gezeichneten Tahitianern und Tahitianerinnen, die Stangentabak und Opium konsumierten, unter importierten Geschlechtskrankheiten der Europäer litten und deren Bevölkerungszahl

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bereits dramatisch dezimiert war.19 „Früher gab es viel seltsame und pittoreske Dinge“, meint der Maler zu wissen, „heute sind nicht einmal mehr die Spuren da. Alles verschwand. Die Rasse nimmt jeden Tag ab, von europäischen Krankheiten befallen.“20 Auch Gauguin verbreitete die Syphilis, unter der er litt und an deren Folgen er schließlich starb, weiter. Dies ist umso wesentlicher, als seine Suche nach einem glücklichen Ort stark von der Sehnsucht nach frei ausgelebter Sexualität geprägt ist. Der Körper der polynesischen Männer und Frauen und ihr vorgeblich freier Umgang mit Sexualität rücken in den Vordergrund. Gauguin berichtet von homo- und heterosexuellen Erfahrungen, und auch etwas Potenzgeprotze ist dabei: Sieh! Da geht die kleine Vaitauni zum Fluß […]. Sie hat die rundesten und reizendsten Brüste, die ihr euch nur denken könnt. So sehe ich diesen goldenen Körper fast nackt zum kühlen Wasser eilen. Hüte dich, liebe Kleine. Der haarige Gendarm, der Tugendwächter, aber heimliche Faun, lauert dir auf. Hat er sich sattgesehen, wird er dir ein Strafmandat schicken, um sich dafür zu rächen, daß du seine Sinne verwirrt und so öffentliches Ärgernis erregt hast. – Öffentliches Ärgernis – Phrase das! Ach, ihr guten Großstädter, ihr ahnt nicht, was ein Gendarm in den Kolonien ist. Kommt, seht ihn euch an und ihr werdet einen Haufen Unflat finden, von dem ihr euch keine Vorstellung macht.21

Der repressiven bürgerlichen Doppelmoral kann Gauguin auch auf Tahiti nicht entfliehen, im Gegenteil, sie zeigt sich hier noch deutlicher. Zugleich ermöglicht ihm der „haarige Gendarm“, das Symbol der kolonialistischen Gesellschaft, ein Gutteil Distinktionsgewinn, denn er erzählt weiter: „Aber nun ich die kleine Vaitauni sah und an ihr horniges Fließ dachte, fühle ich meine Sinne sich verirren, und ich tummle mich im Fluß. Wir lachten beide ohne Weinblatt und…… Dies ist kein Buch.“22 Der Aussteiger Gauguin inszeniert sich auf diese Weise als jemand, der auf der Seite der Polynesierin steht, die daher, so seine Wahrnehmung, mit ihm Lust empfinden kann. Zugespitzt formuliert war Gauguin nicht nur, aber auch eine Art früher Sextourist, der im Namen sexueller Befreiung seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung sexistischer Hierarchien leistet. Jedoch weist dies auch zurück auf die Prüderie der bürgerlichen Gesellschaft und der sexuellen Begrenztheit innerhalb seiner eigene Ehe, die er ebenso beschreibt und der er schließlich entflieht. Zudem dient die Stilisierung als potenter Mann mit ungezähmter Sexualität dem männlich konnotierten Künstlermythos des urwüchsig schaffenden Malers: Schließlich sollte die Selbstdarstellung den Absatz seiner Bilder in Paris stei-

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gern, um der stets drohenden wirtschaftlichen Pleite zu entfliehen, denn das Publikum seiner Bilder befand sich dort und nicht in Tahiti. Gaugin lebte als erster einen selbsterfundenen Mythos in der eigenen Person kompromißlos vor und betrieb strategisch eine Legendenbildung, die bis heute nachwirkt. [...] Mit der ersten Reise von 1891 bis 1893 begründete er seinen Mythos vom europäischen ‚Wilden‘, der ihn und seine dort entstandenen Bilder bis heute populär macht. Dabei weiß man seit der Publikation seiner Briefe, welch entstellte Idylle Gauguin auf der kolonisierten Insel vorfand und vor allem, welcher Geltungstrieb und was für wirtschaftliche Zwänge ihn zum Bruch mit Europa führten.23

In der Tat weiß man dies schon sehr lange; doch die Tatsache, dass Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen ebenso wie Kritiker und Kritikerinnen bis heute nicht müde werden zu betonen, dass das Paradies, das Gauguin in seinen Bildern von Tahiti und den Marquesas darstellt, nicht existierte – warum sollte es auch, es sind Bilder –, spiegelt nicht nur wider, wie notwendig noch heute eine kritische Entmythisierung ist. Sie bildet zugleich fortlaufend das Erstaunen über diese Differenz von Repräsentation und Realität ab: Es ist ein Zeichen dafür, wie gut Gauguins Authentifizierungsstrategie funktioniert hat, seine Bilder als Repräsentation von Wirklichkeit zu vermitteln, einer Wirklichkeit, die zutiefst imaginär ist und sich aus diversen Archaismen und Exotismen speist, die von Gauguin souverän verknüpft werden. Wie diese Imaginationen bis heute die touristische Zirkulation antreiben, zeigte unlängst das Tourismus-Marketing der Stadt Münster. Das Münsteraner Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte ließ seine umfangreiche Jubiläumsausstellung zu Künstlerreisen mit dem Titel „Orte der Sehnsucht“ mit den Motti „I love Tahiti in Münster“, „I love Rom in Münster“ oder „I love Kairo in Münster“ bewerben. Das Versprechen einer imaginären Reise wurde indes bereits im Untertitel der Ausstellung und des Katalogs deutlich: „Mit Künstlern auf Reisen“. Eine Meldung zur Internationalen Tourismusbörse im Jahr 2008 in Berlin brachte es auf den Punkt: Mit dem Thema Künstlerreisen zu Sehnsuchtsorten in fernen Ländern passt die Ausstellung perfekt zur weltgrößten Messe für TourismusFachleute und ein reisefreudiges Publikum. 250 Meisterwerke aus den Museen der Welt laden ab Ende September zur Weltreise durch die Epochen ein und führen auf den Spuren der Künstler rund um den Globus. Neben Ausstellungsexotik gibt es am Stand 103 in Halle 8.2 jede Menge Münstertypisches zu entdecken: Fahrradtouristik, Shopping vor historischer Kulisse, Kunstgenuss in 30 Museen und Geschichtserlebnisse auf den Spuren des Westfälischen Friedens.24

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Die Intention des Marketing ist klar: In der Ausstellung sollen die Touristen mit den Künstlern auf Reisen „rund um den Globus“ gehen und können ihn dadurch gleichsam in Besitz nehmen. Die „Ausstellungsexotik“ verbürgt ein außergewöhnliches Erlebnis des Fremden, was die touristische Differenz zum Alltag noch steigert. Fast liest es sich wie Werbung für eine Weltausstellung. Die kolonialistische Rahmung, die bereits Gauguin zum Teil wahrgenommen hat, wird hier offensiv für unternehmerische Zwecke bestätigt und genutzt. Wer hier zu welchen Zwecken reist, wird nicht thematisiert – es sind ‚die Künstler‘, die stellvertretend für alle stehen sollen. So fehlte auch in der Ausstellung die umgekehrte Reise- und Blickrichtung: die der Künstler und Künstlerinnen etwa aus dem Orient oder aus afrikanischen Ländern, die in den Westen reisen. Doch dann hätte die angestrebte Identifikation des westeuropäischen Touristen mit dem Künstler nicht funktioniert. Das Marketing indes zielte darauf, dass die imaginäre Reise nur antreten kann, wer tatsächlich reist: Die Touristen sollen nach Münster kommen; der Paradies-Topos soll Zugkraft entfalten, um die Stadt aufzuwerten und gleichzeitig Lust zu bekommen, ‚Münstertypisches‘ erfahren zu wollen: Münster wird durch Tahiti zum erotisierten Sehnsuchtsort, in dem sich Globales und Regionales mischt, so die marktstrategische Überlegung. Auf diese Weise werden nicht nur Sehnsuchtstopoi immer wieder aufrecht erhalten und neu aufgefüllt. Auch die Legendenbildung Gauguins wird dadurch erneut aktiviert und distanzlos übernommen. Denn Tahiti in Münster kann nur lieben, wer tatsächlich daran glaubt, in der Schau etwas von Tahiti zu erfahren: Die Ausstellung wird zum Werkzeug der Authentifizierung.

IV. Reisen und Erotik: Baby I will make you sweat Das Beispiel Gauguins zeigt: Der auf Reisen und durch Reisen befreite Körper ist häufig ein sexualisierter Körper. Auch das Paradies wird – in seiner populärkulturellen und touristischen Variante – mit ungezügelter Erotik verbunden. Doch Svenja Flaßpöhler weist zu Recht darauf hin, dass „im paradiesischen Urzustand […] eine wie auch immer geartete Grenzüberschreitung von vornherein unmöglich ist, denn es existieren keine Untersagungen“ und daher auch weder Scham noch sexuelles Begehren.25 Im touristischen Sehnsuchtsort hingegen sind die Grenzüberschreitungen gewollt und notwendig, so auch bei der Reise der Experimentalfilmerin Birgit Hein nach Jamaica. Sie ist Thema ihres Films Baby I will make you sweat aus dem Jahr 1994 (Abb. 2). Der Film

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schildert im Stil eines Reisetagebuchs mit einem Voice-Over der Filmemacherin verschiedene Grenzüberschreitungen: Die geographische führt vom winterlichen Deutschland ins warme grüne Jamaica. Die persönliche, die zugleich eine gesellschaftliche ist, erzählt vom Begehren einer älteren, weißen, vergleichsweise wohlhabenden Frau gegenüber jungen, farbigen, vergleichsweise armen Männern. Knapp 100 Jahre später flieht sie wie Paul Gauguin auf der Suche nach einem glücklichen Ort auf eine Insel, deren Bewohner dem rassistischen Klischee zufolge als sexuell besonders freizügig und aktiv gelten, wie die vormals ‚edlen Wilden‘ Tahitis. Doch statt ein ahistorisches Paradies zu entwerfen, steht Heins Film im Zeichen autobiographischer Subjektivität, die eng an die persönliche Zeiterfahrung gebunden ist. Der Künstlerin geht es – so die Erzählstimme aus dem Off – in erster Linie darum, das Stigma des sexlosen Alters zu überwinden: Seit Ewigkeit allein, ewig keinen Sex. Wie soll dieses Leben bloß weitergehen? Mein Körper und ich passen nicht mehr zusammen. Das Altern ist wie eine Krankheit, die mich vom Leben isoliert. Ein Liebesfilm im Kino bringt mich vor Sehnsucht zum Heulen. Ich lese Kontaktanzeigen.

Abb. 2: Birgit Hein: Baby I will make you sweat, 1994, Filmstill

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Hein verreist weder nach Jamaica, um ihre künstlerische Weiterentwicklung voranzutreiben, noch um sich marktstrategisch besser zu platzieren – sie ist zu dem Zeitpunkt der Reise bereits eine anerkannte Künstlerin. Das avantgardistische Projekt, Kunst und Leben zusammenzuführen, tritt zurück, um die subjektiv erlebte Isolierung aufzubrechen: ‚Das Leben‘ ist Ziel der inneren Suche und Objekt des Kamera-Suchers. Hein – Autorin, Filmfigur und Ich-Erzählerin in einem – dokumentiert und inszeniert eine Figuration des Mangels, die sich durch sexuelle Verschmelzung, Einheit und Rausch auflösen soll. Während Gauguins persönliche Eindrücke der Insel Tahiti in einem anderen Medium getrennt von seinen Bildern auftauchen, fügt Hein die Filmbilder und die Notizen aus dem Reisetagebuch zusammen. So wird sie über die Erzählform der ersten Person, aber auch gleich zu Anfang als filmisches Bild mit der Kamera in der Hand repräsentiert. Die Verdichtung, aber auch Distanzierung erreicht sie durch einen mehrmaligen Abfilmungsprozess, so dass „dichtere, plakativere und grobkörnigere Bilder entstehen“, die eine „malerische Qualität“ gewinnen.26 Im Kontrast zu den nur andeutenden Bildern schildert der Text unverblümt ihre körperlichen Bedürfnisse nach Nähe und Sex und erzählt zuweilen pornographisch genau, wie sie deren Erfüllung in die Tat umsetzt, ohne aber die Kamera ebenso genau auf das Geschehen zu halten: „Zum ersten Mal werde ich mit einem Mann schlafen, den ich mir nur deswegen ausgesucht habe. […] Wir ficken mit einer unerhörten Körperkraft und Heftigkeit. Ich bin durchbohrt, durchstoßen, durchgeknetet.“ Während es bei Paul Gauguin etwas gewagt erscheint, davon zu sprechen, so trifft es auf Birgit Hein zweifellos zu: Es handelt sich um Sextourismus. Dabei ist sie eindeutiger Touristin als Gauguin. Ihre Reise ist zeitlich begrenzt und hat nichts mit artist migration zu tun, denn sie kehrt in jedem Fall wieder an ihren Abfahrtsort zurück. „Objekt der Begierde und des Interesses“, so Annette Brauerhoch, „sind ausschließlich die schwarzen Männer, womit der Film automatisch skandalös wird.“27 Denn Hein blendet die ökonomischen Abhängigkeiten und den postkolonialen Kontext aus und setzt dagegen „radikale Subjektivität“28, will heißen: eine auf das Subjekt konzentrierte, genaue Beobachtung des Selbst und des Anderen, die immer wieder den genannten Mangel als Untergrund spüren lässt. Dennoch ist Baby I will make you sweat keine zeitgenössische Form des kolonialistischen Blicks aus Frauenperspektive, wie es dem Film vorgeworfen wurde. In einer der wenigen Einstellungen, in denen ausschnitthaft sexuelle Intimität gezeigt wird, verschlingen sich dunkle und helle Körperglieder ineinander und treiben den Schwarz-

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Weiß-Kontrast bildlich auf die Spitze (Abb. 2). Eine schwarze Männerhand streichelt weiße Beine und knetet zärtlich eine Brust, dazu läuft ein meditativ-melancholischer Soundtrack der Gruppe POL. Einige Minuten danach ist aus dem Off zu hören: „Das ist das, wonach ich mich so lange gesehnt habe. Dieser warme Körperkontakt mit einem Mann im Bett über Stunden. Nicht alleine schlafen, morgens zusammen aufstehen.“ Und noch später heißt es: „Ich bin süchtig nach Zärtlichkeit.“ Der ausbeuterische Sextourismus entpuppt sich als Intimitätstourismus, in dem die psychische Abhängigkeit auf Seiten der defizitären Touristin zu finden ist. Für einen Moment gelingt die Verschmelzung, die Isolation vom Leben scheint aufgehoben, die Zeit endlos, denn auch Drogen – das ganja – „haben jegliches Zeitgefühl ausgelöscht.“ Zur Thematisierung von Sexualität gesellt sich ein Ort, der ebenso körperliche Verschmelzung suggeriert und aus dem heutigen Tourismus nicht mehr wegzudenken ist: der Strand. Bei Bougainville taucht er in Tahiti nicht auf; stattdessen preist er noch ganz im paradiesischen Bild des Gartens die „schönsten Wiesen, mit den herrlichsten Fruchtbäumen besetzt“29. Doch zu gleicher Zeit, Mitte des 18. Jahrhunderts, findet eine radikale Um- und Aufwertung des Meeres statt. Einst als menschenfeindlich und unwirtlich empfunden, wandelt sich in Nordengland das Meer vom bedrohlichen Chaos zum erhabenen Heilmittel und das Kurbad entwickelt sich zum Seebad. Der Strand wird zum Kunstprodukt und bleibt es bis heute: „eigens für Touristen erschaffen – gepflegt, gereinigt, überwacht und möbliert.“30 Das Eintauchen ins Meer behält dabei dennoch das sakrale Moment einer Reinigungs- und Übergangszeremonie: Jesus sah, kurz nachdem er von Johannes im Jordan getauft worden war, laut Neuem Testament „den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren“ (Mt 3, 16); für Touristen hingegen – die ‚Sonnenanbeter‘ – ist der Strand der Ort, an dem der neue gebräunte, vom Alltagsstress gereinigte Körper entsteht (Abb. 3). Doch er ist nicht nur Produktionsstätte, sondern auch Laufsteg: Hier zeigen sich die befreiten Körper, wie Hein es etwa in einer Sequenz darstellt: Ein Paar, eine Europäerin und ein Jamaikaner, machen im synchronen Takt Liegestütze. Die Körpergymnastik führt den gesunden, funktionstüchtigen Körper vor und ist zugleich eine ironische Anspielung auf den gemeinsamen Körperrhythmus, der im Hotelbett folgt. Eine andere Sequenz zeigt den Strand zunächst von der Straße aus, während aus dem Off von der sich endlos dehnenden Zeit die Rede ist. Dann schwenkt die Kamera direkt auf den Strand und ist

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nun mittendrin im Treiben. Der Höhepunkt, die Einlösung des Glücksversprechens, die Aufhebung des Mangels, wird nicht zufällig an diesem Ort beim Namen genannt: Ich habe jetzt wieder einen neuen Körper. Einen goldenen. Einen, der begehrlich angesehen wird. Meine Haut ist straffer geworden. Das Wasser perlt von den Schultern ab. Es gibt diesen bestimmten, eindeutigen Blick, der sich auf mich richtet. Hier spielt mein Alter keine Rolle.

Heins befreiter Körper ist nun wieder zu einem Frauenkörper geworden, wiedergeboren durch die Taufe mit dem Lebenselement des Wassers und des Sex. Im Gegensatz zu Gauguins ‚goldgelben‘ Tahitianerinnen, die dieser Körper per se ‚sind‘, muss Hein ihn sich erst aneignen. Obwohl sie selbst in dieser Sequenz nicht zu sehen ist, stellt sich sofort das innere Bild eines goldfarbenen Frauenkörpers ein. In der Geschichte der Kunst und des Films hat er als Phallussymbol Tradition31 und daher kann der Film vordergründig auch für Feministinnen zum Ärgernis werden – unterwirft sich die Erzählerin doch lustvoll dem männlichen Blick, der sie als Symbol des Phallus besitzen will. Doch zum einen weist genau diese Lust auf die Situation im Herkunftsland zurück (der Gegensatz zum „Hier“), in dem

Abb. 3: Birgit Hein: Baby I will make you sweat, 1994, Filmstill

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der alternde weibliche Körper eine erniedrigende Entsexualisierung erfährt und geschlechtlich unsichtbar wird. Wir wissen, dass die Touristin genau an diesen Ort wieder zurückkehren wird. Zum anderen schwingt im Ausdruck des „goldenen Körpers“ eben doch der ökonomische Glanz mit, den ihr Erwerb für die jamaikanischen jungen Männer bedeutet. Wenn kurz danach ein Boot am Strand gezeigt wird, um das sich Männer und Frauen scharen, blitzen bei den Betrachtenden bekannte Pressebilder von überfüllten Booten mit Flüchtlingen auf, die ihrerseits auf der Suche nach dem guten Leben sind. Diese Uneindeutigkeit der Zuordnung von Täter und Opfer, Subjekt und Objekt verunsichert sowohl patriarchale als auch feministische, sowohl koloniale als auch postkoloniale Deutungsmuster. Zudem ist Hein bei aller kurzzeitig gestillten Verschmelzungssehnsucht stets Distanzierungen ausgesetzt. Im Gegensatz zu Gauguin wird sie trotz des gemeinsamen unbändigen Sex nicht zu einer ‚Primitiven‘, denn die Grenzen zwischen ihr und den Liebhabern, die ab und an gegen ihre Rolle zu rebellieren suchen, ist ständig spürbar. Die Touristin hat die Situation nicht immer im Griff und ist auf die ortsspezifische und soziale Kenntnis der einheimischen Männer angewiesen, die sie manchmal in Situationen bringen, in denen sie ausgegrenzt ist. Schließlich provoziert auch die Tatsache, dass sie als Frau und Regisseurin des Reisefilms eine blickführende Position inne hat, und zu guter Letzt richtet einer ihrer Liebhaber seine Aggression gegen ihre Kamera: Die zerstörerische Form dieser Beziehung (für beide Seiten) tritt deutlich zutage, wie es die Erzählerin aus dem Off reflektiert. So ist auch Heins Film von einem steten melancholischen Ton grundiert, einmal im wörtlichen Sinne durch die Musik von POL, die extra für den Film produziert wurde, und einmal durch das Wissen, dass jede Flucht, so gelungen sie auch sein mag, sich letztlich erneut dem zuwendet, von dem sie sich abgewandt hat.

