Otto von Simson 1912–1993: Zwischen Kunstwissenschaft und Kulturpolitik [1 ed.] 9783412515997, 9783412515973

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Otto von Simson 1912–1993: Zwischen Kunstwissenschaft und Kulturpolitik [1 ed.]
 9783412515997, 9783412515973

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Otto von Simson 1912–1993 I. Becker / I. Herklotz (Hg.)

Otto von Simson (1912–1993) war langjähriger Ordinarius für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Berühmt für seine Beiträge zur politischen Ikonographie, zum Wechselspiel von Kunst und Liturgie, zur Symbolik des gotischen Kirchenbaus, zu Rubens und zur deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts, zählt der weltanschaulich konservative Wissenschaftler zu den innovativsten Kunsthistorikern des 20. Jahrhunderts. Aus dem jüdisch-preußischen Großbürgertum, das sich schon früh zum Protestantismus bekehrt hatte, gebürtig, trat der schwärmerische junge George-Verehrer während der NS-Diktatur zum katholischen Glauben über. Im amerikanischen Exil entwickelte er sich seit 1939 zu einem aufmerksamen Beobachter der Zeitgeschichte, der, 1957 nach Europa zurückgekehrt, kulturpolitische Verantwortung für Deutschland und Berlin übernahm. Der vorliegende Band zeichnet auf der Grundlage zahlreicher unpublizierter Dokumente von Simsons Lebensweg ebenso eindringlich nach wie seine Positionierung innerhalb der Kunstwissenschaft.

OTTO VON SIMSON 1912–1993 Zwischen Kunstwissenschaft und Kulturpolitik

Ingeborg Becker / Ingo Herklotz (Hg.)

978-3-412-51597-3_becker_End.indd Alle Seiten

29.08.19 11:01

Studien zur Kunst 43

Ingeborg Becker/Ingo Herklotz (Hg.)

Otto von Simson 1912 – 1993 Zwischen Kunstwissenschaft und Kulturpolitik

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie., Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass 290 Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51599-7

Inhalt

Vorwort 



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„Eine Empfehlung vom lieben Gott persönlich“  . . . . . . . . . . . . . . . Wie man als jüdisch-­katholischer Kunsthistoriker einen Weg in die USA fand



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Hans Gerhard Hannesen

Otto von Simson, Repräsentant einer jüdisch-protestantisch-preußischen Gesellschaft, beheimatet in der katholischen Kirche  . . . . . . . . . . . . Anna Maria Voci

„Et in Arcadia ego!“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto von Simsons Tagebuch seiner italienischen Reise im Frühjahr 1932 Ingo Herklotz

Peter Paul Rubens ­zwischen Geistesgeschichte und politischer Ikonographie  . Die Münchner Dissertation von 1936 Karen Michels

Carola Jäggi

Kunst z­ wischen Propaganda und Liturgie: Otto von Simsons Sacred Fortress . . Bruno Klein

Eckstein oder Schlussstein  . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto von Simsons The Gothic Cathedral/Die gotische Kathedrale Ingo Herklotz

Chicago und das Abendland  Schritte zur Remigration Ingeborg Becker

Der Blick nach Innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto von Simson und die Malerei des 19. Jahrhunderts Thomas Gaehtgens

Erinnerungen an Otto von Simson in Berlin  . Bildnachweise  . . Personenregister  .

Vorwort

Im Dezember 1937 richtete Walter Friedlaender, seit kurzem Professor am Institute of Fine Arts in New York, ein Empfehlungsschreiben für einen seiner ehemaligen Freiburger Studen­ ten an das amerikanische Committee for Catholic Refugees from Germany. Darin heißt es: Ich kenne Otto von Simson seit einigen Jahren. Ich habe sein freundliches und bescheidenes Benehmen stets als besonders angenehm empfunden und mich stets für ihn interessiert. Er sieht gut aus, spricht recht gut englisch, und ich habe das Gefühl, dass die meisten Leute – auch hier – ihn ausgesprochen gern haben. Doch ist er recht nervös, leicht erschrocken und vielleicht etwas unselbstständig, wenigstens oft sehr hilfsbedürftig, auch etwas überzart (auch physisch leicht anfällig), schwärmerisch-­romantisch. Eigentlich sehr deutsch (älteren Styls) – woran sein (mehr als 50 %) sogenanntes „nicht arisches“ Blut der Simsons… und der Mendelsohns wohl nicht hindert. […] Er ist ein Mann von wirklicher wissenschaftlicher Leidenschaftlichkeit. Es würde mir leid tun, wenn ein solch feiner – aber nicht sehr widerstandsfähiger – Geist sich vorzeitig zersplitterte und sich in mediokren Tätigkeiten totliefe.1

Friedländers damals fünfundzwanzigjähriger Otto von Simson (1912 – 1993) scheint mit jenem Hochschullehrer, den einige der Autoren ­dieses Bandes erlebt haben, keine nennens­ werten Gemeinsamkeiten aufzuweisen.2 „Ihr“ Otto von Simson war ein Mann klarer Prinzipien, der wusste, was er wollte, und für seine Überzeugungen kämpferisch eintreten konnte – dabei nicht unbedingt freundlich, sondern gewiss auch Stimmungen ausgesetzt und in der Begegnung mit dem jüngeren Gegenüber bisweilen durchaus ironisch und sogar ein wenig von oben herab. Eine gewisse Weltfremdheit, wie Friedländer sie anspricht, hatte er sich bewahrt, doch fragte man sich stets, was daran echt, was hingegen Attitüde sei. Die skizzierte Polarisierung mag jene Wegstrecke andeuten, die abzuschreiten dieser Band sich vorgenommen hat. Es geht nicht darum, dass eine Gruppe von Wissenschaftlern, die gleichsam noch als Zeitzeugen gelten können, sich auf ihre akademischen Wurzeln rückbesinnt; die Zielsetzung besteht vielmehr darin, ein Lebenswerk historisch-­kritisch zu würdigen. Weit gefächerte Forschungen zur neueren Fachgeschichte, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind, bieten entsprechende Anknüpfungspunkte. Nach den Klassi­kern der Disziplin, nach Warburg, Panofsky, Riegl, Wölfflin und Dehio, rückten jüngst auch Wind, Goldschmidt, Pevsner, Saxl, Kitzinger, Sedlmayr und andere in den Mittelpunkt vergleichbarer Betrachtungen. Nicht zufällig sind es immer wieder die Vertreter der Emigrantengeneration, die das besondere Interesse der Jüngeren auf sich ziehen, 1 2

Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 41, Mappe 2. Der vollständige Name ist Otto Georg August Eduard von Simson. Seine frühen Publikationen sind Otto Georg von Simson, die späteren nur noch Otto von Simson signiert.

8 |  Vorwort

denn ihre methodischen Impulse haben das Fach nachhaltig verändert und ihre Lebensläufe faszinieren sowohl aufgrund der Brüche wie auch angesichts der ihnen eigenen Kontinuitäten. Dieser bereits stattlichen Phalanx nun auch Otto von Simson einreihen zu wollen, hätte fraglos eine wissenschaftsgeschichtliche Berechtigung. Auf ihn gehen wesentliche Impulse zur Etablierung dessen zurück, was man heute als „politische Ikonographie“ bezeichnet. Mit dem Zusammenspiel von Kunst und Liturgie setzte er sich Jahrzehnte, bevor ein solcher Ansatz dauerhaft Fuß fasste, auseinander. Von ihm stammt schließlich der wohl bedeutendste und folgerichtig am breitesten rezipierte Versuch einer Architekturikonographie der gotischen Kathedrale. Zugleich weist aber auch von Simsons Vita eine Reihe an Besonderheiten auf, die ihn von den „typischen“ Vertretern der kunsthistorischen Emigration nachdrücklich unterscheiden. Dass er innerhalb der Kunstwissenschaft zu einer verschwindend geringen Zahl von Remigranten gehörte, ist vielfach betont worden. Doch geben schon die früheren Abschnitte seines Curriculums Ungewöhnliches zu erkennen. Obwohl aus rassischen Gründen diskriminiert, emigrierte er 1939 nicht als Jude, sondern als Katholik, mehr noch als konvertierter Katholik, der sich erst kurz zuvor von seiner durch und durch protestantischen Erziehung losgesagt hatte. Die Wirkung des Katholizismus auf seinen Lebensweg und das wissenschaftliche Werk stellt somit eine der Leitfragen des vorliegenden Buches dar. Spätestens bei Ende des Krieges gehörte dann aber auch Friedländers „schwärmerisch-­romantischer“ von Simson der Vergangenheit an. Wie kein anderer emigrierter Kunsthisto­riker hat sich Otto von Simson nach 1945 dafür eingesetzt, den erneuten Brückenschlag ­zwischen den USA und Europa, insbesondere Deutschland, zu ermöglichen. Getragen wurde d ­ ieses Bemühen von dem Bewusstsein eines gemeinsamen kulturellen Erbes, einer abendländischen Tradition, für welches gerade die an Europäern so reiche Universität Chicago und das dort angesiedelte multidisziplinäre Committee on Social Thought mit seiner christlich konservativen Prägung einen fruchtbaren Nährboden ausbreitete. Eben diese Verantwortung für das kulturelle Erbe und für Deutschland veranlasste von Simson 1957, seine Universitätslaufbahn zurückzustellen und ein zweites Ich in der Politik, vorab der Kulturpolitik, zu entfalten. Wir kennen diese Verbindung von Wissenschaft und Politik aus den Kreisen der Historiker – Theodor Mommsen, Heinrich von Sybel, Ludwig Quidde oder in jüngerer Zeit Carl Jacob Burckhardt, mit dem von Simson persönliche Kontakte unterhielt, zählen zu den berühmtesten Vertretern einer solchen Symbiose. In der Kunstgeschichte ist sie einmalig geblieben. Natürlich schloss sich von Simson mit seinem Eintritt ins Auswärtige Amt und der anschließenden Tätigkeit für die UNESCO der Tradition seiner eigenen Familie an. In deren Geschichte und die seiner Geburtsstadt Berlin schrieb er sich dann auch ein, als er konkurrierenden Angeboten aus Chicago und Oxford zum Trotz 1964 den ihm angetragenen Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Freien Universität übernahm. Dass sein politisches Engagement nach der Rückkehr an die deutsche Universität ganz in Richtung der Hochschulpolitik gedrängt wurde, gehörte sicherlich zu den am wenigsten gewollten Entwicklungen in seinem Leben. Zu sehr erinnerten ihn, den liberal Gesinnten, die späten sechziger Jahre, die er als Dekan der philosophischen Fakultät durchzustehen hatte, an das, was er in den

Vorwort | 9

dreißiger Jahren erleben musste. Doch leistete er diesmal Widerstand. Die Hunderte und Aberhunderte von Seiten, die seinen administrativen, juristischen und auch publizistischen Kampf für eine andere Hochschule bezeugen, gehören zu den bedrückendsten Teilen seines Nachlasses. Das Wirken über die Universität hinaus, mit dem er letztlich in Chicago begonnen hatte, bestimmte dann erneut die späten Jahre. Erinnert sei an den Einsatz für die Berliner Schlösser und Gärten oder an seine Gefechte zur Neuordnung der Berliner Museen nach 1989. Die Gründung der Guardini-­Stiftung und die Einrichtung der Europäischen Universität Erfurt – auch dies waren Anliegen jener Zeit, die der vorliegende Band beleuchtet. Aus Anlass seines 25. Todestages wurde Otto von Simson im Mai 2018 eine internationale Tagung gewidmet, die im Weiterbildungszentrum der Freien Universität Berlin stattfand. Die Vermittlung des sympathischen Tagungsortes ging auf den damaligen Universitätspräsidenten der Freien Universität Peter-­André Alt zurück, am Gelingen des Ablaufs hatte die Geschäftsführerin des Zentrums Karin Abel entscheidenden Anteil. Den Referenten d ­ ieses Symposiums gelang es in erfreulich kurzer Zeit, ihre Beiträge auch in schriftlicher Form vorzulegen. Die Bearbeitung des Nachlasses Otto von Simsons in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz wurde von den dortigen Mitarbeitern, insbesondere durch den Leiter der Handschriftenabteilung Eef Overgaauw, tatkräftig unterstützt. Kathleen Feeney half beim Durchsehen der umfangreichen Otto von Simson Papers der University of Chicago Library, und Diana L. Sykes machte mit selbstlosem Einsatz die entsprechenden Materialien der Hoover Institution Archives (Stanford University) zugänglich, w ­ elche die amerikanische Phase des Gelehrten ebenfalls beträchtlich erhellen. Von Anbeginn stieß unser Vorhaben auf das Interesse der Familie von Simson, Jutta und John von Simsons vor allem, die auch zahlreiche Photographien für die Ausstattung d­ ieses Bandes zur Verfügung stellten. Um dessen redaktionelle Betreuung bemühten sich Angelika Fricke (Universität Marburg) und Kirsti Doepner vom Böhlau-­Verlag. Den Verlagskontakt stellte Elisabeth Roosens her. Ihnen allen danken wir von Herzen. Ohne die finanzielle Unterstützung, die uns von Freunden Otto von Simsons zukam, hätte das Projekt mit Tagung und Publikation nicht in dieser Zeitspanne und in ­diesem Umfang verwirklicht werden können. Wir danken deshalb sehr herzlich für ihr groß­zügiges Entgegenkommen, das einer Persönlichkeit gilt, die für ihr kulturpolitisches Engagement gerade in Berlin außerordentlich wichtig war. Berlin und Marburg, im Februar 2019  

Ingeborg Becker Ingo Herklotz

Hans Gerhard Hannesen

Otto von Simson, Repräsentant einer jüdisch-protestantisch-preußischen Gesellschaft, beheimatet in der katholischen Kirche

Jeder, der bei Otto von Simson studiert hat, wird die Intensität nicht vergessen haben, mit der er die Architektur und Kunst der Gotik als Ausdruck theologischer Auseinandersetzungen darstellte. Ich erinnere mich sehr genau an die Behandlung des Südportals des Straßburger Münsters Unserer Lieben Frau mit den Skulpturen von Ecclesia und Synagoge (Abb. 1), bei der die Interpretation der ikonographischen Herleitung aus der Bibel durch die sehr persönliche Lebenserfahrung Otto von Simsons geprägt zu sein schien. In dem von ihm herausgegebenen und teilweise verfassten Band 6 der ‚Propyläen Kunstgeschichte‘ schreibt er zu den beiden Bildwerken, sie ­seien, wie in keiner anderen Darstellung des in der Kathedralplastik geläufigen Themas aufeinander und auf Salomon bezogen, der, ganz ungewöhnlich, hier im Mittelpunkt ist. Quelle der Darstellung ist das Hohe Lied […]. Diese Bedeutung beruht darauf, daß man Salomon als Typ Christi betrachtete, die beiden Bräute, deren Stimme man im Hohen Lied zu vernehmen meinte, als K ­ irche und Synagoge, als Christentum und Judentum, die sich am Ende der Zeiten in gemeinsamer Liebe zu ihrem göttlichen Bräutigam vereinen werden […]. Die besondere Schönheit der Synagoge ist hier sozusagen ikonographisches Attribut: Der Vers des Hohen Liedes ‚Du bist schön, meine Freundin […]‘ ist vom Mittelalter auf die Vertreterin des Alten Testaments bezogen worden. Wie stets erscheint Synagoge auch in Straßburg mit einer Binde vor den Augen, da sie, noch nicht ‚entschleiert‘, die Offenbarung Christi noch nicht erkannt hat… Der Gedanke der Versöhnung der beiden Testamente ist mithin dem Programm der Fenster wie dem Figurenzyklus gemeinsam.1

Die Erinnerung an die bald nach der Veröffentlichung gehörte Vorlesung und die Kenntnis der eng mit dem Aufstieg Preußens verbundenen Familiengeschichte Otto von ­Simsons gaben den Ausschlag für den folgenden Beitrag. Jüdisch, protestantisch, preußisch, 1

Propyläen Kunstgeschichte Band 6, Das Mittelalter II: Das Hohe Mittelalter, hg. von Otto von Simson, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1972, 246. Dazu auch: Otto von Simson, Le Programme sculptural du transept méridional de la cathédrale de Strasbourg, in: Bulletin de la Societé des Amis de la Cathédrale de Strasbourg, 10, 1972, hier 33 – 50 ; wiederabgedr. in: Otto von Simson, Von der Macht des Bildes im Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Kunst des Mittelalters, hg. von Reiner Haussherr, Berlin 1993, 77 – 100.

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Abb. 1 Ecclesia und Synagoge, Straßburger Münster, südliches Querhausportal, 1225, Abbildung der Originalskulpturen im Frauenhausmuseum

katholisch: mit diesen Begriffen als Orientierung soll im Folgenden versucht werden, sich Otto von Simson zu nähern. Zwar hat sich Simson als Kunsthistoriker weder mit dem Judentum noch mit Preußen betreffenden Fragen schwerpunktmäßig auseinandergesetzt. Vielmehr verbinden wir mit seinem Werk die großen Th ­ emen Ravenna, Gotik, Rubens. Er hat sich mit der spanischen Malerei des Goldenen Zeitalters und mit deutscher Malerei des 19. Jahrhunderts befasst, aber auch mit Pop-­Art und Joseph Beuys.2 Die folgenden Überlegungen sollen anregen darüber nachzudenken, wie weit seine wissenschaftlichen Arbeiten durch seine Herkunft, die politischen Umstände vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und die Konversion zum Katholizismus geprägt sind. Zur Vorbereitung ­dieses Beitrags waren einige Dokumente und Typoskripte sehr hilfreich, die sich im Nachlass Otto von Simsons in der Berliner Staatsbibliothek befinden, 2

Otto von Simson, Kreuzigung. Das Bekenntnis des Mystikers Joseph Beuys (und dessen Spiritualität am Beispiel der Arbeit ‚Kreuzigung‘ in der Staatsgalerie Stuttgart), in: ‚Wir sehen jetzt im Spiegel rätselhaft‘. Otto von Simson zum Gedächtnis (Trigon, Bd. 5), hg. von der Guardini-­Stiftung, Berlin 1996, 272 – 274.

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insbesondere der Bericht seines aus Polen stammenden Studienfreundes Joseph Alexander Graf Raczyński: Mit Otto gemeinsam Erlebtes. 1930 – 1939,3 wobei ich mich auf die biographischen Hinweise beschränke. Hilfreich war auch die Aufzeichnung eines Interviews, das von Simson 1991 dem Historiker Richard Cándida Smith gab.4 Persönliche Erinnerungen sind jedoch immer selektiv und das, was davon im Rückblick in Aufzeichnungen oder einem Interview weitergegeben wird, muss mit dem Bild übereinstimmen, das sich der jeweilige Autor zur Zeit der Erinnerung von sich selbst macht. Erst gemeinsam mit zeitgeschichtlichen Dokumentationen und schriftlichen Quellen lassen autobiographische Äußerungen eine Beurteilung zu.

Jüdischer Hintergrund der Familie Jeder Mensch ist bewusst oder unbewusst durch seine Herkunft geprägt. Eltern, Familie und gesellschaftliches Umfeld bestimmen seine Entwicklung (Abb. 2). Wenn also ein Staat, wie der NS-Staat, eine Zuordnung durch ein absurdes Rassengesetz vornimmt und damit Ausgrenzung, brutalste Verfolgung und Massenmord begründet, so wird daraus, nolens volens, für den so Eingruppierten auch ein Teil der selbst empfundenen Identität. Der extreme Gegensatz von familiärer Tradition und politischer Lage in der Zwischenkriegszeit dürfte bei dem jungen Otto von Simson immer wieder zu massiver Verunsicherung, ja Ambivalenz geführt haben. Doch zweifellos wuchs Simson in dem Bewusstsein auf, zu einer der führenden Familien in Preußen zu gehören. Technische Innovation und Industrialisierung hatten, durch Wissenschaft und kulturelle Entwicklung befördert, Preußen stark gemacht. Dadurch war eine großbürgerliche Klasse entstanden, deren heterogener Ursprung im 18. und 19. Jahrhundert sowohl im alten Stadtbürgertum als auch im Handwerk und – insbesondere bei jüdischen und bei zum Protestantismus konvertierten Familien – im Handel wurzelte, aber auch gerade bei dem, was man Bildungsbürgertum nannte, im protestantischen Pfarrhaus oder – bei der jüdischen Minderheit – in Rabbinerfamilien. Ein besonderes Kapitel bildete, trotz deren starker Assimilation in die Mehrheitsgesellschaft, die mühsame Emanzipation der Juden. Waren sie einerseits Motor der Modernisierung der jeweiligen Staaten, in denen sie lebten, wurden sie andererseits von einem Teil der christlichen Bevölkerung wegen der diese verunsichernden Veränderungen durch Industrialisierung und Ökonomisierung, die man besonders jüdischen Unternehmern zuordnete, abgelehnt und als nicht zur Nation gehörend bekämpft. 3 4

Joseph Alexander Graf Raczyński: Mit Otto gemeinsam Erlebtes. 1930 – 1939 (Auszüge aus: Erinnertes. 1914 – 1948), Kopie eines Typoskripts, Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 42. Art Historian Otto von Simson interviewed by Richard Cándida Smith [1991]. Art History Oral Documentation Project, University of California Los Angeles and Getty Center for the History of Art and the Humanities, Typoskript 1994, Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von ­Simson), Kasten 43. Siehe auch: https://www.archinform.net/arch/22884.htm [Zugriff: 15. Dez. 2018].

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Abb. 2 Die Eltern Martha von Simson geb. Oppenheim (1882 – 1971) und Ernst von Simson (1876 – 1941), um 1901

Ein herausragendes Beispiel bürgerlicher und jüdischer Emanzipation stellt das Leben von Otto von Simsons bedeutendem Vorfahren Eduard von Simson dar,5 der 1810 in Königsberg in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren und mit 13 Jahren getauft wurde. Nach Schule, Dienst in der Preußischen Armee und Jurastudium wurde er bereits 1829, mit nur 19 Jahren, in Königsberg promoviert. Mit einem zweijährigen königlichen Reisestipendium trat er seine erste Studienreise an, die ihn nach Berlin, Weimar, Bonn, Paris und Heidelberg führte. Er begegnete Friedrich Carl von Savigny, Friedrich Schleiermacher, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Barthold Georg Niebuhr. Doch besonders wird in seinem Tagebuch der durch Carl Friedrich Zelter vermittelte Besuch bei Goethe zu dessen 80. Geburtstag hervorgehoben und die Einladung zum Festessen im Hotel Elephant.6 Mit seinem besonderen Interesse an Altertumswissenschaft, Rechtsgeschichte, 5 6

Felix Hirsch, Eduard von Simson. Das Problem der deutsch-­jüdischen Symbiose im Schatten Goethes und Bismarcks, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 16, 1965, 261 – 277; Günther Meinhardt, Eduard von Simson, Bonn 1981. Hilde Herrmann, Große Deutsche Familien X: Die von Simsons, in: Neue Deutsche Hefte, hg. von Paul Fechter und Joachim Günther, Mai 1955, H. 14, 125 – 126, Tagebuchauszug vom 29. August 1828.

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aber auch Literatur und Musik war bereits der hohe Bildungskanon seiner Familie über die nächsten Generationen vorgegeben. 1848/49 stand er als Präsident der Frankfurter Nationalversammlung an der Spitze der Kaiserdeputation, die Friedrich Wilhelm IV . seine Erwählung zum Deutschen ­Kaiser überbrachte. Als diese Mission scheiterte, legte Simson das Präsidentenamt nieder. Im folgenden Jahr war er Präsident des verfassungsvereinbarenden Erfurter Unionsparla­ments, 1867 des sich neu konstituierenden Reichstags des Norddeutschen Bundes. In dieser Funktion überbrachte er im Oktober 1867 dem preußischen König Wilhelm I. die Adresse des ersten verfassungsmäßigen Norddeutschen Reichstages auf die Burg Hohenzollern. Drei Jahre später, im Dezember 1870, reiste er an der Spitze einer Deputation nach Versailles und überbrachte Wilhelm I. die Adresse des Norddeutschen Reichstags, durch die der Monarch gebeten wurde, die Kaiserwürde anzunehmen. Auch im Reichstag wurde Eduard Simson zum Präsidenten gewählt. Diese beeindruckende Laufbahn wurde 1888 gekrönt, als ihm Friedrich III . den Schwarzen Adlerorden verlieh und ihn in den erblichen Adelsstand erhob. Waren also die auf Bildung basierende herausragende Emanzipationsgeschichte und damit auch die politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen des liberalen Bürgertums Illusionen, die 1933 brutal zerplatzten? Waren für diejenigen, die als Juden zum Protestantismus konvertierten, die damit verbundenen ethischen Überzeugungen im Nachhinein irreal? In ihrer Zeit waren sie Wirklichkeit, auch wenn wir heute, mit dem Wissen um den Holocaust, nicht mehr daran glauben können, dass einmal errungene Freiheiten eine Garantie für die Zukunft bedeuten. Otto von Simson wird diesen Zwiespalt leidvoll empfunden haben. Für die Persönlichkeitsprägung des 1912 geborenen Otto von Simson war zuerst Preußen vor 1933 bestimmend und damit sowohl die Geschichte seiner Familie als auch deren Lebensform. Wie viele der Familien mit jüdischem Hintergrund standen auch seine Verwandten den zeitgenössischen Reformbewegungen sehr offen gegenüber. Patriotismus und Monarchismus waren ihnen kein Gegensatz zu den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen und zu den Erneuerungen in allen Bereichen der Künste seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Das von Otto Bartning (1883 – 1959) entworfene großzügige Elternhaus in Dahlem setzte sich deutlich vom prunkvollen Historismus der Kaiserzeit ab (Abb. 3 – 4). Ein Bedürfnis nach Bequemlichkeit und Behaglichkeit war zu den weiterhin üblichen Repräsentationsansprüchen getreten.7 Auch das eindrucksvolle, von Alfred Messel entworfene und 1907/8 errichtete Landhaus des Großvaters Franz Oppenheim 8 am Großen 7 8

Vgl. dazu: Werner Durth, Wolfgang Pehnt und Sandra Wagner-­Conzelmann, in: Otto Bartning, Architekt einer sozialen Moderne, hg. von der Akademie der Künste und Wüstenroth Stiftung (Ausst.-Kat.), Berlin 2017, 26. Franz Oppenheim (1852 – 1929, gest. in Kairo/Ägypten) war Chemiker und Industrieller. Seine ­Mutter Margarethe Mendelssohn war eine Urenkelin Moses Mendelssohns. In erster Ehe war er mit Else Wollheim (1858 – 1904) verheiratet, mit der er vier Kinder hatte, darunter Martha O ­ ppenheim, verheiratete von Simson (1882 – 1971), die M ­ utter Otto von Simsons. In zweiter Ehe, seit 1907, war er mit Margarete Eisner, verwitwete Reichenheim, verheiratet, die seit 1904 über die Galerie Paul Cassirer eine große Sammlung insbesondere französischer Impressionisten aufgebaut hatte. Franz

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Abb. 3 Otto Bartning, Landhaus Ernst von Simson in Berlin-­Dahlem, Messelstraße, Straßenseite, 1911/12

Wannsee entsprach dieser Haltung. Paul Baumgarten, u. a. Architekt der benachbarten Villa des Malers Max Liebermann, und der Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark, der mit Liebermann befreundet war, waren an der Gestaltung des Gartens Oppenheims beteiligt, und wie bei dem Maler schmückten auch hier Skulpturen des Tierbildhauers August Gaul die Anlage. Hier konnte Otto bereits als Heranwachsender die bedeutende Kunstsammlung französischer Impressionisten mit Werken von Cézanne, van Gogh und Manet bewundern. Für seinen Vater Ernst von Simson, der damit ganz in der Tradition seiner Familie stand, war das Streben nach humanistischer Bildung selbstverständlich. Als er 1898, noch als junger Rechtsreferendar und als Einjähriger bei den Ulanen dienend, vermittelt durch seinen Onkel Fritz Jonas, die Gelegenheit erhielt, für Theodor Mommsen die ersten Korrekturen für dessen Werk über das Römische Strafrecht zu lesen, nahm er freudig an.9 Im Nachlass seines Sohnes finden sich sorgfältige Ausarbeitungen über Geschichte, lateinische

9

Oppenheim trat 1880 bei der Actiengesellschaft für Anilinfabriken (Agfa) ein, um seinen erkrankten Schwager und Gründer der Fabrik Paul Mendelssohn-­Bartholdy zu vertreten. Seit Gründung der I. G. Farben AG 1925 war er Mitglied in deren Verwaltungs- und Aufsichtsrat. Briefwechsel mit Theodor Mommsen und Erinnerungen an Theodor Mommsen, masch. M ­ anuskript, in: Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 40, Mappe 3.

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Abb. 4 Eingangshalle des Elternhauses, Berlin-­Dahlem, Messelstraße

Dichter und zahlreiche Schriftsätze, die seine umfassende humanistische Bildung deutlich machen.10 Der Protestantismus spielte im Leben der vollständig assimilierten Familie eine selbstverständliche und prägende Rolle. Nicht nur die Nachkommen Eduard von Simsons waren evangelische Christen. Auch die Nachkommen von Moses Mendelssohn, ­diesem Vorbild von Lessings Nathan der Weise, auf den sich ein Familienstrang mütterlicherseits zurückführen lässt, waren zum Protestantismus konvertiert. Eng war die Verbindung zu dem Pfarrer der Neuen ­Kirche, Berlin, Dr. Paul Kirmß, der die Predigten bei den Familien­ festen und Trauerfeiern hielt und die Kinder Otto sowie alle seine Geschwister taufte.11 Ernst von Simson, von 1918 bis 1922 leitender Mitarbeiter und schließlich Staatssekretär im Auswärtigen Amt, war auch nach seinem Rückzug in den einstweiligen Ruhestand, als er zu einem prominenten Vertreter der deutschen Wirtschaft wurde, weiterhin diplomatisch für das Deutsche Reich tätig. Hans-­Heinrich Herwarth von Bitterfeld, der ihm 1930 in der Deutschen Botschaft in Paris als Attaché zugeordnet war, als er Vorsitzender der Kommission war, die mit der französischen Regierung über eine vorzeitige Rückgliede­ rung des Saargebiets an Deutschland verhandelte, schrieb über ihn: 10 Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 40, Mappe 4, und Kasten 15, Mappe 1. 11 Siehe dazu Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 40, Mappe 2.

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Abb. 5 Der 12-jährige Otto mit seinem 13-jährigen Freund und Verwandten Robert Warschauer vor der Gartentreppe des Hauses der Familie Warschauer, Berlin-­Grunewald, Dachsberg 10

Seine Interessen waren außerordentlich vielseitig, so daß ich ständig von ihm lernen konnte. Er kannte die Memoiren des 19. Jahrhunderts wie kein anderer und verstand es, die europäische und vor allem die französische Geschichte für mich lebendig zu machen, wenn wir die historischen Stätten von Paris und Umgebung besuchten. Gemeinsam gingen wir in Museen und Antiquitätenläden, an ihm war ein Kunsthistoriker oder Antiquar von Format verloren gegangen. Niemand konnte sich seinem Charme entziehen.12

Als der junge Otto von Simson seinen Vater in Paris besuchte, zeigte ihm von Herwarth die Stadt. Nach dem Krieg sollten sie sich an der Universität Chicago wiedersehen, wo Otto von Simson eine Professur für Kunstgeschichte innehatte. Von Herwarth berichtet, er habe ihm zugeredet nach Deutschland zurückzukehren und ins Auswärtige Amt einzutreten, damit seinem Vater folgend, der in seinem Leben immer geistesgeschichtliche und politische Interessen gemeinsam gepflegt hatte.13 Zweifellos waren die Tradition 12 Hans von Herwarth, Zwischen Hitler und Stalin. Erlebte Zeitgeschichte: 1931 – 1945, Frankfurt a. M. u. a. 1982, 29. 13 Ebd.

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Abb. 6 Vita, Martin, Else, Dorothea, Otto und Anni von Simson im Haus Messelstraße, um 1927/28. Links an der Wand ein Gartenbild von Max Liebermann

­seiner Familie und das Vorbild seines Vaters wesentlich für die Persönlichkeitsentwicklung Otto von Simsons. Der Junge wuchs in einer liebevollen und ihn fördernden Umgebung mit fünf Geschwistern auf (Abb. 5 – 7). Auch die aus der späteren Zeit des Exils erhaltenen Briefe der Eltern sind warmherzig und voll Fürsorge. Seine drei Jahre jüngere Schwester Vita Petersen (1915 – 2011), die, auch mit Unterstützung Max Liebermanns, Malerin wurde, nach ihrer Emigration nach New York in der dortigen Kunstszene mit Hans Hofmann, Franz Kline, Willem de Kooning und Jackson Pollock befreundet war und zur ersten Generation der New York School gehört, erinnert sich an die Sommernächte ihrer Kindheit, in denen Otto im Nachthemd auf dem glyzinienbewachsenen Balkon stand, um im Mondschein Gedichte zu schreiben, „und ich mußte Wache stehen“14. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 zerstörte in der Folge für Millionen von Menschen aus rassistischen und politischen Gründen die Grundlage ihres Lebens und schließlich ihr Leben selbst. Die Entwicklung ging schnell, wenn auch die Tragweite vieler Eingriffe in bürgerliche Rechte selbst den Betroffenen erst allmählich 14 Lisa Zeitz, Auf Empfehlung Liebermanns, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Mai 2007.

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Abb. 7 Otto von Simson mit der zweiten Frau seines Großvaters Margarete Oppenheim, 1931, bei der Hochzeit seiner Schwester Else mit Otto Friedrich Achim von Arnim

bewusst wurde. Bereits am 15. Juli 1933 wurde Ernst von Simson aufgrund des am 7. April erlassenen Gesetzes zur Wiedereinführung des Berufsbeamtentums, § 6, in den dauernden Ruhestand versetzt, vertrat jedoch weiterhin wegen seiner großen Kenntnisse seine alte Dienststelle in internationalen Kommissionen, die durch die Locarno-­Verträge gebildet worden waren.15 In einer von antisemitischer Hetze geprägten Umgebung muss es für Ernst von Simson und seine Familie schließlich seit 1935 eine traumatische Erfahrung gewesen sein, den Familienstammbaum nach nichtjüdischen Vorfahren zu überprüfen und die Verdienste der Vorfahren hervorzuheben, um die eigene Lebensperspektive und die der Kinder durch die Herabstufung vom „Volljuden“ zum „Mischling“ zu verbessern.16 Von 15 Norbert Gross, Ernst von Simson. Im Dienste Deutschlands: Von Versailles nach Rapallo (1918 – 1922) (Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe, Bd. 28), Karlsruhe 2013, 10 – 14. 16 Gross (wie Anm. 15) geht detailliert auf die im Archiv des Auswärtigen Amtes liegende und in der genannten Publikation dokumentierte Korrespondenz ein. So wandte sich Ernst von ­Simson am 11. Dezember 1935 an Reichsaußenminister Konstantin von Neurath mit dem Antrag auf Herabstufung zum Mischling gemäß §7 des Beamtengesetzes. Dieser wandte sich daraufhin an den Reichsund preußischen Innenminister Wilhelm Frick. „[…] Im Falle des Herrn v. Simson liegen somit m. E. schwerwiegende Gründe vom Gesichtspunkt der Allgemeinheit und der deutschen Interessen für seine Befreiung von der Vorschrift, wonach er als mit einer Jüdin verheirateter Abkömmling von zwei volljüdischen Großeltern als Jude zu gelten habe, und für eine entsprechende Behandlung seiner Kinder vor. Ich befürworte daher aus pflichtgemäßer Überzeugung heraus den von dem Staatssekretär

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einer vorgesehenen Passsperre erfuhr – belegt durch einen von ihm gezeichneten Aktenvermerk vom 23. Dezember 1938 – sein ehemaliger Mitarbeiter und Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, der daraufhin verfügte, dass gegen die geplante Wohnsitznahme im Ausland keine Bedenken bestünden. Am 17. Januar 1939 konnte Ernst von Simson mit seiner Frau Martha über Montreux nach Oxford emigrieren.17 Am 7. November 1941 verstarb er in Oxford, ohne seinen Sohn noch einmal gesehen zu haben. Seine Witwe kehrte nach dem Krieg nach Berlin zurück und starb 1971. In dem bereits erwähnten Interview von 1991 sagt Otto von Simson über seinen Urgroßvater Eduard (Abb. 8): „he was of Jewish origin and a very devote Evangelical Christian“.18 Mit folgender Episode betont er den Stolz des Ahnherrn auf seine jüdischen Vorfahren: Als Präsident des Erfurter Unionsparlaments im Jahr 1850 sei der Abgeordnete Otto von Bismarck für kurze Zeit sein Generalsekretär gewesen. Als dieser sich aus irgendeinem Grund mit einem Rivalen duellieren wollte, habe ihm Simson dies untersagt. Auf die Bemerkung Bismarcks, nur ein Adliger könne verstehen, worum es geht, solle Eduard Simson geantwortet habe: „Ich komme aus einer Welt jüdischer Priester. Wir sind die ältesten Aristokraten der Welt“.19 Wahr oder nicht wahr, die Episode, von Otto von Simson erzählt, beschreibt dessen Sicht auf den jüdischen Ursprung der Familie sehr gut. Sie zu erzählen ist aber auch als eine Reaktion auf die Demütigungen zu verstehen, die er und seine Familie in Deutschland erfahren mussten. Otto von Simson stammte also aus einer Familie, für die die jüdische Herkunft nur noch eine ferne Erinnerung war. Als Mitglied einer Familie, deren gesellschaftlicher Aufstieg in der Überwindung von Klassen-, Religions- und Rassengegensätzen begründet war, fiel es ihm jedoch, wie auch seinem Vater und der Mehrheit des jüdischen oder jüdisch stämmigen Bürgertums anfänglich besonders schwer, das ganze Ausmaß der Gefahr zu erkennen, die die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete.

von Simson gestellten Befreiungsantrag.“ Der Antrag wurde am 26. August 1936 abgelehnt mit der Begründung, dass der Führer und Reichskanzler dem Antrag nicht entsprochen habe. Dazu auch Dieter Neitzert: „Aufgrund einer Besprechung mit Staatssekretär Bernhard Wilhelm von Bülow, in der Simson nahegelegt wurde, seine Kommissionsmandate auslaufen zu lassen, unterstützen Bülow und Neurath im Januar 1936 zwar dessen Bemühen, für sich und seine Kinder eine Herabstufung zu ‚Mischlingen‘ zu erreichen, scheiterten aber schließlich nach achtmona­tigem Warten auf Antwort.“ Ders., „Das Amt“ ­zwischen Versailles und Rapallo – Die Rückschau des Staatssekretärs Ernst von Simson, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 2012, H. 3, 452. 17 Da die Wohnsitznahme im Ausland mit einer Fortsetzung der Ruhestandsbezüge verbunden war, allerdings unter einem Widerrufsvorbehalt stand, bemühte sich die Personalabteilung des Auswärtigen Amtes seit November 1940 um die Rücknahme der Erlaubnis. Dazu Dieter Neitzert: „Am 14. Januar 1941 bestätigte Simson der Schweizerischen Gesandtschaft in London den Erhalt dieser Nachricht. […] Wahrscheinlich ist die geplante Ausbürgerung nicht mehr durchgeführt worden, weil Ernst von Simson am 7. Dezember 1941 in Oxford starb und in den Ausbürgerungslisten des Reichsanzeigers nicht genannt wird.“ Neitzert (wie Anm. 16), 453. 18 Art Historian Otto von Simson (wie Anm. 4), 3. 19 Wie Anm. 18.

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Abb. 8 Otto von Simson vor dem Porträt seines Urgroßvaters Eduard von Simson; es wurde 1968 bei einem Einbruch aus dem Haus in der Max-­Eyth-­Straße gestohlen.

Wie stellte sich die Situation für den Anfang 20-jährigen 1933 in München dar, wo er als Student der Kunstgeschichte lebte? Die Stadt hatte zwar einerseits liberale und weltoffene Seiten, doch erhielt sie auch den NS -Ehrentitel „Hauptstadt der Bewegung“ zu Recht. Hier war 1919 die NSDAP gegründet worden und hier saß die Parteileitung bis Kriegsende. Früh wurde hier die Ausschaltung der politischen Opposition betrieben, mit Dachau das erste Konzentrationslager errichtet und die systematische Verfolgung der Juden in Gang gesetzt. Folterungen und Hinrichtungen schufen ein Klima der Angst für jeden, der sich einer ausgegrenzten Minderheit zugehörig fühlen musste. Doch dürfte für Otto von Simson – trotz einer immer wieder emotional angespannten Gemütslage – noch für eine Weile das Studium und das Leben mit gleichgesinnten Freunden im Vordergrund gestanden haben. Dieser Kreis, der von jungen Adligen dominiert wurde und in dem er vor Angriffen sicher sein konnte, gab ihm gesellschaftlichen Halt. Er wird jedoch auch gespürt haben, dass es im extremen Fall den Freunden nicht möglich sein würde, ihn zu schützen. Joseph Alexander Graf Raczyński scheibt über den Beginn ihrer lebenslangen Freundschaft im Sommer 1932: „Das andere große Geschenk ­dieses Sommers war für mich die Freundschaft mit Otto von Simson.“20 Raczyński verdanken wir eine lebendige Beschreibung der Münchener Jahre. Er berichtet von Ottos großem, schönen Studentenzimmer, wo man sich mit Freunden zu „endlosen Gesprächen über Gott und die Welt“ bei einem Glas Wein traf und auf einem Flügel musizierte.21 Zu den Autoren, die den Freundeskreis faszinierten, gehörten neben anderen auch Stefan George und sein Kreis.

20 Raczyński (wie Anm. 3), 113. 21 Ebd., 114.

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Ausführlich beschreibt Raczyński die Faszination und Ambivalenz, die von Wilhelm Pinder ausging.22 Bei ­diesem bedeutenden Kunsthistoriker wollten er und von Simson promovieren.23 Dass er den Nationalsozialismus propagierte, war für sie kein Hinderungsgrund. Die Haltung der meisten Professoren und Dozenten sei, so Raczyński, mit der Machtübernahme erschreckend gewesen. So berichtet er, dass Professor Hugo Kehrer 24 auf einer Fachschaftssitzung im Sommersemester 1933 die Studenten nicht mit „Kommilitonen“, sondern mit „liebe Arier und Arierinnen“ ansprach.25 Und wie auch von Simson in dem Interview von 199126 erinnert er daran, dass die Privatdozenten Ernst Michalski 27 und Ernst Strauss 28 mit sofortiger Wirkung aus dem bayerischen Staatsdienst als „Nichtarier“ entlassen worden s­ eien 29 – wohl durch Anwendung des bereits erwähnten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Die von der deutschen Studentenschaft durchgeführte Bücherverbrennung, bei der am 10. Mai 1933 in Berlin und 21 weiteren deutschen Universitätsstädten die Werke missliebiger Autoren in Flammen aufgingen, hatte in München bereits vier Tage vorher auf Initiative der Hitler-­Jugend mit der Aktion wider den undeutschen Geist einen Vorlauf. Alle diese Ereignisse müssen auf den 21-jährigen Otto von Simson einen verstörenden Eindruck gemacht haben. Nicht unbekannt dürfte ihm gewesen sein, dass im folgenden Jahr

22 Ebd., 114 – 116. 23 Otto von Simson wurde am 14. Februar 1936 promoviert, am gleichen Tag wie der Studienfreund Christian Wolters, Joseph Raczyński einige Monate später. 24 Hugo Ludwig Kehrer (1876 – 1967), Kunsthistoriker und Theologe, habilitierte sich 1909 auf Empfehlung Heinrich Wölfflins mit einer umfangreichen Arbeit über Die Heiligen Drei Könige in Literatur und Kunst. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit wurde die spanische Malerei. 1933 wurde er Mitglied der NSDAP. Vgl. dazu: Friedrich Piel, Kehrer, Hugo, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 11, Berlin 1977, 400. 25 Raczyński (wie Anm. 3), 116. 26 Art Historian Otto von Simson (wie Anm. 4), 12: „There were, I think, very few – there were some, but very few – who realized from the beginning what this man [Hitler, H. G. H.] was about. So with Pinder, very soon of course the realities appeared. His only two assistants were both Jewish, Ernst Michalski and Ernst Strauss, both very brilliant men. Well, he just dropped them like hot potatoes. They weren’t allowed to stay on.“ 27 Ernst Michalski (1901 – 1936), Kunsthistoriker und Archäologe, habilitierte sich 1931 bei Wilhelm Pinder. Er bemühte sich vergeblich zu emigrieren. Von Pinder liegt ein sehr positives Zeugnis vom 31. Mai 1933 vor: „Ich verbürge mich nicht nur für seinen lauteren und vornehmen Charakter, sondern auch für seine starke Begabung und seinen ernsthaften Eifer […].“ Dazu: Ulrike ­Wendland, Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler, 2. Bde., München 1999, Bd. 2, 438 – 440. 28 Ernst Strauss (1901 – 1981), Kunsthistoriker und Pianist, habilitierte sich 1931 bei Wilhelm Pinder. Nach der Entlassung war er im Kunsthandel tätig, es folgte eine Pianistenausbildung. 1935 emi­ grierte er nach Italien, 1938 in die USA; 1949 Rückkehr nach Deutschland. Dazu Wendland (wie Anm. 27), Teil 2, 669 – 671. 29 Raczyński (wie Anm. 3), 116.

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sein gleichaltriger Kommilitone Ernst Kitzinger 30 unmittelbar nach seiner Promotion bei Pinder nach England auswanderte, da es für ihn als „Nichtarier“ in Deutschland keine Berufsmöglichkeiten mehr gab. Enttäuschung und Erschrecken über die politische Entwicklung in Deutschland s­ eien, so betont Raczyński, 1934 zweifellos der Hauptgrund für ihren Entschluss gewesen, das Studium in München abzubrechen und in Paris fortzusetzen.31 Durch die vielen Verbindungen Ernst von Simsons öffneten sich den beiden Studenten in Paris zahlreiche Türen, auch die des NS-kritischen deutschen Botschafters Roland Köster.32 Das Jahr scheint weitgehend unbeschwert gewesen zu sein. Doch werden aus der Ferne die politischen Veränderungen in Deutschland mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Mit Entsetzen nehmen sie den in der französischen Presse ausführlich behandelten Röhm-­Putsch wahr. In seinem Bericht geht Joseph Raczyński immer wieder auf die herzliche und kultivierte Atmosphäre in Ottos Elternhaus in der Berliner Messelstraße und in dem Sommerhaus „Sorgenfrei“ am Schliersee ein. Er erinnert an die gemeinsamen Besuche bei seiner eigenen Familie in Schloss Augustusburg bei Posen, den Ausritten, den Spaziergängen im Park und dem Besuch der Gemäldesammlung Raczyński in Posen. Auch von einem Besuch in Krakau berichtet er und von der Überraschung des Freundes, dort zum ersten Mal der Welt strenggläubiger Juden zu begegnen.

Konversion zum Katholizismus Bevor die Umstände der Emigration behandelt werden, soll versucht werden, Hintergrund und Beweggrund für die Konversion zum Katholizismus zu beleuchten, die für Otto von Simson wahrscheinlich eine größere Bedeutung hatte, als seine späteren Studenten an der FU Berlin annahmen. Dabei ist nicht gemeint, dass ohne eine genaue theologische Kenntnis das Verstehen und Interpretieren gotischer Sakralbaukunst unvollständig wäre. Zweifellos haben die Verbildlichung von Glaubensgrundsätzen und die Sinnenfreude katholischer Bilderwelten für Kunsthistoriker eine große Faszination. Aber das Eigentliche, Spirituelle des Glaubens zeigt sich doch erst demjenigen, der in seinen existenziellen Krisen in der Religion einen wesentlichen Halt findet. Dies scheint aufgrund der politischen Lage seit 1933 bei Otto von Simson der Fall gewesen zu sein. Doch gehen wir chronologisch vor. Die ­Kirchen, in Preußen insbesondere die protestantische, waren damals noch die stärksten gesellschaftlichen Instanzen. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung bekannte sich zu einer der beiden Konfessionen. So war auch deren Haltung zum Nationalsozialismus von großer Bedeutung. Das im Juli 1933 unterzeichnete Reichskonkordat ­zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich schien vielen die Sicherheit der Katholischen ­Kirche 30 Ernst Kitzinger (1912 – 2003) konnte mit Unterstützung Wilhelm Pinders seine Dissertation beschleunigt abschließen, um zu emigrieren. Dazu Wendland (wie Anm. 27), Teil 2, 365 – 371. 31 Raczyński (wie Anm. 3), 122. 32 Roland Köster (1883 – 1935). Dazu Robert W. Mühle, Ein Diplomat auf verlorenem Posten: Roland Köster als deutscher Botschafter in Paris (1932 – 1935), in: Francia, 23/3, 1996, 23.

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vor diktatorischen Eingriffen zu gewährleisten, führte aber auch dazu, den Widerstand von Geistlichen gegen das Regime aus taktischen Gründen zu unterbinden. Mehr als das Taktieren der Katholischen K ­ irche wird von Simson, seine Familie und seinen Freundeskreis jedoch das Erstarken der den NS-Staat unterstützenden Deutschen Christen beunruhigt haben, zu denen der Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller, der selbst seit 1924 die NSDAP gewählt hatte, inzwischen eine Gegenposition einnahm. Noch am 28. April 1934 hatte der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der bereits kurz zuvor öffentlich Stellung gegen die Judenverfolgung genommen hatte, in einem Brief an einen Freund in der Schweiz Niemöller kritisiert: Was in Deutschland in der K ­ irche los ist, wissen Sie ja wohl ebenso gut wie ich. Der National-­ Sozialismus hat das Ende der K ­ irche in Deutschland mit sich gebracht und konsequent durchgeführt. […] Daß wir vor dieser klaren Tatsache stehen, scheint mir kein Zweifel mehr zu sein. Phantasten und Naive wie Niemöller glauben immer noch, die wahren Nationalsozialisten zu sein.33

Die Deutschen Christen, deren Vorläufer in starken nationalistischen und rassistischen Strömungen innerhalb des deutschen Protestantismus in der Kaiserzeit lagen, hatten schon 1932 in Thüringen begonnen, eine am Führerprinzip orientierte, massiv rassistisch-­antisemitische ­Kirche zu etablieren. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme steigerten sich die Auseinandersetzungen innerhalb verschiedener Richtungen der Landeskirchen und es kam 1934 unter Mitwirkung Niemöllers zur Gründung der Bekennenden ­Kirche. Eine wichtige Quelle zum Verständnis des Übertritts von Simsons zum Katholizismus bildet neben seinen eigenen Erinnerungen erneut der Bericht Joseph Raczyńskis.34 Ebenso wichtig war mir ein Gespräch mit dem Romanisten und Theologen Dr. Herbert Gillessen, dem Pfarrer von Sankt Bernhard in Dahlem, mit dem Otto von Simson in den letzten Lebensjahren ausführliche Gespräche führte.35 33 Ulrich Kabitz, Notizen, in: Dietrich Bonhoeffer, Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943 – 1945, München 2006, 260. 34 Raczyński (wie Anm. 3), 121 und 145. In München machten im Sommer 1935 die Predigten des Erzbischofs Kardinal Michael von Faulhaber (1869 – 1952) in der Michaeliskirche auf Otto von ­Simson und Joseph Graf Raczyński einen tiefen Eindruck. Faulhaber argumentierte deutlich gegen den Antisemitismus, nahm allerdings, wie wir heute wissen, dem Regime gegenüber eine teilweise auch taktisch ambivalente Rolle ein. Ob von Simson als Student bereits den katholischen Theologen und Religionswissenschaftler Romano Guardini (1885 – 1968) kennen gelernt hat? Guardini hatte sich 1935 in seiner Schrift Der Heiland offen gegen die von den Deutschen Christen propagierte Mythisierung der Person Jesu gewandt und die enge Verbundenheit von Christentum und „jüdischer Religion“ mit der Historizität Jesu begründet. Jedenfalls war Simson viele Jahre später, 1987, in Berlin Mitbegründer der Guardini-­Gesellschaft, die sich die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur im Geiste Guardinis zur Aufgabe machte. 35 Herbert Gillessen war von 1966 bis 1975 Assistent am Institut für Romanistik der FU und lernte Otto von Simson bei einem Antrittsbesuch im Bischöflichen Cusanus-­Werk kennen, da dieser Vertrauensperson für die FU Berlin war. Nach seiner Assistentenzeit studierte Gillessen katholische Theologie. Otto von Simson war 1964 als Professor für Kunstgeschichte an die FU berufen worden.

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Raczyński erinnert an die gemeinsamen Gespräche über Fragen der Religion, angeregt durch die seit 1933 von Karl Barth herausgegebene Schriftenreihe Theologische Existenz heute und durch die Schriften der Bekennenden K ­ irche. Von Simson brachte seinen Freund schon im Sommer 1933 in Kontakt mit Pfarrer Eger, der ihn in der Kirchengemeinde Berlin-­Dahlem konfirmiert hatte und der inzwischen Superintendent in Naumburg war. Raczyński besuchte den Pfarrer in den folgenden Jahren noch zweimal und berichtet von dessen Sorge über die Entwicklung der protestantischen ­Kirche. In ihrem letzten Gespräch habe Eger ihm gesagt, er komme immer mehr zu der Überzeugung, „daß die katholische ­Kirche die alleinige von Jesus Christus eingesetzte ­Kirche sei.“36 In dem Interview von 1991 berichtet von Simson selbst, er habe bei einem Besuch in Berlin Pfarrer Eger aufgesucht, um ihm von seinem Übertritt zu berichten.37 Dessen Büro sei in dem Gebäude „dieses schrecklichen Bischofs der Deutschen Christen“ (gemeint ist wohl Ludwig Müller) gewesen, und der Pfarrer habe ihm gesagt, er stehe an einem offenen Grab. Er glaube nicht, dass die evangelische K ­ irche das Regime überleben werde. Vielleicht habe die katholische K ­ irche eine bessere Chance. Weiter berichtet von Simson, Pfarrer Martin Niemöller habe dem Bruder seines Vaters, der Gemeindevorsteher war, mitgeteilt, er beabsichtige, seine Gemeinde zur katholischen K ­ irche zu überführen. Sein Onkel habe gesagt, eine s­ olche Entscheidung könne nur individuell getroffen werden. Weiter führt er dann aus, dass sein Interesse an der Liturgie der ­Kirche einer der Gründe für die Konversion gewesen sei und verweist auf seine Schrift über Ravenna, Sacred Fortress. Der kurze Bericht Otto von Simsons, Jahrzehnte später, scheint mir, neben seinem Interesse an der Liturgie, in der Beschreibung der Schwäche der protestantischen ­Kirche in der NS-Zeit eine wichtige Erklärung für die Konversion zu liefern. Während die römische ­Kirche eine übernationale weltweite Struktur besitzt und daher, trotz Verstrickung einzelner Geistlicher und aus heutiger Sicht mangelhaften Widerstands, ihre Unabhängigkeit bewahren konnte, musste von Simson die rassistischen Strömungen und die Staatsnähe eines wesentlichen Teils der evangelischen ­Kirche deutlich ablehnen und sah auch in der Bekennenden K ­ irche für sich keine Heimat. Zwei Jesuiten-­Patres begleiteten, wie Pfarrer Gillessen bestätigte, Otto von Simson bei seinem Übertritt zum Katholizismus. Da ist zuerst Erich Przywara SJ (1889 – 1972) zu n ­ ennen.38 Raczyński berichtet, dass ein Vortrag Przywaras im Auditorium Maximum der Universität durch einen kleinen Kreis von Unruhestiftern in NS-Uniformen mit einem Pfeifkonzert und Eierwürfen gestört wurde und abgebrochen werden musste.39 Dieses Ereignis, bei dem die Universität zum ersten Mal gezwungen war, die Polizei zu Hilfe zu holen, dürfte Otto von Simson nachhaltig beeindruckt haben. Und dann Georg Prinz von Sachsen SJ

36 37 38 39

Beide trafen sich 1984 erneut, als Gillessen Pfarrer von St. Bernhard in Dahlem wurde, wo Otto von Simson Mitglied seiner Gemeinde war. Raczynski (wie Anm. 3), 121. Art Historian Otto von Simson (wie Anm. 4), 16, 17. Erich Przywara stand in Kontakt mit der Philosophin, Frauenrechtlerin und – seit 1933 – Karmeliterin Edith Stein (geb. 1891, ermordet 1942 im KZ Auschwitz-­Birkenau), die, als Jüdin geboren, 1922 zur katholischen ­Kirche übergetreten war. Raczynski (wie Anm. 3), 144.

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(1893 – 1943), der Sohn des letzten sächsischen Königs, der, noch Offizier im ­Ersten Weltkrieg, nach dem Ende der Monarchie in den Franziskanerorden eingetreten war, 1924 die Priesterweihe empfangen hatte und im folgenden Jahr Mitglied der Gesellschaft Jesu geworden war.40 Als Mitglied der ostdeutschen Provinz setzte er sich seit 1929 für die Verständigung der verschiedenen Konfessionen untereinander ein und mahnte im Hinblick auf den zunehmenden Antisemitismus, alle jüdischen und freisinnigen Mitbürger in diesen Prozess mit einzubeziehen. In der Öffentlichkeit wurden die Vorträge des ehemaligen Kronprinzen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. In Berlin war er 1933 an der Gründung des Canisius-­ Kollegs beteiligt. Ökumene und Widerstand gegen den Nationalsozialismus – er stand mit Mitgliedern des Kreisauer Kreises in Verbindung – waren wesentlich für sein Wirken. Mit beiden Geistlichen hatte Otto von Simson persönlichen Kontakt, doch begleitete ihn vor allem Pater Georg beim Übertritt zum Katholizismus. Bei seiner Eheschließung am 31. Oktober 1936 mit Louise Alexandra Prinzessin von Schönburg-­Hartenstein aus einer traditionell katholischen Familie dürfte der Entschluss noch nicht endgültig gefasst gewesen sein. Noch nennt die Trauungsurkunde 41 den evangelischen Glauben, doch schreibt Raczyński, den er im September 1936 in Augustusburg besucht hatte, er habe ihm bereits von der Konversion berichtet.42 Er selbst erinnert sich: „But only a year later, in 1937 – so not because of my marriage – I decided to become a Catholic.“43 Natürlich hätte Otto von Simson, ohne zum Katholizismus zu konvertieren, auch aus der evangelischen ­Kirche austreten können, da sie moralisch versagte. Doch scheint das für ihn keine Option gewesen zu sein. Vielmehr gab ihm in dieser Zeit die katholische ­Kirche den seelischen Halt, den er suchte. In ihr fand er wesentliche Unterstützer seiner Emigrationsbemühungen, ihr blieb er bis zu seinem Tod treu.

Emigration In den Monaten vor der Konversion und der Eheschließung 44 fand im August 1936 in Deutschland die Olympiade statt, während der man der Weltöffentlichkeit noch einmal ein friedliches Deutschland vorgaukelte. Doch bald danach wurde die antisemitische Hetze immer hemmungsloser, die Lage für Minderheiten und politische Gegner immer angespannter. Auch die Möglichkeit der Emigration wurde bald zunehmend eingeschränkt.

40 Georg von Sachsen trat gegen den anfänglichen Widerstand seines Vaters dem Orden bei. Dieser hatte als Sächsischer König noch 1917 für die Verschärfung des Jesuitengesetzes gestimmt, das dem Orden die Niederlassungsfreiheit untersagte. 41 Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Mappe 6. 42 Raczynski (wie Anm. 3), 170: „Otto war inzwischen konvertiert. Pater Georg S. J., der Sohn des Königs von Sachsen, hatte ihn zu d ­ iesem Schritt vorbereitet.“ Unterlagen über die Konversion sind im Erzbischöflichen Archiv München aufgrund von Kriegsverlusten nicht vorhanden. 43 Art Historian Otto von Simson (wie Anm. 4), 16. 44 Am 31. Oktober 1936 in der Franziskanerkirche in Salzburg.

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Otto von Simson, der als „Volljude“ gelten konnte (über die vergeblichen Bemühungen des Vaters seit 1935, den Status als „Mischling“ oder „Halbjude“ zu erhalten, war bereits berichtet worden)45, scheint spätestens seit 1936 geahnt zu habe, dass eine berufliche Laufbahn aufgrund seiner Abstammung nicht in Deutschland liegen konnte. Schon im April 1936 hatte er in England nach einer beruflichen Perspektive gesucht.46 Am 23. Juni 1936 wendet er sich aus London an seinen Doktorvater Wilhelm Pinder, in dem er sich auf bewegende Weise für die Münchener Studienjahre bedankt: Daß ich in dieser Zeit eine unsagbar mächtige, heiße, lebendige Berührung, ja Umarmung der Wissenschaft um Vergangenes mit der Not des uns aufgegebenen Lebens erfahren habe, eine heilige, den Stoff überleuchtende Begeisterung, ein mannhaftes, erwecktes Wissen um unseren Beruf an den Toren eines dämmernden Zeitalters ~! das möchte ich in dankbarer Bewegtheit des Herzens noch sagen dürfen […].47

In dem Brief bittet er Pinder um ein Empfehlungsschreiben für einen Forschungsaufenthalt in Südamerika zur Erforschung der dortigen Barockkunst. Pinder brachte die gewünschte Empfehlung bereits am 2. Juli 1936 zu Papier.48 Zu dem Studienaufenthalt kam es jedoch nicht. Zwar konnte von Simson mit seiner Frau noch eine Hochzeitsreise nach Rhodos unternehmen, doch wurden die Sorgen um die Zukunft immer drängender und die Jahre bis zur Emigration dürften zermürbend gewesen sein.49 Im Herbst 1937 reiste er nach Amerika, musste jedoch wegen einer Meningitis-­Erkrankung vorzeitig zurückkehren. Als er im Zusammenhang mit der Sudetenkrise 1938 zum Militärdienst eingezogen wurde, erhielt er einen Wehrpass, der seiner Erinnerung nach mehr wert war als ein gültiger Pass.50 Dies sollte für ihn bei seiner Ausreise Anfang 1939 wichtig werden.51

45 Offensichtlich wurde die Frage, ob von Simson als „Volljude“ oder als „Mischling“ zu behandeln sei, von den verschiedenen Behörden unterschiedlich beurteilt. Als er 1938 zum Wehrdienst eingezogen wurde, scheint die Frage keine Rolle gespielt zu haben. 46 Er fand am Courtauld Institute der University of London eine Aufgabe als freiberuflicher, also unbezahlter Mitarbeiter der Bibliothek, keine echte Lebensperspektive! 47 Otto von Simson an Wilhelm Pinder, siehe Berlin-­Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Nachlass Pinder, Nr. 202. 48 Wilhelm Pinder an Otto von Simson, siehe Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von ­Simson), Kasten 41, Mappe 2. 49 Vgl. dazu Louise Alexandra von Simson, Prinzessin von Schönburg-­Hartenstein, Happy Exile (1939 – 56), mit einem deutschsprachigen Vorwort ihres Mannes Otto von Simson, Privatdruck 1981, 20 – 37, Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 43. 50 Art Historian Otto von Simson (wie Anm. 4), 18 – 19. 51 Von dem Wehrdienst-­Kommando München II liegt mit Datum 26. Mai 1939 die offensichtlich nachträglich erteilte Zustimmung vor, dass Otto von Simson vom 20. Mai 1939 bis zum 21. Dezember 1939 in die USA ausreisen dürfe; Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 41, Mappe 6. Dazu auch Anm. 45.

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Jüdische Hilfsorganisationen, die bei der Hilfe zur Emigration immer größere Hürden zu überwinden hatten, waren für den Katholiken zur Unterstützung seiner Bemühungen keine Ansprechpartner, so wie sie auch später in den USA keine Hilfe bei der Suche nach einer beruflichen Perspektive boten. Unterstützung erhielt er durch Pfarrer Joseph D. Ostermann vom Committe for the Catholic Refugees from Germany in New York, der seinerseits Gutachten einholte. So liegt von Walter Friedlaender (1873 – 1966), der bereits 1933 in die USA emigriert war und Otto von Simson aus dessen erstem Semester in Freiburg kannte, ein zweiseitiges, handschriftliches Gutachten an Pfarrer Ostermann vor, in dem er von Simson als klug und angenehm beschreibt, aber auch, dass er „recht nervös, leicht erschrocken […] oft sehr hilfsbedürftig, auch etwas überzart, schwärmerisch-­romantisch“ sei. „Eigentlich sehr deutsch (älteren Styls) – woran sein (mehr als 50 %) sogenanntes ‚nicht-­arisches Blut‘ […] wohl nicht hindert“ [sic].52 Doch wen wundert die Gemütslage des so beschriebenen Mitte Zwanzigjährigen, der bald immer wieder auch persönlichen Mut beweisen sollte. Er und seine Frau lebten damals in Berg am Starnberger See, dann in München, wo ihr erster Sohn Ernst Martin (gen. Ernie) fast an dem gleichen Tag zur Welt kam, an dem mit dem Anschluss Österreichs am 11./12. März 1938 die letzte Hoffnung schwand, in einem deutschsprachigen Land eine berufliche Tätigkeit zu finden. Es war in dieser Lage ein großes Glück, dass von Simson von einflussreichen Persönlichkeiten Unterstützung erhielt. Auf Vermittlung des Berliner Bischofs Konrad Graf von Preysing wandte sich u. a. am 27. Oktober 1937 Kardinal Eugenio Pacelli 53, der spätere Papst Pius XII., an den Weihbischof von Boston, Msgr. Francis J. Spellman, mit der Bitte um Unterstützung.54 Hilfreich wird auch gewesen sein, dass Kardinal Pacelli Otto von Simsons Schwiegervater, Johannes Prinz von Schönburg-­Hartenstein 55, aus dessen Zeit als Botschafter am Heiligen Stuhl gut kannte.56 Und am 22. Dezember 1937 schrieb Erwin Panofsky ebenfalls an Pfarrer Ostermann in New York.57 Die erwähnte erste USA-Reise von Simsons fällt in diese Zeit. Doch es folgten weitere Monate der Unsicherheit und Sorge. In der katholischen Zeitschrift Hochland,58 die eine deutliche Gegenposition zur nationalsozialistischen I­ deologie 52 Walter Friedlaender an Pfarrer Ostermann, 27. Dezember 1937, handschriftlich beidseitig beschriebenes Gutachten, Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 41, Mappe 2. 53 Eugenio Pacelli (1876 – 1958), seit 1909 Professor an der Päpstlichen Diplomatenakademie in Rom, von 1909 bis 1914 auch Professor für kanonisches Recht am Institut Sant’Apollinare und seit März 1911 Untersekretär von Pietro Gasparri, Leiter der Kongregation für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten. 54 Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 41, Mappe 2. 55 Johannes Prinz von Schönburg-­Hartenstein (1864 – 1937) war seit 1911 Botschafter beim Heiligen Stuhl. 56 Louise Alexandra von Simson (wie Anm. 49), 27. 57 Erwin Panofsky an Pfarrer Ostermann, 22. Dezember 1937, siehe Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 41, Mappe 2. 58 Das Hochland war eine von 1903 – 1941 und von 1946 – 1971 erscheinende, von Carl Muth gegründete katholische Zeitschrift, die von 1933 bis 1941 vom geistigen Widerstand gegen die nationalsozialistische Haltung bestimmt wurde.