V. ‚Artists in Residence‘: die Künstler-Touristen Heute müsste Paul Gauguin nicht mehr auf sich gestellt der Pariser Kunstszene entfliehen. Er würde einfach unter dem Stichwort ‚Res Artis‘ im Internet herausfinden, dass es mittlerweile ein „worldwide network of artist-residencies and residential art centers“ gibt.32 Unter den mehr als 200 Artist-in-Residence-Häusern in 49 verschiedenen

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Ländern könnte er sich aussuchen, ob er etwa nach Island, Indien, Malaysia oder Tansania möchte und als ‚Artist in Residence‘ dem Versprechen neuer Erfahrungen nach Kalifornien, Kuba oder sogar in die Gropiusstadt Berlin folgt. Tahiti ist bisher nicht dabei, doch womöglich sind die Künstlerhäuser dort einfach nur nicht Mitglied bei Res Artis, dem Netzwerk, das im Jahr 1993 unter anderem von Michael Haerdter, dem ehemaligen Leiter des Künstlerhauses Bethanien in Berlin gegründet worden ist. Zuspitzt formuliert könnte man das Artist-in-residence-Prinzip als feste Implantierung des Tourismus in das Kunstsystem begreifen. Der Künstler und die Künstlerin sind zu Touristen geworden, die sich eine begrenzte Auszeit vom Ort des ständigen Wohnsitzes nehmen und auf der Suche nach anderen Erfahrungen versuchen, andere Orte zu finden, wo ‚Authentizität‘ und Fremde, aber auch Rausch und Lust warten können. Sie sind in ein Netzwerk eingebunden, sei es das der einladenden Institution, seien es die Mitreisenden, die anderen Künstler/innen am selben Ort oder den vorherigen, die ihre Spuren hinterlassen haben. Und sie sind wie erwähnt auf den Herkunftsort bezogen: Erinnert sei an Feridun Zaimoglus satirische Kolumnen aus der Villa Massimo, die zuerst in der Tageszeitung Kieler Nachrichten erschienen, oder an Rolf Dieter Brinkmanns saftige Rom-Beschimpfungen, die 1979 während seines Aufenthalts in der Villa Massimo entstanden, flankiert und konterkariert von sehnsuchtsvollen Liebesbriefen an die Geliebte zu Hause. In diesen Briefen Brinkmanns in Rom, Blicke aus einem Ort, der arkadisch und mithin paradiesisch konnotiert ist, wird auch deutlich, dass es sich anders als bei Touristen bei Künstlerreisen, die sich einem Stipendium verdanken, hin und wieder um unfreiwillige Reisen handelt. Statt Zeichen von Luxus und Fülle zu sein entstehen sie eher umgekehrt aus einem konkreten Mangel, und zwar der wirtschaftlichen Notwendigkeit: Wie ein Migrant listet Brinkmann seine Ausgaben auf, rechnet aus, wie viel vom Stipendium monatlich übrig bleibt, und schickt seiner Familie regelmäßig Geld nach Hause. Heute gibt es nicht wenige Künstler und Künstlerinnen, die sich ihren Lebensunterhalt zu einem großen Teil mit Reisestipendien finanzieren und daher von Ort zu Ort reisen, obwohl sie lieber im heimischen Atelier arbeiten würden. Der Mythos vom nomadisierenden Künstler wird durch das Artist-in-Residence-Prinzip institutionell gesichert. Zugleich bekommen die Künstler und Künstlerinnen die Möglichkeit, eine Auszeit zu nehmen, um gezielt an Projekten arbeiten zu können. Hier zeigt sich ein weiterer Unterschied zu Touristen und Touristinnen und zu den vermeintlich paradiesischen Orten, an denen sie

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sich bewegen: Künstler und Künstlerinnen sind zum Arbeiten an dem fremden Ort. Und mehr noch: Mit Zunahme des dokumentarischen und ortsspezifischen Arbeitens bekommen Artists in Residence zum Teil implizit einen Auftrag: den Ort, der sie aufnimmt, zu reflektieren und eine möglichst ortsspezifische Arbeit zu schaffen, die dort häufig verbleibt und in die Kunstsammlung vor Ort eingeht. Viele Orte, gerade kleinere Provinzstädte, schaffen nach und nach Künstlerhäuser oder residencies, um auf diese Weise einen kulturellen Mehrwert zu erzeugen und sich an die kulturelle Infrastruktur anzubinden.33 Dabei muss man unterscheiden: Bei dem einjährigen Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom oder im Künstlerhaus Bethanien in Berlin arbeiten Künstler und Künstlerinnen meist an ihren Projekten und Ausstellungen weiter und haben zudem die Möglichkeit, neue Ideen zu entwickeln – obwohl es natürlich auch dort eine gewisse Produktionsnotwendigkeit innerhalb des Zeitrahmens gibt, denn bei den ‚offenen Ateliers‘, wie im Künstlerhaus Bethanien, sollte schließlich etwas zu sehen sein. Doch etwa bei dem Aufenthalt in der Gropiusstadt in Berlin, bei dem man eine Woche dort in einer Wohnung verbringt, sind häufig Sozialstudien angesagt, die in der Kürze der Zeit nur scheitern können.34 Gerade im Zuge der Gentrifizierung sozialer Randbezirke werden Künstler und Künstlerinnen oft vor Ort ‚eingesetzt‘, um Peripherien wie etwa Gropiusstadt aufzuwerten. Andererseits suchen auch die Künstler und Künstlerinnen selbst zunehmend periphere Orte auf, was bis hin zum Betreiben eines dark tourism an Katastrophenorte führen kann, um ‚authentische‘ Erfahrungen zu machen – letztlich eine Steigerung der touristischen Suche nach dem Erhabenen.35

VI. Rausch als Arbeit: Dellbrügge & de Molls In Quest of the Perfect Location Ob die Reise des Berliner Künstlerpaars Dellbrügge & de Moll nach Dänemark aus freien Stücken stattfand, ist im Gegensatz zu Brinkmanns Collagenband nicht Thema der künstlerischen Arbeit, die dort entstanden ist. Sie stellt sich dem Publikum jedenfalls nicht als Folge des Mangels, sondern der Profession respektive der Professionalisierung dar: Dellbrügge & de Moll sind als Artists in Residence unterwegs und praktizieren damit jene Form des Reisens, die für Künstler fast mehr Regel als Ausnahme ist. Insofern steht weder ein Flucht-

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motiv noch ein sichtbares Leiden an der Gesellschaft im Vordergrund; und statt in die Südsee oder die Karibik geht die Reise ins nördliche Skandinavien und findet damit innerhalb Europas statt. Dennoch symbolisieren die Orte, zu denen sich Dellbrügge & de Moll bewegen, ‚das Andere‘: In Quest of the Perfect Location, wie ihre installative Arbeit und das dazugehörige Künstlerbuch aus dem Jahr 2007 heißen,36 suchen sie in Kopenhagen den Vergnügungspark Tivoli und Christiania, die Freistadt der Aussteiger, auf. So unterschiedlich diese beiden Orte auch sein mögen, sind sie dennoch Formen säkularer Paradiese. Der Vergnügungspark, in dem zahllose Besucher ihre Freizeit verbringen, stellt auf relativ kleinem, umgrenztem Raum die unterschiedlichsten Technologien und Atmosphären bereit, um Lust, Rausch und Exotik zu erzeugen. Für Christiania dagegen, eine „ländliche Idylle mitten in der Stadt“,37 ist das Ziel „der Aufbau einer autonomen Gesellschaft, in der jedes Individuum sich in Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft frei entfalten kann“.38 Es wird zwar gearbeitet, aber auf freiwilliger Basis und ohne Marktorientierung: Christianias Wurzeln sind antikapitalistisch. Der Rausch wird nicht maschinell, sondern per pflanzlicher Droge erzeugt. Die Exotik entsteht hier nicht durch das Kopieren chinesischer Pagoden, sondern durch den Freilauf der Phantasie, die zum Teil bizarre Architekturen blühen lässt. Die Faszinationskraft ist groß: Das 1843 entstandene Tivoli und das 1971 gegründete Aussteiger-Paradies Christiania konkurrieren laut Dellbrügge & de Moll um die touristische Vorrangstellung in Kopenhagen. Doch stärker noch als Tivoli hat sich Christiania längst von seinem topographischen Standort gelöst und besitzt auch „eine mentale Geographie, einen kulturellen Standort“ als „imaginärer oder phantastischer Ort“39. Die Freistadt zieht daher nicht nur internationale Touristen an, sondern auch Künstler und Künstlerinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. So leben auch Dellbrügge & de Moll als so genannte ‚Christiania Researcher in Residence‘ für einen Monat in Christiania. Als Kontrast wohnt das Künstlerpaar zugleich als Stipendiat von DIVA, Dänemarks Stipendium für internationale Künstler, in der schmucken Gästewohnung der Bankstiftung Bikuben Foundation in Frederiksberg. Die Reisestipendien führen daher zu einer weiteren, innerstädtischen Reise mit zwei unterschiedlichen Wohnungen und Ateliers. Auf diese Weise betreibt das Künstlerpaar eine lustvolle Analyse der Gegenwelten, wo laut Dellbrügge & de Moll „innen Platz hat, was draußen fehlt“40. Das erinnert stark an die Kompensationstheorie von Enzensberger, doch sie bezieht sich nicht auf die Künstler und Künstlerinnen selbst, sondern

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gehört zu ihrem Untersuchungsgegenstand: Ihre Position der researcher entspricht ihrem ortsspezifischen Ansatz, der eine theoretische Analyse mit künstlerischer Dokumentation verknüpft. Das Künstlerpaar betrachtet beide Orte als Heterotopien, vergleicht das Hippie-Paradies der Happy Few mit dem Freizeitparadies der Massen und stellt dabei mehr Gemeinsamkeiten fest als erwartet: „Die Zurschaustellung der Lebensstile, die Antagonismen von Arbeit und Nichtstun, Ordnung und Müll“,41 so heißt es in dem Text des Künstlerbuchs, sind Schlüsselmotive der beiden säkularen und doch so gegensätzlichen Paradiese. Im „Spielplatz für das Volk“ herrscht der inszenierte Überfluss, der gefahrlose Schwindel in den Rides, der familienfreundliche Rausch für die Leute, die sonst einer geregelten Arbeit nachgehen und sich hier entspannen und vergnügen sollen. Vor allem der Thrill, so betonen Dellbrügge & de Moll, garantiert das Gefühl des Ausnahmezustands, der sich vom Alltag abhebt.42 Dem Bewegungsrausch der Rides in Tivoli entspricht der Hasch-Rausch, der zum Mythos von Christiania gehört, mittlerweile aber weniger üblich ist als früher. Das gefahrenlose Risiko mit Nestwärme ist genau das, was Tourismuskritiker als die tourist bubble bezeichnen, in der sich die Touristen bewegen. Doch auch die Christianiten sind musealisiert und leben in einer Art bubble – und dies im Gegensatz zu den Tivoli-Besuchern ganzjährig. Zwar verbindet sie der Touristen- und Geldstrom mit der Außenwelt, doch nachdem sie einen Aufnahmestopp beschlossen haben, ist das Paradies geschlossen und kann nur mehr als touristische Attraktion besichtigt werden. In Tivoli dagegen wäre es seltsam, nur herumzustreifen und zu schauen – hier kann und soll man sich gegen Gebühr im Schwindel auflösen. Schließlich fragen die researcher danach, welche Auswirkungen diese beiden Heterotopien, als die sie die Orte sehen, auf die umliegende Stadt haben. Wenn das ‚Andere‘ dort seinen Platz hat, verstärkt sich dann die Homogenisierung der Stadt? Nicht das historisch gewachsene Kopenhagen fungiert für sie als dritte Vergleichsgröße und damit als Norm, sondern die neue Siedlung Ørestad mit dem Amager Strand, beide auf der Insel Amager im Øresund gelegen. Ørestad ist eine fünf Kilometer lange Bandstadt43, an der sowohl junge dänische als auch internationale Architekten wie Daniel Libeskind arbeiten. Ørestads vorherrschendes icon ist die auf Stützpfeilern aufgebockte Metro44 – und damit ein Symbol für Mobilität und die notwendige Verbindung der ausgelagerten städtischen Form mit der Umgebung. Die Reise des Künstlerpaars nach Tivoli und Christiania ist daher nicht auf das Dritte des eigenen Herkunftsorts bezogen,

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sondern der Bezugsort liegt vor der Tür. Doch inselhaft abgegrenzte Welten stellen alle drei Orte dar. Der Text des Künstlerbuchs, mit Fußnoten versehen, ist derart sachlich gehalten, dass man sich in Acht nehmen muss, die sicher solide recherchierten Informationen nicht wie einen Sachtext zu rezipieren. Dabei ist vor allem der Bezug zu den verschiedenen Bildteilen zentral, die eine eigene visuelle Argumentation entfalten. Kleinformatige, tagebuchartige Schwarz-Weiß-Fotographien stehen als Bildstreifen über dem Textteil und verstärken die Narration: Wir sehen Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll in ihren unterschiedlichen Ateliers, bei Befragungen der Christianiten oder beim wilden Ride in der Loopingbahn Daemonen. Der Rausch soll der Recherche dienen – die Künstler und Künstlerinnen analysieren als teilnehmende Beobachter und Beobachterinnen gleichsam ethnographisch die Stimmungen und Atmosphären der Orte und dokumentieren gewissenhaft ihre Beobachtungen und Körpererfahrungen. Der visuelle autobiographische Pakt – die Identität von Erzähler/Erzählerin, Dargestellten und Autornamen auf dem Cover des Buchs – dient hier (im Gegensatz zu Birgit Heins Film) nicht der Subjektivierung, sondern der

Abb. 4: Dellbrügge & de Moll: In Quest of the Perfect Location, 2007

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Authentifizierung und Versicherung des Erzählten und Gezeigten. Je überzeugender Dellbrügge & de Moll die Rolle des wissenschaftlichen researcher übernehmen, desto stärker sind die Rezipierenden gewillt, den Informationen Glauben zu schenken. Die großen Farbabbildungen, die den Hauptteil der Publikation bilden, sprechen dagegen eine weniger distanzierte Sprache. Sie zeigen Nahaufnahmen und Details aus Tivoli und Christiania und fokussieren dabei deren strukturelle Beschaffenheiten wie Material, Licht oder Bewegung. So reflektieren die Münzen der Spielhölle die im Deckenspiegel aufgelösten Gestalten der Tivoli-Besucher, die dem Geldrausch verfallen – das säkulare Jerusalem strahlt auch hier in Gold (Abb. 4). Die Farbfotos sind häufig wie Diptychen aufgebaut, so dass etwa die bereits veraltet wirkende Lampenkette in Tivoli mit einer abgewetzten Rollbahn aus Holz korrespondiert. Diese Zweiteilung lädt nicht nur zum vergleichenden Blick ein, sondern scheint auch die Kontrastierung Tivoli/Christiania aufzurufen, obwohl die Bildstrecken klar nach Ørestad/Amager Strand, Tivoli und Christiania getrennt sind.

Abb. 5: Dellbrügge & de Moll: In Quest of the Perfect Location, 2007

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Abb. 6: Dellbrügge & de Moll: In Quest of the Perfect Location, 2007 Doch diese Kontrastierung löst sich zunehmend auf. Dellbrügge & de Moll zeigen Tivolis Ecken, die der Kontrolle und Ordnung entgangen sind und in denen etwas Christiania zu nisten scheint. Statt in Glamour und Glitter getaucht erscheint der alte Park als eine leicht angestaubte, ein wenig muffige Kulisse. Es ist nachvollziehbar, dass die Dänen ihn, so Dellbrügge & de Moll, als „Erinnerungsspeicher“45 sehen – einen Speicher, der dennoch genug Raum lassen muss für die Erinnerung von morgen. Bei den mit Spinnweben überzogenen Lampen wähnen wir uns schon fast im losers’ paradise (Abb. 5), denn gerade die Verschränkung von Natur und Kultur stellen die Künstler und Künstlerinnen bei ihrem Blick auf Christiania in den Vordergrund. Es sind gebastelte, improvisierte Räume, die wie regressive Kinderphantasien wirken (Abb. 6), aber fast menschenleer sind. Weder Haschrausch noch linksaktivistische Gruppen noch die typischen Wandmalereien Christianias sind in den Fotostrecken zu sehen: Dellbrügge & de Moll sind auf der Suche nach „anderen Bildern“46. Doch warum ist das notwendig, wenn doch in jedem Fall ‚andere Orte‘ gezeigt werden? Die Normierung, darauf verweisen Dellbrügge & de Moll, macht auch vor Christiania nicht halt und dies nicht nur

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durch die „Politik der ‚Normalisierung‘ und Standardisierung“47, sondern auch durch die Touristifizierung. Der touristische Blick, wie ihn Boris Groys beschreibt, „romantisiert, monumentalisiert und verewigt alles, worauf er gerichtet ist.“48 Dieser „Medusen-Blick“49 des Touristen ist strukturell mit dem Medium der Fotographie verwandt, denn er produziert das ‚Immer-schon-so-Gewesen-Sein‘ des Gesehenen. Die im Zusammenhang mit Gauguin erwähnte Verweigerung von Geschichtlichkeit führt in diesem Falle zu einem Stillstand, der Christiania musealisiert, so dass fortwährend die gleichen Bilder von dem Ort reproduziert werden. Der Künstlerblick dagegen versucht mit ‚anderen Bildern‘ wieder Bewegung in diesen Prozess zu bringen. Und so führen Dellbrügge & de Moll auch den Amager Strand anders vor, als man sich einen Strand gemeinhin vorstellt: in einer unerbittlichen Härte, die keineswegs zu einem Sehnsuchtsort passt. Es gibt keinen Strand, an den man sich weniger wünschen würde; nicht einmal Sextourismus wäre hier denkbar (Abb. 7). Mit seinem harten Grenzwall aus Beton kippt der paradiesische Ort der Befreiung und Entgrenzung um und bekommt beklemmende Züge: Einer Stierkampfarena gleich wird der menschliche Körper umschlossen und dem Strand ausgesetzt. Zugleich wirkt der Betonwall wie eine wehrhafte Burg, die eine scharfe Grenze zum Meer setzen muss, damit es beherrschbar bleibt. Die Funktionalisierung von Natur greift schließlich sogar auf das Meer über: Der Rausch der Bewegung prallt an den Stromerzeugern ab, die den neuen Horizont des Meeres markieren. Statt dem utopisch grundierten Bild einer Versöhnung von Natur und Mensch zu folgen, wie es der Strand verspricht, sind beide in einen verschärften Gegensatz zueinander gebracht. Der normative Ort der neuen Stadt wird zur Dystopie. Paradoxerweise entblößt diese Herrschaftsarchitektur den Strand, den Schwellenraum zwischen Meer und Land, wieder als das, was er vor seiner Erfindung im 19. Jahrhundert einmal war: ein unwirtlicher und gefährlicher Raum, der erst gezähmt werden muss, um ‚goldene Körper‘ hervorzubringen.

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Abb. 7: Dellbrügge & de Moll: In Quest of the Perfect Location, 2007

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Vgl. www.unwto.org/facts/eng/vision.htm [1.2.2009]. Vgl. Lenz, Ramona. Spannungsfelder zwischen Tourismus und Migration am Beispiel Kretas. Vortrag auf der Tagung „Topologien des Reisens“, Universität Trier, 1.-4.6.2007. Enzensberger, Hans Magnus. „Eine Theorie des Tourismus“. Einzelheiten: Bewußtseins-Industrie 1. Frankfurt a. M., 1962. 179–205, S. 204. Vgl. Brilli, Antonio. Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus. Die „Grand Tour“. Berlin, 1997. Goethe, Johann Wolfgang von Italienische Reise. München, 1957, S. 78. Dellbrügge & de Moll. Artist Migration. Heidelberg, 2006. Held, Jutta u. Schneider, Norbert. Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Köln, 1993, S. 381. Vgl. Despoix, Philippe. „Benennung und Tausch. Zur Semantisierung des Unbekannten in Reiseberichten der 1770er Jahre“. Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Hg. v. Inge Baxmann, Michael Franz und Wolfgang Schäffner. Berlin, 2000. 155-174, S. 157. Ebd., S. 157, 158. Vgl. ebd., S. 158. Belgin, Tayfun. „Paradiesische Orte. Die Bildwelten Gauguins und der dt. Expressionisten“. Sehnsucht nach dem Paradies. Von Gauguin bis Nolde. Ausst.-Kat. Hg. v. dems. u. Kunsthalle Krems. Krems, 2004. 7-18, S. 10. Zit. n. Schawelka, Karl. „Das Primitive als Kulturschock. Gauguin, Picasso, Kirchner“. Funkkolleg Moderne Kunst. Hg. v. Monika Wagner, Hubertus Gaßner, Franz-Joachim Verspohl und Martin Deppner. Übs. v. Karl Schawelka. Tübingen, 1989. 39-69, S. 62. Vgl. Varga, Aron Kibédi. „Visuelle Argumentation und visuelle Narrativität“. Text und Bild, Bild und Text. Hg. v. Wolfgang Harms. Stuttgart, 1990. 356-367. Christian Kravagna bezieht sich auf Johannes Fabian. Time and the Other: How Anthropology Makes its Object. New York, 1983, S. 31: „I will call it a denial of coevalness.“ Kravagna übersetzt dies mit ‚Gleichzeitigkeit‘, treffender wäre ‚Zeitgenossenschaft‘. Christian Kravagna. „The Artist as Traveller. Aus den Reisealben der (Post)Moderne“. The Artist as… Hg. v. Matthias Michalka. Wien, Nürnberg, 2006. 111-136, S. 117. Vgl. Schawelka (Anm. 12), S. 53. Held u. Schneider (Anm. 7), S. 382. Dank an Ulrike Brunotte für diesen Hinweis. Vgl. Lepenies, Wolfgang. Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt a. M., 1998. Vgl. Belgin (Anm. 11), S. 9. Gauguin, Paul. Vorher und Nachher. München, 1920, S. 187. Ebd., S. 14.

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Ebd., S. 14, 15. Preuss, Sebastian. „Waldweben auf Tahiti“. Berliner Zeitung, 09.03.1998. Pressemitteilung der Stadt Münster, 25.2.2008, www.supernrw.de/ index_2.php?action=ganzenews&id=4127&newskat=6&search=Orte% 20der%20Sehnsucht [1.3.09]. Flaßpöhler, Svenja. Gutes Gift. Über Eifersucht und Liebe. Düsseldorf, 2008, S. 58, 59. Birgit Hein für das Info-Blatt des Internationalen Forums des Jungen Films, Berlin 1995. www.hbk-bs.de/bhein/werk/werk6.html [3.3.2008]. Brauerhoch, Annette. „Stray Dogs – Zu Birgit Heins Film ‚Baby I will make you sweat‘“. Frauen und Film 60 (1997): 164-171, S. 167. Ebd. Spode, Hasso. „Badende Körper – gebräunte Körper. Zur Geschichte des Strandlebens“. Utopische Körper. Hg. v. Kristiane Hasselmann, Sandra Schmidt u. Cornelia Zumbusch. München, 2004. 233-248, S. 237. Ebd., S. 241. Vgl. Alexandra Karentzos. „Die Goldpanzer der Frauen. Zur Medialität der Geschlechter bei Klimt“. Körperproduktionen – Zur Artifizialität der Geschlechter. Hg. v. ders., Birgit Käufer u. Katharina Sykora. Marburg, 2002. 7-19. www.resartis.org [1.3.2008]. Dank an Moira Zoitl für ihre aufschlussreichen Informationen. Vgl. www.pilotprojekt-gropiusstadt.de [11.02.2009]. Vgl. Foley, Malcolm u. Lennon, John. Dark Tourism. The Attraction of Death and Disaster. London, 2000. Dellbrügge & de Moll. In Quest of the Perfect Location. Space Poetry. Copenhagen, 2007. Deutscher Text: www.perfectlocation.de Sheik, Simon. „Christiania. Netzwerke der Anti-Disziplin“. Bigness. Size does matter. Image/Politik. Städtisches Handeln. Kritik der unternehmerischen Stadt. Hg. v. Jochen Becker. Berlin, 2001. 82-87, S. 82. Aus der ersten Unabhängigkeitserklärung vom 13.11.1972, zit. n. ebd., S. 83. Ebd., S. 82 www.perfectlocation.de [04.03.2008]. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Klaus Englert. „Die Schönheit der gestapelten Vorgärten“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.2.2009. Als „Major Design Icon“ wird die Metro auf der Website von Ørestad beschrieben: www.orestad.dk/index/uk_frontpage/uk_architecture_and_infrastructure.htm [6.3.2009]. www.perfectlocation.de [04.03.2008]. Dellbrügge & de Moll im Gespräch mit der Verfasserin. www.perfectlocation.de [04.03.2008]. Groys, Boris. „Die Stadt im Zeitalter ihrer touristischen Reproduzierbarkeit“. Topologie der Kunst. München, Wien, 2003. 187-198, S. 190. Ebd.

Topografien des Glücks An den Kreuzungen von Migration und Tourismus Regina Römhild Die touristische Imagination von ‚Urlaubsparadiesen‘ hat sich dauerhaft in das Arsenal moderner Glücksvorstellungen eingeschrieben. Dabei spielte der Mittelmeerraum eine initiale Rolle: Nach den Bildungsreisen der ‚Grand Tour‘, die den adligen und bürgerlichen Nachwuchs der nordwesteuropäischen Oberschicht an die Stätten der Antike führte, entdeckte der Tourismus die Strände und Dörfer rund um das Mittelmeer als erste Refugien moderner Regeneration.1 In der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts wurde der Süden Europas zum idealen Fluchtpunkt aus der disziplinierenden Routine des industriegesellschaftlichen Alltags, zum imaginären Gegenort des einfachen, guten Lebens jenseits moderner Rationalität und Funktionalität. Mit der touristischen Faszination sind die Zeichen des Mediterranen aber längst auch selbst mobil geworden. Als Reminiszenz gegenmoderner Sehnsüchte sind sie heute nicht nur in der Ästhetik der südlichen Urlaubsszenerien, sondern gerade auch in den Heimwelten der Reisenden omnipräsent. Auch das Ambiente und die einzelnen Bestandteile, die exemplarisch auf diesem Bild (Abb. 1) zu sehen sind, könnten so oder ähnlich überall in Europa und darüber hinaus zu finden sein. Trotz der kulturspezifischen Anmutung eines mediterranen Schauplatzes lässt sich auf den ersten Blick nicht eindeutig ausmachen, dass es sich hier um ein Arrangement auf griechischem Boden, genauer auf der Insel Kreta, handelt. Tatsächlich entstand das Foto im Rahmen meiner Feldforschung im Süden Kretas, in einem Dorf, das ich Pousos nenne.2 Der Garten mit Sitzplatz gehört zu einem kleinen Komplex restaurierter alter Häuschen in der Mitte des Dorfes, die der hierher zurückgekehrte Kostas und seine aus Deutschland eingewanderte Frau Angelika zu Ferienappartements ausgebaut haben. Bei den Touristen, die aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern Nordeuropas und Nordamerikas kommen, sind vordergründig traditionell anmutende Unterkünfte wie diese ein ständig ausgebuchter Geheimtipp. Und so hat sich in Pousos seit den 1980er Jahren mit Pionieren wie Kostas und Angelika eine Tourismusökonomie etabliert, die auf die touristische Attraktivität mediter-

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raner Traditionen setzt und sie im eigenen Interesse neu erfindet und vermarktet. Dieser Beitrag führt an derartige Produktionsstätten einer inzwischen transnational verfügbaren mediterranen Ästhetik zurück. Denn von hier aus lässt sich zeigen, dass die (gegen-)moderne Erfindung des Mediterranen nicht nur ein Produkt des touristischen Blickregimes und seines „ästhetischen Kosmopolitismus“3 ist, sondern auch ein Ergebnis der vielfältigen damit verknüpften Kollaborationen mit den Bewohnern des Mittelmeerraums, mit aus dem Norden zurückkehrenden und von hier wie über die Grenzen Europas neu hinzukommenden Migranten. Mindestens ebenso wie die urbanen ‚Zentren‘ erweist sich auch die mediterrane ‚Peripherie‘ Europas heute als eine produktive Schnittstelle der Mobilitäten und als Laboratorium einer „[r]eflexive[n] Mediterranisierung“4, die der touristischen Faszination mediterraner Wunschwelten einen eigenen Gebrauchswert abgewinnt.

Abb. 1: o.T., Kreta

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I. Aufbrüche im modernen Regime der Mobilitäten Bis zum Einsetzen des Tourismus lebte man in Pousos (Abb. 2) hauptsächlich vom Olivenanbau. Das Dorf war arm, und viele seiner Bewohner zogen weg; als Arbeitsmigranten aufs griechische Festland, in die USA oder nach Australien, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts

Abb. 2: o.T., Kreta

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dann vor allem als ‚Gastarbeiter‘ in den Norden Europas. Aber mit dem Tourismus wurde das, was vorher nicht viel wert war, zu Kapital: das nahe Meer und der Sandstrand, die alten Häuser und die engen Gassen, die örtlichen Feste, das heimische Olivenöl und der selbst gebrannte Raki, wie hier der Tsiporo-Schnaps in Erinnerung an die lange Zeit osmanischer Herrschaft genannt wird. All das waren Insignien einer mediterranen ‚Rückständigkeit‘ gegenüber dem prosperierenden Norden Europas und seiner Moderne, in den die Gastarbeiter zogen. Der Tourismus aber macht eben jene ‚Rückständigkeit‘ zum gegenmodernen Sehnsuchtsziel. Das hierarchische Gefälle zwischen Moderne und Tradition, zwischen Zentrum und Peripherie, verwandelt sich vor Ort in einen idealen kulturellen Abstand, in einen Vorsprung gegenüber einer Moderne, der die Touristen, zumindest zeitweise, zu entkommen suchen. Bis zu diesem Punkt deckt sich das Szenario mit dem Bild eines modernen Mobilitätsregimes, wie es in Tourismus- und Migrationsforschung von verschiedenen Seiten aus gezeichnet wird: Während die einen als Migranten mit dem Versprechen auf Modernisierung vor Armut und Rückständigkeit in den Norden flüchten, werden die anderen als Touristen von dem Versprechen, im mediterranen Süden das Andere ihrer Moderne zu finden, magisch angezogen. Tourismus und Migration gelten, wenn sie überhaupt zusammengedacht werden, als gegenläufige Bewegungen, die sich nicht zu berühren scheinen, aber gerade deshalb dazu beitragen, die hierarchische Geographie Europas von modernem Zentrum und abhängiger Peripherie aufrechtzuerhalten. Denn sowohl die Figur des Touristen, der seine Arbeitskraft im Urlaub wiederherstellt, als auch die Figur des Migranten, der seine Arbeitskraft gegen ein Leben im Norden eintauscht, werden im Sinne dieser Hierarchie diszipliniert: als moderne Subjekte dienen sie mit verteilten Rollen der wirtschaftlichen und der kulturellen Macht der Gesellschaften im Zentrum Europas.5 Allerdings ist es nicht bei dieser statischen Anordnung der Mobilitäten, die letztlich immer nur wieder den herrschenden status quo bestätigen, geblieben: Weder Touristen noch Migranten haben sich eindeutig an die ihnen zugewiesenen Rollen und Wege gehalten, sondern ihrerseits eine Vielzahl von Abzweigungen, Querverbindungen und Kreuzungen erkundet, aus denen eine höchst turbulente, hybride Topografie der Mobilitäten entstanden ist, die so in der dominanten Erzählung eines über die Peripherie herrschenden Zentrums nicht vorgesehen und deshalb auch nicht sichtbar ist.

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Nicht nur in Pousos sind mit dem Tourismus auch viele der Migranten wiedergekommen, um sich hier mit ihrem Wissen und ihren Ideen selbst eine Existenz in der neuen Ökonomie aufzubauen. Aus Touristen werden Migranten, wenn sie – wie Kostas’ Frau Angelika – in die lokalen Familien einheiraten oder sich mit einem eigenen Domizil vor Ort einrichten. Und schließlich mischen sich in diese mobilen Verhältnisse noch neue Einwanderer ein: Auch sie sind oft mit einem Touristenvisum unterwegs, mit dem sie aus dem Osten und Süden Europas die neuen Grenzen der EU überschreiten, um dann aber ihrerseits als prekäre, irreguläre Migranten in der lokalen Tourismusökonomie zu arbeiten.6 Wie hier in Pousos, so hat sich der gesamte Mittelmeerraum als ehemalige Abwanderungsregion in ein Zentrum sich kreuzender, sich gegenseitig anziehender und sich hier verstetigender Mobilitäten verwandelt. Orte wie Pousos liegen deshalb nicht abseits der Moderne, obwohl sie diese touristische Imagination gleichzeitig in besonderer Weise kultivieren. Sie sind aber ebenso wenig Zonen einer nur vom Tourismus erzwungenen ‚nachholenden Modernisierung‘, in denen Tradition im Dienste der touristischen Sehnsüchte vorgeführt und inszeniert wird. Vielmehr können gerade Orte wie dieser als gesellschaftliche und kulturelle Laboratorien gelten, in denen das hegemoniale Verhältnis von Tradition und Moderne, von Zentrum und Peripherie in einem transnationalen Raum der Mobilitäten neu verhandelt wird. Dass sich hinter der vordergründigen Idylle des traditionellen kretischen Dorfes höchst turbulente, spätmoderne Verhältnisse verbergen, zeigt die folgende Geschichte von Jorgos, dem Sohn einer alteingesessenen Familie in Pousos. In der Taverne seiner Eltern lernt er Amie kennen, die Tochter eines japanischen Künstlers und einer kanadischen Biologin. Amies Mutter war schon in den 1970er Jahren auf einer ihrer vielen Reisen mit Rucksack und Schlafsack zum ersten Mal nach Kreta gekommen. In den 1990er Jahren kehrt sie zurück und lässt sich in der Nähe von Pousos, in Pitsidia, nieder. Hier setzt sie sich für die bedrohte Meeresschildkröte Caretta Caretta (zu deutsch: Unechte Landschildkröte) ein und wird damit zur Pionierin einer heute an allen griechischen Stränden aktiven, transnationalen Tierschutzbewegung. Als Amie aus Kanada zu Besuch kommt, verliebt sie sich in Jorgos und beschließt zu bleiben. Amie ist fasziniert vom traditionellen Leben in Jorgos’ großer Familie, eine Erfahrung, die sie mit ihrer unsteten Mutter und ihrem fast immer abwesenden Vater nie gemacht hat. Und sie ist ebenso fasziniert von dem internationalen Flair, das die ständige Präsenz der mobilen und sesshaft ge-

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wordenen Touristen, der Migranten aus aller Welt in Pousos verbreitet. Mit der Taverne, die sie pachten, und später mit ihrem kleinen Einkaufsladen im Dorf beteiligen sich auch Amie und Jorgos an der lokalen Tourismusökonomie. Zu ihrer Hochzeit und dann auch zur Taufe ihrer Tochter werden die Einladungen über Griechenland hinaus bis in alle Welt verschickt: nach Kanada zu Amies Verwandten mütterlicherseits, nach Japan zur Familie ihres Vaters und in die Niederlande, wo Jorgos’ Bruder mit seiner holländischen Frau lebt. Doch die anfängliche Harmonie wird bald von Streitigkeiten überschattet. Ein Stein des Anstoßes ist Amies Mutter, die mit ihrem exzessiven Lebensstil immer wieder in Schwierigkeiten gerät, aus denen sie sich nur mit Hilfe von Jorgos und seinen lokalen Kontakten befreien kann. Schließlich wird sie wegen Drogenbesitz und einer nicht verlängerten Aufenthaltserlaubnis verhaftet und nach Kanada abgeschoben. Für Amie führt dieses Ereignis zum endgültigen Bruch mit Jorgos; mit ihrer Tochter folgt sie der Mutter zurück nach Kanada. Seine Tochter sieht Jorgos seitdem nur noch bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er sie im Sommer zu einem Besuch in Pousos aus Kanada abholt. Aber nach einer längeren Zeit depressiver Traurigkeit hat sich Jorgos neu verliebt: in Maria, eine Migrantin aus der Ukraine, mit der er heute eine ‚Kafetería‘ in der Mitte von Pousos betreibt. Patchwork-Familiengeschichten und transnationale Biographien dieser Art würde man wohl eher in weltstädtischen Metropolen vermuten. Tatsächlich aber prägen sie längst auch das Leben in der so genannten Peripherie, die vom Strudel der modernen Mobilitäten erfasst und nachhaltig verändert wurde. Jorgos selbst hat Kreta noch nie für längere Zeit verlassen. Und doch spiegeln sich in seiner Geschichte alle Bewegungen von Tourismus und Migration, die den Mittelmeerraum aus dem Abseits ins Zentrum eines neuen, turbulenten Europas manövriert haben.

II. Nach Süden: Moderner Fluchtpunkt Mittelmeer Nach den Bildungsreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts waren es vor allem die Rucksacktouristen, die Hippies und Aussteiger wie Amies Mutter, die den Mittelmeerraum in der Mitte des 20. Jahrhunderts als gegenmodernes Paradies entdeckten. Für die Entdeckung Kretas bereitete der amerikanische Schriftsteller Henry Miller das Feld; er war schon 1940 aus seinem Pariser Exil hierher gekommen und hielt seine

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ethnographischen Eindrücke unter dem Titel Der Koloß von Maroussi 7 fest; ein Buch, das noch heute zur Pflichtlektüre der touristischen Fangemeinde Kretas und Griechenlands insgesamt zählt. Bis ins 19. Jahrhundert hatten die Reisenden aus dem Westen nur die antike Vergangenheit im Blick, nicht aber das zeitgenössische Griechenland und seine Bewohner.8 Miller geht es dagegen gerade um die Kontinuität eines vormodernen, archaischen Lebens, wie er es in der griechischen Gegenwart, in den Begegnungen mit den Menschen, die er hier trifft, zu erkennen glaubt. Griechenland, und insbesondere Kreta, erhebt Miller zum idealen Fluchtpunkt aus einer kulturell degenerierten, von Fortschrittsglauben und kapitalistischem Materialismus beherrschten Moderne nach US-amerikanischem Vorbild. Auf den Spuren dieser Imagination kommen in den 1960er Jahren die ersten europäischen Hippies, damals noch auf Eseln oder zu Fuß, in den Süden Kretas. Matala, ein Fischerdorf ganz in der Nähe von Pousos, wird zu einem Zentrum dieses frühen Alternativtourismus. In den Höhlen ehemaliger römischer Grabstätten, die in eine steil aufragende Klippe am Meer eingelassen sind, richten sich viele auf kürzere oder längere Zeit ein und proben hier ein anderes, wildes Leben. Dieses experimentelle Leben im Rausch der Musik und der Drogen am Strand von Matala erlangt bald Kultstatus, und sein Ruf reicht bis ins damalige Zentrum der Bewegung, in die USA. Von hier kommen Bob Dylan und Cat Stevens auf der Flucht vor dem Einzugsbescheid nach Vietnam, und Joni Mitchell verewigt den Mond von Matala in ihrem Song Carey. Kreta wurde, wie viele andere Destinationen des griechischen, mediterranen und später auch des weiter entfernten globalen Südens, zum Experimentierfeld und zum Symbol subkultureller Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen der westlichen Moderne. Viele folgen diesem Ruf für kürzere oder längere Fluchten, etliche richten sich – wie Amies Mutter – als Aussteiger ein. In den 1980er Jahren entwickelt sich der Süden Kretas zum Eldorado der Rucksacktouristen, und auch sie werden angezogen von der Imagination eines hier möglichen alternativen Lebens. Das ist immer noch so, nur dass die ehemaligen Hippies und Rucksacktouristen jetzt fast alle in ihren heimischen Berufen etabliert und entsprechend mit anderen Ansprüchen kommen. Statt wie früher am Strand oder in Einfachstpensionen zu schlafen, richten sie sich jetzt in Anlagen wie der von Kostas und Angelika oder in eigenen Häusern ein, die aber immer noch imaginär vom Flair der wilden Jahre inspiriert sind. 9

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Die Geschichte des Aussteigertourismus ist eng verknüpft mit den sozialen Bewegungen Europas und des Westens: eine Geschichte, die aber kaum je in diesem Zusammenhang erzählt wird, weder in der Tourismusforschung, die das alternative Reisen allenfalls am Rande behandelt, noch in der Migrationsforschung, die ihren Blick fast ausschließlich ins Zentrum, in die Einwanderungsgesellschaften Nordeuropas, gerichtet hat. Und noch viel weniger taucht diese Mobilitätsgeschichte in der Analyse der intellektuellen und wissenschaftlichen Strömungen auf, die mit dem magischen Jahr 1968 verbunden werden. Die Kritik an der kapitalistischen Moderne, wie sie von der Studentenbewegung, später der Ökologie- und Frauenbewegung bis hin zu den esoterischen Experimenten der New AgeÄra formuliert wurde, erscheint fast immer als quasi autopoetisches Projekt des Westens, als eine Eigendynamik, mit der sich die Moderne zwangsläufig selbst in Frage stellt.10 Tatsächlich aber wurde gerade die Peripherie der europäischen Moderne und die dorthin führende Reiselust zu einer der wesentlichen Inspirationsquellen dieser intellektuellen und subkulturellen Bewegungen. Wie Amies Mutter entwickeln viele von hier aus ihre ganz praktischen Projekte einer Modernisierungskritik, die auch vor Ort ein ganz unmittelbares Gegenüber findet: in der massentouristischen Moderne der Großhotels und der Pauschalurlauber, von der sich die Reisenden in der Tradition des Alternativtourismus vehement absetzen und die sich in Kreta vor allem an der Nordküste ausbreitet, in der Nähe der beiden Mitte der 1970er Jahre gebauten Flughäfen in Heraklion und Chania. In den Auseinandersetzungen mit dem Zugriff des Tourismus vor Ort werden exemplarisch die Folgen und Risiken der Moderne ins Visier genommen. Von Landschaftsverbrauch und Umweltverschmutzung bis zu Identitätsverlust und ökonomischer Ausbeutung nehmen hier die Themen der Modernisierungskritik ganz konkrete Gestalt an. Beide Bewegungen, Alternativ- und Massentourismus, haben im Mittelmeerraum ihre eigenen Topografien geschaffen und ihre eigenen Migrationsgeschichten geschrieben. So ziehen britische und deutsche Rentner an die Costa Brava oder nach Mallorca in normierte Wohnsiedlungen, in denen heute die Touristen die einzigen sesshaften Einheimischen sind.11 Die alternativen Aussteiger und Privatiers bevorzugen dagegen das Hinterland dieser touristischen Moderne, Rückzugsgebiete wie den Süden Kretas oder die abgelegenen Dörfer der Toskana, wo sie sich ganz bewusst unter die Einheimischen zu mischen versuchen. Denn wie die Ethnologen, die selbst einen Teil dieser alternativtouristischen Bewegung ausmachen,

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wollen sie gerade keine Touristen sein, sondern Verbündete der Einheimischen und ihrer Kultur, die es gegen die Inszenierungen des Massentourismus zu verteidigen gilt.12 Die touristische und auch die ethnologische Imagination sah in den Bewohnern der mediterranen Reisegebiete zeitgleich vor allem Repräsentanten einer anderen, von der Moderne bedrohten Tradition. Ganz ähnlich tauchten sie auch in der kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung vorwiegend als Statisten, wenn nicht als Opfer in einem von fremder Mobilität bestimmten Machtspiel auf.13 Aber wie Jorgos, wenn auch nicht immer so unmittelbar, haben sich die Bewohner der Peripherie ihrerseits aktiv mit dem Tourismus auseinandergesetzt, und damit auch mit den Zumutungen und Forderungen, den Träumen und Enttäuschungen der Moderne, die in seinen Bewegungen verhandelt werden. Und nicht nur sie, sondern auch die neuen Einwanderer bringen in diese Verhandlungen ihre eigene Mobilitätsgeschichte mit ein: die transnationale Geschichte der Arbeitsmigration und das darin zirkulierende Wissen über die Machtverhältnisse der europäischen Moderne.

III. Nach Norden: Die Mediterranisierung der Einwanderungsgesellschaften Wie in vielen anderen Regionen der mediterranen Peripherie Europas hat Migration auch in Pousos eine lange Tradition. Diejenigen, die als ‚Gastarbeiter‘ in den Norden Europas zogen, haben sich dort nicht nur gegen die Regularien dieses Regimes einen festen Platz erobert und so ihre neuen Heimaten zu Einwanderungsgesellschaften wider Willen gemacht. Von der Migrationsforschung weitgehend unbemerkt, haben sie gleichzeitig die Brücken zu ihren alten Heimaten keineswegs abgebrochen, sondern die Beziehungen zu ihren Familien, zur lokalen Ökonomie auch aus der Ferne weiter aufrecht erhalten.14 In Pousos sind nahezu alle Familien durch emigrierte Verwandte an das weltweite Netz der griechischen Diaspora angeschlossen. Lange Zeit waren diese Beziehungen für das ehemals arme Dorf lebenswichtig. Denn die Auswanderer schickten nicht nur Briefe, sondern auch Geld. So wie der Mann, der nach Amerika ging, dort zu bescheidenem Reichtum kam und seinem Heimatdorf in den 1950er Jahren die erste Wasserleitung spendierte. Auf dem Platz an der Kirche hat man ihm zu Ehren ein Denkmal errichtet. Bis heute haben

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viele Migranten in Pousos eigene Häuser, eigene Olivenplantagen und jetzt – wie Jorgos’ Bruder, der in Holland lebt – auch eigene Ferienapartments, die an die Touristen vermietet werden: Besitz, um den sich in ihrer Abwesenheit die Familie vor Ort kümmert. So haben auch die Wege und Beziehungen der Gastarbeiter schon die Peripherie mit den Zentren Europas verknüpft, lange bevor die Migrationsforschung das neue Paradigma der „transnationalen [sozialen] Räume“15 entdeckte. Mit ihren kulturellen Kompetenzen, ein mobiles Leben mit mehreren Heimaten zu führen, werden Migranten zu Protagonisten der Transnationalisierung im Mittelmeerraum wie auch im Norden Europas. Und sie werden auch zu Protagonisten einer Mediterranisierung der Einwanderungsgesellschaften, wenn sie sich das kulturelle Material der Mediterranität, das sie hier als fremde Minderheiten auf Abstand hält, auf neue Weise aneignen. Die ehemaligen Gastarbeiter haben sich in die Konsumlandschaften der Einwanderungsgesellschaften mit mediterranen Produkten in Einzelhandel und Gastronomie, mit konsumierbaren mediterranisierten Ästhetiken und Stilen eingemischt und sich dabei die latente Verknüpfung ihrer Herkunft mit der touristischen Faszination für eine eigene Existenzsicherung zunutze gemacht. Heute kreieren ihre Kinder und Enkel gemeinsam mit anderen jungen Migranten aus dem kulturellen Stoff des Mediterranen eigene jugendkulturelle Räume von der ‚Orient Deluxe Party‘ bis zu einer transeuropäischen HipHop-Kultur der Vorstädte: kulturelle Orte, mit denen sie die Dominanzkultur einer sie ausgrenzenden Mehrheitsgesellschaft unterwandern. Überall, in Film und Literatur, ebenso wie in der Pop- und Alltagskultur bezieht heute die mediterrane Diaspora selbstbewusst Stellung in den nordeuropäischen Einwanderungsgesellschaften.16 Diese noch immer weitgehend unbeachteten Kräfte der Migration haben dem Ordnungssystem der Moderne, ihrem Modell des Nationalstaats und der darin verfassten Hierarchie von Mehrheit und Minderheiten, längst seine Grenzen vorgeführt.17 Und auch das neue Regime der ‚Festung Europa‘, das als Antwort auf die schwindende Kontrollmacht der Nationalstaaten entstand, wird von den globalen Bewegungen der Migration an seinen Grenzen, im Mittelmeerraum wie im Osten Europas, herausgefordert und unterwandert.18