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einnahm, bis sie 1941 verboten wurde, arbeitete er von 1937 bis 1938 als Redakteur und konnte einige Texte unterbringen. Auch das Pogrom vom 10. November 1938, die sogenannte „Reichskristallnacht“, musste von Simson noch miterleben. Schließlich liegt vom 29. Dezember 1938 ein Affidavit mit einer Bürgschaft des deutschstämmigen Ewald Schniewind für einen sechsmonatigen Besuchsaufenthalt von Simsons und seiner Frau in den USA vor.59 Raczyński schreibt: Im Februar 1939 waren Lulix [so wurde Otto von Simsons Frau in Familie und Freundeskreis genannt, H. G. H.] und Otto nach Amerika abgereist. Den Sohn hatten sie bei Ottos Schwester Else von Arnim in Blankensee zurückgelassen. Im Juni kehrte Lulix zurück, um die Wohnung in München aufzulösen, die Möbel und Bilder einzulagern und mit Ernie nach Amerika zurückzureisen. Für den 1. September hatte sie eine Passage auf der Bremen. An ­diesem Tag brach der Krieg aus, die Passage verfiel. […] Nach endlosen Schwierigkeiten gelang es ihr, mit Ernie nach Italien zu entkommen und dort ein Schiff nach Amerika zu besteigen, das sie zu Otto brachte.60

Nachbemerkung Wenn man Otto von Simson, wie im Titel d ­ ieses Beitrags, einen Repräsentanten einer „jüdisch-­protestantisch-­preußischen Gesellschaft“ nennt, so trifft dies zweifellos auf seine prägende familiäre Herkunft zu. Doch würde man ihn vermutlich nicht so einordnen, hätte es den Nationalsozialismus nicht gegeben. Ob er unter anderen politischen Verhältnissen, also ohne die widerwärtige Rolle der Deutschen Christen, auch zum Katholizismus konvertiert wäre, allein wegen der Verbundenheit zu seiner Frau, seinem Interesse an der Liturgie oder einer theologisch begründeten Nähe zur katholischen Konfession, kann man auf Grund seiner Herkunft aus dem protestantisch-­preußischen Milieu Dahlems bezweifeln. Sicher ist jedoch, dass er durch die Konversion und das intensive Studium der Liturgie als gemeinsam erfahrener Verehrung Gottes bis zu seinem Tod in der Katholischen ­Kirche eine geistige Heimat fand. Sich die durch den Glauben überwundene existenzielle Krise jener Jahre bewusst zu machen, ist, so meine ich, ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis auch des kunsthistorischen Werks von Otto von Simson. Jüdisch, protestantisch, preußisch und – aufgrund eigener Überzeugung – katholisch sind die Begriffe, mit denen eine Annäherung an die Person gelingen kann. Dieser Beitrag endet mit der Vorkriegszeit. Die späteren Jahre, die Zeit des Exils in den USA mit den wichtigen Publikationen zu Ravenna und zur gotischen Kathedrale, die 59 Die eidesstattliche Erklärung ist gleichzeitig eine Bürgschaft, in der Schniewind seine finanziellen Verhältnisse darlegen musste, vgl. Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), ­Kasten 41, Mappe 2. 60 Raczyński (wie Anm. 3), 211. Ausführlicher: Louise Alexandra von Simson (wie Anm. 49), 26 – 38.

Otto von Simson in der katholischen Kirche | 31

Rückkehr nach Deutschland und sein Wirken an der Freien Universität in Berlin, haben das Bild Otto von Simsons geprägt, das vor allem von ihm überliefert ist. Es ist jedoch, wie dargelegt werden sollte, ein unvollständiges. Die Verbundenheit mit der preußischen Herkunft, die Liebe zu seiner Heimat und die Kunst Europas waren für den Katholiken in den Jahren des „Happy Exile“, so die Beschreibung der Jahre in den USA durch seine Frau, immer lebendig geblieben. Seine Studenten konnten diese Verbundenheit erleben, wenn er beispielsweise von West-­Berlin aus nicht leicht zu organisierende Exkursionen zu den backsteingotischen ­Kirchen der DDR unternahm, sich für einen Freundeskreis der Preußischen Schlösser und Gärten engagierte oder mit einem Königin-­Luise-­Kreis im Sommer 1990 Schloss Paretz besuchte, um in der dortigen ­Kirche an den 180. Todestag der Monarchin zu erinnern.

Anna Maria Voci

„Et in Arcadia ego!“ Otto von Simsons Tagebuch seiner italienischen Reise im Frühjahr 1932

„Abends bei kaltem, schneeigem Wetter aus München fort und noch an Goethes 100. Todestag die Alpen überquert, was mich mit einer seltsamen Genugtuung und dem Gefühl eines schönen Vorzeichens erfüllt.“1

Mit diesen Worten beginnt Otto von Simson am 22. März das Tagebuch zu seiner 1932 unternommenen Reise. In der Tat ist für den kaum zwanzigjährigen Münchner Studenten das Vorbild Goethes sehr präsent, was auf der einen Seite vielleicht als unbescheiden oder sogar verwegen, auf der anderen aber wohl als selbstverständlich erscheinen mag, denn nach der Publikation von Goethes Berichten und Tagebuchaufzeichnungen aus Italien „ist keine Reise dorthin mehr ohne seinen Einfluss zu denken“.2 Daher der Titel d ­ ieses Beitrags. Denn bekanntlich stellte Goethe dem Erstdruck seiner 1816 – 1817 in zwei Bänden veröffentlichten Italienischen Reise das Motto „Et in Arcadia ego!“ voran, das er aber dann in der sogenannten Ausgabe letzter Hand (1829) strich.3 Von Simson muss sogar ein Exemplar von Goethes Buch im Gepäck gehabt haben, denn er zitiert aus dessen Text mehr als einmal in einer Weise, die diesen Schluss nahelegt.4 Goethe war also das literarische und im Grunde offensichtliche Vorbild. Dennoch sind die eigentlichen geistigen Quellen, aus denen das hier vorgestellte Tagebuch überwiegend 1

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Am 22. März 1932 ist der Titel eines Gedichtes von Otto von Simson, das in einem Heft zusammen mit anderen poetischen Versuchen, die nicht alle über einen Titel und ein Datum verfügen, enthalten ist (Berlin, Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung, NL 290 [Otto von Simson], ­Kasten 1, Gedichte Heft 1). Einen Titel haben folgende Kompositionen: In der Eisenbahn durch die Lüneburger-­Heide, Gebet des Brunnens, An Hölderlin (mit dem Datum 1928), Friedrich ­Gundolf. Ich verdanke Ingo Herklotz die freundliche Zusendung einer Reproduktion ­dieses Heftes. Zu bemerken ist die Tatsache, dass von Simson sowohl im Goethe- wie im Gundolf-­Gedicht, das aus Anlass des Todes von Gundolf (12. 7. 1931) geschrieben wurde, das Schriftbild Stefan Georges übernimmt, denn alle Substantive sind klein- und alle Anfangsbuchstaben der Verse großgeschrieben. So Dorothea Kuhn in der Einleitung zum Katalog der Ausstellung im Schiller Nationalmuseum in Marbach (1966), Auch ich in Arkadien. Kunstreisen nach Italien 1600 – 1900, Stuttgart 1966, 6. Petra Maisak, „Et in Arcadia ego“: Zum Motto der ‚Italienischen Reise‘, in: Goethe in Italien. Eine Ausstellung des Goethe-­Museums Düsseldorf, hg. von Jörn Göres, Mainz 1986, 133 – 145. Vgl. auch dies., Et in Arcadia ego. Anmerkungen zur Entwicklung des arkadischen Wunschbilds in Italien und zur Rezeption der Goethezeit, in: Italienbeziehungen des klassischen Weimar, hg. von Klaus Manger, Tübingen 1997, 11 – 31. Vgl. die Tagebucheinträge vom 31. März, 18. und 28. April.

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schöpft, andere, und zwar zeitgenössische oder modernere, denn von Simson war natürlich Kind seiner Zeit. Das sollte im Laufe ­dieses Beitrags deutlich werden. Bei der Reise von 1932 handelte es sich offenbar um von Simsons ersten Besuch des Landes. Kurz zum Itinerar: Von Simson kam am 23. März in Rom an, wo er am Bahnhof von seinem entfernten Cousin, dem später berühmten Historiker Felix Gilbert empfangen wurde, der sich damals in Italien aufhielt.5 Gilbert begleitete ihn auch nach Florenz.6 In Rom blieb von Simson bis zum 4. April. Während dieser Zeit besuchte er auch die Umgebung der Stadt (Tivoli, Frascati, Genzano, Ostia, Palestrina, Subiaco). Am 5. April reiste er nach Florenz, unterbrach die Fahrt allerdings für einige Stunden, um Orvieto zu besuchen. In Florenz kam er in der Nacht vom 5. April an. Dort blieb er bis zum 30. des Monats, an dem er nach Arezzo abreiste. Während der Florentiner Zeit machte er einen Ausflug nach Siena und San Gimignano (23. April). Am 30. April kam er spät abends in Perugia an, wo er sich einen weiteren Tag lang aufhielt. Am 2. Mai begab er sich dann nach Assisi, kehrte aber am Abend wieder nach Perugia zurück, bevor er am Abend des 3. Mai erneut nach Florenz fuhr und dort den Nachtzug nach München bestieg. Was bei der Lektüre des Tagebuchs auffällt, ist die fast völlige Abwesenheit aller Beobachtungen über die einheimische Bevölkerung, über die Italiener. Nur einmal, am 3. April, auf der Rückfahrt von Frascati nach Rom, bemerkt der Verfasser: „Das Volk hier ist noch immer von unglaublicher Schmutzigkeit, an die man sich kaum gewöhnt. Aber die Herzlichkeit und naive Freundlichkeit dieser einfachen Menschen versöhnt einen sogleich.“ Wie es scheint, hatte der junge Student zu gebildeten Italienern kaum Kontakt, zumindest erwähnt er davon nichts, Begegnungen mit deutschen Intellektuellen gab es dagegen sehr wohl. Eine ähnliche Wortkargheit betrifft auch die Politik. Zwar erwähnt der Autor flüchtig und missbilligend am 10. April den faschistischen Bebauungsplan von 1931, der den Abriss 5

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Vgl. Felix Gilbert, Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905 – 1945 (deutsche Übers. des engl. Originals: A European Past. Memoirs. 1905 – 1945, New York 1988), Berlin 1989, 124. In G ­ ilberts Erinnerungen wird jedoch dieser römische Besuch Otto von Simsons nicht erwähnt. Felix G ­ ilberts Großmutter mütterlicherseits, Enole Oppenheim, war die Schwester von Otto von S­ imsons Großvater mütterlicherseits, Franz Otto Oppenheim. Beide, Gilbert und von Simson, waren darüber hinaus Nachkommen der Familie von Moses Mendelssohn: Felix stammte aus dem Zweig von ­Abraham Mendelssohn und seinem Sohn, dem Komponisten Felix; Otto aus dem Zweig von Abrahams Bruder, Joseph Mendelssohn, und seinem Sohn, dem Bankier Alexander Mendelssohn. Zu Gilbert vgl. bes. Horst Fuhrmann, Felix Gilbert, ‚Botschafter des Weimarer Geistes‘, in: ders., Menschen und Meriten. Eine persönliche Portraitgalerie, München 2001, 213 – 219. Von 1930 bis zum Frühjahr 1933 lebte Gilbert abwechselnd in Berlin, wo er seine von Friedrich Meinecke betreute Dissertation über Johann Gustav Droysen für den Druck vorbereitete und für die Preußische Akademie die politischen Schriften Droysens herausgab, und in Italien, wo er im Florentiner Archiv und im Deutschen Historischen Institut in Rom arbeitete: Gilbert (wie Anm. 5), 124. 45 Jahre danach gedachte Gilbert Otto von Simsons erster Reise nach Florenz, auf der sie Reise­gefährten gewesen waren: vgl. Felix Gilbert, Andrea del Sartos ‚Heilige Familie Borgherini‘ und Florentinische Politik, in: Festschrift für Otto von Simson zum 65. Geburtstag, hg. von Lucius Grisebach und Konrad Renger, Frankfurt a. M. 1977, 284 – 288, hier 284.

„Et in Arcadia ego!“ | 35

vieler älterer Gebäudekomplexe in der Innenstadt Roms vorsah, um Platz für einige herausragende Monumente zu schaffen, oder er beschreibt am 21. April die faschistische Feier des „Natale di Roma“, die sich direkt vor seinem Florentiner Hotel abspielte, aber ­solche Bemerkungen bleiben Ausnahmen. Kommentare zu Italiens politischem Regime finden sich nicht. Noch weniger äußert er sich über die damalige politische Situation in Deutschland, wo sich verhängnisvolle Veränderungen anbahnten und wo, wenn auch noch nicht der Kollaps der Weimarer Republik bevorzustehen schien, sich doch bereits die fortschreitende Aushöhlung der demokratischen Verfassung abzeichnete. Dieses Schweigen ist umso verwunderlicher, wenn man feststellt, dass von Simson am 10. April, bald nach seiner Ankunft in Florenz, Karl Wolfskehl einen Besuch abstattete. Der Schriftsteller, Dichter und Übersetzer Wolfskehl (1869 – 1948) war der Spross einer jüdischen Patrizierfamilie aus Hessen. Nach seinem Studium übersiedelte er nach München und wurde eine der herausragenden Persönlichkeiten des Kreises um Stefan George, mit dem zusammen er von 1892 bis 1919 die Zeitschrift Blätter für die Kunst herausgab. Wolfskehl hatte sich in den zwanziger Jahren in Florenz als Hauslehrer niedergelassen, mit häufigen längeren Besuchen in Deutschland. Bereits einige Zeit vor der Machtergreifung Hitlers hatte er die eingreifenden Veränderungen der politischen Dinge in Deutschland erkannt und die Bedrohung für die Juden vorausgesehen.7 Gleich nach den Reichstagswahlen vom 14. September 1930, als die NSDAP zweitstärkste Fraktion im Reichstag geworden war, hatte Wolfskehl einem Freund geschrieben „Incipit Chaos et Regnum Barbarum“.8 Ende Februar 1933, also wenige Monate nach von Simsons Besuchen, sollte er Deutschland aus politischen Gründen endgültig den Rücken kehren.9 Zwar schreibt von Simson am 10. April 1932, dass er mit Wolfskehl ein längeres Gespräch gehabt habe, doch scheint es, dass ihre Unterhaltung nur den neuen Piano Regolatore di Roma der faschistischen Regierung zum Gegenstand hatte. Nach Ausweis des Tagebuchs sah er Wolfskehl noch häufiger. Am 17. April erfahren wir nur, er habe mit 7 8 9

Vgl. Wolfskehls Brief an Albert Verwey vom 29. 9. 1929, zit. in: Andreas Nentwich, Karl Wolfskehl (1869 – 1948) – nebst einem neuaufgefundenen Dokument zu Wolfskehls Gießener Studienzeit, in: Gießener Universitätsblätter, 17, 1984, 63 – 77, hier 72. Zit. nach Friedrich Voit, Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil, Göttingen 2005, 73. Nach der Machtergreifung Hitlers ging er erst in die Schweiz, dann nach Italien. Er wohnte zuerst in Florenz, dann in Camogli und Recco (Ligurien). 1938 floh er nach Neuseeland. Rückblickend erklärte er seine Abkehr von Europa folgendermaßen: „Die italienischen Jahre verliefen ungestört […] bis nach jenem München-­Berlin-­Besuch des römischen Cäsar-­Affen [Mussolinis Reise nach Deutschland z­ wischen dem 24. und dem 29. 9. 1937]. Nach dessen Rückkehr wurden die Zeitungen, und zwar ­solche wie ‚Stampa‘ oder ‚Corriere della Sera‘ am unverhülltesten, buchstäblich von einem Tag zum anderen drohend, bös und antijüdisch […]. Und da Italien die M ­ utter der Humanität, mir von je Wahlheimat […] gewesen ist, überlief es mich kalt und glühend heiß zugleich vor Abscheu und Zorn, der Europa-­Ekel erstickte mich fast und ich beschloß, so weit weg zu gehen als dies überhaupt auf ­diesem Kleinplanet möglich ist.“ Vgl. „Du bist allein, entrückt, gemieden…“. Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938 – 1948, 2 Bde., hg. von Cornelia Blasberg, Darmstadt 1988, Bd. 2, 924 – 928, Brief Nr. 431 an Bella Fromm vom 31. 1. 1947. Zu Wolfskehl bes. Friedrich Voit, Wolfskehl, Karl Joseph, in: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 3, hg. von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann, Berlin 2012, 1765 – 1771.

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ihm am Abend ein Gespräch über Literatur geführt: Droste, Kleist, Hölderlin (einen der Lieblingsdichter des George-­Kreises)10, Büchner und E. T. A. Hoffmann kamen dabei zur Sprache.11 Man ahnt, über welch außergewöhnliche literarische Bildung der junge Otto von Simson damals bereits verfügt haben muss. Politisches kommt erst am 25. April zum Tragen, als von Simson den bekannten Verfasser der monumentalen Geschichte von Florenz, den Historiker Robert Davidsohn (1853 – 1937), „Doyen“ der deutschen Kolonie zu Florenz,12 besuchte, der zu dieser Zeit fast 80 Jahre alt war. Der Besuch bei Davidsohn war eine feste Gewohnheit der gebildeten Deutschen, die sich in Florenz für eine mehr oder weniger lange Zeit aufhielten. Felix Gilbert, der von 1930 bis zum Frühjahr 1933 über längere Perioden in Rom und Florenz lebte, besuchte Davidsohn ebenfalls mehrere Male.13 Von seiner Begegnung erzählt von Simson, er habe wohl eine halbe Stunde lang der eindrucksvollen Gestalt Davidsohns zugehört, „wie er mit klarer, gleichmäßiger, wie verwirrter Stimme seine Meinungen über die Vergangenheit und die trübe deutsche Gegenwart […] darlegte“. Hier weist von Simson insbesondere auf ihr Gespräch über den Ausgang der am 24. April abgehaltenen Landtagswahlen hin, die in den meisten Bundesländern mit starken Stimmengewinnen der NSDAP ausgegangen waren.14 Von Simson fährt dann aber fort: „Seltsam altmodische Meinungen, wie aus einer anderen Welt, doch in sich unerschütterlich abgeschlossen und von größter Einheitlichkeit und Schärfe, die er mit Bewegungen seiner ­schönen Hände anschaulich zu machen wußte.“ Aus dieser Äußerung Rückschlüsse auf von ­Simsons politische oder weltanschauliche Tendenzen und Sympathien zu ziehen, fällt schwer. Dennoch scheint der Ausdruck „seltsam altmodische Meinungen“ auf die kosmopolitische, freiheitlich-­demokratische Sicht eines Liberalen des 19. Jahrhunderts, wie es Davidsohn war, hinzuweisen, die im Deutschland der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts tatsächlich unzeitgemäß erscheinen konnte. Vielleicht kommt hier indes auch der Einfluss jener konservativen Utopie Stefan Georges und seines Kreises zum Ausdruck, die davon ausgingen, dass eine Erneuerung des als verdorben und untergegangen empfundenen 10 Im Nachlass von Otto von Simson ist ein Gedicht an Hölderlin aus dem Jahre 1928 erhalten, vgl. Anm. 1. 11 Kurz nach von Simsons Besuchen, und zwar noch im April 1932, verließ Wolfskehl Florenz, wo er sich seit dem November 1931 aufgehalten hatte. Er ging nach Basel, wo er bei Edgar Salin wohnte, der ebenfalls intensive Kontakte zu Stefan George unterhalten hatte und seit 1927 in Basel Professor für Nationalökonomie war. Vgl. „Von Menschen und Mächten“. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl: Der Briefwechsel 1892 – 1933, hg. von Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann, München 2015, 828 – 830. 12 So hat ihn Steffi Roettgen bezeichnet: Dal „Börsen-­Courier“ di Berlino al „Genio“ di Firenze. Lo storico Robert Davidsohn (1853 – 1939) e il suo inedito lascito fiorentino, in: Storia dell’arte e politica culturale intorno al 1900. La fondazione dell’Istituto Germanico di Storia dell’Arte di Firenze, Venedig 1999, 313 – 338, hier 316. So auch, nach Roettgen, Bernd Roeck, Florenz 1900. Die Suche nach Arkadien, München 2001, 265. 13 Gilbert (wie Anm. 5), 116 und 126. 14 Vgl. Hans Mommsen, Aufstieg und Niedergang der Republik von Weimar 1918 – 1933, 4. Aufl., Berlin 2016, 497 – 498.

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Deutschlands nur im ­­Zeichen der Jugend und einer neuen de facto unpolitischen Aristokratie des Geistes erfolgen konnte.15 Eine ­solche kulturpessimistische oder kulturkritische Einschätzung der Gegenwart, verbunden mit einer visionären, nebulösen und irrational gefärbten Idealisierung der Zukunft, war der liberalen Weltanschauung diametral entgegengesetzt und konnte in der Tat in ein hierarchisches Gesellschaftsmodell einerseits und in eine Politikverdrossenheit andererseits münden. Fest steht jedenfalls, dass von Simson die Gedichte Georges kannte, denn im Tagebuch zitiert er zwei Verse aus dem ersten ‚Nachtgesang‘, und zwar im Zusammenhang mit seinem Kommentar zur ‚Erschaffung Adams‘ in Michelangelos Deckenmalerei der Sixtinischen Kapelle. Wie sehr er in seiner Jugend von dem Dichter beeinflusst war, unterstreicht von Simson überdies in seinem späten Interview mit Richard Cándida Smith im November 1991. Auch seine Jugendgedichte, die im Nachlass bewahrt sind, zeugen von Georges Wirkung. Alles in allem scheint es, dass der junge Reisende in Italien ganz von Kunst und Landschaft in Anspruch genommen wurde. Das ist einigermaßen verwunderlich, nicht nur, weil „niemand, der in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren in Deutschland lebte, der Politik entrinnen“ konnte,16 wie Felix Gilbert Jahre später behauptete, sondern weil von Simson selbst in einem anderen Interview, das er 1982 dem Sender RIAS Berlin gab, ausdrücklich beteuerte, er habe sich von Anfang an mit der Kunstgeschichte als einer Disziplin befasst, die mit dem politischen Leben und der Gesellschaft in Zusammenhang stehe. Davon ist in seinem frühen Tagebuch noch nichts zu spüren, und man fragt sich einmal mehr, inwieweit das Narrativ der eigenen Vita als historisch verlässliche Quelle gelten darf. Der von Simson der Italienreise war durch und durch Schöngeist, beein­ druckend frühreif zwar, was seine Kenntnisse der Kunst und sein ästhetisches Urteil angeht, doch zugleich poetisch-­schwärmerisch, romantisch und wohl auch ein wenig weltfremd. So zumindest liest sich das Porträt, das er in seinem Tagebuch von sich selbst entwirft. Fraglos verdankte sich diese Selbsteinschätzung ein Stück weit auch der Tradition so vieler Deutscher, die mindestens seit dem 17. Jahrhundert Bildungsreisen nach Italien unternommen hatten, um dort eben nur die arkadische Seite des Landes wahrzunehmen, in primis Goethe und Jacob Burckhardt: großartige Kunst, die den Menschen zu erhabenen Gedanken führt, die seine geistigen Kräfte harmonisch fördern; herrliche Landschaft, die ihm innere Ruhe, seelisches Gleichgewicht, ja ein wahres Glücksgefühl einflößt. In seinem Buch über Goethe, das von Simson gekannt haben dürfte, hatte Friedrich G ­ undolf, ein anderes Mitglied des George-­Kreises, behauptet, dass dieser seine italienische Reise „vor allem […] als Augenmensch und zur Bildung seines Auges unternommen“ habe, und zwar des Auges für Natur und Kunst.17 Ganz so scheint auch der junge von Simson den Sinn seiner Reise verstanden zu haben. 15 Zu Stefan Georges Auffassung der Politik, zu seinen Vorstellungen eines „neuen“ geistigen deutschen Reiches jenseits der politischen Kämpfe, dessen künftige Herstellung Aufgabe der deutschen Jugend sein sollte, vgl. Thomas Karlauf, Stefan George, Frankfurt a. M. 2007, 547 – 585, bes. 577 – 582. 16 So Gilbert (wie Anm. 5), 86. 17 Friedrich Gundolf, Goethe, Berlin 1920, 365.

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Das Tagebuch zeichnet sich ebenso durch seine Landschaftsbeschreibungen aus, die bisweilen durchaus eindrucksvoll klingen, gerade dann, wenn es um die Schilderung der inneren Stimmungen, die die Landschaft im Betrachter hervorruft, geht. Die flüchtigen, dennoch bildhaften Andeutungen vermögen es oft, durch die Wahl eines einzigen, besonders wirksamen Adjektivs, meist eines Farbadjektivs, eine nahezu lyrische Wirkung zu entfalten. Hierin könnte man vielleicht einen Einfluss der deutschen Symbolisten, insbesondere Hugo von Hofmannsthals, erkennen.18 Ich nenne drei Beispiele. Am Abend seiner Ankunft in Rom, am 23. März, geht von Simson mit Felix Gilbert bei klarem und kühlem Wetter den Pincio entlang spazieren, und er beobachtet: „Links im Westen die sinkende Sonne, davor die Stadt in feenhaftem, stillem Licht wie auf Claude Lorrainschen Bildern – oder schon als purpurne und violette Silhouette vor dem Horizont“. Am 3. April, als er bei wolkigem Wetter in Frascati steht, beschreibt er den unendlichen Blick über die Campagna und Rom bis ans Meer, den man von der Villa Falconieri aus hatte, wobei er hinzufügt: „Heute aber war alles in silbrigen, unheimlichen Dunst gehüllt und dem Blick verwischt“. Hier ist das Adjektiv „silbrig“ besonders wirksam und treffend. Ein weiteres schönes Beispiel bietet der Eindruck des Lago Trasimeno am 30. April: „Im schnell einsinkenden Abend lag der blaue See mit den violetten, ihn hart umsaumenden Gebirgsketten und dem dunklen Tal, in welchem einst die unvergessliche Schlacht geschlagen wurde, da, wie von Traum und Vergangenheit belebt.“ Manche Landschaftsbeschreibungen (Gebirge, Täler, Wolken, Himmel, Mond) erinnern vielleicht auch an Georg Büchners eindrucksvolle Naturempfindungen im Lenz. Die Schilderung der seltsamen Atmosphäre, die er in Siena wahrnahm, einer schlummernden, verwunschenen Stadt, wie er schreibt, gehört literarisch zum Besten, was ­dieses Tagebuch vorzuweisen hat. Ansonsten überraschen von Simsons Aufzeichnungen durch die bemerkenswerte intellektuelle Reife und ästhetische Empfindsamkeit, die sie an den Tag legen. Das bei vielen Kunstobjekten formulierte ästhetische Urteil wirkt zumeist sicher, gelehrt, empfindsam und durchaus treffend. Am 14. April besuchte er Santa Maria Novella in Florenz. Angesichts der damals noch im rechten Querschiff hängenden Madonna Rucellai, die erst 1948 in die Uffizien gelangte, dachte er instinktiv an eine sienesische Arbeit, die höchstwahrscheinlich auf Duccio di Buoninsegna zurückgehen würde (Abb. 1). Dabei ist zu bedenken, dass ­dieses Werk fast bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Cimabue zugeschrieben wurde und erst Franz Wickhoff wichtige Argumente für eine Zuschreibung an Duccio brachte, die Frage seines Urhebers indes noch einige Jahrzehnte lang unentschieden blieb.19

18 Vgl. Mario Zanucchi, Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890 – 1923), Berlin 2016, 454: „Gerade in der Farbgebung liegt für Hofmannsthal ein wesentlicher Aspekt der symbolistischen Suggestionspoetik sowie ihre differentia specifica zum Naturalismus.“ 19 Vgl. Luciano Bellosi, Duccio di Buoninsegna (o Boninsegna), in: Enciclopedia dell’Arte Medievale, Bd. 5, Rom 1994, 738 – 750.

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Abb. 1 Duccio, Madonna Rucellai, Florenz, Uffizien

Das zweite Beispiel ist seine Beurteilung von zwei Florentiner Fresken mit dem letzten Abendmahl, die Ghirlandaio für das kleine Refektorium im Dominikanerkonvent von San Marco und für die ­Kirche Ognissanti gemalt hatte, und der feine Vergleich ­zwischen den beiden Kunstwerken, den Simson zieht. Über das um 1486 entstandene Fresko in San Marco (Abb. 2) schreibt er am 13. April: Christus hat soeben Judas, der als einziger auf der vorderen Längsseite der Tafel sitzt, als den Verräter bezeichnet, die Jünger, einige noch tief erschrocken über Jesu Worte, der Verräter sei in ihrer Mitte, andere in großer Traurigkeit, andere wieder in gerechtem Zorn blicken auf den frechen Täter; Johannes ist dem Herrn an die Brust gesunken, wie müde vor allzu großem Jammer, und auf den scheinbar schlummernden blickt Christus voll unendlicher Güte nieder. Ein Zauber unendlicher Poesie liegt über der bewegten Szene, die kleinen Becher und Brote der Jünger, die gläsernen Karaffen mit Wein und Wasser, die Kirschen, die auf dem schön gewobenen Tischtuch anmutig verstreut liegen – all das breitet einen Klang von großem Frieden über das dramatische Ereignis. Merkwürdig ist die Architektur, ­welche geschickt die wirkliche Raumarchitektur aufnimmt und weiterleitet, sie aber zugleich auch zu verändern scheint.

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Abb. 2 Domenico Ghirlandaio, Das letzte Abendmahl, Florenz, S. Marco

Am 22. April finden wir folgende Eintragung über das ebenfalls in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts ausgeführte Fresko in Ognissanti: „Das Abendmahl des gleichen Meisters im Cenacolo ist bis in motivische Einzelheiten hinein dem Fresko in S. Marco ähnlich; nur bedeutend handwerklicher, weniger innig im Ausdruck, ‚distancierter‘ und kühler in Stimmung und seelischem Gehalt: man sollte es nicht anschauen nach S. Marco.“ Bisweilen vermitteln die Aufzeichnungen den Eindruck, als wolle der Student, der soeben sein erstes Münchner Semester absolviert hatte, unter Beweis stellen, wie sehr er Wilhelm Pinders Methode bereits verinnerlicht hatte, eine Methode, die nicht nur auf die formale Analyse des Kunstwerks abzielte, sondern auch den Eindruck, den das Werk auf den Beschauer machte, möglichst genau in Worte zu fassen suchte.20 Die Tatsache, dass man in ­diesem Tagebuch auch einzelne Irrtümer findet, wie die Definition von San Miniato al Monte in Florenz als byzantinische K ­ irche (tatsächlich wurde sie im sog. toskanisch-­romanischen Stil gebaut und byzantinische Einflüsse

20 Vgl. Marlite Halbertsma, Wilhelm Pinder, in: Altmeister moderner Kunstgeschichte, hg. von ­Heinrich Dilly, Berlin 1990, 235 – 248, hier 237.

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sind lediglich im Apsismosaik festzustellen)21 oder die Anmerkung, dass der Sieneser Dom ihm später entstanden zu sein schien als der Dom zu Orvieto (das Umgekehrte ist der Fall), legen die Vermutung nahe, dass er keinen Baedeker bei sich hatte. Das heißt: er unternahm die Reise ohne Reiseführer und vertraute auf sein eigenes ästhetisches Urteilsvermögen. Natürlich wartet das Tagebuch auch mit verbreiteten Topoi auf, so mit der Anspielung auf Michelangelos berühmte Th ­ eorie, dass das Kunstwerk im Marmorblock bereits enthalten, sozusagen vorgeformt sei und der Künstler es nur noch aus dieser Hülle zu befreien habe.22 In ­diesem Sinne liest sich von Simsons Eintrag über den Moses von San Pietro in Vincoli, der auf ihn einen überwältigenden Eindruck machte. Denn er schreibt, dieser könne „aus dem Erdreich aufgestiegen sein – gewiss aber hat er schon vor Jahrtausenden in jenem Marmorblock gewohnt, und man meint, Michelangelo habe das darum liegende Gestein nur wegblättern brauchen“. Dann aber fügt er eine originelle, wenn auch wegen ihrer bildhaften, von der organischen Lehre beeinflussten Sprache allzu poetisch übertrieben wirkende Begründung hinzu: „so verwachsen ist er in Form und Leben mit dem Material, so trächtig und unheimlich schwer von Erdkräften: jede Ader ist wie eine Wurzel, die Säfte aus der Tiefe heraufführt, die Muskeln sind von derselben geheimnisvollen Schwellkraft erfüllt, ­welche fruchtbare Erde oder manche Moose im Walde nach langem Regen haben“. Die Originalität dieser Überlegung tritt umso mehr hervor, wenn man andere Einschätzungen von berühmten Vorgängern heranzieht: 1830 hatte Goethe von der „überkräftigen Statue des Michel Angelo am Grabe Julius’ des Zweiten“ gesprochen, die sich seiner Einbildungskraft dergestalt bemächtigt habe, dass er nicht von ihr loskommen könne;23 Jacob Burckhardt 24 und Herman Grimm 25 hatten ganz allgemein 21 Auch Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 6. Aufl. des I. Bandes, München 1920, 322, behauptet, San Miniato gehöre der Komposition und dem Geiste nach der byzantinisch-­ sarazenischen Formensprache an. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich die Begriffe byzantinisch und romanisch im 19. und wohl auch im frühen 20. Jahrhundert noch bisweilen überlagerten (freundliche Mitteilung von Ingo Herklotz). 22 Vgl. das bekannte Sonett 151 Michelangelos. Von Simson könnte es in der deutschen Übersetzung von Sophie Hasenclever gelesen haben, die in Romano Guardinis Ausgabe der Gedichte und Briefe Michelangelos enthalten war, die 1907 in erster, 1911 bereits in fünfter Auflage erschien. 23 Goethe, Christus nebst zwölf alt- und neutestamentlichen Figuren, den Bildhauern vorgeschlagen, in: Goethes Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 49: Schriften zur Kunst 1816 – 1832, Abt. 2, Weimar 1900, 89 – 98, hier 91. Zum Thema Goethe und Michelangelo vgl. Herbert von Einem, Goethe und Michelangelo, in: Goethe-­Jahrbuch, 92, 1975, 165 – 194, und Andreas Beyer, „… was ein Mensch vermag …“. Anmerkungen zu Goethes Würdigung des ­Michelangelo, in: Goethe e l’Italia, hg. von Marino Freschi, Rom 2000, 55 – 67. 24 Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, Basel 1855. Vgl. die neue Ausgabe in 2 Bänden, hg. von Bernd Roeck, Christine Tauber und Martin Warnke, Basel/München 2001, hier Bd. 1: Architektur und Skulptur (Jacob Burckhardt Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 2), 235. 25 Herman Grimm, Leben Michelangelo’s, 2 Bde. Hannover 1860 – 1863, 16. Aufl., Berlin/Stuttgart o. J., Bd. 1, 383.

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das „Übermenschliche“, das Gewaltige an der Figur unterstrichen; Sigmund Freud glaubte, das Neue in der Figur des Moses liege darin, dass diese gewaltige Körpermasse zum leiblichen Ausdrucksmittel für die höchste psychische Leistung werde, die einem Menschen möglich sei, nämlich die Beherrschung, die Niederringung der Leidenschaft „zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat“.26 Eines der zentralen Erlebnisse dieser Italienreise vermittelte der Besuch der Sixtinischen Kapelle am 31. März. Hier beruft sich der Autor zunächst auf Goethes überwältigenden Eindruck („das größte was jemals ein Mensch geschaffen hat“), als er die Sixtina am 23. August 1787 zum ersten Mal betrat. In von Simsons Notizen treffen gleich darauf aber unterschiedliche literarische und gelehrte Reminiszenzen zusammen und verschmelzen miteinander. Bezeichnend will es scheinen, wenn er von der „dämonische[n] Einmaligkeit“ der Seele Michelangelos spricht.27 Höchstwahrscheinlich schreibt er dem Dämonischen dieselbe Bedeutung zu wie Goethe, der das „Dämonische“ als einen seelischen Zustand „voll unbegrenzter Tatkraft und Unruhe“, als eine „problematische Gewalt“, ein unaussprechliches „Welt- und Lebens-­Räthsel“ verstanden hatte.28 Weitere Lektüre-­Reminiszenzen mögen hinzugekommen sein, denn fast alle Kunst- und Kulturhistoriker, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Michelangelo befasst hatten (Burckhardt,29 Henry Thode,30 Carl Justi,31 Max Sauerlandt 32 bis hin zu Oswald Spengler in seinem z­ wischen 1918 und 1922 erschienenen, sensationell erfolgreichen Untergang des Abendlandes), hatten von der „dämonischen Natur“ Michelangelos, von seiner „dämonisch gewaltigen Formbehandlung“ und von der „dämonischen Gewalt“ seiner Einbildungskraft geschrieben, wobei auch sie schon unter Goethes Einfluss gestanden haben mochten. Aufhorchen lässt 26 Sigmund Freud, Der Moses des Michelangelo, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, 3, 1914, 15 – 36. Zur Rezeption des Moses und insbesondere zur Gleichsetzung von Michelangelo und Moses auch Gerd Blum, Michelangelo als neuer Mose. Zur Rezeptionsgeschichte von Michelangelos Moses. Vasari, Nietzsche, Freud und Thomas Mann, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 53/1, 2008, 73 – 106. 27 Von der „Dämonie“ der Gesichter in Michelangelos Handaufzeichnungen schreibt Simson auch nach seinem Besuch der Casa Buonarroti in Florenz am 22. April. 28 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823 – 1832, hg. von Christoph Michel, Berlin 2011, 455 – 456: Eintrag vom 2. 3. 1831. Vgl. auch den Eintrag vom 24. 3. 1829 (ebd., 323): „‚je höher ein Mensch‘, sagte Goethe, ‚desto mehr steht er unter dem Einfluß der Dämonen, und er muß nur immer aufpassen, daß sein leitender Wille nicht auf Abwege gerathe.‘“ In seinem Goethe-­Buch betont Friedrich Gundolf das der Künstlerpersönlichkeit innewohnende „Dämonische“ und weist auf die Definition Goethes hin. Er bezeichnete das Dämonische als „eine nicht von außen eingreifende Macht“, als etwas, was „mit dem Charakter des Menschen untrennbar verknüpft“ sei, „ähnlich wie der verwandte Begriff Genie“; vgl. Gundolf, Goethe (wie Anm. 17), 3. Das Gedicht, das von Simson zu Gundolfs Tode schrieb (vgl. Anm. 1), legt den Schluss nahe, dass er einige von dessen Schriften kannte. 29 Burckhardt (wie Anm. 24), 267. 30 Michelangelo und das Ende der Renaissance, 2 Bde., Berlin 1902 – 1903, Nachdr. 1908; M ­ ichelangelo. Kritische Untersuchungen über seine Werke, Bd. 1, Berlin 1908. 31 Michelangelo. Neue Beiträge zur Erklärung seiner Werke, Berlin 1909. 32 Michelangelo, Leipzig 1911 (2. Aufl. 1912).

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zudem, wenn von Simson gleich nach der Erwähnung des Dämonischen bei Michelangelo, das er mit der „Tragik“ seiner Seele verknüpft, jene „unwiederbringliche Weltstunde, die Weltstunde um 1510, die Stunde von Raffaels Stanzen“ und eben auch der Sixtinischen Decke hervorhebt. Die Anregung durch Stefan Zweigs Buch über die Sternstunden der Menschheit, das 1927 erschienen war, liegt nahe. Von Simson schreibt darüber hinaus von einem neuen „Weltgefühl“, das sich in der Sixtina durch Michelangelos Malerei Bahn gebrochen habe. Die Vorstellung vom „Weltgefühl“, die im Tagebuch auch andernorts durchscheint 33 und die jenes Gefühl, das ein Individuum der Welt und dem Leben entgegenbringt 34, umschreibt, stellt einen Neologismus des beginnenden 20. Jahrhunderts dar. Gerade in ­diesem modernen Sinne kommt der Begriff sehr häufig in Spenglers Hauptwerk vor. Beachtung verdient dessen Behauptung, dass „das Weltgefühl des höheren Menschen“ seinen symbolischen Ausdruck am deutlichsten in den bildenden Künsten gefunden habe, wobei diesen auch die Musik zuzurechnen sei.35 Das „Weltgefühl“ taucht allerdings auch in Friedrich Gundolfs Schriften auf,36 ebenso in Georg Dehios Geschichte der deutschen Kunst (1919 – 1921), einem Werk, das von Simson vor seiner Italienreise durchaus gelesen haben könnte, hatte Alfred Stange doch noch im Wintersemester 1931 – 1932 in München ein Kolleg über die deutsche Kunst des frühen und hohen Mittelalters angeboten.37 Zusammen mit dem Aufkommen eines neuen „Weltgefühls“ sei in der Sixtina, so von Simson, auch eine künstlerische Wendung von kaum übersehbarer Größe vollzogen worden, nämlich eine Wandlung der Form, die ihre Wurzel allein in „Traum und Qual Michelangelos“ habe. Diese Formulierung klingt romantisch, erinnert aber auch an die Behauptung, die Nietzsche am Anfang seiner Geburt der Tragödie aufgestellt hatte, dass nämlich die Voraussetzung aller bildenden Kunst „der schöne Schein der Traumwelten“

33 Am 17. April schreibt Simson von einem neuen Weltgefühl, das sich in Pontormos Fresken im Kreuzgang der Certosa von Florenz bemerkbar mache, am 2. Mai vom Weltgefühl Masaccios und Giottos. 34 So in Grimms Wörterbuch. Im älteren Sprachgebrauch bedeutete der Terminus „an der diesseitigen Welt haftendes Gefühl“, also ein „weltliches Empfinden“. 35 Spengler (wie Anm. 21), 301. Vgl. dazu die Monographie von Ingo Kaiserreiner, Kunst und Weltgefühl. Die bildende Kunst in der Sicht Oswald Spenglers. Darstellung und Kritik, Frank­furt a. M. 1994. 36 Insbesondere in seinen Beiträgen über Shakespeare und den deutschen Geist (1911) und über ­Goethe (1916). 37 In Dehio wird der Terminus „Weltgefühl“ in Bezug auf die gotische Architektur als Ausdruck einer Stimmung, eben eines Weltgefühls, verwendet, das die Franzosen als Erste empfunden hätten (3. Aufl. des I. Bandes, Berlin/Leipzig 1923, 215). Sodann kommt der Terminus in Bezug auf die Blüte vor, die die deutsche Plastik im 13. Jahrhundert erlebte (ebd., 308), und schließlich liest man bei ihm von dem Durchbruch eines neuen Weltgefühls in der Malerei im 15. Jahrhundert (ebd., Bd. 2, 2. Aufl., Berlin/Leipzig 1923, 167 – 168). Dass von Simson die Lehrveranstaltungen Stanges besucht hatte, bestätigt er selbst in seinem wahrscheinlich im Winter 1936 für seine Dissertation verfassten Lebenslauf; vgl. München, Universitätsarchiv, O-Np-­W S 1935/36.

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sei.38 Was die „Wandlung im Formalen“ angeht, so erklärt von Simson, dass alle drei Stilmerkmale von Renaissance, Manierismus und Barock, über deren Unterschiede die Studenten so viel lernen müssten, „in der Brust des einen gewaltigen Mannes beschlossen“ lägen: dadurch habe Michelangelo seinen Figuren eine neue Form gegeben. Er habe „die Zwiespältigkeit von Sein und Schein, wie er sie fühlte, zusammengerissen und ihr die neue Form, seine Form gegeben“, die später von den Künstlern des Barock wiederaufgenommen worden sei. „Und so“ – meint er am Schluss d ­ ieses Passus – „ist es schwer angesichts der Sixtinischen Decke im italienischen Barock viel mehr zu sehen als Wiederholung oder Wiederbelebung einmaliger Erweckung“. Die Wertung Michelangelos als Inspirator des Barock ist natürlich nicht neu. Sie findet sich schon bei Nietzsche, der Michelangelo als den Vater oder Großvater der italienischen Barockkünstler bezeichnet;39 sie findet sich darüber hinaus in Heinrich Wölfflins Abhandlung über Renaissance und Barock.40 Zusammenfassend behauptet von Simson, die Sixtinische Decke sei nur zu verstehen, wenn man „die Empfindung für den Geist, aus dem sie hervorging, für den metaphysischen Zusammenhang, der sie bis in Einzelheiten und Dekorationen hinein durchwaltet“, nachvollziehe. Diesen Geist nennt er die „Geburt der Tragödie“, das heißt den Beginn der Tragödie des menschlichen Daseins, des Menschengeschlechtes, eine Formulierung, die vor allem in Henry Thodes Buch über Michelangelo und das Ende der Renaissance aufscheint.41 Der Besuch der Sixtina am Vormittag des 31. März beschäftigte von Simson noch am Nachmittag desselben Tages, als er nach Ostia fuhr. Dort besichtigte er offenbar nicht die antike Stadt mit ihren Ausgrabungen, von denen er nichts berichtet, sondern gänzlich ergriffen begab sich der junge Mann ans Meer und stand dort lange „in Erinnerung des am Vormittag Gesehenen“. Vor allem konnte er die Erschaffung Adams nicht vergessen: 38 Nietzsche, Geburt der Tragödie, 1. Kap.: „Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poesie“. In der Fröhlichen Wissenschaft (II, 59) behauptet Nietzsche, dass der Zustand des Träumens (wobei er natürlich das Träumen mit offenen Augen meint) eine Eigenschaft der Künstler sei. In einer seiner Aufzeichnungen aus dem Nachlass der 1880er Jahre hatte Nietzsche von den festen Konturen von Michelangelos Vision, von der Intensität, Kohärenz und innerer Logik seines Traumes, von der Tiefe seiner Meditation und der übermenschlichen Dimension seiner Konzeption gesprochen (Nietzsche, Werke, Bd. 4, hg. von Karl Schlechta, München 1972, 857). Interessant sind in ­diesem Zusammenhang auch die ersten Zeilen aus Conrad Ferdinand Meyers Gedicht In der Sistina, die lauten: „In der Sistina dämmerhohem Raum, / Das Bibelbuch in seiner nerv’gen Hand, / Sitzt Michelangelo in wachem Traum, / Umhellt von einer kleinen Ampel Brand.“; s. C. F. Meyer, Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 2, München 1968, 195 – 196. 39 Menschliches, Allzumenschliches, Bd. 2, Nr. 144: „Vom Barockstile“. Nietzsche bezeichnet hier den Barockstil als das „Abblühen jeder großen Kunst“ und behauptet, dass ein überreicher, drängender Formentrieb den sogenannten Barockstil zu Tage fördere. 40 Heinrich Wölfflin, Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, München 1888, 67. 41 Thode, Michelangelo und das Ende der Renaissance (wie Anm. 30), hier Bd. 1, 277, 316 – 318, 400, 428 und 514.

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„Für mich“, bemerkt er, „liegt eine der Schönheiten des Bildes darin, daß man nicht weiß: hat Adam die belebende Berührung schon empfangen oder naht der weckende Gott ihm erst?“, und zeigt damit, dass er sich der schon mit Vasari einsetzenden Diskussion über die Deutung dieser berühmtesten Szene wohl bewusst ist.42 Die anschließende Lösung des Problems verrät allerdings eine Selbständigkeit des Urteils, die angesichts der Jugend ihres Urhebers erstaunt: „Ich aber meine, Michelangelo hat den Augenblick des Abschiedes gebildet, den Augenblick da Adam den Schöpfer entschwinden sieht, einer Wolke gleich, die das Firmament segnend und schaffend umschweift.“ Das Tagebuch gibt andererseits auch auffällige Leerstellen zu erkennen. So scheint das Interesse für die antiken Monumente Roms überaus verhalten: Forum, Palatin und Circus Maximus werden nicht erwähnt, Colosseum, Konstantinsbogen und Caracalla-­Thermen nur einmal und sehr flüchtig. Immerhin wird der Konstantinsbogen als „wundervoll“ bezeichnet (28. März). In Tivoli verweilt der kunstbeflissene Autor in der Villa d’Este, die Villa Hadriana dagegen ist mit keinem Wort erwähnt.43 Auffällig erscheint die Vorliebe für Florenz gegenüber Rom: das war bei Goethe noch ganz anders, denn er hatte auf seiner Hinfahrt Florenz am 23. Oktober 1786 nur gestreift und sich keine drei Stunden dort aufgehalten, um sich erst bei seiner Rückreise ­zwischen den letzten April- und den ersten Maitagen 1788 näher mit der Stadt auseinanderzusetzen. Eine besondere Begeisterung kam allerdings auch jetzt nicht auf. Von Simsons Neigung zu Florenz ist vielleicht im weiteren Kontext einer gewissen Verschiebung der künstlerisch-­ geistigen Interessen der europäischen Bildungsreisenden zu sehen, die sich von der Bewunderung für die monumentale Kunst der Antike zugunsten der Renaissance 44 und somit zwangsläufig auch zugunsten von Florenz verlagert hatte.45 Von Simson begründet seine 42 Eine Zusammenfassung der verschiedenen Meinungen von Literaten und Kunsthistorikern konnte von Simson beispielsweise in Thodes Buch, Michelangelo. Kritische Untersuchungen, Bd. 1 (wie Anm. 30), 305 – 307, lesen. Dass von Simson Vasaris Vite kannte, wird durch den Tagebucheintrag vom 17. April bestätigt, in dem er Pontormos Lünettenfresken im großen Kreuzgang der Certosa von Florenz erwähnt. 43 Auch sein Vater, Ernst von Simson, besuchte Tivoli, als er in der Osterwoche 1923 in Rom war, erwähnt in den Erinnerungen an seine zwei Rombesuche (der erste fand Ende Dezember 1922 statt) aber nur die Villa d’Este: Ernst von Simson, Erinnerungen, hg. von Georg und Siguna von Simson, Jonas’sche Familienstiftung 2009, 58 – 60. 44 Dazu Martin Ruehl, The Italian Renaissance in the German Historical Imagination, Cambridge 2015. Zu dem regen Interesse für die Renaissance, das sich in verschiedenen geistigen Bereichen vor allem um die Jahrhundertwende und dann auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kund tut, ferner Gerd Uekermann, Renaissancismus und fin de siècle, Berlin/New York 1985, bes. 19 – 29, sowie: Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann, hg. von August Buck, Tübingen 1990; Perdita Ladwig, Das Renaissancebild deutscher Historiker 1890 – 1933, Frankfurt a. M. 2004; Die Wiederkehr der Renaissance im 19. und 20. Jahrhundert. The Revival of the Renaissance in the Nineteenth and Twentieth Centuries, hg. von Helmut ­Koopmann und Frank Baron, Münster 2013, bes. 7 – 11, mit weiterer Literatur. 45 Zum Aufstieg von Florenz in der deutschen Wertschätzung während der Gründerzeit und um die vorletzte Jahrhundertwende, und zwar als Hauptstadt der damals sehr in Mode gekommenen

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Vorliebe für die toskanische Stadt damit, dass man in Rom eher die Fremdartigkeit, die Gewalt der Formen und Dimensionen, das Exzessive der antiken Monumente wahrnehme (28. März); die historischen Denkmäler in Florenz dagegen s­ eien uns verwandter (15. April), dem modernen Geist somit näher. Dieser Gegensatz ­zwischen Rom, wo alles riesig, massiv, exzessiv, lärmend, schmutzig wirke, und dem ruhigen, maßvollen, gebildeten und freundlichen Florenz findet sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch bei anderen deutschen Intellektuellen.46 Das wachsende Interesse für die Stadt am Arno ist natürlich auch als eine Folge der Publikation von Burckhardts grundlegendem Werk, der 1860 erschienenen Kultur der Renaissance in Italien, zu sehen, in dem Florenz als die Wiege der Moderne, sowohl des modernen Staates als auch des modernen Geistes, dargestellt wird.47 Ein weiterer Impuls ging überdies von Herman Grimms Leben Michelangelo’s aus, das, ­zwischen 1860 und 1863 in zwei Bänden veröffentlicht,48 bis 1922 neunzehn Auflagen erreichte. Wie jüngst angemerkt wurde, gehörte das Werk Ende des 19. Jahrhunderts „zu den beliebtesten Büchern des deutschen Bürgertums“ und noch im 20. Jahrhundert behauptete es sich als eines der „erfolgreichsten kunst- und kulturgeschichtlichen Werke in Deutschland überhaupt“.49 Am 14. April erwähnt von Simson einen weiteren Grund für seine Vorliebe gegenüber Florenz, wenn er behauptet, die Stadt stelle eine lebendige „Ganzheit“, einen wirkenden „Organismus“ dar. Am Tag darauf führt er diesen Gedanken weiter:

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Renaissance und des Renaissancismus, vgl. Christina Ujma, Florenz, die Renaissance und der Renaissancismus in Isolde Kurz’ Novellen, Kurzgeschichten und Essays, in: Jahrbuch für internationale Germanistik, 47, 2015/1, 41 – 62. Ich nenne nur einige Namen exempli gratia: Karl Hillebrand, Heinrich Homberger, Otto Hartwig, Herman Grimm, Sigmund Münz, Paul Heyse, Rainer Maria Rilke, Wilhelm Uhde-­Bernays, Aby Warburg, der sich als „Florentiner im Geist“ bezeichnete, und Thomas Mann, der in einem Brief an seinen Bruder Heinrich vom 29. 12. 1900 behauptete, Florenz sei der Ort, wo er den Traum ­seiner Seele verwirklichen wolle (Thomas Mann – Heinrich Mann: Briefwechsel 1900 – 1949, 2. Aufl., Berlin/Weimar 1969, 11). Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, hg. von Werner Kaegi, Stuttgart/Berlin/ Leipzig 1930, 53. Zu Burckhardts Einstellung zu Rom und Florenz vgl. Christine Tauber, Rechnender Geist oder Formgefühl? Jacob Burckhardt zu Florenz und Rom, in: Florenz – Rom. Zwischen Kontinuität und Konkurrenz, hg. von Henry Keazor, Münster 1998, 189 – 208. Bereits das erste Kapitel ­dieses Buches enthält eine Verherrlichung von Florenz, das als Athens „jüngere Schwester“ bezeichnet wird, gegenüber anderen italienischen Kultur- und Kunststädten (Rom, Venedig, Genua, Neapel, Pisa, Mailand). Dazu auch Rotraut Fischer und Christina Ujma, Stadt der Freiheit – Stadt der Opulenz. Florenz und Rom in Herman Grimms „Michelangelo“ und „Raphael“, in: Herman Grimm (1828 – 1901). Zwischen Nachmärz und Gründerzeit, Kassel 2015 (Jahrbuch der Brüder Grimm-­Gesellschaft, Bd. XVII–XVIII), 129 – 139, hier 130 – 134. Weiterhin lesenswert: Wilhelm Schlink, Herman Grimm (1828 – 1901). Epigone und Vorläufer, in: Aspekte der Romantik: zur Verleihung des „Brüder Grimm-­Preises“ der Philipps-­Universität Marburg im Dezember 1999, hg. von Jutta Osinski und Felix Saure, Kassel 2001, 73 – 93, bes. 85 – 89. So Bernhard Lauer, Herman Grimm (1828 – 1901): Dichter – Zeichner – Kritiker. Eine bio-­ bibliographische Skizze, in: Herman Grimm (1828 – 1901). Zwischen Nachmärz und Gründerzeit (wie Anm. 48), 9 – 48, hier 45 – 46.

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Und so sind diese Bauten [er bezieht sich auf die Florentiner Paläste, insbesondere auf den Palazzo Rucellai] weitergewachsen mit der Zeit – wie Baum und Strauch, sie leben fort und fort und sind darum schön. Am Trajansforum in Rom aber, wo man alles fein säuberlich ausgräbt, vom Staub und Wuchs der Jahrhunderte befreit und sichtbarlich aufstellt; am Vestatempel, der einsam und kalt wie auf einem Präsentierbrett dasteht, empfindet man, daß diese Dinge uns fremd und unverständlich sind, daß sie uns verwundern oder interes­sieren – ohne uns mit jener geheimnisvollen, ehrfürchtigen und doch trauten Liebe zu erfüllen, die jene Gebäude des italienischen Mittelalters in uns wachrufen. Und das liegt gewiss nicht nur daran, daß jene Zeit uns verwandter wäre, als das kaiserliche Rom.

Hier könnte man vielleicht ein Echo der Debatte um die Denkmalpflege vernehmen, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts durch die Publikationen von Alois Riegl und Georg Dehio entfacht worden war. Beide Kunsthistoriker hatten sich gegen die Freilegung antiker Monumente und die Beseitigung der späteren Zubauten ausgesprochen, die ihrerseits schon historisch geworden ­seien.50 Andererseits scheint deutlich, dass von Simson hier, ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt, ganz in der vor allem von Herder beeinflussten Tradition des deutschen Histo­rismus steht. Man denke an die ­Theorie der ständigen, organischen Entwicklung historischer Individualität, die genau in jenen Jahren zum Gegenstand der gelehrten Arbeiten Friedrich Meineckes über die Entstehung des Historismus wurde. In ihnen erfuhr jener urdeutsche Gedanke, der die grundsätzliche Überlegenheit des „Gewordenen“ über das „Gemachte“ in der Geschichte postuliert, eine großartige theoretische Begründung. Hervorzuheben bleibt darüber hinaus, dass Ferdinand Gregorovius schon in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ganz ähnliche kritische Überlegungen wie diejenigen von Simsons in Bezug auf Rom und auf seine Verwandlung nach 1871 geäußert hatte. Was Gregorovius an dieser Verwandlung vor allem bedauerte, war die Reinigung aller großen antiken Ruinen Roms von ihren mittelalterlichen Spuren. Denn erst sie habe die antiken Denkmäler aus dem Zusammenhang der christlichen Geschichte heraus­gelöst und sie ganz dem Altertum zurückgegeben und zu bloßen Gegenständen der Altertumswissenschaft gemacht. Dadurch sei aber der geschichtliche Charakter der Stadt, jenes einzigartige Ineinanderwirken der Antike mit dem Mittelalter und der Renaissance, jenes organische Verwobensein von Lebendigem und Totem tiefgreifend verändert worden, denn gerade die lebensvolle Verbindung der Antike mit dem Mittelalter habe Rom sein einziges, unvergleichliches Gepräge verliehen.51 50 Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, Wien/Leipzig 1903, bes. 51 – 53; Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, 5 Bde., Berlin 1905 – 1912; 2. Aufl., Berlin 1914 – 1928. Vgl. dazu Hans-­Gerhard Evers, Tod, Macht und Raum als Bereich der Architektur, München 1939, 2. Aufl. 1970, 282 – 303. 51 Vgl. Ferdinand Gregorovius, Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur, Bd. 2, Leipzig 1888, passim. Dazu verweise ich auf meinen Aufsatz: Deutscher Widerstand gegen die „Vernichtung Roms“ im Jahre 1886. Neue Quellen zu einem alten Thema, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 43, 2016, 125 – 147. Ähnlich beschwor Paul Heyse das alte Rom herauf, das er z­ wischen 1852 und 1853

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Mit dem regen Interesse für Spätmittelalter und Renaissance geht die geringe Beachtung einher, die von Simson der Barockkunst entgegenbringt. Der Name Rubens etwa taucht in seinen italienischen Aufzeichnungen nur einmal auf, und zwar am 27. April bei einem seiner Besuche der Uffizien. Allerdings spricht er hier ganz wie bei Michelangelo von einer unheimlichen „Dämonie und Gewalt“ der zwei Rubensbilder, die Szenen aus dem Leben des französischen Königs Heinrich IV . zum Gegenstand haben. Wie sehr ihn die Hinterlassenschaft gerade ­dieses Herrschers und seiner aus Florenz stammenden Gemahlin Maria de’ Medici, aber auch das Œuvre Rubens’ schon bald darauf in Atem halten sollten, ahnte der junge Reisende zu ­diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht. Zuvor wurde von Simson als „Kind seiner Zeit“ benannt. Als solches erweist er sich auch am 2. Mai bei seinem Besuch der beiden K ­ irchen (inferiore und superiore) von San Francesco in Assisi. Die Fresken der Unterkirche gehören für ihn „zum Feierlichsten, Monumental-­ernstesten“, was er bisher gesehen habe. Und er fährt fort: Die große Tradition Giottos, oder vielmehr das was jene Zeit in Franziskus und Dante, in Friedrich II. und Innozenz III. auswirkte, ist noch gänzlich jung und lebendig. Menschen von einer andern Dimension müssen es gewesen sein, die damals gelebt und auf den künstlerischen Geist ihrer Zeit gewirkt haben, Menschen von einer großen Feierlichkeit und „Ganzheit“ im Handeln und mit einer seltsamen, unheimlichen Dämonie des Blickes und der Gebärde, die als Weltgefühl erst Masaccio wieder gestaltet hat.

Hier fällt das Wort „Ganzheit“ auf und vielleicht geht man nicht allzu weit, wenn man in ihm eine Reminiszenz an die während der zwanziger Jahre unter Philosophen und Soziologen diskutierte Frage nach dem Wesen des Mittelalters erkennt, das damals als Epoche von „Ganzheit“, „Gemeinschaft“ und „Synthese“, ja von organischer und einheitlicher Weltanschauung begriffen wurde. Dieser ideale Gemütszustand der Ganzheit übte auf die junge Generation der Weimarer Republik, die Entfremdung und Zerrissenheit in ihrer eigenen Zeit erfuhr, eine ­solche Faszination aus, dass der deutsch-­amerikanische Historiker Peter Gay den „Hunger nach Ganzheit“ als kulturelles Leitmotiv der Weimarer Zeit angesprochen hat.52 besucht hatte, „das Rom der Winckelmann, Goethe und Wilhelm von Humboldt, das Rom des Papstes und seines geistlichen Hofstaates, der zahllosen Mönchsorden jeder Observanz, das Rom der engen, schmutzigen, winkeligen Gassen“, aber vor allem „das Rom der alten Welt, dessen gigantische Baudenkmäler noch nicht wie heutzutage durch den vandalischen Forschergeist der Archäologen in ihren Grundvesten durchwühlt und aus ihrer Jahrhunderte langen Verschüttung bloßgelegt waren, sondern von wilder Vegetation überwuchert in traumhaft malerischer Erhabenheit den Beschauer fesselten.“ Und von seinem Besuch in Florenz aus dem Jahr 1853 hielt er fest: „In keiner der großen italienischen Städte hat sich die neue Zeit mit der mittelalterlichen so glücklich verschmolzen, daß Alles wie aus einem Gusse erscheint.“ So Paul Heyse, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Berlin 1900, 121 und 162. 52 Peter Gay, Weimar Culture. The Outsider as Insider, New York 1968; deutsche Übers.: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit: 1918 – 1933, Frankfurt a. M. 1970, bes. Kap. 4: Der Hunger nach Ganzheit, Erprobung der Moderne; ferner Otto-­Gerhard Oexle,

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Zwei abschließende Fragen bleiben zu umreißen. Erstens: Hat die Italienerfahrung für von Simson einen wirklich formativen Wert gehabt? Im Großen und Ganzen hat man den Eindruck, dass er der Italienreise später keine allzu große Bedeutung für seine „Lehrjahre“ beimaß. Seine wissenschaftlichen Leistungen späterer Jahre haben mit den Kunstwerken aus Mittelalter und Renaissance in Florenz oder Rom kaum etwas zu tun. Auch in dem Interview zu seinem Lebensweg, das Richard Cándida Smith 1991 mit Otto von Simson führte, kommt die Italienreise nur sehr beiläufig zur Sprache. Dabei hatte von Simson am 29. April 1932, am Vorabend seiner Abfahrt von Florenz, in sein Tagebuch geschrieben: „Ich darf nicht daran denken wie lange es dauern mag, bis ich zurückkehre. Und doch: ich nehme so v­ ieles mit mir über die Alpen, so vieles an Erlebtem und Erlerntem, Geschautem und Empfundenem, daß Florenz wohl nie ganz Vergangenheit und blasse Erinnerung wird werden können, ja, manchmal meine ich, daß es in meine Seele eingegangen ist als ein Teil von ihr.“ Zumindest eine Spur der Italienerfahrung, und damit komme ich auf die zweite Frage, scheint allerdings auch in von Simsons späterer wissenschaftlicher Produktion noch feststellbar. Am 14. April 1932 besuchte er, wie schon erwähnt, Santa Maria Novella in ­Florenz und war von Masaccios Trinitätsfresko zutiefst beeindruckt (Abb. 3). Er schreibt im Tagebuch: „ein überwältigend feierliches und erhabenes Werk. Die Figuren der Stifter sind merkwürdig illusionistisch: sie scheinen vor dem Bilde zu knien, es beschattend. Diese Figuren sind unvergesslich.“ Hier könnte man ein Echo der von ihm im Wintersemester 1931 – 32 besuchten Übung bei Ernst Michalski vernehmen, wo es um illusionistische Wandund Deckenmalerei ging.53 Diese Übung war vielleicht sogar einer der Beweggründe für die Italienreise selbst. Vierunddreißig Jahre später, in seinem 1966 publizierten Aufsatz über Masaccios Fresko, kommt von Simson mehr als einmal auf diese Stifterfiguren zu sprechen, deren „illusionistischen“ Charakter er auch jetzt betont. Er vertritt dort die Auffassung, dass diese Figuren zu einem Raum gehören, der außerhalb der eigentlichen Kreuzesszene liege, dass die Stifter in einem dialogischen Verhältnis zum Betrachter stünden und dass sie wie entrückt zu sein scheinen, als ob sie „weder dem Bereich der Lebenden noch dem des Todes“ angehörten.54 Der Gelehrte greift hier auf die schon 1932 von Michalski definierte „ästhetische Grenze“ zurück; gemeint ist die Grenze ­zwischen Kunstraum und Betrachterraum oder Realraum, in von Simsons Worten die Grenze „zwischen der Welt des Bildes und der Welt des Betrachters“. In Masaccios Darstellung wird diese Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach, in: Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, hg. von Susanna Burghartz, Hans-­Jörg Gilomen und Guy Paul Marchal, Sigmaringen 1992, 125 – 153, wieder in ders., Geschichtswissenschaft im ­­Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, 137 – 162. 53 Von Simsons Aufzeichnungen zu dieser Lehrveranstaltung sind erhalten. Vgl. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, NL 290, Kasten 11 (freundliche Mitteilung von Ingo Herklotz). 54 Otto von Simson, Über die Bedeutung von Masaccios Trinitätsfresko in S. Maria Novella, in: Jahrbuch der Berliner Museen, 8, 1966, 119 – 159, hier 119, 143 und 150 – 151; wiederabgedr. in: ders., Von der Macht des Bildes im Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Kunst des Mittelalters, hg. von Reiner Haussherr, Berlin 1993, 161 – 202.