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IV. Kreuzungspunkte: Kollaborative Heterotopien Viele bringen diese Erfahrungen und dieses Wissen der Migration mit, wenn sie sich in Pousos eine neue Existenzgrundlage schaffen: als Zimmervermieter, Tavernenbesitzer, Kaffeehausbetreiber, durch den Verkauf von Haus und Land an die Touristen oder in den klandestinen Jobs als Putzfrau, Pflegekraft oder Küchenhilfe, mit denen sich auch Maria durchgeschlagen hat, bevor sie Jorgos kennenlernte, um dann ihr Leben und die Arbeit im Kaffeehaus mit ihm zu teilen. Kostas hat ein paar Jahre Betriebswirtschaft in Athen studiert und sich dort in die städtischen Subkulturen eingemischt, bevor er mit eigenen Ideen für ein alternatives Leben nach Pousos zurückkehrte und mit Angelika sein Tourismusprojekt startete. Manolis war, bevor er seine Ferienapartments in Pousos eröffnete, als Migrant in Australien, wo er Autositze eingebaut und Eisenbahnwaggons beladen, vor allem aber auch selbst ein unstetes Leben als Reisender geführt hat. Michalis wurde Gastarbeiter in Hamburg, weil er seiner Frau Uschi, die er als Touristin in Kreta kennengelernt hatte, dorthin gefolgt war. Mit ihr kehrte er nach Pousos zurück; auch er baute ein Haus für die Touristen auf dem Hügel und wurde in den 1980er Jahren zum Bürgermeister gewählt. Einer seiner beiden Söhne leitet heute die Taverne, die Michalis auf die Ruinen der alten Raki-Brennerei am Eingang des Dorfes gebaut hat. Andere Migranten kommen nach Pousos, ohne hier familiäre Wurzeln zu haben: wie ‚Jean‘, den alle so nennen, weil er von Piräus nach Marseille zum Arbeiten gegangen ist, bevor er sich mit seiner französischen Frau hier auf Kreta niedergelassen hat. Vangelis, der selbst als Kind nordgriechischer Gastarbeiter in Berlin aufgewachsen ist, gefällt diese turbulente, kosmopolitische Mischung aus lokalen und zugewanderten Griechen, neuen Einwanderern aus dem globalen Osten und Süden und Touristen-Migranten aus dem Westen, die wie er Wurzeln in den städtischen Subkulturen und der Alternativszene haben. In das Dorf, aus dem seine Eltern stammen, wäre er, wie er sagt, nie zurückgekehrt. Dort seien ihm, so wörtlich, „viel zu viele Griechen“. In Pousos aber kann er an seine eigene Geschichte in Berlin anknüpfen, wo er jahrelang auf der Straße Schmuck verkauft hat und sein Leben mit deutschen, griechischen und türkischen Freunden teilte. Mit seiner deutschen Freundin hat er in einem Nachbarort von Pousos eine Bar aufgemacht, die er „Europa“ nennt. Der Name und auch das selbst entworfene Design der Bar steht für seine Vision eines mediterranisierten, orientalisierten

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Europas, wie er es in Berlin, und jetzt auch auf Kreta imaginiert und praktiziert. All diese mobilitätserfahrenen Akteure sind mit ihrem Wissen aus aller Welt Experten für die Tourismuskultur in Pousos. Wie Kostas beteiligen sie sich erfolgreich an den Projekten einer reflexiven Mediterranisierung: Sie kollaborieren mit der touristischen Imagination und verwandeln die Zeichen mediterraner Rückständigkeit in eine gegenmoderne Ästhetik. Dass sich Pousos heute kretischer, mediterraner denn je zeigt, geht vor allem auf sie zurück, auf ihr Wissen, mit dem sie an den Imaginationshorizont der Touristen anknüpfen und ihn in ihrem Sinne nutzen. Und viele der Touristen beteiligen sich selbst an der kreativen Ausarbeitung dieser Imagination vor Ort, etwa in der Gestaltung ihrer Zweitwohnsitze, die sich bereits als eigenes Neubaugebiet in den Olivenplantagen rund um Pousos ausbreiten. In der Tourismusökonomie in Pousos, und nicht nur hier, ist Mobilität und das damit verbundene Wissen zum kulturellen Kapital geworden. So sind neue Hierarchien sozialer Ungleichheit entstanden, die nicht mehr den klassischen modernen Unterscheidungen der Nationalitäten, der Fremden und der Einheimischen folgen. Vielmehr ist heute eine transnationale Allianz der Touristen und der Migranten im Vorteil gegenüber der alten Elite der Sesshaften. Orte wie Pousos liegen an den Rändern Europas, aber gerade diese Lage macht sie zu höchst fortgeschrittenen, spätmodernen Zonen der Mobilität und der Transnationalität. Vieles, was sich das Zentrum Europas an reflexiver Modernität auf die eigenen Fahnen schreibt, wurde und wird eigentlich hier, in der so genannten Peripherie, erdacht und erprobt – auf dem Territorium und in der direkten Auseinandersetzung mit jenen Anderen, die aus dem Projekt des modernen Europas scheinbar ausgeschlossen sind. Denn anders als in den urbanen Zentren im europäischen Nordwesten begegnen sich die Bewegungen von Tourismus und Migration hier auf kleinstem Raum; hier sind alle an den laufenden Verhandlungen der Moderne beteiligten Akteure gleichzeitig anwesend. Was sie aufeinander zutreibt und zusammenbringt, ist die beiden Bewegungen gemeinsame, zutiefst moderne Imagination eines anderen möglichen Lebens.19 Und so entstehen an diesen Kreuzungen der Mobilitäten Heterotopien eines machbaren Glücks, relative Paradiese, die den Grenzen der Moderne und den Grenzen Europas abgerungen werden.

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Vgl. Löfgren, Orvar. On Holiday. A History of Vacationing. Berkeley, Los Angeles, London, 1999; Boissevain, Jeremy. „Introduction“. Coping with Tourists. European Reactions to Mass Tourism. Hg. v. Jeremy Boissevain. Providence, Oxford, 1996. 1-26. Der Name des Ortes wie auch die Namen der Interviewpartner wurden von mir geändert. Vgl. zu den weiteren Forschungsergebnissen Römhild, Regina. Reflexive Mediterranisierung. Tourismus, Migration und die Verhandlungen der Moderne an den Grenzen Europas. Unveröffentlichte Habilitationsschrift. Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt a. M., 2008. Urry, John. Consuming Places. London, 1995, S. 167. Vgl. Römhild (Anm. 2). Vgl. Buck-Morss, Susan. „Semiotic Boundaries and the Politics of Meaning: Modernity on Tour – A Village in Transition“. New Ways of Knowing. The Sciences, Society and Reconstructing Knowledge. Hg. v. Marcus G. Raskin u. Herbert J. Bernstein. Totowa, NJ, 1987. 201-236. Vgl. Lenz, Ramona. „Pauschal, individual, illegal: Aufenthalte am Mittelmeer“. Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Hg. v. Transit Migration Forschungsgruppe. Bielefeld, 2007. 141-154. Miller, Henry. Der Koloß von Maroussi. Übs. v. Carl Bach u. Lola HummSernau. Reinbek bei Hamburg, 1998. Vgl. Todorova, Maria. Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt, 1999, S. 137 ff. Bis heute wird dieser Kultstatus Kretas und Matalas als legendäre Station auf dem Hippie-Trail der 1960er und 1970er Jahre auf zahlreichen Websites und in Reiseführern kolportiert. So sind der Strand und die Höhlen, die heute offiziell nur noch als archäologische Zeugnisse römischer Kultur zu besichtigen sind sowie der sich dort selbst ausstellende ‚letzte Hippie von Matala‘ inzwischen zu selbstreferenziellen touristischen Attraktionen geworden, die hier in der Saison täglich von Bussen voller Tagesausflügler aus den großen Hotels der kretischen Nordküste angesteuert werden. Vgl. u.a. www.we-love-crete.com/matala.html [12.11. 2008], wo auch der Songtext von Carey zu finden ist und den Backpacker-Reiseführer aus dem Lonely Planet-Verlag: Oliver, Jeanne. Crete. Victoria, 2000. Über eigene Erfahrungen in der ‚Generation Matala‘ berichtet der Augenzeuge Arn Strohmeyer in seinen selbst verlegten Publikationen Reise nach Matala. Bremen, 1994; Ich hatte einen Traum ... Mein Südkreta zwischen Matala und Lentas. Bremen, 1996. Vgl. Beck, Ulrich u. Bonß, Wolfgang (Hg.) Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt a. M., 2001. Vgl. u.a. O’Reilly, Karen. The British on the Costa del Sol: Transnational Identities and Local Communities. New York, 2000; Holert, Tom u. Terkessidis, Mark. Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen. Köln, 2006.

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Die an sich offenkundigen Parallelen zwischen dem Alternativtourismus und der Praxis der Feldforschung in der Ethnologie sind bislang kaum explizit thematisiert worden. Vgl. als eine der Ausnahmen KirshenblattGimblett, Barbara. „Authenticity and Authority in the Representation of Culture. The Poetics and Politics of Tourist Production“. Kulturkontakt – Kulturkonflikt. Zur Erfahrung des Fremden 1. Hg. v. Ina-Maria Greverus u.a. Frankfurt a. M., 1987. 59-70. Vgl. dazu paradigmatisch Smith, Valene (Hg.) Hosts and Guests. The Anthropology of Tourism. Philadelphia, 1977. Vgl. Römhild (Anm. 2), S. 101 ff.; Römhild, Regina. „Nach der ‚Gastarbeit‘: Transitgesellschaft Europa“. Projekt Migration. Hg. v. Kölnischer Kunstverein u.a. Köln, 2005. 92-97. Pries, Ludger. „Neue Migration im transnationalen Raum“. Transnationale Migration. Hg. v. dems. Baden-Baden, 1997. 15-44. Vgl. Bergmann, Sven u. Römhild, Regina (Hg.) global heimat. Ethnografische Recherchen im transnationalen Frankfurt. Frankfurt a. M., 2003; El-Tayeb, Fatima. „Kanak Attak! HipHop und (Anti-)Identitätsmodelle der ‚Zweiten Generation‘“. Jenseits des Paradigmas der kulturellen Differenz. Neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei. Hg. v. Martin Sökefeld. Bielefeld, 2004. 95-110. Vgl. Römhild, Regina. „Global Heimat Germany. Migration and the Transnationalization of the Nation State“. Transit 1 (2005), http:// repositories.cdlib.org/ucbgerman/transit/vol1/iss1/1. Vgl. Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Hg. v. Transit Migration Forschungsgruppe. Bielefeld, 2007; Römhild, Regina. „Migranten als Avantgarde?“ Blätter für deutsche und internationale Politik 52.5 (2007): 618-624. Vgl. Appadurai, Arjun. Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis, 2005, S. 3 ff.

Zwischen Parodie und Phantasmagorie Das ‚Paradies‘ in Werner Herzogs Fata Morgana Anton Kaes „Im Paradies überquert man den Sand, ohne seinen Schatten zu sehen. Dort gibt es Landschaft auch ohne tieferen Sinn.“ Werner Herzog. Fata Morgana1 „Clov: Bedeuten? Wir, etwas bedeuten? (Kurzes Lachen.) Das ist aber gut!“ Samuel Beckett. Endspiel 2 „Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“ Walter Benjamin. Zentralpark 3

I. Das Ende der Utopien oder der Film als Fata Morgana Gibt es ein filmisches Äquivalent zum Absurden Theater? Auf den ersten Blick scheint Werner Herzogs experimenteller Afrikafilm Fata Morgana (1970) Einstellungen und Praktiken des Absurden Theaters Samuel Becketts und Eugene Jonescos weiterzuführen: den zwischen Komik und Tragik schwankenden Ton, die inszenierten Brüche von Logik und Kausalität, die Aufgabe einer zielgerichteten Handlung und die radikale Sinnverweigerung.4 Aber Fata Morgana ist mehr als ein Beispiel des Absurden Films. Der Film parodiert die Tradition des deutschen Expeditions- und Naturfilms der 1950er Jahre und macht sich die formalen Strategien des amerikanischen Avantgardefilms, insbesondere des visionären Trance-Films zu eigen.5 Herzog setzt Brecht’sche Verfremdungseffekte ein, zeigt aber auch Naturszenen von ungebrochener Schönheit, die oft mit sakraler Musik unterlegt werden.6 Er nimmt erkennbar dokumentarische Aufnahmen aus seinen Afrikareisen, aber er lokalisiert sie nicht – man weiß in der Regel nicht, ob die Bilder aus Dreharbeiten in Kenia, Tansania, Niger, Obervolta, Mali, der algerischen Sahara, der Elfenbeinküste oder der Kanarischen Insel Lanzarote stammen. Es geht Herzog offensichtlich nicht um einen Reisebericht, sondern um ein mythopoetisches Gebilde, in dem Afrika zum Inbegriff des absolut Fremden stilisiert wird.

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Fata Morgana widersetzt sich jeglicher Genre-Klassifikation. Der Film hat keine Schauspieler und keine Charaktere, er zeigt Menschen (Wüstenbewohner ebenso wie deutsche Touristen) als Schau-Objekte, nicht als psychologisch motivierte, handelnde Individuen. Die kommentierende Stimme ist in diesem Film ausnahmsweise nicht Herzogs – anders als z.B. in dem verwandten Film La Soufrière von 1977 und praktisch allen späteren Dokumentarfilmen bis hin zu Encounters at the End of the World von 2007. Der voice-over-Kommentar in Fata Morgana bezieht sich meist ohnehin nur indirekt auf die gezeigten Bilder, die auch zeitlich nicht verankert sind. So lässt sich Herzogs Film als Meditation über das verlorene Paradies deuten, aber die Reflexionen in diesem Film sind nicht philosophischer oder essayistischer, sondern bildlicher und sinnlicher Art. Die direkten Verweise auf das Paradies erscheinen als Parodie gegenüber linken UtopieEntwürfen der 1960er Jahre, aber trotz dieser anti-utopischen Einstellung evoziert der Film die sprachlose Utopie einer vorzeitlichen, vom Menschen unberührten Natur. Vertikale Kameraschwenks, die das Gefälle eines Wasserfalls imitieren, gleitende Fahrten durch hügelige Sanddünen und Flugaufnahmen über Gegenden, die nur von Flamingokolonien besiedelt sind, bieten Hinweise auf Paradiesbilder, wie sie in der westlichen Imagination in zahllosen Illustrationen und Beschreibungen seit frühen Zeiten überliefert sind. Das Paradies ist verloren, scheint Herzog zu sagen, aber es kann wiedergewonnen werden im Film, nicht nur als Motiv einer künstlichen Gegenwelt sondern radikaler durch das Medium des Films selbst – als Phantasmagorie, d.h. als Sinnestäuschung und ‚Fata Morgana‘. Der Film wird so seinerseits zur Fata Morgana: der trügerische Augenschein ist nichts anderes als das Medium selbst. Ursprünglich hatte Herzog geplant, einen science-fiction-Film – nach Stanley Kubricks 2001 von 1968 ein populäres Genre – zu drehen, in dem fremde Wesen aus dem Andromedanebel auf den zerstörten Planeten Uxmal stoßen und von dort einen Bericht an ihren Heimatplaneten schicken. Die Perspektive des Films war damit von Anfang an der Blick eines Außerirdischen auf die postapokalyptische, verödete Erde – eine Hilfskonstruktion, die zwar letztlich wegfiel, die aber zeigt, dass es Herzog darauf ankam, seine Endzeitvision aus der Sicht des Fremden zu zeigen; so erfasst die Kamera auch die Welt, ohne Prioritäten, wie mit den Augen eines Beobachters von einem anderen Stern.7 Das Fata-Morgana-Projekt begann mit der Arbeit an dem Auftragsdokumentarfilm Die fliegenden Ärzte von Ostafrika (1968) und der filmischen Satire Auch Zwerge haben klein angefangen (1969/70), die

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in der Mondlandschaft von Lanzarote spielt. Überschüssiges Material aus diesen beiden Afrikafilmen wurde in Fata Morgana verwendet und durch Schnitt und Tonspur in ein Epos verwandelt, das durchgängig zwischen visionärer Phantasmagorie und kritischer Parodie changiert. Da es keine kontinuierliche Handlung gibt, kann der Film zwischen wortlosen ekstatischen Visionen – in der Tradition eines Stan Brakhage oder Bill Viola8 – und vorgefundenen (bzw. inszenierten) sozialkritischen und grotesken Szenen wechseln. Die unversöhnliche Spannung zwischen Natur und Menschen wird durch Schnitt, Montage und Kommentar unterstrichen. Nahaufnahmen von technologischem Müll inmitten einer unberührten Wüstenlandschaft zeigen die Zerstörung der natürlichen Ordnung durch die Menschen, die mit dem Film fortschreitend der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Fata Morgana ist auch ein Versuch, Sprache und Sprachsinn überhaupt zu unterminieren und sie der wortlosen Sprache der Bilder unterzuordnen.

II. Kein Platz für wilde Tiere oder die Suche nach dem Paradies in den 1950er Jahren Für den Betrachter in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren war Fata Morgana ein Gegenentwurf zu Bernhard Grzimeks äußerst populären Tier- und Expeditionsfilmen Kein Platz für wilde Tiere (1956) und Serengeti darf nicht sterben (1959); Serengeti hat 1959 sogar den ersten Oskar für einen deutschen Dokumentarfilm gewonnen. Beide Filme haben sich erfolgreich für die Erhaltung eines gigantischen Naturschutzparks in Afrika eingesetzt, auf einer Fläche, die sich von Tansania bis Kenia erstreckt. Dieses Wildtierreservat im ehemals deutschen Kolonialgebiet sollte ausdrücklich ein Paradies für Tiere, besonders Zebras, Löwen und Antilopen werden. Man nahm in Kauf, dass nicht nur die Großwildjäger, sondern auch die einheimische Bevölkerung der Massai aus diesem Paradies vertrieben werden musste, um den Lebensraum der dort beheimateten Tierwelt zu schützen. Die dem gigantischen Projekt zugrundeliegende These lautete, dass Afrika im Sterben liege und gerettet werden müsse.9 In Deutschland hatte Doktor Grzimek (wie er genannt wurde) seit Mitte der 1950er Jahre eine massenmediale Präsenz durch seine Fernsehsendungen, coffeetable-Tierbücher und vor allem durch seinen ersten Afrikafilm Kein Platz für wilde Tiere, einem erzählend-didaktischen Dokumentarfilm

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nach dem Muster von Walt Disneys Oskar-gekröntem Film The Living Desert (1953), der unter dem Titel Die Wüste lebt auch in Deutschland ein großes Publikum fand. Es war nicht möglich, in den 1950er Jahren in Deutschland aufzuwachsen, ohne Grzimeks utopische Tierparadiese zu kennen.10 Grzimeks Filme Serengeti darf nicht sterben und Kein Platz für wilde Tiere umreißen den Erwartungshorizont, gegen den Herzogs Fata Morgana-Projekt rebellierte. Kein Platz für wilde Tiere beginnt mit einem Zeichentrickfilm, der in fünf Minuten eine Entwicklungsgeschichte der Menschheit vom Paradies zur überbevölkerten urbanen Hölle von 1956 vorführt. Der alarmistische, aber hoffnungsvolle Ton des ‚Noch-ist-es-nicht-zuspät‘, der auch Al Gores Dokumentarfilm An Inconvenient Truth (2006) über Klimawandel kennzeichnet, schuldet sich dem Bewusstsein, dass der vormals paradiesische Zustand (Adam, Eva und ein Apfelbaum) rapide seinem Ende zusteuert. Eingeschrieben in Grzimeks Film ist die für die 1950er Jahre typische Angst vor der Überbevölkerung, die von William Vogts Buch The Road to Survival (dt. Die Erde rächt sich, 1950) geschürt wurde. „Die Flut steigt“, behauptet der Kommentar und der Zeichentrickfilm zeigt eine Prozession von hohlwangigen Figuren, die bedrohlich auf den Zuschauer zukommen. Unverborgen ist die kolonialistische Haltung des Films sowohl auf der Kommentar- wie der Bildebene, ebenso wie der Rassismus gegenüber der einheimischen Bevölkerung: „Aber noch tanzen die wilden Krieger der Watussi“, sagt der Kommentator einmal verächtlich über die angeblich naiven Eingeborenen. Wie alle diese Filme (auch Al Gores Film beginnt mit einem Blick auf die Erde von außen aus dem Weltall) zeichnet Kein Platz für wilde Tiere die Menschheitsgeschichte kulturpessimistisch als Verfallsgeschichte. Das ursprüngliche Paradies wird mit unberührter außereuropäischer Natur ineins gesetzt und scharf von der übergreifenden Zivilisation getrennt. Moderne Technik und Industrie haben demnach die Naturparadiese zerstört – auch diese Zivilisationskritik hat eine lange Tradition, die auf das späte 19. Jahrhundert zurückgeht und in den Reformbewegungen unter dem Slogan ‚Zurück zur Natur‘ um die Jahrhundertwende ebenso wie bei den Hippies der 1960er Jahre erneuten Ausdruck fand. Im deutschen Film kam der antizivilisatorische Affekt besonders stark im Bergfilm zur Geltung, der seine Blütezeit in den späten 1920er Jahren bei Arnold Fanck, Leni Riefenstahl und Luis Trenker erlebte und dann im massenwirksamen Heimatfilm der Adenauerzeit weiterlebte. Eine typische Szene in Grzimeks Kein Platz für wilde Tiere zeigt einen durch Raubbau und

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Ausbeutung zerstörten Boden, über dem eine schimmernde Luftspiegelung sichtbar wird. Der Kommentar erklärt: „Dürre und Trockenheit überziehen immer weitere Teile des Erdteils. Die Tiere ziehen sich zurück, die Natur wird ärmer, das Ende ist die Wüste mit dem Trugbild des glitzernden Sees, die Fata Morgana.“ Dazu Bilder von unscharfen, verschwommenen Spiegelungen hinter einem weiten Wüstenhorizont - Bilder, die in Herzogs Fata Morgana mit frappierender Ähnlichkeit wieder auftauchen. Werner Herzog, der 1942 in einem oberbayrischen Dorf geboren wurde, wuchs in den 1950er Jahren auf, als Deutschlands Filmlandschaft von ebendiesen Tier- und Expeditionsfilmen beherrscht war. Zum einen ist Herzogs Fata Morgana ein radikaler Gegenentwurf zu Grzimeks Afrikafilmen, zum anderen gingen Denkschemata aus den 1950er und frühen 1960er Jahren auch in Fata Morgana ein. Der Film ist gleichzeitig Demontage und Invokation des Paradieses, ein Spiel auch mit Vorstellungen von Zeit und Raum, dazu ein Versuch, eine neue Bildsprache zu erfinden, die teils Fiebertraum, teils Absurdes Theater ist. „Ich versuche“, meinte Herzog in einem Interview 1978, „Bilder zu artikulieren, die wir unbedingt haben müssen, weil wir mit unseren Bildern hinter unserem Zivilisationsstand herhinken. Und wenn wir nicht adäquate Sprache beziehungsweise adäquate Bilder für unseren Zivilisationsstand finden, das ist eine ernste Sache, wie eine Zivilisation dann wegstirbt wie die Dinosaurier weggestorben sind.“11 Aufkommendes Pathos wird aber in der Regel durch Groteske gebrochen, die phantasmagorischen Ausflüge finden sich oft durch harten Schnitt auf Bilder von Elend und Verzweiflung parodiert. Einerseits sakralisiert der Film die vorsprachliche ‚reine Natur‘, andererseits zeigt er Bilder ihres Verfalls in der industriellen Moderne. Fata Morgana dekonstruiert Vorstellungen von Schöpfung und Paradies, versucht aber den utopischen Gehalt, der sich in diesen Vorstellungen verbirgt, in das neue Medium hinüberzuretten. In seiner Betonung des Grotesken und Absurden wehrt sich der Film gegen den Didaktizismus des Naturfilm-Genres, und die endlosen, selbstgenügsamen Fahrten durch die Wüste opponieren gegen die Symbolisierung der Wüstenlandschaft im Spielfilm (wie etwa in Bertoluccis Verfilmung von Paul Bowles’ Roman The Sheltering Sky). Herzog ist dagegen bemüht, das nomadische Prinzip zum Arbeitsstil zu machen: „Wer uns über den Weg lief und uns interessant schien, für den habe ich schnell eine Szene geschrieben.“12 Und doch betrifft diese nomadische Vorgehensweise eher die Produktionsgeschichte, weniger die Postproduktion, d.h. die Montage des Materials auf dem Schneide-

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tisch und die Zuspielung von Musik und Text. Hier erst wurde aus den unzusammenhängenden Bildern ein Tryptichon konstruiert, das sich im Film in drei eigenständigen Kapiteln darbietet: „Die Schöpfung“, „Das Paradies“ und „Das Gelobte Land“.

III. „Die Schöpfung“ oder die Avantgarde als Neubeginn Herzogs filmstilistische Befreiung in den frühen 1960er Jahren vollzieht sich in seiner Begegnung mit der amerikanischen Avantgarde, die 1960 in München zum ersten Mal in Deutschland gezeigt wurde. Die New Yorker Gruppe von jungen experimentellen Filmemachern, darunter P. Adams Sitney, Gregory Markopoulos, Jonas Mekas, Jack Smith, Kenneth Anger und vor allem Stan Brakhage, hatten den damals 18-jährigen Herzog – seinen eigenen Worten nach – davon überzeugt, dass Filmemachen nicht notwendigerweise ein Studio, Schauspieler und einen Mitarbeiterstab brauchte – im Gegenteil, viele dieser Filme waren Ein-Mann-Filme, extrem subjektiv und ohne kommerzielle Absicht. Herzog widmete diesem Kino 1964 einen Aufsatz, aus dem zu zitieren sich lohnt, denn er artikuliert Herzogs Ästhetik bis heute: Was aber die Arbeiten der Gruppe [der amerikanischen Avantgarde um 1964] so bedeutungsvoll macht, ist schon längst kein Experiment mehr. Es ist die Tendenz zur Selbstbesinnung des Films auf seine ureigensten Mittel, d.h. die Tendenz, das Fundament einer neuen Filmästhetik zu festigen, die nichts mehr mit Kategorien wie Literatur oder Theater gemein hat. Was da praktiziert wird, ist ein Destillierungsprozess rein filmischer Ausdrucksweisen, der die traditionelle Adaption theatralischer und literarischer Formen als Rückstand ausscheidet. Hier ist auch das blosse Sehen nicht mehr hinreichend; die Filme haben meist tiefere, visionäre Bezüge.13

Aus diesem ‚visionären‘ Sehen ergab sich für Herzog zweierlei. Erstens: die Visionen ‚ereignen‘ sich; sie werden nicht literarisch produziert oder durch ein genaues Skript vorgeschrieben. Die Filme sind im Grunde dokumentarisch und autobiographisch, entstehen spontan, ohne Plan oder Drehbuch. Zweitens: Das visionäre Sehen erfordert ein neues Verhältnis zur sichtbaren Realität. Um den ‚anachronistischen Naturalismus‘ zu überwinden, sollen die Bilder etwas ansprechen, das gemäß Stan Brakhages berühmtem Diktum vor der Sprache liegt: „Imagine an eye unruled by man-made laws of perspective […] imagine a world before ‚the beginning was the word‘“14.

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Ob diese vorsprachliche Sphäre mit dem Religiösen, dem Erhabenen, dem Ekstatischen, Visionären oder dem Archaischen in Verbindung gebracht wird, ist für Herzog weniger entscheidend als die Erkenntnis, dass es ihm um ein utopisches Projekt geht, neue, ungesehene Bilder zu produzieren. Fata Morgana verkörpert diesen avantgardistischen Impuls, der sich gegen das klassische Erzählkino ebenso wie gegen den ethnographischen Dokumentarfilm wendet. Wie in einem Reisefilm beginnt Fata Morgana mit der Landung eines Flugzeuges in einem fremden Land, aber nach einem abrupten Schnitt kurz nach dem Aufsetzen wird die Landung wiederholt. Und sie wird auch ein zweites, drittes, fünftes und achtes Mal wiederholt. Es sind (bei näherer Betrachtung) jeweils andere Maschinen, aber die schwarzen Abgaswolken, die bedrohliche Größe der fliegenden Maschinen, und der Motorendonner sind sich ähnlich wie auch das Aufprallen auf der nassen, schimmernden Landebahn und die flimmernde Luft, welche die Landungen von Mal zu Mal stärker irrealisiert. Im Vergleich zu den in die Natur eindringenden Flugzeugen erscheinen die aufgescheuchten Vogelschwärme winzig. Die phallischen Maschinen verwandeln sich durch die Wiederholung in symbolische Zeichen, die sowohl Vergewaltigung wie Befruchtung konnotieren und sich so auf den Titel „Die Schöpfung“ beziehen mögen. Wichtiger als die symbolische Lektüre ist aber, dass Herzog durch diese Wiederholungen den Zuschauer zwingt, narrative Erwartungen (entweder Flugzeugabsturz oder Ankunft am Flughafen) aufzugeben und die Autonomie der filmischen Zeit anzuerkennen. Das Prinzip der Wiederholung thematisiert die Zeit – Wiederholung zeigt nichts Neues, sondern macht den Vorgang selbst sichtbar. In Fata Morgana geht es um den zeitlosen, weil immer wiederholten Prozess der Verletzung der Natur durch diese Monstermaschinen. Herzog untergräbt das lineare Zeitgefühl (das Grundprinzip des klassischen Hollywood-Spielfilms) durch die Mittel der Montage, die, ungeachtet von Zeitablauf und Logik, Räume und Motive zu verknüpfen imstande ist. Die Konkretheit der Bilder wird durch die mehrmalige Wiederholung zunehmend abstrakt. Herzog meinte dazu selbstironisch, dass Zuschauer, die sich diese Wiederholungen gefallen lassen, dann auch für den Rest des Filmes nicht weglaufen und stattdessen ihre Sehgewohnheiten revidieren würden.15 Es geht in diesem Film nicht um eine erzählte Handlung, sondern um eine Provokation der Sehgewohnheiten. Der Film besteht im Wesentlichen aus zwei Verfahren: der Wiederholung des Gleichen und der Montage von Unzusammenhängen-

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dem, der Mobilität der aus dem Auto gefilmten, immerzu wechselnden Perspektiven auf die Wüste einerseits und extrem statischen Tableaus andererseits. Was fehlt ist die Schuss-Gegenschuss Dramaturgie und Dramatik des Spielfilms; es gibt keine zwischenmenschlichen Konflikte, keine Kommunikation zwischen den Figuren, weil es keine Figuren gibt. Nach der Landung folgen gleitende Fahrten und Schwenks über archaische, menschenleere Urlandschaften. Dazu unscharfe Umrisse eines sich bewegenden Objekts, möglicherweise eine Luftspiegelung. Es gibt keine Hinweise, wo und wann und wozu die Landschaften aufgenommen wurden: So wird die Abstraktion der wiederholten Landungen fortgesetzt. Die Landschaft wird zur Natur an sich. Dieser Unbestimmtheit des Ortes und der Verwischung zeitlicher Verankerungen entspricht die dunkle, unweibliche Stimme aus dem Off. Der Zuschauer weiß nicht, wer spricht. Es gibt kein Bild der sprechenden Person. Nur Insider wissen, dass es sich um Lotte Eisner handelt, der von Herzog vergötterten deutschen Filmkritikerin aus der Weimarer Republik, die als Jüdin 1933 ins Exil nach Paris gehen musste und dort Die dämonische Leinwand, eine einflussreiche Geschichte des expressionistischen Films geschrieben hat. Darin weist sie Affinitäten im Sinne der Geistesgeschichte zwischen der deutschen Romantik und der Filmsprache des deutschen Films nach.16 (Herzog hat seinen Kaspar-Hauser-Film Lotte Eisner gewidmet mit den Worten: „Sie gehört zu jenen – dem besseren Teil –, der Deutschland verlassen musste.“) Herzog sieht sich selbst in dieser Tradition der Exilanten, des ‚anderen Deutschlands‘ und hat wiederholt darauf hingewiesen, dass er keine Väter (das wären Nazifilmer gewesen), sondern nur Großväter besitzt, z.B. Friedrich Wilhelm Murnau, dessen Nosferatu er fast bildgenau nachdrehte. Eisner rezitiert in Fata Morgana eine Schöpfungsgeschichte der zentralamerikanischen Mayas aus dem 16. Jahrhundert, genannt Popul Vuh, die Herzog frei bearbeitet hat. Danach – und das ist Herzogs selbst hinzugefügter Schluss – handelt der Mythos davon, dass die Schöpfer des Menschengeschlechts erkennen mussten, einen Fehler begangen zu haben. Es ist eine apokalyptische Schöpfungsgeschichte, derzufolge die Götter mit ihrer Schöpfung so unzufrieden waren, dass sie die Menschen ertränkten, weil sie ‚ohne Verstand‘ waren. Eisners epische Stimme begleitet die endlosen Fahrten durch die menschenleere Wüste – in ihrem magischen Effekt ähnlich der fast schmerzhaften achtfachen Wiederholung des Anflugs und der Landung von Flugzeugen. Der ganze Film besteht zu etwa einem Drittel aus diesen langen Fahrten, die dem Film eine eigene Zeitrechnung

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einprägen und den Zuschauer zwingen, in anderen Kategorien als narrativer Spannung und Konfliktlösung zu denken. Wie Filme der amerikanischen Avantgarde der 1960er Jahre will Fata Morgana durch vielschichtige Bild- und Tonwelten komplexe Prozesse von Selbstund Welterkenntnis freisetzen. Darum ist es kein Stilbruch, wenn zu den gleitenden Kamerafahrten durch die Sahara nacheinander Orgelmusik eines anonymen Komponisten aus dem 16. Jahrhundert, François Couperins „Leçons de ténèbres“ von 1714 und das Kyrie aus Mozarts Krönungsmesse, aber auch Leonard Cohen und ein Popsong der Band Blind Faith erklingen.17 Die Bedeutsamkeit der Beziehung zwischen Musik und Naturdarstellung hat Theodor W. Adorno in einer Weise artikuliert, die sich auch auf Herzogs Projekt beziehen lässt: Das Naturschöne deutet auf den Vorrang des Objekts in der subjektiven Erfahrung. Wahrgenommen wird es ebenso als zwingend Verbindliches wie als Unverständliches, das seine Auflösung fragend erwartet. […] Wie in Musik blitzt, was schön ist, an der Natur auf, um sogleich zu verschwinden vor dem Versuch, es dingfest zu machen.18

Wie die Musik ist Naturschönheit nicht ‚fassbar‘ – im doppelten Sinn des Wortes. Die Bilder des ersten Teils zeigen Sequenzen, in denen die Sanddünen durch weiche Rundungen anthropomorphisiert weiblich und durch Mozarts Musik spiritualisiert erscheinen. Danach folgen Sequenzen, in denen Flugszeugwracks und Lastwagentrümmer aus der Landschaft herausragen. Als Kontrast sind Szenen dazwischengeschnitten, in denen die Kamera nicht mehr horizontal und panoramisch die Wüste durchfährt, sondern vertikal einem zerstäubenden Wasserfall von oben nach unten folgt und mit dynamischen Schwenks in den Felsen gehauene Wohnungen zeigt oder sich in die Lüfte erhebt. Diese Bildfülle einer Oase inmitten der Wüste weicht im zweiten, ironisch „Paradies“ betitelten Teil der Darstellung einer zunehmend postapokalyptischen Stimmung.

IV. „Das Paradies“ oder die Flucht vor der Geschichte Ein alter blinder Mann, offensichtlich Kriegsveteran mit einer Militäruniform auf der blanken Haut wird von einem jungen Mädchen aus einer dunklen Höhle geführt. Das Mädchen trägt ein Transistorradio, aus dem Fetzen westlicher Musik (u.a. Janis Joplin) dringen. Der Mann hält einen Monolog vor der Kamera in einer der 2000 afrikanischen Spra-

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chen, aber seine Worte werden nicht übersetzt. Er spricht uns an, aber in einer Sprache, die wir nicht verstehen. Seine blinden Augen und seine unverständliche Rede versinnbildlichen, wie man sich nach Herzog das Paradies vorzustellen habe – nicht sehbar und nicht kommunizierbar. Der unmotivierte close-up auf die militärischen Orden an der Uniform erscheint in diesem Kontext ebenso wie die dissonante Kofferradiomusik als Hohn auf klassische Paradiesvorstellungen. Die Szene ist offensichtlich als Tableau inszeniert – die Figuren lösen sich aus dem Dunkel, als ob sie als Abgesandte aus dem Paradies, dem Ursprungsort der Menschheit kämen, aber sie erscheinen ohne Glücksversprechen. Auch die nachfolgende Einstellung – der Junge, der im Abendlicht einen Wüstenfuchs vor die Kamera hält – ist ein Tableau, bei dem wie oft im kolonialistischen Dokumentarkino Einheimische stumm zusammen mit einem Tier vorgestellt werden. Die Fremden als sprachlose Kreaturen, die in engster Nachbarschaft mit den Tieren dahinvegetieren, sind ein Bild des europäischen Exotismus. In den langen Kamerafahrten durch die Wüste erscheinen die Menschen als Teil der Landschaft – der Film schenkt ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit als der Natur, und wenn die Kamera anhält, beobachtet sie die Eingeborenen wie Menschen von einem anderen Stern. (Herzogs Trick ist dabei, die Kamera bei Interviews immer etwas länger als nötig laufen zu lassen. Da der Abgebildete nicht weiß, wann die Aufnahme endet und wie hilfesuchend zum Kameramann blickt, tritt er aus dem performativen Interview-Rahmen heraus und bringt damit die Künstlichkeit der gestellten Szene zum Ausdruck.) Die Fahrt stoppt auch, um Bilder von verdursteten oder verendeten Tieren einzufangen, Kadaver, die wie ein Relief im Sand eingebettet liegen und zu symbolischen Chiffren für den Weltzustand werden. Die Texte, die im zweiten und dritten Teil über die Bilder gesprochen werden, befreien den Film weiter von narrativer Bedeutung. Konnte man Lotte Eisners Schöpfungserzählung im ersten Teil noch Reste eines mythischen Sinns abringen, so werden nun Sätze gesprochen, die sich nur noch gelegentlich auf die Bilder beziehen. Die meisten enthalten inhaltsleere Nonsens-Elemente, die einen kohärenten Sprachsinn unterlaufen und zwischen Paradoxie und hohlen Phrasen schwanken. Ein Beispiel: „Während du träumst fällt ein Apfel von einem Baum Dir in die Stirn.“ Auch aus dem Struwwelpeter von 1876 wird Sprachmaterial entnommen: „Jetzt erscheint der Fliegende Robert klein am Horizont, den Schirm in der Hand, das Haar vom Wind zersaust, durchnässt und geschüttelt, starr und traurig, wie Kei-

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ner.“ Dieser Ausflug in die Kinderbuchgeschichte handelt vom kleinen Robert, der von zu Hause wegläuft und von einem Sturmwind erfasst wird, der ihn in die Lüfte treibt: „Und der Hut fliegt weit voran / Stösst zuletzt am Himmel an. / Wo der Wind sie hingetragen / Ja, das weiss kein Mensch zu sagen“.19 Für Zuschauer, die diesen deutschen Kinderreim nicht kennen, bleibt dieser voice-over-Kommentar ein Rätsel. Noch enigmatischer sind die verfremdeten Sinnsprüche: „Das Paradies ist für jeden zu haben. Im Paradies versetzen auch Ungläubige Berge. Im Paradies kommt man schon tot auf die Welt.“ Herzog dekonstruiert Satz für Satz die traditionellen Vorstellungen und Metaphern vom Paradies als dem Ort der Gläubigen und des ewigen Lebens. Diese hermetischen Sätze könnten aus der experimentellen Dichtung eines Konrad Bayer stammen, dessen Traktat der stein der weisen von 1963 darin besteht, dass er beliebig banale Sätze und Worte in einer Art sprachlicher Mimikry von Zivilisationsmüll neu kombiniert. Die sprachkritischen, neo-dadaistischen Texte und Dialoge der Wiener Gruppe um Gerhard Rühm und H. C. Artmann und auch der frühe Peter Handke haben in den 1960er Jahren Klischees und erstarrte Worthülsen zu neuen Sätzen kombiniert, die einen Sinn oft nur noch andeuten und rationale Logik provokativ negieren. Die Emanzipation des Sprachlauts vom Sprachsinn wurde als Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und vorgestanzten und verbrauchten Kommunikationsformen empfunden. Man glaubte nicht mehr an die Repräsentationskraft der Sprache. Die Bedeutungssuche selbst wurde durch die von jeglicher Wirklichkeitsreferenz befreite Unsinnspoesie in Frage gestellt. „Im Paradies gibt es Landschaft ohne tieferen Sinn“, heißt es im voice-over gleich zweimal zu langen Fahrten durch die Wüstenlandschaft, die ohne Schnitt den Zuschauer eben durch ihre extreme Länge in hypnotischen Bann ziehen. Die Warnung vor Landschaften ohne Sinn will ironisch die Sinnfülle der Wüstenlandschaft unterlaufen – denkt man nur an die 40-jährige Wüstenwanderung Israels und die 40 Tage, die Jesus in der Wüste fastend verbrachte, oder auch an Buñuels satirischen Film Simon in der Wüste, der 1965 anlief. Die Wüste war immer schon ein Ort der Prüfungen und Versagungen, aber auch des Ausbruchs und des Abenteuers. 20 Zur Wüste gehört auch das Bild des rastlos getriebenen Nomaden, der sich immer wieder selbst zurücklässt, ein Bild, das Autoren wie Flaubert, Nietzsche, Borges und Camus als Projektionsfläche für alternative Lebensentwürfe inspirierte.21 Was Herzog an dieser Wüstenlandschaft faszinierte ist die radikale Gleichgültigkeit der Sandwüste gegenüber ihren

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Bewohnern, ihre eigene Ortlosigkeit. Es ist ein geographischer Nichtort, ein non-place, ohne Orientierungspunkte und ohne Geschichte, ohne Markierungen moderner Zivilisation. Man reist ohne je anzukommen. Nach Baudrillards Formulierung ist die Wüste eine „ekstatische Kritik an der Kultur, eine ekstatische Form des Verschwindens.“ 22 Die Wüste als Gegenort zum Paradies hat selbst schon eine symbolische, religiöse Valenz, die Herzog zunächst durch Mozarts Kyrie eleison (‚Herr, erbarme Dich‘) musikalisch erhöht. Wenn die langen Kamerafahrten durch die endlos flache Wüste im zweiten, düstereren Teil wiederkehren, begleitet sie Leonard Cohens Balladen So Long, Marianne, Suzanne und Hey, That’s No Way to Say Goodbye, die von Abschied und verlorener Liebe handeln und in ihrer resignativen Melancholie und Monotonie die Tristesse der endlosen Fahrten durch die leere Wüste untermalen. Für Herzog war die Wüste (ebenso wie danach der südamerikanische Tropenwald) aber auch romantisierter Gegenraum der dichtbesiedelten westlichen, besonders auch der deutschen Welt. Nicht nur der grenzenlose Raum, auch das nomadische Leben der Beduinen haben Vorstellungen genährt, die sich ein Ende vom Nationenstaat und dessen physischer Grenzen ersehnten. Die Wüste erscheint als die absolute Antithese zu dem Nationalismus der Nazis und der Enge Westdeutschlands und besonders Bayerns in den 1950er und frühen 1960er Jahren. Die Flucht in die exotische Ferne ist Herzogs unartikulierter Widerstand gegen die deutsche Vergangenheit, gegen die in Gesetzen und Vorschriften erstarrte Bürgerlichkeit und die nationalstaatliche Begrenztheit der europäischen Staaten, kurz, ein Ort der Flucht vor der deutschen Enge und dem Erbe der deutschen Geschichte. Und dennoch versucht Fata Morgana auch dieses Klischee zu unterlaufen, zum einen, indem der Film die Wüste als Abfallort westlicher Zivilisation zeigt (Flugzeugwracks, Autoskelette, die zu Slumhütten umgebaut wurden, Fässer mit Atommüll, zurückgelassene Eisengerüste), zum anderen durch die Erinnerung an die nationalsozialistische Geschichte, die auch in der Wüste ihre Spuren hinterlassen hat. Dazu inszeniert Herzog eine enigmatische Szene, in der er den schlagartigen Einbruch dieser Geschichte Tableau-artig aufzeigt. Eine junge deutsche Frau – eine Lehrerin oder Entwicklungshelferin, die in einem überschwemmten Feld umringt von fünf afrikanischen Kindern steht – spricht den Satz: „Der Blitzkrieg ist Wahnsinn.“ Jedes der Kinder spricht den Satz nach, mit mehr oder weniger starkem

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Akzent, einen Satz, der dann im Chor wiederholt wird. Es ist klar, dass die Kinder nicht wissen, was sie sagen. Gleichzeitig sind aber auch wir diese Kinder, denn wir wissen zunächst nicht, was diese Szene bedeutet, warum der Satz so oft wiederholt wird, nicht einmal, wer die weibliche Person ist. Weder sie noch die Kinder erscheinen in irgendeiner anderen Szene des Films, sie sind nicht narrativ eingebunden und über ihre Schockfunktion hinaus nicht weiter thematisiert. Und doch ist der flüchtige und unmotivierte Hinweis auf Blitzkrieg für Geschichtskundige nicht zufällig: Feldmarschall Erwin Rommel, auch Wüstenfuchs genannt, der das deutsche Afrikakorps im Zweiten Weltkrieg von 1941 bis 1943 befehligte, wurde für die Entwicklung der Blitzkriegstaktik bekannt, eine Art von Kriegsführung, die durch konzentrierten Einsatz von Panzerwaffe und Luftwaffe den Gegner durch Schnelligkeit und Kraft zu überraschen und mattzusetzen versucht. Dass afrikanischen Kindern der deutsche Satz „Der Blitzkrieg ist Wahnsinn“ in den Mund gelegt wird, erinnert an das Kolonialkino – etwa Paul Lieberenz’ Kamerun-Film Bantu weiß nichts von Europa (1936), bei dem vier eingeborenen Kindern Buchstaben angeheftet wurden, die das Wort „Ende“ ergeben. Herzogs Szene lässt sich allerdings nicht nur als Manipulation der einheimischen Kinder, sondern auch als Parodie lesen: Die Geschichte blitzt auf als Moment eines ästhetischen Blitzkriegs: die Nazi-Vergangenheit ist nur noch als bedeutungsloses Zitat und zusammenhanglose Performance vorhanden. Ebenso ist das Posieren der Kinder in Drohgebärde zu verstehen. Es sind Sätze und Gesten, die zwar Assoziationen von deutscher Geschichte hervorrufen, aber keine narrative Ausarbeitung erfahren.