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Abb. 3 Masaccio, Die Trinität mit Stiftern, Florenz, Santa Maria Novella

durch die Stifterfiguren überschritten, wie er 1966 schreibt, „mit überwältigend neuen künstlerischen Mitteln“, um das Erlebnis der Zwiesprache des Andächtigen mit Gott zu veranschaulichen und den Betrachter zur Meditation und zum Gebet aufzufordern.55 Zumindest ­dieses Werk und sein besonderes Spiel mit den Realitätsebenen scheinen den Autor über Jahrzehnte hinweg fasziniert zu haben. 55 Von Simson, Über die Bedeutung (wie Anm. 54), 143 und 150. Er thematisiert die Überschreitung der ästhetischen Grenze ­zwischen Kunstraum und Betrachterraum auch in seinem Aufsatz: ­Correggios Assunta in der Domkuppel zu Parma, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte, 20, 1983, 329 – 343, hier 341 – 342. Hier hebt er „die wahrhaft revolutionäre Tat des Correggio“ hervor, die darin bestehe, „daß der Betrachter in das wunderbare Geschehen einbegriffen ist“. Dieselbe Argumentation finden wir in von Simsons frühem Aufsatz: Leonardo and Attavante, in: Gazette des Beaux-­Arts, 6 Pér., 24, 1943, 305 – 312, in dem er eben auf die „dialogische Funktion“ ­zwischen „contemplator“ und „religious picture“ des von Leonardo gemalten Engels in Verrocchios berühmtem Gemälde der Taufe Christi hinweist. Hier spricht von Simson von einer „aesthetic participation“ und erklärt, dass die Funktion dieser Figur darin bestehe „to guide the onlooker by appropriate gestures and to evoke in him the emotions which the scene requires“. Im Tagebuch von 1932 ist das in den Uffizien bewahrte Werk übrigens nicht erwähnt.

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Anhang Otto von Simson Tagebuch einer Italienreise im Frühjahr 1932 56 [Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriftenabteilung, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 1, Fol. 1r–59r]

22.III.32 Abends bei kaltem, schneeigem Wetter aus München fort und noch an Goethes 100. Todestag die Alpen überquert, was mich mit einer seltsamen Genugtuung und dem Gefühl eines schönen Vorzeichens erfüllt.

23.III.32 Die Nordhänge des Apennin – grau, kahl, hart – bei wolkigem Wetter überquert. Auf dem Gipfel klärte der Himmel auf, und hinab fuhren wir bei stets prächtiger werdendem Wetter. Zur linken dehnte sich licht und weit das Tal. Pistoia lag klein und zierlich in der Ebene verstreut; zur rechten fern und nah Bergzüge, die höchsten noch verschneit. Die toskanische und etrurische Ebene, auf das sauberste und reizvollste bestellt, Wein rankt sich z­ wischen den in Reihen angepflanzten Maulbeer-­ Bäumen, die Weizenfelder sind schon prächtig grün, darauf die Menschen mit den weißen Rindern an der Feldarbeit – und in der Ferne die blauen Gebirgszüge. Am Trasimenischen See vorbei bald biegen wir ins Neratal ein und in der Ferne taucht, noch lange bevor wir in Rom einfahren, die Kuppel von St. Peter auf. Felix Gilbert 57 holt mich am Bahnhof ab, ich erfrische mich im Hotel etwas und später gehen wir den Pincio entlang bei klarem, sehr kühlem Wetter. Die Tramonta [sic] bläst uns mit einem sehr starken, aber klaren und mir irgendwie unheimlichen Hauch entgegen. Links im Westen die sinkende Sonne, davor die Stadt in feenhaftem, stillem Licht wie auf Claude Lorrainschen Bildern – oder schon als purpurne und violette Silhouette vor dem Horizont. Vor allem Sankt Peter. Die Kuppel ist von dieser Stelle besonders ergreifend in ihrer Kraft und Leichte, in ihrer beherrschten und doch keineswegs überwundenen oder aufgelösten Stoffes-­Schwere – wie die Kuppel wie mit der Hand auf den Tambour gestülpt scheint, leicht scheinbar aber doch auf den tragenden Säulen lastend und diese zu Paaren mit ihrer Schwere zusammendrängend, wie sie selbst in der Krönung wie mit einer Faust zusammengegriffen wird und doch die spielende Schwebe ihrer Wölbung wahrt: das können diese Worte nicht ausdrücken. Abends über den Quirinal, bei blassem Mondschein und kaltem grossem Wind an der Fontana Trevi vorbei. Seltsam die Stille des Lichtes und der Fassade inmitten dem geisterhaft starken und lauten aber dennoch traumhaften Spiele der Wellen und Springbrunnen, dem Getümmel der Rosse und Tritonen. Es muß sehr unheimlich sein in ­diesem Hause zu wohnen, unter dem das mächtige Wasser leise dahinzieht um plötzlich hervorzuspringen und den Vorplatz ganz in den Strudel seiner Gebilde zu hüllen; unheimlich zumal bei Nacht und bei Mondlicht! – 56 Ich möchte Alena Janatková (Berlin) meinen herzlichen Dank aussprechen für ihre großzügige Hilfe bei der Beschaffung einer digitalen Reproduktion des Tagebuchs. Ebenfalls bin ich Ingo Herklotz für die kritische Revision dieser Edition und für wertvolle Anregungen dankbar. Otto von Simsons Interpunktion wurde weitgehend beibehalten. 57 Zu Gilbert und seinem damaligen längeren Aufenthalt in Italien vgl. Anm. 5 – 6.

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24.III. Vormittags im Pantheon, daran die Regierung schlimmer- und frecherweise auf Grund von vermeintlich neuen archäologischen Erkenntnissen die wundervolle Restauration der oberen Wandbekleidung durch eine „antikische“ zu verbessern glaubt.58 Immerhin: wie die Kuppel sich aufwölbt und durch die Oeffnung der helle Himmel und die wandern [sic] Wolken hereinschauen – das ist einzig. Später den sommerlichen Park der Villa Borghese, die ich nur von aussen ansah – im Innern hatt’ ich nur Augen und Zeit für Tizians „himml[ische] und irdische Liebe“, und Felix drängte. Nachmittags St. Peter – der Weg führte uns über die Tiberbrücke mit dem unvergleichlichen Blick auf die Engelsburg. Ueber St. Peter vermag ich nichts zu sagen. Man kann nicht denken, daß Menschen ihn geschaffen haben – es ist, als hätten die Steine aus eignem Leben zu wandeln und sich umeinander zu türmen begonnen. Die Waschung des Altars 59 wird celebriert: in der ­Kirche wimmelte es von Priestern und Gläubigen aller Völker. Besonders eindrucksvoll war die Geste des Kardinal-­Vikars Pacelli  60 – wie er schreitet, kniet oder betet, das ist unvergleichlich. An einem Seiten­altar sass ein alter Kardinal mit einem langen Stabe. Jeder dem er das Haupt berührte ­empfing Absolution von allen Sünden, die ihn sonst zum Fegefeuer verdammt hätten. Wir haben wohl eine halbe Stunde zugeschaut: in unablässigem Strom zogen die Gläubigen vorüber. Der Kardinal sass mit völlig ruhigem, aber dennoch aufmerksamem Gesicht – aus der Ferne gleich einem Fischer anzuschauen – auf seinem Stuhle, unermüdlich, mit der gleichen, sanften und sicheren Bewegung senkte er den Stab auf die Häupter der Knieenden. Aber man vermag an solchem Brauch kaum eine Kritik oder gar Spott zu üben. Und wie er scheint alles unabänderlich, richtig, groß und erhaben auferbaut, die Hierarchie der K ­ irche bis in S­ itten und Zeremonien hinein ein von eignem Leben und Gesetz, von eigner Wahrheit und ernster Erhabenheit erfüllter Bereich, der allein durch sich selbst Berechtigung, Stütze, Beständigkeit empfängt. An den Toren fluteten Priester aller Rassen vorbei: Neger und Chinesen, Malaien und Deutsche – wahrlich ein ergreifendes Zeugnis der weltumfassenden und alle aufnehmenden Macht und Liebe der K ­ irche. – In der Dämmerung schwanden die gewaltigen Konturen des Domes allmählich in sanfter und magischer Schattenhaftigkeit zurück. Und die Wasser der grossen Fontänen des Vorplatzes wehten wie Fahnen in dem starken Wind. –

25.III. Bei schönem, klarem Wetter fuhren wir morgens nach Tivoli. Der Park der Villa d’Este, um die Mitte des 16. Jahrh[underts] angelegt, vereint auf das Glücklichste eine schon barocke Naturanschauung mit der ernsten und ruhigen Gehaltenheit renaissancischen [sic] Geistes. Dabei ist alles erfüllt von der leisen Schwermut einer endenden Zeit, und das Raunen und Rauschen unzähliger Fontänen, die gewaltigen alten Zypressen und Steineichen, die zuweilen als dunkle Silhouetten vor der hellen Unermesslichkeit der tief unten sich dehnenden Campagna stehen – das bietet einen zauberhaften Anblick. Von dort immer mit dem schönen Blick auf die Albaner- und Sabinerberge nach Subiaco. Wir assen in einem auf der Höhe gelegenen Gasthause zu Mittag, schon im Freien sitzend bei kühlem aber sonnigem Wetter. Rechts halb unter uns Subiaco, an den Felsen herangebaut, darüber duster 58 Zu diesen Restaurationsarbeiten vgl. den Bericht von Carlo Montani, Il Pantheon e i suoi recenti restauri, in: Capitolium, 9, Sept. 1932, 417 – 426. 59 Der 24. 3. 1932 war der Gründonnerstag. 60 Eugenio Pacelli war seit 1930 Kardinalstaatssekretär und darüber hinaus Erzpriester der Basilica Vaticana. Die Bezeichnung „Kardinal-­Vikar“ ist unzutreffend.

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und wehrhaft das Kastell, das Alexander VI. sich bauen ließ;61 gerade unter uns schlängelte der Anio in schmalem, seichtem Bette sich dahin. Das Kloster S. Benedetto 62 ist auf einem ­kurzen nicht steilen Anstieg zu erreichen: rechts tief eingegraben die Schlucht in die von jenseits der mächtige braune Bergrücken steil hinabfällt. Auf den Höhen nah und fern gewahrt man Städtchen, Felsennester, die sich terrassenförmig ans Gebirg klammern. Man durchschreitet ein schönes, einfaches Tor, und statt des kahlen Tufstein-­Bodens [sic], den der Weg zuvor durchschnitt, umgeben uns nun den Weg beschattend alte Steineichen. Noch ein kleines Treppchen im Felsen führt uns höher, dann gewahrt man das Kloster. Es ist in den Felsen hineingebaut, jeder Biegung der Gesteines [sic] folgend. Oft bildet der wilde Berg 2 Wände eines Raumes, oft hat man gar eine Felshöhle mit leichter Hand in eine Kapelle umgewandelt, und kaum ist es möglich, lebendes Gestein von der hineinfliessenden Architektur zu unterscheiden, oder die künstliche Wölbung der Decke von ihrem natürlichen Vorbild. Ein nicht vorstellbar freies Raumgefühl hat hier vor 6, ja 700 Jahren hier [sic] gewaltet, und dieser wundervolle Sinn für Raum und Formung hat sein andres Dokument gefunden in den Fresken, mit w ­ elchen Decken und Wände bemalt sind. Nicht über[r]agende Künstler mögen hier am Werke gewesen sein, aber wie die Gemälde und Ornamente mühelos den Wölbungen der Wand, ja des nackten Felsens folgen, wie jede Komposition sich organisch einzufügen scheint in die Fläche, die sie schmückt – das scheint auch damals schon nur italienischem Geiste möglich gewesen zu sein. Daher ist alles mit einer kindlichen, heiteren Natürlichkeit und anmassungslosen Einfachheit vorgetragen – wie ein Volkslied. Lange standen wir vor einem Freskoporträt des Papstes Innozenz III. und einem andern des Hl. Franz der das Kloster einst besuchte. Wie an jenem die vornehme Gelassenheit und weltlich-­ritterliche Souveranität des jungen Gesichtes, so ist bei ­diesem jene Mischung aus Phantastischem und Fanatischem, heilig-­strengem und schwärmerisch-­mildem ergreifend. – Im Klosterhof sass ein alter Rabe – ein Nachkomme gewiss der Raben die schon auf den Fresken abgebildet sind – vielleicht hat sich auch der hl. Benedikt über [die] strenge Weisheit dieser Vögel verwundert als er vor 1500 Jahren das Kloster gründete. Die Fahrt von Subiaco nach Palestrina ist von wunderbarer Schönheit: die zarten, klaren Konduren [sic] des Gebirges, die Campagna, das smaragdene Grün der jungen Fluren – all dies hingebreitet unter dem schönsten, friedlichen Abendhimmel. Man möchte angesichts der Italienischen Landschaft ein Maler oder ein Zeichner wenigstens sein, die Konturen sind von einer Reinheit und Schärfe, daß die Eigentümlichkeit des [sic] Landschaft mit wenigen Strichen zu umreissen sein müsste: wie sich eine Pinie vom Abendhimmel abhebt, die ruhige Silhouette eine[r] Zypresse am Bergrücken, ein Kampanile über der Stadt – das ist unvergleichlich. Dabei sind Farben und Formen rein und leicht von einander geschieden, ein Bergrücken bis in die kleinsten Gipfel und Schrunde[n] auch aus der Ferne zu verfolgen – so wie ich es auch in Spanien sah. Nur sind die Farben – wenigstens zu dieser Jahreszeit – weicher und fliessender. Palestrina, ein Bergstädtchen mit einem trutzigen Kastell der Barberinis, bot in der abendlichen Dämmerung ein malerisches Schauspiel vom Leben in einer kleinen italienischen Stadt 63 und einen ergreifenden Blick auf den weiten dunkelnden Horizont. 61 Die Rocca abbaziale oder Rocca dei Borgia. Erbaut z­ wischen 1073 und 1077, wurde sie 1476 auf Veranlassung des Kardinals Rodrigo Borgia restauriert. 62 Das Kloster San Benedetto, auch Sacro Speco genannt. 63 Möglicherweise eine Anspielung auf den 1909 erschienenen Roman Die kleine Stadt von Heinrich Mann, für dessen Komposition das italienische Städtchen Palestrina, wo Mann ­zwischen 1895 und 1898 gelebt hatte, als Inspiration und Modell diente.

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26.III. Wir gingen um 8 Uhr zur Priesterweihe im Lateran. Eine Enttäuschung: eine allzu lange Funktion in der unsympathischen K ­ irche. Ich verbrachte die meiste Zeit im Freien, orangenessend 64 und in d[em] Anblick der schönen Fassaden von ­Kirche und Palast versunken. – Nachmittags sah ich den Palazzo Venezia – ein majestätisches Gebäude – Denkmal des Condottiere-­Geistes des frühen Quattrocento, wie man meint. Bei einbrechender Dunkelheit gelangten wir aufs Kapitol. Bisher hat mir nichts in Rom einen Eindruck von gleicher Stärke geschaffen. Der Platz ist von vollendeter Harmonie weit und reich in den Abmessungen. Die drei Palazzi von stiller, edler Schönheit, völlig in sich ausgeglichen, ein schönes Gleichgewicht der Kräfte der Vertikalen und Horizontalen, wie aller andern Maße. Dabei sind sie – wenigstens die Seitenpaläste – erfüllt von jener michelangelesken Schwere und Wucht, von jener Tragik des Gesteins wie ich es immer empfinde – und doch ganz ruhig, ganz rein, ganz erhaben. Es ist schön, daß die drei Gebäude nicht dicht beisammen stehen. So bleibt links und rechts ein Zwischen­ raum – die Paläste scheinen sich nur frei die Hand zu reichen, ohne den Beschauer durch ihre Wucht zu überwältigen. Und man meint, der K ­ aiser – natürlich Marc Aurel! – sei soeben erst hereingesprängt [sic] – auch er wird nicht gehemmt oder gehalten von den Gebäuden. Das Standbild ist von unvergleichlicher Schönheit – Pferd und Reiter gleichsam die Verkörperung derselben herscherlichen [sic] Daseinsfülle – man mag nicht den Eindruck aus der Erinnerung mühselig wieder zurückholen.

27.III.

Bei der heutigen Ostermesse im Dom 65 ereignete sich ein Zwischenfall. Eine alte Frau – niemand hatte sie kommen sehen – bestieg das Tabernakel 66 und hielt eine Andacht zum Lobe der Jungfrau Maria. Sie stand völlig ruhig dort oben, einige blühende Zweige in der Hand, ihre Stimme klang klar, sicher und vernehmlich. Erst als sie geendet hatte ward sie fortgeführt. Nachmittags genossen wir vom Gianiculo [sic] den schönen Blick über die Stadt und der Heimweg führte uns durch das allerälteste Viertel Roms: kleine enge Strassen, und Häuser die vielfach in uralte romanische Bauten noch eingefügt sind.

28.III. Bei schönem, warmem Wetter im Colosseum. Wir sahen auch den wundervollen Konstantinsbogen. – Einen überwältigenden Eindruck machte Michelangelos Moses auf mich. Er könnte aus dem Erdreich aufgestiegen sein – gewiss aber hat er schon vor Jahrtausenden in jenem Marmorblock gewohnt, und man meint, Michelangelo habe das darum liegende Gestein nur wegblättern brauchen:67 so verwachsen ist er in Form und Leben mit dem Material, trächtig und unheimlich schwer von Erdkräften: jede Ader ist wie eine Wurzel die Säfte aus der Tiefe heraufführt, die Muskeln sind von derselben geheimnisvollen Schwellkraft erfüllt, w ­ elche fruchtbare Erde oder manche Moose im Walde nach langem Regen haben. Nachmittags fuhr ich mit Maud 68 in die Caracalla Termen [sic]: ebenso wie im Colosseum fühlte ich die Fremdartigkeit, die diese seltsam späte Barbarei für mich hat: denn diese Gladiatoren-­Wucht 64 Ob ihm hier auch Goethes Vorbild vorschwebte? In der ‚Italienischen Reise‘ erzählt Goethe, wie er am 22. 11. 1786 mit Tischbein zum Petersplatz ging, wo sie wegen der Wärme im Schatten des Obelisken spazierten und Trauben verzehrten. 65 Er bezieht sich offenbar auf San Giovanni in Laterano, die Kathedrale von Rom. 66 Wahrscheinlich das Reliquientabernakel über dem Hauptaltar. 67 Dazu vgl. Anm. 22 – 26. 68 Die Identität dieser Frau, wohl einer Britin, ließ sich bislang nicht ermitteln.

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und -Brutalität, diese Gewalt der Formen und Dimensionen scheint eben nicht mehr naiv oder bodenständig, sondern sie ist Exzess, fast eine Orgie – in ihrer Wurzel gewiss décadent. Am Abend gab es eine prachtvolle Traviata-­Aufführung in der schönen römischen Oper.

29.III. Ein etwas anstrengender und keineswegs erheiternder Tag auf den glatten und langweiligen Parketts erst des Botschaftsrats Smend,69 dann beim Botschafter von Bergen.70 Immerhin waren wir am Vormittag im Termenmuseum [sic],71 wo wir einige der allerschönsten Stücke anschauten: den im Ausdruck so unerhört stillen und dunklen Altar der Aphrodite Anadyomene 72 – er ist wie eine späte, abendliche Melodie. Als wir aus dem Raum wieder herausgingen in dem er steht flüsterten wir ohne es zu merken! Dann das Mädchen von Anzio.73 Wir meinen heute so oft, wir könnten auch im Torso die Schönheit eines griechischen Bildwerkes fast völlig wiederfinden und wünschen Haupt und Glieder kaum herbei. Aber an ­diesem Werk wird es deutlich, wie Unersetzliches in beschädigten Figuren verloren gegangen ist: alle Bewegung, der ganze Rhythmus ­dieses wunder­ baren Körpers und seines Kleids findet ja Abschluss, Ruhe und Ausklang erst im Haupte. Ohne dies müsste das Mädchen erscheinen wie ein Blumenstengel, dem man die Blüte geknickt hat. – Was aber mit tieferer Wehmut erfüllt vor solchem Gebild [sic]: wie unersetzliches, nie wieder zu e­ rweckendes ist eingeschlafen, ich meine, wie unwiederbringlich fern für uns, Vergangenheit, Ereignis, fast nur Traum oder Wunschbild ist der Geist, der sich s­ olche Kunstwerke schuf. – Merkwürdig erging es mir mit dem Apoll aus dem Tiber:74 ich konnte lang seine Schönheit nicht entdecken: er schien mir allzu versehrt und „invalid“, das Leben aus seinem Körper gleichsam abgewaschen durch die Jahrhunderte im Wasser. Aber der Kopf ist in Haltung und Ausdruck unsagbar edel. Zwischen Mittagessen und Tee gingen wir zum [sic] Piazza die [sic] Navona wo mich ­Borrominis Kirchenfassade und Berninis Brunnen davor sehr entzückten. Dann zu dem wirklich unerhört schönen Palazzo Farnese. Und endlich – ehe wir ein zweites Mal die unsagbar öde Gesellschaft des deutschen Adels der sich zur Zeit in Rom aufhält über uns ergehen lassen mussten – erfreuten uns Raffaels Sibyllen in S. Maria della Pace.75 – Die Räume der deutschen vatikanischen Botschaft sind übrigens sehr schön (Villa Bonaparte) und können über vieles hinwegtrösten! Den ganzen Tag ging ein warmer, sehr starker Gewitte[r]regen nieder. 69 Johann Smend, schon seit den zwanziger Jahren Botschaftsrat an der deutschen Botschaft beim Quirinal. 1935 wurde er zum deutschen Botschafter im Iran ernannt. 70 Diego von Bergen, von 1920 bis 1943 Botschafter des Deutschen Reichs beim Heiligen Stuhl. Otto von Simsons Vater, Ernst, kannte Bergen bereits seit den Tagen, als er im Auswärtigen Amt tätig war und seit seiner ersten Romreise (Ende Dezember 1922). Vgl. dazu Ernst von Simsons Erinnerungen an seine Rombesuche (der zweite fand in der Osterwoche 1923 statt) in: Ernst von Simson (wie Anm. 43), 58 – 60. Es ist anzunehmen, dass Ernst von Simson auch Johann Smend kannte und dass Otto von Simson Empfehlungsschreiben seines Vaters besaß, die ihm und Gilbert den Zugang zu den deutschen Botschaften in Rom erleichterten. 71 Das Museo Nazionale Romano alle Terme di Diocleziano. 72 Gemeint ist der sogenannte Ludovisische Thron. Auf seiner Frontseite ist die Geburt der Venus Anadyomene dargestellt. 73 Die sogenannte Fanciulla di Anzio, eine hellenistische Statue, die 1878 in den Ruinen der Villa di Nerone in Anzio entdeckt wurde. Heute ist sie im Museo Nazionale Romano di Palazzo Massimo ausgestellt. 74 Der sogenannte Apollo del Tevere. Diese aus der augusteischen Zeit stammende Statue wurde 1911 im Tiber entdeckt. Heute ist sie im Museo Nazionale Romano di Palazzo Massimo ausgestellt. 75 Raffaels Fresko Sibille e angeli über dem Bogen der Chigi-­Kapelle.

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30.III. Raffaels Stanzen und Loggien. Das Monumentalste und Schönste an Dekorativer [sic] Kunst, das sich denken lässt. Fast schwindelerregend wie in den Stanzen allerliebste, völlig einmalige Formgewalt, Raffaelisches Flächen- und Raumgefühl – fast sollte man sagen: Flächen- und Raumdämo­ nie! – mit inhaltlicher Tiefe und Großheit die Wage [sic] halten. Hier ist – eine Weltminute 76 lang, scheint es – der steile und jähe Gipfelpunkt künstlerischen Gesichtes überhaupt erreicht.

31.III. Den ganzen Vormittag in der Sixtinischen Kapelle. Goethe hat gesagt: das größte was jemals ein Mensch geschaffen hat.77 Unmöglich, auch nur den persönlichen Eindruck in seiner ganzen Grösse wiederzugeben. Denn, was so völlig erschütternd, ja überwältigend ist: hier hat sich, zusammen mit einer künstlerischen Wendung von kaum übersehbarer Grösse, ein neues Weltgefühl Bahn gebrochen. Die künstlerische Entwicklung, die ja etwa von hinten zu dem Deckenstück über dem Altar verläuft und sich nach formalen Kriterien sehr leicht ablesen lässt (die Fußpunkte der Propheten und Sibyllen rücken tiefer, die Sklaven 78 und kleinen Putti gewinnen immer mehr Leben, die Sklaven überschneiden mit Armen die Bilder, die sie einrahmen, die Propheten beschränken sich nicht mehr auf ihre Nischen u. s. f.) – diese Entwicklung lässt sich unmöglich erfassen ohne die Witterung für das, was sich in der Seele des Meisters muß ereignet haben. Man soll und muß in solchen Ahnungen ehrfurchtsvoll und scheu sein, äusserst bescheiden vor allem wenn man sie in Worte fasst: aber lässt es sich übersehen, daß allein Traum und Qual Michelangelos diese Wandlung im Formalen vollzogen haben? Niemand wird den seelischen Grund, die seelische Wurzel allen künstlerischen Ausdrucks leugnen wollen. Aber wer könnte die Sixtinische Decke sehen ohne die Empfindung für den Geist aus dem sie hervorging, für den metaphysischen Zusammenhang, der sie bis in Einzelheiten und Dekorationen hinein durchwaltet – mag man es Geburt der Tragödie nennen, wie ich es empfinde, oder anders. Und einen Schritt weiter: wir lernen so viel über Stilmerkmale, über den Unterschied ­zwischen Renaissance, Manierismus, Barock: liegen sie nicht alle drei in der Brust des einen gewaltigen Mannes beschlossen, ja, ist Manierismus und Barock mehr als sein Werkzeug, das er, der einzige, sich schuf, um damit seine Gesichte aus dem Ungestalteten herauszubrechen – das Instrument für die Melodie seiner Seele, darauf nur er zu spielen vermochte? Die späteren freilichen [sic], Bernini etwa, haben großartig zu schalten gewusst mit der ihnen überkommenen Form, für ihre Seeleninhalte war der Leib schon gefunden und Inhalt und Form leicht als Einheit zu offenbaren: aber in Michelangelo ist sie geschaffen worden, er hat die Zwiespältigkeit von Sein und Schein, wie er sie fühlte, zusammengerissen und ihre [sic] die neue Form, seine Form gegeben: mit der Dämonischen Einmaligkeit und Ueberschweng­liche[n] Tragik seiner Seele, in der einmaligen, begnadeten, unwiederbringlichen Weltstunde – der Weltstunde 79 um 1510, der Stunde von Raffaels Stanzen. Und so ist es schwer angesichts der Sixtinischen Decke im italienischen Barock viel mehr zu sehen als Wiederholung oder Wiederbelebung einmaliger Erweckung.

76 Ein fernes Echo aus dem Buch von Stefan Zweig, Sternstunden der Menschheit, erschienen 1927 (wie Anm. 20). 77 Goethe, Italienische Reise, 23. 8. 1787. 78 Gemeint sind die Ignudi, die man heute nicht als Sklaven deutet. 79 Wohl ein Echo aus dem Titel und dem Gegenstand des Buches von Stefan Zweig über die Sternstunden der Menschheit: vgl. Anm. 20.

„Et in Arcadia ego!“ | 57

Nachmittags fuhr ich nach Ostia. Bei prachtvollem Wetter, Sonne und gewaltigem Wind und Wellengang stand ich lange auf dem Landungssteg in Erinnerung des am Vormittag Gesehenen. Zumal die Erschaffung des Adam kann ich nicht vergessen. Für mich liegt eine der Schönheiten des Bildes darin, daß man nicht weiß: hat Adam die belebende Berührung schon empfangen oder naht der weckende Gott ihm erst? Darüber kann man lange träumen. Ich aber meine, Michelangelo hat den Augenblick des Abschiedes gebildet, den Augenblick da Adam den Schöpfer entschwinden sieht, einer Wolke gleich, die das Firmament segnend und schaffend umschweift. Blick und Haltung des Adam aber sind unendlich rührend. Denn es scheint, als ob die ganze Schwermut, das duldende Schicksal kommender Geschlechter darin befangen sei. Das Leid Ariels 80 ist in ­diesem Blick, der, Geist von Seinem Geist, und Hauch von Seinem Hauch, eingehen muß in Schicksal und Drangsal der Erscheinung die vergehen, des Stoffes der schaffen und erfüllen muss, geduldig, stumm und gefesselt an hier und heute [?]. Aber ist dieser Körper nicht auch von Glück und heiterer Gelassenheit erfüllt, scheint er nicht im Rhythmus einer reinen Musik zu schwingen? Von der Melodie d ­ ieses seltsamen Daseins, d ­ ieses kleinen Lebens, das ein Schlaf umgränzt? „was ich tat, was ich litt, was ich sann, was ich bin: wie ein brand der verraucht, wie ein sang der verklingt“.81 Das ist sehr groß und schön: dieser Akkord sanfter Gelassenheit und stiller Schwermut! Die großen Wellen mit ihren weißen Mähnen passten gut zu meinen Gedanken! –

1. April Ruhetag nach den Eindrücken der letzten Tage. Den Vormittag verbrachte ich mit Schreiben; nach dem Mittagessen sahen wir ein zweites Mal die Galleria Borghese. Mich entzückten zumal 2 kleine Porträts des großen Bildhauers Bernini in Oel 82, ein sehr schöner Pieter de Hoogh [sic]83, ein [sic] Madonna des Andrea del Sarto 84 – natürlich die beiden großen Tizians 85 und Correggios kleine Madonna 86. Interessant zur Frage Bassano-­Greco sind ein großer B[assano] und zwei kleine Greco-­ Bilder, alle drei eine Anbetung der Könige ikonographisch fast gleich darstellend.87 Anfänge und allmähliche Entwicklung Grecos werden einem sehr schön deutlich. Den Nachmittag verbrachte ich mit Maud wieder am Pincio sitzend und spazierengehend. Man mag über was man will mit ihr reden – so gerät man in Streit. Sie sieht alle Dinge von der gleichen seltsamen aber keineswegs 80 Der Luftgeist von Shakespeares Theaterstück The Tempest, der, gefangen in einer gespaltenen Kiefer, von Prospero befreit wurde. 81 Stefan George, Nachtgesang I. 82 Es handelt sich um zwei Selbstporträts von Bernini, das eine als junger Mann, das andere im r­ eiferen Alter (Autoritratto in età matura). 83 Es ist das Bild Der Flötenspieler oder In der Gaststube. 84 Die Madonna mit dem Johannesknaben. 85 Höchstwahrscheinlich Die himmlische und die irdische Liebe sowie Venus, die dem Amor die Augen verbindet. 86 Es handelt sich um die Die Madonna mit dem Johannesknaben. Das Bild war erst wenige Jahre (1927) zuvor vom italienischen Staat erworben worden: vgl. Corrado Ricci, Una „Madonna“ del Correggio nella Galleria Borghese, in: Bollettino d’Arte, 9, Nov. 1929, 193 – 198. 87 Die Galleria Borghese besitzt zwei Bilder von Jacopo da Bassano mit der Anbetung der Könige, aber keins von El Greco. Weder Adolfo Venturi, Il Museo e la Galleria Borghese, Rom 1893, noch Arturo Jahn Rusconi, La Villa, il Museo e la Galleria Borghese, Bergamo 1903, kennen ein Werk mit entsprechender Zuschreibung.

58 |  Anna Maria Voci weiten Warte aus – alles was nicht hinein passt wird abgelehnt, zumal Kunst, die ihre philosophischen Ansprüche nicht erfüllt: Raffaels Stanzen will sie am liebsten blau übertünchen lassen! –

2.IV. Wir haben seit Tagen warmes, schwüles Scirocco-­Wetter. Heute versuchten wir, die Via Appia hinunterzugehen. Aber ein starker, unangenehmer, trockener Wind machte di[e] Freude sehr gering. Die Farnesina – von dem ganz jungen Raffael und seinen Schülern noch vor den Stanzen gemalt – ist wohl das lieblichste, festlich-­heiterste Kunstwerk, das mir aus jener Zeit bekannt ist. Man hat gewissermassen die Decke und den oberen Wandteil fortgenommen, statt dessen Guirlanden angebracht, und nur zwei große, prächtige Teppiche, mit Darstellungen der Sage von Amor und Psyche, stützen den luftigen Bau vor eindringendem Regen. Durch Zwickel und Spitzkappen aber schauen Himmel und Wolken hinein, zumal aber die Himmlischen selbst, die den Gästen des 88 Hausherrn jenes liebreizende Märchen gewissermassen noch einmal zur Belustigung aufführen. – Die Galatea im Nebenraum ist unübertrefflich schön. Merkwürdig bleibt die fast nachlässig ungeschickte Behandlung des Wassers auf dem Galatea nebst Delphinen und Tritonen nicht zu schwimmen sondern wie auf Glasfluss dahinzugleiten scheint. Diese Gleichgültigkeit den Elementen gegenüber, ihre Unterordnung unter den Menschen und seine Darstellung war mir schon im Empfangsraum aufgefallen. Wie dort Wolken und Himmel, Licht und Luft gewissermassen dekorativ dargestellt sind, das ist für jeden merkwürdig, der deutsche Bilder und ihr Ineinanderfluten und -wirken von Geschöpf und umgehenden Dingen, Stimmungen und Kräften, das eigentümliche, eigenwillige Leben selbst der Athmosphäre im Gedächtnis hat. Man braucht nicht zu sagen, daß diese andere Naturauffassung der Italiener, die die Dinge dem Menschen gewissermassen unterordnet, nicht aus einem nicht-­Können entsprungen ist: oder man hat es nicht gekonnt, weil man es nicht können gewollt hat.

3.IV. Bei sehr warmem, wolkigem Wetter fuhren wir nach Frascati. Die Campagna mit ihren weidenden Schafherden hat noch immer etwas von ihrer einsamen Poesie und schönen Verlassenheit behalten. Wir betraten den Garten der Villa Falconieri, die einst Richard Voss 89 und seine Freunde bewohnt haben. Der Park ist jetzt alt und ein wenig verwildert, aber von einer unsagbaren Anmut. Es gibt einen Teich, rings umstanden mit himmelhohen, dunklen Zypressen. Wir sassen lange daran: der Himmel hatte sich drohend bedeckt, das warme Wasser stand dunkel und unbeweglich, ganz klar spiegelten sich die schwarzen Fontänen der Zypressen darin. Und aus den dichten Gebüschen, die nun die Wege überhängen und fast versperren, sangen die Vögel, schon unruhig und scheu vor dem Aufziehenden [sic] Gewitter. – Ueber den tiefer gelegenen Obstgarten ­zwischen weißen Pflaumenund Apfelblüten hindurch hat man einen unendlichen Blick über die Campagna und Rom bis ans Meer hin. Heute aber war alles in silbrigen, unheimlichen Dunst gehüllt und dem Blick verwischt. Die Rückfahrt in der überfüllten Strassenbahn war etwas beschwerlich. Das Volk hier ist noch immer von unglaublicher Schmutzigkeit, an die man sich kaum gewöhnt. Aber die Herzlichkeit und naive Freundlichkeit dieser einfachen Menschen versöhnt einen sogleich.

88 Im Manuskript liest man „den“, wohl ein lapsus calami. 89 Der Schriftsteller Richard Voss (1851 – 1918) lebte seit 1874 für über 20 Jahre in der Villa Falconieri. 1905 wurde die Villa von dem Bankier Ernst von Mendelssohn-­Bartholdy gekauft und 1907 an ­Kaiser Wilhelm II. geschenkt. Von Simsons M ­ utter, Martha Enole Oppenheim, war mit Ernst von Mendelssohn-­Bartholdy verwandt.

„Et in Arcadia ego!“ | 59

4.IV. Letzter Tag in Rom! Morgen in aller Frühe schon geht es nach Orvieto. Ich besuchte zum letzten Mal Stanzen, Loggien und Sistina. – Am Nachmittag fuhren Maud und ich bei prachtvollem Wetter nach Genzano. Schon von der Bahn aus hatte man einen wundervollen Blick auf die Campagna, aber von dem terrassenartigen Marktplatz des langweiligen Oertchens Genzano öffnete sich eine Aussicht von unvergleichlicher Schönheit: unter uns, weithin, lag die Ebene gebreitet, die Obstbäume beginnen zu blühen und wie ein zarter rosa oder weisser Schleier liegt es über der Landschaft. In der Ferne entdeckt man Rom – S. Peter als blaue Silhouette. Und endlich das Meer! Die Sonne spiegelt sich darin so blendend, daß wir die Augen abwenden müssen. Und über allem die stille Klarheit und Ruhe eines Frühlingsabends. – Leider ist Nemi zu weit entfernt, als daß wir es noch vor Dunkelheit erreichen könnten. So gingen wir nur wenige Minuten die sacht abwärts führende Strasse entlang, bis wir den See tief zu unsern ­Füssen, von den violetten, klaren Konturen der einfassenden Dinge behütet, erblicken, und gegenüber auf der Höhe das alte wehrhafte Nemi. Als wir auf den Platz in Genzano zurückkehrten sank die Sonne glühend im Westen; fern am Horizont zart, in atmender Bläue, das Meer. Die Campagna ruhte in den schweren tiefen Farben des dämmerungslosen Abends. Im Tal zu unsern Füssen schöpfte ein alter Mann Wasser aus einer Quelle in einen rötlichen Tonkrug. Die schrägen Sonnenstrahlen beleuchteten das rinnende Wasser, daß es wie fliessendes Gold ins Gefäß rann. Und aus den Schornsteinen der kleinen Häuser stieg bläulicher Rauch. – Man mußte an die Abendgedichte Leopardis 90 unwillkürlich denken. Auf der Heimfahrt sahen wir vom Zug aus die Ruinen der alten Aquädukte dunkel vor dem sammtenen Blau des Himmels stehen, oder genossen durch einen ihrer Bogen hindurch den Ausblick in die Landschaft – wie ein altes dunkel gerahmtes und nachgedunkeltes Landschaftsbild.

5.IV. Bei sehr windigem, unruhigem Wetter gelangten wir gegen Mittag in Orvieto an. Man fährt mit der Seilbahn auf den Gipfel des Berges, auf dem die Stadt fast uneinnehmbar und kaum sichtbar vom Tal aus angelegt ist. Oben blies der Sturm so heftig, daß wir uns kaum vorwärts bewegen konnten. Das Tal, in dem seltsam fahlen und gehetzten Blick des stürmischen Tages, war weithin zu überschauen. Wir kämpften uns mühsam bis zum Domplatz vorwärts. Der Dom selbst, älter als der Sieneser,91 aber ähnlich, wie Felix 92 und Holldack 93 uns 94 sagten, bietet für einen Deutschen 90 Von Simson könnte die Gedichte Giacomo Leopardis in der deutschen Übertragung von Robert Hamerling (1830 – 1889) oder vielleicht in derjenigen von Paul Heyse (1830 – 1914) gekannt haben. 91 Vgl. Anm. 100. 92 Felix Gilbert. 93 Der Historiker und Journalist Heinz Holldack (1905 – 1971), Schüler von Friedrich Meinecke und Erich Marcks, wurde später Italien-­Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, ab 1960 Leiter des deutschen Konsulats in Neapel und zuletzt Kulturattaché an der deutschen Botschaft beim Quirinal. 1976 wurde sein Nachlass dem Deutschen Historischen Institut (DHI) in Rom übergeben. Vgl. Karsten Jedlitschka, Das Archiv des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Geschichte und Bestände, in: Quellen und Forschungen aus Italienischen Archiven und Bibliotheken, 86, 2006, 1 – 40, hier 32. In seinem Lebenslauf vom 30. 11. 1946 (DHI, NL Heinz Holldack) erklärt er, dass er „Nichtarier“ gewesen sei, und man liest, dass er von 1930 bis 1932 im Auftrag der Notgemeinschaft für die Deutsche Wissenschaft im Florentiner Staatsarchiv und in der Staatsbibliothek zu Berlin über den italienischen Reform-­Absolutismus arbeitete. 94 Hier bezieht sich von Simson auf sich selbst und Maud.

60 |  Anna Maria Voci zunächst einen ungewohnten und nicht leicht zu sagenden Anblick: die Fassade – wie alle italienischen Fassaden – erscheint flächenhaft, losgelöst von dem Gebäude hinter ihr: nicht notwendiger Aus-­druck, Haut gewissermassen des Raumes dahinter, der sie nach seinen Gesetzen und Bedingungen formt und wölbt – wie wir es aus Deutschland gewohnt sind. Davon abgesehen jedoch ist sie mir zu akademisch, ausgerechnet und aufgeteilt – dabei nicht schön in den Proportionen. – Das Innere dagegen ist prachtvoll, eindrucksvoll gerade durch die Maßlosigkeit – daß es nämlich allen Raum- und Flächenberechnungen unzugänglich erscheint, und man sich darin verliert, klein und hilflos ­zwischen den unabsehbaren gewaltigen Säulen wie im Walde. (Ein Gegensatz gewiss zu Gebäuden der Renaissance, wo der Mensch in der Tat das Maß aller Dinge d. h. Proportionen ist). Signorellis Fresken in der rechten Chorkapelle 95 sind unbeschreiblich schön: Farben, Bewegungen, Figuren von schönster Lebendigkeit, Ausdruckskraft, Dramatik des Geschehens. Unbegreiflich fast ist die Meisterschaft der Komposition, denn es scheint, als ob das einzelne Bild nicht durch künstlerisch bedachtes Gesetz, sondern allein durch die – inkommensurable – einheitliche Seelenstimmung, durch das Ereignis und seine Wirkung auf die Betroffenen zusammengeschlossen und von einem Pulsschlag durchflutet würde. Man denkt unwillkürlich an Deutsches, an ­Grünewald etwa. – Im Linken Seitenaltar ist eine schöne Schutzmantelmadonna des Lippo Memmi. 96 Die Decke der Signorellikapelle ist von Fra Angelico und Gozzoli mit Fresken versehen worden. Als wir wieder auf den Domplatz traten, um die schönen Bronzereliefs an den Pilastern genauer zu betrachten (das erste und dritte von links sind gewiß von Pisano)97 hatte der Wind sich gelegt. So wirkte die kleine Stadt wie verschlafener und stiller – auch die Straßen waren wie ausgestorben. Auf den alten, malerischen Schindeldäche[r]n gurrten die Tauben, aus engen Gassen erhob sich hie und da ein trutziger Turm – man meinte eine verwunschene Stadt des Mittelalters zu erblicken. Bei einbrechender Dunkelheit schritten wir z­ wischen Olivenbäumen den steilen Weg ins Tal hinab – die Strasse zieht sich durch das altertümliche Stadttor hinaus, am Fuß der senkrechten Felswand dahin, in deren Höhlungen man vor Jahrhunderten gewohnt hat, wie die zertrümmerten kleinen Fensterscheiben noch beweisen; an dieser die Stadt wie eine gewaltige Mauer schirmenden Wand vorbei schwingt sich der Weg in schönen, großen Windungen ins Tal. – Der Zug brachte uns um 11 Uhr nachts nach Florenz. –

6.IV. Ein anstrengender und ärgerlicher Tag. Den ganzen Tag liefen wir auf vergeblicher Wohnungssuche in der Stadt herum – nächtigten in einem schlechten, lauten und dumpfen Hotel. Hoffen wir, daß es morgen besser wird!

7.IV. Vormittags war ich lange im Bargello: das alte Gebäude mit dem viereckigen Hof eignet sich vortrefflich zum Museum. Die einzelnen Dinge sind frei und schön aufgestellt, man gewinnt einen sicheren und fast vollständigen Ueberblick über die italienische Plastik bis zur Renaissance: Verocchio [sic], Donatello, Rosselino [sic], Michelangelo, Ammanati [sic], Bandinelli, Cellini und 95 Cappella di San Brizio oder Cappella Nova. Der z­ wischen 1499 und 1502 von Luca Signorelli gemalte Freskenzyklus hat Die Geschichte des Antichristen oder Das Ende der Welt zum Gegenstand. 96 Die Madonna della Misericordia oder Madonna dei Raccomandati in der Cappella del Corporale. 97 Die Reliefs an der Domfassade von Orvieto, die Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament darstellen, wurden zum größten Teil von Lorenzo Maitani ausgeführt. Nach seinem Tode (1330) brachten einige Künstler diese Arbeit zu Ende, darunter auch Andrea Pisano.

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viele andere sind mit schönen Werken vertreten. Auch in der Münzsammlung gibt es prachtvolle Stücke. – Es wimmelt in der Stadt von Kunsthistorikern, was etwas mühselig ist. Heut’ traf ich im Bargello Michalski,98 der mit mir in die Uffizien ging, um mir einige besonders schöne Bilder zu zeigen. Dort liefen wir Pefsner [sic]99 in die Arme, und so zog ich denn – Prophete rechts, Prophete links – durch die Gallerie [sic], naiv und vergnügt, während die beiden geistreichen Männer sich über Bilder rauften oder einander listige Fallen stellten. Zum Glück haben wir nun eine Bleibe gefunden, wo wir zu dritt ganz vergnügt hausen: eine kleine Pension an der Piazza della Indipendenza.

8.IV.

Heute habe ich die Gozzoli-­Fresken im Palazzo Medici gesehen.100 Sie erzählen die Legende vom Zug der hl. 3 Könige so schön, daß man es in Worten nicht wiedergeben kann: die herrscherliche, farbenfrohe Pracht eines Konzils, zu dem auch der K ­ aiser von Byzanz gekommen war,101 sind [sic] von einem träumerischen und dennoch für alles Geschehen und Treiben ­dieses vielfältigen Lebens seherischen Auge umgeschaut worden in Traum und Märchen von dem wohl wundersamsten, morgen­ländisch farbenprächtigsten Ereignis des Neuen Testamentes. – In den Uffizien bin ich lange vor den 5 oder 6 unbeschreiblich schönen Andrea del Sartos gestanden: dem Selbstporträt und der Harpyien-­Madonna vor allem. Am Nachmittag gingen wir zur [sic] Piazzale Michelangelo. Ein schnelles Gewitter hatte den Staub von den schon schlaffen Blättern gewaschen; nun atmeten Bäume und Büsche erquickt, im dunklen, funkelnden Gebüsch sangen die Vögel. Die großen Gewitterwolken zogen stille westwärts, von der Abendsonne, w ­ elche eben über die hohen Gebirge wanderte, golden gesäumt. Ueber der Stadt lag ein feiner Schleier aus Feuchtigkeit und Licht. Der Arno floss schimmernd dahin, von schön geschwungen Silhouetten der Brücken überwölbt. Ganz Florenz war zu überschauen mit den anliegenden Hügeln – bis zu den fernsten Bergketten. Die Domkuppel ist fester und strenger in Kontur und Raum als die Peterskuppel – gegenüber der fast lebendigen Geschwelltheit des Michelangeloschen Werkes wirkt Bruneleschis [sic] Bau starrer und steinerner doch nicht weniger schön. 98 Ernst Michalski (1901 – 1936) hatte 1924 in Leipzig bei Wilhelm Pinder promoviert. 1931 habilitierte er sich mit einer Arbeit über Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte (Berlin 1932) und folgte Pinder nach München als Privatdozent und Assistent. 1933 trat er aus dem Judentum aus. Das rettete ihn aber nicht: Im selben Jahr wurde er auf Grund des sog. Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Universitätsdienst entlassen. Daraufhin versuchte er vergeblich zu emigrieren. 1936 verstarb er, wahrscheinlich in Berlin. Vgl. Katrin Meier-­ Wohlt, Das Kunsthistorische Seminar der Universität München zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Wissenschaft z­ wischen 1930 und 1950, hg. von Nikola Doll, Christian Fuhrmeister und Michael H. Sprenger, Weimar 2005, 85 – 97, hier 88, mit weiterer Bibliographie. 99 Nikolaus Pevsner (1902 – 1983) stammte aus einer Familie russisch-­jüdischer Einwanderer. Auch er hatte 1924 in Leipzig bei Wilhelm Pinder promoviert. Zwischen 1929 und 1933 war er Privatdozent für Kunst- und Architekturgeschichte in Göttingen. 1934 emigrierte er nach England und erwarb 1946 die britische Staatsbürgerschaft. Dort war er an den Universitäten von London, Cambridge und Oxford tätig. 1969 wurde er in den britischen Adelsstand erhoben. Vgl. Susie Harris, Nikolaus Pevsner. The Life, London 2011. 100 Die Wandmalereien in der Familienkapelle im ersten Geschoss des Palazzo Medici. 101 Der byzantinische ­Kaiser Johannes VIII. Palaiologos nahm am Konzil von Florenz (1439) teil, dem es gelang, eine wenn auch nur vorübergehende Union der West- mit der Ostkirche herzustellen.

62 |  Anna Maria Voci Von der [sic] Piazzale gingen wir die schöne Promenade zum römischen Tor hinunter; in den schön und anmutig bestellten Gärten blühten und dufteten schon überall Blumen und Obstblüten. Als wir die Arnobrücke überschritten stand die feine Mondsichel überm Fluss, der alle Farben des westlichen Himmels zurückschimmerte.

9.IV. Vor meinem täglichen Besuch der Uffizien sah ich heute die Mediceergräber Michelangelos. Ein Grabmal von größerer Gesinnung und Erhabenerem [sic] Ernste kann kaum gedacht werden: die sitzende Gestalt des in tiefes Sinnen verlorenen Lorenzo ist unübertrefflich. Die vier Tageszeiten scheinen alles zu umfassen, was das menschliche Herz als die Geister die seinen Tag umwalten ahnt und fühlt: die tiefe Versunkenheit im Schlaf und unerwecklichen Traum der Nacht, das sich Emporheben – sich gewissermassen aus dem Schlafe „räkeln“ – der Aurora, die gewaltige Kraft und Geschäftigkeit des Tages – (der dennoch etwas unheimlich Dämmerndes hat, wie der erwachende Rhythmus, das erste Aufheulen der Fabriken an nebeligem Frühmorgen); endlich die lautlose Erschlaffung in der Gestalt des Abends, über dessen Gesicht man die blauen Schatten später Sommernachmittage meint hereinbrechen zu sehen. – Die unvollendete Madonna 102 ist unsagbar ergreifend – mit der Pietà-­Madonna von S. Peter die einzige ganz zarte und rührende Frauengestalt des Meisters. Uebrigens sind Grabfiguren und Raum wie ein Gewächs. – Die barocke Grabkapelle ist prachtvoll.103

10.IV. Bei himmlischem Wetter ging ich vormittags im Boboli-­Park spazieren. Nachmittags fuhren wir nach Settignano und machten von dort den Weg auf der Höhe entlang fast bis Fiesole. Die Jahreszeit ist köstlich jetzt, die Gärten blühen überall, sie sind sauber, ja anmutig gepflegt und bestellt, wie ich es selten gesehen habe, dazu abends die schönsten Beleuchtungen bis zur Dunkelheit. In den Cascinen, unter alten Bäumen, am Arno entlang zu gehen ist ein Genuß. Heute – am 11.IV. – taten wir es wieder, wir waren im Gespräche so vertieft, das [sic] die Dunkelheit unversehens hereinbrach und wir erst gegen 8 zu Hause anlangten. Vorher hatten wir M ­ asaccios Fresken in der Brancacci-­Kapelle 104 lange Zeit betrachtet. Vormittags war ich im Dom und im Baptisterium. Das Baptisterium ist ein wundervoller Raum – der Dom sagte mir weniger zu. Sehr schön sind die Gedenkbilder Ucellos [sic] und Castagnos 105 und die merkwürdig „gotische“ – trotz renaissancischer Form – Pietà Michelangelos.106 Danach besuchte ich Wolfskehl.107 Er wohnt überaus ärmlich, in ein[er] schlechten, engen Straße, jenseits des Arno 108 fast unterm Dach, aber mit wunderschönem Blick auf Stadt und Fluß. Sogleich

102 Die Madonna con Gesù in grembo oder Madonna Medici am Altar der Neuen Sakristei. 103 Die Cappella dei Principi. 104 Die Kapelle befindet sich im rechten Arm des Querschiffes von Santa Maria del Carmine. 105 Paolo Uccellos Reiterbild des englischen Söldners John Hawkwood (Giovanni Acuto) und Andrea del Castagnos Reiterbild des Feldherrn Niccolò da Tolentino. 106 Die unvollendete Pietà Bandini oder Pietà di Nicodemo war seit 1722 im Dom ausgestellt. 1981 wurde sie entfernt und in das Museo dell’Opera del Duomo di Santa Maria del Fiore überführt. 107 Zu Karl Wolfskehl vgl. Anm. 7 – 9. 108 Diese Wohnung war in der Costa San Giorgio, 54. Vgl. Von Menschen und Mächten (wie Anm. 11), 828 – 829.

„Et in Arcadia ego!“ | 63

entsann er sich, daß Preetorius 109 ihm von mir gesprochen habe, wir kamen in längeres Gespräch, als ich ihm von Rom erzählte und meinen Unmut über die Piana [sic] Regolatore der faschistischen Regierung 110 ausdrückte. Er entgegnete, die Barbarei Vergangenem gegenüber (zugunsten irgendwelcher vermeintlicher Werte der grauen, oder doch nicht eigentlich mehr lebendigen Vorzeit) sei ein ­­Zeichen der Zeit, man müsse die Dinge ihren selbstzerstörerischen Gang gehen lassen bis zur Erfüllung und Vernichtung. – Die Hände auf dem Rücken, oder gestikulierend erhoben, schritt er mit mächtigen Schritten durchs Zimmer. Die blinden, stark schielenden Augen entstellten ihn wohl; aber noch immer leuchtet darin ein schönes Leben, die hohe, weiße, gewölbte Stirn unter dem wirren schwarzen Haar – das eben leicht begraut – ist von vollendeter Schönheit. Die Stimme ist weich, überaus angenehm, der ganze Mensch von vornehmer, wahrhaft edler Haltung und Gesinnung. Zuweilen unterbrach er sich fast schüchtern im Fluß seiner Rede, einmal sagte er: „ich weiß nicht, warum ich all dies Ihnen sage: ich kenne Sie kaum, aber mir ist, als hätte ich Sie oft gesehen“. – Ich schied sehr dankbar von ihm. Hoffentlich werde ich ihn noch öfter sehen können. –

12.IV. Der Pitti, ein sehr schöner Palast, dem man die spätere Erweiterung sogleich anmerkt – vielleicht ein wenig zu prächtig und majestätisch. Es gibt einige Raffaels dort, die man geneigt ist für das Großte [sic] zu halten, was in der Porträtmalerei je geleistet worden ist.111 Auch zwei prächtige Bildnisse von van Dyk [sic]112 und von Tizian (in dunkelstem, fast braunem Violett gehalten)113 bewunderte ich sehr – neben viel anderem Schönem. Leider sind die Bilder auf die unschönste und unordentlichste Weise aufgehängt, so daß eines das andere totdrückt und man sich nur mühselig zurecht findet.

13.IV.

In der Vorhalle der SS. Annunciata 114 sahen wir die Fresken Andrea del Sarto [sic]. Die Bilder – die zu den frühesten Werken des Meisters gehören – sind noch merkwürdig farblos und ungelenk im Ausdruck. Auf der anderen Seite ist die Geburt [Mariä] und der Zug der 3 Könige aber von unerhörter Schönheit und Leuchtkraft, bei vollendeter Größe der Komposition, innig und tief im Ausdruck. Auch die Fresken gegenüber, von Franciabigio 115 [sic] und Pontormo 116 sind eindrucksvoll und prächtig in Farbe und Linienführung. Im Kloster S. Marco sind die schönsten Werke Fra Angelicos bei einander: er hat hier einige der Mönchszellen so zart und innig ausgeschmückt, daß man immerfort davor stehen bleiben 109 Der Graphiker und Bühnenbildner Emil Preetorius (1883 – 1973), damals Professor an der Münchner Hochschule für Bildende Künste. Thomas Manns Figur des Münchner Graphikers Sixtus Kridwiss im Kap. XXXIV des Doktor Faustus scheint von ihm inspiriert. 110 Er bezieht sich auf den Bebauungsplan (Piano Regolatore) von 1931. 111 Angesprochen sind wahrscheinlich das Porträt des Kardinals Bernardo Dovizi da Bibbiena, die Bildnisse des Agnolo Doni und der Maddalena Doni sowie die sogenannte Donna col Velo oder Donna velata, das Porträt Leos X; das von Tommaso (Fedra) Inghirami sowie das Selbstporträt Raffaels. 112 Er meint wohl das Bildnis des Kardinals Guido Bentivoglio. 113 Vielleicht handelt es sich um das Porträt von Tommaso Mosti oder um dasjenige vom Kardinal Ippolito d’Este. 114 Der sog. Chiostrino dei Voti. 115 Vermählung der Jungfrau. 116 Mariä Heimsuchung.

64 |  Anna Maria Voci möchte. Besonders Christus als Gärtner, eine Verkündigung – neben der bekannten gegenüber dem Treppenaufgang – und die Glorie Marias sind unübertrefflich. Daneben sind andere Zellen mit ausgesprochenen Schülerarbeiten ohne viel Gehalt und Ausdruck bemalt. Doch gibt es auch Bilder des Meister[s] selbst, zwei Madonnen zumal im Ospizio, die für mich nichtssagend sind. Im nämlichen Raum hat man die florentinischen Tafelbilder Angelicos zusammen aufgestellt. Die Krönung Mariä, eine ernste Kreuzabnahme, ein großes Tabernakel und ein kleiner Altar, die Verkündigung und Anbetung untereinander darstellend sind mir besonders lebhaft in der Erinnerung. Auch die Darstellung des Paradieses auf dem Jüngsten Gericht hat mich sehr entzückt. Der Kreuzgang des Klosters ist schön, auch hier hat Angelico einigen Lünetten mit kleinen Fresken geschmückt, auch ein sehr schöner Kruzifixus ist dort von ihm. In der Mitte ­dieses Kreuzganges wächst eine alte, gewaltige Konifere mit breiten, ausgespannten Zweigen als wollte sie das kleine Kloster beschützen. – Im kleinen Refektorium 117 hat Ghirlandajo das Abendmahl im Fresko dargestellt: Christus hat soeben Judas, der als einziger auf der vorderen Längsseite der Tafel sitzt, als den Verräter bezeichnet; die Jünger, einige noch tief erschrocken über Jesu Worte, der Verräter sei in ihrer Mitte, andere in großer Traurigkeit, andere wieder in gerechtem Zorn, blicken auf den frechen Täter; Johannes ist dem Herrn an die Brust gesunken, wie müde vor allzu großem Jammer, und auf den scheinbar Schlummernden blickt Christus voll unendlicher Güte nieder. Ein Zauber unendlicher Poesie liegt über der bewegten Szene, die kleinen Becher und Brote der Jünger, die gläsernen Karaffen mit Wein und Wasser, die Kirschen, die auf dem schön gewobenen Tischtuch anmutig verstreut liegen – all das breitet einen Klang von großem Frieden über das dramatische Ereignis. Merkwürdig ist die Architektur, w ­ elche geschickt die wirkliche Raumarchitektur aufnimmt und weiterleitet, sie aber zugleich auch zu verändern scheint.

14.IV. Ich besuchte heute S. Maria Novella, bisher die schönste florentinische K ­ irche die ich hier gesehen habe. Die Fassade klarer und strenger, zugleich leichter gegliedert aber ebenso schön in schwarz und weiß wie die des Domes. (Ein Werk, im Entwurf, des von mir so über alles geliebten Alberti). Das Innere ist ein prächtiger gotischer Raum mit einer Fülle der größten Kunstwerke: gleich neben dem Eingang ist Masaccios berühmte Trinità: ein überwältigend feierliches und erhabenes Werk. Die Figuren der Stifter sind merkwürdig illusionistisch: sie scheinen vor dem Bilde zu knien, es beschattend. Diese Figuren sind unvergesslich. Die gewiss sienesische (von Duccio stammende?) Madonna im rechten Querschiff 118 ist von einer majestätischen Pracht, die ich nicht mehr gänzlich zu erleben vermag; schön ist Orcagnas Altar auf der gegenüberliegenden Seite 119, Brunelleschi’s berühmter Kruzifixus daneben 120. Schön auch die Kapelle w ­ elche Filipino [sic] Lippi ausgemalt hat,121 wenn auch für mich etwas akademisch und kühl repräsentativ – vor allem möchte ich ­Ghirlandajos unsterbliche Fresken im Chor 122 in Erinnerung behalten. Sie sind mit soviel Anmut und Würde, mit soviel Sinn für das Natürliche und Menschliche gemalt – bei vielem denkt man an

117 Cenacolo di San Marco. 118 Die sogenannte Madonna Rucellai von Duccio di Buoninsegna. 119 Das Altarbild der Cappella Strozzi di Mantova. 120 Der in Holz geschnitzte Kruzifix der Cappella Gondi. 121 Die Cappella di Filippo Strozzi. 122 In der Cappella Maggiore oder Cappella Tornabuoni.

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Signorelli – aber zugleich sind seine Menschen, bei aller Schlichtheit, erfüllt von wahrhaft großer Erhabenheit – man wird dies eigentümlich lautlose, unsagbar würdevolle Hereinwallen repräsentativer Gestalten auf seinen Bildern nie vergessen. Die beiden Kreuzgänge,123 mit prachtvollen Bogenwölbungen und Säulen, lagen schön und friedlich in der warmen Sonne. Ucellos [sic] Fresken,124 arg zerstört, sind noch immer von größter Wirkung durch Größe der Empfindung und künstlerisch reifste Komposition. In der Cappella degli Spagnuoli sind Andrea da Firenzes Fresken aus dem 14. Jahrhundert, die ich über alles liebe. Wenn man nur länger hier in Florenz bleiben könnte! Man läuft vom schönsten Kunstwerk zum andern, nimmt unendlich vieles auf, lernt jeden Tag hinzu. Aber inzwischen verrinnt die Zeit unerbittlich schnell, und doch hat man sich noch kaum eingelebt, ist noch garnicht genügend heimisch geworden in dieser bezaubernden Athmosphäre, in dieser Stadt, deren Reiz und größte Schönheit wohl erst ganz zu Tage tritt, wenn man gelernt hat, sie in ihrer lebendigen Ganzheit, als wirkenden Organismus zu sehen, wo ein Stück ins andre greift und das schönste Kunstwerk seine wahre Bedeutung erst als ein Teil des ganzen erhält. Denn alles ist hier für’s Ganze geschaffen und nur zu verstehen aus der „Stimmung“ von Florenz heraus. – Und dazu gehören die Menschen ebensosehr wie der Himmel und die umgehende Landschaft. Nachmittags in S. Lorenzo, einem wundervollen, ernsten und strengen Raum. Die Sakristei ist von Brunelleschi erbaut 125 – auch sie unübertrefflich! Darin eine Büste Donatellos:126 ein herrischer, feiner und stolzer Jüngling. –

15.[IV.] Heute nachmittag – nach dem vormittäglichen Besuch der Venezianer in den Uffizien: ­Tintorettos Leda,127 die Venus Tizians links vom Eingange aus 128 und seine Porträts,129 Mantegnas hl. 3 Könige,130 2 Bilder von Lys,131 ein Guardi,132 ein Canaletto (Venedig in der flimmernden, schleierhaften Luft eines heissen Sommertages)133 erinnere ich als besonders schön – heute nachmittag ging ich in die Badia um den schönen Filippino Lippi 134 zu sehen. Ich hatte hernach noch viel Zeit, und so ging ich denn bei kühlem, wolkigem Wetter durch das Viertel um und hinter dem 123 Chiostro Grande und Chiostro Verde. 124 Paolo Uccellos alttestamentarischer Freskenzyklus zur Genesis im Chiostro Verde der K ­ irche. 125 Die Alte Sakristei. 126 Die Büste des hl. Laurentius, die sich auf der Plattform gegenüber dem Altar befindet, wurde damals Donatello zugeschrieben. Heute gilt sie als Werk des Desiderio da Settignano. 127 Leda mit dem Schwan. 128 Die sog. Venus von Urbino. 129 In den Uffizien hängen 6 Porträts Tizians, die den Bischof Ludovico Beccadelli, einen Malteser Ritter, einen kranken Mann, Papst Sixtus IV., Francesco Maria della Rovere und Eleonora Gonzaga della Rovere darstellen. 130 Die Anbetung der Könige. 131 Von Johann Liss (Jan Lys) besitzen die Uffizien drei Bilder: Der verlorene Sohn, Die Toilette der Venus und Die Opferung Isaaks. 132 Von Francesco Guardi hängen in den Uffizien zwei Bilder, bekannt als Capriccio con ponti su un canale und Capriccio con arco e pontile, beide wurden 1906 erworben. 133 Von den vier Canalettos, die in den Uffizien hängen, könnte entweder die Vedute des Palazzo Ducale oder die des Canal Grande angesprochen sein. 134 Das Ölgemälde Erscheinung der Jungfrau vor dem hl. Bernhard.