V. „Das Goldene Zeitalter“ oder die Frage nach dem Sinn Der dritte Teil des Films mit dem ironischen Titel „Das goldene Zeitalter“ besteht zum größten Teil aus dem Auftritt eines Klavierund Schlagzeug-Ensembles, das auf einer billig dekorierten Bühne einen endlos wiederholten Song mechanisch abspielt. Wir wissen von Herzogs DVD-Kommentar, dass die Szene angeblich in einem Bordell auf Lanzarote gefilmt wurde – der Zuhälter mit einer Herzogschen Schweißerbrille am Schlagzeug, die grimmig blickende Bordellbesitzerin am Piano –, aber dem Zuschauer wird der Kontext vorenthalten: Die Kamera ist auf die Darsteller auf der Bühne fixiert, nur

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zweimal schwenkt sie von der einen zur anderen Figur. Die frontale Positionierung der Kamera zwingt dem Zuschauer keine Perspektive auf, sondern zeigt (wie das Theater) alles, was zu sehen ist. Die Darbietung auf der Bühne findet offensichtlich in einem Saal statt, aber kein Gegenschuss zeigt uns, für wen gespielt wird. Das Fehlen von Applaus bestärkt den Eindruck, dass die Show für die Kamera, d.h. nur für uns stattfindet. Der Ton ist durch das Saalmikrophon so verzerrt, dass keine Worte auszumachen sind, nicht einmal die gewählte Sprache ist identifizierbar; der Mangel an Blickkontakt zwischen den beiden Musikern erinnert an das Absurde Theater und dessen ästhetische Verarbeitung einer sozialen Katastrophenerfahrung. Während die zwei Entertainer ohne sich nur einmal anzusehen ausdruckslos vor sich hinspielen, spricht eine Stimme im Off: „Im Goldenen Zeitalter leben Mann und Frau in Harmonie. Jetzt zum Beispiel erscheinen sie vor der Linse der Kamera, den Tod im Auge, ein Lächeln auf der Stirn, die Hand im Spiel.“ Auch diese Performance (betont noch durch eine statische Kamera) erscheint durch dreimalige Wiederholung des selben undefinierbaren Liedes wie aus der Zeit gehoben – als ob sich die leere Wüste im Leben der Menschen widerspiegeln wollte. Im Endspiel, das Beckett selbst 1967 in Berlin inszenierte, spricht Hamm zu Clov: „Wenn ein vernunftbegabtes Wesen auf die Erde zurückkehrte und uns lange genug beobachtete, würde es sich dann nicht Gedanken über uns machen? (Mit der Stimme des vernunftbegabten Wesens:) Ah, ja, jetzt verstehe ich, was es ist, ja, jetzt begreife ich, was sie machen!“23 Dieser Blick von außerhalb auf die Welt nimmt die science-fiction-Perspektive vorweg, die Fata Morgana ursprünglich zugrunde lag. Aus dieser planetarischen Sicht erscheinen die menschlichen Tätigkeiten sinnlos und nur noch durch das Filter der Ironie tolerierbar. Diese ironische Verneinung von prinzipieller Sinnhaftigkeit kann auch nicht durch die Konstruktion eines dahinterliegenden Sinnes aufgehoben werden – weder bei Beckett noch bei Herzog. Je weiter Fata Morgana fortschreitet, desto nötiger wird es, sich mit der intendierten Evakuierung des kausalen Sinns abzufinden.24 Im letzten Kapitel des Films kommen zunehmend beschädigte Menschen zu Wort – meist gestrandete, leicht verrückte deutsche Exzentriker, die sich vor der Kamera selbst darstellen: ein unter der großen Hitze leidender Berliner, der einen pseudowissenschaftlichen Vortrag über Warane halt, für deren Erforschung er noch „16 Jahre seines Lebens“ opfern will (obwohl ihn gerade einer dieser Warane in den Finger gebissen hat); ein Schweizer mit Taucheranzug und

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Schwimmflossen, der am Rande eines Swimming Pools den Verdauungsvorgang von Schildkröten erklärt und ihnen dann selbst ins Wasser nachspringt; ein geistig beschränkter Gastarbeiter, der einen alten Brief vorliest, in dem er gefragt wird, wie es ihm ginge; eine Touristengruppe, die albern gestikulierend aus tiefen Gräben herauszuklimmen versucht. All diese nicht kausal zusammenhängenden Episoden verdichten sich zu einer Freakshow des postapokalyptischen Lebens. Die Natur – Warane, Wasserschildkröten, Wüstenlandschaft – ist durch die reine Existenz der Menschen gestört. Dazwischen Kamerafahrten, die der zerstörten Landschaft neue Bilder abringen und Flugaufnahmen, die sich über die menschlichen Absurditäten erheben und sie aus großer Höhe vergessen lassen. Abstraktion und Konkretheit entsprechen in dem Film dem Wechsel von Phantasmagorie und Parodie. Anders als Grzimek glaubt Herzog nicht an einen Ort des Paradieses (wenn auch nur für Tiere), schon gar nicht an einen Ort, der vor der Zivilisation bewahrt und eingezäumt werden müsste. Für Herzog ist das Paradies bereits zerstört, es gibt keine Idylle, selbst die Wüste, der archaische Ort, ist mit Zivilisationsmüll übersät. Es gibt noch Spuren des Paradieses, wie es in einer Szene heißt, aber im Prinzip verweisen diese Spuren nur umso deutlicher auf die bereits stattgefundene Katastrophe, von der dieser Film eigentlich handelt. „Bewußtsein schickt sich an“, schreibt Adorno in seinem Versuch, das Endspiel zu verstehen, „dem eigenen Untergang ins Auge zu sehen, als wollte es ihn überleben wie die beiden [Hamm und Clov] ihren Weltuntergang.“25 In diesem Sinne beobachtet Herzogs nomadisches Kino den eigenen Untergang als Spektakel, zugleich kosmisch und komisch. Gleichzeitig aber stellt Herzog mittels des technischen Filmmediums selbst eine Alternative zu der vernichteten Welt vor, indem er durch den Film Zugang zu einer Ursprache des Bildlichen sucht. Es scheint, als ob Herzog mit Fata Morgana (und eigentlich in seinem gesamten Werk) das Medium selbst neu erfinden wollte – ganz im Sinne, wie Sergei Eisenstein in den frühen 1920er Jahren das revolutionäre sowjetische Kino als Ort mit unvorstellbaren Möglichkeiten darstellte: „We came like Bedouins or goldseekers to a place with unimaginably great possibilities“.26 Dieses Bild von Filmemachern als nomadische Beduinen in der Wüste stand für die utopische Freiheit, die nicht von Traditionen und Konventionen eingeengt war, die sich schwerelos in die Lüfte heben, die Körperlichkeit überwinden und die Raum- und Zeitgebundenheit transzendieren und genau dadurch die Nicht-Lokalisierbarkeit des Paradieses simulieren konnte. Selbst

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der voice-over-Kommentar stimmt in diese Dynamik der Schlussbilder ein: „Ohnegleichen ist der Friede im Goldenen Zeitalter. Der Krieg ist vom Frieden totgesagt […]. Das Land ist von Sinnen vor Frieden.“ Die defizitäre Wirklichkeit wird im Film durch die Fülle von Bild und Musik kompensiert. Das Paradies, das es ohnehin nie gab, konnte neu imaginiert werden, virtuell, im medialen Raum und speziell im Film, der Bilder zeigt, die an einen ursprünglichen, vorsprachlichen Zustand erinnern. Dieser Zustand ist allerdings, wie Herzogs Film zeigt, eine Fata Morgana, eine Spiegelung und optische Täuschung von etwas, das zwar sichtbar, aber nicht in Wirklichkeit vorhanden ist, genau wie die Bilder in einem Film.

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Herzog, Werner. Fata Morgana. DVD-Edition – Documentaries and Shorts 2/6. München, 2006. Alle Zitate aus dem Film folgen dieser DVD-Fassung. Eine Textliste findet sich in Herzog, Werner. Drehbücher I. München, 2007, 193-202. Beckett, Samuel. Endspiel. Fin de partie. Endgame. Übs. v. Elmar Tophoven. Frankfurt a. M., 1974, S. 49. Rekurriert wird auf das Kapitel „Zentralpark“ in: Benjamin, Walter. „Charles Baudelaire. Ein Lyriker des Hochkapitalismus“. Gesammelte Schriften I.2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. 3. Aufl. Frankfurt a. M., 1990. 655-690, S. 683. Das französische Absurde Theater, besonders Samuel Becketts Warten auf Godot (1953) und Endspiel (1956) fand in Deutschland von Mitte der 1950er bis in die 1970er Jahre große Resonanz. Vgl. Zipes, Jack. „Beckett in Germany/Germany in Beckett“. New German Critique 26 (1982): 151-158. Vgl. Sitney, P. Adams. Visionary Film: the American Avant-garde. New York, 1974, S. 121-154. Zur begeisterten Rezeption von Fata Morgana bei der amerikanischen Avantgarde, vgl.: Vogel, Amos. „In Paradise Man is Born Dead“. Village Voice (Nov. 1971): 88; Vogel, Amos. „On Seeing a Mirage“. Film Comment 17.1 (1981): 76-78. Vogel nennt den Film einen „interior travelogue“. In einem Interview mit Kraft Wetzel spricht Herzog über den religiösen Subtext von Fata Morgana: „Es ist auch eine religiöse Wut drin in dem Film. Das ist biographisch für mich auch ganz klar zurückverfolgbar, eben diese ganz stark religiöse Phase, die ich hatte, mit Konvertierung zum Katholizismus, und einer radikalen Gottesfeindlichkeit hinterher […]. Diese Wut über den Unsinn des Weltalls, über diese Fehler, die von Haus aus eingepflanzten Unzugänglichkeiten, die steckt da natürlich mit drin.“ Wentzel, Kraft. „Inter-

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view mit Werner Herzog“. Herzog, Kluge, Straub. Hg. v. Peter W. Jansen u. Wolfram Schütte. München, Wien, 1976. 113-130, S. 125. Vgl. die Kritik an Herzogs Religion als „neoromantischer Regression“ in: Koch, Gertrud. „Blindheit als Innenansicht. Visionen vom Unsichtbaren in Werner Herzogs Film ‚Land des Schweigens und der Dunkelheit‘“. Frauen und Film 46 (1989): 21-33, S. 24. Vgl. dazu auch die anthropologische Lektüre von Herzogs Filmen bei: Carré, Valérie. La quête anthropologique de Werner Herzog: Documentaires et fictions en regard. Strassbourg, 2007. Herzog kommt wiederholt auf das Motiv des außerplanetarischen Besuchers zurück, z.B. in Lektionen in Finsternis und vor allem in The Wild Blue Yonder, Herzogs expliziten science-fiction-Film von 2005. Das genaue Verhältnis zwischen den Filmen eines Stan Brakhage und Herzogs frühen Filmen bedarf noch weiterer Erforschung. Bill Violas The Passing (1991) zum Bespiel wurde (gemäß eines Gesprächs mit dem Autor) von Fata Morgana inspiriert. In The Passing kombiniert Viola Bilder von einer Fahrt durch die kalifornische Wüste mit dokumentarischen Aufnahmen seiner sterbenden Mutter und surrealen Traumbildern zu einer filmischen Meditation über den Tod. Auf den ersten Blick ist Violas Film persönlicher als Herzogs Film, nicht ironisch gebrochen. Weitere Forschung müsste auch die Beziehungen zwischen Pasolini und Herzog verfolgen. Wie lässt es sich erklären, dass sich auf der Arthaus-DVDEdition von Pasolinis Das 1. Evangelium-Matthäus (1967) Herzogs erster Film Lebenszeichen als „Extra“ befindet? Auch Herzogs Verhältnis zu Luis Buñuels surrealistischem Dokumentarfilm Las Hurdes (1933) verdient weitere Beachtung. Vgl. dazu die vernichtende Kritik in: Adams, Jonathan S. u. McShane, Thomas O. The Myth of Wild Africa: Conservation without Illusion. New York, 1992. Inwieweit Grzimek, der auch eine führende Position als Tierarzt im Nationalsozialismus innehatte, ein Vorläufer der grünen Umweltschutzbewegung in Deutschland war, ist ein aktuelles Thema. Vgl. Torma, Franziska. Eine Naturschutzkampagne in der Ära Adenauer. Bernhard Grzimeks Afrikafilme in den Medien der 50er Jahre. München, 2004. Vgl. auch: Flitner, Michael. „Vom ‚Platz an der Sonne‘ zum ‚Platz für Tiere‘“. Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik. Hg. v. dems. Frankfurt a. M., 2000; Hediger, Vinzens. „Das Tier auf unserer Seite. Zur Politik des Filmtiers am Beispiel von ‚Serengeti darf nicht sterben‘“. Politische Zoologie. Hg. v. Anne von der Heiden u. Joseph Vogl. Berlin, 2007, S. 286-301. Werner Herzog in: Pflaum, Hans Günther. „Interview“. Werner Herzog. München, 1979. 59-86, S. 68. Werner Herzog in: „Kommentierte Filmografie“. Herzog, Kluge, Straub. Hg. v. Peter W. Jansen u. Wolfram Schütte. München, Wien, 1976. 86-112, S. 95. Herzog, Werner. „Rebellen in Amerika. Zu Filmen des New American Cinema“. Filmstudio 43 (1964): 55-60, S. 57. Brakhage, Stan. „Metaphors on Vision“. Film Culture 30 (1963), 12-23, 12.

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Werner Herzog in: „Blasphemy and Mirages“. Herzog on Herzog. Hg. v. Paul Cronin. London, 2002. 32-64, S. 48: „This opening scene sorts out the audiences; it is a kind of test.“ Lotte Eisners Klassiker L’écran démoniaque von 1952 erschien 1955 unter dem Titel Die dämonische Leinwand auf Deutsch. Zu Herzogs Verhältnis zu Eisner, siehe auch seinen autobiographischen Wanderbericht: Herzog, Werner. Vom Gehen im Eis. München, Paris, 23.11. bis 14.12.1974. München, 1974. Couperins „Leçons de ténèbres“ liefert den Titel für Herzogs experimentellen Dokumentarfilm von 1992, Lektionen in Finsternis, den man als Sequel zu Fata Morgana sehen könnte. Adorno, Theodor W. Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften 7. Frankfurt a. M., 1970, S.111, 113. Hoffmann, Heinrich. Der Struwwelpeter oder Lustige Geschichten und drollige Bilder. Frankfurt a. M., 1876, S. 24. Vorbilder sind hier Isabelle Eberhardt, die russisch-schweizerische Reiseschriftstellerin, die sich um die Jahrhundertwende in die nordafrikanische Wüste zurückzog, zum Islam konvertierte und allein mit einem Pferd die Sahara durchquerte (und zwar in der typischen Kleidung der männlichen Beduinen) oder T. E. Lawrence, bekannt als Lawrence von Arabien, ein britischer Geheimagent und Schriftsteller, der als Student wochenlang zu Fuß durch die Wüstengegenden von Syrien und Palästina wanderte und bald zum führenden Feldherrn im arabischen Unabhängigkeitskampf gegen das Osmanische Reich avancierte. David Leans 3,5-stündiges KinoEpos Lawrence von Arabien wurde 1962 mit sieben Oskars ausgezeichnet und lief 1963 auch in Deutschland. Vgl. Lindemann, Uwe. Die Wüste. Terra Incognita, Erlebnis, Symbol. Eine Genealogie der Abendländischen Wüstenvorstellung. Heidelberg, 2000; Lindemann, Uwe u. Schmitz-Emans, Monika (Hg.) Was ist eine Wüste? Interdisziplinäre Annäherungen an einen interkulturellen Topos. Würzburg, 2000. Baudrillard, Jean. America. London, 1988, S. 5. Beckett (Anm. 2), S. 49. Die Frage nach dem Status der Ironie in Herzogs Dokumentarfilmen hat die Filmwissenschaft seit seinen ersten Filmen beschäftigt. Vgl. Lloyd, Peter. „Objectivity as Irony: Werner Herzog’s ‚Fata Morgana‘“. Monogram 5 (1974): 8-9. Siehe auch: Ames, Eric. „Herzog, Landscape, and Documentary“. Cinema Journal 48 (2009): 58-61. Adorno, Theodor W. Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften 11. Frankfurt a. M., 1974, S. 321. Eisenstein, Sergei. Film Form: Essays in Film Theory. New York, 1949, S. 3.

Eldorado: Mythos, Tapete und Video Topologien einer Projektion Kristin Marek ‚Eldorado‘, noch heute verbinden wir damit das sagenumwobene Goldland, das seit der Zeit um 1500 die spanischen Konquistadoren Südamerikas so sehr fesselte, dass die Suche nach ihm zur Obsession wurde; der Traum vom unendlichen Reichtum im Paradies der ‚Neuen Welt‘ sollte Wirklichkeit werden. Eldorado, so nannte später der französische Tapetenfabrikant Zuber eines seiner aufwendigsten und exklusivsten Stücke, eine im Jahr 1849 entstandene, 24 Bahnen umfassende Panoramatapete, auf der vier Erdteile (Afrika, Amerika, Europa, Asien) zu sehen sind (Abb. 1). Und schließlich lautet El Dorado auch der Titel einer Werkreihe der Künstlerin Danica Dakić, die 2007 auf der Documenta 12 in Kassel zu sehen war (Abb. 2). Ihr Kernstück ist ein Video; es zeigt Jugendliche, die in Deutschland Asyl suchen, vor der Eldorado-Tapete und anderen im Deutschen Tapetenmuseum in Kassel ausgestellten Stücken in einer Performance. Während der Dreharbeiten befanden sich ihre Asylanträge noch in Bearbeitung, ohne Abschätzbarkeit der Verfahrensausgänge. Was die Jugendlichen jeweils dazu motivierte, in Deutschland Asyl zu beantragen, sind zwar sehr unterschiedliche Schicksale und Lebensumstände, doch die gemeinsame Vorstellung von einem neuen Leben in einer neuen Welt, dem modernen Eldorado, eint sie. Die einstmals von Europäern auf ferne, fremde Gegenden und Länder projizierten Vorstellungen werden nun zurückgespiegelt. Europa ist die neue ‚Neue Welt‘, steht für das Versprechen eines befriedeten, paradiesischen Lebens in Sicherheit, Wohlstand und Freiheit. Doch wie geht man mit den Kindern des Paradieses um, die plötzlich an die eigene Haustür klopfen? Dakić wählt mit dem Tapetenmuseum ein geschichtsträchtiges und anspielungsreiches Setting, das die verschiedenen Projektionen und ihre Topologien raffiniert miteinander verschränkt und konfrontiert, um sie schließlich in der Videoprojektion selbst wieder zu spiegeln und einmal mehr Bild werden zu lassen. Dabei werden vor allem zwei historische Linien zusammengeführt, die umkodiert und unterlaufen zur neuen Idee von Eldorado werden: zum einen die histori-

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sche Legende und zum anderen die Topologie, Blickstruktur und Subjektkonstitution der Panoramatapete, oder anders formuliert, die Blickregime der narrativen und der visuellen Projektion.

Abb. 1: Panoramatapete „Eldorado“, Handdruck von J. Zuber 1848 (Ausschnitt)

Abb. 2: Danica Dakić: El Dorado. Gießbergstraße, C-Print, 2006-2007

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I. Die Legende von Eldorado Wörtlich übersetzt bedeutet el dorado ‚der Goldene‘ oder ‚der vergoldete Mann‘. Er entstammt einer indianischen Legende Südamerikas, die von einem König berichtet, zu dessen Inthronisationszeremonie es gehörte, ihn vollkommen mit Gold zu bestäuben und zugleich einen nicht unbeachtlichen Goldschatz in einem See zu versenken.1 Die spanischen Eroberer kamen mit der Legende bald nach ihrer Landung auf der kolumbianischen Halbinsel Guajira im Jahr 1499 in Berührung. Die Werkstatt des Frankfurter Kupferstechers Theodore de Bry – calvinistischer Europäer, der Südamerika selbst nie betreten hat – lässt genau 100 Jahre später die Vorstellung vom vergoldeten Mann materielles Bild werden (Abb. 3). Ein Stich aus dem achten Teil der Grands Voyages, einer 11 Bände umfassenden, zwischen 1590 und 1620 publizierten Edition, zeigt, wie ein Helfer den König mit Harz als Klebstoff bestreicht, während ein anderer damit beschäftigt ist, ihn mit Gold zu bepudern.2 Diese Darstellung unterliegt einer europäischen Ästhetik, steht doch der König in klassischem Kontrapost und entsprechen Körperbau und Physiognomien europäischen Vorbildern und Maßstäben. Die Vorstellung eines schier unendlichen Goldschatzes wurde zur fixen Idee, die sich mehr als 300 Jahre halten sollte und nicht nur unzähligen spanischen Soldaten das Leben, sondern vor allem den Muiska-Indianern Freiheit, Kultur und Leben kostete. Die Gegend, in der man den sagenumwobenen Schatz schließlich vermutete, liegt heute im Staatsgebiet von Kolumbien, in der Nähe Bogotás, einer bergigen Hochlandregion, eben dem ehemaligen Stammesgebiet der Muiska. Dort liegt auch der Guatavita-See, der bald mit jenem See identifiziert wurde, dessen Grund man voller Gold ver-

Abb. 3: Der goldene Mann, Historia Americae, Frankfurt 1599

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mutete und auf den sich die Suche schließlich konzentrierte. Eine der ersten Zeichnungen des Sees veröffentlichten Alexander von Humboldt und der Botaniker Aimé Bonpland in den zwischen 1810 und 1813 erschienenen Vue des Cordillères et Monuments des Peuples Indigènes de l’Amérique. Humboldt kommentiert dieses Bild darin wie folgt: Dieser See liegt im Norden der Stadt Santa Fe de Bogotá in einer absoluten Höhe von über vierzehnhundert Toisen auf dem Rücken der Berge von Zipaquirá, an einem wilden einsamen Ort. Auf der Zeichnung sieht man die Überreste einer Treppe, die der Zeremonie der Waschungen diente, sowie Einschnitte in die Berge. Kurz nach der Eroberung hatte man versucht, diese Bresche zu schlagen, um den See trockenzulegen und die Schätze zu bergen, welche der Überlieferung zufolge die Eingeborenen darin versteckt hatten, als Quesada mit seiner Kavallerie auf dem Plateau von Neu-Granada anrückte.3

Die Opfergaben erscheinen hier bar ihres rituellen Kontextes allein als materieller Wert des zu versteckenden Schatzes. Doch rufen selbst noch Fotografien aus den späten 1970er Jahren eine ganze Palette der mit diesem utopischen Ort verbundenen paradiesische Topoi auf: Naturwunder, Regenbogen, unberührte Natur, kräftige, schillernde Farben, Einsamkeit, friedliche Stille usw. Den Schatz zu bergen machten sich im 16. Jahrhundert unzählige spanische Expeditionen auf. Die Werkstatt de Bry verortete 1599 in der Historica Americae nicht nur den goldenen Häuptling, sondern auch eine sagenumwobene Stadt namens Dorado nordöstlich des großen Sees, damals noch Giuana genannt: „Manoa oder Dorado, dise wird geacht fur di größte Stadt in der ganzen Welt“.4 Das Größte meint hier auch gleich das Reichste – wo viel Größe ist, ist sicher auch viel Gold. Die Stadt und der Goldschatz El Dorados existierten aber nur in der Phantasie. V. S. Naipaul beschreibt in den 1960er Jahren das Wandern der phantasmatischen Imaginationen, die Tragik und Logik dieser kolonialistischen Suche in seinem (autobiographischen) Roman Abschied von Eldorado: Die Spanier jagten einer indianischen Erinnerung nach, und diese Erinnerung vermischte sich mit der unter den Urwaldindianern kursierenden Legende über Peru, das die Spanier bereits erobert hatten. Alle Indianer erzählten von einem reichen, zivilisierten Volk, das nur wenige Tagesmärsche entfernt lebte. Mitunter tauchten kunstvoll gearbeitete Stücke aus Gold auf, einmal entdeckte man im Dschungel einen Sonnentempel und ein andermal kehrte ein verrückt gewordener Entdecker zurück und erzählte von einer riesigen Stadt mit langen, geraden Straßen und Tempeln voller goldener Statuen.

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Nach Mexiko, Peru und Neugranada war alles möglich. Auch nach fünfzig Jahren und unzähligen Katastrophen veranstalteten rivalisierende Konquistadoren immer noch wahre Wettrennen nach Spanien, um als Erste die Erlaubnis zur Erforschung einer neuen, viel versprechenden Region einzuholen. [...] Von all diesen Fahrten ist wenig geblieben. Ein Konquistador, der nichts fand, hatte nichts zu berichten. […] [Eldorado aber,] das zunächst nur die Suche nach Gold verkörpert hatte, wurde zu etwas Größerem, zum Wunschbild, zum Traum von Shangrila, der heilen Welt. Diese heile Welt hatte tatsächlich existiert, und die Spanier hatten sie zerstört. Und nun, von einem Gefühl des Verlustes erfüllt, das ihre Fantasie noch beflügelte, wollten sich die Spanier das Abenteuer zurückholen. Ihre Fehlschläge bereicherten den Mythos noch. Er trug die Spanier über die Realität ihres Lebens in die Wildnis hinaus; er narrte ihre darbenden Sinne.5

Das Gold, das man bei den Muiska-Indianern fand und das als Beleg für den zu erwartenden Schatzfund gewertet wurde, war in Wahrheit von den peruanischen Inkas importiert worden, wo ergiebige Goldminen lagen und das Edelmetall in größeren Mengen verarbeitet wurde. Was davon heute noch erhalten ist, sind vermutlich haupt-

Abb. 4: Muiska-Tunjo: Zeremonie von El Dorado, gegossenes Gold

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sächlich Grabbeigaben wie Schmuck, Gefäße und Votivgaben. Ein kunstvolles Muiska-Tunjo, wahrscheinlich eine solche Votivgabe, stellt die Zeremonie des El Dorado dar (Abb. 4). Es ist kaum 20 cm lang, besteht aus reinem, gegossenem und fein verarbeitetem Gold und zeigt neben dem thronenden König mehrere Figuren auf einer Art Floß.6 Von Kunstwerken solcher Art ist heute wenig erhalten. Sie wurden in der Regel eingeschmolzen, weil sie den Eroberern weder als Kunst noch als wissenschaftlich interessante Objekte galten und damit der ästhetische oder historische Wert gegenüber dem Materialwert des reinen Goldes keine Rolle spielte. Er durfte das auch nicht, denn die Artefakte und Bilder eines Volkes, dem man weder Menschenrechte noch eine Geschichte zuerkannte und das man versklaven wollte, konnten ja kaum den eigenen Kulturleistungen gleichgesetzt werden.7 Von Albrecht Dürer hingegen, der südamerikanische Kunstwerke aus Mexiko kannte, also wahrscheinlich auch solche von den Inkas oder den Azteken, ist der anerkennende Satz überliefert: „Ich habe in meinem ganzen Leben nichts gesehen, was mein Herz so erfreute wie diese Dinge. Denn ich sah dabei erstaunliche künstlerische Gegenstände, und ich wunderte mich über die feine Erfindungsgabe der Menschen in diesen entfernten Ländern.“8 Für Dürer sind die besonderen ästhetischen und künstlerischen Qualitäten dieser fremden Dinge, die zwar unabhängig vom europäischen Kunstdiskurs entstanden sind, aber offensichtlich doch seinen Ansprüchen Genüge zu tun vermögen, ganz unzweifelhaft.

II. Panoramatapete – Blickregime im Paradies Entfernte, fremde Länder und exotische Landstriche waren in europäischen Imaginationen immer präsent. In einzigartiger Weise populär wurden sie jedoch Anfang des 19. Jahrhunderts, als – für eine relativ kurze Zeit – die so genannte Panoramatapete in Mode kam.9 Die Tapete ist innerhalb der Kunstgeschichte noch kaum beachtet und noch weniger ist es die Panoramatapete.10 Wände mit (zunächst wohl gewebten oder gewirkten) Behängen zu bekleiden und zu dekorieren, ist wahrscheinlich so alt wie die Geschichte des Lebens in Räumen oder eben des Wohnungsbaus und vielleicht schon seit dem Bewohnen von Höhlen, spätestens aber seit dem Leben in mobilen Wohneinheiten, also Zelten, üblich.11 Von Wandmalereien in Wohnräumen, die Landschaften zeigen, wissen wir aus der Antike und von frühesten Innenraumbemalungen

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sogar schon aus der Zeit des Neuen Reichs in Ägypten.12 Dort handelt es sich allerdings durchwegs um Bemalungen von Grabwänden, die – wie nicht anders zu vermuten – viele Garten-, Landschafts- und vor allem Paradiesmotive zeigen. Schließlich ist der Paradiesgarten aber auch eines der ältesten Motive des Teppichs und damit des Wandbehangs. Beim Blick im Innen auf ein Außen, das paradiesische Natur ist, handelt es sich also sicher um eine anthropologische Konstante, wobei damit noch nichts über die Bedeutung, den Inhalt und die Konstruktion dieses Blicks ausgesagt ist.13 Technisch-medial ist die Tapete mit der Sakralkunst des Mittelalters verbunden, den so genannten Dominos, mit biblischen Szenen oder christlichen Motiven bemalten und bedruckten Papieren, die man direkt auf die Wand klebte (Abb. 5).14 Spätestens im 17. Jahrhundert hatte sich daraus das entwickelt, was wir heute eigentlich noch unter Tapeten verstehen, damals so genannte papiers de tapisserie, Papiertapeten, deren Rapport sich unendlich zusammensetzen ließ und die bald bahnenweise gehandelt wurden.15 Illustrationen zu einem Artikel über Tapetenherstellung und -verwendung um 1760 zeigen das sehr schön (Abb. 6). Der Rapport unterscheidet die Tapete von Wandbehang

Abb. 5: Dominopapier, Frankreich, 14. Jh., Innenauskleidung eines Kastens

Abb. 6: Anbringung von bedruckten Papierbogen an der Wand, Felderteilung mit Bordüren usw.

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und Wandbemalung im herkömmlichen Sinn, denn er erlaubt theoretisch die unendliche Aneinanderreihung des Musters und ist allein darum schon eine ‚Technik‘ des Paradieses, das als solches immer ein unendliches sein muss. Zu diesen beiden Genealogien kommt bei der Panoramatapete, wie ihr Name schon sagt, eine dritte hinzu: die des Panoramas.16 Als Erfindung des 18. Jahrhunderts gehört es zu jenen konditionierenden BildTechniken des Betrachtens, die im Anschluss Michel Foucault und Jonathan Crary zum Projekt der Disziplinierung des modernen Subjekts zu zählen sind.17 Es ist eine augenscheinliche Koinzidenz, dass die patentierte Erfindung des Panoramas durch Robert Baker mit dem Projekt des Panoptikums von Jeremy Bentham in das gleiche Jahr fallen (1787). „Das Panoptikum war ein zylindrischer [Gefängnis-]Bau mit vier oder sechs Geschoßen, in dessen Mitte sich ein Turm befand“18, von wo aus in alle Zellen des ringförmigen Außenbaus gesehen werden konnte, die durch je ein Fenster zur Außen- und zur Innenseite hell er- oder besser durchleuchtet waren. Der bewusste und permanente Sichtbarkeitszustand des Gefangenen hat unabhängig von der tatsächlichen Überwachung, dem aktuellen Blick des Wärters, die dauerhafte Verinnerlichung dieses kontrollierenden Blicks und damit die Internalisierung und Inkorporation der Machtverhältnisse zur Folge. Die Hauptwirkung des Panopticon, so Foucault, sei die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt. Die Wirkung der Überwachung ist permanent, auch wenn die Durchführung sporadisch ist; die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen; der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen kann, welches vom Machtausübenden unabhängig ist; die Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen. [...] Zu diesem Zweck hat Bentham das Prinzip aufgestellt, daß die Macht sichtbar, aber uneinsehbar sein muß. [...] Das Panopticon ist eine wundersame Maschine, die aus den verschiedensten Begehrungen gleichförmige Machtwirkungen erzielt. Eine wirkliche Unterwerfung geht mechanisch aus einer fiktiven Beziehung hervor, so daß man auf Gewaltmittel verzichten kann [...]. Bentham wunderte sich selbst darüber, daß die panoptischen Einrichtungen so zwanglos sein können. 19

Im Panorama hingegen nimmt der Besucher die Rolle des zentralen Beobachters mit souveränem Blick ein. Er betritt das Gebäude durch einen unterirdischen, verdunkelten Gang, der ihn auf eine niedrig überdachte Plattform, genau in der Mitte des kreisrunden Panoramabildes führt.

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Von dort hat er freien Rundumblick auf die ihn umgebende, erleuchtete Panoramalandschaft, in die er eingetaucht zu sein meint.20

Abb. 7: Englische 6-Farben-Druckmaschine, um 1868

Abb. 8: Danica Dakić: El Dorado. Gießbergstraße, 2006/2007, Installationsansicht Schloss Wilhelmshöhe, Kassel

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Panoptikum und Panorama, Im-Bild-Sein durch Beobachtung und ImBild-Sein durch beobachtet werden – zwei Seiten derselben Medaille – sind von der Form des Zylinders, Sinnbild des Immersiven, bestimmt, der als ein technisches Paradigma des 19. Jahrhunderts gelten kann und neben den Medientechniken des Visuellen vor allem auch die Maschinentechnik revolutioniert. Auch die Walze der Tapetendruckmaschine, wie sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet wird, ist zylindrisch (Abb. 7) – auch das Video von Dacić zeigt zu Beginn eine rotierende Druckwalze (Abb. 8). Zwar hat der mit einer Panoramatapete ausgestattete Innenraum wohl nie die reine panoramatische, zylindrische Form angenommen, doch ist auch für ihn der Zylinder die Idealform, in der sich die Allsicht des Panoramablicks vollendet. Der ovale Gartensaal21 eines Patrizierhauses im westfälischen Warendorf mit der Panoramatapete Les Incas (Manufacture Dufur, Paris, um 1818) kommt dem allerdings schon sehr nahe (Abb. 9). Sehr oft war das ‚Tapetenzimmer‘, wie es meist genannt wurde, für gewöhnlich verschlossen, es öffnete sich nur bei besonderen Anlässen der Familie und ihren Gästen. Die Bildtapete bedeckte alle Wände eines Raumes, meist kam noch ein handgedruckter Sockel hinzu. Die Möblierung beschränkte sich dadurch auf die notwendigen Sitzgelegenheiten

Abb. 9: Panoramatapete „Les incas“ in einem Patrizierhaus im westfälischen Warendorf, um 1818

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und Tische. Man konnte zusammenrücken oder Sitzgruppen bilden und derart erfüllte der Raum am ehesten seine Aufgabe als Treffpunkt der Geselligkeit,

beschreibt Heinrich Olligs die Verwendung der Panoramatapete.22 Durch die Ausstattung eines zwar in der Regel rechteckigen Raumes mit einer Panoramatapete entsteht strukturell immer eine panoptische Situation, in der die zylindrische Konstellation des Sehens mitschwingt. Die panoramatische Bildtapete scheint darum nicht zufällig gleichzeitig mit dem Panorama und dem Panoptikum im frühen 19. Jahrhundert Konjunktur zu haben; nebenbei bemerkt, handelt es sich bei allen dreien nicht allein um Bild-, sondern vor allem auch um architektonische Formen, um umbauten (Illusions-)Raum. Zwar knüpfen die Panoramatapeten, wie Thümmler feststellt, an die Garten- und Landschaftszimmer des 18. Jahrhunderts an und können wie diese als „Ausdruck der zu jener Zeit verstärkten Hinwendung zur Landschaft im Sinne der Rousseauschen Forderung ‚Zurück zur Natur‘ interpretiert werden.“ 23 Auch wenn der Begriff ‚papier peint panoramique‘ erst im 20. Jahrhundert geprägt wurde,24 so ist die Bildtapete doch Ausdruck der Erscheinungen und Techniken des Visuellen um 1800, von dessen Phänomen und erkenntnistheoretischen Folgen sie nicht isoliert betrachtet werden kann. Für die heutigen Bewohner/innen eines White-Cube-Appartements erscheint ein Panoramazimmer als geradezu anti-architektonische Geste. Weniger, um die Wände als Wände zu markieren, wie es die ornamentalen Wanddekoration täte, konterkariert sie die Funktion der Wand als abschirmendes, trennendes und den Außenblick verweigerndes Element. Gemeinsames Thema der Panoramatapete sind bühnenartige Landschaften mit tief liegendem, sich weit öffnendem Horizont, der den Blick frei gibt auf einen potentiell unendlich angelegten bildlichen Illusionsraum.25 Bis auf die Schlachtenbilder – höchst bemerkenswerte Ausnahmen – zeigen sie durchgehend idyllische, arkadische Garten- und Landschaftsmotive, elegische Ideallandschaften in der Tradition des Landschaftsgartens und der im 18. Jahrhundert beliebten Gartenzimmer, geprägt vom Rousseauschen ‚Zurück zur Natur‘, von exotischen Utopien und kolonialistischen Überlegenheitsphantasien wie von absolutistischen Allsichtigkeitsphantasmen: die Welt in einem Blick, im Blick des Souveräns.26 Damit unterscheidet sich ihre Thematik nicht wesentlich von derjenigen der Panoramen.27 Was geschieht nun, wenn privater Innenraum und Panorama zusammenfallen? In dieser Konstellation von Betrachter

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und Bild findet sich, was sich nach Peter Sloterdijk der Erzählung und exotischen Utopie von Daniel Defoes Robinson Crusoe entnehmen lässt (die zeitgleich mit der Panoramatapete verbreitet war), nämlich eine „Formel für das Verhältnis von Ich und Welt im Zeitalter europäischer Weltnahme“28. Welt und Insel stehen demnach in dialektischem, geradezu antithetischem Verhältnis zueinander. Robinsons Insel gibt das paradigmatische Bild der ‚beseelten Binnenwelt‘, dem Sein in einem imaginären, abgeschlossenen Weltextrakt. Was für die Insel das Meer, sind für den Innenraum die vier Wände: rahmende Elemente mit vereinzelnder Wirkung, Isolatoren, die Welt bilden, indem sie Welt ausgrenzen.29 Die Panoramatapete ist unter dieser Perspektive eine Technik der ‚Inselerzeugung‘, eine Unterbrechungstechnik, die das private Recht auf Isolierung vollzieht, das Wohnen als Rückzug von der Wirklichkeit. Mit der Panoramatapete wandelt sich die bildliche Überwachungs- und Allsichtigkeitstechnik von Panoptikum und Panorama zur Abschirmungstechnik des Privaten. Dem absoluten Abschirmungsanspruch entspricht die berüchtigte Tapetentür, die eine unsichtbare, geheime sein muss und im Gegensatz zur Tür als architektonischem Element kein transitives Moment des Innenraums sein darf.30 Die mit Panoramen überzogenen Wände schirmen aber nicht nur ab, sondern geben den Blick auf neue Welten frei. Welche Welt dies sein soll, ist ganz der Wahl der Innenraumbewohner überlassen. Der Markt um 1800 hatte einiges zu bieten: vom revolutionären Geschehen, über idyllische Berglandschaften bis eben hin zu den paradiesischen Landstrichen Eldorados. Immer aber handelt es sich um Projektionen von Außenwelten, was der Abschirmungstheorie in gewissem Sinn zuwiderläuft; es ist eine Abschirmung mit Öffnung auf eine andere Umgebung: Abschirmung durch Panoramatapete heißt Erfahrung eines selbst gewählten Außen im Innen.31 Das Panoramatapetenzimmer holt eine ferne Welt ins Private, ist Medium der TeleVision, mediengeschichtlich eine frühe Form des ‚Fern-Sehens‘ im eigenen Wohnzimmer. Mit ihrer immersiven Wirkung, dem körperlichen Eintauchen in eine Bildwelt, gehört die Panoramatapete zur Gattung der Installationskunst. Sie verdrängt, ganz im Gegensatz zum gemusterten, ornamentalen Tapetenrapport, das Bildmedium des gerahmten Tafelbildes. Wenn Wand und Bild zusammenfallen, wenn Wand Bild wird, ist für andere Bilder kein Platz mehr. Schon auf der Ebene des Rapports, der ein potentiell unendliches Bild herstellt, markiert sich der kategoriale Gegensatz zum gerahmten Tafelbild und seinem definierten Bildraum. Das Format „si-

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chert die Kunst vor dem Zerfließen ins Endlose“, „ist die Abgrenzung des Schönen gegen den ganzen übrigen Raum“, es ist „nicht das Kunstwerk, aber eine Lebensbedingung desselben“32, notiert Jakob Burckhardt noch im Jahr 1886. Wenig später wird diese „inselhafte Stellung, deren das Kunstwerk gegenüber der Außenwelt“ bedürfe, von Georg Simmel wie folgt präzisiert: „Was der Rahmen dem Kunstwerk leistet,“ – hier ist mit Kunstwerk immer noch das gerahmte Tafelbild gemeint – „ist, daß er diese Doppelfunktion der Grenze symbolisiert und verstärkt. Er schließt alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die Distanz zu stellen, in der allein es ästhetisch genießbar wird.“33 Welcher Art ein Kunstbegriff beschaffen ist, der jedwede immersiven Bilder ausschließt, steht auf einem anderen Blatt. Die Bewohner des Panoramazimmers entscheiden sich gegen Distanznahme und für Illusion durch Immersion in die unendlichen Weiten seiner imaginären Landschaften. Wenn Simmel zudem dem Material Stoff gegenüber dem Holz die Eigenschaft der Distanzherstellung abspricht, führt er damit eine für den hiesigen Zusammenhang nicht uninteressante Materialhierarchie ein. „Der Endzweck des Rahmens beweist die Unzulässigkeit der hie und da auftauchenden Stoffrahmen: ein Stück Stoff wird als Stück eines viel weiter gehenden Stoffes empfunden, es hat keinen inneren Grund, daß das Muster gerade an dieser Stelle abgeschnitten wird, es weist von sich aus auf eine unbegrenzte Fortsetzung hin – der Stoffrahmen entbehrt deshalb des durch die Form gerechtfertigten Abschlusses und kann also nicht etwas anders abschließen.“34 Die papierenen Panoramatapeten vereinen unter dieser Perspektive Holz und Stoff zu einem eigentümlichen Hybrid. Papier wird aus Holz gewonnen und nimmt durch diese Verarbeitung doch eher die Erscheinung und Haptik von Stoff an, nach Simmel schon auf rein materieller Ebene einem zur Abgrenzung unfähigen Medium des Unendlichen. Die Eldorado-Tapete wurde von der noch heute bestehenden elsässischen Manufaktur Zuber im Jahr 1848 relativ spät, als die Mode der Panoramatapete ihren Scheitelpunkt bereits überschritten hatte, auf den Markt gebracht (und wird noch immer produziert).35 Das menschenleere Landschaftsbild zeigt keine südamerikanische Landschaft, weder das Hochland Bogotás mit dem Guatavita-See noch die Zeremonie des goldenen Königs, sondern gibt den Blick frei auf eine die vier Erdteile umschließende Landschaft, jeweils symbolisiert und markiert durch spezifische Architektur. In Zeiten von Revolutionen und panoptischen Überwachungstechniken taucht man im Privaten in ein Eldorado ein, das nun für den allgemeinen Topos der fernen, aber wunderbar friedlichen, paradiesischen Welt steht, wohlgeordnet

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in vier Erdteile, deren menschenleere Darstellung zu Eroberung und kindlich-phantastischer Inbesitznahme geradezu einlädt: „Es ist von Klang und Düften / Ein wunderbarer Ort, / Umrankt von stillen Klüften, / Wir alle spielten dort“36, dichtet Anfang des 19. Jahrhunderts sehnsuchtsvoll Joseph von Eichendorff. In Zubers Vorstellung von Eldorado wirkt aber auch die politische Tradition des englischen Gartens nach, der „im Spannungsfeld zwischen Arkadia und Utopia, zwischen der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies und dem Wunschbild einer wahrhaft humanen und liberalen Gesellschaft“37 steht. Seine frei wachsenden Pflanzen und Bäume galten schon seit dem 17. Jahrhundert als Sinnbild des modernen, freien Menschen und als politischer Gegenentwurf zu den zurechtgestutzten Höflingen, denen die beschnittenen Pflanzen der französischen Gärten entsprachen.38 In der häuslichen Reise um die Welt vermischt sich diese paradiesische, durchaus auch politische Utopie mit kolonialer Eroberungs- und Unterwerfungsphantasie europäischer Stadtbewohner.39

III. El Dorado, Gießbergstraße, 2006-2007 von Danica Dakić – homo sacer versus homo imaginans In dem 13,5-minütigen Video El Dorado, Gießbergstraße, 2006-2007 von Danica Dakić sind es nun gerade keine Europäer, sondern Flüchtlingskinder und Jugendliche aus aller Welt, die sich in den üppigen, dekorativen Bildwelten und Interieurs von Panoramatapeten bewegen. Die Mitwirkenden sind oder waren Bewohner des Kassler Hephata-Heims für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Am Anfang des Projekts standen Fragen der Künstlerin an die Kinder nach ihren persönlichen Imagologien, die sie als innere Bilder aus ihren fernen Heimaten mit nach Deutschland gebracht haben, nach ihren Vorstellungen, Wünschen, Träumen und auch danach, was sie können oder was sie gerne können möchten. Daraus entwickelten sich in monatelanger Zusammenarbeit eigene, kleine Choreographien, Bewegungen, Tanz, Haltungen und Gesten, die schließlich in von den Kindern selbst gewählten Orten des Tapetenmuseums aufgenommen wurden. Samuel, der Erzähler, wollte von seiner Geschichte berichten. Robel, der durch die Ausstellungsarchitekturen laufende Junge, ist tatsächlich ein Langstreckenläufer, und Tigiste, das schlafende Mädchen, wählte sich diese Pose im schützenden Halbrund eines Ausstellungsstücks (Abb. 10 a-c).