66 |  Anna Maria Voci Bargello. Anfänglich wollte ich nur die Paläste genau betrachten,135 zumal die, w ­ elche an der Via Ghibellina und einer ihrer Seitenstraßen stehen. Ich geriet aber zusehends in immer engere, kleinere Gässchen – und mir ward bald klar, daß ich mich in einem der ältesten Stadtteile von Florenz befinden müsse: durch die Torbogen der hohen, engen Häuser blickte man in dunkle gotische Kreuzgewölbe, deren noch fast jedes Haus einen zu haben scheint. Auch stand hier und dort ein anschauliches uraltes Bürgerhaus z­ wischen ärmlicheren, drin gewiss ebenfalls alten Gebäuden. Als ich zur Piazza Peruzzi gelangte fiel mir auf, daß dort die Häuser rund um den Platz gebaut und konzentrisch nach einer Mitte zu orientiert sind. (Wolfskehl, dem ich abends davon sprach, meinte, man habe hier überhaupt auf den Resten eines Amphitheaters gebaut). – Wie durch einen Zufall gelangte ich nachts, nachdem ich Wolfskehl heimbegleitet hatte, in das alte Viertel jenseits des Ponte Vecchio, und als ich dann weiterhin auf einem ungewohnten Wege heimwärts ging, war es, als ob sich mir urplötzlich die Augen öffneten und ich nun erst des Lebens des alten Florenz, das es geheimnisvoll noch weiter und weiter führt, gewahr würde: ich erkannte überall alte Gebäude, Teile, oft nur geringe Reste alter Paläste, in denen man weiter gehaust oder sie den veränderten Bedürfnissen sorglos angepasst hat. Doch liegt darin nicht[s] Ketzerisches, Pietätloses, vielmehr das Zeichen ­­ dafür, wie sehr die Vergangenheit dem Volke lebendig geblieben und vertraut ist – kein sorglich, aber doch als Seltsamkeit behütetes Altertum! So hat man den unsterblich schönen Palazzo Rucellai nicht sanft behandelt, nur die Fassade steht noch; und auch von ihr hat man auf der rechten Seite ein Stück fortgeschlagen, hat man Fenster umgeformt oder zugemauert je nach dem Bedürfnis der Bewohner, das Gesims ist stellenweis abgeschlagen, am Dach ein unschöner Dachgarten errichtet wo man die Wäsche trocknet. Und dennoch vermag der Anblick nicht traurig zu stimmen. Der Palast ist wie eine wunderschöne Frau, mit der das Leben nicht sanft umgegangen ist. Aber noch jetzt im Alter lächelt sie und den Schimmer ihrer einstigen Schöne hat sie bewahrt. Denn die Bewohner lieben diese alten Gebäude, in denen sie hausen, man erfährt immer wieder wie leidenschaftlich sie sich dagegen wehren, diese alten, dunklen, unhygienischen Wohnungen mit modernen und besseren zu vertauschen. Und so sind diese Bauten weitergewachsen mit der Zeit – wie Baum und Strauch, sie leben fort und fort und sind darum schön. Am Trajansforum in Rom aber, wo man alles fein säuberlich ausgräbt, vom Staub und Wuchs der Jahrhunderte befreit und sichtbarlich aufstellt; am Vestatempel,136 der einsam und kalt wie auf einem Präsentierbrett dasteht, empfindet man, daß diese Dinge uns fremd und unverständlich sind, daß sie uns verwundern oder interessieren – ohne uns mit jener geheimnisvollen, ehrfürchtigen und doch trauten Liebe zu erfüllen die jene Gebäude des italienischen Mittelalters in uns wachrufen (Und das liegt gewiss nicht nur daran, daß jene Zeit uns verwandter wäre, als das kaiserliche Rom). – Dieser nächtliche Gang durch Florenz hat für mich etwas Merkwürdiges: nun bin ich seit Tagen durch diese Straßen gelaufen von einem Kunstwerk zum anderen. Bin auch wohl lange Zeit vor einem besonders schönen Palazzo in Bewunderung gestanden. Aber das Gefühl für das eigentümliche Leben, das diese Stadt durchflutet bis in ihre kleinsten Zellen, das Vergangenheit und Gegenwart in einander bindet und sich die Hände reichen lässt in dem ewig regen Fluss ­dieses schönen Lebens; dies Gefühl, von dem ich noch vor ein paar Tagen ahnungsvoll hier zu schreiben versucht habe, ist in dieser Nacht scheinbar zufällig, aber mit wirklich offenbarender Gewalt in mir lebendig und deutlich geworden. 135 Das Wort „betrachten“ versah von Simson oben rechts mit einem „x“ und unten liest man die Ergänzung: „Pal. Pazzi; Pal. Albizzi; Pal. Alessandri; Pal. Altoviti“. 136 Gemeint ist der Rundtempel am Tiber, dessen Weihe an Vesta allerdings nicht gesichert ist.

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16.IV. Vormittags Uffizien; nachmittags besuchten wir einen mit Felix befreundeten Canonico in Fiesole. Ein feiner, unendlich liebenswürdiger Mensch. Von seinem kleinen Studierstübchen hat man den Blick über ganz Florenz. –

17.IV. Vorm[ittags] Bargello. Nachmittags fuhren wir nach der Certosa (Maud und ich). Pontormos Fresken im Kreuzgang sind schön.137 Seltsam, bei aller Farbenschöne und Kompositionsbeherrschung der unvollendeten Fresken, der seltsam „gegenreformatorische“ Geist der darin sich ausspricht. Die künstlerische Größe, Ruhe und Reife der späten Renaissance ist noch durchaus lebendig – also kein neuer „Stil“ wie bei Tintoretto, dem späteren Tizian oder gar Greco – und dennoch ist ein neues Weltgefühl verwandelnd in diese Bilder eingedrungen. Gewiss hat Vasari dasselbe gemeint, wenn er das „Dürer-­hafte“ darin getadelt hat.138 – Das Kloster ist sonst ein Gemisch aus gotischen und barocken Räumlichkeiten. Die Landschaft nicht schön. Abends bei Wolfskehl: Gespräch über Literatur: Droste, Kleist, Hölderlin, Büchner, E. Th. Hoffmann. –

18.IV. Das Wetter bleibt immer unfreundlich. Seitdem ich hier bin haben wir noch keinen wirklich warmen und heiteren Tag gehabt. Or S. Michele gesehen – Orcagnas Sakramentshaus! – ­Michelangelos David  139; er ist ein schöner Jüngling; nicht mehr und nicht weniger. Endlich noch auf einige Augenblicke in S. Marco. Nun hab ich schon einige Dinge mehrmals gesehen – so daß das erste Staunen dem tieferen Mitleben gewichen ist, wie Goethe in der ital[ienischen] Reise einmal sagt.140 Den Nachmittag blieb ich zu Haus. Man kann nicht immer nur anschauen und in mir wird die Sehnsucht immer gewaltiger, mir die Dinge immer vertrauter und anverwandter zu machen, darin und mit ihnen zu leben und sie um mich zu haben auch wenn ich mit mir allein bin: wie den Himmel; wie Gedanken an die ferne Geliebte.141

137 Damals befanden sich die fünf von Jacopo da Pontormo gemalten Lünettenfresken noch im großen Kreuzgang der Certosa di San Lorenzo di Galluzzo. Wegen ihres schlechten Erhaltungszustands wurden sie 1952 von dort abgenommen und in die Pinakothek der Certosa verlegt. 138 Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architettori, hg. von Gaetano Milanesi, Bd. 6, Florenz 1881, 270. 139 Hier bezieht sich von Simson wahrscheinlich auf die Kopie, die seit 1910 vor dem Palazzo Vecchio aufgestellt wurde, denn das Original der Statue war 1873 in die Galleria dell’Accademia überführt worden. Bei seinem Besuch d ­ ieses Museums am 22. April erwähnt er das Original des David allerdings nicht. 140 „Ich fange nun schon an, die besten Sachen zum zweiten Mal zu sehen, wo denn das erste Staunen sich in ein Mitleben und reineres Gefühl des Wertes der Sache auflöst“ (Goethe, Italienische Reise, Rom, 25. 12. 1786). 141 Der 1816 von Beethoven komponierte Liederzyklus trägt bekanntlich diesen Titel. Schwer zu sagen, wer diese „ferne Geliebte“ war. Sicher nicht von Simsons spätere Ehefrau, Louise Alexandra Prinzessin von Schönburg-­Hartenstein, da er sie erst 1934 kennenlernte. Vielleicht handelt es sich auch nur um eine Metapher, so dass sich jede Identifizierung erübrigt.

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19.IV. Vor- und nachmittags in S. Croce: das Kircheninnere ist prachtvoll, zumal der Chor, der, seltsam licht und zierlich durchbrochen von den wunderbaren, hohen Fenstern, einen schönen Kon­ trast zu der strengen, dunklen Gotik des Schiffes gibt. Giottos Fresken sind einzig, 142 auch vor den Fresken Gaddis im rechten Querschiff 143 stand ich sehr lange Zeit. Zur Rechten der K ­ irche liegt der Kreuzgang, den die Pazzi-­Kapelle, das großartige und wahrhaft bahnbrechende Werk ­Brunelleschis abschliesst.

20.IV. Ein glücklicher Tag: im Chiostro dello Scalzo fand ich ganz wundervolle Fresken Andrea del Sartos und Franciabigio [sic] in Chiaroscuro, die ich nicht gekannt hatte. Eine kleine K ­ irche, S. Giovanni dei Cavalieri, liess ich mir aufschliessen: ein sehr anmutiger Bau des frühen 14. Jahrh[underts] mit Gemälden angebl[ich] von Lorenzo Monaco. Schliesslich trat ich, fast im Vorbeigehen, ins Cenacolo di Sant’Apollonia, wo einige Werke Castagnos sein sollten. Ich war völlig überwältigt, die größten und unsterblichsten Werke des von mir so geliebten Meisters zu finden: das Abendmahl und die Uomini famosi! – Nachmittags S. Lorenzo und die Medicäer-­Gräber. Welch unheimlich schwüle Wucht lagert über diesen Giganten des Tages. Wie Flussgötter, in mittäglicher Sommerstille unter dem beschattenden Baume gelagert, die durch ihre drohende Rute den Wanderer schrecken. Und welch ernste Trauer – der wollüstige Schmerz der Aurora. – Und wieder der Pal[azzo] Rucellai!

21.IV. Natale di Roma. Bei prächtigem Wetter zogen faschistische Miliz, Avantguardisten, Balilla’s in großer Menge auf den Platz vor unserer Pension und nahmen dort in einem ungeheuren Viereck Aufstellung. Eine Tribüne war errichtet auf der einem Jüngling, welcher aus einer [sic] Balilla zur Avantguarde aufrückte, ein Gewehr verliehen 144 und das Abzeichen seiner früheren Korporation abgenommen wurde. Er nahm die Waffe aus den Händen eines anderen Knaben entgegen, führte sie an die Lippen und umarmte seinen Kameraden – alles mit größter Natürlichkeit und Anmut, ohne eine einzige gelernte oder steife Bewegung. Hernach zogen die Abteilungen in langer Parade an den zivilen und militärischen Würdenträgern vorüber: Knaben von 20 bis 6 Jahren, militärisch ausgerüstet und bewaffnet die einen, während die jüngere[n] Spielgewehre oder Stecken trugen. Alle Truppengattungen gab es: Gebirgstruppen, Skiläufer, Radfahrer – wohl an Stelle der Kavallerie usw. Der Vorbeimarsch dauerte wohl eine halbe Stunde – die ganze Straße auf und ab schien in Bewegung – nur die Abteilungen der Mädchen marschierten diesmal nicht mit. – Abends war die Stadt erleuchtet.

22.IV. Casa Buonarotti [sic]: die Handzeichnungen Michelangelos möchte man nicht aufhören zu betrachten: ob er einen Kopf auf das Papier geworfen hat, ein menschliches Glied, agierende und bewegte Körper – ja, bis in den einzelnen Strich hinein spürt man die leidenschaftliche Erregtheit der Hand, die ihn ausführte. Wie bei Beethovens Skizzenbüchern braucht man kaum Sinn und Bedeutung des Aufgezeichneten zu erspüren um dennoch – fast graphologisch – den Geist zu ahnen und die 142 Die Fresken in der Cappella Peruzzi und in der Cappella Bardi. 143 Die Fresken in der Cappella Baroncelli. 144 Im Text steht „verlieren“, was ein lapsus calami sein dürfte.

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Dämonie seiner Gesichte. Und dabei die wundervolle Weichheit und Feinheit der Schraffierung; man muß gesehen haben, wie [er] auf dem berühmten Rückenakt 145 jeder Biegung und Bewegung im menschlichen Körper gefolgt ist, wie, mit fast spielerischer Leichtigkeit, das Leben und Spiel des Lichtes auf den vibrierenden Muskeln – ja die Substanz der Haut festgehalten ist. Und in allem doch die Unrast des Genius! – Auch die Handschrift hat mich sehr ergriffen. Die Academie 146 ist als Museum unbefriedigend; neben wenigem wirklich Schönem ist in ungemütlichen Räumen eine Fülle von Bildwerken früher aber durchaus mittelmässiger M ­ eister untergebracht; sehr schön fand ich eine Altar-­Tafel del Pontes (eine Verkündigung),147 einige Werke Lorenzo Monacos, die wenigen Tafeln früher byzantinischer Kunst; schliesslich auch die Schranktüreinsätze T. Gaddis.148 – Am Nachmittag sah ich die ­Kirche Ognissanti, eine schöne Barockkirche mit flacher Decke. Die hl. Augustin und Hieronymus – kleine Fresken, von Botticelli und Ghirlandaio einander gegenüber gemalt, sind bezaubernd.149 Auch Ghirlandaios Schutzmantelmadonna der Familie Vespucci ist über alles schön.150 Das Abendmahl des gleichen Meisters im Cenacolo 151 ist bis in motivische Einzelheiten hinein dem Fresko in S. Marco ähnlich;152 nur bedeutend handwerklicher, weniger innig im Ausdruck, „distancierter“ und kühler in Stimmung und seelischem Gehalt: man sollte es nicht anschauen nach S. Marco. Bei schönem Wetter bestieg ich die [sic] Piazzale Michelangelo. Die K ­ irche S. Miniato, wohl die erste ganz byzantinische ­Kirche die ich sah,153 ist von wahrhaft majestätischem und erhabenem Ernste. Das sehr ergänzte Kuppelmosaik zeigt Christus noch ganz monumental, herrscherlich, als Weltenrichter und -lenker. Aus demselben Geiste heraus mag man auch den Chor erhöht haben: so war die andächtige Gemeinde noch stärker geschieden von den [sic] Geistlichkeit, die von unten kaum sichtbar die Messe des Herrn in aristokratischer Exclusivität zelebrierte. Die hölzerne Decke sehr geschmackvoll restauriert, ist über alles schön. – Als ich aus der ­Kirche wieder ins Freie trat, schien ein Gewitter sich entladen zu wollen: schon fielen ein paar warme, schwere Tropfen, gewaltige Wolken ballten sich über Florenz zusammen. Die Stadt lag still und wie wartend in der warmen, grauen Athmosphäre, die mit dem Duft von blütendem Yasmin erfüllt war. Da brach plötzlich die sinkende Sonne durch Gewölk, es mit goldenen Fluten übergiessend. Sogleich lag die ganze Stadt in ihren Schein getaucht, Domkuppel, Campagnile [sic] und der Turm der Signorie rötlich überhaucht, auch der Arno floss wie mit goldenen Fluten dahin. Nur der lange Rücken 145 Er bezieht sich wohl auf die Zeichnung Nudo di schiena. 146 Galleria dell’Accademia. 147 Damit meint er höchstwahrscheinlich das Polyptychon mit der Krönung der Jungfrau mit musizierenden Engeln, den hll. Franziskus, Johannes dem Täufer, Ivo und Dominikus und einer Darstellung der Verkündigung. 148 Die 24 Formelle dell’Armadio della Sacrestia di Santa Croce, die von den ursprünglichen 28 in Florenz verblieben sind. Zwei gelangten in die Alte Pinakothek zu München, zwei weitere an die Berliner Gemäldegalerie. 149 Die Darstellungen der beiden Heiligen befinden sich in der Apsis. 150 Die Madonna della Misericordia. 151 Dieses Abendmahl Ghirlandaios wurde um 1480 für das Refektorium des der K ­ irche Ognissanti angeschlossenen Konvents des Ordens der Humiliaten gemalt. Im 16. Jahrhundert ging die K ­ irche Ognissanti an die Franziskaner-­Observanten über. 152 Vgl. von Simsons Einträge vom 13. April. 153 Zu dieser Zuschreibung Anm. 21.

70 |  Anna Maria Voci von S. Croce und der Turm standen in dunkler Verlassenheit, wie ausgestossen und voll heimlicher Drohung. – Der zauberhafte Anblick stimmte mich schwermütig, denn nur zu bald schon werde ich diese Stadt verlassen müssen und ihren Zauber, ihre unvergleichliche Schönheit mir nur mühselig und unvollkommen aus dem Gedächtnis vor die Seele rufen können. – Abends Felix, Holldack und ich bei Wolfskehl, wo wir Gothein trafen, den Verfasser des ­„Francesco Barbaro“,154 auf den er 155 sich augenscheinlich viel zu Gute tut. –

23.IV. Bei strömendem Regen fuhren Maud und ich nach Siena, in einem Cook-­Omnibus zusammen mit alten Amerikanern und Franzosen. Der Dom ist reicher und prächtiger als der von Orvieto – auch später, wie mir scheint,156 und von großer Schönheit. Pinturicchios Fresken in der Bibliothek 157 sind von merkwürdiger Schönheit: klar, hart und scharf umgrenzt in jeder Kontur und Farbe, der Kolorit ein wenig unlebendig, kristallisch klar und luftlos, aber von nicht gewöhnlicher Pracht und Buntheit. – N[icola] P ­ isanos Kanzelreliefs sind wahrhaft ergreifend. Im Museum gibt es einige interessante Tafeln ­Sieneser Meister, darunter einige sehr schöne Duccios und eine wunderschöne stillende Madonna. – ­Bartoldus [sic],158 zumal aber Simone Martinis und Lorenzettis Fresken in der Signorie 159 sind sehr bedeutende Kunstwerke. Leider regnete es so stark, daß man nur wenig in der Stadt umhergehen konnte, so daß ich nur ein flüchtiges und allgemeines Bild von ihr genommen haben [sic]. Aber zugleich ist mir die seltsame Melancholie, das schwere Schicksal, das über dieser schlummernden, in ihrer Entwicklung unbarmherzig gehemmten Stadt liegt, als ­welche keine Gegenwart kennt, sondern allein den Glanz längst entschwundener Jahrhunderte: zugleich ist mir diese unvergessliche Melancholie unter dem grauen, hängenden Himmel besonders deutlich geworden. Der gewaltige Dom, sein schöner Platz, von den Ueberresten einer nicht vollendeten K ­ irche schön umgränzt, der Platz der Signorie – alle verlassen und öde, zu groß, gewaltig und glanzvoll für die heutigen Einwohner – wie ein schlotte[r]nder Purpurmantel um einen Greisenkörper, der drohende, stolze Bau der ­Kirche S. Agostino – wem 154 Percy Gothein (1896 – 1944), der Sohn des Nationalökonomen und Kulturhistorikers Eberhard Gothein. Auch er war Mitglied des George-­Kreises. 1932 hatte er in Berlin seine Monographie Francesco Barbaro. Früh-­Humanismus und Staatskunst in Venedig veröffentlicht. Zu ihm und dem mittelmäßigen Niveau seiner wissenschaftlichen Produktion, auf das sogar der neunzehnjährige von Simson hier anspielt, vgl. Stephan Schlak, Gothein, Percy, in: Stefan George und sein Kreis (wie Anm. 9), 1387 – 1390. 155 Eigentlich steht im Manuskript „ich“ statt „er“, aber es dürfte sich um ein Versehen handeln. 156 Die Bauzeit des Sieneser Domes erstreckte sich von der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis ca. 1370; die Bauzeit des Domes von Orvieto ­zwischen 1290 und ca. 1440. Die Fassade des ersten wurde um 1380 vollendet, die des zweiten erst im 16. Jahrhundert fertiggestellt. 157 Gemeint ist der Freskenzyklus mit Szenen aus dem Leben des Enea Silvio Piccolomini (des späteren Pius II.) in der Biblioteca Piccolomini. 158 Wohl Taddeo di Bartolos Freskenzyklus der Uomini Famosi. Hier bezieht sich von Simson auf seinen Besuch des Museo Civico im Sieneser Palazzo Pubblico. 159 Es handelt sich um die berühmten Fresken im Palazzo Pubblico zu Siena: die Thronende Madonna (Maestà) und das Reiterbild des Guidoriccio da Fogliano von Simone Martini (Sala del Mappamondo) sowie der Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti mit den Allegorien zur Guten und Schlechten Regentschaft (Sala della Pace oder Sala dei Nove).

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droht er noch? Und die Kunst! Versunken in den Laut der eigenen Seele, ohne Auge für das bunte vielfältige Treiben der Aussenwelt, erfüllt von zarter, inniger und dennoch unendlich hochmütiger Glaubensinnigkeit – so ist sie sich ihrem Wesen nach gleich geblieben durch die Jahrhunderte, ja man meint, daß Duccio mehr Auge und Herz besessen haben [sic] für Welt und Geschehen um uns als die Späteren. In S. Agostino hängen zwei Madonnenbilder in einer Chorkapelle von B ­ envenuto und Mattheo di Giovanni:160 der letztere, ein sehr bedeutender Maler, ist wie sein Bruder aus ­Umbrien,161 ein Schüler Piero della Francescas dazu, und dennoch: in der Athmosphäre dieser verwunschenen Stadt ist sein Werk wie die Blüten in einem Klostergarten geworden: ungerührt vom Klang der Aussenwelt, der Stimme der Zeitgenossen – die Signorelli und Ghirlandaio hiessen, von einer zarten, fast mystischen, altertümlichen Schönheit erfüllt – die unübertrefflich und unvergesslich ist, die das Leben aber nicht kennen will. Siena – die Stadt der Wunder und der Heiligen! Am Nachmittag fuhren wir noch nach dem alten, wehrhaften und trutzigen San Gimignano. Durch den feuchten Nebel ragten grau und steil die Türme, schon weit aus der Ferne sichtbar. Die Stadt ist noch einheitlicher und mittelalterlicher als Siena. Darum empfindet man sie vielleicht auch mehr als mittelalterliche Sehenswürdigkeit, deren Schönheit man ohne Trauer über vergangene Größe geniesst – wie etwa Rothenburg – weil man weniger Schicksal und die zufriedene Beschaulichkeit jahrhundertelangen Schlafes in ihr spürt. – Die Fresken von Gozzoli und Ghirlandaio in den beiden ­Kirchen 162 sind von großer und lebendiger Schönheit. Leider war das Wetter so unfreundlich und trostlos, daß man die Schönheit der Landschaft nur wenig genoß, die der Weg durchzog; die Gegend ist bergig, sorgfältig bebaut mit Obstbäumen und Oliven, die man hier überall bis tief in den Stamm hinunter spaltet, wodurch man vier weit ausladende, bizarr gereckte Äste erzielt, die den Ernte-­Ertrag gewiss wesentlich erhöhen. Auch lichte bosci [sic] sieht man hie und dort, ja weite Kahlschläge werden aufgeforstet, die jetzt noch vorwiegend mit Ginster bestanden sind. – Durch den warmen Regen war die Landschaft mit dem frischesten, saftigsten Grün belebt, überall blühten Obstbäume und die leuchtende Farbe der eben entfalteten Blätter bot einen angenehmen Kontrast zu dem rötlichen Braun der schweren, fruchtbaren Erde. Nur war der Himmel allzu ernst und wolkenschwer.

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Omama 163 ist von Neapel auf der Durchreise hier. Sie ist gesundheitlich ein wenig besser als sie dort gewesen sein soll. Ich hoffe, wir werden einiges zusammen ansehen können, was sie sich wünscht und worauf auch ich mich freue. – 160 Diese beiden Werke sind in Sant’Agostino nicht belegt, wohl aber zwei Madonnenbilder von Matteo di Giovanni und Benvenuto di Giovanni in San Domenico, allerdings nicht in derselben Kapelle. Ob eine Verwechselung vorliegt? 161 Hier stützt sich von Simson auf irrige Angaben, die er vielleicht in einem Führer fand. Benvenuto di Giovanni und Matteo di Giovanni waren weder Brüder, noch stammten sie aus U ­ mbrien, vielmehr kamen sie aus Siena (Benvenuto: 1436 – 1518) und Borgo San Sepolcro (Matteo: um 1425/30 – um 1495). 162 Er meint den Freskenzyklus von Benozzo Gozzoli in der ­Kirche Sant’Agostino mit Szenen aus dem Leben des hl. Augustinus, sowie die Fresken der Cappella di Santa Fina im Dom von San G ­ imignano (Collegiata di Santa Maria Assunta). 163 Margarete Oppenheim (1857 – 1935), geb. Eisner, verwitwete Reichenheim, die zweite Ehefrau des Chemikers und Generaldirektors der AGFA Franz Otto Oppenheim (1852 – 1929), der in erster Ehe mit Elsbeth (Else) Oppenheim (1858 – 1904), geb. Wollheim, verheiratet war. Franz Otto und

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25.IV.

Vormittags Dommuseum – vor allem Donatellos und Robbias Kanzeln 164 und Dom bei sehr schöner morgendlicher Beleuchtung – die Sonne fiel schräg durch die Kuppel und an den unteren Säulenschäften entlang. Der Dom ist schön als Ausdruck eines neuen Gefühls – noch im alten Stil der Gotik aber schon schaltet man unbefangen und großartig mit den bekannten Mitteln; die Ueberwindung der Gotik durch den Geist Italiens, wie man meint. Giottos Campanile ist einzig in erhabener Anmut und strenger, einfach und edel gegliederter Pracht.

26.IV.

Uffizien mit Omama, nachmittags noch einmal die reizenden Gozzoli-­Fresken im Riccardi-­Palast 165 und das Medici Museum;166 S. Lorenzo, die Treppe der Bibliotheca Laurenziana. Es ist ein großes Abschiednehmen für mich von allen Schönheiten hier, das allmählich beginnt. Das Wetter ist köstlich wie nie zuvor.

27.IV.

S. Trinita, eine schöne, noch strenge, gotische ­Kirche mit den wundervollen Fresken Ghirlandajos 167 und einer schönen Skulptur der Maria Magdalena 168, hernach die Venezianer und Niederländer in den Uffizien: die unvergesslichen Tintorettos (die Samariterin,169 Christus,170 Leda,171 das kleine Porträt u. s. f.) und die gewaltigen Oelbilder von Rubens, Schlacht und Triumph,172 Spätwerke des Meisters. Größere und unheimlichere Dämonie und Gewalt hab ich nie bei ihm gefunden – und eine Steigerung lässt sich ganz und gar nicht denken. Elsbeth Oppenheim waren die Eltern der Martha von Simson (1882 – 1971), der ­Mutter Otto von Simsons. Otto von Simsons Großmutter väterlicherseits, Beate von Simson, geb. Jonas, war bereits 1913 verstorben. Ein interessantes Porträt von Margarete Oppenheim, die „geistreich, aber nicht eben herzlich und gütig“ gewesen sein soll, und die in ihrem Verkehr „höchsten Wert auf Berühmtheiten“ legte, „zumal auf Männer mit Namen, auf Frauen weniger“, findet sich in den Erinnerungen von Charlotte Haber, der zweiten Ehefrau des Chemikers und Nobelpreisträgers für Chemie Fritz Haber: Mein Leben mit Fritz Haber, Düsseldorf 1970, 160 – 162. Margarete Oppenheim stammte aus reichem Hause und hatte schon in jungen Jahren angefangen, Kunstwerke zu sammeln (u. a. mit dem sachkundigen Beistand Wilhelm Bodes). Vgl. auch die autobiographischen ­Aufzeichnungen von Felix Gilbert: „Ein Ort, wo ich Menschen aus den verschiedensten Kreisen traf, war das Haus des Bruders meiner Großmutter, des Generaldirektors der AGFA , Franz Oppenheim, der auch mein Patenonkel war. Seine Frau interessierte sich sehr für Kunst, so daß ich in ihrem Haus Naturwissenschaftler, Kunsthistoriker und Maler traf. Einen Hauptanziehungspunkt bei den Diners im Hause meines Onkels bildete die Gemäldesammlung, die meine Tante zusammengetragen hatte“, vgl. Gilbert (wie Anm. 5), 68. 164 Die Sängerkanzeln des Florentiner Domes von Donatello und Luca della Robbia. Beide Werke sind heute, wie damals, im Museo dell’Opera del Duomo aufgestellt. 165 Vgl. die Einträge vom 8. April. 166 Das Museo Mediceo im Palazzo Medici-­Riccardi. 167 Die Franziskuslegende in der Cappella Sassetti. 168 Das Werk von Desiderio da Settignano in der Cappella Spini. 169 Die Samariterin am Brunnen. 170 Christus am Brunnen der Samariterin. 171 Leda und der Schwan. 172 Heinrich IV. von Frankreich in der Schlacht von Ivry und Der Einzug Heinrichs IV. in Paris.

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Am Nachmittag waren wir bei Davidsohn 173 eingeladen. Bei unserm Besuch zwei Tage zuvor hatten wir den schönen Greis in scheinbarer Genesung nach langer Krankheit, jedenfalls von kaum glaublicher geistiger Frische und Lebendigkeit gefunden: der hohen, schlanken Gestalt mit dem schmalen, unerhört feinen und geistigen Gesicht, von weißem langem Haar und stark ergrautem Bart umrahmt, den schönen großen Augen, der langen schmalen Nase – auf dem Haupte ein schwarzes Käppchen: dieser eindrucksvollen Gestalt hatten wir wohl eine halbe Stunde lang zugehört, wie er mit klarer, gleichmässiger, wie verwirrter Stimme seine Meinungen über die Vergangenheit und die trübe deutsche Gegenwart (die Wahlen der einzelnen Länder waren gerade vorüber)174 darlegte. Seltsam altmodische Meinungen, wie aus einer anderen Welt, doch in sich unerschütterlich abgeschlossen und von größter Einheitlichkeit und Schärfe, die er mit Bewegungen seiner schönen Hände anschaulich zu machen wußte. Wie er so in seiner schönen Bibliothek saß, im Lichte der Abendsonne und seiner Schönheit sich augenscheinlich noch immer deutlich bewußt, bot er ein überaus eindrucksvolles Bild. – Heute nun war er von neuem ernstlich erkrankt, seine Gattin,175 eine hochgewachsene, wahrhaft majestätische Erscheinung, ungebeugt vom Alter der 85 Jahre, schien sehr besorgt. So gingen wir bald wieder fort und beschlossen, noch einen Spaziergang nach Bellosguardo hinunter zu machen. Es war ein unbewölkter Tag gewesen, der Nachmittag blaute nun in wahrhaft himmlischer Reine. Zwischen den Mauern der zahlreichen Gärten zieht sich der Weg dahin, immer der Höhe entlang, bis hinauf zur Villa Bellosguardo. Von dort ist die ganze Stadt zu überschauen; all die uns nun so vertrauten Türme von Florenz fanden wir wieder in der sanften, lieblichen Beleuchtung des Frühlingsabends. Die Vögel sangen, Bäume und Blumen blühten überall: das violette Rot von Judaica ­zwischen dem weißen Blütenschleier der Obstbäume, weißer duftender Jasmin, die Blütenkerzen der Kastanien, die gerade aufzuleuchten beginnen. Schwalben schwammen zärtlich im blauen Aether, die weiße Brust vom goldenen Licht gefärbt. Zur linken in der Ferne die blauen Gebirgszüge des Apenin [sic] wie ein Hauch, wie der Traum der einschlummernden Landschaft tief zu unsern Füssen. Darüber die Wolken, wie güldene Berge. Ueber allem der unbeschreiblichste Friede; nur hie und dort wandelten zwei Liebende durch das helle, leuchtende Grün der Gärten, oder eine Glocke begann schwer und müde zu tönen. Bei sinkender Sonne stiegen wir hinab nach Florenz (Felix und ich). Lange standen wir in Betrachtung eines weißen Landhauses, das inmitten eines schönen Gartens mit alten Bäumen stand. Eine weiße Arkadenreihe, von schlanken Marmorsäulen gebildet, zog sich vom Hause aus weiter. Durch die zierlichen Bögen hindurch sah man die dunklen Spitzen der aus dem Tal aufragenden Zypressen und weiterhin ganz in lichten Glanz getaucht die tiefe, unermessliche weite Ebene im Frühlingsschmucke.

28.IV. Mediceergräber und Boboli Garten – bei köstlichem, warmem Wetter. Die Stadt ist farbenfroher und heiterer denn je. Das bunte Treiben der Fleisch- und Gemüsemärkte ist ungemein charakteristisch. Was Goethe bei seinem Aufenthalt in Neapel als besonders auffallend beschreibt: die Mengen von Esswaren die verzehrt und überall mit Vergnügen zur Schau gestellt werden:176 das belebt auch das Bild von Florenz. Fast in jeder Straße mehrere Fleischerläden, zur Straße hin ganz geöffnet, darin immer ein mächtiger, geschlachteter Ochse und alle Arten von kleinem, essbarem 173 174 175 176

Robert Davidsohn (1853 – 1937). Zu diesen Wahlen vgl. Anm. 14. Philippine Davidsohn, geb. Collot (1847 – 1947). Goethe, Italienische Reise, Neapel, 29. 5. 1787.

74 |  Anna Maria Voci Getier, gehäutet und ausgenommen, aber sonst gänzlich ungeteilt hängen. Unsern Appetit regt diese Schaustellung nicht immer an – aber das Volk betrachtet mit heiterer Zufriedenheit, ja mit wirklichem Genuß die ausgestellten Herrlichkeiten. In den Gemüseläden sind alle Arten von Obst und Gemüse auf das Sorgsamste und Erfreulichste ausgebreitet. Und Blumen gibt es überall zu kaufen. Auf allen Plätzen herrscht lärmendes, vergnügliches Leben, die Kutscher knallen unaufhörlich mit den Peitschen, Chauffeure tuten nur „per piacere“, wie Felix auf seine Frage nach dem Ueberflüssigen [sic] Lärm einmal geantwortet wurde. Als ich heute die Treppen zu S. Lorenzo emporsteigen wollte, bot sich mir ein reizvoller Anblick: auf den glänzend nassen Stufen trippelten hunderte von roten Vogelfüssen: es hatte geregnet und die zahlreichen Taubenschwärme, die diese Gegend der Stadt bewohnen, waren eifrig beschäftigt das Nass aufzunippen. Bis ein kleiner Knabe mit Geschrei und Handeklatschen [sic] den ganzen Schwarm zum Auffliegen brachte und nun doch etwas ängstlich inmitten den [sic] schwirrenden Wolke von Vogelschwingen stand. – Nur ein Tag bleibt – ich mag garnicht [sic] daran denken.

29.IV. Die ­Kirche S. Spirito, nicht schön für mein Empfinden, ist interessant in der Entwicklung zum Barock hin, wenn man sie etwa mit S. Lorenzo vergleicht. Die Koffer sind gepackt – morgen in der Frühe fahren F[elix] und ich nach Arezzo. Gestern und heute hab ich noch einmal S. Maria Novella und die Brancacci-­Kapelle gesehen – bei wundervoller Abendbeleuchtung. Heut vormittag Pitti; nachmittags wunderbarer Sonnenuntergang vom Piazzale Michelangelo aus und ein letzter Blick auf die geliebten Türme und Bauten von Florenz. Ich darf nicht daran denken wie lange es dauern mag, bis ich zurückkehre. Und doch: ich nehme so vieles mit mir über die Alpen, so vieles an Erlebtem und Erlerntem, Geschautem und Empfundenem, daß Florenz wohl nie ganz Vergangenheit und blasse Erinnerung wird werden können, ja, manchmal meine ich, daß es in meine Seele eingegangen ist als ein Teil von ihr.

30.IV. Arezzo ist ein kleiner, enger Ort im Gebirge gelegen mit weiter Aussicht. Piero della Franceskas [sic] Fresken in S. Francesco 177 sind über alle Beschreibung schön. In Farbgebung und Komposition, Figur und Aktion die größte Gestaltungskraft und Daseinsfreude, die größte Erzählergabe und Witterung für Ereignis und Bewegung. Dabei nirgends reines Fabuliren; auch das geringste Detail wird eingeordnet in den Strom des großen Zusammenhanges, in eine ganz und wahrhaft edele [sic], ja große Gesinnung und Haltung der Gestalten. (Nicht Gozzoli und Signorelli, nur Ghirlandajo kommt ihm darin annähernd gleich). Ja, man vergiesst und übersieht leicht die Pracht eines Gewandes, die Schönheit des Helmes, der Waffe, fast auch der Landschaft und des Gesichtes: so gewaltig ist die alles umspannende Kraft der Komposition und künstlerischen Gesamtschau. – Die ­Kirche, die diesen Fresken als Raum dient, und in die diese auf das schönste – scheinbar mit hinaufwachsend! – eingeordnet sind, ist wahrhaft schön zu nennen. Ein weiter Hallenbau dunkel, doch mit lichtem Chor, von wundervoller Proportion; die bemalte Holzdecke ist einzig. Von dem Dom haben wir nur das unschöne Aeussere gesehen. Doch zog es uns ins Innere von San Domenico; eine romanische K ­ irche mit seltsamer, romanischer Fassade in 3 Reihen übereinander ein vielzahl [sic] ganz eng gestellter Säulen, jeder [sic] von der andern verschieden und für 177 Die Geschichte des Kreuzes Christi.

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sich anmutig – wenngleich das Ganze für unser Empfinden nicht eigentlich schön wirkt. Das düstere, monumental-­einfache Innere jedoch möchte ich einen der schönsten Sakralbauten nennen, ­welche ich kenne. Man hat es auf das Glücklichste restauriert, so daß der Beobachter einen tiefen Eindruck empfängt von der unheimlichen, dämonisch noch von Naturgeistern durchwalteten Macht der Romanik. – Die Bahnfahrt führte uns an dem [sic] mir schon bekannten Trasimenischen See hin. Im schnell einsinkenden Abend lag der blaue See mit den violetten, ihn hart umsaumenden [sic] Gebirgsketten und dem dunklen Tal, in welchem einst die unvergessliche Schlacht geschlagen ward, da, wie von Traum und Vergangenheit belebt.

1.Mai Bei strahlendem Wetter erwachte ich in Perugia. Unser Hotel liegt an der Westseite des Berges, der die Stadt trägt, mit unendlichem Blick auf die umbrische Ebene und das ferne, bläuliche Gebirg, das jene wie der zarte Rand einer ungeheuren flachen Schale umkränzt. Die Stadt gehört zu dem Schönsten was ich bisher in Italien gesehen. Die engen, winkeligen Gassen, unter Torbogen hindurch stark bergab und bergauf führend, die oft wundervollen alten Gebäude (das Dominnere allerdings ist eine Enttäuschung, aber das von Maderna 178 erneuerte Innere von S. Domenico, wenngleich unvollendet und deshalb kahl und kalt wirkend, auch gehemmt durch das große, wundervolle gotische Chorfenster, ist wahrhaft groß gedacht) all das gibt Perugia den ganzen Zauber einer Stadt, die durchwebt ist von Vergangenheit. Ein Geist heldenhaften, männlichen Trutzes muß jenen Etrusken [sic] innegewohnt haben (das dunkle gewaltige Tor zeugt mal davon!179) die die Stadt hoch auf der Spitze des Berges erbauten, ohne Schutz als den eignen, Wind und Wolken zu Spiel und Trotz, den fernen, lächelnden Gebirgszügen zuwinkend. (In der Campagna fand ich die Gebirgsorte wie schutzsuchend am Felsen sich hinaufziehend und in diesen hineingebaut). Der Blick nach allen Seiten hin ist himmlisch schön – man kann ihn nicht im Worte zu halten versuchen in seiner überwältigenden Weite und Reinheit – Peruginos Fresken im Collegio del Cambio 180 sind – wenn auch nicht groß – überaus anmutig und reizvoll dem Raum der Udienza dei Legisti eingefügt.

2.V. Bei kühlem, windigem Wetter im Autobus nach Assisi. Die flache Landschaft, grün, im Hintergrund von runden Bergrücken abgeschlossen, könnte an Süddeutschland erinnern, wenn nicht die zierlichen geraden Muster der Maulbeerbäume überall die Wiesen einteilten. S. Maria degli Angeli ragt seltsam mit seiner [sic] barocken Kuppel aus den kleinen Häusergruppen auf. Die K ­ irche, um die Betkapelle des Hl. Franz 181 gebaut, ein mächtiger Barockbau, mehr im Gedanken eindrucksvoll als durch besondere Schönheit der Formen und Maße. Die kleine Kapelle in der Mitte, ein einfacher, dunkler Bau mit nur einem Raum, hat man wohl an dem Platze gelassen, an dem sie schon vor Jahrhunderten stand. Die Fassade ist von Overbeck nicht unwürdig geschmückt:182 im Innern ist ein schönes Altarbild des Hilarius von Orvieto.183 –

178 Carlo Maderno. 179 Anspielung auf den Arco Etrusco, eines der sieben Stadttore des etruskischen Mauerrings Perugias. 180 Die Fresken in der Sala delle Udienze im Collegio del Cambio, einem Teil des Palazzo dei Priori. 181 Die sogenannte Porziuncola. 182 Friedrich Overbecks Fresko mit der Verleihung des Portiuncula-­Ablasses. 183 Das Altarbild mit der Geschichte des Perdono di Assisi.

76 |  Anna Maria Voci Assisi, mit seinen schon von Perugia sichtbaren bleigrauen, festen Gebäuden, terrassenförmig dem Bergrücken angeschmiegt, ist bald erklommen. Der Platz der Unterkirche mit den zierlichen kleinen Kolonaden [sic] ist eindrucksvoll, wenn auch die ­Kirche in ihrer äusseren Gesamtform nicht schön ist – bis auf das Portal mit den schönen Figuren der Maria und des verkündenden Engels, darüber zu beiden Seiten.184 Das Innere, niedrig, mit ganz tief und wuchtig heruntergezogenen Kreuzbögen, dunkel, schön bemalt, ist über alles feierlich. Bei Kerzenschein ward eine Messe gesungen. Priester und die andächtig singende Gemeinde ungewiß und haut [sic] beleuchtet. Die Orgel spielte mit großem Ton. Wir sahen zuerst die Kapelle rechts vorne, wohl von B[ernardo] Daddi.185 Die Darstellung des Noli me tangere und der Schiffahrt 186 – aber auch die anderen – gehören zum Feierlichsten, Monumental-­ ernstesten (bei aller Lebendigkeit) was ich bisher gesehen. Die große Tradition Giottos, oder vielmehr das was jene Zeit in Franziskus und Dante, in Friedrich II. und Innozenz III. auswirkte, ist noch gänzlich jung und lebendig. Menschen von einer andern Dimension müssen es gewesen sein die damals gelebt und auf den künstlerischen Geist ihrer Zeit gewirkt haben, Menschen von einer großen Feierlichkeit und „Ganzheit“ im Handeln und mit einer seltsamen, unheimlichen Dämonie des Blickes und der Gebärde, die als Weltgefühl erst Masaccio wieder gestaltet hat. – In der Kapelle gegenüber hat Simone Martini mit nicht geringerer Erzählerkraft gewirkt,187 seine Freude am Geschehen ist liebenswürdig und bedeutend, aber seine Menschen sind anmutig und empfindsam klagend, leidend oder heiter – nicht anders als wir! (Dem Fresko der Schiffahrt [sic] verleiht übrigens die „umgekehrte“ Perspektive noch eine besondere, feierlich-­byzantinische Monumentalität). – Das rechte Querschiff ist von Schülern Giottos – bald in florentinischem, bald in sienesisch anmutendem Geiste – überaus schön und lebendig ausgeschmückt.188 Cimabues Madonna 189 machte für mich einen allzu übermalten Eindruck. – In dem Chor sind die gewaltigen Deckenzwickel mit ganz erstaunlichem Gefühl für kompositionelle Gesetze und Bedingtheiten mit Darstellungen der Glorie des Hl. F[ranziskus] und d[er] franzisk[anischen] Kardinaltugenden Armut, Keuschheit, Gehorsam bemalt. Das linke Querschiff besitzt neben der schönen Madonna des Lorenzetti (mit Johannes und Franziskus) und einer schwachen Kreuzigung, Fresken von der Hand eines bedeutenden Meisters jener Zeit. Eine Beweinung und die Gefangennahme Christi im ungewissen, nächtigen Dunkel, in das – unerhört und kaum fassbar kühn! – weißes Mondlicht sachte einfällt, sind mir besonders erinnerlich. Genau unterm Hochaltar ist monumental, einfach, und kürzlich sehr künstlerisch ausgebaut 190 der Sarg des Heiligen in einer dunklen Krypta, die nur von Kandellabern [sic] in Kreuzform sehr feierlich erhellt wird. 184 Er bezieht sich auf die Reliefs in den Bogenzwickeln des Protiro, der dem um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen Portal der Unterkirche vorgestellt ist. 185 Die Cappella di Santo Stefano oder Cappella di San Ludovico. Sie steht jedoch in keinem belegten Zusammenhang mit dem Wirken von Bernardo Daddi. 186 In der Cappella della Maddalena, der dritten Kapelle auf der rechten Seite. 187 Die erste Kapelle auf der linken Seite, die Cappella di San Martino. 188 Über ­dieses Wort fügte von Simson hinzu: „Leben Christi und Mariä“. 189 Die sog. Maestà di Assisi. 190 Die Umgestaltung der um das Grab des heiligen Franziskus gebauten Krypta war 1932 gerade fertig geworden; vgl. Virgilio Crispolti, Guida della Basilica Papale e del Sacro Convento di S. Francesco di Assisi, Assisi o. D. [1947], 64.

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In der Unterkirche wie auch im Kreuzgang mit seinen hohen Zypressen sind einige schöne Grabplatten und vor allem ein herrliches Grabmal der Kaiserin Isabella.191 Die Oberkirche, ebenfalls ein wundervoller Raum mit prachtvollen Fenstern, ist in sehr leuchtenden Farben ornamentiert. Von den Fresken sind die meisten für unser heutiges Empfinden unmöglich von Giottos eigener Hand. Immerhin: die Unterredung mit Honorius III ., die Erscheinung des Heiligen inmitten der Seinen, auch das Fresko mit dem betenden Franz und dem am Quell Trinkenden sind in der dramatischen Bewegtheit, bei aller Größe, Wucht und Monumentalität der Gesinnung in ihrer einmaligen Lebendigkeit nur schwer als das Werk eines Schülers vorstellbar. Und dennoch war das Eindrucksvollste für mich in S. Francesko [sic] die Einsicht, daß hier neben einer großen und tiefen religiösen Ergriffenheit, die all die verschiedenen Geister beseelte, w ­ elche hier am Werke waren, das Weltgefühl Giottos übergegangen ist auf seine Jünger, nicht als Schulstil, kaum kann man sagen als Gesinnung, sondern als ursprüngliches, allwirksames Lebenselement und als künstlerische Schau. Ich kenne kein anderes Beispiel in der Kunstgeschichte für eine gleichermaßen elementare Einwirkung eines großen Menschen auf seine Folger. Gegen Mittag stiegen wir zur Rocca 192 empor. Die Sonne, unter eiligen, von starkem Wind gehetzten, schwarzen Wolken hervorbrechend, übergoss die Stadt mit silbrigem Lichte – die Gebäude schienen aus mächtigen Bleiplatten getürmt. Die Zwingburg, vom Kardinal ­Albornoz gebaut, liegt zu Häupten der Stadt wie ein unheimlicher Hirte über seiner Herde. Ueber die Wiesen am Hügel, um die gewaltigen Quadern der verwitternden Mauern, strich der Sturm in Wellen. Die Burg ist jetzt sehr verfallen, der Wachtturm aber wie für die Ewigkeit getürmt und verfugt. Man überschaut von dort Meilen und Meilen des Landes – kein Zug Bewaffneter konnte dem spähenden Wächter entgehen. Zur rechten liegen die mächtigen braunen Rücken des Subasio – tief unten wand sich der Fluss. Der Sturm ging mit ungeheurer Gewalt um den Wachtturm und über die Türme von Assisi. Ein langer schmaler Gang führt zu einem niedrigeren Turm,193 von dem wiederum der Blick kein Ende findet. Die Burg muß uneinnehmbar gewesen sein, Wasser gab es in einer Zisterne und beim Wiederstand [sic] zog man sich langsam immer weiter ins Getürm zurück. Heldenhaft müssen Zeit und Menschen gewesen sein. Ein aufziehendes Unwetter liess uns eilen wieder hinabzukommen von der einsamen, umwehten Anhöhe. Den erschütternden Blick von den Zinnen der alten Burg mag meist der Wächter allein genießen, der einsam im Burghof haust.

191 Kein Grabmal einer Kaiserin Isabella ist in der Unterkirche von Assisi belegt. Dabei kann es sich nur um das um 1300 im östlichen Querschiff der Unterkirche errichtete Grabmonument des Johann von Brienne (†1237), des Königs von Jerusalem und lateinischen Kaisers von Konstantinopel handeln, dessen Tochter Isabella (†1228), die Erbin des Königreiches Jerusalem, eine Gattin des römisch-­ deutschen Kaisers Friedrich II. gewesen war. Einer auf Vasari zurückgehenden Tradition zufolge galt ­dieses Denkmal jedoch noch lange als das Grabmal einer Isabella, Königin von Cypern. Allerdings hatte schon Henry Thode, Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien, Berlin 1885, 280, die Annahme von Nicola Papini (Notizie sicure della morte sepoltura canonizzazione e traslazione di S. Francesco d’Assisi e del ritrovamento del di lui corpo […], Florenz 1822, 329) aufgegriffen, der das Grabmal aufgrund einer sicheren Quelle und seiner heraldischen Beobachtungen mit Johann von Brienne in Verbindung gebracht hatte. 192 Die Rocca Maggiore. 193 Die Rocca Minore.

78 |  Anna Maria Voci Das Dominnere ist sehenswürdig nur wegen einer einzig schönen, kleinen Pietà in einer Seiten­ kapelle, angeblich eine deutsche Arbeit des 14. Jahrh.194 Obwohl ich schon ähnliche Werke im Bonner Museum gesehen, schien mir dies eines der ergreifendsten und größten die ich kenne. Bei der Wanderung durch die schönen alten Gassen der Stadt entdeckte ich unter einem Torbogen ein ähnliches, ebenfalls wundervolles Werk. Die romanische Domfassade ist herrlich. Am Abend ging über Perugia ein starkes Gewitter nieder. Wir sahen es später über Assisi in geisterhafter Eile, im fahlen, unheimlichen Lichte dahinziehen.

[3.V.] Letzter Tag in Italien: Am Vormittag sahen wir im Monastero di S. Severo Rafaels ganz frühe Trinita 195 [sic], ein befangenes und schwaches Werk noch, doch schon ein Vorklang zur Disputà 196 [sic]. Die Pinakothek,197 neben vielen provinzialischen, mittelmässigen Werken, die aber immer einen guten Einblick geben in das künstlerische Wollen der verschiedenen Epochen, enthält vornehmlich einige schöne Bilder des Bonfigli, des „Nationalmalers“ von Perugia, der die Fresken mit Szenen aus der Geschichte der Stadt gemalt hat.198 Daneben gibt es die reizvollen Tafeln des Fiorenzo di Lorenzo, einige Bilder von Perugino. Endlich erinnere ich mich an die wundervollen kleinen Skulpturen Arnulfos [sic] di Cambio (?)199 je eine schöne Altartafel des Piero della Francesca 200, des Gentile da Fabriano 201 und Fra Angelicos 202. – Noch einen letzten Blick auf den prachtvollen Palazzo Comunale und die Fontana Maggiore Arnulfs und der Pisanos – für mein Empfinden einer der schönsten Brunnen der Welt – dann fuhren wir hinunter zum Bahnhof. In Florenz konnt’ich es nicht über mich gewinnen weiterzufahren; gegen meinen ursprünglichen Entschluss sprang ich noch im letzten Augenblick aus dem Wagen – auch auf das Zureden Mauds hin, die mich am Bahnhof erwartete. So hatte ich noch 5 Stunden in Florenz. Wir gingen zur [sic] Piazzale, der Sonnen­untergang war schöner denn je zuvor, meine ich, die Gärten überall in Blüte. Bei einbrechender Dunkelheit schritt ich allein zum letzten Mal am Arno entlang durch den „Saal Gottes“, wie Wolfskehl den von den Uffizien umgrenzten Platz nennt, und vorbei an Dom und Baptisterium und dem Palazzo Medici. Wie lieb und vertraut mit alles geworden ist fühlte ich erst jetzt. Um 9 Uhr verliess mein Zug Florenz. 194 Die Jahrhundertangabe „14“ ist mit Bleistift über die ursprünglich angegebene Zahl „8“ geschrieben. Diese Pietà aus Terrakotta war eine deutsche Arbeit aus dem 15. Jahrhundert und in der links vom Hochaltar gelegenen Cappella della Madonna del Pianto aufgestellt. 1982 wurde sie gestohlen und durch eine Kopie aus Holz ersetzt. 195 Das Fresko der Trinität mit Heiligen in der Cappella di San Severo in der gleichnamigen ­Kirche Perugias, das z­ wischen 1505 – 1508 von Raffael gemalt und dann 1521 von Perugino vollendet wurde. 196 Gemeint ist die Disputa del Sacramento in der Stanza della Segnatura im Vatikanischen Palast. 197 Die heutige Galleria Nazionale dell’Umbria, die damals Regia Galleria Vannucci hieß, ist im Palazzo dei Priori Perugias untergebracht. 198 Der Freskenzyklus von Benedetto Bonfigli in der Kapelle des Palazzo dei Priori mit den Viten der hll. Ludwig von Toulouse und Herkulanus. Diese Szenen enthalten auch Darstellungen der Stadt Perugia im 15. Jahrhundert. 199 Die fünf Marmorskulpturen für die sogenannte fontana pedi platee, die 1308 abgerissen wurde. 200 Das Polyptychon des hl. Antonius. 201 Die thronende Madonna mit musizierenden Engeln. 202 Die sog. Pala di Perugia, eine thronende Madonna mit Engeln.

Ingo Herklotz

Peter Paul Rubens z­ wischen Geistesgeschichte und politischer Ikonographie Die Münchner Dissertation von 1936

1. Der Entstehungsrahmen Dass die am 30. Januar 1933 konstituierte Hitler-­Regierung von anderer Tragweite war als die zahlreichen, meist nur kurzlebig vorangegangenen Kabinette der Weimarer Republik, sollte auch den Studenten der Universität München, zu denen Otto von Simson seit dem Wintersemester 1931/32 gehörte, schon nach wenigen Wochen bewusst werden.1 Nicht nur jene ausgreifenden, in Folge des Reichstagsbrandes durchgeführten Verhaftungswellen, die vom Münchner Polizeipräsidenten bekanntgegebene Einrichtung des Konzentrationslagers für politische Häftlinge in Dachau gleich vor den Toren der Stadt, der Boykott jüdischer Geschäfte vom 1. April und die barbarische Bücherverbrennung am 10. Mai waren unübersehbar geblieben, sondern auch an der ehrwürdigen Alma mater selbst wehte nun ein rauerer Wind. Infolge des berüchtigten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April verloren die Münchner Privatdozenten für Kunstgeschichte Ernst Michalski und Ernst Strauss, beide Juden und beide ehemalige Pinder-­Schüler, ihre Stellung.2 Dem 1

2

Sofern nicht anders angegeben, stützt sich Abschnitt 1 auf das unpublizierte Manuskript von Joseph A. Raczyński, Mit Otto gemeinsam Erlebtes (Auszüge aus: Erinnertes. 1914 – 1948), 1993, in BSB, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 42, 102 – 103, 108 – 145, 153 – 159, 163 – 171. Die folgenden Anmerkungen benutzen die Abkürzungen BSB = Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, und MUA = München, Universitätsarchiv. Der Verf. dankt Anna Maria Voci für zahlreiche Hinweise, die dem vorliegenden Text zugute kamen. Zu Michalski und Strauss vgl.: Ulrike Wendland, Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler, 2 Bde., München 1999, Bd. 2, 438 – 440, 669 – 671; dies., Die Emigration Münchner Kunsthistoriker im Nationalsozialismus, in: 200 Jahre Kunstgeschichte in München. Positionen, Perspektiven, Polemik 1780 – 1980, hg. von Christian Drude und Hubertus Kohle, München/Berlin 2003, 146 – 153, bes. 150 – 152. Zur Stimmung an der Münchner Universität vor und nach der sog. Machtergreifung vgl. neben Raczyński (wie Anm. 1) auch Style and its Meaning in Early Medieval Art: Ernst Kitzinger interviewed by Richard Cándida Smith [1995], University of California Los Angeles und Getty Research Institute for the History of Art and the Humanities 1997, https://archive.org/details/styleitsmeaningi00kitz [Zugriff: 14. 11. 2018], 18 – 31, 54 – 58, 67 – 73. Von Simsons eigene Erinnerungen an diese Epoche bringen zum Ausdruck, wie sehr er die ­­Zeichen der Zeit unterschätzte. Vgl. aus der selben Interviewreihe Art historian Otto von Simson interviewed by Richard Cándida Smith [1991], University of California Los Angeles und Getty Center for the History of Art and the Humanities 1994, 11 – 15, 71 – 72.

80 |  Ingo Herklotz

unter Studierenden beliebten, da auch privat sich ihrer annehmenden Michalski entzog man überdies die Doktorwürde. Auf der anderen Seite trug der am selben Institut als apl. Professor tätige Alfred Stange schon im Sommersemester 1933 das Parteiabzeichen der Nationalsozialisten, „sicherheitshalber“, wie er betonte, und der so mitreißende Lehrer Wilhelm Pinder, eine durchaus zwiespältige Persönlichkeit, verfiel in seinen Vorlesungen bisweilen einem nationalen Pathos, wie man es zuvor noch nicht bei ihm erlebt hatte.3 Was die der „nationalen Erhebung“ gegenüber skeptisch oder gar ablehnend eingestellten Studenten fassungslos machte, war dann, auf welch großen Zuspruch der politische Umschwung auch und gerade unter den Jungakademikern stieß. Von Woche zu Woche nahm die Zahl derer, die bei den Vorlesungen in braunen oder schwarzen Uniformen erschienen, zu, und ein verblendeter kunsthistorischer Naivling wusste seinen Kommilitonen beim Besuch der Alten Pinakothek sogar mitzuteilen, er habe den Maler Ruisdael immer sehr geliebt; seitdem er aber wisse, dass Ruisdael Jude war, sei ihm diese Wertschätzung nicht mehr möglich. Für Otto von Simson, der jüdische Vorfahren hatte, bedeutete der Antisemitismus des NS-Regimes eine zusätzliche Bedrohung.4 Schon am 7. Juli 1933 wurde sein Vater, Ernst 3

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Zu Alfred Stange bes. Nikola Doll, Politisierung des Geistes: Der Kunsthistoriker Alfred Stange und die Bonner Kunstgeschichte im Kontext nationalsozialistischer Expansionspolitik, in: Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-­nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919 – 1960), hg. von Burkhard Dietz, Helmut Gabel, Ulrich Tiedau, Münster u. a. 2003, Bd. 2, 979 – 1016; Iris Grötecke, Alfred Stange – Politik und Wissenschaft. Ordinarius des Bonner Kunsthistorischen Instituts von 1935 bis 1945, in: Das Kunsthistorische Institut in Bonn. Geschichte und Gelehrte, hg. von Roland Kanz, München 2018, 147 – 175. Pinders wissen­schaftliche und auch persönliche Affinität zum Nationalsozialismus ist vielfach untersucht worden, dabei sind allerdings auch seine Reibungen mit dem System zutage getreten. Genannt s­ eien dazu lediglich Marlite Halbertsma, Wilhelm Pinder und die deutsche Kunstgeschichte, Worms 1992; Jutta Held, Kunstgeschichte im „Dritten Reich“: Wilhelm Pinder und Hans Jantzen an der Münchner Universität, in: Kunst und Politik: Jahrbuch der Guernica-­Gesellschaft, 5, 2003, 17 – 59; Horst Bredekamp, Wilhelm Pinder, in: In der Mitte Berlins. 200 Jahre Kunstgeschichte an der Humboldt-­Universität, hg. von H. Bredekamp und Adam S. Labuda, Berlin 2010, 295 – 310; Daniela Bohde, Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft: Kritik einer Denkfigur der 1920er bis 1940er Jahre, Berlin 2012. In den Erinnerungen der Zeitzeugen kommt Pinders Distanz dem Regime gegenüber zum Ausdruck; so über die schon andernorts zitierten Aussagen hinaus bei Raczyński 1993 (wie Anm. 1), 115 – 116, 168, und von Simson 1994 (wie Anm. 2), 13 – 15. Otto von Simsons Vater Ernst bemühte sich 1935 – 1936 um die Ausstellung des Reichsbürgerbriefes und die Einstufung als „jüdischer Mischling“ statt als „Volljude“ für sich und seine Kinder. Das Gesuch wurde mit Schreiben vom 26. 8. 1936 abgelehnt, doch zeigt die Korrespondenz, welcher juristische Interpretationsspielraum in der Frage offenbar bestand. Dazu: Dieter Neitzert, „Das Amt“ ­zwischen Versailles und Rapallo: Die Rückschau des Staatssekretärs Ernst von ­Simson, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 60, 2012, 443 – 490, bes. 451 – 453; Norbert Gross, Ernst von Simson. Im Dienste Deutschlands: Von Versailles nach Rapallo (1918 – 1922), Karlsruhe 2013, 10 – 14, 112 – 126. Allem Anschein nach erlangte der Bescheid vom August 1936 keine letztgültige Verbindlichkeit, denn Otto von Simson leistete während der Sudetenkrise des Jahres 1938 Wehrdienst, was einem „Volljuden“ seit den Nürnberger Gesetzen nicht möglich war; zu ­diesem Militärdienst vgl. von Simson 1994 (wie Anm. 2), 18.

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von Simson, vormals Staatssekretär im Außenministerium, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Zwar gab man auf Rückfrage vor, dass der Bescheid lediglich mit Sparmaßnahmen und nicht mit der „Arierfrage“ zusammenhänge, doch berief sich die Maßnahme erneut auf das unheilvolle Gesetz vom 7. April,5 das unmissverständlich gegen alle jüdischen Beamten zielte. Reserviert zeigten sich nun offenbar auch einzelne Vertreter der gehobenen Münchner Kreise, in denen der Sohn bislang mühelos verkehrt hatte, so dass er fortan den Kontakt mit seinen jüdischen Kommilitonen – auferzwungenen Schicksalsgefährten gleichsam – verstärkte.6 Eben diese politische Stimmung war es dann, die den jungen von Simson und seinen damaligen Studienfreund, den aus Posen stammenden Grafen Joseph ­Alexander Raczyński, dazu bewegten, sich eine Auszeit zu gestatten und das Studienjahr 1933/34 in Paris zu verbringen. So besehen tat Otto von Simson bereits im Herbst 1933 den ersten Schritt in Richtung Emigration. Allerdings erlebten die beiden aus München kommenden Studenten ihre Pariser Zeit als durchaus angenehm, nicht nur, weil sie dort eine wesentlich freiere Luft atmen konnten, sondern auch aufgrund der zahlreichen Türen, die sich ihnen – weit verbreiteten Ressentiments gegen alles Deutsche zum Trotz – in den vornehmen Häusern der französischen Hauptstadt öffneten. Hier brachte Ernst von Simson seine langjährigen Beziehungen ins Spiel. Wie bedrohlich die Situation in Deutschland geworden war – ein Umstand, den über die frankophone Presse hinaus die bereits zahlreich in Paris eingetroffenen Exilanten vor Augen führen mussten –, ließ sich offenbar noch erfolgreich verdrängen, sodass sich bei von Simson schon nach wenigen Monaten ein geradezu naives Gefühl der „Entwarnung“ einstellte. Überaus befremdlich klingt zumindest das, was er einem alten Studienfreund während seines Familienurlaubs zum Weihnachtsfest des Jahres 1933 in gedrechselten Worten schrieb: Von Ilschen hörte ich zu meiner Freude wie sehr die Atmosphäre im Seminar sich geklärt und beruhigt hat. Und so scheint es ja bei allem in unserer Heimat jetzt zu sein. Wo Lebendiges und an Lebendigem geschieht, da ist es nicht möglich, daß sich nicht alles endlich zum Guten wende. Und zumal bei d ­ iesem Volk, das allen dunklen und heiligen Mächten des Schicksals näher ist als irgendein anderes seit den Griechen. Und beschneiden Sie einem Baum auch noch so sehr seinen Wuchs – die Stille und göttliche Einfalt des Lebens wird sich nimmer verwirren und gänzlich schwächen lassen.

Mehr als die hier vom Pathos nationaler Mystik umnebelten Brüche der politischen Verhältnisse bewegte ihn damals etwas anderes:

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Neitzert 2012 (wie Anm. 4), 451; Gross 2013 (wie Anm. 4), 10, 109 – 111. So von Simsons damaliger Studienkollege Kitzinger 1997 (wie Anm. 2), 153: „We coincided there [an der Universität München], but didn’t know each other terribly well then. We got closer during that difficult summer of ’33. He had moved in very elevated circles – he’s always had these aristocratic connections – and I didn’t. But then during that summer, when he found himself sidelined, he came to our house and I got to know him better.“

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Stefan Georges Tod hat Sie gewiss nicht minder erschüttert als uns alle. Es ist doch eine seltsame Fügung, daß die 3 großen staatsbildenden, ‚politischen‘ Dichter die Deutschland besitzt (in 700 Jahren 3!) in der ‚Fremde‘ gestorben sind, und alle in den Alpen: Walther in Bozen, Hutten am Züricher See, nun George in Locarno. Aber wir sollen heute weniger nach Zeilen forschen, weniger deuten sondern stark genug sein die Größe unserer Genien ganz und ungeteilt zu empfangen.7

Möglicherweise war es auch die Vertiefung in ihre Arbeit, mittels derer sich die beiden Paris-­Reisenden einer unliebsamen Konfrontation mit der Realität zu entziehen vermochten. Zwar erwies sich die Sorbonne, wo man die Vorlesungen von Henri Focillon, René Schneider und Charles Diehl besuchte, aufgrund ihrer reglementierten Studienordnung als wenig ergiebig, doch stellte der universitäre Lehrbetrieb auch nicht das eigentliche Anliegen der beiden Freunde dar. Vielmehr wollten sie Material für ihre anstehenden Doktorarbeiten sammeln. Hier wirkte nun das Münchner Sommersemester nach, ­dessen Glanzlicht das Rubens-­Kolleg des frisch gebackenen Privatdozenten Hans Gerhard Evers gewesen war, der ihnen den Maler mit vielen, häufig selbstgefertigten und sogar farbigen Diapositiven nahegebracht hatte.8 Otto von Simson fand sein Thema während der Pariser Zeit in Rubens’ Medici-­Zyklus, der seit Beginn des Jahrhunderts, aus dem Palais du Luxembourg überführt, einen eigenen, damals noch kaum frequentierten Saal des Louvre beanspruchte. Das Zusammenspiel von künstlerischer inventio, bild­licher Aufbereitung der Zeitgeschichte und diplomatischer Tätigkeit des Malers hat den angehenden Wissenschaftler, selbst Diplomatensohn und Abkömmling einer politisch zutiefst engagierten Familie, offenbar von Anbeginn fasziniert. Einmal auf das Thema eingeschworen, sah man ihn fortan in der Bibliothèque Doucet, der Nationalbibliothek und dem Cabinet des Estampes, wo er den Gemälden des flämischen Meisters, ihren möglichen Vorbildern und den historischen Begleitumständen der Galerie mit großer Leidenschaft nachging. Ein entsprechendes Exzerpteheft (Abb. 1) ist in seinem Nachlass erhalten.9 Raczyński brauchte noch etwas länger, bevor er sich, nach München zurückgekehrt, auf Rubens als Landschaftsmaler festlegte. Später nahm die Vorgeschichte der anvisierten Darstellung so 7 8

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Von Simson aus Berlin an Ludwig Prinz von Hessen und bei Rhein, 21. Dez. 1933; Darmstadt, Hessisches Staatsarchiv, D 26, Nr. 28/4. Vgl. den Eintrag in von Simsons Belegbuch für das Sommersemester in MUA , Stud-­B B -110. Zu Evers bes. Christian Fuhrmeister, Optionen, Kompromisse und Karrieren: Überlegungen zu den Münchener Privatdozenten Hans Gerhard Evers, Harald Keller und Oskar Schürer, in: Kunst­ geschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Wissenschaft z­ wischen 1930 und 1950, hg. von Nikola Doll, ders. und Michael H. Sprenger, Weimar 2005, 219 – 242, bes. 221 – 226, und Katrin Meier-­Wohlt, Das kunsthistorische Seminar der Universität München zur Zeit des Nationalsozialismus, in: ebd., 85 – 97, bes. 93 – 94. Evers publizierte wenige Jahre später zwei Rubens-­Monographien: Peter Paul Rubens, München 1942, sowie Rubens und sein Werk. Neue Forschungen, Brüssel 1944. BSB, Nachlass 290, Kasten 11.

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Abb. 1 Otto von Simson, Notizen zum Medici-­Zyklus, Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass 290, Kasten 11

weiten Raum ein, dass sie unter dem Titel Die flämische Malerei vor Rubens erschien und dem Künstler selbst nur noch ein abschließender Ausblick zukam.10 In Erinnerung ihrer gemeinsamen Zeit haben die beiden Freunde ihre Erstlingswerke übrigens dem jeweils anderen gewidmet. Von Simsons Dissertation, die den recht akademischen Titel Zur Genealogie der weltlichen Apotheose im Barock besonders der Medicigalerie des P. P. Rubens erhielt, entstand somit während des Pariser Aufenthalts und des Folgejahres in München, das heißt ­zwischen 1934 und Ende 1935. Mit ihren 400 Druckseiten ist sie – und dieser Umstand lässt erstaunen – das Werk eines Zweiundzwanzig- bis Dreiundzwanzigjährigen. Neben seinem wichtigsten Ratgeber Hans Gerhard Evers, später selbst Verfasser zweier Rubens-­ Bücher,11 stand dem Doktoranden mit dem in Berlin lebenden Privatgelehrten Ludwig 10 Joseph Alexander Graf Raczyński, Die flämische Landschaft vor Rubens. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der flämischen Landschaftsmalerei in der Zeit von Brueghel bis zu Rubens, Frankfurt a. M. 1937, 78 – 82. 11 Dass Evers für seine Arbeit ungleich wichtiger war als der offizielle Berichterstatter Wilhelm Pinder, hat von Simson selbst unmissverständlich betont. Der ironische Rückblick verdient es, zitiert zu werden. „I had very little to do with Pinder. The sponsor for my dissertation on Rubens was this young assistant [recte Privatdozent], Professor Evers. I had one talk with Pinder. He invited me to tea, the Herr Geheimrat. He had no idea what I was doing. He asked me if I knew of the official status of the mistresses of Louis XIV or Louis XV . Since this was not my period at all, I very gayly said I had no idea. I did not tell him that this question was bunk, that it had

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Burchard auch der Begründer des noch immer nicht abgeschlossenen Corpus Rubenianum Ludwig ­Burchard zur Seite. Als offizieller Doktorvater zeichnete indes der Münchener Ordinarius, ­Wilhelm Pinder, der sich zu jener Zeit vorwiegend mit deutscher Barockskulptur befasste. Im Herbst 1935 folgte Pinder einem Ruf nach Berlin, kam bei Ende des Wintersemesters aber noch einmal zurück, um die Examina seiner Münchner Kandidaten abzunehmen, die sich nicht nach Berlin umimmatrikulieren wollten. Voraussetzung war die fristgerechte Abgabe der Dissertation, die von Simson am 6. Januar 1936 einreichte, so dass sein Rigorosum mit den Nebenfächern Archäologie – bei B ­ uschor – und Romanistik – hier prüfte ihn ­Vossler – schon am 14. Februar des Jahres, mehr als fünf Monate vor seinem 24. Geburtstag, stattfand.12 Gemeinsam mit Yvonne ­Hackenbroch, die bereits von Pinders Nachfolger Hans Jantzen promoviert wurde, dürfte er der vorerst letzte jüdischstämmige Kunsthistoriker gewesen sein, der sein Studium in München zum Abschluss brachte.13

2. Rubens’ Medici-Zyklus Als sich von Simson entschloss, den Medici-­Zyklus ins Zentrum seiner Dissertation zu rücken, lag die ästhetische Rehabilitierung des Barockstils, an der Gurlitt, Wölfflin, Schmarsow, Riegl und Justi mitgewirkt hatten, erst wenige Jahrzehnte zurück.14 Rubens’ ­zwischen 1622 und 1625 für die Königsmutter Maria de’ Medici ausgeführte Reihe von nicht weniger als 21 großformatigen Gemälden musste dabei noch gegen ein besonderes Vorurteil ankämpfen. Schon im 17. Jahrhundert hatte André Félibien – nicht ohne national-­chauvinistische Untertöne – das gemeinsame Agieren menschlicher, göttlicher und allegorischer Gestalten, das die ikonographische Eigenart der Rubens’schen Bildfindungen ausmacht, unmissverständlich abgelehnt – ein Vorwurf, der mit den rationalistischen Strömungen des 18. und 19. Jahrhunderts sowie der mit ihnen einhergehenden allgemeinen Allegoriekritik sehr viel lauter werden sollte, um selbst im frühen 20. Jahrhundert noch nicht zu verstummen.15 Von den „abus de l’allégorie“ und der „fâcheuse

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15

nothing to do with my subject. It just showed how little he knew about it.“ Von Simson 1994 (wie Anm. 2), 12 – 13. Vgl. dazu die Unterlagen in MUA, O-Np-­WS 1935/36. Die Promotionsurkunde ist in BSB, Nachlass 290, Kasten 41, erhalten. Für Yvonne Hackenbroch vgl. Wendland 1999 (wie Anm. 2), 257; dies. 2003 (wie Anm. 2), 147. Einen konzisen Überblick zur Geschichte der Barockforschung gibt der Beitrag von Ulrich Pfisterer, Barock, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hg. von dems., 2. Aufl., Stuttgart/Weimar 2011, 52 – 57, und jetzt auch Ute Engel, Stil und Nation. Barockforschung und deutsche Kunstgeschichte, ca. 1830 – 1933, Paderborn 2018. Nachweise dazu bei Joachim Rees, Die unerwünschten Nereiden: Rubens Medici-­Zyklus und die Allegoriekritik im 18. Jahrhundert, in: Wallraf-­Richartz-­Jahrbuch, 54, 1993, 205 – 232, sowie die Bibliographie bei Cornelia Logemann, Allegorie und Personifikation, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft 2011 (wie Anm. 14), 14 – 19; vgl. ferner Anm. 26.

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Abb. 2 Otto von Simson, Zur Genealogie der weltlichen Apotheose im Barock: Titelblatt

intervention de la mythologie dans des œuvres où elle n’avait que faire“, dem ärgerlichen Auftauchen der Mythologie, dort, wo sie nichts zu suchen habe, sprach noch Émile Michel in seiner k­ urzen Monographie über den Bilder-­Zyklus, der ersten überhaupt, die 1902 erschien.16 Nur vier Jahre später, 1906, widmete ein deutscher Forscher, Karl ­Grossmann, der Medici-­Galerie ein weiteres Buch, das in erster Linie die formalen Qualitäten herausarbeitet.17 ­Kompositionsprinzipien, Blicklenkungen – auch von einem Bild zum benachbarten –, Lichtregie, Farbwirkung, Antiken- und sonstige Figurenzitate, verwandte Bildmotive in anderen Werken Rubens’ – all dies wird von Grossmann einfühlsam und nicht ohne Sachkenntnis beschrieben. Dennoch scheinen die Grenzen seines Zugangs offensichtlich. Wiewohl der Autor mehrfach motivische Anleihen aus der Sakralikonographie 16 Émile Michel, P. Rubens et la galerie de Médicis, Paris 1902, 5, 39, die Zitate; im gleichen Tenor auch ebd., 35, 46. Der Text von 1902 war bereits ähnlich in Michels umfassender Monographie Rubens. Sa vie, son œuvre et son temps, Paris 1900, erschienen. 17 Karl Grossmann, Der Gemäldezyklus der Galerie der Maria von Medici von Peter Paul Rubens, Straßburg 1906. Zu neuen Erkenntnissen, was die Vorzeichnungen und Entwurfsprozesse der ­Bilder angeht, gelangte danach noch Fritz Lugt, Notes sur Rubens, in: Gazette des Beaux-Arts, 68, 1925, 179 – 202. Der von Simson unmittelbar vorangehende Band von André Beucler, La Galerie de Médicis, Paris 1935, war nur aufgrund seiner Abbildungen von Interesse, nicht wegen des begleitenden Textes.

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Abb. 3 Peter Paul Rubens, Der Vertrag von Angoulême, Paris, Louvre

vermerkt, zieht er daraus keine Schlüsse, die über den formalen Befund hinausgingen. Den historischen Hintergrund des gut dokumentierten Auftrags nachzeichnend, betont auch Grossmann, wie sehr Rubens’ Aufgabe darin bestand, das, „was dem Bewusstsein der Zeit klein und häßlich erschien, […] zur Größe zu erheben“;18 wie dies gelang, erfährt der Leser indes nicht, so dass sein Beitrag eine Antwort auf die zentrale Frage nach der historischen Bedeutung des Zyklus schuldig bleibt. Eben hier setzt von Simsons Untersuchung (Abb. 2), die schon Ende 1936 ganz wie ­Grossmanns Buch bei Heitz in Straßburg erschien, an.19 Die folgende Betrachtung gilt 18 Grossmann 1906 (wie Anm. 17), 13. 19 Möglicherweise hing die Entscheidung für den Straßburger Verleger auch damit zusammen, dass von Simson aufgrund seiner Abstammung bei deutschen Verlagshäusern mit Schwierigkeiten zu rechnen hatte. Von solchen Problemen berichtet Kitzinger 1997 (wie Anm. 2), 74. Andererseits gelang es dem Deutschen Verein für Kunstwissenschaft noch bis 1937, Werke „nichtarischer“ Kunsthisto­ riker in seiner Schriftenreihe zu veröffentlichen. Dazu Heinrich Dilly, Deutsche Kunsthistoriker 1933 – 1945, Berlin 1988, 41, und Halbertsma 1992 (wie Anm. 3), 177. Zur Ausschaltung jüdischer Autoren aus dem deutschen Publikationswesen grundlegend Volker Dahm, Das jüdische Buch im Dritten Reich, 2. Aufl., München 1993.

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Abb. 4 Peter Paul Rubens, Die Einnahme von Jülich, Paris, Louvre

zunächst den knapp 150 Seiten, die den zweiten und kürzeren Teil der Abhandlung aus­ machen.20 In vielfacher Hinsicht gelangt der Autor über seine Vorgänger hinaus. Ausgehend von den frühen Beschreibungen des Bilderzyklus – Morisot, Félibien, Nattier –, die der Verfasser mit Sorgfalt auswertet, gelingt es ihm, einzelne Bildthemen zu präzisieren. So ist die ikonographische Bestimmung des Vertrags von Angoulême (Abb. 3) erst von Simson zu verdanken. Dass das imposante Reiterbildnis der Königin (Abb. 4) nicht auf Marias schmachvolle Niederlage am Pont-­de-­Cé (1617) anspielen kann, sondern ein früheres und ruhmreicheres Ereignis im Blick haben muss, gehört ebenfalls zu diesen berechtigten Korrekturen, obwohl dem Verfasser die bald verbindliche Benennung des Bildes als Einnahme von Jülich (1610) zu ­diesem Zeitpunkt noch verschlossen blieb.21 Sehr viel genauer 20 Otto Georg von Simson, Zur Genealogie der weltlichen Apotheose im Barock besonders der Medici­ galerie des P. P. Rubens (Sammlung Heitz: Akademische Abhandlungen zur Kulturgeschichte, II . Reihe, Bd. 9), Straßburg o. J. [1936], hier 245 – 391. Zum Erscheinungsdatum, Dezember 1936, vgl. die Unterlagen in MUA, O-Np-­WS 1935/36. 21 Die richtige Benennung geht auf Hans Gerhard Evers zurück; ders., Maria Medici und Peter Paul Rubens: Rubens auf einem zeitgeschichtlichen Bild?, in: De Vlag, 4, 1942, 441 – 4 46.

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Abb. 5 L. Gaultier, Die Krönung der Maria de’ Medici in Saint-­ Denis, nach von Simson, Zur Genealogie der weltlichen Apotheose

werden Rubens’ Bilder dann auch auf ihren historischen Gehalt hin untersucht, was insbesondere bei dem breitformatigen Krönungsbild und dem vielgeschmähten Austausch der Prinzessinnen mit Hilfe weiterer Schilderungen der Ereignisse selbst zu Erfolgen führt. Die Frage nach Bildrhetorik oder Dokumentation macht folglich einen Leitfaden dieser Untersuchung aus. Zwangsläufig bedeutete dies, ebenso die ikonographischen wie auch panegyrische Traditionen in Rechnung zu stellen, derer sich Rubens bedient. Giovanni Battista Marinos Tempio panegirico alla maestà christianissima di Maria de’ Medici (1620) ist dabei nur eine der literarischen Quellen, die von Simson zum Verständnis des Zyklus erschließt. Selbst die Identifizierung Heinrichs IV. und seiner Gemahlin mit Jupiter und Juno erweist sich im Rahmen der Herrscherpanegyrik als konventionell, war doch schon Franz I. in der Rolle des höchsten der Olympier erschienen. Bemerkenswert allerdings, wieviel Beachtung der junge Wissenschaftler bei seinen Recherchen nicht nur der „hohen Kunst“, sondern auch Druckgraphik (Abb. 5), Medaillen (Abb. 6) und ephemeren Ausstattungen zukommen lässt. Als seinen Vorgängern überlegen zeigt sich der Verfasser des Weiteren bei der Bestimmung der allegorisch-­mythologischen Gestalten wie auch in der Deutung einzelner Symbole. Mehr als alle älteren Autoren hat von Simson den Zyklus dann aber in die politische Realität der 1620er Jahre einzuordnen gewusst. Verschiedene Themenänderungen scheinen in der Tat nur aus der spannungsgeladenen Atmosphäre jener Entstehungszeit und ihrer Machtverschiebungen erklärlich. Neben dem Interessensausgleich von M ­ utter und Sohn, Maria de’ Medici und Ludwig XIII., erkennt von Simson dabei erstmals einen dritten, in den Quellen nur verhalten aufscheinenden Protagonisten im Hintergrund des Bildprogramms, nämlich Richelieu, der gleichzeitig mit Rubens’ Ausführung der Galerie seinen politischen Aufstieg vollzog.

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Abb. 6 Guillaume Dupré, Medaillen mit Allegorien des Staatsschiffes, Stiche im Cabinet des Estampes, Bibliothèque Nationale de France, Paris, nach von Simson, Zur Genealogie der weltlichen Apotheose

Otto von Simsons Darstellung aus dem Jahre 1936 bleibt ein Meilenstein in der Anwendung jener Methode, die man heute als „politische Ikonographie“ zu bezeichnen pflegt. Die von ihm erstmals umfassend an den Medici-­Zyklus herangetragenen Frage­stellungen sind für jede neuere Besprechung der Bilderfolge unumgänglich, so dass man seinem ehemaligen Kommilitonen Ernst Kitzinger zustimmen darf, wenn er im Hinblick auf von Simsons Doktorarbeit, die in einem noch weitgehend von der Stilgeschichte geprägten Umfeld entstand, rückschauend nicht ohne Selbstkritik vermerkt: As a student in Munich his thesis was on the Medici cycle of Rubens and even then he was way ahead of me, and much more anticipating general interests of the fifties and sixties and seventies – not stuck as I was with formalism. To me, Rubens was just ­Wölfflin’s offene Formen and the very antithesis to Renaissance, but Simson was interested in the Medici patronage and the political ideas behind it. Even as a student he was already working along that line, and his Ravenna book is simply doing the same thing in a different setting.22

22 Kitzinger 1997 (wie Anm. 2), 154. Zu dem Buch über Ravenna, von Simsons Sacred fortress. Byzantine art and Statecraft in Ravenna, Chicago/London 1948, und spätere Neuauflagen und Nachdrucke, jetzt Carola Jäggi im vorliegenden Band. Zu Kitzinger vgl. Ernst Kitzinger and the Making of Medieval Art History, hg. von Felicity Harley-­McGowan und Henry Maguire, London 2017. John Mitchell, Ernst in England, in: ebd., 15 – 37, behandelt dort auch die deutsche Frühzeit des Gelehrten, gelangt dabei aber kaum über dessen Selbstaussagen von 1995 (wie Anm. 2) hinaus. Das ­gleiche gilt für den Beitrag von Sandra Steinleitner, Ernst Kitzinger und der Beginn seiner kunsthistorischen Laufbahn in seiner Heimatstadt München, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, 6, 2012, H. 2, 23 – 33.

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Viele seiner Beobachtungen haben ihre Gültigkeit denn auch bis heute nicht verloren.23 Einzelne Präzisierungen ergaben sich indes aus der Auffindung eines schriftlichen Programmentwurfs vom Sommer 1622, den Jacques Thuillier 1969 bekanntmachen konnte.24 Ein anderer Quellenfund der jüngeren Zeit, die Beschreibung der Galerie durch den Italiener Cassiano dal Pozzo schon aus dem Jahre 1625, bestätigte von S­ imsons Identifizierung des Kardinals, der im Angoulême-­Bild an Marias Seite aufscheint, mit ­Richelieu (Abb. 3). Für die – in der Forschung nicht unumstrittene – These vom Einfluss des machthungrigen Prälaten auf Rubens’ Bildprogramm mag dieser Umstand als weitere Stütze zu werten sein.25

3. Die Genealogie der weltlichen Apotheose Den universitären Ansprüchen ihrer Zeit hätte die Betrachtung der Medici-­Galerie als mögliche Doktorarbeit durchaus genügt. Von Simson hat ihr jedoch einen sehr viel längeren und weitaus problematischeren, heute kaum noch zitierten ersten Teil vorangestellt, der auf weiteren 240 Seiten die Vorgeschichte seines Themas von der griechischen Antike bis zum 17. Jahrhundert aufrollt. Hier geht es um die Genealogie der weltlichen Apotheose im Barock, von der im Titel des Buches die Rede ist. Die Fülle des Materials und der Gedanken, mit der die Untersuchung in diesen Kapiteln aufwartet, lässt den Leser staunend zurück, umso mehr, wenn er sich das Alter des Verfassers vor Augen hält. Begriffliche Unschärfen und Schwächen in der Strukturierung – sechzigseitige Kapitel entbehren aller Zwischenüberschriften, Abschweifungen und R ­ edundanzen sind ebenso häufig wie die Brüche in der Chronologie – erschweren die Lektüre andererseits beträchtlich, mögen allerdings auch dem Zeitdruck geschuldet sein, unter dem die Arbeit zum Abschluss fand. Befremdlich wirkt aus der Distanz betrachtet ebenso der pathetische Ton, in dem die tiefschürfenden Überlegungen vorgetragen werden. Schwerlich lässt sich der dicht verwobene Text angemessen zusammenfassen – bezeichnenderweise 23 Sämtliche seit 1936 erschienenen Rubens-­Monographien haben auch die Medici-­Galerie behandelt. An Spezialuntersuchungen vgl. insbes.: Jacques Thuillier, Rubens. La Galerie Médicis au Palais du Luxembourg, Mailand 1969; Deborah Marrow, The Art-­Patronage of Maria de’ Medici, Michigan 1982; Rüdiger an der Heiden, Die Skizzen zum Medici-­Zyklus von Peter Paul Rubens in der Alten Pinakothek, München 1984; Ronald Millen, Robert Wolf, Heroic Deeds and Mystic Figures. A New Reading of Rubens’ Life of Maria de’ Medici, Princeton 1989; Martin Warnke, Laudando praecipere. Der Medicizyklus des Peter Paul Rubens, Groningen 1993; Bernhard ­Wehlen, „Antrieb und Entschluß zu dem was geschieht“. Studien zur Medici-­Galerie von Peter Paul Rubens, München 2008. Für von Simsons eigene spätere Einlassungen zum selben Thema vgl. Anm. 53 und 59. 24 Jacques Thuillier, La „Galerie de Medicis“ de Rubens et sa genèse: Un document inédit, in: Revue de l’art, 4, 1969, 52 – 62; vgl. auch Thuillier 1969 (wie Anm. 23). 25 Darauf wies zuerst Simone Alaida Zurawski, Peter Paul Rubens and the Barberini, ca. 1625 – 1640, Diss. Brown University 1979, hin; hier 44.

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haben selbst die Rezensenten des Buches ein solches Resümee nicht versucht. Auch das Folgende beschränkt sich auf einige methodische Anmerkungen. Weltliche Apotheose, das meint die „Versammlung himmlischer Mächte um die Person des Herrschers“. Die staatlich-­monarchische Repräsentation der griechisch-­ römischen Antike bedient sich einerseits der Götter, andererseits der Allegorie. Diese scheinen insofern aufs Engste miteinander verbunden, als begriffliche Vorstellungen wie Nike, Demokratia, Libertas und Concordia im Altertum als göttliche Wesen verehrt wurden (von Simson spricht von „Begriffsgottheiten“), zugleich aber die Olympier der alten Fabeln für die Gebildeten oftmals nur noch allegorischen Wert besaßen. Eben diese bereits in der Antike vollzogene Überlagerung mythologischer und allegorischer Inhalte machte später die Essenz der barocken Bildungen aus. Dazwischen lag jedoch eine eineinhalb Jahrtausende währende Entwicklung, die diese Doktorarbeit nachvollziehen will. Einzelne Vorstudien ließen sich dabei benutzen, so etwa Hugo Blümners Untersuchung über den Gebrauch der Allegorie in den bildenden Künsten (1881) oder auch Jacob Burckhardts Vortrag Die Allegorie in den Künsten von 1887.26 Beide stimmten darin überein, dass sie dem Gebrauch allegorischer Bildfindungen in der Kunst ihrer eigenen Zeit ablehnend gegenüberstanden und deshalb auch deren Tradition – zumindest für die Neuzeit – mit Skepsis betrachteten. Die Rehabilitierung der Allegorie als historischer Kunstform dürfte somit unausgesprochen auch eines der von Simson’schen Anliegen gewesen sein. Das Nachleben der antiken Götter sollte in eben jenen Jahren, als die Genealogie der weltlichen Apotheose entstand, bekanntlich zum Thema des Warburg-­Kreises werden. Der bahnbrechende, allerdings eher formgeschichtlich orientierte Aufsatz von Panofsky und Saxl Classical Mythology in Medieval Art erschien 1933, und vier Jahre nach von Simson publizierte Jean Seznec als IX. Band der Studies of the Warburg Institute sein grundlegendes Buch La survivance des dieux antiques, das dem allegorischen Götterverständnis etliche Abschnitte einräumt.27 Panofskys Hercules am Scheideweg von 1930 ist dann erwartungsgemäß auch in von Simsons Fußnoten des Öfteren anzutreffen.28 Seine Fragestellung – so 26 Hugo Blümner, Laokoon-­Studien, I: Über den Gebrauch der Allegorie in den bildenden Künsten, Freiburg/Tübingen 1881; Jacob Burckhardt, Die Allegorie in den Künsten (1887), in: ders., Kulturgeschichtliche Vorträge, hg. von Rudolf Marx, Stuttgart 1959, 318 – 342. Als neueren Überblick zur Allegorie vgl. Logemann 2011 (wie Anm. 15), mit umfassender Bibliographie. Unverständlicherweise bleibt die antike Verwendung von Personifikationen dort völlig außer Acht. 27 Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Classical Mythology in Medieval Art, in: Metropolitan Museum Studies, 5, 1933, H. 2; Seznecs Buch von 1940 wurde vor allem durch die englische Übersetzung berühmt: The Survival of the Pagan Gods. The Mythological Tradition and its Place in Renaissance Humanism and Art, New York 1953. Zahlreiche Neuauflagen und weitere Übersetzungen folgten. Zur Entstehung des Buches auch Elizabeth Sears, Seznec, Saxl and ‚La survivance des dieux antiques‘, in: Images of the Pagan Gods. Papers of a Conference in Memory of Jean Seznec, hg. von ­Rembrandt Duits und François Quiviger, London 2009, 3 – 20. 28 Erwin Panofsky, Hercules am Scheideweg und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. 18), Leipzig/Berlin 1930; zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung

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viel scheint nach wenigen Seiten deutlich – gehörte von daher eher in das geistige Umfeld des mittlerweile emigrierten Warburg-­Instituts als in die Pinder-­Schule, was insofern Beachtung verdient, als sich die akademischen Kreise in München und Hamburg schon vor der Machtergreifung wenn nicht feindlich, so doch eher verständnislos, mithin allerdings auch rivalisierend entgegengetreten waren.29 Indes ist von Simsons Ansatz mit dem Schlagwort „Nachleben der Antike“ noch nicht hinlänglich charakterisiert. Letztlich geht es dem Verfasser um eine Geschichte der Entgrenzung künstlerischer Realitätsebenen zum Zwecke der Herrscherpanegyrik. Dazu ­gehören die Zusammenführungen und Identifizierungen historischer Gestalten mit allegorischen, mythologischen und biblischen Figuren im selben Bild ebenso wie die Spiegelung lebender Persönlichkeiten in rein historischen, ganz mythologischen und ausschließlich biblischen Darstellungen, deren Protagonisten mutmaßlich als Alter Ego des Gefeierten in Erscheinung treten.30 Beeindruckend wirkt das entfaltete Spektrum schon aufgrund des Materialreichtums, den es zusammenträgt, denn weit über Malerei und Reliefkunst hinaus berücksichtigt der Autor ephemere Dekorationsapparate, Druckgraphik, Numismatik, Impresen, Devisen und Emblematik sowie die allgemeine Symbolliteratur der Zeit. Doch auch damit nicht genug. Von Simson wollte zweierlei, wie er schon auf den ersten Seiten unmissverständlich betont; zum einen nämlich sollte hier nichts weniger als der „Zusammenhang von Symbolik und Weltanschauung“ aufgezeigt werden, zum anderen beabsichtigte der junge Gelehrte, „das Verhältnis der künstlerischen Vision zur realen Welt nachzuzeichnen“. So viel Ehrgeiz lässt in der Tat erstaunen. Er machte es nötig, die kunsthistorische Erzählung in große geistesgeschichtliche Kontexte einzubetten. Auch dabei überrascht die Breite des herangezogenen Schrifttums, das von Philosophie, politischer ­Theorie und Theologie, von Mythographie und Religionsanthropologie über Astronomie und Astrologie zu ­Theater und schöngeistiger Literatur, zur Kunst- und Dichtungstheorie reicht. Die künstlerischen Veränderungen geraten vor ­diesem weitgefächerten Hintergrund zum Spiegel eines sich wandelnden Welt- und Menschenbildes, die Kunst erscheint als eine von vielen Ausdrucksformen der übergreifenden Geistesgeschichte. Deutlicher als Wilhelm Pinder, mehr auch als die der Warburg-­Schule erwachsenen Kunstwissenschaftler steht der Name Max Dvořák für die hier angesprochene Methode ein. Die Schriften Dvořáks hat des Werks vgl. Dieter Wuttke, Erwin Panofskys Herculesbuch nach siebenundsechzig Jahren, im Anhang zum Nachdruck des Werks, Berlin 1997. 29 Karen Michels, Norden versus Süden: Hamburger und Münchner Kunstgeschichte in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: 200 Jahre Kunstgeschichte in München 2003 (wie Anm. 2), 130 – 138. Die Vermutung der Autorin, dass Pinders Vorbehalte der Hamburger Methode gegenüber auch seinen antijüdischen Ressentiments geschuldet waren (ebd., 134), lässt sich anhand der zitierten Nachweise allerdings nicht belegen. Für Pinders Haltung jüdischen Kollegen gegenüber vgl. auch Anm. 48. 30 Jüngere Forschungen haben sich erwartungsgemäß bemüht, den Begriff der Apotheose terminologisch und inhaltlich enger zu konturieren: Frank Matsche, Apotheose, in: Handbuch der politischen Ikonographie, hg. von Uwe Fleckner, Martin Warnke, Hendrik Ziegler, 2. Aufl., München 2011, I, 66 – 75, mit neuerer Literatur.

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von Simson schon während seines Studiums geschätzt;31 dieser und sein geistiger Ahnherr Wilhelm Dilthey werden in der Dissertation zitiert. Dvořáks Credo lag im Gleichschritt, den „die entlegensten und scheinbar grundverschiedensten Phänomene des geistigen Lebens“ vollzogen, „als würde sie eine dem menschlichen Geiste unerforschbare, metaphysische Bestimmung leiten“ – und zwar auf ein bestimmtes gemeinsames Ziel hin.32 Geht man von solchen Prämissen aus, die der junge von Simson wahrscheinlich unterschrieben hätte, dann lässt sich die Kunst einer Epoche tatsächlich zum „Sprachorgan aller geistigen Interessen und Wissensmaterien“ erklären.33 Vorstellungen vom Weltbild, vom geistigen Ringen der Menschheit und einer abendländischen Geisteskultur sind es, die von Simson mit dem älteren Wissenschaftler teilt, auch wenn sich die Akzentuierung seiner Erkenntnisinteressen dann doch verschiebt. Ging es Dvořák in erster Linie um das Verständnis der Formfindungen und nur im allgemeinsten Sinne um die Erklärung ikonographischer Eigenarten (der seelische Ausdruck in den Skulpturen der Gotik, die Hinwendung zum Menschen und „die frohmütige, gedankenkühne Weltlichkeit“ bei Brueghel usw.), so stand für seinen jüngeren Adepten die Inhaltsdeutung des Kunstwerks im Vordergrund. Als Antithese zu Riegls Kunstwollen wie auch zu Wölfflins binärer Oppositionsschematik – beide bewegten sich in einem reinen Kunstraum – mochte Dvořáks geistesgeschichtlicher Determinismus seine Berechtigung haben. Dennoch sind die Schwächen des Zugriffs heute weitgehend erkannt; wie Rainer Donandt es unlängst formulierte: „Der Versuch ‚Geistiges aus Geistigem zu begreifen‘ ohne konkrete Vermittlungswege nachzuweisen, bleibt letztlich im Bereich subjektiver Projektionen und zirkulärer Argumentationen befangen.“34 Mehr aber noch: Anstatt der künstlerischen Entwicklung – auch auf ikonographischem Sektor – eine eigene Dynamik zuzugestehen, wird diese zum Seismographen der philosophisch-­theologischen Debatten verengt. Dabei ließe sich gerade im Bereich der Herrschaftspanegyrik und ihrer Bildthemen mithin eine longue durée postulieren, die von der Antike über das Mittelalter in die Neuzeit hineinreicht. Verstörend wirken dann auch die Verallgemeinerungen, die sich von Simson immer wieder gestattet. Der mittelalterlichen Transzendenz steht die Renaissancevorstellung – hier 31 Raczyński 1993 (wie Anm. 1), 119. Wie eingehend man sich im München jener Jahre mit Dvořák auseinandersetzte, bezeugen auch Ernst Michalski, Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte, Berlin 1932, 1 – 15, und Kitzinger 1997 (wie Anm. 2), 44, 46 – 47, 58 – 62. 32 Max Dvořák, Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Studien zur abendländischen Kunstentwicklung, München 1924. Zu Dvořák unter anderem Hans H. Aurenhammer, Max Dvořák und die Revision der Mittelalter-­Kunstgeschichte, in: Die Etablierung und Entwicklung des Faches Kunstgeschichte in Deutschland, Polen und Mitteleuropa, hg. von Wojciech Balus und Joanna Wolańska, Warschau 2010, 291 – 314. Als prägnanten Überblick für die hier zur Diskussion stehende methodische Ausrichtung vgl. auch Rainer Donandt, Kunstgeschichte als Geistesgeschichte und als Kulturwissenschaft, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft 2011 (wie Anm. 14), 250 – 254, mit umfassender Bibliographie. 33 Dvořák 1924 (wie Anm. 32), 221. 34 Donandt 2011 (wie Anm. 32), 252.

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schwingen Dilthey und Cassirer mit – von der Immanenz des Göttlichen in Natur und menschlicher Seele gegenüber. Erscheint das hohe Mittelalter noch ganz im ­­Zeichen der Scholastik, so prägte die Mystik das 14. Jahrhundert und bewirkte mit ihrer Akzentuierung des menschlichen, des leidenden Körpers Christi einen ersten Schritt, um die Distanz von Gott und Mensch zu verringern. Der schon im 14. und vollends im 15. Jahrhundert rezipierte Stoizismus soll die Entwicklung des neuen Selbstverständnisses dadurch voran­ getrieben haben, dass er das selbstverantwortliche Handeln des Menschen und dessen Vertrauen in die eigenen Tugenden beflügelt habe. Die Renaissance sieht der Autor dann ganz im ­­Zeichen des Platonismus, der aufgrund seines vermeintlichen Misstrauens allen bildlichen Darstellungen gegenüber unter anderem die Krise des Symbolismus zu verantworten habe. Diese Krise habe zu einer „hieroglyphen“ Prägung der monarchischen Repräsentation geführt, die er an den Holzschnitten Burgkmairs und Dürers zum Triumph des Kaisers Maximilian wie auch an Dürers Ehrenpforte desselben Herrschers erläutert. Biographisch-­individuelle Einzelheiten sprengen hier jeden übergeordneten allegorischen Zusammenhalt. Statt ästhetischer Gesetze herrschen abstrakte Gedanken, „als hätte man damals gar nicht mehr versucht, den Sinn eines Symbols aus seiner Anschauung allein zu begreifen, als sei man erst zu einer umständlichen Übersetzung ins Wort gezwungen gewesen.“35 Spätestens hier wird deutlich, dass von Simson die Geschichte der weltlichen Apotheose auch als eine Geschichte der Formfindung begreift. Mit der Hieroglyphen-­ Rezeption war zugleich ein aktueller Forschungstrend aufgerufen, zu dem Karl Giehlow, Ludwig Volkmann, aber auch Panofsky und Saxl mit ihrer Studie zu Dürers Melencolia Wesentliches beigesteuert hatten, womit wir uns erneut im Umfeld der Bibliothek Warburg bewegen.36 Einer übersteigerten Interpretationsbedürftigkeit machten sich laut von Simson auch Vasaris Ausstattungen des Florentiner Palazzo Vecchio und der römischen Cancelleria schuldig. Zwar nehmen diese Malereien das gemeinsame Auftreten von Allegorien, Personifikationen und historischen Persönlichkeiten vorweg, doch ist „die Beziehung […] eine begriffliche, keine ästhetische […] über ­dieses Beieinander von Wirklichkeit und Allegorie wird man nicht froh, […] denn noch fehlte der ästhetische Sinn, die symbolische Ausdruckskraft.“37 Am gelungensten schien ihm die angesprochene Verschmelzung in den politischen Dekorationen des venezianischen Dogen-­Palastes aus dem späteren Cinquecento verwirklicht. Obwohl der Autor auch dort noch Tadelnswertes vermerkt, bereiteten sie dem Medici-­Zyklus dann ebenso den Weg wie die mythologischen Gestalten der ephemeren Ausstattungen bei den feierlichen Einzügen der französischen Könige des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, die aus den Quellen heraus dokumentiert werden. 35 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 199. 36 Karl Giehlow, Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renaissance besonders der Ehrenpforte Kaisers Maximilian I.: Ein Versuch, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, 32, 1915, 1 – 232; Ludwig Volkmann, Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen, Leipzig 1923; Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Dürers ‚Melencolia I‘. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung, Leipzig/Berlin 1923. 37 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 209, 217.

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Abb. 7 Peter Paul Rubens, Die Übergabe der Regentschaft an Ludwig XIII., Paris, Louvre

Den Vorwurf, in der Tradition jener Hieroglyphik zu stehen, musste sich selbst Rubens noch gefallen lassen. So liest man über die Darstellung zur Übergabe der Regentschaft (Abb. 7): „Das Bild ist im ganzen für unseren heutigen Geschmack nicht mehr erträglich; die Fülle der Gedanken, die zum Ausdruck gebracht werden sollten, der Mangel eines der Allegorie auch nur in etwas entsprechenden historischen Hintergrundes […] haben hier die Erfindung allzu sehr gehemmt.“38 Dies ist nur ein Beispiel aus der Reihe ästhetisch fragwürdiger Urteile, die sich der Doktorand ein wenig altklug auch im Hinblick auf den flämischen Maler gestattet.39 Nichtsdestoweniger erscheint Rubens für ihn als derjenige, der die Krise des Symbolismus zu überwinden wusste und die alten mythologisch-­ allegorischen Bildformen der weltlichen Apotheose wieder mit pulsierendem Leben erfüllte. Auch die Herrscherapotheose des Barock, als deren bedeutendster künstlerischer Vertreter Rubens’ Medici-­Zyklus gelten darf, spiegele über die zeitbedingten politischen Konstel­lationen hinaus eine geistesgeschichtliche Entwicklung. Schon in der Antike hätten die entsprechenden ikonographischen Th ­ emen den Glauben an „unsterbliche, universale 38 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 367 – 368. 39 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 318, 354, 359, 360, 362, 366.

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und transzendente Ordnungen und Gesetze, nach denen ein ewiger Wille die irdische Geschichte lenkt“, kundgetan. Sie setzten eine „geheime Beziehung […] z­ wischen dem einmaligen vergänglichen Menschen und seinem unsterblichen Amt“ voraus.40 In der Neuzeit werde die Vergöttlichung des Menschen nur deshalb möglich, weil eine erstarkte ­Kirche, an ihrer Spitze die Jesuiten, die antike Erbschaft angetreten habe. „Wie die katholische K ­ irche Schulter an Schulter mit den katholischen Fürsten um dasselbe Ziel kämpfte, so dankte sie ihr [der weltlichen Gewalt] für ihren Beistand mit einer eigenartigen Verklärung monarchischer Würde und Macht.“41 Sie komme zustande – hier greift das Klischee vom Barock als Jesuitenkunst –, weil gerade der Jesuitenorden auf die „Einschmelzung“ heidnischer Mythologie und Symbolik „in die christliche Welt“ abziele und nach einer „Verbindung der Sinneswelt zur intelligiblen“ strebe.42 Eben deshalb erlangten die mythologischen Gestalten jetzt „noch einmal eine unerhörte Lebendigkeit“.43 Hinter den antiken Göttern und Personifikationen der Medici-­Galerie verbirgt sich somit ein durch und durch christliches Weltbild, das Rubens’ Geschichtsauffassung mit dem seiner Auftraggeber verband: „[…] was bedeutet die Art, in welcher er [Rubens], überall Beziehungen zu den Vorstellungen und Gefühlen der Religion knüpfend, Geschichte erzählt, andres, als daß er ihren Ablauf mit dem höchsten Willen sichtbar verbunden sieht, daß er in den geschichtlichen Ereignissen ein transzendentes Gesetz symbolisiert glaubt, daß er auch die politischen Taten nach der religiösen Ethik gewertet wissen will.“44 – Die hermeneutische Problematik des Vorgehens liegt auf der Hand. Das, was man heute als Bildrhetorik oder Stilhöhe, wenn nicht gar als ikonographische Propaganda ansieht, wird hier zum Ausdruck von Geschichts- und Weltbildern verklärt. Eine s­ olche transzendente Überhöhung des kunsthistorischen Materials mag einerseits dem geistesgeschichtlichen Ansatz geschuldet sein, dürfte aber ebenso mit dem Entstehungskontext der Dissertation zusammenhängen. In Zeiten einer Überflutung der Öffentlichkeit mit billigster politischer Propaganda und Hetze mochte es naheliegen, die staatliche Kunst früherer Epochen als Kontrastfolie zu begreifen und ihr hehrere Ziele zu unterstellen.

4. Reaktionen und Revisionen Zu den ersten Lesern des Dissertationsmanuskripts dürfte Wilhelm Pinder gehört haben, der in von Simsons Fußnoten übrigens mit keiner seiner Arbeiten zitiert wird. Pinders eineinhalbseitiges, handschriftlich hinterlegtes Gutachten vom 17. Januar 1936 entspricht 40 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 15 – 16. 41 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 234. 42 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 226. Zu der im 19. Jahrhundert entstandenen, lange widerlegten Vorstellung vom Barock als „Jesuitenstil“ vgl. etwa Francisco Camprubi, Jesuitenstil, in: Lexikon für Theologie und ­Kirche, Bd. 5, Freiburg 1960, 921 – 922. Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 292, unterstellt auch Rubens einen „jesuitischen Stil“, meint mit Stil allerdings etwas wie Bildrhetorik. 43 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 227. 44 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 270.

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den Erwartungen – will sagen: Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen.45 Zu Recht erkennt der Berichterstatter eine „rein geistesgeschichtliche Arbeit“, bei der „die weltanschaulichen Voraussetzungen der gestalteten Form […] einen größeren Raum einnehmen als diese selbst“. Damit entspreche der Kandidat zwar einer aktuellen Wendung der Wissenschaft, doch zeige das Beispiel Panofsky, ­welchen Gefahren diese Methode unterliege. Hier ist wohl auf eine zu weite Entfernung vom Kunstwerk selbst und ein Spekulieren in Themengebieten, die der Kunsthistoriker nicht beherrscht, angespielt. Wenn Pinder den Namen Panofsky, nicht aber Dvořák ins Feld führt, der in d­ iesem Zusammenhang eher am Platz gewesen wäre, so mag das mit den erwähnten Animositäten ­zwischen München und Hamburg zu erklären sein. Die Gefahr der begutachteten Untersuchung erkennt der Doktorvater nicht zu Unrecht darin, dass ihr Verfasser, „ein zart fühlender Bildungsmensch, ungewöhnlich aufnahmebereit, [und] lesefreudig“, in der Überfülle seiner Schriftquellen zu ersticken drohe; und er zeigt sich erleichtert, dass die Untersuchung am Ende doch noch „in den sicheren Hafen wirklicher Formbetrachtung“ – das heißt in die Auseinandersetzung mit der Medici-­Galerie – einläuft. Der kunsthistorische Anspruch dieser Dissertation wird im Folgenden auch aufgrund ihrer Berücksichtigung von Trionfi und Hieroglyphik gerechtfertigt. Lob findet vor allem der Fleiß, den der Autor an den Tag gelegt habe. Sprachlich sei die Darstellung „auf sehr anständiger Höhe“, gleichwohl es einzelne Schopenhauersche Manierismen zu bemängeln gebe. Das zusammenfassende Urteil lautet dann: „Dass hier ein sehr aussichtsreicher Kunsthistoriker stecke, möchte ich nicht behaupten. Aber ein sehr kluger Bildungsmensch – keine sehr schöpferische Kraft – hat eine grosse und schwierige Aufgabe mit Fleiss, Begabung, Gestaltungskraft und sprachlichem Können bis zu einer schon sehr beachtlichen Klarheit durchgeführt.“ Die Note daher valde laudabilis, was dem magna cum laude entspricht, mit dem das Rigorosum bewertet wurde. So dann auch die Gesamtnote der Promotion.46 Aufhorchen lässt der Hinweis auf die fehlende schöpferische Kraft des Autors, denn dabei könnte es sich um ein Klischee des Antisemitismus handeln, war die Behauptung, nicht eigenschöpferisch, sondern lediglich nachahmend hervorzutreten, doch seit Richard Wagner wiederholt gegen jüdische Musiker und Schriftsteller erhoben worden.47 Jüdische Doktoranden hatte Pinder in der Frühzeit des NS-Regimes durchaus noch.48 Die 45 Der Text ist im Anhang [nachstehend] vollständig wiedergegeben. 46 MUA, O-Np-­WS 1935/36. Die Promotionsurkunde ist in BSB, Nachlass 290, Kasten 41, Mappe „Ehrenämter, Urkunden …“ bewahrt. 47 Per Leo, Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890 – 1940, Berlin 2013, 333 – 473, bes. 353 – 357, 376, 431, 438. 48 Zu den jüdischen oder „halbjüdischen“ Doktoranden, die nach der Machtergreifung ihr Studium noch bei Pinder in München abschließen konnten und an deren chronologischem Ende von ­Simson steht, gehörten Ilse Dahl (1934), Walter Gersheim (1934), Paul Heilbronner (später Laporte, 1933), Edith Hoffmann (1934) und Ernst Kitzinger (1934); dazu Claudia Hahn, Anna Messner, Sandra Steinleitner, Einblicke – Ausblicke. Jüdische Kunsthistoriker in München. Ausstellung im Studienraum des Jüdischen Museums München (Oktober 2010 bis März 2011), München 2010, sowie die

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­entsprechenden Gutachten scheinen von völkischer Polemik frei, entstanden jedoch allesamt noch vor den Rassengesetzen vom September 1935. Zu fragen wäre überdies, ob Pinder mit seiner Äußerung, sofern sie denn das Klischee bediente, einen persönlichen Eindruck spiegelte oder eher einer Erwartungshaltung innerhalb der Fakultät entgegenkam. In einem Empfehlungsschreiben für seinen ehemaligen Freiburger Schüler hat Walter Friedlaender von Simsons Dissertation bald darauf sehr viel prägnanter charakterisiert, als Pinder es vermochte: „Die Arbeit ist sehr interessant und geht – trotz einiger allzu geschwollener Stellen und mancher unnötigen Längen (typisch für begabte Anfänger) – über das Niveau durchschnittlicher Doktor-­Arbeiten weit hinaus.“49 Der „nichtarischen“ Abstammung ihres Verfassers ungeachtet gelangte die Genealogie der weltlichen Apotheose zu zwei öffentlichen Würdigungen – beide, und das mag bezeichnend erscheinen, stammten aus der Feder von Dissidenten. Gustav Friedrich Hartlaub, der 1933 wegen seines Engagements für die moderne Kunst aus dem Museumsdienst entlassen worden und fortan freiberuflich tätig war, widmete dem Buch 1938 eine längere Besprechung in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft.50 Den ­„Aspektenreichtum und die Vielschichtigkeit dieser bedeutsamen Arbeit“ herauskehrend und ihrem historischen Zugriff als dem Gegenstand völlig angemessen zustimmend, plädiert Hartlaub gegen von Simson dafür, die Renaissance nicht nur als Epoche einer unfruchtbaren Hieroglyphik zu werten, denn mit den Werken Botticellis und Giorgiones habe sie auch eine „schöpferische Traumstimmung“ hervorgebracht, die eine Geschichte der Allegorie ebenfalls in Rechnung stellen müsse. Der Rezensent pointiert dann auch Rubens’ politische Haltung noch stärker, als von Simson dies getan hatte. Konservativ-„mittelalterlich“ sei dessen Einstellung gewesen, denn mit der Königin habe er sich für den spanisch-­katholischen entsprechenden Einträge in Wendland 1999 (wie Anm. 2). Zu Ilse Dahl, die in der neueren Forschung keine Beachtung fand: Raczyński 1993 (wie Anm. 1), 102, 123. Die entsprechenden Dissertationsgutachten sind im MUA überliefert. Zu Pinders Eintreten für jüdische Kollegen außerhalb der Universität auch Halbertsma 1992 (wie Anm. 3), 177. Pinder war zudem Präsident des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, der noch lange Schriften jüdischer Autoren publizierte: s. o. Anm. 19. 49 So Walter Friedlaender an Reverend Joseph Ostermann vom Committee for Catholic Refugees from Germany in New York, Dez. 1937. Friedlaender kannte von Simson aus dessen Freiburger Zeit (Wintersemester 1930/31) und unterstützte später seine Emigrationsbemühungen; s. dazu auch die Briefe von Simsons in New York, Leo Baeck Institute, Walter Friedlaender Papers, Letters: Otto von Simson. Zu seinem Studienbeginn in Freiburg auch von Simson 1994 (wie Anm. 2), 7. ­Friedlaender war seit 1935 am Institute of Fine Arts der New York University etabliert; vgl. Wendland 1999 (wie Anm. 2), I, 174. 50 Gustav Friedrich Hartlaub, Allegorie als Traum und als Leben (Zu Otto Georg von Simson „Zur Genealogie der weltlichen Apotheose im Barock, besonders der Medicigalerie des P. P. Rubens“, Straßburg, Heitz & Co., 1936), in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 32, 1938, 263 – 267. Zu Hartlaub: Wendland 1999 (wie Anm. 2), Bd. 1, 261 – 266. Die Auseinandersetzung mit der Traum-­Thematik hatte in Hartlaubs Familie Tradition; vgl. Harald Tausch, Félicie Hartlaubs Traumprotokolle aus dem ­Ersten Weltkrieg und die Beschäftigung mit dem Traum im Kreis ihrer Familie, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, 18, 2017/18, 19 – 53.

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Universalismus und damit „gegen den modernen Nationalismus Richelieus“ eingesetzt. Ob man dieser Aussage zustimmt oder nicht, so scheint es doch, als habe die Zeitgeschichte das kunsthistorische Sensorium für die Parteinahmen und politischen Standpunkte der Vergangenheit erheblich geschärft. In merkwürdigen Zweideutigkeiten ergeht sich dann auch ein anderer Rezensent, Carl Linfert nämlich, auch er für seine Distanz zum Regime bekannt, wenn er der barocken Apotheose attestiert: „Hier ist die Erinnerung an den göttlichen Beruf des Fürsten ausgestoßen aus jeglicher Sicherheit, und geblieben ist die Hoffnung auf göttliche Gerechtigkeit durch irdische Machtmittel.“51 Zugleich erkennt er einen „Zweifel-­Sinn und die Trauer der Allegorie über die Zufälle der Welt“. Auch Linfert zollt von Simsons Leistung höchste Anerkennung, glaubt allerdings, das Buch hätte noch gewonnen, wenn der Autor Hegels Theorien zur symbolischen Kunstform, den von Hegel beeinflussten Schnaase und die Einsichten zur literarischen Allegorie aus Walter Benjamins Forschungen über das deutsche Trauerspiel zur Kenntnis genommen hätte. Benjamin, mit dem Linfert befreundet war, lebte zu d ­ iesem Zeitpunkt bereits seit Jahren im Exil, seine Schriften waren in Nazideutschland verfemt. Seitens der spezialisierten Rubensforschung hat sich vor allem Emil Kieser mit von Simsons Dissertation auseinandergesetzt. Noch 1942, als der Rassenhass des NS -­ Regimes bereits in eine beispiellose Vernichtungsstrategie umgeschlagen war, erhielt der jüdischstämmige Autor einen prominenten Platz in Kiesers Bericht zur Rubensliteratur seit 1935, den die Zeitschrift für Kunstgeschichte – auch als Rückschau auf das Jubiläumsjahr von 1940 – damals publizierte.52 Mit annähernd zehn Spalten kommt von Simson mehr Raum zu als jedem anderen Beitrag, den der Rezensent in den Blick nimmt. Hubert Schrades Thesen zu Rubens’ „Herrenbewußtsein“ und seiner Verwendung von „Formen germanischer Ornamentik“ nachdrücklich abweisend, behandelt Kieser von Simsons Werk zwar streng, aber mit gebotener Sachlichkeit. Die Materialfülle anerkennend, konzentriert er sich im Folgenden ganz auf den zweiten, den der Medici-­Galerie gewidmeten Teil. Sein gewichtigster Einwand geht dahin, dass sich der Autor bisweilen „zu sehr im Banne des Gedanklichen bewege“, wohingegen „durch genaueres Betrachten […] der Kunstwerke selbst“, aber auch der Ölskizzen und Zeichnungen „konzisere Deutungen“ zu gewinnen möglich gewesen wäre. In anderen Fällen sei der Verfasser „spekulativen Überdeutungen“ aufgesessen. Beides versucht der Rezensent an einer Reihe von Details zu belegen. Gegen von Simsons Vorwurf der Hieroglyphik will er die Übergabe der Regentschaft (Abb. 7) rehabilitieren, denn das allgemein verständliche Motiv von der „Bewegung des Staatsschiffes hinaus aufs offene Meer“ habe der Autor nicht hinlänglich gewürdigt. 51 Der gedruckte Text ist im Nachlass von Simsons erhalten: BSB, Nachlass 290, Kasten 17, Mappe 5. Sein genauer Publikationsort, möglicherweise die Literaturbeilage einer Tageszeitung, hat sich bislang nicht ermitteln lassen. Zu Linfert vgl. Bredekamp 2010 (wie Anm. 3), 306. 52 Emil Kieser, Die Rubensliteratur seit 1935, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 10, 1941/42, 300 – 319, bes. 308 – 312.

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Die in methodischer Hinsicht aufschlussreichste Revision des Buches von 1936 verfasste Otto von Simson selbst. 1944, nach fünf Jahren im amerikanischen Exil, hat er sich anlässlich seines Aufsatzes Rubens and Richelieu, erschienen im Review of Politics, erneut zum Thema seiner Doktorarbeit geäußert.53 Für den von Karen Michels beschriebenen Prozess, wie sich die deutschen Emigranten an ihr neues akademisches Ambiente anpassten, wie sie Sprache, Methode und Denkweise ändern mussten, bietet der Text ein gewichtiges Argument.54 Gerechtfertigt wird der Beitrag durch seinen aktuellen Bezug, komme die Macht von Öffentlichkeit und Propaganda doch gerade in der Gegenwart unverhohlen zum Ausbruch. Mehr als in seiner Dissertation arbeitet von Simson jetzt den Anteil Richelieus, dessen Memoiren erst hier ausgiebig berücksichtigt sind, am Zustandekommen der Bildfindungen heraus. Rubens’ Gemälde werden zum Mittel einer Täuschungsstrategie erklärt, mit der Richelieu eine hispanophile Politik vorspielen wollte; und man liest über ihn den denkwürdigen Satz: „Richelieu’s sensibility to the possibilities of propaganda through art would make him nearly a modern man.“55 Die Medici-­Galerie liefert somit ein eindrucksvolles Beispiel für die Kunst im Dienste der Politik, wobei Politik jetzt die unmittelbar zeitgenössische Macht- und Realpolitik meint, nicht eine transzendente Idee vom idealen Zustand der Welt. Von der vormals postulierten Metaphysik ist in ­diesem Aufsatz ebenso wenig geblieben wie von einer theologischen Verklärung der Allegorien, die mithin sogar als bewusst uneindeutig, als politische Verschleierungstaktik gleichsam, begriffen werden.56 Das hatte die französische Forschung schon früher intuitiv ähnlich gesehen.57 Rubens’ Bilderserie war damit, von allen geistesgeschichtlichen Schlacken befreit, in der Realität des 17. Jahrhunderts angekommen. An eben jenen Wandel des Denkens dürfte Louise Alexandra von Simson gedacht haben, wenn sie 1962 in ihrem Rückblick auf das amerikanische Exil betonte, wieviel ihr Mann der englischen Sprache verdanke: „[…] and I personally think that he writes better in English than in German.“58 In verschiedenen späteren Einlassungen zur Medici-­Galerie, die Otto von Simson bis zu seinem Lebensende verfasst hat, ist er der Linie von 1944 treu geblieben.59 53 Otto Georg von Simson, Richelieu and Rubens: Reflections on the Art of Politics, in: The Review of Politics, 6, 1944, 422 – 451. 54 Karen Michels, Transplantierte Kunstwissenschaft: Deutschsprachige Kunstgeschichte im amerikanischen Exil, Berlin 1999, bes. 104 – 173. Der Prozess ist von den Emigranten selbst wiederholt beschrieben worden, am bekanntesten durch Erwin Panofsky, Three Decades of Art History in the United States: Impressions of a Transplanted European, in: ders., Meaning in the Visual Arts, Garden City 1955, 321 – 346; ebenso aufschlussreich Louise Alexandra von Simson, Happy Exile, (Privatdruck), Darmstadt 1981, 113 – 114, die – auch im Hinblick auf ihren Mann – bemerkt: „[…] most books written by European scholars in America show a curious tranformation in the writer.“ Der Text entstand 1962. 55 Von Simson 1944 (wie Anm. 53), 431. 56 Von Simson 1944 (wie Anm. 53), 435: „‚The Treaty of Angoulême‘ , and ‚The Hostilities Resumed‘ are so clever in their allegorical ambiguities that they could be all things to all men.“ 57 Michel 1902 (wie Anm. 16), 16. 58 Von Simson 1981 (wie Anm. 54), 114. 59 Otto von Simson, La Galérie de Médici et les dessins politiques de Richelieu, in: L’Œil, 125, 1965, 3 – 11; ders., La vita di Maria Medici nell’opera di Rubens, Mailand/Genf 1965, ders., Rubens

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Der amerikanische Lerneffekt, wenn man so will, trat übrigens schon an früherer Stelle zutage. Auch von Simsons bereits 1940 in den USA publizierter Aufsatz zum Bamberger Reiter (Abb. 8) geht im Grundlegenden auf seine deutsche Frühzeit zurück.60 Die ältere, durch den Nachlass bewahrte Fassung dürfte kurz nach 1937 entstanden sein und beginnt mit einem weitschweifigen methodologischen Vorspann, der einer nur „mit dem Ablesen und Entziffern der Erscheinungen“, der reinen Formanalyse also, sich begnügenden Kunstwissenschaft ihre „Oberflächlichkeit“ vorwirft. Sie zeuge von der Wirkung des Impressionismus und des Materialismus. Die Aufgabe der Kunstwissenschaft liege vielmehr darin, nach der „Seele“ aller Erscheinungen zu fragen, zu ihrem „Kern“ und ihrem „mythischen Wesen“ vorzudringen, das heißt, die Werke „aus der Mythologie des christlichen Weltbildes“ heraus nicht nur in ihrem „geschichtlich sich wandelnden Sinne“, sondern im Hinblick auf ihre „ewige Bedeutung“ zu erfassen. Mit stupender Gelehrsamkeit, die von der griechisch-­römischen Antike über die indogermanische Welt und das germanische Altertum zum deutschen Mittelalter schweift, wird dieser Anspruch – noch sehr viel ausführlicher als in der amerikanischen Publikation – am Bamberger Reiter eingelöst. Zwar stelle dieser Friedrich II. dar – bei der Porträtanalyse wird einmal mehr das Menschenbild der Scholastik beschworen –, sei aber zugleich Ausdruck einer solaren Symbolik, die der antiken Herrscherikonographie ebenso eigne wie den Darstellungen des Perseus, des heiligen Georg und Christi. Vor d ­ iesem Hintergrund erweist sich das Bamberger Bildwerk als Verkörperung der „Kaiseridee“ schlechthin. Zum Abschluss wird der einleitende Appell an das „Wesen des Sinnbilds“, das „geistige Element“, „das Religiöse“ und den „Weltgeist“ noch einmal verdichtet, jetzt allerdings erweitert um eine psychologische Kategorie – das „kollektive Unbewußte“ und das „überindividualistische Gedächtnis“.61 Die amerikanische Fassung hat den methodologischen Vor- und Abspann und damit auch die eher nebulösen Konzepte der deutschen Geistesgeschichte gänzlich fallengelassen, um sich ganz auf die religionswissenschaftlich-­ikonographische Betrachtung zu beschränken. Die Fruchtbarkeit der Jung’schen Vorstellung vom „kollektiven Unterbewußten“ hatte übrigens auch Hartlaub in seiner Besprechung der Dissertation hervorgehoben.62 Welche Verbindungen sich hier zu den neueren Erforschungen des „kulturellen Gedächtnisses“ ergeben, bliebe zu untersuchen. und der ‚Merkur‘ des Giambologna, in: Festschrift Ulrich Middeldorf, Berlin 1968, 434 – 4 46; ders., Rubens. Il ciclo di Maria de’ Medici, Mailand/Genf 1968; ders., Politische Symbolik im Werk des Rubens, in: Rubens. Kunstgeschichtliche Beiträge, hg. von Erich Hubala, Konstanz 1979, 7 – 35; ders., Peter Paul Rubens (1577 – 1640). Humanist, Maler und Diplomat, Mainz 1996, 229 – 285. 60 Otto Georg von Simson, The Bamberg Rider, in: The Review of Religion, 4, 1940, H. 3, 257 – 281; und dazu das Manuskript in BSB, Nachlass 290, Kasten 5, Mappe „Der Bamberger Reiter“. Die dort berücksichtigte Literatur reicht bis 1937; vgl. Anm. 2, 8, 98a, 116, 159. An diesen Text, S. 1 – 5, hält sich das oben Folgende. Eine noch ältere Fassung desselben Aufsatzes ist im Nachlass 290, Kasten 40, Mappe 7, bewahrt. 61 Von Simsons Manuskript zum Bamberger Reiter (wie Anm. 60), 42 – 44. 62 Hartlaub 1938 (wie Anm. 50), 265.

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Abb. 8 Bamberg, Dom, Der sog. Bamberger Reiter

5. Politische Ikonographie Ein abschließender Ausblick könnte aufzeigen, wie von Simson einzelne Gedanken aus seiner Dissertation später erneut aufgegriffen und weiterentwickelt hat. Das beträfe nicht nur Rubens. Die Vorstellung der gotischen Kathedrale als Abbild einer transzendenten Realität stand ihm 1936 bereits vor Augen,63 auch vom Bamberger Reiter ist schon hier die Rede,64 und das in der Doktorarbeit gegen Burckhardt behauptete Bild der Renaissance als einer im Kern religiösen, aus der Mystik heraus entwickelten Bewegung spielt eine 63 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 41: „In allen Äußerungen des mittelalterlichen Geistes, in der Architektur wie in der Philosophie äußert sich diese doppelte Bestrebung, das Sichtbare im Transzendenten zu rechtfertigen und das Ewige auf Erden wirklich werden zu lassen. […] An den Kathedralen tritt uns die ganze mittelalterliche Welt in den übersinnlichen Ordnungen und Beziehungen unübersehlicher Gestalten entgegen. Auf das Überwirkliche, Unsichtbare nimmt das ganze Bauwerk unmittelbar Bezug.“ 64 Von Simson 1936 (wie Anm. 20), 147.