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Abb. 10 a-c: Danica Dakić: El Dorado. Gießbergstraße, Videostills, 2006-2007

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Die Documenta 12, auf deren Einladung hin die Arbeit entwickelt wurde, stand unter verschiedenen Leitmotiven, unter anderem auch dem des ‚bloßen Lebens‘, einem hinlänglich strapazierten Begriff, welcher der Geschichtsphilosophie Giorgio Agambens entnommen ist.40 Bei Agamben ist die paradigmatische Verkörperung des bloßen Lebens der so genannte homo sacer, eine Figur des römischen Rechts, die durch ihren absoluten Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft gekennzeichnet ist und deren moderne Derivate Agamben in den Flüchtlingen erkennt.41 Da die Abgrenzung des Innen notwenig zur Konstitution eines Außen führt, sind Innen und Außen immer aufeinander bezogen. Dieser so genannte ‚eingrenzende Ausschluss‘ ist für Agamben zentral, liegt in ihm doch das eigentliche Paradigma rechtsstaatlicher Praxis. Staatliche Macht konturiert sich eben gerade an ihren Rändern und wird in Figuren wie dem Flüchtling manifest. Auffanglager und innerstaatliche Schutzzone stehen sich demnach diametral und unvereinbar gegenüber und bedingen einander doch. Dabei liegt die Suggestionskraft der breit rezipierten Denkfigur Niels Werber zufolge gerade in ihrer Illustrierbarkeit begründet, denn der homo sacer ist eine äußerst anschauliche Denkfigur, die sich „immer und überall“ findet: Er sitzt gefesselt in der deportation class der Lufthansa oder mit geschorenem Haupt in einem exterritorialen Armeegefängnis auf Kuba, er bevölkert die Dritte Welt und vegetiert in den Außenbezirken der Großstädte dahin. Die Faszination des Begriffs mag daher rühren, daß jedermann das ‚nackte‘ Leben zu erblicken vermag, wo und wann er nur will. Agamben hat damit erreicht, was abstrakten und kargen Begriffswelten verwehrt geblieben ist: Illustrierbarkeit.42

Anstatt sich allerdings von diesen theoretischen Regimen verführen zu lassen, konfrontiert Dakić die hegemoniale – historisch betrachtet europäische – Blick- und Bildwelt der Panoramatapeten mit den Kindern, denen sie Raum und Bewegungsfreiheit, Stimme und Gehör gibt. Im Sprechen und in der Bewegung zeigt und behauptet der Körper Präsenz, ist im Hier und Jetzt erfahrbar, ist da und eben nicht allein Ort der Einschreibung, sondern einschreibend, schreibt sich ein in Raum und Zeit.43 Auch überführt die Künstlerin die Flüchtigkeit von Sprache und Tanz vor den Tapeten in die Dauerhaftigkeit und Wiederholbarkeit des speichernden Mediums Video, was die Präsenzeffekte der bildlichen Aufführung wiederholbar macht, womit das ‚Da-Sein‘ abrufbar und zur wiederholbaren Selbst-Behauptung wird. Das Video selbst besteht aus vielen einzelnen Sequenzen, denen

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es dabei nicht darum geht, eine Aufführung zu dokumentieren, sondern die Bilder zu choreographieren. Man folgt etwa einem Blick in einen Raum, der mit einer Panoramatapete ausgestattet ist, mittig postiert ein Sofa, auf dem Sabine Thümmler, die Direktorin des Deutschen Tapetenmuseums, die Zuseher mit den Worten begrüßt: „Herzlich Willkommen in Eldorado, ein Weltgarten, in dem vier Erdteile versteckt sind “, willkommen also auch in der Welt der Imaginationen, der körperlichen Raum- und Bilderfahrung (Abb. 11).

Abb. 11: Danica Dakić: El Dorado. Gießbergstraße, Video still, 2006-2007

Das Museum als immersive (Ausstellungs-)Welt verschränkt sich mit der Welt als Immersionsraum der Tapete. Allerdings ist die von Dakić gewählte Form der Projektion nicht panoramatisch und immersiv. Sie durchbricht diese Unendlichkeitstechniken durch das tradierte, rechteckige Bildformat des Tafelbildes ihrer Projektion. Hier taucht der Betrachter weder in eine Bildwelt ein, noch wird ihm der souveräne Über-Blick zugestanden. Stattdessen steht er dem klar abgegrenzten Bildraum gegenüber, dessen Protagonisten sich frei von voyeuristischer Blickorganisation bewegen. Distanznahme, die Trennung von Bild und Körper, bestimmt die Rezeption in zweifacher Hinsicht: das Videobild ist als Bild markiert und der Immersionsraum der Panoramatapeten, die zu Kulissen werden, schon auf dieser Ebene durchbrochen. Entsprechende Figuren solcher Distanznahmen finden sich auch im Video selbst, wie beispielsweise das Mädchen, das eine Tapetenwand abtastet. Im abtastenden Berühren wird die Tapete als Oberfläche vom Körper abgegrenzt und unterschie-

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den, als Bildfläche markiert, als ein Gegenüber und ein Anderes. Ein solches Durchbrechen der panoramatischen Raumkonstellation vollziehen auch Figuren, die buchstäblich aus dem Bildfeld laufen, so ein aus den Tapetenkulissen heraus- und wieder hineintanzendes Paar, der die Bildfläche durchquerende Läufer oder auch der aus dem Bild heraus, gerade auf die Betrachter zu boxende Kämpfer. Ebenso wie Dakić dem Sog des Theoretischen entgangen ist, laufen auch die Figuren buchstäblich aus dem Bild und den Diskursen heraus; die Analyse ihrer politischen, körperlichen und schließlich individuellen Situation geht eben nicht in deren Regimen auf. Ganz im Gegenteil wird hier deutlich, dass der Blick in eine paradiesische Landschaft kein Privileg weniger, sondern potentielles Recht aller ist. Die ins Positive gewandte Idee eines befriedeten Eldorado steht als Utopie auch für die Flüchtlingskinder zu Verfügung, deren Situation sich nicht in einer bloß fatalistischen Analyse der Machtverhältnisse erschöpft. Ihre Körper werden von Dakić nicht allein als Orte von Einschreibung einer absoluten Macht beschrieben, sondern ganz im Gegenteil als Träger und Produzenten von inneren und äußeren Bildern, konkret von Ideen, Phantasien, Träumen und Utopien und damit von Handlungsoptionen. Der Mensch als homo imaginans, als äußere und innere Bilder produzierendes und wahrnehmendes Wesen, ist nicht nur von Bildern determiniert, sondern bestimmt auch Bilder, die motivieren und beflügeln können.

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Vgl. El Dorado. Der Traum vom Gold. Kat. Kestner-Museum Hannover, 1979, S. 11. Zu de Brys Amerikabild siehe insbesondere Greve, Anna. Die Konstruktion Amerikas. Bilderpolitik in den ‚Grands Voyages‘ aus der Werkstatt de Bry. Köln, 2004. Humboldt, Alexander von. Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Übs. v. Claudia Kalscheuer. Frankfurt a. M., 2004, S. 380. Siehe für die Abbildung der Karte El Dorado (Anm. 1), S. 13. Naipaul, V. S. Abschied von Eldorado. Eine Kolonialgeschichte. Übs. v. Bettina Münch u. Kathrin Razum. München, 2003, S. 13, 26. Es ist ca. 18 cm lang. „Die Hauptfigur in dieser Zeremonie sitzt als einzige (auf einem hochlehnigen Stuhl zwischen zwei Platten, die von halbrunden Emblemen gekrönt sind). Direkt vor der vorderen Platte befin-

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den sich zwei Figuren, die Kalkfässchen und -spatel halten. Vor ihnen stehen zwei etwas größere mit Masken, die Rasseln in Händen haben.“ El Dorado (Anm. 1), S. 77. Vgl. El Dorado (Anm. 1), S. 12. Zit. n. El Dorado (Anm. 1), S. 12. Vgl. hierzu insbesondere Olligs, Heinrich. Tapeten. Ihre Geschichte bis zur Gegenwart 2. Fortsetzung Tapeten-Geschichte. Braunschweig, 1970, S. 221-291; Thümmler, Sabine. Die Geschichte der Tapete. Raumkunst aus Papier. Aus den Beständen des Kassler Tapetenmuseums. Eurasburg, 1998, S. 102-115. Es gehört zu den Eigenarten der Kunstgeschichte, dass die oft nahe liegendsten Geschichten nicht geschrieben werden. So wird keine Geschichte der Malerei, die selbstverständlich Wandmalereien behandelt, Tapeten erwähnen. Tapeten werden eher dem Kunsthandwerk und der Designgeschichte zugerechnet, also dem Gebiet der low art, dem sich eine Kunstgeschichtsschreibung, die sich am Kunstbegriff orientiert, nicht zu widmen geneigt ist. Hierzu trägt auch der durch die unendliche Reproduzierbarkeit betonte Warencharakter der dennoch sehr teuren, exklusiven damaligen Statussymbole bei. Oftmals sind Tapetenentwürfe zudem lediglich einer Manufaktur, die sie in Auftrag gab und keinen Personen (schon gar keinem Künstler) zuzuordnen. Wohingegen in der Literatur zur Geschichte der Tapete, die eine sehr kulturwissenschaftlich ausgerichtete ist, in einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit medien-, technik- und motivhistorisch argumentiert wird. Zur Panoramatapete siehe Ollligs (Anm. 9), S. 185-291; Teynac, Françoise, Nolot, Pierre u. Vivien, Jean-Denis. Die Tapete. Raumdekoration aus fünf Jahrhunderten. Übs. v. Modeste zur Nedden. München, 1982, S. 102-126; Thümmler (Anm. 9), S. 102-115. Vgl. hierzu etwa Braun-Ronsdorf, Margarete „Textile Wandbespannungen“. Tapeten. Ihre Geschichte bis zur Gegenwart 1. Tapeten-Geschichte. Hg. v. Heinrich Olligs. Braunschweig, 1970. 9-44, S. 11 ff. Vgl. Bösch-Supran, Eva. Garten-, Landschafts- und Paradiesmotive im Innenraum. Berlin, 1967. Im Gegensatz hierzu Crary, Jonathan. Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Übs. v. Anne Vonderstein. Dresden, Basel, 1996 sowie Berger, Catherine Ann. Das Panorama. Paradigma eines Perspektivwechsels. Wien, 1993, S. 7, die sich vehement gegen das Denken in Konstanten aussprechen und darum keinen Unterschied zwischen dem konstanten Auftreten des Naturmotivs im Innenraum und seiner Bedeutung machen können. Anstatt die Geschichte der Konstanten gegen die der Brüche zu setzen, ist es produktiver, beide miteinander zu koppeln. Teynac, Nolot u. Vivien (Anm. 10), S. 9-43. Ebd., S. 20 f. Tapeten konnten neben Papier, das die Produktion seit dem 18. Jahrhundert bestimmte, aber auch aus Materialen wie Leder, Leinen oder Wachstuch bestehen. Einen Überblick gibt Olligs (Anm. 9);

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zur Goldtapete siehe aktuell: Thümmler, Sabine u. Caroline Eva Gerner. Goldrausch. Die Pracht der Goldledertapete. München, 2006. Vgl. hierzu etwa Solar, Gustav. Das Panorama und seine Vorentwicklung bis zu Hans Conrad Escher von der Linth. Zürich, 1979; Oettermann, Stephan. Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt a. M., 1980; Kemp, Wolfgang. „Die Revolutionierung der Medien im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Panorama“. Moderne Kunst. Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst 1. Hg. v. Monika Wagner. Reinbek bei Hamburg, 1991. 75-93; Berger (Anm. 13); Sehnsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts. Kat. Bonn, 1993; Comment, Bernard. Das Panorama. Die Geschichte einer vergessenen Kunst. Berlin, 2000. Vgl. hierzu insbesondere Crary (Anm. 13). Des Weiteren siehe Buddemeier, Heinz. Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert. München, 1970; Kuchenbuch, Thomas. Die Welt um 1900. Unterhaltungs- und Technikkultur. Stuttgart, 1992. Berger (Anm. 13), S. 115. Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übs. v. Walter Seitter. Frankfurt a. M., 1977, S. 258-260. Zur bildmedialen Geschichte der Immersion vgl. Grau, Oliver. Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien. Berlin, 2001. Hier nimmt sogar der Türrahmen durch das Sonnenemblem der Inkas auf die Tapete Bezug. Olligs (Anm. 9), S. 222. „Die Panoramatapeten sollten oberhalb von einer tischhohen Sockelzone, dem Lambirs, geklebt werden, so daß die Horizontlinie einer Landschaft in Augenhöhe eines sitzenden Betrachters verlief. Die Möblierung des Raumes – oft ein Treffpunkt der Geselligkeit – beschränkte sich dann meist auf Sitzgelegenheiten und Tische, damit die Tapete gut sichtbar blieb.“ Thümmler (Anm. 9), S. 113. Ebd., S. 103. Ebd., S. 108. Dabei hatte man die Wahl zwischen Park- und Gartenlandschaften, Landschaften aus fernen Ländern, Römischen Ruinen, Schweizer Ansichten, Jagdtapeten, Mythologischen Szenen, Fabeln und Romanen, Hafenbildern, Stadtansichten, Salondekoren aber auch Schlachtenbildern. Vgl. Olligs (Anm. 9), S. 226. Vgl. Thümmler (Anm. 9), S. 103. „Den Löwenanteil der Themen aber stellen die Geographie und die Topografie: Naturwunder, liebliche oder erhabene Landschaften, berühmte Städte in aller Welt, das sah man am häufigsten und offenbar auch am liebsten.“ Kemp (Anm. 16), S. 82. Sloterdijk, Peter. Sphären 3. Schäume. [Plurale Sphärologie]. Frankfurt a. M., 2004, S. 309. Hierzu siehe insbesondere ebd., S. 309-317.

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Die bei ägyptischen Gräbern übliche Scheintür ist genau das Gegenteil; sie suggeriert einen anschließenden Raum und eine Durchgangsmöglichkeit, die gar nicht existiert. Das Panorama „setzt auf die Mittel der Illusion, aber es möchte nichts Überweltliches Glauben machen, sondern einzig und allein die Welt als faktische Wirklichkeit wiederholen.“ Kemp (Anm. 16), S. 82; dort heißt es weiter: „Mit dieser Tendenz steht es in einem lehrreichen Gegensatz zu den letzten großen Rundumgemälden der Kunstgeschichte. Als die ersten Panoramamaler am Ende des 18. Jahrhunderts in London ihre Arbeit aufnahmen, wurden in großen Teilen des katholischen Europa leistungsfähige Malermannschaften arbeitslos, die vorher Decken von Kirchen und Schlössern ausgemalt hatten. Ihr Auftrag und ihre Kunst war es gewesen, mit Mitteln der Illusionsmalerei das Dach aufzureißen und den Blick in einen tiefen und von vielerlei göttlichen Wesen bevölkerten Himmel zu lenken. Um den Übergang von realer Architektur und Skulptur über gemalte Architektur und Skulptur und Figur in die Wolken und Lüfte ihrer himmlischen Gefilde gleitend und täuschend zu gestalten, bedienten sie sich kaum anderer Mittel, als sie den späteren Panoramisten zur Verfügung standen. Aber welch ein Unterschied im Ziel und Resultat! Und welche Umorientierung von Werk und Betrachter, vom Himmel zur horizontal sich entfaltenden Welt!“ Kemp (Anm. 16), S. 82. Burckhardt, Jacob. „Format und Bild“. Vorträge zu Kunst- und Kulturgeschichte. Erinnerungen an Rubens. Hg. v. Rudolf Pillep. Leipzig, 1987. 234-235. Simmel, Georg. „Der Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch“. Gesamtausgabe 7. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Hg. v. Rüdiger Kramme u. Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M., 1995. 101-108, S. 101 f. Zur Geschichte des Rahmens grundlegend Zaloscer, Hilde. „Versuch einer Phänomenologie des Rahmens“. Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 14 (1974): 189-224. Simmel (Anm. 33), S. 104. Für die Eldorado-Tapete kennt man ausnahmsweise die für den Entwurf verantwortlichen Künstler: Eugéne Ehrmann, Georges Zippélius und Josef Fuchs. Zur höchst aufwändigen Herstellung ihrer 14 einzelnen Bahnen wurden 192 Farben und 1554 Druckformen benötigt. Zwischen 1804 und 1850 stellt Zuber insgesamt 25 Landschaftstapeten her. Vgl. Teynac, Nolot u. Vivien (Anm. 10), S. 117. Von Eichendorff, Joseph. Sämtliche Gedichte und Versepen, Hg. v. Hartwig Schultz. Frankfurt a. M., Leipzig, 2007, S. 295. Buttler, Adrian von. Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. Köln, 1989, S. 17. Buttler (Anm. 37), S. 12 f. „Die Panoramen sind etwas groß geratene Symbole einer beherrschbaren Welt. Erschließung und Eroberung fremder Orte und Länder reizen zur faktischen oder symbolischen Wiederholung: durch Tourismus oder, wenn man so sagen darf, durch das ‚Fern-Sehen‘, wie es im Panorama am sinnlichsten

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etabliert war. Und auf den Spuren der ersten Reisenden, der Eroberer und Touristen folgten die Panoramamaler.“ Kemp (Anm. 16), S. 83. Vgl. Schöllhammer, Georg. documenta 12 magazine 2. Life! Köln, 2007. Vgl. Agamben, Giorgio. Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übs. v. Hubert Thüring. Frankfurt a. M., 2002. Werber, Niels. „Die Normalisierung des Ausnahmefalls. Giorgio Agamben sieht immer und überall Konzentrationslager“. Merkur 7.56 (2002): 618-622, S. 622. Vgl. Fischer-Lichte, Erika. Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M., 2004.

Abbildungsnachweise Autor/innen und Verlag haben sich bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. In Fällen, wo dies nicht gelungen ist, bitten wir um Rückmeldung.

Beitrag Föcking: Abb. 1: Darstellung der Seligen am Fürstenportal des Bamberger Doms; aus: Le Goff, Jacques. Das Lachen im Mittelalter. Stuttgart, 2004, S. 106. Abb. 2: Darstellung der Verdammten am Fürstenportal des Bamberger Doms; aus: Le Goff, Jacques. Das Lachen im Mittelalter. Stuttgart, 2004, S. 107. Beitrag Gerisch: Abb. 1: Nicolas Poussin: Et in Arcadia ego, 1650, und Abb. 2: Nicolas Poussin: Et in Arcadia ego, um 1630; aus: Panofsky, Erwin. Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen. Berlin, 2002, S. 19 u. S. 18. Abb. 3: Adolph Menzel: Das Balkonzimmer, 1845; aus: Lammel, Gisold. Adolph Menzel. Bildwelt und Bildregie. Dresden, Basel, 1993, S. 143. Beitrag Kittner: Abb. 1: Paul Gauguin: D’où venons nous? Que sommes nous? Où allons nous?, 1897; aus: Katalog. Gauguin Tahiti. L'atelier des tropiques. Paris, 2003, S. 220. Abb. 2 und Abb. 3: Birgit Hein: Baby I will make you sweat, 1994, Filmstills. Abb. 4 und Abb. 5: Dellbrügge & de Moll: In Quest of the Perfect Location. Details: Tivoli, 2007; aus: Dellbrügge & de Moll: In Quest of the Perfect Location. Copenhagen, 2007, S. 50 f. u. S. 56 f. Abb. 6: Dellbrügge & de Moll: In Quest of the Perfect Location, 2007. Detail: Christiania; aus: Ebd., S. 76. Abb. 7: Dellbrügge & de Moll: In Quest of the Perfect Location. Details: Amager Strand, 2007; aus: Ebd., S. 32 f u. 28 f. Beitrag Römhild: Abb. 1: o.T., Kreta, fotografiert von der Autorin. Abb. 2: o.T., Kreta, Ilona Metscher (privates Foto).

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Autor

Beitrag Marek: Abb. 1: Panoramatapete „Eldorado“, Handdruck von J. Zuber 1848 (Ausschnitt); aus: Olligs, Heinrich. Tapeten. Ihre Geschichte bis zur Gegenwart II. Fortsetzung Tapeten-Geschichte. Braunschweig, 1970, S. 229. Abb. 2: Danica Dakić: El Dorado. Gießbergstraße, C-Print, 2006-2007, © Danica Dakić, VG Bild-Kunst, Bonn. Abb. 3: Der goldene Mann, Historia Americae, Frankfurt 1599, Hrsg. Theodor de Bry u. a., Lat. Ausgabe, Teil 7, Abb. XV, Radierung [Herzog-August Bibliothek, Wolfenbüttel, Sign. Gx 2 7 (S. 7-12)]; aus: Katalog: El Dorado. Der Traum vom Gold. Kestner-Museum Hannover 1979, S. 118. Abb. 4: Muiska-Tunjo: Zeremonie von El Dorado, gegossenes Gold, Replikat Galeria Cano, Bogotá; aus: Ebd., S. 77. Abb. 5: Dominopapier, Frankreich, 14. Jh., Innenauskleidung eines Kastens, Paris, Musée de Cluny ; aus: Teynac, Françoise, Nolot, Pierre u. Vivien, Jean-Denis. Die Tapete. Raumdekoration aus fünf Jahrhunderten. München, 1982, S. 14. Abb. 6: Anbringung von bedruckten Papierbogen an der Wand, Felderteilung mit Bordüren usw.; aus: Olligs, Heinrich. Tapeten. Ihre Geschichte bis zur Gegenwart III. Technik und wirtschaftliche Bedeutung. Braunschweig, 1970 (Einlage). Abb. 7: Englische 6-Farben-Druckmaschine um 1868; aus: Abb. 8: Danica Dakić: El Dorado. Gießbergstraße, Video still, 2006-2007, © Danica Dakić, VG Bild-Kunst, Bonn. Abb. 9: Panoramatapte „Les incas“ in einem Patrizierhaus im westfälischen Warendorf, um 1818, Manufactur Dufur, Paris (Aufnahme Westfälisches Amt für Denkmalpflege); aus: Thümmler, Sabine: Die Geschichte der Tapete. Raumkunst aus Papier. Aus den Beständen des Kassler Tapetenmuseums. Eurasburg, 1998, S. 114. Abb. 10 und Abb. 11: Danica Dakić: El Dorado. Gießbergstraße, Video stills, 2006-2007, © Danica Dakić, VG Bild-Kunst, Bonn.

Autorinnen und Autoren Claudia Benthien, Dr. phil., ist Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik II der Universität Hamburg. Ulrike Brunotte, Dr. phil., ist Associate Professor am Centre for Gender and Diversity der Maastricht University, Niederlande. Thomas Claviez, Dr. phil., ist Professor für Literaturtheorie am Institut für Englische Sprache und Literaturen der Universität Bern, Schweiz. Marc Föcking, Dr. phil., ist Professor für italienische und französische Literaturwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Hamburg. Benigna Gerisch, PD Dr. phil., ist Psychoanalytikerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Psychotherapeutin im Therapiezentrum für Suizidgefährdete des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und Hochschullehrerin an der International Psychoanalytic University, Berlin. Manuela Gerlof, Dr. phil., ist Literatur- und Theaterwissenschaftlerin und arbeitet im Lektorat des Verlags Walter de Gruyter, Berlin. Peter Heine, Dr. phil., ist Professor für Islamwissenschaft am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Anton Kaes, Dr. phil., ist Professor of German and Film Studies am Department of German der University of California, Berkeley, USA. Alma-Elisa Kittner, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Kristin Marek, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Kunstgeschichte der Ruhr-Universität Bochum.

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Autorinnen und Autoren

Regina Römhild, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Simone Rosenkranz Verhelst, Dr. phil., ist Oberassistentin und Lehrbeauftragte für Judaistik am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern, Schweiz. Elisabeth von Samsonow, Dr. phil., ist Professorin für Historische und Philosophische Anthropologie der Kunst am Institut für Kunstund Kulturwissenschaften der Akademie der Bildenden Künste in Wien, Österreich. Mireille Schnyder, Dr. phil., ist Professorin für Ältere deutsche Literatur am Deutschen Seminar der Universität Zürich, Schweiz. Helen Schüngel-Straumann, Dr. theol., ist emeritierte Professorin für Biblische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Kassel.