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entscheidende Rolle in seiner Deutung von Masaccios Trinitätsfresko.65 Doch scheint es lohnender, an dieser Stelle einen anderen Aspekt zu berühren, den der Geschichte politischer Ikonographie, die in von Simsons wissenschaftlichem Werk eine so große Rolle spielen sollte. Schenkt man den jüngeren Exponenten dieser Richtung Glauben, so wäre Aby Warburgs Aufsatz von 1920 Heidnisch-­antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten als „Gründungsschrift“ der politischen Ikonographie zu werten.66 Ungeachtet des Weiterwirkens im Umfeld des Warburg-­Instituts hätte dann erst die „kritisch orientierte“ Kunstgeschichte der 1960er und 1970er Jahre den Ansatz als eigenständige Teildisziplin innerhalb des Faches etabliert.67 Natürlich stellt sich die Geschichte sehr viel komplizierter dar. 65 Otto von Simson, Über die Bedeutung von Masaccios Trinitätsfresko in Santa Maria Novella, in: Jahrbuch der Berliner Museen, 8, 1966, 119 – 159; wieder in ders., Von der Macht des Bildes im Mittelalter: Gesammelte Aufsätze zur Kunst des Mittelalters, Berlin 1993, 161 – 201. Beachtung verdienen in ­diesem Zusammenhang auch die in den frühen vierziger Jahren skizzierten Forschungsprojekte des Autors Gothic Mysticism and Renaissance Realism sowie The Franciscan Concept of Conformitas: Its Reflection in Art, its Importance for the History of Ideas, in denen es unter anderem um die „interrelation of aesthetic and religious vision in the period between St. Francis and Luther“ gehen sollte. Auch der religiöse Hintergrund der Linearperspektive als Verschmelzung von Realität und Vision hätte dabei eine Rolle gespielt. Vgl. BSB, Nachlass 290, Kasten 9, Mappe ­„Gothic Mysticism – Renaissance Realism“. Dasselbe Forschungsprojekt erwähnt der Lebenslauf von ca. 1943 in Kasten 41, Mappe 2. Überlegungen aus ­diesem Zusammenhang bietet überdies der Beitrag Otto Georg von Simson, Leonardo and Attavante, in: Gazette des Beaux-­Arts, 6e Pér., 24, 1943, 305 – 312, bes. 310. 66 So Martin Warnke, Politische Ikonographie: Quellen zur Bedeutung des Bildes in der politischen Propaganda, in: Bildindex zur politischen Ikonographie, hg. von der Forschungsstelle Politische Ikonographie, Hamburg 1993, 5 – 12, bes. 12. Dem folgt der wenig eigenständige Artikel von Urte Krass, Politische Ikonographie, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft 2001 (wie Anm. 14), 345 – 347. ­Warburgs Aufsatz von 1920 ist am besten zugänglich in Aby Warburg, Werke in einem Band, hg. von Martin Treml u. a., Berlin 2010, 424 – 491. Zwar entnimmt man dem Text einige Beobachtungen zur Bildpolemik der Reformationszeit, die mittelbar auch von politischer Bedeutung war, doch liegt die Akzentsetzung des Beitrags einmal mehr auf den astrologischen Bildinhalten, die in jener Frühzeit ganz im Zentrum den Denkens der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg standen. In den frühen programmatischen Erklärungen zu den Forschungsvorhaben der Bibliothek ist von politischer Ikonographie keine Rede. Zur Ikonisierung Warburgs durch die sog. „kritische Kunstwissenschaft“ vgl. auch Michael Diers, Von der Ideologie- zur Ikonologiekritik: Die Warburg-­Renaissancen, in: Frankfurter Schule und Kunstgeschichte, hg. von Andreas Berndt u. a., Berlin 1992, 19 – 39, sowie Otto Karl Werckmeister, Von Marx zu Warburg in der Kunstgeschichte der Bundesrepublik, in: Bild/Geschichte: Festschrift für Horst Bredekamp, hg. von Philine Helas u. a., Berlin 2007, 31 – 38. 67 Krass 2011 (wie Anm. 66), 347, die damit eine verbreitete Vorstellung spiegelt. Berechtigten Einspruch erhob bereits Daniela Bohde, Kulturhistorische und ikonographische Ansätze in der Kunstgeschichte im Nationalsozialismus, in: Kunstgeschichte im „Dritten Reich“. Theorien, Methoden, Praktiken, hg. von Ruth Heftrig, Olaf Peters und Barbara Schellewald, Berlin 2008, 189 – 204, sowie dies., Der politische Hintergrund der „politischen Ikonologie“: Von Hubert Schrade bis zu Reinhart Koselleck, in: Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, hg. von Hubert Locher und Adriana Markantonatos, Berlin 2013, 210 – 227, die das Interesse der NS-Zeit an ikonologischen und politischen Fragestellungen betont. Tatsächlich hatte schon Hans Jantzen in seinem Forschungsbericht zur Kunstwissenschaft des „Dritten Reiches“ betont, wie sehr das Pendel „von der

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Eine entscheidende Wurzel hat die Frage nach der politischen Aussage von Kunstdenkmälern in der klassischen Altertumswissenschaft. Selbstverständlich erkundeten schon jene frühen Antiquare, die sich im 16. und 17. Jahrhundert mit der Trajanssäule auseinandersetzten, wie es Alfonso Chacon 1576 und Giovanni Pietro Bellori 1672 taten, auch den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Darstellungen, obgleich die Analyse des Allgemeinen, nämlich der Militäraltertümer, ihr vorrangiges Erkenntnisinteresse ausmachte.68 Dennoch bildeten ihre Forschungen eine Grundlage für die genaue Rekonstruktion der dakischen Feldzüge, wie sie im 19. Jahrhundert etwa Conrad Cichorius vornahm.69 Ein anderer Strang, den es hier zu verfolgen gälte, wäre die Numismatik, die sich im Übrigen eindringlich der Deutung von Allegorien zu widmen hatte.70 Dort, wo sie sich mit neuzeitlichen oder gar zeitgenössischen Emissionen auseinandersetzte, konnten historische und panegyrische Intentionen durchaus ineinanderfließen, doch blieb die Frage nach der herrschaftsideologischen Aussage zentral. Einzelne kunsthistorische Denkmäler, deren politische Botschaft allzu sinnfällig wirken musste, so das Brückentor Friedrichs II. zu Capua, der Torbogen Alfons V. am Kastell von Neapel oder die Ausmalungen des venezianischen Dogenpalastes, haben dann ebenfalls schon in Zeiten der dominierenden Stil- und Formanalyse tiefergreifende ikonographische Deutungen hervorgerufen.71 Angesichts der behaupteten fachgeschichtlichen Deszendenz, die oben referiert wurde, mag schließlich die Feststellung überraschen, dass wesentliche Beiträge zur politischen oder zumindest zur Herrschaftsikonographie aus der deutschen Kunstwissenschaft der NS-Zeit hervorgingen. Hierzu – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Systematik – vorerst nur einzelne Andeutungen. Berüchtigt ist Hubert Schrades Deutsches Nationaldenkmal von 1934, begreift der Autor sein Buch doch ganz als Beitrag zur Erneuerung der Künste im völkischen Sinne.72

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formgeschichtlichen Phase“ jüngst „nach der ‚ikonologischen‘ Seite“ ausschlage. So ders., Deutsche Kunstwisssenschaft 1933 bis 1942, in: Forschungen und Fortschritte, 18, 1942, Nr. 35/36, 341 – 348, hier 343. Dass es unter dem NS-Regime zu durchaus fortschrittlichen methodischen Entwicklungen der Kunstwissen­schaft kam, betont auch Held 2003 (wie Anm. 3), bes. 41 – 4 4. Ingo Herklotz, Bellori, Fabretti and Trajan’s Column, in: Art History in the Age of Bellori, hg. von Janis Bell and Thomas Willette, Cambridge 2002, 127 – 144. Conrad Cichorius, Die Reliefs der Traianssäule, Berlin 1896 – 1900. Zur numismatischen Forschung der Renaissance u. a. John Cunnally, Images of the Illustrious. The Numismatic Presence in the Renaissance, Princeton 1999; für das 17. Jahrhundert vgl. die Bibliographien von Christian Edmond Dekesel, Bibliotheca nummaria II. Bibliography of 17th Century Numismatic Books, London 2003, und ders., Europäische numismatische Literatur im 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2005. Zu Capua: Ernst Kantorowicz, ­Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927 – 31, I, 483 – 489. Zu N ­ eapel: Cornelius von Fabriczy, Der Triumphbogen Alfonsos I am Castel Nuovo zu Neapel, in: Jahrbuch der Königlich Preussischen Kunstsammlungen, 20, 1899, 1 – 30, 125 – 158. Zu Venedig: Konrad Escher, Die grossen Gemäldefolgen im Dogenpalast in Venedig und ihre inhaltliche Bedeutung für den Barock, in: Repertorium für Kunstwissenschaft, 41, 1919, 87 – 125. Hubert Schrade, Das Deutsche Nationaldenkmal. Idee, Geschichte, Aufgabe, München 1934. Zu Schrade: Dilly 1988 (wie Anm. 20), 70 – 76; danach bes. Dietrich Schubert, Heidelberger Geschichte unterm Hakenkreuz: Professoren im Übergang zur NS-Diktatur und nach 1933, in: Kunstgeschichte

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Seine – durchaus kenntnisreiche – Geschichte des deutschen Denkmals sieht alle das Individuum exponierenden Monumente überaus kritisch, um stattdessen Lösungen zu befürworten, die – schon von ihrer architektonischen Gestalt her – Gemeinschaft stiften. Ein solches Nationaldenkmal setze jene deutsche „Nationwerdung“ voraus, die so lange auf sich warten ließ, bevor sie aus den Napoleonischen Kriegen, dem Weltkrieg und der nationalsozialistischen Revolution entscheidende Impulse empfangen habe. Das Gefallenengedenken gehöre zu diesen gemeinschaftlichen Aufgaben auch der Kunst, denen die Gegenwart nun endlich gerecht zu werden verspreche. Schrades Abhandlung untersucht gleichsam die mühsame Vorgeschichte dieser vielversprechenden Zukunft: Welche Ansätze, Patriotismus und Gemeinschaftsempfinden – „Volkheit“ – im Denkmalsbereich gebührenden Ausdruck zu verleihen, hatte es gegeben? Welche Erscheinungen galt es im Nachhinein als Irrwege zu verwerfen? Seine Ablehnung von „Demokratismus“ und Friedens­ utopien des 19. Jahrhunderts tritt dabei ebenso unverblümt zutage wie der Glaube an ein sinnhaftes Sterben im Weltkrieg.73 Solchen Trommelwirbeln gegenüber nimmt sich Ilse Dahls Das barocke Reitermonument (1935), ebenfalls eine von Pinder betreute Dissertation, recht harmlos aus.74 Zwar stehen mit der Veränderung des Reiterbildes z­ wischen Manierismus und Barock und dem im 17. Jahrhundert sich herauskristallisierenden Gegensatz von Italien und Frankreich zwei formgeschichtliche Fragen im Mittelpunkt der Arbeit, doch kommen mit der Wirkung des Denkmals im öffentlichen Raum, dem Spannungsverhältnis von individuellem Por­ trät und Sinnbild – des Condottiere oder des barocken Fürsten –, der Siegessymbolik und ihren Allegorien und der Feststellung, dass die Idee des gottgewollten Herrschers zunehmend größeres Gewicht erlangte, Ansätze hinzu, die der politischen Ikonographie eignen. Gegen Ende des Jahrzehnts kamen zwei übergreifende Untersuchungen auf den Buchmarkt, die noch lange Zeit das Prädikat des Standardwerks beanspruchen konnten. 1939 legte Werner Haftmann – wie von Simson 1912 geboren – seine Geschichte des Säulenmonuments vor, die vom archaischen Griechenland bis zur italienischen Renaissance reicht und zugleich eine erste Geschichte des Denkmalsgedankens als solchem beinhaltet.75 Mit Formfindung, Ikonographie, Auftraggebern, Standorten und den Staatsakten, in denen die Denkmäler eingebunden sein konnten, ist nahezu das gesamte Fragenspektrum abgedeckt, das man auch heute von einer entsprechenden Untersuchung erwartet. Die Entwertung der antiken Denkmalsvorstellung in christlicher Zeit und die mannigfachen im „Dritten Reich“ 2008 (wie Anm. 67), 65 – 86, hier 71 – 83, sowie Nicola Hille, „Deutsche Kunstgeschichte“ an einer „deutschen Universität“: Die Reichsuniversität Straßburg als nationalsozialistische Frontuniversität und Hubert Schrades dortiger Karriereweg, in: ebd., 87 – 102. 73 Schrade 1934 (wie Anm. 72), 37, 67, 102 – 103, 115. 74 Ilse Dahl, Das barocke Reitermonument, (Diss. München 1934), Düsseldorf 1935. Vorausgegangen war das Buch von Otto Grossmann, Das Reiterbild in Malerei und Plastik, Berlin 1931, der das Problem in erster Linie unter hippologischen Gesichtspunkten – Pferderassen, Gangarten, Reit­ figuren und deren naturgetreue Wiedergabe – gesehen hatte. Für Ilse Dahl vgl. Raczyński 1993 (wie Anm. 1), 102, 123. 75 Werner Haftmann, Das italienische Säulenmonument, (Diss. Göttingen 1936), Leipzig/Berlin 1939.

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Anstrengungen zur Christianisierung antiker Säulenzeichen finden im Folgenden ebenso Beachtung wie die Erinnerung an die antike Denkmalsform im Mittelalter. Welche Rolle spielte das Säulenmonument im kollektiven Bewusstsein noch, obwohl es mit seiner klassischen Sinngebung nicht mehr zur Anschauung kam? Jung’sche Theorien benötigte Haftmann für seinen grundlegenden Beitrag zur Antikenrezeption nicht, wie denn die keineswegs nur aus wissenschaftsgeschichtlichem Blickwinkel noch immer lesenswerte Darstellung insgesamt durch ihre Materialfülle und -nähe besticht. Einen ähnlichen Überblick, den Bogen vom Alexander-­Mosaik aus Pompeji bis hin zu Goyas Erschießung der Aufständischen spannend, brachte im selben Jahr Werner Hager mit seinem Buch Das geschichtliche Ereignisbild heraus.76 Schon zehn Jahre früher war Hager mit einer Arbeit zu den päpstlichen Ehrenstatuen an die Öffentlichkeit getreten.77 Die 1939 behandelten Werke beschränken sich auf annähernd zeitgenössische Ereignisse – Schlachtenbilder stehen erwartungsgemäß an erster Stelle –, die der Künstler oder sein Auftraggeber noch als Augenzeuge hätte wahrnehmen können. Nicht nur die Auswahl der Bildbeispiele, auch die metaphysische Tendenz des Autors ist von Simson verpflichtet, der wiederholt zitiert wird. Ganz wie sein Vorgänger kritisiert Hager zudem die „Verkopfung“, von Simsons Hieroglyphik, in der Kunst des 16. Jahrhunderts, und im Einklang mit ihm begreift er den Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert in erster Linie als einen bei inhaltlicher Kontinuität erzielten formalen Gewinn, der dazu geführt habe, dass sich im Barockzeitalter das „Ideal des großen Menschen zu fast schrankenloser Macht über die Phantasie“ erheben konnte.78 Anders als die vorangehende Untersuchung macht Hager indes keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen die Allegorie, welch letztere ihm allenfalls noch im Œuvre Rubens’ annehmbar erscheint. 1939 meldete sich dann auch von Simsons Lehrer Hans Gerhard Evers mit einer einschlägigen Sammlung zeitlich breit gestreuter Studien zu Wort, die unter dem Titel Tod, Macht und Raum als Bereiche der Architektur erschien.79 Die ästhetisierende Kunstgeschichte à la Riegl und den gesamten kunstwissenschaftlichen Formalismus mit seinen „Grundbegriffen“ wie kein Zweiter in Frage stellend, hebt Evers auf Funktionsfragen, auf die Ausbildung architektonischer Machtsymbole wie auch auf die Wirkung von Traditionen und Rezeptionen ab. Frühe Ansätze von Architekturanthropologie und -ikonographie werden dabei deutlich. Auch war das Problem der Architekturkopie bis dato nie so eindringlich problematisiert worden, wie Evers es mit seinem Kapitel über Herrenchiemsee angeht. Die Bezugnahme Ludwigs II . von Bayern auf den Sonnen­könig Ludwig XIV . stellt den ikonologischen Hintergrund dieser Rezeption dar. Weniger die Betonung des Germanischen im Grabmal Theoderichs und des Ahnenkults als Antrieb 76 Werner Hager, Das geschichtliche Ereignisbild. Beitrag zu einer Typologie des weltlichen Geschichtsbildes bis zur Aufklärung, (Habil.schrift Heidelberg 1936), München 1939. 77 Werner Hager, Die Ehrenstatuen der Päpste, (Diss. Basel 1927), Leipzig 1929. 78 Hager 1939 (wie Anm. 76), 158. 79 Hans Gerhard Evers, Tod, Macht und Raum als Bereiche der Architektur, München 1939, 2. Aufl., München 1970. Zu Evers vgl. die Literatur in Anm. 8.

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der Architektur als die Verwendung des Rassenbegriffs – statt Nation, Land, Kunstlandschaft … – und die Feier des Deutschtums von Dehio in scharfer Abgrenzung zur „internationalen Geistigkeit“ Riegls lassen den offiziellen Zeitgeist in einzelnen Passagen durchscheinen.80 Haftmann, Hager und Evers greifen allesamt in den Bereich der archäologischen Forschung hinein und führen damit eindringlich vor Augen, dass eine moderne Geschichte der politischen Ikonographie nur im Zusammenspiel mit der Nachbardisziplin geschrieben werden kann, um so mehr, als diese zur Zeit des NS-Regimes – man denke an Andreas Alföldis große Aufsätze zur Ausgestaltung des höfischen Zeremoniells und zu den Insig­ nien und Trachten der römischen Kaiserzeit oder an Hans Peter L’Oranges und Armin von Gerkans Untersuchung der spätantiken Friese des Konstantinsbogens – ebenfalls Einschlägiges und zudem höchst Niveauvolles auf dem Gebiet der politischen Repräsentation zu Wege brachte.81 Zu betonen bliebe noch, dass in jenen Jahren auch die ephemeren Dekorationen politischen Zuschnitts und das Hofzeremoniell als alternative Formen von Bildlichkeit in den Blick traten. Verwiesen sei nur auf Irmengard von Roeder-­Baumbachs Münchner Dissertation Niederländische Einzugsdekorationen des 16. und 17. Jahrhunderts von 1941.82 Zeremonialgeschichtlich orientiert ist dann auch ein Klassiker der Byzantinistik, nämlich Otto Treitingers vier Jahre ältere, mehrfach neu aufgelegte Abhandlung Die oströmische 80 Dass Evers, lange unter Druck wegen seiner jüdischen Ehefrau, sich seit 1938 als getreuer Diener des Regimes zu profilieren suchte, macht Fuhrmeister 2005 (wie Anm. 8) deutlich. 1939 behauptete Evers über Tod, Macht und Raum: „Obwohl in ­diesem Buch der Name des Führers nicht genannt ist, so ist doch jeder Satz, jeder Gedanke mit dem Hinblick auf ihn, als den größten Bauherrn Deutschlands geschrieben.“ Zit. in: Fuhrmeister 2005, 223. Man wird diese Aussage schon deshalb als Propaganda in eigener Sache auslegen dürfen, weil die Anfänge des Buches noch in die Zeit vor der NS-Herrschaft zurückreichen. So betont es Evers 1939 (wie Anm. 79), V, im Vorwort selbst. Das Kapitel zur Breitrichtung der Basilika, ebd., 109 – 167, beruht auf der Münchener Habilitationsschrift von 1932. 81 Andreas Alföldi, Die Ausgestaltung des monarchischen Zeremoniells am römischen Kaiserhofe, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Röm. Abt., 49, 1934, 3 – 118; ders., Insignien und Trachten der römischen ­Kaiser, ebd., 50, 1935, 3 – 158. Beide Aufsätze erschienen später gemeinsam in Buchform: Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreich, Darmstadt 1977. Vgl. ferner Hans Peter L’Orange, Armin von Gerkan, Der spätantike Bildschmuck des Konstantins­ bogens, Berlin 1939. – Bezeichnenderweise hat die Trennung der Disziplinen von Archäologie und Kunstgeschichte, die in den letzten Jahrzehnten zugunsten einer Öffnung der Kunstwissenschaft in Richtung Bild- und Medienwissenschaft eher zu- als abgenommen hat, nicht nur den Blick auf die Geschichte der politischen Ikonographie verengt, sondern auch auf diese selbst. Das durchaus verdienstvolle Handbuch der politischen Ikonographie 2011 (wie Anm. 30) krankt vor allem daran, dass es die antiken Vorstufen der neuzeitlichen Repräsentation nicht gebührend in Rechnung stellt. Vgl. die Rez. in Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 92, 2012, 640 – 6 43. 82 Irmengard von Roeder-­Baumbach, Niederländische Einzugsdekorationen des 16. und 17. Jahrhunderts, unpubl. Diss. München 1941. Referent war Hans Jantzen. Auch Roeder-­Baumbach zitiert von Simsons Dissertation.

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Abb. 9 Ludwig Dettmann, Die Sieger, Schloß Großlaupheim, Museum zur Geschichte von Christen und Juden

­ aiser- und Reichsidee.83 Zu untersuchen wäre überdies, wie die deutsche Forschung zu der K des Auslands stand. Bei der Lektüre von Treitinger kommt zwangsläufig André G ­ rabars berühmtes Werk L’empereur dans l’art byzantin von 1936 in den Sinn.84 War die politische Ikonographie überhaupt eine – ausschließlich – deutsche Erfindung, wie es heute gern suggeriert wird? Der hier skizzierte, künftig zu erweiternde Befund einer an Politik und Herrschaftsikonographie ausgerichteten Forschung gerade unter dem NS -Regime kann kaum überraschen. Dass eine am Bild orientierte Wissenschaft zu einer Zeit, in der die Produktion politisch wirksamer Bilder und Monumente einen Stellenwert einnahm wie nie zuvor, sich den aus verwandter Absicht entstandenen visuellen Medien der Vergangenheit zuwandte, scheint nur folgerichtig. Erstaunen könnte es vielmehr, wenn die genannten Untersuchungen, sieht man von Schrades Nationaldenkmal ab, in ideologischer Hinsicht überwiegend wertneutral gehalten sind und die nationale Rhetorik weitaus weniger bedienten, als entscheidende Bereiche der zeitgenössischen Stilgeschichte es taten. Mit Jutta Held wäre daran zu erinnern, dass der NS -Staat zumindest bis zum Ausbruch des Krieges offenbar gewisse Freiräume zuließ, nicht zuletzt, damit die deutsche Wissenschaft im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig blieb und 83 Otto Treitinger, Die oströmische K ­ aiser- und Reichsidee nach ihrer Ausgestaltung im höfischen Zeremoniell, (Diss. München 1938), Jena 1938 und spätere Auflagen. 84 André Grabar, L’empereur dans l’art byzantin. Recherches sur l’art officiel de l’empire d’Orient, Paris 1936. Vorangegangen war dem allerdings ein analoges Werk deutscher Herkunft: Percy Ernst Schramm, Die deutschen K ­ aiser und Könige in Bildern ihrer Zeit, Berlin 1928. Von dem Interesse, auf das Grabars Buch gerade in der deutschen Forschung stieß, zeugen auch die eingehenden Rezensionen von Helmut Schlunk, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 7, 1938, 349 – 353, und Hugo Buchthal, in: Kritische Berichte zur kunstgeschichtlichen Literatur, 7, 1938, 19 – 24. Aus dem Grenzbereich von Byzantinistik und klassischer Archäologie ist auch zu nennen Gerda Bruns, Der Obelisk und seine Basis auf dem Hippodrom zu Konstantinopel, Istanbul 1935.

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auf diese Weise mittelbar zum Ansehen des Volkes beitrug.85 Diese scheinbare Toleranz hörte erwartungsgemäß dort auf, wo die Kunst und ihre Vermittlung auf größere Breitenwirkung abzielten, das heißt bei der Volkserziehung des Museumswesens. Werner Hagers Thema war bereits 1935 zum Gegenstand einer Ausstellung der Berliner Nationalgalerie geworden.86 Unter dem Motto Das Ereignisbild führte man dort 155 Exponate aus deutscher Graphik, Druckgraphik und Malerei zusammen, die seit Dürer bis in die jüngste Vergangenheit hinein entstanden waren. Als Höhepunkt der Reihe pries die begleitende Broschüre das Bild Der erste Mai von Ludwig Gies, welches das „neue Gemeinschaftsleben“ auf sinnbildlich-­allegorische Weise vollendet zur Anschauung bringe und deshalb zu Recht den 1. Preis des Wettbewerbs der Deutschen Arbeitsfront erhalten habe.87 Wie man dem Geleitwort Niels von Holsts entnehmen konnte, verfolgten die Ausstellungsmacher einen überraschend hohen Anspruch: Die Werkschau, so liest man dort, „führt zu sehr zeitgemäßen Problemen“, und ihr Sinn sei erst erfüllt, „wenn nicht nur der Kunstfreund sie verstehend genießt, sondern auch der schaffende Künstler sie mit Nutzen betrachtet und der Auftraggeber, der das Kunstwollen des Staates verkörpert, ihr Anregungen entnimmt.“88 Man zweifelt, ob die hier angesprochenen Kunstliebhaber lediglich zum Genuss angeleitet werden sollten. Neben den Triumphen, den höfischen und diplomatischen Darstellungen, den Aufständen und Naturereignissen dominierten in den ­Ausstellungsräumen die Schlachtenbilder, ­welche annähernd ein Viertel des Bestandes ausmachten. Besonderes Gewicht kam dabei den Weltkriegsgemälden zu, die natürlich nicht Otto Dix und andere Kriegsgegner, sondern Oswald Poetzelberger, Heinrich Heidner und vor allem Ludwig Dettmann, von 1914 bis 1918 als offizieller Kriegsmaler tätig, beigesteuert hatten (Abb. 9). So mochte die Betrachtung der Exponate bei vielen Besuchern dema­gogische Behauptungen von der unbesiegten Wehrmacht, dem Dolchstoß und dem Schandfrieden von Versailles in Erinnerung rufen. Zugleich wurde hier eine über Jahrhunderte sich erstreckende Normalität militärischer Auseinandersetzungen im menschlichen Leben suggeriert. Was die langfristige Wirkung der wissenschaftlichen Arbeiten jener Jahre angeht, so sei lediglich betont, dass sich der prominenteste Vertreter politischer Ikonographie neueren Zuschnitts, Martin Warnke nämlich, ganz wie von Simson über Jahrzehnte hinweg mit 85 Jutta Held, Hans Jantzen an der Münchner Universität (1935 – 1945), in: 200 Jahre Kunstgeschichte in München 2003 (wie Anm. 2), 154 – 167, hier 154. Mit Blick auf den Deutschen Verein für Kunstwissenschaft als einen solcher Freiräume schon ähnlich Dilly 1988 (wie Anm. 19), 41, und H ­ albertsma 1992 (wie Anm. 3), 177. 86 Niels von Holst, Anni Paul-­Pescatore, Das Ereignisbild. Berlin, April bis Juni 1935 (Ausstellungsfolge Deutsche Kunst seit Dürer, Bd. II), Berlin 1935. Abgesehen von der Einführung bietet der Katalog nicht mehr als eine Liste der Exponate. Zu dieser Ausstellung auch Timo Saalmann, Kunstpolitik der Berliner Museen 1919 – 1959, Berlin 2014, 182 – 186. 87 Von Holst, Paul-­Pescatore 1935 (wie Anm. 86), 5. Zu Niels von Holst auch Saalmann 2014 (wie Anm. 86), 221 – 223. 88 Von Holst, Paul-­Pescatore 1935 (wie Anm. 86), 6.

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Rubens und dem Medici-­Zyklus beschäftigt hat.89 Dabei lebt schon Warnkes Dissertation Kommentare zu Rubens (1965) nicht zuletzt von der Reibung mit dem älteren Kollegen. Dessen Rubens-­Bild eines vollendeten Gestalters fürstlichen Denkens und Wollens stellt Warnke den Kritiker des Absolutismus gegenüber, der selbst dem Medici-­Zyklus sein „bürgerliches“ Staatsverständnis à la Hugo Grotius „eingeschmuggelt“ habe.90 Welche Charakterisierung des Malers überzeugender erscheint, mag jeder Leser nach Lektüre der beiden Autoren selbst entscheiden. Wenn von Simsons Buch Zur Genealogie der weltlichen Apotheose im Barock indes Jahrzehnte nach der Publikation noch auf Widerspruch stieß, so zeugt auch dies von seiner Bedeutung.

89 Martin Warnke, Kommentare zu Rubens, Berlin 1965, 45 – 53, zur politischen Haltung des Malers und, 53 – 58, zum Medici-­Zyklus. Spätere Äußerungen dann vor allem bei Warnke, Peter Paul Rubens: Leben und Werk, Köln 1977; ders. 1993 (wie Anm. 23); ders., Rubens. Leben und Werk, Köln 2006. 90 Warnke 1965 (wie Anm. 89), 57 – 58; zur Auseinandersetzung mit von Simson auch ebd., 102 – 103, Anm. 220 und 225. Von Simson, Rubens und der ‚Merkur‘ 1968 (wie Anm. 59), 444 – 445, Anm. 11, hat darauf nachdrücklich geantwortet.

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Anhang Wilhelm Pinders Gutachten zur Dissertation von Otto von Simson (München, Universitätsarchiv, O-Np-WS 1935/36) Eine wesentlich „geistesgeschichtliche“ Arbeit. Die weltanschaulichen Voraussetzungen der gestalteten Form nehmen einen grösseren Raum ein als diese selbst. Darin liegt eine heute allgemein sich vollziehende Wendung vor – auch eine Gefahr (wie man an Panofsky beobachten könnte). Der Verfasser, ein zartfühlender Bildungsmensch, ungewöhnlich aufnahmebereit, lesefreudig, war d ­ ieser Gefahr auch ausgesetzt: in der Überfülle des nicht sichtbar Geformten zu ersticken. Er hat sich dagegen – sicher bewusst – gewehrt und seine Betrachtung schliesslich noch in den sicheren Hafen wirklicher Formbetrachtung einlaufen lassen. Die Aufgabe aber ist sehr sinnvoll, sie konnte auch nur durch eine Verbindung allgemein geschichtlichen, philosophischen u. kunstgeschichtl. Denkens gelöst werden. Im Wesentlichen ist dies geschehen. Man muss freilich sehr genau lesen, um nicht die ganze Entwicklung als ein einziges „Nachleben“ antiker Symbolik u. Allegorik misszuverstehen. Es ist jedoch eine wirkliche Entwicklung dargestellt: die „Saekularisierung“ der Symbole, der Weg von mythisch „wirklichen“ Göttern zu „reinen Mächten der Seele“; die Erstarrung der allegorischen Figuren im Mittelalter zu „abstrakten Formeln des Geistes“, ihre Neubelebung u. zugleich Erschütterung in den folgenden Jahrhunderten, die „Krise des Symbolismus“, die namentlich in der „Hieroglyphik“ gefunden wird, die Überwindung in Rubens, der „das Gefühl für den mächtigen Menschen“ mit Formen so hoher Ahnenreihe durchsetzt – im ­kurzen Ausblick der Sturz der Symbole. Es ist völlig richtig, dass dieser ganze Vorgang, der sehr kunstgeschichtlich aussieht, eine Geschichte der religiösen Gesinnung bedeutet. Man wird also eine ­solche Arbeit als kunstgeschichtlich ansehen dürfen, sobald der ursächliche Zusammenhang in rechten Verhältnissen gesehen ist. Dies darf in ­diesem Falle zugestanden werden. Dieses und der ausserordentliche Fleiss, mit dem Verf. zahlreiche sehr bezeichnende Tatsachen (Trionfi, ­Theater, Hieroglyphik u. s. w.) aufgefangen (und richtig bezogen) hat, verdient ein grosses Lob. Das Sprachliche ist im Wesentlichen auf sehr anständiger Höhe. Zu oft kommt freilich das Wort „doch“ vor, zu häufig „welcher“ statt „der“, und manieriert wirkt „als welcher“ (im Stile Schopenhauers) bei einem jungen Menschen von heute. Dass hier ein sehr aussichtsreicher Kunsthistoriker stecke, möchte ich nicht behaupten. Aber ein sehr kluger Bildungsmensch – keine sehr schöpferische Kraft: hat eine grosse und schwierige Aufgabe mit Fleiss, Begabung, Gestaltungskraft wie sprachlichem Können bis zu einer schon sehr beachtlichen Klarheit durchgeführt. Daher: für Zulassung und Annahme der Arbeit als valde laudabilis (I) Pinder Berlin 17.I.36

Karen Michels

„Eine Empfehlung vom lieben Gott persönlich“ Wie man als jüdisch-­katholischer Kunsthistoriker einen Weg in die USA fand

Wissenschaftler verloren ihre Stellen oder blieben chancenlos, Kunstkritiker verloren ihre Publikationsmöglichkeiten, „Nichtariern“ verbot man, mit Kunst zu handeln. Etwa 250 Kunsthistoriker – rund ein Viertel der damaligen Fachvertreter – wurden durch die nationalsozialistische Politik in die Emigration gezwungen.1 Von den ihres Amtes enthobenen Kunsthistorikern konnten 35 untertauchen, 5 kamen in Konzentrationslagern zu Tode.2 Etwa die Hälfte der emigrierten Kunsthistoriker ließ sich in den USA nieder. Hier haben 25 Universitäten, 30 Colleges, 15 Museen und 10 sonstige Institutionen (zusammen etwa 80) im Zeitraum von 1933 bis 1945 deutschsprachige Kunsthistoriker aufgenommen. Eine überbrückende Rolle spielte das Institute for Advanced Study in Princeton, das im Zeitraum von 1935 bis 1963 mindestens 15 Emigranten temporär die Möglichkeit zur freien wissenschaftlichen Betätigung bot. Viele von ihnen sind aus der Erinnerung der deutschen Kunstgeschichte verschwunden. Mit Paul Frankl aus Halle und Erwin Panofsky aus Hamburg befanden sich auch zwei Ordinarien unter den Entlassenen – wobei zu berücksichtigen ist, dass überhaupt lediglich drei von 30 kunstgeschichtlichen Ordinariaten mit Wissenschaftlern jüdischer Abstammung besetzt waren (das dritte hatte Adolph Goldschmidt inne gehabt, der aber schon seit 1930 emeritiert war und 1939 in die Schweiz ausgewandert ist).3 Unter den emigrierten Kunsthistorikern gehörte Otto von Simson zum großen Kreis der Berufsanfänger. Dennoch war seine Stellung eine besondere. Denn einerseits war er zwar von der nationalsozialistischen, anti-­jüdischen Rassenpolitik betroffen, andererseits gehörte er jedoch der katholischen ­Kirche an; aufgewachsen war er als Protestant. Als Katholik jüdisch-­protestantischer Herkunft saß er ­zwischen allen Stühlen: Simsons Familie hatte sich im preußischen Berlin hohes Ansehen erworben. Sein Urgroßvater, ein Kaufmann aus Königsberg, war 1823 getauft und 1888 geadelt worden; seine M ­ utter entstammte der jüdischen Familie Oppenheim. Vor d­ iesem Hintergrund erscheint seine Konversion noch heute als ein äußerst ungewöhnlicher Schritt. Über die Gründe kann man 1 2 3

Karen Michels, Transplantierte Kunstwissenschaft. Deutschsprachige Kunstgeschichte im amerikanischen Exil (Studien aus dem Warburg-­Haus, Bd. 2), Berlin 1999. Für die vielfältige Unterstützung bei der Recherche zu ­diesem Text danke ich sehr herzlich Ingo Herklotz. Ulrike Wendland, Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler, 2 Bde., München 1999, Bd. 1, 59. Heinrich Dilly, Adolph Goldschmidt (1863 – 1944). Normal Art History im 20. Jahrhundert, hg. von dems. und Gunnar Brands, Weimar 2007.

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nur spekulieren – vermutlich hingen sie mit seiner Heirat zusammen. Simsons Ehefrau Louise Alexandra (genannt Lulix), eine geborene Prinzessin von Schönburg-­Hartenstein, entstammte einem alten schwäbischen, auch in Böhmen und in Österreich ansässigen, hochadligen und politisch damals noch immer, vor allem in Österreich, einflussreichen Geschlecht.4 Die weit verzweigte Familie war katholisch und pflegte beste Beziehungen zum höheren Klerus. Otto von Simsons Konversion fand 1937, kurz nach der Hochzeit am 31. Oktober 1936, statt, und sie wurde begleitet von einem Freund der Familie seiner Frau, Pater Georg SJ, einem Sohn des letzten Königs von Sachsen.5 Vielleicht war es auch diesen familiären Verbindungen zu verdanken, dass sich von ­Simson 1937 und 1938 als Redakteur für die Zeitschrift Hochland betätigen konnte, einem seit 1903 bestehenden, von einem anspruchsvollen Kreis überkonfessioneller Autoren getragenen Kulturorgan. Das Hochland stand für katholischen Konservativismus gepaart mit christlicher Sozialverantwortung und für einen deutlichen Abstand zu allem, was sich dem Nationalsozialismus näherte. 1937 publizierte von Simson darin einen Artikel über den Maler Ferdinand von Rayski – auch ­dieses Thema verweist auf die Familie der Ehefrau, zählte von Rayski doch zu den bedeutendsten Porträtisten des sächsischen Adels.6 1938 informierte er seine Leser über einige Schriften eines amerikanischen Hochschulreformers, Robert M. Hutchins, darunter dessen 1936 erschienene Studie über The Higher Learning in America; Hutchins war mit dem Herausgeber des Hochland, Franz ­Josef Schöningh, befreundet. Dieser unter dem Titel Reformbestrebungen an amerikanischen Universitäten publizierte Artikel sollte sich – und so war es möglicherweise auch beabsichtigt – für von Simsons Exilkarriere als das entscheidende Movens erweisen.7 Wegen ihrer jüdischen Abstammung oder ihres Eintretens für die moderne Kunst wurden in Deutschland ab 1933 zahlreiche Museumsbeamte und Hochschullehrer entlassen oder in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, Studierende der Universität verwiesen, von Promotion und Habilitation ausgeschlossen. Nicht-­Juden, die sich für moderne Kunst eingesetzt, die ­solche gekauft oder ausgestellt hatten, waren ebenfalls gefährdet – so zum Beispiel Alexander Dorner, erfolgreicher Direktor des Provinzialmuseums in Hannover, der 1936 aus Protest gegen die Zwangsschließung der modernen Abteilung seines Hauses zurückgetreten war. 1937 floh er vor Berufsverbot und drohender Verhaftung in die Vereinigten Staaten. 1939 hatten nahezu alle in Deutschland und Österreich tätigen Kunsthistoriker jüdischer Abstammung und damit ein Viertel aller Fachvertreter den unmittelbaren Machtbereich der Nationalsozialisten verlassen. Ob Otto von Simson überhaupt zum Kreis der vertriebenen Kunsthistoriker zählen würde, 4 5 6 7

So war der Bruder seines Schwiegervaters, Fürst Aloys Schönburg-­Hartenstein, österreichischer Verteidigungsminister. Otto von Simson, Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290, Kasten 41: Joseph A. Raczyński, Mit Otto gemeinsam Erlebtes, in: Erinnertes. 1914 – 1948, 1993, 170 (Ms.). Otto von Simson, Ferdinand von Rayski, in: Hochland, 34, Bd. 2, 1937, 508 – 511. Otto von Simson, Reformbestrebungen an amerikanischen Universitäten, in: Hochland, 35, Bd. 2, 1937/38, 468 – 476.

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war lange unklar, seine Stellung innerhalb der nationalsozialistischen Rassenhierarchie zunächst nicht genau definiert. Das lag vor allem an seinem Vater. Ernst von Simson war lange Jahre auf hohen Posten im Auswärtigen Amt tätig gewesen und hatte zuletzt dessen Rechtsabteilung geleitet; 1922 aus freien Stücken in den einstweiligen Ruhestand versetzt, hatte er sich seitdem als „prominenter Vertreter der deutschen Wirtschaft und in Vorständen und Aufsichtsräten weltweit agierender Unternehmen“ betätigt.8 Im Verlauf der zwanziger Jahre erwarb er sich als im Auftrag des Auswärtigen Amts agierender Unterhändler zahlreicher bilateraler, im Zusammenhang mit den Locarno-­Verträgen gebildeter Kommissionen einen exzellenten Ruf. Im April 1933 jedoch benachrichtigte man ihn von seiner bevorstehenden endgültigen Versetzung in den Ruhestand. Aufgrund der „Nürnberger Gesetze“ hätte Ernst von Simson in die Kategorie „Jude“ gruppiert werden müssen. Unterstützt von Staatssekretär Wilhelm von Bülow stellte er Ende 1935 jedoch einen „Antrag auf Befreiung und Herabstufung zum Mischling.“9 Obwohl selbst Reichsaußenminister von Neurath diesen Antrag nachdrücklich befürwortete, indem er von Simsons bedeutende Verdienste auf dem Gebiet der deutschen Außenpolitik hervorhob, musste dieser jedoch am 26. 8. 1936 erfahren, dass „der Führer und Reichskanzler dem Antrag nicht entsprochen habe.“10 Er galt nun offiziell als Jude, und seine Kinder auch. Ernst von Simson emigrierte, tief getroffen, Anfang 1939 zusammen mit seiner Frau nach Oxford, wo er 1941 starb. Mit dieser Entscheidung war Otto von Simson das Bleiben in Deutschland verwehrt. Denn auch getaufte Juden litten unter einem wachsenden, auf Deportation abzielenden Verfolgungsdruck – was bedeutet, dass man nicht nur beruflich keine Chancen hatte, sondern sich auch in Lebensgefahr begab, wenn man weiterhin in Deutschland verblieb. Welche Möglichkeiten gab es? Otto von Simson bemühte sich, der Aktenlage nach, bereits Mitte 1936 um eine Tätigkeit außerhalb Deutschlands. Im Normalfall verlief der Emigrationsvorgang über zwei Stiftungen, die englische Society for the Protection of Science and Learning (SPSL ) und das amerikanische Emergency Committee (EC ). Hauptziele waren Großbritannien und die Vereinigten Staaten. Vor allem hier waren heimatlos gewordene Akademiker politisch grundsätzlich erwünscht – was natürlich nicht bedeutete, dass jeder sofort eine Stelle erhielt. Beide Organisationen jedoch waren zu dem späten Zeitpunkt, zu dem sich von Simson zur Emigration entschloss, bereits von Hilfsgesuchen überflutet. Vielleicht auch aus d ­ iesem Grund wandte sich von Simson an eine Institution, die unter den vertriebenen Kunsthistorikern nur wenigen offenstand – an das Committee for Catholic Refugees from Germany. Für das professionelle Fortkommen unerlässlich waren Empfehlungsschreiben möglichst bedeutender, möglichst auch im Ausland bekannter Fachvertreter. Aus dem Juli 1936 datiert denn auch ein Empfehlungsschreiben des Doktor­ vaters Wilhelm Pinder, offensichtlich mit Hinblick auf einen Stipendienantrag für eine 8

Norbert Gross, Ernst von Simson, Im Dienste Deutschlands: Von Versailles nach Rapallo (1918 – 1922), (Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe, Bd. 28), Karlsruhe 2013, 10. 9 Gross (wie Anm. 8), 10 – 11. 10 Ebd., 14.

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Tätigkeit in Südamerika.11 Für die USA hätte sich ein Gutachten Pinders, dessen völkische Ambitionen kein Geheimnis waren, vielleicht eher nicht empfohlen – dort beherrschte seit dessen Immigration 1934 sein Antipode Erwin Panofsky die Szene.12 Tatsächlich hat sich von Simson – spät – auch um ein Empfehlungsschreiben des ehemaligen Hamburger Ordinarius bemüht, das dieser ihm am 2. Dezember 1937 ausstellte – immerhin, gehörte von Simson als Schüler Pinders doch jenem „Pindergarten“ an, für den Panofsky schon in Hamburg nur amüsiert-­herablassende Distanz übrig gehabt hatte.13 Auch von Simsons akademischer Lehrer aus Freiburger Tagen, Walter Friedlaender, und William George ­Constable, bis 1935 Direktor des Courtauld Institute, an dem von Simson ein ­mehrwöchiges Praktikum absolviert hatte, wurden um Empfehlungsbriefe gebeten.14 Zur Erleichterung der beruflichen Eingliederung gehörte die durch Stiftungen und Hilfsorganisationen gewährleistete Organisation und Finanzierung von Vortragsreisen zu verschiedenen Universitäten und Colleges. Auch erste, oft befristete Anstellungen wurden durch Stiftungen getragen, so dass die Verpflichtung eines Emigranten für viele Univer­ sitäten und Colleges zunächst eine beinahe kostenneutrale Angelegenheit war. Die Vertreter der deutschsprachigen Kunstgeschichte galten generell als Spezialisten, deren Fachwissen gefragt war. Unterstützt wurde ihre Eingliederung von einem interkollegialen Netzwerk, das am Rande der offiziellen Hilfssysteme und teilweise in Zusammenarbeit mit ihnen vergleichbar effizient wirkte. Ihm gehörten einheimische Fachautoritäten wie Paul J. Sachs (Harvard Univ.), Charles Rufus Morey (Princeton Univ.), Meyer Schapiro (Columbia Univ.) und Alfred Barr (Museum of Modern Art) an. Besonders intensiv bemühte sich Walter S. Cook vom Institute of Fine Arts der New York University um die vertriebenen Kollegen: „Hitler schüttelt den Baum, und ich sammele die Äpfel auf.“15 Zu wichtigen Vermittlungsinstanzen wurden aber auch schon zu einem früheren Zeitpunkt eingewanderte Deutsche wie Wilhelm R. Valentiner oder bereits früh etablierte Emigranten wie Erwin Panofsky, Wilhelm Köhler und Richard Krautheimer. In ­dieses effiziente, von noch heute eindrucksvoller Solidarität getragene Netzwerk war Otto von Simson, als er 1937 zum ersten Mal in die USA kam, noch nicht eingebunden.16 11 Nachlass Otto von Simson (wie Anm. 5), Kasten 41, Mappe 2. 12 Karen Michels, Norden versus Süden. Zur Hamburger und Münchener Kunstgeschichte der zwanziger und dreißiger Jahre, in: Kunstgeschichte in München, hg. von Hubertus Kohle, München 2002, 131 – 138. 13 „To summarize: There is hardly a young scholar in my field whom I should consider more recommendable both a as promising research worker and as a personality.“, in: Dieter Wuttke, Erwin Panofsky. Korrespondenz 1910 bis 1968. Eine kommentierte Auswahl in fünf Bänden, Wiesbaden 2001 – 2014, Bd. II, 1937 – 1949, 196. 14 Nachlass Otto von Simson (wie Anm. 5), Kasten 41, Mappe 2. Friedlaender lässt in seinem Empfehlungsschreiben vom Dezember 1937 an Pfarrer Ostermann allerdings auch Bedenken durchblicken – von Simson, mit mehr als 50 % nicht-­arischem Blut, sei „überzart“, „schwärmerisch-­romantisch“ veranlagt, „anfällig“, „hilfsbedürftig.“ 15 Michels (wie Anm. 1), 1. 16 Interview der Verf. mit Otto v. Simson, 29. 1. 1991, Ms. im Warburg-­Archiv, Hamburg.

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„Ich war 1937“, so erinnerte er sich später, „schon mal drüben und lernte Leute von der Johns-­Hopkins-­University kennen“. Dieser erste Besuch brachte jedoch noch nicht den erhofften, schnellen Erfolg. Im Februar 1939 reiste er mit seiner Frau Lulix erneut nach New York – „das mußte ja alles heimlich geschehen, wir konnten nichts mitnehmen; die Reise war als Besuch zu Museumsstudien getarnt. Auch unser kleiner Sohn blieb hier [i. e. in Deutschland, K. M.], meine Frau holte ihn später nach.“17 Von Simsons Eingliederung in das akademische Gefüge der USA gestaltete sich schwieriger als die der meisten übrigen Kollegen. Während etwa Erwin Panofsky, um ein besonders prominentes Beispiel zu nennen, versehen mit einer – wenn auch unter großen Mühen ausgehandelten – gesplitteten temporären Professur an der New York und der Princeton University und daher mit einem regulären Einreisevisum im Januar 1934 mit Frau und Kindern sowie seinem gesamten Hausstand von Hamburg nach Princeton hatte übersiedeln können, kam von Simson spät – und er verfügte über keinerlei Lehrerfahrung. Als der siebenundzwanzigjährige Berufsanfänger sich 1939 zur Emigration entschloss, waren die amerikanischen Universitäten bereits mit europäischen Akademikern nicht nur gesättigt, sondern eher überfüllt. Das galt sowohl für die an der Ostküste gelegenen Institutionen – allen voran das Institute of Fine Arts der New York University –, aber auch für die kleinen, weniger prominenten Colleges. Im Gepäck hatte von Simson allerdings ein Empfehlungsschreiben eines guten Freundes seines Schwiegervaters, Kardinal Pacelli, der 1939 als Pius XII. zum Papst gewählt werden sollte – „eine Empfehlung von Gott persönlich“.18 Anfang April 1939 sprach er bei Abraham Flexner, dem Begründer des Institute for Advanced Study in Princeton, vor und besuchte bei der Gelegenheit auch Erwin Panofsky: Flexner hatte empfohlen, diesen in die Beratungen über Zukunftsaussichten miteinzubeziehen.19 Im Mai konnte von Simson dann einen Vortrag am Albertus Magnus College in New Haven über „Christian Art“ halten, der dokumentiert, wie er sich als katholischer Wissenschaftler zu profilieren und – das hat er offenbar ganz klar gesehen – damit eine Nische zu besetzen suchte.20 Dass hier manchmal noch andere als fachliche Qualifikationen zählten, macht die Bemerkung der Vorsteherin eines Mädchenkollegs deutlich, die einer Kollegin zuraunte: „He is much too good looking of course.“21 Noch ohne klare Zukunftsperspektive kehrte Louise von Simson im Juni 1939 zunächst allein nach Deutschland zurück, während ihr Mann sich weiter, ausgestattet nur mit einem Reisevisum, um einen Job bemühte. Nachdem das Münchener Haus aufgelöst war, gelang Louise von Simson und ihrem kleinen Sohn – inzwischen war der Krieg ausgebrochen – nach langen Verwicklungen und unter allen nur denkbaren Schwierigkeiten Ende November die Wiedereinreise in die USA , nach New York. 17 18 19 20 21

Interview (wie Anm. 16). Nachlass Otto von Simson (wie Anm. 5), Kasten 41, Mappe 2. Wuttke (wie Anm. 13), Bd. II, 196. Nachlass Otto von Simson (wie Anm. 5), Kasten 9, Mappe Christian Art. Louise Alexandra von Simson, Prinzessin von Schönburg-­Hartenstein, Happy Exile, Darmstadt 1981 (Privatdruck), 27.

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Hier hatte sich mit dem Institute for Advanced Study – auch gegen erhebliche Widerstände – eine Bastion der deutschen Kunstgeschichte entwickelt. Einlassportal in die amerikanisch-­deutsche Kunsthistoriker-­Szene bildete das jährlich veranstaltete Meeting der College Art Association. 1939 erhielt auch Otto von Simson, wie zahlreiche andere Emigranten, auf Initiative von Walter S. Cook eine Einladung zur Teilnahme am „Sklaven­ markt“, dem amerikanischen Kunsthistorikerkongress.22 Am 9. September 1939 hielt er in ­diesem Rahmen im Institute of Fine Arts der New York University einen fünfzehnminütigen Vortrag über einen italienischen Renaissance-­Porträtisten, „G. B. Moroni and the religious portrait“.23 Am Vorabend hatten Panofsky über „The History of Art as a humanistic discipline“ und Edgar Wind über den Bacchus des Michelangelo gesprochen.24 In der Zwischenzeit waren von Simson zwei Stellen angeboten worden: eine als Assistant Professor an der renommierten Johns Hopkins University in Baltimore und eine an einem kleinen katholischen Mädchencollege – zu verdanken vermutlich dem konfessionell orientierten Netzwerk – in der Kleinstadt Tarrytown, 31 Meilen nördlich von New York am Hudson River gelegen. Aufgrund einer versehentlich verzögerten Antwort aus Johns Hopkins nahm von Simson die Stelle – was er später bedauerte – am von Nonnen geführten Marymount College an. Bis 1943 lehrte er dort Geschichte und Kunstgeschichte – und lernte seinerseits, wie seine Frau sich erinnerte, vor allem, sein intellektuelles Niveau auf eine Ebene herunterzustufen, auf der sein Publikum ihm folgen konnte. Kunstgeschichte als Fach gab es in Tarrytown nicht. Das Gehalt war kümmerlich, das Leben kärglich, die günstige Dachwohnung eng. Nur wenig Zeit blieb für die eigene Forschung, damals zum Bamberger Reiter. Aber alles wurde überstrahlt – diese Erfahrung zieht sich durch alle Äußerungen sowohl von ihm als auch von ihr – durch die entgegenkommende amerikanische Herzlichkeit, die zumindest Lulix von Simson in den späteren Pariser und Berliner Jahren auf das Schmerzlichste vermissen sollte. 1941 erfolgte – per Reise nach Kuba – die Einbürgerung. Bis 1943 blieb die Familie in Tarrytown (Abb. 1). 1943 wurde von Simson eine neue Position am St. Mary’s College, Notre Dame, Indiana und damit ganz in der Nähe von Chicago angeboten, mit der deutlich bessere Bedingungen verbunden waren – ein geringeres Lehrdeputat, ein höheres Gehalt. Er nahm die Stelle aber auch deshalb an, weil es abseits der Ostküste der USA viel weniger Emigranten gab, was seine Chance auf beruflichen Aufstieg durchaus erhöhte (Abb. 2). Die Anforderungen blieben überschaubar: „In St. Mary’s College mußte ich nur eine Vorlesung über Kunst­ geschichte halten, aber die viermal.“25 St. Mary’s galt zwar als eines der besten katholischen Colleges in den USA – doch blieb es unübersehbar, dass die Restriktionen der religiösen Bindung eine freie intellektuelle Entwicklung der Studierenden behinderten. Aus dem 22 Walter S. Cook, Brief an Joseph D. Ostermann, Committee for Catholic Refugees from Germany, 28. 12. 1937, in: Nachlass Otto von Simson (wie Anm. 5), Kasten 41, Mappe 2. 23 College Art Association of America, Program of the Twenty-­Eighth Annual Meeting, September 6 – 9, 1939. 24 Siehe Anm. 23. 25 Interview (wie Anm. 16).

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Abb. 1 Otto von Simson mit Familie und Studentin vor dem Hauptgebäude des Marymount College in Tarrytown, New York

hier fest verankerten Lehr-­Schwerpunkt „Liturgie“ jedoch entwickelte Simson eine 1947 publizierte Studie, die auch in Deutschland ein breites Echo fand: Das abendländische Vermächtnis der Liturgie.26 1948 erschien, die Thematik des Aufsatzes vertiefend, sein Buch Sacred Fortress. Byzantine Art and Statecraft in Ravenna. Im Herbst 1944 ergab sich dann ein engerer Kontakt zur University of Chicago. Mit ihr hatte sich im Mittleren Westen Mitte der vierziger Jahre ein neues intellektuelles Zentrum etabliert. Ihre Profilschärfung verdankte sie dem Juristen Robert M. Hutchins – eben dem Autor jener Studie, die von Simson im 1937/38 publizierten Band der Zeitschrift Hochland besprochen hatte. Hutchins hatte schon in den dreißiger Jahren ein universitätspolitisches Reformprogramm entwickelt, das den gewöhnlichen Attraktionspolen einer amerikanischen Universität, nämlich Sport und Geselligkeit, eine stärker wissenschaftlich-­ humanistische Ausrichtung entgegensetzte. Als Medium für einen solchen akademischen Transformationsprozess etablierte Hutchins einen klassischer Literaturkanon, die „Great Books of the Western World“; Autoren wie Vergil, Thomas von Aquin, Aristoteles, John Locke und andere bildeten für ihn das steinerne Fundament der westlichen Zivilisation.27 Hutchins, ein liberal eingestellter Protestant, war ein begnadeter Fundraiser. Seine aus dem Vollen schöpfende Berufungspolitik hatte zur Folge, dass der Lehrkörper der Chicagoer Universität Ende der vierziger Jahre zu einem Fünftel aus Zugewanderten – vor allem aus deutschsprachigen Emigranten – bestand. Einer von ihnen war Ulrich Middeldorf, der 26 Otto von Simson, Das abendländische Vermächtnis der Liturgie, in: Deutsche Beiträge zur g­ eistigen Überlieferung, Chicago 1947, 1 – 57. 27 Michels (wie Anm. 1), 69. Zu Hutchins’ Reformbemühungen jetzt auch John W. Boyer, The University of Chicago. A History, Chicago/London 2015.

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Abb. 2 Bericht über die Ankunft des Ehepaars von Simson in South Bend, Indiana, aus South Bend Tribune, 26. September 1943

aus Opposition zum Nationalsozialismus und wegen fehlender beruflicher Perspektiven seine Stelle am Deutschen Kunsthistorischen Institut in Florenz aufgegeben hatte und seit 1935 in Chicago als Professor für Kunstgeschichte wirkte, davon 15 Jahre lang als Chairman. 1942 bis 1944 lehrte auf Middeldorfs Veranlassung auch der Warburg-­Schüler Edgar Wind am Art Department, der aber bald dem intellektuellen Reformkurs à la Hutchins nicht mehr folgen mochte und an das Smith College wechselte.28 1944 berief Hutchins den emigrierten Politikwissen­schaftler und Soziologen Arnold Bergstraesser auf eine Professur „of German Cultural History“. Die Pflege deutscher Sprache und Kultur hatte in Chicago eine lange Tradition. Bereits seit 1932 bestand hier die Literary Society of Chicago by the Department of Germanic Languages and Literatures at the University of Chicago, die

28 Michels (wie Anm. 1), 70.

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sich ihrerseits auf eine Vorgängerin bezog.29 Unterstützt von dieser Gesellschaft e­ tablierte Bergstraesser 1947 hier sogar eine deutschsprachige Schriftenreihe, die Deutschen Beiträge zur geistigen Überlieferung, die sich der Bewahrung des „anderen“ Deutschland verschrieben hatten. Im Vorwort des ersten Bandes wird das kulturkonservative Profil der Beiträge deutlich formuliert: „Wenn inmitten der Katastrophen der Gegenwart diese Beiträge es unternehmen, aus dem Reichtum des deutschen geistigen Erbes zu schöpfen, so geschieht es in dem Vertrauen auf seine fortdauernde Fruchtbarkeit und seine unzerstörte Gemeinschaft mit der abendländischen Ökumene“.30 In den Beiträgen erschien nicht nur von Simsons Liturgie-­Studie, sondern 1953 auch sein Text über das Religiöse in Wolfram von Eschenbachs Parzival.31 Eine weitere nach Deutschland ausgerichtete Aktivität betraf das 1945 von der Universität Chicago unter maßgeblicher Beteiligung von Simsons eingerichtete Committee for Aid to German and Austrian Scholars, das Carepakete verschickte und sich unter dem Motto „Books for Germany“ um die Wiedereinrichtung zerstörter Bibliotheken bemühte.32 Ab 1945 wurde an der University of Chicago die Institutionalisierung einer interdisziplinären Forschergruppe betrieben, deren Name „Committee on Social Thought“ wenig über ihre eigentlichen Ziele verrät. An diese Institution wurde 1945 Otto von Simson berufen – wobei der Umstand, dass man sich aus Hochland-­Kreisen kannte, sicher geholfen hat. Der intellektuelle Focus des Committee lag auf der Geschichte des politischen Denkens – mit dem Ziel, Hintergründe und Handlungsweisen auch für das aktuelle politische Tun aufzuzeigen. Die Organisation des Committee, das seinen temporären Mitgliedern die Freiheiten eines Graduiertenkollegs gewährte, wurde in die Hände von Simsons gelegt; dieser hatte ein wissenschaftspolitisches Programm zu entwickeln und konnte die übrige Zeit der Forschung widmen. Selbst sorgte er aber dafür, dass er „immer ein Bein in der Universität“ hatte.33 „Das kunsthistorische Institut in Chicago war ja völlig deutsch; neben mir war dort Middeldorf und Bachhofer, ein Sinologe – ungeheuer bayerisch – der auch so englisch sprach.“34 Wohl das wichtigste Ergebnis der Tätigkeit für das Committee war das 1952 organisierte große, in die Öffentlichkeit 29 Dorothee Mussgnug, Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der Ruprecht-­Karls-­ Universität nach 1933 (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, N. F., Bd. 2), Heidelberg 1988, 185. 30 Mussgnug (wie Anm. 29), 185 – 186. 31 Michels (wie Anm. 1), 117 – 118. 32 Nachlass Otto von Simson (wie Anm. 5), Kasten 14, Mappe 2. „[…] in 1946, Simson urged Robert M. Hutchins to assist German and Austrian scholars through the solicitation of donations and distri­ bution of material aid. This proposal led to the formation of the Committee for Aid to German and Austrian Scholars, which Hutchins himself chaired. German and Austrian scholars began to turn to the committee as a means of seeking job opportunities in the United States; this secondary function of the committee evolved into a student and faculty exchange program between the University of Chicago and the University of Hamburg.“ 33 Interview (wie Anm. 16). 34 Ebd.

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gerichtete Kolloquium zur „City of Chicago“.35 Damit bot diese sehr besondere Konstellation an der University of Chicago von Simson eine maßgeschneiderte Plattform, die es ihm ermöglichte, sich in der deutsch-­amerikanischen kunsthistorischen Academia der Vereinigten Staaten ein eigenes Profil zuzulegen. Das Committee mit seinem faszinierend breiten Spektrum aus ­Themen, Ansätzen und Umsetzungsmöglichkeiten wurde, so erinnert sich Lulix von Simson, zu einer geistigen Heimat für beide. Sie selbst veranstaltete inzwischen im Zentrum für Erwachsenenbildung der Chicago University, dem University of Chicago Downtown College, Altgriechisch-­Kurse.36 Seit 1948 betrieb von Simson aus dem Committee heraus die Gründung der Zeitschrift Measure – mit dem Ziel, eine Art säkulare Variante des Hochland auch in den USA zu etablieren. Intensiv bemühte er sich um einen Beitrag des Schweizer Historikers und Diplomaten Carl Jacob Burckhardt, damals Präsident des Roten Kreuzes.37 Measure. A Quarterly Journal erschien zum ersten Mal im Dezember 1949 und richtete sich an eine internationale Wertegemeinschaft, die sich „the dignity of the human person, social justice, world unity and world peace“ verschrieb.38 Das Leben der Zeitschrift war nur von kurzer Dauer – nach zwei Jahrgängen wurde sie eingestellt, vielleicht auch deshalb, weil von Simson 1951 der Sprung auf eine reguläre Professur am Department of Art gelang, die er bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1957 inne hatte. Betrachtet man die erzwungene Emigration der deutschsprachigen Kunstgeschichte unter dem Aspekt ihres fachimmanenten Ertrages, so ist auch aus der größeren historischen Distanz die Liste der bahnbrechenden Publikationen eindrucksvoll, die innerhalb des neuen Kontextes entstanden – und die wenige Jahre später in deutscher Übersetzung auch im Ursprungsland eine große Wirkung entfalteten. Panofskys Dürer-­Monographie und sein monumentales Werk über die frühniederländische Malerei, Krautheimers Buch Rome, Profile of a City oder Horst Jansons Bestseller The History of Art verdanken sich sämtlich einem weiträumigen Denkansatz, den die Emigranten selbst als positives Resultat ihrer „Amerikanisierung“ werteten. Zu den Tugenden eines angelsächsischen Wissenschaftlers gehört es bis heute, auch ein Laienpublikum für die eigenen Forschungsergebnisse gewinnen zu können. Dieser Zwang, „mit einer nicht-­professionellen und ungewohnten Hörerschaft umzugehen“, verlieh den europäischen Gelehrten, so Krautheimer, den „Mut, Bücher über ganze Meister oder ganze Epochen zu schreiben“, anstatt gelehrte Spezialaufsätze zu verfassen.39 Das amerikanische Publikum erwies sich als ausgesprochen offen für die Frage nach den „geistesgeschichtlichen Zusammenhängen“. Darauf hat sich nicht nur 35 Nachlass (wie Anm. 5), Kasten 9, Mappe „Outline of Conference on the City of Chicago“. Das Committee versammelte in späteren Jahren bedeutende Intellektuelle wie Hannah Ahrendt, den Religionswissenschaftler Mircea Eliade und den Historiker François Furet. 36 Von Schönburg-­Hartenstein (wie Anm. 21), 17. 37 Briefwechsel ­zwischen Carl Jacob Burckhardt und Otto von Simson, 1948 – 1964, UB Basel, NL 100: G 6730, 1 – 20. Burckhardts Artikel On reading Churchill’s ‘Memoirs’ erschien in Measure, 2, Herbst 1951, H. 4, 386 – 390. 38 Nachlass (wie in Anm. 37), Beilage zu E 6730. 39 Michels (wie Anm. 1), 109 – 119.

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Erwin Panofsky, sondern auch Otto von Simson eingestellt. 1948 erschien Sacred Fortress. Byzantine Art and Statecraft in Ravenna. Auch sein Opus magnum, das 1956 erschienene Buch The Gothic Cathedral, wäre ohne die Emigration wohl nicht geschrieben worden. Es verdankt sein Entstehen auch dem dezidierten Widerspruch gegen Panofskys Schrift über Abt Suger und dessen 1951 publizierte Arbeit Gothic Architecture and Scholasticism. Schon im Dezember 1949 hatte dieser seinem Schüler Udo von Alvensleben geschrieben: „Es [i. e. das Buch über Abt Suger, K. M.] hat zwar Lehmann-­Brockhaus missfallen (und vermutlich auch Herrn von Simson, der mich immer, wie Theodor Storm Fontane, zu frivol findet, womit ich aber weder ihn mit Storm noch mich mit Fontane vergleichen will) […]“.40 Insgesamt wird deutlich, dass sich von Simsons Emigrationserfolg vor allem der gezielten Konstruktion eines eigenen weltanschaulichen Profils verdankt. Dieses beruht einerseits auf dem Bekenntnis zur Religion und andererseits auf einer Eigenschaft, die der bereits erwähnte Publizist Schöningh, Hochland-­Herausgeber und spätere Mitbegründer der Süddeutschen Zeitung, in seinem am 31. Januar 1939 verfassten Abschiedsbrief an Otto von Simson hervorgehoben hatte: „[…] dass Sie kunstgeschichtliche Fragen niemals spezialisieren, sondern in die grossen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge einzuordnen verstehen.“41 In Chicago hat von Simson die Überzeugung gewonnen, dass die Universität „kein Elfenbeinturm“ sei, sondern dass unsere wissenschaftlichen Tätigkeiten und Erkenntnisse für die Gesellschaft einen unmittelbaren Nutzen haben müssten. Die Verpflichtung der Wissenschaft für die Gesellschaft war eine der großen Erkenntnisse, die von Simson dann ab 1957, als ihn sein alter Freund Bergstraesser in seiner Funktion als Vorsitzender der Gesellschaft für Außenpolitik nach Europa zurückrief, mitnahm und in seinem kulturpolitischen Wirken weiter entfaltete.

40 Wuttke (wie Anm. 13), 1127. 41 Nachlass (wie Anm. 5), Kasten 41.

Carola Jäggi

Kunst z­ wischen Propaganda und Liturgie: Otto von Simsons Sacred Fortress Als Otto von Simson im Frühjahr 1935 zusammen mit seiner Verlobten Louise ­Alexandra, genannt Lulix, seiner Schwester Dörte und seinem Studienfreund Joseph Alexander ­Raczyński durch Italien reiste und dabei auch Ravenna einen Besuch abstattete, ahnte er kaum, dass er dereinst zu Ravenna eines seiner bedeutendsten Werke schreiben würde. Gemeint ist sein 1948 bei der University of Chicago Press erschienenes Buch Sacred Fortress.1 Was sich hinter dem rätselhaften Titel 2 versteckt, klärt erst der Untertitel: Byzantine Art and Statecraft in Ravenna. Auf dem Schutzumschlag (Abb. 1) wird präzisiert, dass es um „Emperor Justinian’s struggle for the reconquest of the West – as reflected in the greatest surviving monuments of the golden age of Byzantine civilization“ gehe, eine Information, die freilich in keine Bibliographie und in keinen Bibliothekskatalog Eingang gefunden hat. Konkret geht es in Otto von Simsons „essay“3, wie der Autor sein gut 120 Druckseiten umfassendes Werk bescheiden nennt, um San Vitale, Sant’Apollinare in Classe und Sant’Apollinare Nuovo, drei ravennatische K ­ irchen aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, deren reiche Wandmosaiken nicht nur theologisch anspruchsvolle Bildprogramme vortragen, sondern verquickt mit diesen auch Stifter, Gönner und sonstige Personen, die sich um die jeweiligen Bauten verdient gemacht hatten, kommemorieren und bis heute Anlass geben, über die Anteile der Dargestellten an architektonischer Formfindung und Bildprogrammen nachzudenken. 1

2

3

Otto G. von Simson, Sacred Fortress. Byzantine Art and Statecraft in Ravenna, Chicago 1948. Zur Italienreise von 1935 siehe Joseph A. Raczyński: Mit Otto gemeinsam Erlebtes (Auszüge aus: Erinnertes. 1914 – 1948), Typoskript, Dezember 1993, Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 42, 146 – 148, hier 148: „Das Erlebnis der so einzigartigen Mosaiken im Mausoleum der Galla Placidia, S. Apollinare Nuovo, S. Apollinare in Classe, S. Vitale, den anderen ­Kirchen und Baptisterien aus der Zeit Justinians, das wir gemeinsam hatten, war zweifellos die Anregung zu der großen Arbeit, die Otto 1948 in Chicago veröffentlichte und seiner Frau Lulix widmete […]“. Ich danke Ingo Herklotz für die Zusendung von einschlägigen Archivalien zu von Simson, Aurelia von Streng für die Transkription der handschriftlichen Dokumente. Die Figur der „Sacred Fortress“ scheint auch in von Simsons Aufsatz von 1947 auf, in dem Ravenna als „ein Vorposten, zuweilen eine letzte Festung justinianischer Macht in Italien“ bezeichnet wird; Otto von Simson, Das abendländische Vermächtnis der Liturgie, in: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung, hg. von Arnold Bergstraesser, Chicago 1947, 1 – 57, wiederabgedr. in: Otto von ­Simson, Von der Macht des Bildes im Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Kunst des Mittelalters, hg. von Reiner Haussherr, Berlin 1993, 11 – 54, hier 48. Jüngst wurde das Bild der „Heiligen ­Festung“ im Zusammenhang mit dem Katharinenkloster auf dem Sinai wieder aufgenommen: Ilene H. ­Forsyth with Elizabeth Sears, George H. Forsyth and the Sacred Fortress at Sinai, in: Dumbarton Oaks Papers 70, 2016, 117 – 150. Von Simson (wie Anm. 1), vii und 58.

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Abb. 1 Schutzumschlag von Sacred Fortress, 1948

Alle drei s­ eien sie – so von Simson – unter ­Kaiser ­Justinian entstanden „and, at least partly, at his command“.4 Hinzu kommt ein Kapitel zur sogenannten Maximianscathedra, einem mit Elfenbeinreliefs verkleideten Lehnsessel, den von Simson zwar nicht im Auftrag Justinians, sondern Bischof Maximians entstanden sieht, über dessen supponierte Rolle als Speerspitze justinianischer Kirchenpolitik in Italien aber ebenfalls als Medium der kaiserlichen Bemühungen um die Wiedervereinigung Ost- und Westroms wertet. Dass sich von Simson in den mittleren 1940er Jahren, als seine Italienreise bereits mehr als zehn Jahre zurücklag, diesen Monumenten zuwandte, dürfte von einer Anfrage des Committee on Social Thought beziehungsweise dessen Vorsitzendem John U. Nef ausgelöst worden sein, infolge derer Otto von Simson im Herbst 1945 an der Universität Chicago eine Reihe öffentlicher Vorträge zur Wechselbeziehung von Religion und Kunst im frühen Mittelalter hielt.5 Sacred Fortress entstand also nicht als Monographie, 4 5

Von Simson (wie Anm. 1), vii. Von Simson (wie Anm. 1), xi. Zur Anstellung Otto von Simsons am Committee on Social Thought siehe Karen Michels, Transplantierte Kunstwissenschaft. Deutschsprachige Kunstgeschichte im amerikanischen Exil, Berlin 1999, 69 – 70 und 102, sowie den Beitrag von Ingo Herklotz, Chicago und das

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sondern basiert auf mehreren Vorträgen, was dem Werk auch durchaus anzumerken ist, verlagert sich der eingangs gewählte und auch im Buchtitel sich abbildende Fokus auf Justinian und seiner Instrumentalisierung der Kunst für (kirchen-)politische Ziele doch von Kapitel zu Kapitel zunehmend zu Gunsten der Liturgie und ihres Einflusses auf die Kunst.6 Anzumerken ist dem Werk zudem, dass der Autor kein wirklicher Kenner der Materie war, dass er nicht aus dem Vollen schöpfen konnte, sondern sich im Verlaufe des Schreibprozesses Vieles erst aneignen und erschließen musste. Tatsächlich ist nachzuweisen, dass von Simson noch während der Drucklegung dankbar Ratschläge und Korrekturen von Kollegen aufnahm; insbesondere der Benediktinerpater Anselm Strittmatter, Mönch in Saint Anselm’s Priory in Washington und ein profunder Kenner der byzantinischen Theologie, hat von Simsons Manuskript in Hinblick auf theologische und liturgische Sachverhalte minutiös durchgearbeitet und kritisch kommentiert, aber auch der auf frühmittelalterliche Kunst spezialisierte Ernst Kitzinger, damals Mitarbeiter am Dumbarton Oaks Research Center for Byzantine Studies und vom Verlag gebeten, das Manuskript zu begutachten, gab seinem einstigen Münchner Kommilitonen eine detaillierte briefliche Rückmeldung mit Hinweisen auf neuere Literatur und methodologische Zirkelschlüsse.7 Alle aber lobten sie den frischen Zugang von Simsons, den neuen Blick auf die frühchristlichen Bauten und Mosaiken Ravennas, die bis dahin vor allem in Hinblick auf Stil und Ikonographie interessiert hatten.8 Vielleicht war es

6 7

8

Abendland, in ­diesem Band. – Bereits während seiner Tätigkeit am katholischen St. Mary’s College 1943 – 1944 hatte sich von Simson mit theologischen und liturgischen ­Themen befasst; Michels (wie oben), 71. – Ein deutschsprachiges Kondensat des 1945 in Chicago Vorgetragenen findet sich in Otto von Simsons Aufsatz von 1947 (wie Anm. 2), der 1948 unter dem Titel Die Liturgie als heilige Handlung und Dichtung in identischem Wortlaut nochmals erschien (in: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur, 3, 1948, H. 1, 1 – 18, und H. 2, 129 – 147. Zur Entstehung ­dieses Aufsatzes im Jahr 1945 siehe von Simson, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 10, Anm. 1, und 20, Anm. 15. Dass Vortragsreihen gedruckt wurden, war in den USA damals durchaus üblich; Michels (wie Anm. 5), 117 – 118. Von Simson (wie Anm. 1), xi. Die Briefe von und an Strittmatter OSB und Kitzinger finden sich in Berlin, Staatsbibl., Nachlass 290, Kasten 17, Mappe 5. Konkret geht es um einen Brief Kitzingers vom 8. November 1947, in dem dieser auf Literatur hinweist, die von Simson nicht berücksichtigt hat, außerdem seine Zweifel an der Einheitlichkeit der Mosaikausstattung von S. Vitale äußert sowie auf kleinere inhaltliche Fehler aufmerksam macht. Kitzinger bekräftigt seine Argumente in einem Brief vom 20. November 1947, in dem er nochmals betont, wie grundlegend die Klärung der Frage sei, ob die Mosaiken in S. Vitale Frucht einer einzigen Ausstattungsphase sind, und explizit vor dem methodologischen Zirkelschluss warnt, sie nur deshalb für einheitlich zu halten, weil sonst die These nicht aufgehe. Die Briefe Strittmatters datieren alle erst aus dem Jahr 1948; erhalten haben sich zwei Briefe vom 13. Januar 1948, weitere Briefe vom 14. und 20. Januar sowie vom 4. Februar 1948, alle mit detaillierten Korrekturen zu Schreibweisen, Quellenzitaten, theologischem Hintergrund etc. So z. B. im Brief Kitzingers an von Simson vom 8. November 1947: „[…] I want to tell you how very much I enjoyed reading your book and how deeply it impressed me. It is one of those startling investigations which make perfectly familiar objects suddenly appear in a new light and I am sure it will make a big hit when it appears.“ Auch John U. Nef scheint bereits das Manuskript gelesen

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Abb. 2 Ravenna, San Vitale, Außenansicht von Nordosten

ja gerade einem „Outsider“ wie von Simson ­möglich, durch seinen nicht von Stil- und Datierungsfragen abgelenkten Blick einen neuen Zugang zu den ravennatischen Monumenten eröffnet zu haben. Für Otto von Simson bilden die Monumente, die er in seinem Buch vorstellt, gleichsam die Bühne beziehungsweise das Bühnenbild für die politischen Ereignisse, die sich im zweiten Viertel des 6. Jahrhunderts abspielten, als Justinian den Kaiserthron in Konstan­ tinopel bestiegen hatte und daran ging, das Römische Reich in seiner einstigen Größe wieder auferstehen zu lassen.9 Kurz vor Justinians Amtsantritt im August 527 war der Ostgotenkönig Theoderich gestorben, der seit 493 von Ravenna aus über Italien regiert hatte, nominell im Namen des byzantinischen Kaisers, faktisch aber als durchaus souveräner Machthaber mit eigenen Ambitionen und einem weitreichenden Netzwerk zu den wichtigsten politischen Akteuren Europas inklusive des Papstes, zu dem er trotz aller konfessionellen Differenzen – die Goten waren bekanntlich Arianer – ein freundschaftliches, von gegenseitigem Respekt geprägtes Verhältnis pflegte.10 Die letzten Regierungsjahre und sich sehr positiv geäußert zu haben; vgl. seinen Brief vom 24. September 1948 an Otto von Simson, Berlin, Staatsbibl. Nachlass 290, Kasten 17, Mappe 5. Vgl. auch Anselm Strittmatter OSB, Brief vom 20. Januar 1948 an Otto von Simson: „Your book is an excellent achievement in many ways. I am certain you feel as I do: it would have been a help to you to have a liturgiologist and a Catholic theologian at your elbow all the time. But whatever its short-­coming may prove to be (I am thinking of reviewers), I have a great respect for the book.“ Siehe auch die Kommentare aus der Zeit nach Erscheinen des Buches, Anm. 40 – 43. 9 Zu Justinian siehe Mischa Meier, Justinian. Herrschaft, Reich und Religion, München 2004; siehe auch The Cambridge Companion to the Age of Justinian, hg. von Michael Maass, Cambridge 2005. 10 Dazu ausführlich Carola Jäggi, Ravenna. Kunst und Kultur einer spätantiken Residenzstadt. Die Bauten und Mosaiken des 5. und 6. Jahrhunderts, 2. Aufl., Regensburg 2016, 39 – 41 und 150 – 157; zuletzt Hans-­Ulrich Wiemer, Theoderich der Große: König der Goten – Herrscher der Römer. Eine Biographie, München 2018, 475 – 532.

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Abb. 3 Ravenna, San Vitale, Grundriss

Theoderichs waren aber überschattet von einigen unschönen Vorkommnissen, die insbesondere die Beziehung zum byzantinischen ­Kaiser zunehmend trübten. Nach Theoderichs Tod übernahm zunächst sein Enkel Athalarich, nach dessen Tod 534 Theoderichs Tochter Amalasuintha die Herrschaft. Als Amalasuintha 535 von ihrem Vetter Theodahat umgebracht wurde, sah sich Justinian gezwungen, sich der italienischen Sache anzunehmen mit dem Ziel, Italien wieder enger ans Reich zu binden. Noch im selben Jahr marschierten die Byzantiner in Italien ein; 540 kam es zur Einnahme Ravennas, das in der Folge Sitz des byzantinischen Statthalters in Italien wurde.11 So viel – ganz kurz – zum historischen Hintergrund. Vor dieser Folie führt von Simson zunächst die Hauptdarsteller als „dramatis personae“ ein, konkret Justinian, Julianus Argentarius und Bischof Maximian.12 Justinian wurde bereits genannt als jener ­Kaiser, unter dem ab 535 die byzantinische Rückeroberung Italiens erfolgte. Für Otto von Simson spielte Justinian eindeutig die Hauptrolle in jenem „Drama“13, für das Ravenna im zweiten Viertel des 6. Jahrhunderts die Bühne und seine Bauten die Kulisse gewesen ­seien. Laut von Simson war es Justinian, der nicht nur die Erlaubnis 11 Zum Ende der Ostgotenherrschaft in Italien siehe Roy Boss, Justinian’s Wars. Belisarius, Narses and the Reconquest of the West, Stockport 1993; Herwig Wolfram, Die Goten: Von den Anfängen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie, 3. Aufl., München 1990, 332 – 349; Massimiliano Vitiello, Theodahad. A Platonic King at the Collapse of Ostrogothic Italy, Toronto/Buffalo/London 2014; ders., Amalasuintha. The Transformation of Queenship in the Post-­ Roman World, Philadelphia 2017; Wiemer (wie Anm. 10), 574 – 606. 12 Von Simson (wie Anm. 1), 1 – 22. Von Simson rekurriert abundant auf Theatermetaphern, spricht von „play“, „drama“, „spectacle“, „sacred drama“ und „sacred play“, vom „holy drama of the Christian rite“ und vom „liturgical drama of the eucharistic rite“; von Simson (wie Anm. 1), viii–ix und 22. Dies leitet sich wohl ab von seiner Charakterisierung „des Byzantiners“ als Homo ludens, dem die Welt als ­Theater erschienen sei; von Simson (wie Anm. 1), viii. 13 Vgl. Anm. 12.

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Abb. 4 Ravenna, San Vitale, Inneres nach Südosten

zu jenem architektonischen Programm gegeben habe, das im Zentrum des Buches steht, sondern ­dieses höchst selbst veranlasst habe.14 Seine Hauptopponenten, gegen die das kaiserliche Bautenprogramm gerichtet gewesen sei, ­seien Theoderich und ganz allgemein die Goten gewesen, in den Augen Justinians Häretiker und als s­ olche verantwortlich für den Abfall Italiens vom Reich.15 Die beiden anderen Genannten, Julianus Argentarius und Maximian, waren laut von Simson als Handlanger Justinians Vollzieher der kaiserlichen Sache in Ravenna, dabei ganz Testi-­Rasponi, dem Herausgeber und Kommentator der 1924 erschienenen Neuedition des ravennatischen Liber Pontificalis, unserer wichtigsten Quelle zum frühchristlichen 14 Von Simson (wie Anm. 1), 5. Bereits Hauttmann, der in den 1930er Jahren neben Pinder in München lehrte und bei dem von Simson die eine oder andere Lehrveranstaltung besucht haben mag, sah in Justinian den Stifter von S. Vitale; vgl. Max Hauttmann, Die Kunst des frühen Mittelalters (Propyläen Kunstgeschichte Bd. VI), Berlin 1929, 37 – 39. 15 Von Simson (wie Anm. 1), 7; vgl. von Simson, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 48 – 49.

Kunst ­zwischen Propaganda und Liturgie | 131

Abb. 5 Ravenna, San Vitale, Mosaik im Presbyterium mit Darstellung einer kirchlichen Prozession, angeführt von Bischof Maximian, im Zentrum ­Kaiser Justinian

und frühmittelalterlichen Ravenna, folgend.16 Julianus Argentarius ist durch Agnellus, den Autor des Liber Pontificalis, als „Stifter“ mehrerer ravennatischer Kirchenbauten zur Zeit der Bischöfe Ecclesius (521/2 – 532/3) und Ursicinus (533 – 535/6), das heißt im Zeitraum ­zwischen 522 und 536, überliefert; unter anderem soll er die stattliche Summe von 26.000 Solidi für den Bau von San Vitale ausgegeben haben.17 Laut von Simson habe er dies allerdings nicht aus freien Stücken getan, sondern als Agent Justinians mit dem klaren Auftrag, hier – in Ravenna – das kaiserliche Bauprogramm ins Werk zu setzen, nota bene lange vor der byzantinischen Einnahme Ravennas, also sozusagen undercover, als Ravenna noch unter ostgotischer Herrschaft stand; von Simson sieht Julianus als „master-­mind“, das für die formalen Aspekte der justinianischen Bauten in Ravenna verantwortlich war.18 Maximian hingegen betrat erst 546 die ravennatische Bühne, und zwar als Nachfolger des 544 verstorbenen Bischofs Victor. Seine Ernennung war ganz offensichtlich ein Werk Justinians beziehungsweise Ostroms und gegen den Willen der Ravennaten erfolgt, die den 16 Codex Pontificalis Ecclesiae Ravennatis (Rerum Italicarum scriptores T. II, P. III), hg. von A ­ lessandro Testi Rasponi, Bologna 1924, 165 (Anm. 5 zu S. 162): „[…] preferiamo vedere in lui [Julianus Argentarius, C. J.] un funzionario della corte bizantina, dotato di conoscenze artistiche e fornito di avvedutezza politica, mandato a Ravenna nella apparente qualità di praepositus delle maestranze messe a disposizione degli arcivescovi, per cooperare, in quel modo che solo era possibile, fino a che la corte regia non ne fosse stata scacciata, alla restaurazione cattolica; se non fosse, in altre parole, una longa manus di Giustiniano principe abilissimo, del quale conosciamo uno dei metodi preferiti nello svolgimento della sua politica, che affermava con lo sfarzo e la grandiosità delle opere […], perchè le riteneva manifestazioni di potenza e d’impero.“ 17 Agnellus von Ravenna, Liber Pontificalis/Bischofsbuch, übersetzt und eingeleitet von Claudia ­Nauerth, Freiburg u. a. 1996, 268 – 269. Vgl. Jäggi (wie Anm. 10), 234 – 236. 18 Von Simson (wie Anm. 1), 6 und 9.

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kaiserlichen Günstling anfangs nicht in die Stadt einziehen ließen und erst durch Geschenke gefügig gemacht werden mussten.19 Für Justinian sei – so von Simson – ­Maximian ein Fixpunkt, ja die Speerspitze kaiserlicher Interessen in Italien gewesen, wo just in jenen Jahren die kirchliche Einheit durch den sogenannten Dreikapitelstreit bedroht war, in dem neben dem Papst die Erzbischöfe von Mailand und Aquileia eine tragende Rolle spielten.20 Er, Maximian, sei dafür verantwortlich gewesen, für die komplexen theologischen Botschaften, die der justinianischen Kirchenpolitik in Italien zugrunde lagen, geeignete Bildformulare zu entwerfen.21 Bereits ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt fiel Maximian die Ehre zu, San Vitale zu weihen, zwei Jahre später – 549 – folgte die Weihe von Sant’Apollinare in Classe.22 Diese beiden ­Kirchen stehen im Zentrum des zweiten und dritten Kapitels von Sacred Fortress. Dabei wird San Vitale (Abb. 2) als Triumphmonument über den besiegten Arianismus qualifiziert, als das Pantheon Ravennas.23 Sowohl der Bautyp – ein Oktogon mit innerem Stützenkranz (Abb. 3) – als auch seine Mosaiken (Abb. 4) s­ eien durch und durch byzantinisch, darüber hinaus aber ganz konkret als Kondensat byzantinischer Orthodoxie zu lesen – mit Justinian als Hohepriester und Garant für die nur durch die Einheit der ­Kirche zu restituierende Reichseinheit.24 Insbesondere die sogenannten Kaisermosaiken in der Fensterzone (Abb. 5) ­seien als materialisierte Botschaft der kaiserlichen Italien-­Politik zu verstehen, als Wunsch, Italien weder den Goten noch dem Papst oder den in den Augen von Byzanz „schismatischen“ Bischöfen von Mailand und Aquileia zu überlassen, sondern wieder fest ins Reich einzubinden.25 Im Gegensatz zu San Vitale verschließt sich die Basilika Sant’Apollinare in Classe bereits durch ihre „westliche“ Bauform (Abb. 6 – 7) einer einfachen architekturikonologischen Instrumentalisierung für die byzantinische Sache. Von Simson geht hier dann auch vor allem auf die Mosaiken ein, insbesondere das Apsismosaik, in dem er eine geniale Verschränkung von Transfiguration und Kreuzeserhöhung sieht.26 Als wichtigstes Bildelement nennt er die Figur des heiligen Apollinaris, der die apostolischen Wurzeln des ravennatischen Bischofssitzes vor Augen führe und durch seine priesterliche Gewandung das visuelle Scharnier zur jeweils aktuell gefeierten Liturgie darstelle. Nur wenn Monumente wie Sant’Apollinare in Classe mit seinen hochkomplexen Mosaiken als Bühne und Kulisse für das „heilige Drama der Liturgie“ („the sacred drama of the liturgy“) gedeutet würden, das sich in ihren Mauern vollziehe, nur wenn begriffen werde, dass Liturgie 19 20 21 22 23 24 25 26

Agnellus von Ravenna (wie Anm. 17), 302 – 303. Vgl. Jäggi (wie Anm. 10), 236 – 238. Von Simson (wie Anm. 1), 11. Von Simson (wie Anm. 1), 9 und 20 – 22. Zu den Weihedaten siehe Jäggi (wie Anm. 10), 238 – 240 und 259 – 260. Von Simson setzt das Weihe­ datum von San Vitale im Gefolge von Testi Rasponi mit 548 ein Jahr zu spät an; von Simson (wie Anm. 1), 10. Von Simson (wie Anm. 1), 4 – 5 und 23. Von Simson (wie Anm. 1), 22 – 39. Vgl. von Simson, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 48 – 49. Von Simson (wie Anm. 1), 11 – 12,15 – 16 und 18. Von Simson (wie Anm. 1), 40 – 62. Vgl. von Simson, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 30 – 34.

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Abb. 6 Ravenna, Sant’Apollinare in Classe, Außenansicht von Osten

Abb. 7 Ravenna, Sant’Apollinare in Classe, Inneres nach Osten bzw. Nordosten

„Vergegenwärtigung der heiligen Ereignisse“ und die Eucharistie „mystische Wirklichkeit“ bedeute, ­seien sie – die Mosaiken – in ihrem Wesen zu erfassen.27 Von Simson appelliert hier also an den Leser, Werke wie das Apsismosaik von Sant’Apollinare in Classe mit den Augen eines Betrachters des 6. Jahrhunderts („with the eyes of the sixth century“)28 27 Von Simson (wie Anm. 1), 47; von Simson, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 15. 28 Von Simson (wie Anm. 1), 58.

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und im Wissen um die g­ roßen christologischen Debatten der damaligen Zeit zu sehen. Gibbon etwa habe aufgrund seines Rationalismus nie die Tiefe des damaligen Glaubens nachvollziehen können, nie gespürt, wie sehr die religiöse Erfahrung das Zeitalter der großen Konzilien geprägt habe. Hätte Gibbon ein Mal das Apsismosaik von Sant’Apollinare in Classe angeschaut, so hätte er – davon ist von Simson überzeugt – das Wesen und die Macht religiöser Erfahrung im 6. Jahrhundert verstanden: „The solemn magic of its language calls up before our eyes the supernatural reality which not only challenges man’s mind but envelops his entire existence.“29 „Einfühlung“ ist somit angesagt, von Otto von Simson nicht ohne Pathos eingefordert und mit zunehmend frömmelnder Tendenz vorgetragen.30 So wie von Simson in Bischof Maximian den Concepteur des Apsismosaiks von Sant’Apollinare in Classe sieht, so sieht er ihn auch als Auftraggeber des Elfenbeinthrones (Abb. 8), der aufgrund eines partiell an seiner Vorderseite erhaltenen Monogramms mit Maximian zusammengebracht wird.31 „In its tendency to argue political principles in theological and liturgical terms, the cathedra belongs to a whole family of documents, literary and artistic, which originated under Maximian. […] This work […] reveals its beauty only if one recalls the program of ecclesiastical policy of which Maximian was the artist.“32 Mit Sant’Apollinare Nuovo (Abb. 9) betont Otto von Simson nochmals die Notwendigkeit, ­Kirchen und ihre Ausstattung in Korrelation zur Liturgie, die in ihnen gefeiert wurde, zu sehen.33 Allerdings funktioniert dies hier nur mit Blick auf die Märtyrerzüge im Mosaikfries der Hochschiffwände (Abb. 10), die erst im Zuge der Übergabe der arianischen ­Kirchen – und damit auch von Sant’Apollinare Nuovo – an die Katholiken unter Erzbischof Agnellus um 560 erfolgte.34 Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, als habe von Simson erst zu spät realisiert, dass die Mosaiken von Sant’Apollinare Nuovo – das ja die Palastkirche der Goten war – in ihrem Grundbestand gar nicht aus der Zeit der byzantinischen Herrschaft in Ravenna stammten, sondern noch unter Theoderich entstanden.35 Von Simson datiert sie in die Zeit nach Theoderichs Tod, wenn auch noch in die Ostgotenzeit, um sie als arianischen Reflex und Reaktion auf Justinians Kirchenpolitik zu werten. In ihrer theologischen Aussage trügen sie eine völlig andere Botschaft vor als die hieratischen Mosaiken 29 Von Simson (wie Anm. 1), 47. 30 Zur Konjunktur der Kategorie „Einfühlung“ gerade im Umfeld der Münchner Kunstgeschichte siehe Frank Büttner, Das Paradigma „Einfühlung“ bei Robert Vischer, Heinrich Wölfflin und ­Wilhelm Worringer. Die problematische Karriere einer kunsttheoretischen Fragestellung, in: 200 Jahre Kunstgeschichte in München. Positionen, Perspektiven, Polemik 1780 – 1980, hg. von Christian Drude und Hubertus Kohle, München/Berlin 2003, 82 – 93. 31 Von Simson (wie Anm. 1), 63 – 68. 32 Von Simson (wie Anm. 1), 68. 33 Von Simson (wie Anm. 1), 69 – 110. Vgl. von Simson, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 20 – 30. 34 Von Simson (wie Anm. 1), 83 – 88; zu den Mosaiken der 560er Jahre siehe Jäggi (wie Anm. 10), 169 – 170 und 177 – 182. 35 Zu S. Apollinare Nuovo zuletzt Jäggi (wie Anm. 10), 168 – 191.

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Abb. 8 Ravenna, Museo Arcivescovile, Elfenbeinthron von Bischof Maximian

in San Vitale; hier, in Sant’Apollinare Nuovo, begegne Jesus in seiner ganzen Menschhaftigkeit, hier würden die zwei Naturen Christi betont und nicht wie bei den Byzantinern der majestätische Christus als Pantokrator.36 Während es in San Vitale um Schau gehe, um ein Einbinden des Kaiserpaars in die himmlische Hierarchie, habe in Sant’Apollinare Nuovo das aktive Mittun des Kirchenvolkes im Vordergrund gestanden.37 Ost und West also als Gegensätze, hier materialisiert in San Vitale als „byzantinische Kuppelkirche“ („domed church of the East“), die den einzelnen Besucher klein mache, ihn erschauern lasse vor der Größe Gottes, wohingegen eine Basilika wie Sant’Apollinare Nuovo gleichsam jeden an der Liturgie Teilnehmenden zum Priester mache beziehungsweise seine priestergleiche Würde betone.38 Orient und Okzident als „the two basic patterns of Christian civilization“ hätten 36 Von Simson (wie Anm. 1), 73 – 74. 37 Von Simson (wie Anm. 1), 115 – 117. 38 Von Simson (wie Anm. 1), 115 – 117 (Zitat von S. 117); von Simson, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 35 – 37. Bereits Hauttmann sah in S. Apollinare Nuovo den „Raumsinn des basilikalen Gotteshauses“ durch die Prozessionsmosaiken erfüllt; Hauttmann (wie Anm. 14), 37.

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Abb. 9 Ravenna, Sant’Apollinare Nuovo, Grundriss

sich – so von Simson – in Ravenna ein letztes Mal vereinigt und s­ eien dann getrennte Wege gegangen.39 Keine andere Stadt auf der Welt habe Monumente hervorgebracht, die den Geist der beiden christlichen Hemisphären klarer vereinigten. Und nirgends sonst habe der Interessierte die Gelegenheit, den Kontrast ­zwischen den beiden Welten auf so engem Raum studieren zu können, nirgends habe sich der Bruch z­ wischen den beiden kulturellen Mustern so grundstürzend ausgewirkt wie hier, in Ravenna. Sacred Fortress erschien im Spätsommer 1948 und erhielt fast nur positive Reaktionen. John U. Nef, der Vorsitzende des Committee on Social Thought, welches die dem von Simson’schen Buch zugrundeliegende Vortragsreihe organisiert hatte, nennt Sacred ­Fortress in einem Brief vom 24. September 1948 „one of the few books of the past decade that were worth doing“ und lobt den darin zu findenden Sinn für das Großartige, nach dem man sich heutzutage so sehr sehne, das man aber kaum je finden könne – „a sense of the magnificent for which one yearns today and almost never finds“.40 André Grabar qualifiziert in seinem Dankesschreiben an Otto von Simson das übersandte Buch als eines jener Werke, „qui font penser, avec une intensité nouvelle, aux choses de Ravenne, et y découvrir des faits nouveaux“, lässt allerdings auch eine leise Kritik anklingen, wenn er auf die Gefahr hinweist, durch die simple Auswahl einzelner Schriftquellen unter Weglassung weiterer, ursprünglich wohl ebenso relevanter Quellen die Ausgangsbasis zu manipulieren; man täte den Schriftquellen allzu leicht Zwang an, wenn man von ihnen verlange, 39 Von Simson (wie Anm. 1), 111. 40 Brief von John U. Nef an Otto von Simson vom 24. September 1948; Berlin, Staatsbibl., Nachlass 290, Kasten 17, Mappe 5.

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Abb. 10 Ravenna, Sant’Apollinare Nuovo, Inneres nach Südosten

ein bestimmtes Kunstwerk vollumfänglich zu erklären.41 Friedrich Wilhelm Deichmann, der wenig später die Arbeiten zu seinem fünfbändigen, bis heute gültigen Standardwerk Ravenna: Hauptstadt des spätantiken Abendlandes aufnehmen wird, scheint ebenfalls ein Autorenexemplar von Sacred Fortress erhalten zu haben, was ihn unter anderem dazu animierte, im September 1949 in Begleitung des neuen Buches nach Ravenna zu reisen und sich dadurch anregen zu lassen, ein „1941/3 verfasstes Manuskript neu durchzuarbeiten und gleichzeitig einen Miscellanea-­artigen Artikel über verschiedene ravennatische Fragen vorzubereiten“, die zusammengenommen die Grundlage für Deichmanns Habilitation in Bonn bilden sollten, zu der es dann aber nie kam.42 Die These von der „großen Bedeutung 41 Brief von André Grabar an Otto von Simson vom 8. November 1948; Berlin, Staatsbibl., Nachlass 290, Kasten 17, Mappe 5. Grabar bedankt sich in d ­ iesem Brief auch für die freundliche Erwähnung seines Opus Martyrium. Recherches sur le culte des reliques et l’art chrétien antique (2 Bde., Paris 1943 – 46) durch von Simson; dieser hatte Grabars Werk im Vorwort von Sacred Fortress (xi) „perhaps the most important contribution to Christian archeology in our generation“ genannt, wobei er einige von Grabars Interpretationen für überzogen hielt. Vgl. auch Otto von Simsons Brief an Ernst Kitzinger vom 17. November 1947, aus dem hervorgeht, dass er zu jenem Zeitpunkt Grabars Martyrium noch nicht hatte einsehen können; Berlin, Staatsbibl., Nachlass 290, Kasten 17, Mappe 5. 42 Brief von Friedrich Wilhelm Deichmann an Otto von Simson vom 20. Oktober 1949; Berlin, Staatsbibl., Nachlass 290, Kasten 17, Mappe 5. Aus dem Brief geht hervor, dass Deichmann bereits

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Maximians“ hält er für „richtig“, nicht hingegen die „Deutung der Bemamosaiken [von San Vitale, C. J.] auf Justinian“. Insgesamt aber ist er des Lobes voll und übermittelt von Simson, „selten durch ein Buch so angeregt worden“ zu sein wie durch Sacred Fortress; ­dieses habe „zweifellos eine wichtige Bresche geschlagen, die Diskussion wieder in Gang zu bringen auf einer neuen Ebene. Die Probleme sind unglaublich kompliziert und wieviel muss an moderner Gesinnung abgeworfen werden, um zu verstehen.“43 Von Deichmann erschien 1951 auch eine Rezension zu Sacred Fortress, in der er ebenfalls die „besondere und neue Fragestellung“ des Buches lobt.44 Der Verfasser – von Simson also – vermeide es, „stilkritisch zu analysieren und stilistische Fragen auszuführen; seine Absicht ist vielmehr geistesgeschichtlicher Natur, nämlich mit Hilfe der Monumente in das Wesen der Epoche tiefer einzudringen, als es allein mit den oft kargen schriftlichen Quellen möglich erscheint“.45 Besondere Beachtung und Würdigung verdiene „der Versuch, auf neuen Wegen die kirchlichen Denkmäler als Ausdruck der christlichen Liturgie zu verstehen“. Hingegen widerspricht Deichmann von Simson in dessen Qualifikation von Julianus Argentarius als Handlanger Justinians – Deichmann sieht in ihm keinen kaiserlichen Funktionär, sondern einen reichen argentarius, einen Bankier.46 Zudem verweist er auf einige chronologische Unstimmigkeiten in von Simsons Argumentation und erinnert zu Recht daran, dass San Vitale lange vor der Einnahme Ravennas durch die Truppen Belisars begonnen worden war; da weder Justinian noch Theodora in irgendeiner der ravennatischen Stifterinschriften genannt würden, sei es unwahrscheinlich, dass das ganze Mosaikprogramm von San Vitale auf Justinian zu beziehen sei, vielmehr sieht Deichmann selbst im Prozessionsmosaik mit der Darstellung Justinians (Abb. 5) das Hauptgewicht auf Maximian. In Bezug auf die Präsenz der Kaiserbilder in den beiden Chormosaiken von San Vitale erinnert Deichmann – auch dies völlig zu Recht – an vergleichbare, allerdings nicht erhaltene Mosaikbilder in San Giovanni Evangelista, die im zweiten Viertel des 5. Jahrhunderts entstanden waren, also rund hundert Jahre älter als die Kaiserpaneele in San Vitale waren und für diese eine wichtige innerravennatische Referenz gewesen sein dürften.47 Außer Deichmann haben auch britische und amerikanische Kollegen und Kolleginnen Sacred Fortress rezensiert, wobei auffällt, dass die Besprechungen ausschließlich in historischen und kirchengeschichtlichen Organen erschienen, nicht aber in kunsthistorischen. Am kritischsten äußerte sich der britische Kunsthistoriker und Byzantinist David Talbot Rice; im Mai 1949 einen Brief an Otto von Simson geschrieben hatte; dieser ist aber nicht erhalten. Wie Anm. 42. Friedrich Wilhelm Deichmann, in: Gnomon, 23, 1951, H. 6, 340 – 343. Deichmann (wie Anm. 44), 341. Deichmann (wie Anm. 44), 341 – 3 42. Von Simson hat auf diesen und andere Kritikpunkte ­Deichmanns in einer Replik reagiert: Otto von Simson, Zu den Mosaiken von San Vitale in Ravenna, in: Byzantinische Zeitschrift, 46, 1953, 104 – 109, wiederabgedr. in: von Simson, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 55 – 62. 47 Deichmann (wie Anm. 44), 342. Zu den Offerentendarstellungen mit Kaiserpaaren in S. Giovanni Evangelista siehe Jäggi (wie Anm. 10), 97 – 100.

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er nennt Sacred Fortress „more a study of Byzantine liturgy and religious thought than […] a book on art“ und wirft dem Autor vor, „to neglect possibilities that do not tally exactly with his thesis“.48 Harold R. Willoughby, von Simsons Professorenkollege für Neues Testa­ ment und frühchristliche Literatur an der University of Chicago, kritisiert vor allem von Simsons Tendenz zur Weitschweifigkeit („prolixity and verbosity“), so dass insbesondere in den Passagen zu theologischen Sachverhalten „sheer verbalism“ bisweilen mehr Konfusion als Klarheit erzeuge.49 Peter Charanis, Professor für Byzantinistik an der Rutgers University, betont die Subjektivität der Interpretationen von Simsons und bedauert zutiefst, dass sich kein Ego-­Zeugnis von Maximian erhalten habe, „explaining these monuments in terms of the theological and liturgical interests of those who inspire their erection!“50 Insgesamt wurde das Erscheinen von Sacred Fortress aber als „event of major importance“ gefeiert, um mit Barbara Foster Sessions, der gelehrten Bibliothekarin von Dumbarton Oaks zu sprechen: „New attitudes toward the study of early mediaeval art are beginning to take shape, now that a first period of scholarship has accomplished so much of the necessary labor of identifying and describing the monuments.“51 Was seltsamerweise erst die Rezensenten der 1987 erfolgten Neuauflage von Sacred Fortress betonen, ist die Tatsache, dass es damals noch nichts Vergleichbares zu den ravennatischen Denkmälern auf Englisch gab.52 Mit Deborah Mauskopf Deliyannis’ Ravenna in Late Antiquity liegt seit 2010 ein neues englischsprachiges Überblickswerk zur kulturellen Blüte Ravennas im 4. – 6. Jahrhundert vor; von Simsons Werk wird in Deliyannis’ Bibliographie zwar aufgelistet, im Überblick zur Forschungsgeschichte aber nicht erwähnt. Selbst für englischsprachige Forscher und Forscherinnen, die zum frühchristlichen Ravenna arbeiten, bildet heutzutage Deichmanns Monumentalwerk von 1958 – 89 den Referenzpunkt par excellence, an dem keine Studie zu Ravenna vorbeikommt. Von Simsons Verdienste um das Verständnis der ravennatischen Hauptwerke werden heute nur mehr durch den Deichmann’schen Filter wahrgenommen,53 48 D. T. R., in: The English Historical Review, 64, Oct. 1949, Nr. 253, 535 – 536: „In general, ­however, the book is to be commended“ (536). 49 Harold R. Willoughby, in: Church History, 18, 1949, Nr. 1, 55 – 56. 50 Peter Charanis, in: The Journal of Religion, 30, 1949, Nr. 4, S. 280 – 281. Auch Norman H. Baynes, 1931 – 1942 Professor für Byzantinische Geschichte am University College in London, kritisiert von Simsons teilweise zu persönlichen und subjektiven Deutungen, geht aber davon aus, dass dessen Interpretationen gute Denkanstöße für Studierende der mittelalterlichen Kunstgeschichte liefern und die zukünftige Diskussion befruchten werden; vgl. Baynes’ Rezension zu Sacred Fortress in: History, N. S. 36, 1951, Nr. 128, 252. 51 Barbara Foster Sessions, in: The Catholic Historical Review, 35, 1950, Nr. 4, 432 – 434, hier 434. 52 Charles B. McClendon, in: The American Historical Review, 94, 1989, Nr. 3, 730 – 731: „Indeed, in spite of continued research by numerous scholars, there is nothing comparable on the subject in English, and Sacred Fortress remains a beautifully written and stimulating analysis of some of the greatest works on early Christian art.“ (730). Vgl. Henry Maguire, in: Speculum, 64, 1989, Nr. 4, 1048 – 1049: „Sacred Fortress remains the only study of the mosaics of Ravenna in English which explores the interrelationships of art, literature, theology, liturgy, lay, and politics.“ (1049). 53 Bezeichnend etwa Clementina Rizzardi, Il mosaico di Ravenna. Ideologia e arte, Bologna 2011, wo von Simsons Sacred Fortress zwar in der Bibliographie aufgeführt wird, aber weder in der

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außerdem wird heute – völlig zu Recht – stärker in Rechnung gezogen, wie tiefgreifend die ravennatischen Monumente und ihre Mosaiken im 19. und 20. Jahrhundert restauriert wurden, also keineswegs so intakt sind, wie von Simson dies immer wieder betont hatte.54 Dennoch stellt von Simsons Sacred Fortress einen wichtigen Meilenstein in der Zugangsweise zu frühchristlichen und byzantinischen Denkmälern dar. Neu an von Simsons Deutung der ravennatischen Mosaiken ist der konsequente Rekurs auf ihre Abhängigkeit von den politischen Ambitionen ihres Auftraggebers, aber auch von dem performativen Geschehen, das sich in den betreffenden Bauten vollzog. Anregungen zu einer solchen Betrachtungsweise mag von Simson aus Werken wie Andreas Alföldis Die Ausgestaltung des monarchischen Zeremoniells am römischen Kaiserhofe (1934), André Grabars ­L’empereur dans l’art byzantin (1936) oder Otto Treitingers Die oströmische ­Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell (1938) geschöpft haben, wo die enge Interdependenz von Politik, Ritual und Bild jeweils explizit, wenn auch bezogen auf unterschiedliche historische Kontexte, thematisiert wird; alle drei Titel sind in von Simsons Literaturliste aufgeführt, ebenso Franz Cumonts Recherches sur le symbolisme funéraire des Romains (1942) oder Les survivances du culte impérial romain von Louis Bréhier und Pierre Batiffol (1920). Ansonsten überwiegen in der in Sacred Fortress aufgeführten Forschungsliteratur Titel zur Liturgie, während Werke zur frühchristlichen Bildkunst oder spezifischer noch zu den frühchristlichen Denkmälern Ravennas die Minderheit bilden. Zu den ravennatischen Mosaiken konnte von Simson lediglich auf das schmale Bändchen von Santi Muratori (1945) zurückgreifen sowie auf die Überblickswerke von Charles Rufus Morey (1942), Marguerite van Berchem/Etienne Clouzot (1924) und Oskar Wulff (1918).55 Insbesondere bei Muratori finden sich einige Denkfiguren vorgeprägt, die bei von Simson wieder auftauchen; so qualifiziert bereits Muratori San Vitale als „Vittoriale di Giustiniano, il sogno dell’Impero risorto“ und seine Mosaiken als „un poema religioso che canta la gloria della Redenzione“, das man nur verstehe, wenn man die im betreffenden Raum gefeierte Liturgie in ihrer ganzen theologischen Tragweite und im Falle der Kaiserpaneele auch das byzantinische Kaiserzeremoniell berücksichtige.56

Forschungsgeschichte noch in den Kapiteln zu S. Vitale, S. Apollinare Nuovo und S. Apollinare in Classe erwähnt oder gar zitiert wird. 54 Z. B. von Simson (wie Anm. 1), vii und 1. Zu den Restaurierungen der ravennatischen Monumente siehe Mariëtte Verhoeven, The Early Christian Monuments of Ravenna. Transformations and Memory, Turnhout 2011; Jäggi (wie Anm. 10), 20 – 21 und passim. 55 Oskar Wulff, Altchristliche und byzantinische Kunst, Vol. I, Berlin 1918; Marguerite van Berchem und Etienne Clouzot, Mosaïques chrétiennes du IVe au Xe siècle, Genf 1924; Charles Rufus Morey, Early Christian Art, Princeton 1942; Santi Muratori, I mosaici ravennati della chiesa di S. Vitale, 1. Aufl., Bergamo 1942 bzw. 2. Aufl. 1945. Charles Diehls Büchlein Ravenne. Etudes d’archéologie byzantine von 1886 ist seltsamerweise nicht in der Literaturliste aufgeführt – offenbar stand es von Simson nicht zur Verfügung. 56 Muratori (wie Anm. 55), 7 – 12 (Zitate von S. 7 und 12).

Kunst ­zwischen Propaganda und Liturgie | 141

Sacred Fortress ist im Wunsch um eine ganzheitliche Betrachtungsweise entstanden, vor allem aber unter dem Eindruck des zerfallenden „Abendlandes“.57 Von Simsons Übertritt zum Katholizismus im Jahr 1937 und seine Arbeit als Redakteur bei der Monatsschrift Hochland 1937 – 38 belegen bereits für die Zeit unmittelbar nach seinem Studienabschluss eine Hinwendung zu jenen Kreisen des „kulturintegrativen katholischen Konservativismus“, die dem Nationalsozialismus mit der Rückbesinnung auf den Glauben und die kulturellen Werte des Christentums begegnen wollten.58 Im Committee on Social Thought, einem Forschungsinstitut, das sich der Transdisziplinarität verschrieben hatte und von seinen Mitgliedern vernetztes Denken auf der Basis von soliden Quellenkenntnissen einforderte, fand von Simson dann nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten nicht nur Geistesverwandte, sondern offenbar ganz konkret den Zugang zur Liturgie und den entsprechenden historischen Texten als Quellen und Korrelate zu zeitgleichen Kunstwerken.59 Für von Simson war aber die Liturgie mehr als nur Quellenbasis, für ihn war sie ein Speichermedium christlicher Werte, die er durch Nationalsozialismus und Krieg in den Schmutz gezogen sah.60 Dass seine Beschäftigung mit der frühchristlichen und byzantinischen Liturgie nicht nur historischem Interesse geschuldet war, sondern unter dem konkreten Eindruck des 2. Weltkrieges und seiner Vorgeschichte verstanden werden muss, dokumentiert der Schlussabschnitt in seinem 1947 erschienenen Aufsatz Das abendländische Vermächtnis der Liturgie, der eine deutsche Kurzversion von Sacred Fortress darstellt: (Die Liturgie) hat die Geschichte der abendländischen Völker, die Geschichte des Abendlandes bewahrt. Was aber hat uns die Geschichte zu lehren, wenn es nicht ­dieses Universale ist? Heute sind wir nahe daran, das Gemeinsame des Vermächtnisses aus den Augen zu 57 Zum „Abendland“ als kulturpolitisches und geistesgeschichtliches Paradigma siehe Otto Weiß, Kultur­katholizismus. Katholiken auf dem Weg in die deutsche Kultur 1900 – 1933, Regensburg 2014, 187 – 194. Vgl. auch Felix Dirsch, Authentischer Konservativismus. Studien zu einer klassischen Strömung des politischen Denkens, Berlin 2012, 201 – 225. 58 Der Begriff des „kulturintegrativen katholischen Konservativismus“ stammt von Felix Dirsch; vgl. Dirsch (wie Anm. 57), 121 – 149 und 201 – 225. Zu Otto von Simsons Konversion zum Katholizismus anno 1937 und den Umständen seiner Emigration in die USA 1939 siehe http://arthistorians. info/simsono [Zugriff: 21. 5. 2018]. Dass von Simson tief im Katholizismus verankert war, zeigt auch die Tatsache, dass er für die Datierung seines Vorwortes in Sacred Fortress auf den Heiligen­ kalender rekurriert („Chicago, Feast of St. Apollinaris of Ravenna, July 23, 1948“). Zu von Simsons Arbeit bei der Zeitschrift Hochland und seiner Emigration siehe Ulrike Wendland, Die Emigration Münchner Kunsthistoriker im Nationalsozialismus, in: 200 Jahre Kunstgeschichte in München (wie Anm. 30), 146 – 153, hier 149 – 150. Zur Geschichte und weltanschaulichen Verankerung der Zeitschrift siehe Dirsch (wie Anm. 57), 150 – 200; Weiß (wie Anm. 57), 47 – 50 und 69 – 76. 59 Dass das Committee on Social Thought selbst unter den amerikanischen Intellektuellen nicht allgemein bekannt war, dokumentiert Ernst Kitzingers Brief vom 20. November 1947 an Otto von Simson, wo im Postscriptum steht: „What is the ‚Committee on Social Thought‘?“; Berlin, Staatsbibl., Nachlass 290, Kasten 17, Mappe 5. Zum Committee on Social Thought s. auch Anm. 5. 60 Dies wird besonders deutlich in Otto von Simsons Aufsatz Das abendländische Vermächtnis der Liturgie; von Simson, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 11 – 54. Vgl. auch Anm. 5.

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verlieren, ohne welches wir zugrunde gehen müssen. Über den Entzweiungen, dem Haß des Augenblickes ist es vergessen. In der Liturgie aber lebt das Abendland fort. Die Denkmäler nicht nur unserer Geschichte, sondern unseres Glaubens liegen im Staube. Aber die heiligen Gestalten sind gegenwärtig, deren Erinnerung jene Stätten geweiht hat. […] Als Stimme der Heiligen behütet die Liturgie nicht nur das hohe Erbe der Vergangenheit; sie wendet sich mit dieser Stimme auch ehrfurchtsgebietend an die Zukunft.61

61 Von Simson, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 54; vgl. auch Anm. 5. Von Simsons Interesse an Politik und politischen bzw. gesellschaftlichen Wertvorstellungen macht sich auch in seinem Aufsatz Freiheit und das Streben nach Glück. Geistige Grundmotive in USA bemerkbar, erschienen in: Hochland, 42, 1950, 209 – 229.

Bruno Klein

Eckstein oder Schlussstein Otto von Simsons The Gothic Cathedral/ Die gotische Kathedrale

The Gothic Cathedral ist das bekannteste Werk Otto von Simsons, das auch immer ­wieder als sein bedeutendstes angesprochen wird. Erstmalig 1956 auf Englisch in New York publi­ziert (Abb. 1), später dann ab 1968 unter dem Titel Die Gotische Kathedrale auch auf Deutsch, hat es seitdem immer wieder Neuauflagen und Übersetzungen erfahren.1 Die sechste deutsche Ausgabe ist zuletzt 2017 nachgedruckt worden; die fünfte englischsprachige erschien 1989 in Boston 2; bis 1988 gab es vier Auflagen des Buches unter dem Titel La catedral gótica auf Spanisch; zudem Ausgaben in Italienisch von 1988, 1997, 2008 und 2013, in Polnisch von 1989 und in Portugiesisch von 1991 unter den Titeln La cattedrale gotica, Katedra gotycka, respektive Cathedral gotica.3 Überraschenderweise fehlt eine französische Ausgabe ­dieses Buches, obwohl es ein Hymnus auf die historische Kultur und die gotische Architektur Frankreichs ist.

1. Einführung Für eine Präsentation ­dieses sehr breit und so international rezipierten Buches, seiner Bedeutung und Wirkung bedürfte es eigentlich eines viel unabhängigeren und neutraleren Referenten, als ich dies sein könnte. Denn vor mehr als 35 Jahren wurde ich mit einer von Otto von Simson als Erst- und Peter Kurmann als Zweitgutachter betreuten Disser­tation über die gotische Abteikirche von Braine in Nordfrankreich an der FU Berlin promoviert. Dies war eine Arbeit, die thematisch zahlreiche Berührungspunkte zu von Simsons Gotischer Kathedrale aufwies. Und obwohl mich Otto von Simson selbst während einer Frankreich-­Exkursion 1978 auf d ­ ieses Thema gestoßen hatte – ohne dass einer von uns beiden damals je an eine sich daran anschließende Dissertation gedacht hätte –, richtete sich meine Arbeit im Verlauf ihrer Entstehung zunehmend gegen einige Kernthesen seines Buches, insbesondere gegen die aus meiner damaligen Sicht überstarke Betonung des geistigen Hintergrundes für die Entstehung der Gotik und speziell gegen die Überhöhung 1 2 3

Im Folgenden ist der Vortragscharakter des originalen Kolloquiums-­Beitrags beibehalten worden. Dieser hätte nicht entstehen können ohne die zahlreichen Informationen und Quellenhinweise von Ingo Herklotz, dem ich dafür an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. In der letzten Ausgabe werden Auflagen und Nachdrucke unterschiedlich gezählt. Den Hinweis auf die polnischen sowie portugiesischen Ausgaben verdanke ich ebenfalls Ingo Herklotz.

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Abb. 1 Otto von Simson, The Gothic Cathedral, Vor- und Titelblatt der Ausgabe von 1956

der Rolle der Kathedrale von Chartres. Dies alles schien mir viel zu emphatisch, so dass ich mich bei meiner eigenen Arbeit, die bewusst antiideologisch sein sollte, auf das Zählen von Steinen, die Analyse von Baufugen und die positivistische Untersuchung schriftlicher Quellen etc. gestürzt habe. Daraus ergab sich dann eine sicher nicht sehr spannende Dissertation, weil in ihr einerseits versucht wurde, die Ideologeme der älteren Kunstgeschichte, insbesondere von Otto von Simson, zu enthüllen – die aber andererseits nicht in der Lage war, diesen etwas intellektuell wirklich Elegantes entgegenzusetzen. Stattdessen habe ich mich damals den Baudetails gewidmet, in der Hoffnung auf ­diesem Wege herauszufinden, was die Akteure der Gotik wirklich dachten, wie sie praktisch handelten und ihre Gedanken zu kommunizieren vermochten. So kritisch, wie ich meine eigene Dissertation heute betrachte, hatte wohl auch Otto von Simson sie gesehen – sie aber im Promotionsverfahren wohlwollend fair begutachtet. Immerhin habe ich es mit dieser Arbeit geschafft, in das von ihm geschriebene Vorwort der letzten englischsprachigen Ausgabe von The Gothic Cathedral von 1989 zu kommen, in dem er die Ergebnisse meiner Dissertation, nennen wir es einmal neutral, nonchalant relativierte.4 4

„In his interesting monograph St.-Yved (Cologne, 1984), Bruno Klein has argued not only that this church is earlier than Chartres but that it anticipates the great achievements of the cathedral, which he therefore relegates to a rather modest place in the history of Gothic architecture. In fact, however, the chronology of St.-Yved is uncertain. And as to the elevations of the two churches, as

Eckstein oder Schlussstein | 145

Ich erwähne dies alles nicht bloß, um das Interesse am Anekdotischen zu befriedigen, sondern weil mir vor allem aus methodischen Gründen daran gelegen ist darauf hinzuweisen, dass ich eigentlich kein unbefangener Analyst in Bezug auf die Gotische ­Kathedrale von Otto von Simson sein kann. Andererseits habe ich weder sein noch mein Buch seit meiner Promotionszeit mehr gelesen; auch vom Umfeld des eigenen Dissertationsthemas, das so eng mit dem seines Buches zusammenhing, habe ich mich in den vergangenen Jahrzehnten weit entfernt.5 Daher ist die nachfolgende historisch-­systematische Analyse der Gothic Cathedral einerseits ein kritischer Rückblick, der wissenschaftlichen Standards zu genügen hat, aber er kann sich andererseits auch von Persönlichem nicht völlig frei machen. Der folgende Beitrag ist zwangsläufig viel subjektiver als alle anderen in d ­ iesem Band, weil Persönliches und Wissenschaftliches bei ­diesem Thema untrennbar miteinander verbunden sind. Im Anschluss an diesen ersten Punkt, in dem ich ein paar methodische Grundlagen dargelegt habe, gliedert sich mein Beitrag noch in weitere sechs Punkte, nämlich über: 2. den Inhalt des Buches, 3. mögliche zeitliche und räumliche Entstehungskontexte, 4. den allgemeinen kunsthistorischen Kontext, 5. den Stil des Buches, 6. Rezeption und Wirkung, um 7. am Ende über die Frage zu räsonieren, ob es sich bei The Gothic Cathedral um einen Eck- oder Schlussstein handelt.

2. Der Inhalt des Buches Otto von Simson hätte diese mathematisch-­proportionale Untergliederung wahrscheinlich Spaß gemacht, nimmt die allgemeine Rekonstruktion von solchem Gedankengut in seinem Buch über die ‚Gotische Kathedrale‘ doch einen zentralen Platz ein, womit ich gleich bei Punkt 2 meines Beitrags angekommen wäre, dem Kurzreferat über den Inhalt des Buches. The Gothic Cathedral gliedert sich in drei locker zusammenhängende, einander ergänzende Großkapitel: Im ersten, das auf Englisch „Gothic Design and the Medieval Concept of Order“ heißt und auf Deutsch „Gotische Struktur und mittelalterlicher Ordo“ denkt der Autor eher allgemein über die mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen für die Entstehung der gotischen Architektur nach. „Gotische Form“ wird im Wesentlichen als eine Reduktionsform gegenüber den als überreich interpretierten Formen der

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Bony points out, the master of St.-Yved remains far behind and is more „old-­fashioned“ than the architect of Chartres.“ Vgl. Otto von Simson, The Gothic Cathedral, 3. Aufl., Princeton 1988, IX. Erst 2012 war ich gehalten, mich anlässlich eines Kolloquiums über die Trierer Liebfrauenkirche ­wieder mit meinem Dissertationsthema auseinanderzusetzen. Die entsprechende Publikation erschien einige Jahre später: Bruno Klein, Liebfrauen und St-­Yved in Braine, in: Liebfrauen in Trier. Architektur und Ausstattung von der Gotik bis zur Gegenwart, hg. von Andreas Tacke und Stefan Heinz mit Aufnahmen von Rita Heyen, Petersberg 2016, 121 – 127.

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Abb. 2 Saint-­Denis, ehemalige Abteikirche, nach einer Lithographie von Félix Benoist aus der Sammlung Paris dans sa splendeur, Paris Nantes 1861 – 63, Nr. 94

Romanik gedeutet. Für das Buch viel wichtiger aber ist die These, dass der Entstehung der Gotik eine theologische ­Theorie der Bedeutung von Proportionen zugrunde gelegen habe, weil es allgemeine Überzeugung gewesen sei, dass sich in diesen die göttliche Ordnung widerspiegele. Hinzu tritt für von Simson die Bedeutung des Lichtes, das für die Gotik eine zentrale Rolle gespielt habe, weil dadurch ebenfalls das Göttliche zum Aufscheinen gebracht werde. Im zweiten Großkapitel „The Birth of the Gothic“ / „Die Entstehung der Gotik“ werden anhand der Abteikirche von Saint-­Denis (Abb. 2), der Kathedrale von Sens und der frühgotischen Fassade von Chartres (Abb. 3) hauptsächlich kulturpolitische Hintergründe für den Neubau von solchen herausragenden ­Kirchen erhellt, die für die weitere Entwicklung der gotischen Architektur maßgeblich werden sollten. Im letzten Kapitel, „The Consummation“ / „Die Vollendung“, wird schließlich der hochgotische Neubau der Kathedrale von Chartres eingehend analysiert und im Sinne der Kapitelüberschrift als „Vollendung“ interpretiert. Generell zeichnet sich das Buch inhaltlich und methodisch dadurch aus, dass es in Bezug auf das Phänomen der Entstehung der Gotik für seine Zeit geradezu extrem kontextbasiert ist: Kulturelle Mentalitäten, religiöse, mönchische, politische und zahlreiche andere Kontexte, die für die Entstehung der gotischen Architektur wichtig gewesen sein

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Abb. 3 Chartres, Kathedrale, Westfassade, nach Jean-­Baptiste-­ Antoine Lassus, Monographie de la Cathédrale de Chartres – Atlas, Paris 1867, Abb. 4

könnten, werden in ihrer Vielzahl aufgezeigt. Die Argumentation ist komplex angelegt, und es wird vor allem auf Kontingenzen und Nichtwissen aufmerksam gemacht. Damit unterscheidet sich das Buch deutlich von den zu seiner Zeit üblichen, eher monokausal-­ pauschalisierenden Gotik-­Interpretationen.6

3. Der zeitliche und räumliche Kontext Hierüber lässt sich nur wenig Präzises sagen, weil sich die Genese des Buches wohl alles in allem über mehr als zwei Jahrzehnte hingezogen hat und es damit nicht nur an ganz verschiedenen Orten entstanden ist, sondern auch in entsprechend differenten 6

Ich verzichte an dieser Stelle auf eine inhaltliche Kritik an d ­ iesem Buch, die seit seinem Erscheinen häufiger vorgetragen wurde. Dazu zuletzt und mit zahlreichen Verweisen: Norbert Nußbaum, Einführung, in: Otto von Simson, Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung, 6. Aufl., Darmstadt 2010, VII–XXIII; Christian Nille, Kathedrale – Kunstgeschichte – Kulturwissenschaft. Ansätze zu einer produktiven Problemgeschichte architekturhistorischer Deutungen, Frankfurt a. M. 2016, bes. 90 – 97.

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wissenschaftlich-­kulturellen Umgebungen. Von Simsons Freund und Kommilitone Joseph Alexander von Raczyński erzählt in seinen 1993 verfassten Erinnerungen an die 1933/34 gemeinsam in Paris verbrachte Studienzeit davon, wie beide damals zusammen die gotischen Kathedralen in Nordfrankreich besichtigten. Er vermutet, dass dabei der Grundstein für das Buch gelegt worden sei.7 Von Simson selbst spricht, soweit bekannt, erstmalig im Februar 1938 davon, dass er eine Idee zur Entwicklung mittelalterlicher Architektur habe. Er schreibt dies in einem Brief an Walter Friedlaender kurz nach seiner Rückkehr von einer Reise in die USA und eigentlich auch schon unmittelbar vor seiner bald danach erfolgten Emigration dorthin.8 Aber daraus lässt sich noch nicht ableiten, dass von Simson damals bereits die Absicht hegte, aus dieser Idee je ein Buch werden zu lassen. In einer Selbstauskunft, die 1988 unter dem Titel Simson über Simson in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien,9 gab er an, dass die Idee zu ­diesem Buch 1949 beim ersten Nachkriegsbesuch der Kathedrale von Chartres entstanden sei. Es gibt keinen Anlass daran zu zweifeln, dass es damals gerade dort diese Initialzündung gegeben hat; aber es ist auch nicht so, als sei die Idee zum Thema d ­ ieses Buches bei jener Besichtigung vom Himmel gefallen; denn Leitgedanken zur Gothic Cathedral hatte von Simson in verschiedenen Aufsätzen 10 schon seit den 1930er Jahren mehrfach vorgetragen. So schrieb er in dieser Zeit eine Reihe von Aufsätzen und Rezensionen auf Deutsch und Englisch, in denen die Kernthesen der Gotischen Kathedrale bereits klar vorformuliert sind.11 Zudem erwähnte er im Vorwort der Erstausgabe der Gothic Cathedral, dass das Buch aus Vorlesungen und Übungen an der Universität von Chicago Mitte der 1950er Jahre entstanden sei. Alles in allem ist also von einem langen Entstehungsprozess auszugehen, für den zunächst das Studium in Deutschland und Frankreich sowie die Jahre nach der Rubens-­Promotion wichtig waren und später dann auch die Zeit des Exils, die neue intellektuelle Herausforderungen mit sich brachte, aber auch ungeahnte Publikationsformen eröffnete. Ein wirklicher, konkreter, lokaler Kontext für die Entstehung der Gotischen Kathedrale scheint nicht identifizierbar. Sie war wohl im Kern eine Kopfgeburt ihres Autors. Aber sie 7

Joseph A. Raczyński, Mit Otto gemeinsam Erlebtes (Auszüge aus: Erinnertes. 1914 – 1948, 1993); Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290 (Otto von Simson), Kasten 42, 133 – 138. 8 Leo Baeck Archiv, New York, Nachlass Walter Friedlaender, Box 1, Folder 28, http://www.archive. org/stream/walterfriedlaender_01_reel01#page/n766/mode/1up [Zugriff: 6. 8. 2018], Brief vom 9. Februar 1938, Otto von Simson: „Ich schreibe im Augenblick eine Art kurzer Psychologie des mittelalterl. Kathedralbaus, die mir historisch doch sehr merkwürdig zu sein scheint.“ Zu d ­ iesem Text auch Anm. 10. 9 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 2. 1988, [35]: „Werkbesichtigung (VI). Simson über Simson: Die Gotische Kathedrale“, wiederabgedr. in: Werkbesichtigung Geisteswissenschaften: 25 Bücher von ihren Autoren gelesen, hg. von Henning Ritter, Frankfurt a. M. 1990, 60 – 68. 10 Wesentliche Gedanken finden sich bereits in einem bisher unpublizierten Typoskript von 1938/39 mit dem Titel Zur Psychologie des mittelalterlichen Dombaus; Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290, Kasten 40, Mappe „Zur Psychologie des mittelalterlichen Dombaus“. Von Simsons Text ist im Anhang des vorliegenden Beitrags abgedruckt. 11 Vgl. hierzu Veronika von Below, Bibliographie Otto von Simson, in: Festschrift für Otto von ­Simson zum 65. Geburtstag, hg. von Lucius Grisebach und Konrad Renger, Berlin 1977, 579 – 582.

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hätte dennoch nicht überall entstehen können, weil sie zunächst einer äußerst gelehrten europäischen Bildungstradition bedurfte. Vor dieser Folie kam der Exilsituation, in der sie geschrieben wurde,12 eine geradezu antipodisch-­wirkungsmächtige Bedeutung zu: Von Simson beschreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe den amerikanischen Entstehungshintergrund und legt dabei seine Skepsis gegenüber einer Übertragung der Ideen ins Deutsche explizit dar. Denn offenbar konnte das Werk im Exil freier und unabhängiger geschrieben werden, als es im europäischen Wissenschaftskontext je möglich gewesen wäre.13 Insgesamt scheint die Exilsituation der relativ autonomen, individuellen Genese der Gotischen Kathedrale förderlich gewesen zu sein. Nur deshalb konnte sie auch als ein Werk entstehen, das sich eigentlich aus heterogenen, nur locker miteinander verbundenen Teilen zusammensetzt: Denn die Gedankengänge, die in der Gotischen Kathedrale vereint sind, zielten ursprünglich wohl nicht darauf ab, in einem Buch konsistent zusammengefasst zu werden. Dennoch war es in Amerika leichter möglich, diese Überlegungen in einem Buch zusammenzuführen als in Europa, wo die großen, kohärenten Synthesen Standard waren.14 Die verständliche Sorge, vor solchen Monumentalwerken nicht bestehen zu können, war wohl der Hauptgrund für von Simsons Vorbehalte bezüglich der Übersetzung seines Buches ins Deutsche. Aber The Gothic Cathedral ist nicht nur deshalb zu einem Buch geworden, weil es in Amerika einfacher war, heterogene Gedanken in d ­ iesem Medium zusammenzuführen. Vielmehr dürfte die spezielle Wahl der Buchform noch einen ganz anderen Hintergrund gehabt haben: Um 1950 waren einige höchst divergente Publikationen zur gotischen Architektur erschienen – hier sind insbesondere diejenigen von Erwin Panofsky 15 und 12 Vgl. hierzu den Beitrag von Karen Michels in ­diesem Band sowie dies., Transplantierte Kunstwissen­ schaft. Deutschsprachige Kunstgeschichte im amerikanischen Exil (Studien aus dem Warburg-­ Haus, Bd. 2), Berlin 1999, 410 – 412. Zum Exil von Otto von Simson, aber auch zur vergleichenden wissenschaftsgeschichtlichen Einschätzung seines Œuvres grundlegend: Ulrike Wendland, Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler, 2 Bde., München 1999, hier Bd. 2, 643 – 6 49. 13 Ein konkreter Chicagoer Wissenschaftskontext scheint nur ganz am Rand auf, z. B. wenn von ­Simson schreibt, dass es in der gotischen Architektur nicht einfach zu bestimmen sei, „ob die Form der Funktion folgte oder diese der Form.“ (Otto von Simson, Die Gotische Kathedrale, 5. Aufl., 1992, 17.) Hier reagiert er deutlich auf eine Diskussion in Chicago, die der dortige Hochhausarchitekt Louis Sullivan am Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Stichwort „form follows function“ angestoßen hatte. Aber dominant ist d ­ ieses Motiv nicht: Vielmehr wirkt es, als sei es zum Zweck der methodischen Bereicherung aufgegriffen worden. 14 Otto von Simson vereinte regelmäßig unterschiedliche Kapitel bzw. große Essays zu Büchern. Dies war bereits in seiner 1936 publizierten Dissertation der Fall (siehe hierzu den Beitrag von Ingo ­Herklotz) wie auch in Sacred Fortress von 1948 (vgl. Carola Jäggi) und Blick nach Innen von 1986 (vgl. Ingeborg Becker). Es scheint, dass Otto von Simson diese Publikationsform dank des Exils weiterentwickeln konnte. 15 Erwin Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism, Latrobe 1951.

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Hans Sedlmayr 16 zu nennen –, die Otto von Simson veranlasst haben könnten, seine eigenen Ideen zum Thema ebenfalls in einem Buch zusammenzufassen und zu publizieren.17 Wissenschaftlich befand er sich damals in einer unbequemen Situation, nämlich ­zwischen der abstrakt-­geistesgeschichtlichen Gotik-­Interpretation von Panofsky und der spekulativen, rassenideologischen von Sedlmayr. Dabei nimmt sein Buch jenseits dieser widersprüchlichen, gleichwohl platonischen Werke eine geradezu aristotelische Position ein. Über das Verhältnis von Otto von Simson zu Sedlmayr ist nichts bekannt, was über die Rezension von dessen Buch Die Entstehung der Kathedrale 18 hinausginge, während das eher problematische persönliche Verhältnis zu Panofsky notorisch ist, worauf noch zurückzukommen sein wird. Dessen ungeachtet dürften aber die beiden genannten Bücher – und Otto von Simson war jemand, der sowohl den damals nur auf Englisch erschienenen Panofsky wie den auf Deutsch veröffentlichten Sedlmayr wahrnehmen und lesen konnte – von Simson selbst zur Verfassung eines eigenen Buches über die gotische Kathedrale veranlasst haben, in dem eigene markante Position definiert wurden. Es spielt dabei eine nicht zu vernachlässigende Rolle, dass mittels Gotik-­Interpretationen im 19. und 20. Jahrhundert über viele Jahrzehnte hinweg vermeintlich kulturgeschichtlich-­ wissenschaftlich begründete Analysen der zeitgenössischen Gesellschaft stattfanden. Was man für ideal hielt, wurde in die Gotik hinein- bzw. aus ihr herausgelesen. Gotik-­ Deutungen waren von einer heute schier unvorstellbaren Relevanz: Historische Gotik-­ Analysen waren Kulturanalysen der Gegenwart. Auch die Gotik-­Interpretationen von Sedlmayr, Panofsky und von Simson sind daher als Manifeste des Anspruchs auf Diskussionshoheit zu verstehen. Daher ist der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass gerade von Simsons Buch sowohl ein Abschiedsgeschenk an Amerika als auch eine Willkommensgabe für Europa sein sollte, entstand es doch genau während der Vorbereitung zur Remigration. Von Simson gehörte bekanntlich zu den wenigen erfolgreich Remigrierten, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Entstehung von The Gothic Cathedral auch mit d ­ iesem politisch wie persönlich schwierigen Prozess verbunden war. Als die Gotische Kathedrale 1968 auf Deutsch erschien, unterschied sie sich in ihrer inhaltlichen Disparatheit so deutlich von den damals in Europa üblichen, stark ideologisch geprägten traditionellen Synthesen, dass sie in den Auseinandersetzungen der 68er, in die von Simson gerade an der Freien Universität Berlin zutiefst verwickelt war, weder inhaltlich noch methodisch auch nur im Entferntesten berührt worden wäre. Das Buch bot damals wie heute keine Angriffsflächen für fundamentale Ideologiekritik.

16 Hans Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950. 17 Darauf, dass von Simson sich durch Sedlmayrs Buch zum Verfassen seiner Gotischen Kathedale heraus­gefordert fühlte, hat er später selbst hingewiesen (siehe Anm. 9). 18 In: Kunstchronik, 4, 1951, 78 – 84.

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4. Der epistemologische Kontext Die letzten Bemerkungen haben bereits zum vierten Abschnitt ­dieses Beitrags übergeleitet, nämlich zur skizzenhaften Rekonstruktion des wissenschaftsgeschichtlichen Kontextes der Gotischen Kathedrale. Auch diese kann nicht schematisch ausfallen, weil das Buch inhaltlich zu zahlreichen der dominanten Diskurse über gotische Architektur seiner Zeit querliegt. Am ehesten sind Bezüge zu der seit dem 19. Jahrhundert verbreiteten Tendenz zu sehen, große gotische Sakralbauten metaphorisch zu überhöhen, um aus ihnen schließlich ein Ideal herauszudestillieren. In Hinblick auf d ­ ieses Verfahren ähneln sich zahlreiche Publi­ kationen aus dem frühen 20. Jahrhundert, obwohl die Resultate durchaus verschieden sein konnten. Die Tatsache, dass in den Publikationen jener Zeit so oft von der „Kathedrale“ die Rede ist, deutet ja schon darauf hin, dass hier eigentlich kein konkretes Gebäude gemeint gewesen sein kann, sondern dass unter dem Begriff „Kathedrale“ vieles subsumiert und idealisiert wurde. Schließlich war es ja auch Otto von Simson und zahlreichen anderen Autoren nicht entgangen, dass die ausführlich behandelte K ­ irche von Saint-­Denis, jenes immer wieder als Gründungsbau der Gotik apostrophierte Monument, eben keine Kathedrale, sondern eine Abteikirche war, genauso wie Saint-­Germain-­des-­Prés in Paris, Saint-­Remi in Reims oder die zahlreichen Zisterzienser- und Bettelordenskirchen des 12. und 13. Jahrhunderts. Wenn der Begriff „Kathedrale“ fällt, dann ist in den Büchern jener Zeit eben nur partiell von konkreten Bauwerken, sondern zumeist von Metaphern dafür die Rede. Wie sehr die Idealisierung der Gotik und ihre Einengung auf die „Gotische Kathedrale“ zum Zeitgeist der Moderne gehörten, mögen schlaglichtartig zwei Beispiele zeigen: Am Anfang steht das Bauhausmanifest von Walter Gropius aus dem Jahr 1919, das inhaltlich auf die gotische Bauhütte als ideale Werkstattgemeinschaft abzielt und visuell von einer expressionistischen Graphik Lionel Feiningers mit einer kristallin ausstrahlenden gotischen ­Kirche begleitet wird. Und 1957, also nur ein Jahr nach der englischsprachigen Erstausgabe der Gotischen Kathedrale von Simsons, erschienen in Frankreich die Mythologies von Roland Barthes, in denen die damals neue Citroën DS als Äquivalent der gotischen Kathedralen apostrophiert wurde: „Je crois que l’automobile est aujourd’hui l’équivalent assez exact des grandes cathédrales gothiques.“19 Darüber hinaus entzieht sich von Simsons Gotische Kathedrale aber vielen der zu ihrer Entstehungszeit gängigen kunsthistorischen Diskurse. Dass sie nicht das Geringste mit Überlegungen der 1950 erstmalig publizierten, aber schon während der NS -Zeit 19 Roland Barthes, Mythologies. La nouvelle Citroën, Œuvres complètes, Bd. I, Paris 1993, 655: „Je crois que l’automobile est aujourd’hui l’équivalent assez exact des grandes cathédrales gothiques: je veux dire une grande création d’époque, conçue passionnément par des artistes inconnus, consommée dans son image, sinon dans son usage, par un peuple entier qui s’approprie en elle un objet parfaitement magique. La nouvelle Citroën tombe manifestement du ciel dans la mesure où elle se présente d’abord comme un objet superlatif. Il ne faut pas oublier que l’objet est le meilleur messager de la surnature: il y a facilement dans l’objet, à la fois une perfection et une absence d’origine, une clôture et une brillance, une transformation de la vie en matière (la matière est bien plus magique que la vie), et pour tout dire un silence qui appartient à l’ordre du merveilleux.“

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vorbereiteten Entstehung der Kathedrale von Hans Sedlmayr zu tun hat, zeigt sich bereits in der Rezension, die von Simson 1951 für die Kunstchronik geschrieben hat. Darin belegt er sehr gelassen, dass Sedlmayrs Behauptung, speziell gotische Kathedralen s­ eien konkrete Abbilder des Himmlischen Jerusalems, weder praktisch noch intellektuell haltbar sei.20 Ihm selbst war es hingegen ein generelles Anliegen, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die „Gotische Kathedrale“ ein symbolisches Gebäude sei, das nicht nur eine einzige, sondern komplexe Weltsichten und Mentalitäten zum Ausdruck bringe. Daher weist das Buch auch nur wenige Affinitäten zu den damals aktuellen F ­ orschungen 2 1 von Erwin Panofsky  auf, weil ihm auch dessen Ansatz, die Gotik als Emanation von Gedanken und Texten der Scholastik zu interpretieren, als zu eng erschien. In von ­Simsons Gotischer Kathedrale wird Panofsky daher auch eher pflichtschuldig denn aus echter Überzeugung zitiert.22 20 Wie Anm. 18. 21 Wie Anm. 15. 22 In ­diesem Zusammenhang ist es vielleicht nicht ganz marginal, dass das wissenschaftliche wie persönliche Verhältnis ­zwischen von Simson und Panofsky offenbar zumindest zeitweilig nicht ganz einfach war. Ich selbst erinnere mich daran, wie von Simson gesprächsweise an Panofsky kritisierte, dieser habe sich zu akademisch abstrakt und zu wenig konkret mit den Kunstwerken beschäftigt. Und an Walter Friedlaender schrieb er im Februar 1938 nach der Rückkehr von einer Amerikareise über einen Besuch bei Panofsky, bei dem er sich noch von Europa aus angemeldet hatte: „Keine ganz angenehme Überraschung war mir die Nachricht, daß Erwin Princetonensis den „anderen Geist“ in mir offenbar ausdrücklich hervorgehoben hat, was in seinem Munde jedenfalls keine Anerkennung heißt. Ich war freilich nach meiner Unterhaltung mit ihm selbst etwas unglücklich, und ich muß auch zugeben, dass meine wissenschaftlichen Bestrebungen sich schon heute in eine Richtung entwickeln, die der seinen vielerorts entgegen ist. So wäre ein besseres Ergebnis vielleicht unverdient gewesen!“ (Brief vom 9. Februar 1938, Archiv Walter Friedlaender, Leo Baeck Institute: http://www.archive.org/stream/walterfriedlaender_01_reel01#page/n764/ mode/1up [Zugriff: 4. 11. 2018], Hinweis von Ingo Herklotz). Von Simson war Ende 1937 in die USA gereist, um dort Arbeitsmöglichkeiten für ein unvermeidlich erscheinendes Exil zu eruieren. Für ­dieses Vorhaben hatte er auch von Panofsky Unterstützung erwartet, der ihm trotz wissenschaftlicher Differenzen tatsächlich ein sehr freundliches Empfehlungsschreiben verfasst hat (zit. in: Wendland [wie Anm. 12], 347). Zur Bedeutung von Panofsky für die deutschen kunsthistorischen Emigranten in Amerika vgl. die entsprechenden Ausführungen bei Karen Michels (wie Anm. 12). Über die Gründe für das zumindest in der Frühzeit komplizierte Verhältnis ­zwischen beiden lässt sich nur spekulieren: War von Simson als zum Katholizismus konvertierter „Halbjude“ dem emigrierten assimilierten Juden Panofsky zu angepasst? Ließ von Simsons Adelsattitüde den bürgerlichen Panofsky zurückhaltend reagieren? War von Simson, der damals Redakteur der NS -kritischen, aber noch erlaubten katholischen Zeitschrift Hochland und immerhin noch 1936 von dem notorischen NS -Kunsthistoriker Wilhelm Pinder in München promoviert worden war, in Panofskys Wahrnehmung möglicherweise zu NS -affin? In späteren Jahren war das Verhältnis ­zwischen beiden offenbar deutlich entspannter und sogar freundschaftlich. Dies geht insbesondere aus dem Nachruf auf Panofsky hervor, den von Simson 1968 vor der Kunsthistorischen Gesellschaft in Berlin vorgetragen hat. Freilich wird auch dort methodische Kritik an Panofskys ­intellektueller Kunstgeschichte geübt (Otto von S­ imson, Nachruf auf Erwin Panofsky, in: Sitzungsberichte. Kunsthistorische Gesellschaft zu Berlin, N. F. 1967/68, 9 – 14).

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Der methodische Ansatz von Simsons ist komplexer als derjenige von Gothic Architecture and Scholasticism von Panofsky 23, weil darin versucht wird, konkrete und vor allem kontextualisierbare mentalitätsgeschichtliche Aspekte einzubringen. Solche Ideen hatte Otto von Simson bereits in dem erwähnten Manuskript mit dem Titel Zur Psychologie des mittelalterlichen Dombaus 24 dargelegt, an dem er gegen Anfang 1938 in seiner Zeit als Redakteur der katholischen Zeitschrift Hochland gearbeitet hatte und das wohl wegen seiner Emigration nicht mehr veröffentlicht wurde.25 In ­diesem Text zeigt sich eine charakteristische Vermengung von emphatisch-­neokatholischen Ansätzen, die vielleicht für den damals gerade erst konvertierten von Simson nicht untypisch waren, und einer eher sachgerecht-­umfassenden Darlegung kunst- und kulturhistorischer Kenntnisse. Manches davon fand sich dann knapp zwanzig Jahre später in der Gothic Cathedral wieder, in der aber der aufgeregte Hintergrund der NS-Zeit, in der diese Überlegungen als Reaktion auf jenes Umfeld erstmals angestellt worden waren, weder angesprochen noch spürbar ist. Man muss jedoch auf diesen ursprünglichen Kontext hinweisen, um zu verstehen, warum Die Gotische Kathedrale so sehr außerhalb von bekannten wissenschaftlichen Forschungsdiskursen steht. Denn eigentlich weist das Buch ja eine große methodische Nähe zu den kulturgeschichtlichen Ansätzen von Warburg, Panofsky etc. auf, versucht aber nicht, B ­ rücken zu schlagen, sondern arbeitet sich vielmehr kontrastierend daran ab und steht am Ende geradezu erratisch daneben.26 Es ist somit ein Werk, das auf paradoxe Weise mit den Forschungen seiner Zeit verbunden ist und sich zugleich davon abhebt. Mit den rassentheoretisch geleiteten Vorstellungen von Sedlmayr, mit den ästhetizistischen Konzeptionen von Jantzen 27 hat es gar nichts zu tun, mit den intellektuellen Gotikerklärungen Panofskys schon sehr viel mehr, bleibt davon aber dennoch ganz unabhängig.28

23 Panofsky (wie Anm. 15). 24 Siehe Anm. 8. 25 Die Datierung ergibt sich aus dem bereits erwähnten Brief vom 9. Februar 1938 an Walter ­Friedlaender (siehe Anm. 8). 26 Siehe zur inhaltlichen Auseinandersetzung von Simson / Panofsky auch Michels (wie Anm. 12), 129 – 130. 27 Vgl. Jürgen Paul, Hans Jantzen. Skizze einer wissenschaftlichen Biographie, in: Nobilis Arte Manus. Festschrift zum 70. Geburtstag von Antje Middeldorf Kosegarten, hg. von Bruno Klein und Harald Wolter-­von dem Knesebeck, Dresden/Kassel 2002, 555 – 577. 28 Dies hatte bereits Richard Krautheimer so gesehen, der 1954 in Vorbereitung der Publikation der Gothic Cathedral für die Bollingen Foundation ein Gutachten zum Manuskript geschrieben hatte: „It is a fascinating and impressive book, comparable in some respects to Erwin P ­ anofsky’s Gothic and Scholasticism. Yet, in contrast to Mr. Panofsky, von Simson does not focus on the rational and intellectual character of gothic architecture and Medieval philosophy. […] At the same time, Mr. von Simson definitely avoids the pitfalls of the superficial interpretation of Medieval architecture as, unfortunately, it has come to the fore over the last three or five years in the writings of a number of German art historians such as Mr. Sedlmayr and Mr. Bandmann.“ Bibliotheca Hertziana, Rom, Archiv Nachlass Krautheimer, 164/1. Für diesen Hinweis danke ich abermals Ingo Herklotz.

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Abb. 4 Otto von Simson, Die gotische Kathedrale, 1968: Exemplar aus dem Nachlass von Willibald Sauerländer

Otto von Simsons Gotische Kathedrale passt höchstens generisch in einen größeren zeitgeschichtlichen Kontext, ist aber ansonsten vom Entstehungshintergrund eher als ein subjektives Werk einzuschätzen – was selbstverständlich nicht für den Inhalt gilt.

5. Der Stil des Buches Dies trifft auch für Stil und Tonfall des Buches zu: War das erwähnte Manuskript von 1938 zur Psychologie des mittelalterlichen Dombaus noch eher hochtönend, so ist die Gotische Kathedrale von 1956 bzw. 1968 in einer eher nüchternen Sprache gehalten. Die Gegenüberstellung der jeweils ersten Sätze dieser Texte vermag das zu veranschaulichen. 1938 schreibt von Simson: „Auf unvergleichliche Weise hat die christliche Weltansicht sich in der kirchlichen Baukunst des Mittelalters ausgesprochen. Einst hat man die Frage erhoben, wie es möglich sei, dass unsere Religion so gewaltige Kultstätten hervorgebracht habe, obgleich der Heiland ­solche niemals geboten, ja nach seinen Worten das göttliche Geheimnis schon in der Versammlung von zwei oder drei Gläubigen eine Stätte gefunden habe.“ In der ersten deutschen Ausgabe von 1968 heißt es hingegen: „Dieses Buch [im engl.

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Original „this essay“, B. K.] versucht, die gotische Architektur als Abbild zu verstehen, genauer gesagt, als die Darstellung einer übernatürlichen Wirklichkeit. Für die Erbauer der gotischen Kathedralen, ebenso wie für die, w ­ elche dort am Gottesdienst teilnahmen, überschattete dieser symbolische Aspekt der Sakralarchitektur alle anderen. Gerade er ist aber für uns unglaubhaft geworden.“ Statt „unglaubhaft“ heißt es im ­englischen Original „incomprehensible“, also „unverständlich“, was die Sache viel besser trifft und zudem weniger pathetisch klingt. Inhaltlich sind beide Aussagen gar nicht so weit voneinander entfernt, definieren sie doch die großen mittelalterlichen K ­ irchen zunächst als etwas Ungewöhnliches, das es im Folgenden zu erklären gelte. Doch rhetorisch liegen ­zwischen ihnen Welten. Und dass von Simson sich rhetorischer Mittel bewusst war, wird deutlich, wenn er beispielsweise die entsprechende Kompetenz des Bernhard von Clairvaux würdigt, aber diesbezüglich Fehler bei Suger von Saint-­Denis bemerkt und entschuldigend erklärt. Die Gotische Kathedrale ist eindeutig im modus humilis gehalten. ­ athedrale, Liest man daneben die ersten Sätze von Hans Sedlmayrs Die Entstehung der K 1950 nach langer Vorarbeit publiziert, dann wirkt die Sprache von Simsons geradezu nüchtern: Daß die gotische Kathedrale ein Höhepunkt der europäischen Kunst ist – diese Erkenntnis ist noch nicht sehr alt, nicht viel älter als hundert Jahre, und in diesen hundert Jahren seit dem Ende der Romantik ist vieles von der Erkenntnis des Wesens der Kathedrale schon wieder verloren gegangen. Das Wissen um das, was die Kathedrale ist, ist seit den Tagen der Romantiker zurückgegangen, verfallen. Erst seitdem ein neues Gesamtbild der Kathedrale entstanden ist, übersieht man ganz, wie unbeschreiblich großartig, leuchtend, umfassend und tief die Kathedrale von den Romantikern gesehen wurde.29

Solche Zeilen triefen inhaltlich wie rhetorisch geradezu vor Nostalgie und belegen, dass die „Gotische Kathedrale“ in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland noch ein Gegenstand war, an dem sich Kunsthistoriker gerne emotional und verbal versuchten. Otto von Simson hatte sich in jener Zeit hingegen bereits eine distanzierte Position erarbeitet, was auch sprachlich deutlich zum Ausdruck kam. Mit Sicherheit hat ihm seine amerikanische Akkulturation geholfen, Dinge einfacher zu formulieren und nüchtern auf den Punkt zu bringen. Dieses Phänomen ist von Erwin Panofsky bekanntlich theoretisiert worden,30 der sein eigenes Buch über Gothic Architecture and Scholasticism 31 übrigens nicht mit dem rhetorisch gängigen Motiv des Erstaunens über das Phänomen der großen gotischen ­Kirchen einleitete, sondern mit einer nüchternen methodischen Reflexion über Stilgeschichte und die Möglichkeiten von 29 Sedlmayr (wie Anm. 16), zit. n. der Ausgabe Graz 1976, 13. 30 Erwin Panofsky, Epilog. Drei Jahrzehnte Kunstgeschichte in den Vereinigten Staaten. Eindrücke eines versprengten Europäers, in: Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst ­(Meaning in the Visual Arts), Köln 1975, 378 – 406, hier 387. 31 Panofsky (wie Anm. 15).

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Analogien ­zwischen Stil- und Geistesgeschichte. Somit findet Otto von Simsons Buch seinen literarischen Platz ­zwischen seiner eigenen frühen Rhetorik, dem Pathos eines Hans Sedlmayr und der akademisch-­ironischen Abgeklärtheit eines Erwin Panofsky, der damals noch nicht auf Deutsch zu lesen war. Und zugleich brachte Die Gotische Kathedrale zumindest einen verhältnismäßig sachlichen Ton in ein bis dahin hoch emotional besetztes Themenfeld. Dabei ist es für die Rezeption des Buches in den englischsprachigen Ländern einerseits und in Deutschland andererseits nicht zu unterschätzen, dass die deutsche Übersetzung in der Begriffswahl viel traditionalistischer ist als das englischsprachige Original, was an einem einzelnen Beispiel illustriert sei: In der englischen Ausgabe heißt es an zentrale Stelle (25): „In order to evoke those sentiments of reverence and awe that seemed to convey an imitation of the divine presence […] the ecclesiastical builder of the tweltfh century relied increasingly on the Augustinian aesthetics of number and proportion“. Auf Deutsch heißt dies: „Um jene Gefühle schauervoller [B. K.] Verehrung hervorzurufen, die einen Hauch der göttlichen Gegenwart ahnen lassen […], verließ sich der mittelalterliche Baumeister auf die augustinische Ästhetik der Zahl und der Proportion.“ Aus den „sentiments of reverence and awe“, die man mit „Gefühlen von Verehrung und Ehrfurcht“ übersetzen könnte, werden „Gefühle schauervoller Verehrung“. Der „ecclestical builder of the twelfth century“, der „kirchliche Erbauer des 12. Jahrhunderts“ – wobei offen gelassen ist, ob es sich um dem Bauherren oder den Architekten handelt –, mutiert zum „mittelalterlichen Baumeister“. Und der Aspekt, dass dies alles prozesshaft „increasingly“ geschehen sei, fällt unter den Tisch.32 Man ahnt, warum Willibald Sauerländer in seinem Exemplar der Gotischen Kathedrale, das Otto von Simson ihm gewidmet hatte, an dieser Stelle ein „puh!“ an den Rand geschrieben hat (Abb. 4). Die sprachanalytische Erforschung der Kunstgeschichte, die Martin Warnke zwei Jahre nach Erscheinen der Gotischen Kathedrale angestoßen hatte,33 ist seitdem nicht viel w ­ eiter gekommen. Zudem zeigt das konkrete Beispiel, dass originär englischsprachige Publikationen, die in ­diesem Idiom eher sachlich waren, durch Übersetzungen in einen stärker ideologisch geprägten, teilweise veralteten Diskurs zurückgeholt werden konnten.34 Inwieweit Otto von Simson diese Verschiebungen bewusst waren bzw. in welchem Maße er in die Übersetzung eingegriffen hat, ist unbekannt. Jedenfalls bedankt er sich im Vorwort der deutschen Ausgabe explizit für das ungewöhnliche Einfühlungsvermögen der Übersetzerin Elfriede Regina Knauer.35

32 Ich habe nicht überprüft, ob die weiter oben genannten fremdsprachlichen Übertragungen des Buches von der englischsprachigen Originalausgabe oder der deutschen Übersetzung ausgegangen sind. 33 Das Kunstwerk ­zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, hg. von Martin Warnke, Gütersloh 1970; ders., Weltanschauliche Motive in der kunstgeschichtlichen Populärliteratur, in: ebd., 88 – 108. 34 Eine systematische Untersuchung d ­ ieses Phänomens steht noch aus. 35 Otto von Simson, Die gotische Kathedrale (wie Anm. 13), VII.

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6. Rezeption und Wirkung Zwischen der Rezeption der Gothic Cathedral und derjenigen der Gotischen Kathedrale ist zu unterscheiden. Denn jenseits des Atlantiks wird das erstmalig 1956 erschienene Buch eher als Dokument europäischer Gelehrsamkeit betrachtet, das als solches über die vielen Neuauflagen zeitlose Gültigkeit besitzt,36 während es mit seiner 1968 in Deutschland erschienenen Erstauflage gleich in eine damals in der Erneuerung begriffene Gotikdiskussion geraten ist. 1976 erschien Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen 37 von Martin Warnke, worin die Handlungszusammenhänge bei der Errichtung großer mittelalterlicher ­Kirchen aufgehellt werden, und 1977 veröffent­liche Dieter Kimpel erstmalig seine damals bahnbrechenden Untersuchungen zur gotischen Bautechnik 38. Diese und andere Publikationen holten die gotische Kathedrale quasi vom Sockel. Meine eigene, von Otto von Simson betreute Dissertation von 1983 ordnete sich hier ganz am Rande ebenfalls ein, weil mir nicht einleuchtete, warum gerade die Kathedrale von Chartres aus immanenten Gründen zu einem Gipfelpunkt der gotischen Architektur wie der Architektur überhaupt gemacht und in eine Reihe mit dem Pantheon, der Hagia Sophia, den Kuppeln von Brunelleschi in Florenz und denen in Rom gestellt wurde.39 Ohne an der künstlerischen Qualität der Kathedrale von Chartres zu zweifeln, war mir als Angehörigem einer ideologiekritisch geprägten Generation die dafür gelieferte Begründung methodisch zu schwach und damit suspekt. Und so habe ich eben mit bauarchäologischen Gründen dagegen argumentiert und zu belegen versucht, dass Chartres zwar ein Sonderfall der Architektur des späten 12. Jahrhunderts war, wohingegen die stilistischen und typologischen Innovationen, die den Bau in Otto von Simsons Buch zu einem herausragenden Monument werden ließen, schon früher und anderswo erfolgt waren.40 1985 folgte dann das große Buch von Dieter Kimpel und Robert Suckale über Die gotische Architektur in Frankreich (1130 – 1270),41 dessen Verdienst vor allem darin bestand, komplexe, hauptsächlich politische Kontexte, die Bedeutung der Modus-­Lehre für die damalige Architektur und insbesondere die Rolle von technologischen Entwicklungen in ihrer Verschränkung aufgezeigt zu haben – dies alles gestützt auf eine breite Material­basis und durch Abbildungen in bis dahin ungekannter Quantität und Qualität untersetzt. Als Buch ist ­dieses Werk zweifellos moderner als Otto von Simsons Die gotische Kathedrale, steht dazu aber methodisch-­systematisch nicht wirklich im Widerspruch, abgesehen 36 Dies kommt auch in den zahlreichen frühen englischsprachigen Rezensionen zum Ausdruck. 37 Martin Warnke, Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt 1976. 38 Dieter Kimpel, Le développement de la taille en série dans l’architecture médiévale et son rôle dans l’histoire économique, in: Bulletin Monumental, 135, 1977, 195 – 222. 39 Otto von Simson, Die gotische Kathedrale (wie Anm. 13), 280. 40 Vgl. hierzu die seitdem publizierten Forschungen insbesondere von Madeline Harrison Caviness und Dany Sandron. 41 Dieter Kimpel und Robert Suckale, Die gotische Architektur in Frankreich 1130 – 1270. Aufnahmen von Albert Hirmer und Irmgard Ernstmeier-­Hirmer, München 1985.

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davon, dass Kimpel und Suckale die Bedeutung der pseudo-­areopagitischen Lichtmystik für die Entstehung der gotischen Architektur zurückgewiesen haben. Dennoch setzt die Gotische Architektur in Frankreich die Gothic Cathedral wegen der komplexen, monokausale Erklärungen vermeidenden Herangehensweise, die in beiden Büchern dominant ist, sogar fort, auch wenn dies damals nicht so gesehen wurde.42 Die Kontinuitäten lassen sich erst heute deutlicher erkennen.

7. Eckstein oder Schlussstein? Ist The Gothic Cathedral, die Gotische Kathedrale, eher ein Eckstein oder eher ein Schlussstein? Und beides in Bezug auf was? Auf die persönlichen Forschungen und Publikationen von Otto von Simson oder auf die Erforschung der gotischen Architektur? Die Gefahr, durch ­solche Metaphorik rund um den gotischen Kathedralbau in historische Deutungsmuster abzugleiten, ist groß. Die Schlussstein-­Eckstein-­Thematik im ersten Petrus-­Brief sowie im Epheser-­Brief von Paulus, die sowohl von Abt Suger von Saint-­Denis als auch von Otto von Simson aufgegriffen wurde, ist also eigentlich zur Bewertung von wissenschaftlichen Leistungen weder historisch noch systematisch geeignet. Aber gerade in ihrer Unentschiedenheit ist die Metapher dem Buch von Otto von Simson affin, das inhaltlich von den älteren, meist apodiktischen Behauptungen über die Gotik wegzukommen versucht, aber selbstverständlich auch nicht losgelöst ist von den historischen Diskursen.43 Eckstein oder Schlussstein? Die Unentschiedenheit, die in dieser Frage liegt, charakterisiert manche der kunsthistorischen Versuche aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die konzeptionell und rhetorisch ­zwischen deutscher Systembehauptung und internationalem Positivismus schwankten; z­ wischen Apodiktik und Zweifel, die den traditionellen Behauptungen gegenüber ihre Vorbehalte hatten, dabei aber weder diskursanalytisch noch ideologiekritisch waren. 42 Von Simson selbst hat den Gegensatz wohl bis zuletzt als sehr groß empfunden. Dies kommt in der entsprechenden Passage in den Werkbesichtigungen (wie Anm. 9, im Buch 66/69) von 1988 deutlich zum Ausdruck, in der er sich auf einen durchaus polemisch gemeinten Absatz im 1985 erschienenen Buch von Kimpel und Suckale (dort 90) bezieht: „In einem großen Band über die französische Gotik erklärten noch kürzlich zwei besonders fortschrittliche Kollegen, Suckale und Kimpel, sie hielten jene Behauptung nicht nur für „widersinnig“, nein, sie könnten ‚keinerlei kausalen Zusammenhang‘ ­zwischen der Theologie des Areopagiten und der Architektur von St. Denis erkennen.“ Das Bekenntnis, das ohne Begründung abgegeben wird, ist eben deshalb bezeichnend für das Dilemma jeder historischen Hermeneutik, die ein Werk, auch der Kunst, zu deuten versucht, ohne die Entfernung zu erkennen, die dessen Schöpfer von dem heutigen Betrachter trennt. Hans-­ Georg Gadamers Warnung kommt einem in den Sinn, daß „ein wirkliches historisches Denken die eigene Geschichtlichkeit“ mitdenken müsse.“ 43 Richard Krautheimer hat dies in seinem in Anm. 28 genannten Gutachten folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „[…] the connecting links [zwischen Philosophie, Theologie und Architektur, B. K.] can never be made quite obvious, or, as Schnaase put it 100 years ago, that one sees the wheels running in the same rhythms but one doesn’t see the conveyor belt.“

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Anhang Nach dem Manuskript in Berlin, Staatsbibliothek, Nachlass 290, Kasten 40, transkribiert von Liliane Wilbishauser mit Korrekturen von Angelika Fricke. Orthographie und Zeichensetzung sind beibehalten worden, lediglich offensichtliche Verschreiber wurden stillschweigend verbessert und die Position der Fußnotenzeichen vereinheitlicht. Die Anmerkungen wurden ebenfalls unverändert, d. h. mit Durchstreichungen, übernommen.

Otto von Simson: Zur Psychologie des mittelalterlichen Dombaus Deus est causa efficiens, exemplaris et finalis creatae pulchritudinis. Ulrich Engelberti Ligna et lapides docebunt te, quod a magistris audire non possis. S. Bernhard Auf unvergleichliche Weise hat die christliche Weltansicht sich in der kirchlichen Baukunst des Mittelalters ausgesprochen. Einst hat man die Frage erhoben, wie es möglich sei, dass unsere Religion so gewaltige Kultstätten hervorgebracht habe, obgleich der Heiland s­ olche niemals geboten, ja, nach seinen Worten das göttliche Geheimnis schon in der Versammlung von zwei oder drei Gläubigen eine Stätte gefunden habe. Jene Frage (mit der Dehio-­Bezold die „Kirchliche Baukunst des Abendlandes“ geradezu einleiten) verdeckt das Wesen des christlichen Geistes. In den Sakramenten, in der Eucharistie zumal, war den Gläubigen ein Schatz von Sinnbildern hinterlassen, in ­welchen sich die weltzeugende Kraft des Gotteswortes immer von neuem offenbarte. Empfängt die Schöpfung in den Sakramenten ihre erhabenste Weihe, oder ward sie schon dadurch geheiligt, dass Christus das Gras des Feldes und die vertrauten Dinge des häuslichen Lebens zu Gleichnissen erwählte, gleichviel: die sichtbare Welt war zur heiligsten Würde erhoben. In den Sakramenten aber waltet unsichtbar die Gottheit, und erst durch die reine Bereitschaft der ihnen zugewendeten Seelen werden sie in diesen wirksam. So sind in diesen heiligen Stiftungen das Sein Gottes, die Kraft der Menschenseele, die Welt der Natur wunderbar vereint. Vergeistigt ward die Schöpfung in diesen Symbolen, und damit das Wesen aller Sinnbildlichkeit, wie die heidnische Welt es verstanden hatte, für immer aufgehoben. Fortan geht es für die Kunst nicht mehr darum, im Bildwerk den innewohnenden Gott auszudrücken, sondern die geheimnisvolle Wirkung Gottes in der geschaffenen Welt, die Durchdringung der bunten, unruhigen Fülle des Sichtbaren durch eine erhabene Hand. [S. 2] Ward so die Kunst von der Weltanschauung auf einen neuen Weg gewiesen, so sollte sie dadurch nicht absterben, sondern sich vielmehr in nicht geahnter, herrlicher Weise über der christlichen Religion erst entfalten.1 Dass aber die kirchliche Architektur zum eigentlichen Ausdruck des christlichen Weltbildes wurde, ist aus mehreren Gründen natürlich. Denn musste man nicht unwillkürlich trachten, an jenem Ort, an welchem das Gnadenwalten Gottes, die Heiligung der Schöpfung geheimnisvoll offenbar ward, diese welterhaltende Kraft mit den Mitteln der Kunst sinnbildlich darzustellen? Noch bedeutungsvoller war es vielleicht, dass schon in den heiligen Schriften das Gotteshaus eine symbolische Sinngebung erfahren hatte. Unter dem Bilde des zerstörten und in drei Tagen wieder errichteten Tempels hatte der Herr selbst seine Passion und endliche Auferstehung verkündet. In den apostolischen Schriften ward dann die Gemeinschaft 1

Falsch ist also Léon Bloys bekannter Satz: „Il peut se rencontrer d’exceptionnels infortunés qui ­soient, en même temps, des artistes et des chrétiens, mais il ne saurait y avoir un art chrétien“.

160 |  Bruno Klein der Gläubigen mit einem Tempel aus lebendigen Steinen verglichen, „erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten“ über Christus, als dem verworfenen Eckstein des Jesaias.2 In diesen Worten trat der doppelte, gleichnishafte Sinn des Wortes Ecclesia hervor, – indem die Gemeinschaft der Heiligen unter dem Bilde eines steinernen Bauwerkes vorgestellt wurde, musste nun auch das Gotteshaus als Abbild des himmlischen Jerusalem erscheinen. Die im Wesen der christlichen Weltansicht begründete Fähigkeit, alles Sichtbare sinnbildlich aufzufassen, hatte den Geist des mittelalterlichen Menschen ganz ergriffen. Wird man sich nach dem gesagten noch wundern, dass diese Phantasie sich der kirchlichen Architektur sogleich bemächtigte? So findet sich bei den kirchlichen Schriftstellern eine symbolische Ausdeutung des Kirchengebäudes, ­welche im Zeitalter der hohen Scholastik (bei Durandus, Honorius Augustodunensis u. a.) dann alle Teile der Architektur [S. 3] erfasst und allegorisiert. Da weist die quadratische Form der Steine hin auf die „Quadratur“ der Tugenden der Heiligen, ja selbst das statische Gesetz von Last und Stütze versinnbildlicht für Pierre de Roissy (um 1200) nur die Ermahnung Pauli „Einer trage des anderen Last“ (Gal. 6,2).3 Die Gründlichkeit ­dieses Symbolismus war nicht lächerlich in einer Zeit, für w ­ elche die sinnbildliche Bedeutung der Dinge mächtig genug war, um selbst das Gesetz der Kausalität zu durchkreuzen. Die ästhetische Wirkung der Architektur wird durch ­solche Deutungen nicht beeinträchtigt, ja zuweilen auf wunderbare Weise ergänzt. So hieß die Vorhalle, der alte Narthex der ­Kirchen, im Mittelalter ganz allgemein „Galilea“. Für den Ort, an welchem die Katechumenen und die Büssenden dem Gottesdienst beiwohnen durften, hatte man Namen und Erinnerung jener Landschaft gewählt, die, den Juden ein Spott, von Christus gerade in so bedeutsamer Weise ausersehen war!4 Solche symbolischen Deutungen der Architektur scheinen, nicht dem Betrachter allein vorbehalten, zuweilen auch auf die formale Gestaltung eingewirkt zu haben. Die sehr merkwürdige Rundkirche S. Bénigne zu Dijon, Anfang des 11. Jahrh. begonnen, hat, wie der Chronist ausdrücklich bemerkt, einen mystischen Sinn auf Gottes Eingebung hin versinnbildlichen sollen.5 Mehr als ein rhetorisches Gleichnis ist wohl auch Sugers Bemerkung, er habe 12 Stützen im Inneren der ­Kirche von S. Denis vorgesehen, weil auch der unsichtbare Tempel des Herrn nach dem Apostelwort auf dem Grund der zwölf Apostel und Propheten errichtet sei.6 [S. 4] Dennoch wäre es ein grundsätzlicher Irrtum anzunehmen, dass die kirchliche Architektur des Mittelalters ihr Wesen und ihren Ursprung solchen Denkbildern verdanke. Mochte man sich in dem vollendeten Gebäude aller Orten auf einen höheren Sinn hingewiesen finden,– den alten Baumeistern hat etwas anderes, man darf sagen: etwas grösseres am Herzen gelegen als eine „allegorische Summe“, die ja doch immer dem Wort verhaftet bleibt. Nur am Rande sei bemerkt, dass das Verständnis jener ungeheuren Hiero­ glyphen so schwankend und mühevoll ist, weil jedes Zeitalter gerade aus der größten Verehrung 2 3 4 5 6

1. Petr. 2,5 Eph. 2,19 ff. 1. Kor. 3,10 f. Manuale de myst. eccles. bei Mortet-­Deschamps, Recueil de textes relatifs à l’histoire de l’architecture II, Paris 1929 p. 183. Vgl. auch J. Sauer, Symbolik des Kirchengeb. Freiburg 1902. Matth. 28. Mortet l. c. I. (1911) p. 135 ff. Cuius artificiosi operis forma et subtilitas non inaniter quibusque minus edoctis ostenditur per litteras; quoniam in eo multa videntur mystico sensu facta, quae magis divinae inspirationi quam alicuius deputari debent peritiae magistri. Chron. S. Benigni Divon. ibid. p. 26. Liber de consecr. eccles. S. Dionysii. bei Schlosser, Quellenschr. f. Kunstgesch. d. Mittelalters, Wien 1896 S. 288. Medium quippe duodecim apostolorum exponentes numerum, secundario vero totidem alarum columnae prophetarum numerum significantes, altum repente subrigebant aedificium iuxta apostolorum spiritualiter aedificantem.

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heraus den eigenen Geist in ihnen zu erkennen geglaubt hat. So deutete die Romantik sich die Gotik als hochstrebenden Wald dessen schlanke Stämme – als ein Bild der Seele gleichsam – das Streben des Gläubigen zu Gott versinnbildlichen sollten; just als sei jene Architektur nur eine Vorahnung der stimmungshaften Theologie romantischer Individualisten. Ehrwürdiger erscheint uns heute die Meinung der folgenden Epoche. Hier war es Viollet-­le-­Duc, einer der großen Söhne des jungen technischen Zeitalters, der die gotische Baukunst als Triumph der reinsten, klarsten Einsicht in die Gesetze der Konstruktion gepriesen hat. In dem er die Eigentümlichkeiten jenes Stils allein aus konstruktiven, statischen Gesetzen glaubte ableiten zu können, in dem er die Gotik als Baukunst einer wahrhaft heilig-­nüchternen Zweckmäßigkeit beschrieben, hat dieser große, gläubige Epigone zugleich auch eine Metaphysik der modernen Zweckarchitektur geschaffen. Seine Anschauungen haben sich freilich als unrichtig erwiesen. Heute wissen wir, dass man den gotischen Stil, die Absicht seiner großen Schöpfer gründlich missversteht, indem man ihn aus konstruktiven Gesetzen herleitet.7 Wir werden sehen, dass gerade nach ­diesem Maszstabe gar vieles Fragwürdige an den Bauwerken jener Epoche sich finden lässt. Das bedeutet nun auch nicht, dass die Gotik sich bestrebt zeige, die konstruktiven Gesetze ganz zu verheimlichen oder scheinbar aufzuheben, im Sinne etwa des späteren Barock. [S. 5] In einem eigentümlichen dienenden Verhältnis steht vielmehr hier das Konstruktive Element zu einem „Idealen“. Wir geben sogleich ein Beispiel. Der Aufriss eines gotischen Kirchenschiffs stellt sich dar in einer Reihe gleicher Wandeinheiten, deren jede von schlanken Halbsäulen, den „Diensten“ begrenzt wird. Es liegt nur an der Logik d ­ ieses klaren Aufbaus, dass er sich auch in der Wölbung fortsetze, so nämlich, dass hier wiederum jede Gewölbeeinheit einer Wandeinheit entspricht. Von den vier Diensten gestützt scheint das Kreuzgewölbe dann wie ein an vier Zipfeln befestigtes Tuch emporgebauscht zu werden. Die reine Logik dieser Architektur ist gleichwohl keine konstruktive. Man hat erkannt, dass die Dienste in Wirklichkeit die Gewölbe gar nicht tragen. Vom konstruktiven Standpunkt aus sind diese Halbsäulen überflüssig, so hätten auch die Gewölberippen nicht notwendig auf die Dienste gestellt werden brauchen. Warum man es eigentlich tat, lehrt die ­Kirche S. Trinité zu Caen, 1059 von Mathilde, der Gattin Wilhelm des Eroberers gegründet.8 Als man 80 Jahre später mit dem Oberbau auch die Wölbung vollendete, spannte man diese gleich über zwei Wandjoche hinweg, so dass dazwischen jeweils ein Pfeiler mit seiner Halbsäule ohne bekrönende „Last“ verblieb. Dies aber war jener Zeit ganz unerträglich. So ward auf diese Pfeiler eine „falsche“ Gewölberippe gesetzt, die, konstruktiv sinnlos, noch einen sehr gefährlichen Seitenschub auf die Wand ausübt. Ein rein konstruktives Denken hätte die Wölbung von vornherein den Wandeinheiten entsprechend aufgeführt. Hier aber ging es um ein architektonisches Prinzip, dass nicht konstruktiver sondern funktioneller Natur war. Wie die Wand nur als Stütze gemeint ist, auf welcher die Wölbung ruht – das galt es ideal darzustellen. Das Wesen der gotischen Baukunst ist damit ausgesprochen. Man kann fast paradox formulieren: das gotische Bauwerk ist in seiner Gesamtheit wie in allen Teilen nach einem konstruktiven Prinzip empfunden, welches aber transzendent ist. So mochte man sich auch das himmlische Jerusalem vorstellen. Die Gesetze, die Beschaffenheit des irdischen Materials bringt dieser Stil nicht zum Ausdruck, ja ­dieses wird geradezu vergewaltigt, in dem es jenem [S. 6] Prinzip dient.

7 8

Gegen die Auffassungen Viollet-­le-­Ducs und seiner Schule vor allem P. Abraham in Gaz. d. BA. XI 1934 p. 257 ff. und Bull. Mon. 1934 l. fasc. Ders. Viollet-­le-­Duc et le Rationalisme mediéval, Paris 1934. Vgl. zum Folgenden E. Gall, die got. Bauk. in Frankr. u. Deutschl. I (1925) S. 34.

162 |  Bruno Klein Wenn wir anfangs sagten, das christliche Weltbild finde in der gotischen Baukunst seinen reinsten Ausdruck, so findet dieser Satz hier nun seine Bestätigung. Wir sahen ja, wie sich nach der christlichen Anschauung das Göttliche nur auf verborgene, geheimnisvolle Weise in der Schöpfung ausspricht. Wo die heidnische Vorstellung im Sichtbaren schon klare Sinnbilder der Gottheit wahrzunehmen glaubt, da hat es die christliche Lehre immer wieder ausgesprochen, dass ohne göttliche Erleuchtung kein Weg den menschlichen Verstand von den Einzeldingen zur ewigen Wahrheit emporleite,9 weil kein Bild sie ganz zu enthalten vermöchte. „Bildlich gesprochen (sagt Hans Glunz) war die ganze Welt der sichtbaren Gegenstände oder der Schöpfung ein grosser Kodex, worin Gott den äusseren Schein der Dinge mit tiefen, mit dem Geiste fassbaren Wahrheiten verbunden hatte“.10 Notwendig musste diese Anschauung auf Wesen und Auffassung der Kunst die tiefste Wirkung ausüben. War die antike Kunst symbolisch, so ist die mittelalterliche, ja eigentlich alle christliche Kunst allegorisch: Eine Idee sollte im Sinnbild ausgesprochen werden, die jedoch jedes Gleichnis tief unter sich zurückliess. Ganz natürlich aber war es, dass diese Weltansicht in den architektonischen Formen ihren reinsten Ausdruck sich schuf. Wo jeder Gegenstand, den die darstellenden Künste ergriffen, noch eine Wesensentsprechung des Sinnbildes mit seinem höheren Inhalt im antiken Sinne anzudeuten schien: da war der christlichen Auffassung der unbeseelte Stein gerade recht, um die ewigen Gesetze des Schöpfers in den Bauwerken nur um so herrlicher zur Anschauung zu bringen. Dasselbe Zeitalter, das das Wesen der Natur in tausend spirituellen Allegorien so gänzlich übersah, hat die leblose Materie unter dem Zauberstab der statischen und konstruktiven Gesetze zum unvergleichlichen Symbol ihres „dualistischen“ Weltbildes erweckt. Für Hugo von St. Victor lässt sich die Bibel – das höchste, ja einzige Kunstwerk, welches das Mittelalter gekannt hat – nur mit der Musik vergleichen.11 Denn die Musik [S. 7] Denn die Musik wohne dem Instrument nicht ursprünglich inne, aber auch die Empfindungen des Musikanten ­seien nicht die Musik selbst. Aus der Wechselwirkung ­zwischen dem Künstler und seinem Instrument entstehe vielmehr erst die Schönheit dieser Kunst. So enthalte auch der dingliche Sinn des Bibeltextes (des „Instrumentes“) nicht das „Kunstwerk“. Die Schönheit wird erst bewirkt durch die Wahrheiten, die Gott wie ein erhabener Musikant geheimnisvoll hineingelegt hat. Wer aber die Seele des Spielenden, das Wesen Gottes nicht kennt, der kann es auch aus der Harmonie der Töne, aus dem Bibeltext nicht erschließen. Hier wird das Verhältnis der Scholastik zum Sinnbildlichen deutlich. Man begreift zugleich die Meisterschaft, mit welcher jenes Zeitalter als sinnbildliches Instrument die Architektur ergriff (deren Wesensverwandtschaft mit der Musik ja auch die Romantik geahnt hat). In der königlichen Gewalt, w ­ elche die geistigen Mächte der Physik und Mathematik in der gotischen Architektur über die dumpfe Materie ausüben, scheint auch der mittelalterliche Kosmos sich den Augen darzustellen. Vielleicht führt der Versuch zum Ziel, die Absicht der mittelalterlichen Architekten, ihr Verhältnis zum Konstruktiven von hier aus zu begreifen. Ihren Geist beherrschte die Idee von einem Kosmos weniger aber gewaltiger Kräfte, deren Harmonie die Architektur nun zum Ausdruck brachte. Nicht weniger grossartig als die mittelalterliche Universalienlehre war sie dieser in der Tat verwandt. Ihre Wahrheit aber sollte nun in Stein bewiesen werden! Ein intelligibles Gesetz, der Menschlichen Einsicht in all seiner Schönheit offenbar, – als Herr und König auch der sichtbaren Welt sollte es erscheinen. Niemals ist die Einheit des mittelalterlichen Weltbildes erhabener, prometheischer dargestellt worden. Die gotischen Kathedralen bezeugen ein unbedingtes Einstehen für eine geistige 9 Thomas Aquin. Summa contr. gent. I cap 29, 30. 10 Die Literarästhetik des europ. Mittelalters, Bochum 1937, S. 141. 11 Didascalion cap. 2 Migne PL. 176, 802. Vgl. Glunz l. c. S. 175.

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Konzeption, dessen allein jenes Zeitalter fähig war. Der menschliche Geist hat nichts Heroischeres hervorgebracht. [S. 8] Unvergleichlich war die technische Einsicht der alten Baumeister – sonst hätten Kenner wie Viollet-­le-­Duc nicht selbst dann noch eine rein konstruktive Logik vermuten können, wo in Wahrheit ein letztes daran gesetzt war, ein ideales Prinzip entgegen den Gesetzen der Statik zu behaupten. Der gotische Stil erscheint dennoch als die folgerichtige Entwicklung eines künstlerischen Ideals, welches seinen Schöpfern bereits in den Anfängen vor Augen stand. Im 13. Jahrhundert erreicht es seine Vollendung, aber zwei Jahrhunderte zuvor ist es bereits im Keim wunderbar enthalten. Am Beispiel der Abteikirche St. Etienne zu Caen, w ­ elche 1066 geweiht wurde, lässt es sich zeigen, wie die „gotische“ Idee bereits da war, als man die Mittel zu ihrer Verwirklichung noch nicht kannte.12 Zwischen dem Emporengeschoss dieser ­Kirche und dem darüberliegenden Lichtgaden laufen die Dächer der Seitenschiffe an die Hochschiffe einander an. So scheint es unvermeidlich, z­ wischen den Emporenöffnungen und den Fenstern hier einen breiten Mauerstreifen einzufügen. Was tat man aber? Ein innerer Laufgang wird im obersten Geschoss eingezogen, und während nun an dessen erhöhter Außenwand das Dach des Seitenschiffes ansetzt, kann man dafür die Innenwand in Arkaden öffnen, die sich fast bis auf die darunter liegenden Emporenöffnungen hinunterziehen. Schon hier also ist die Wand entwertet und gleichsam zusammengerafft in den emporstrebenden Diensten. Gewiss mochte jener Laufgang auch praktische Vorteile bieten, aber unzweifelhaft herrschte hier ein künstlerischer Gedanke vor. In dem Baukörper sollte gleichsam nur das Adernetz in Erscheinung treten, durch welches die Kraftströme der Konstruktion schiessen. Schon in den frühen normannischen Bauten ist die Wand nicht mehr als Hülle und Schutz empfunden, sondern sozusagen nur als Accidenz, als Flussbett für jene Kräfte. In der Baukunst der hohen Gotik tritt ein Gesetz, welches nur verborgen, nur ideal in der Architektur wirksam ist, ohne Hülle zu Tage und verzehrt mit seinem geistigen Dasein die wahren Bedingungen in der Konstruktion. Es ist merkwürdig, wie sich diese Anschauung bis in die Einzelheiten hinein äussert. [S. 8a] Bald erreicht man, dass die Schwippbögen, w ­ elche man anfangs so gewaltig stark entworfen, ihre stützende Funktion schon bei viel geringerer Stärke auszuüben vermochten, sofern man sie nur an der genau richtigen Stelle des Hochschiffes anlaufen liess. Der ganze Bogen liess sich gleichsam in zwei Teile zerlegt vorstellen: in einen geraden stützenden Stamm und in einen Bogen, auf welchem man jenen ruhen liess, um ihn vor Verschiebungen zu bewahren.13 Man zögerte nicht diese Einsicht sogleich äusserlich in Erscheinung treten zu lassen. In Mont S. Michel scheint sich der Strebebogen in der Nähe der Kirchenwand in zwei Ströme zu teilen. Während der eine in gerader Richtung auf die Wand zueilt biegt der andere sich und stösst in einer Volute gegen die Mauer. Das „unnütze“ Mittelstück ­zwischen diesen beiden Teilen ist hier als Oval ausgespart.14 In der Kathedrale von S. Evreux, vollends in Saint-­Urbain zu Troyes ist dieser Gedanke dann völlig entwickelt. Der Meister von S. Urbain hatte das allerbeste Material zu Hand. Seine Strebebögen sind bis zu einem überraschend dünnen Balken und zu einem feinen Bogen abgeschliffen, auf ­welchen sich jener kaum merklich stützt.15 Ein solches Werk muss als Prunkstück des reinsten Virtuosentums erscheinen, wenn man nicht begreift, dass sein Meister das innerste Wesen jenes Baustils aussprach, indem er die konstruktiven Gesetze so hüllenlos wir nur möglich darlegte. 12 Vgl. Gall l. c. S. 27. 13 Vgl. R. de Lasteyrie, l’architecture rel. en France à l’époque gothique, Paris 1926] p. 359 ff. Viollet-­ le-­Duc, diction.rais.de l’architecture s. v. arc-­boutant. 14 Lasteyrie, fig. 398. 15 Zu Evreux vgl. C. Enlart, Manuel d’archit. Franc. I p. 516 zu S. Urbain Lasteyrie, fig. 397.

164 |  Bruno Klein Dieser Stil, welcher seinen Gedanken gerade dort zu offenbaren strebte, wo sich ihm das Material in dumpfer Unzulänglichkeit widersetzte, – er musste doch endlich tragisch scheitern. Es ist schon bezeichnend, dass auch nicht eine der grossen Kathedralen nach dem Plan ihres Schöpfers vollendet war. Die Kathedrale von Beauvais, der Parthenon des mittelalterlichen Frankreich, wie Viollet-­le-­Duc sie genannt hat, ist nur ein Torso. Nach dem Willen des Bischofs, der 1225 den Neubau beschloss, sollte die K ­ irche nicht ihresgleichen kennen.16 Dies aber konnte nur Ueberwindung der Materie heißen, unabsehliche [S. 9] Höhe, möglichst wenige und möglichst schlanke Stützen. Der Meister wagte das Ungeheure. Ueber nur drei Pfeilern auf jeder Seite erhob sich himmelhoch das Mittelschiff mit einer inneren Höhe von fast 50 m. Die Strebebogen, ­welche die Wände von aussen stützen sollten, waren von gebrechlicher Zierlichkeit. Schon nach wenigen Jahrzehnten brachen Wölbung und Strebepfeiler zusammen. Aus der Bestürzung über das schreckliche Ereignis hat man sich nie wieder erhoben / das Kirchenschiff ist niemals in Angriff genommen worden, in dem halben Jahrhundert von 1284 bis 1338 ist die damals ungeheure Summe von 80.000 Pfund für Reparaturen aufgewendet worden,17 die Stützen im Innern wurden verdoppelt und damit der Entwurf des Meisters für immer vernichtet. Dessen Größe aber wird erst an den technischen Schwierigkeiten gemessen ganz offenbar. Es galt die stützende Mauermasse aus dem Inneren hinauszuwerfen auf die äusseren Strebepfeiler. Dass auch diese so zierlich wie nur möglich sollten gebildet sein, war der Zeit selbstverständlich. Und nun wurden noch die Forderungen einer scheinbar geringfügigen Zweckmässigkeit zu unübersehbaren Schwierigkeiten. Schon lange hatte sich die Frage erhoben, wie man das Regenwasser ableiten sollte, welches über das Kirchendach herabstürzte. In so ungeheurer Höhe erwiesen sich die Wasserspeier als ganz unzulänglich. Der leiseste Windeshauch genügte um den Strahl auf das Gebäude zu lenken, wodurch im Laufe der Jahre schwerer Schaden verursacht werden konnte. Nun verfiel man darauf, das Regenwasser auf die Strebebogen hinüber zu leiten, um es von dort weit ab von den Seitenschiffen hinabzuwerfen. Doch damit ergab sich zunächst eine neue Schwierigkeit. Naturgemäss laufen die Strebebogen ein ganzes Stück unterhalb der Traufrinne des Daches an der Hochschiffmauer an. Indem der Architekt der Kathedrale von Beauvais sie bis zum Dachansatz emporrückte, verloren die Strebebogen einen grossen Teil ihrer Wirksamkeit und begannen zugleich in verhängnisvoller Weise auch nach dem Kircheninnern hineinzudrücken. Von einer scheinbaren Kleinigkeit verursacht mag hier einer der Gründe für die endliche Katastrophe zu finden sein. Wären nur die Strebebogen stärker, oder die Stütze [S. 10] im Innern zahlreicher oder endlich der Ansatzpunkt der Strebebögen richtiger gewählt worden! Das Unglück brach aber herein, weil nicht virtuose Laune sondern das Stilgesetz der Epoche ein äusserstes Wagnis erzwangen. In aller mittelalterlichen Architektur ging es im Grunde um die Verwirklichung eines metaphysischen Prinzips, um ein Ziel also, welches sich von einer Architektur, die nach Grundsätzen der Zweckmässigkeit baut und diese auch in der Gestaltung sinnbildlich zum Ausdruck bringt, wesentlich unterscheidet. Damit war auch ein Wesenszug des mittelalterlichen Geistes ausgesprochen, die Weltanschauung des Zeitalters fand hier ihr Abbild. Dies gilt auch in einem ­unmittelbaren Sinne. Zu einem Kosmos schloss sich die Welt anschaulichen Wissens in den Gestaltenheeren der Kathedralenplastik zusammen. Nicht nur die Welt des Glaubens wurde dargestellt, in mannig­ fachen Allegorien, in den Monatsbildern ward hier das ganze menschliche Leben jenem universalen

16 Gallia Christiana IX. 17 Henri Stein, les architectes des cathédrales gothiques, Paris 1909 p. 64.

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Weltplan eingeordnet.18 Ja, indem man in den alten ­Kirchen zuweilen allerhand Seltenheiten wie zu einer wunderlichen Naturaliensammlung vereinte, in dem hier etwa ein Paar Strausseneier an den wunderbaren Vogel erinnerten, dessen Liebe zu seinen Jungen auch die Gesta Romanorum als Sinnbild der Caritas deuten: ward auch auf diese Weise der mittelalterliche Geist nur immer von neuem dazu angeregt, alles Sichtbare mit dem Ewigen, das Vielfältige mit dem Einen zu verknüpfen. Seele der mittelalterlichen Welt war die Kathedrale noch in einem andern Sinne. Schon Viollet-­ le-­Duc hat darauf hingewiesen, dass sich in jenen Bauwerken der monarchische und der religiöse Gedanke des alten Frankreich in gewaltigem Verein zeigten gegen die Machtbestrebungen der Feudal­herren und der großen Klöster. So gross war die weltliche und geistliche Macht der Bischöfe bis ins hohe Mittelalter, dass auch die Bischofskirchen zum Sinnbild dieser Gewalt werden mussten, dass hier durchaus nicht nur das religiöse Leben seine Stätte fand. Der Laiensend, jenes geistliche [S. 11] Sendgericht, vor dem noch im 12. Jahrh. selbst weltliche Herren bei Strafe zu erscheinen hatten, ist zuweilen auch in den ­Kirchen abgehalten worden.19 Um der Heiligkeit des Ortes ­willen verbot man in Frankreich die Abhaltung solcher geistlicher Gerichte in locis religiosis wie es scheint erst nach der Mitte des 13. Jahrh.20 Es entsprach jedenfalls nur dem Geist jener ganz sinnbildlich denkenden Epoche, dass man in den kirchlichen Gebäuden die Bewegungen des Zeitalters symbolisch abbildete. Der Neubau der Klosterkirche von Cluny unter Abt Hugo beginnt 1088, im gleichen Jahr besteigt der Cluniazenser Papst Urban II. den päpstlichen Thron. Das ungeheure Bauwerk, eine Gralsburg mit zahllosen ragenden Türmen war so recht ein Sinnbild für den Siegeszug, ­welchen damals der Orden antrat. Sinnbildlich war auch die Länge der Basilika w ­ elche die der alten römischen Peterskirche genau erreichte.21 Man hat es auch wahrscheinlich gemacht, dass sich der unvergleichliche, „Leidenschaft und Stolz“ ausprägende Charakter der Kathedrale von Laon als Denkmal und Schlachtruf zeige in dem blutigen Kampf, ­welchen die Bischöfe damals gegen die sich erhebende Bevölkerung führten.22

II Wir sahen, wie sich ein transzendentes Prinzip in der mittelalterlichen Architektur unmittelbar ausspricht, wie es auch hier darum ging, das Wirken Gottes in der irdischen Welt zu erweisen. Dieser Geist offenbart sich nun ebenso in der Art und Weise, in welcher die alten Gotteshäuser entworfen, in welcher sie emporgeführt wurden. Man hat darauf hingewiesen, dass die alten Meister bei ihren architektonischen Entwürfen vor allem auf das Modell angewiesen waren, da das Pergament ein kostbares und verhältnismässig seltenes Zeichenmaterial war. Die Natürlichkeit und Frische der Ornamente und mancher anderer Einzelheiten mag sich in der Tat daraus erklären, dass sie garnicht im voraus entworfen [S. 12] waren, sondern die Gestaltung dem Augenblick überlassen blieb, in welchem man zu ihrer Ausführung schreiten musste.23 Freilich lag der Grund hierfür durchaus nicht nur in den ökonomischen 18 Trotz mancherlei Einwendungen wird man Max Dvoraks „Idealismus und Naturalismus in der gotischen Skulptur und Malerei (Hist. Zeitschr. 119,1918) mit Nutzen lesen. 19 Vgl. A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, Leipzig 1911 V, 1 S. 226 ff. 20 P. Fournier, les officialités au moyen âge, 1880 p. 60. 21 Dehio-­v. Bezold, die kirchl. Baukunst d. Abendl. Stuttgart 1892 I S. 387. 22 Gall l. c. S. 79. 23 M. A. Vaillant, Théorie de l’Architecture, Paris 1919 p. 119 u. 364.

166 |  Bruno Klein Verhältnissen, sondern auch in der Kunstauffassung der Zeit. Neuerdings hat auch Glunz wieder darauf hingewiesen, wie Gott dem Mittelalter als der höchste und einzige Künstler galt. Jenes Zeitalter, das die Einheit des Wahren und Schönen so klar begriff,24 erkannte auch Gott als Urheber aller Schönheit.25 Zweierlei ergab sich aus solchen Anschauungen: die Künste erschienen (wie Robert von Melun sagt) nicht als Schmuck der Theologie sondern als ihr Instrument, ihre Schönheit bemass sich nicht nur danach, ob sie etwas von dem ewigen Sinngehalt der heiligen Schriften andeuteten. Zum anderen gilt der Künstler der mittelalterlichen Aesthetik nur als Knecht Gottes. Armselig, nachäffend nur ist alle Menschenkunst, der beste Künstler nur Handwerker im Dienste Gottes (ganz im Gegensatz zur Romantik, die den Künstler für den Priester Gottes hielt). Wie jener darum Gott um Beistand bei seinem Werk anflehte,26 so glaubte man seine unmittelbare Einwirkung in den schönsten Kunstwerken auch wahrzunehmen. Der berühmte Satz, mit welchem 1403 das Domkapitel von Sevilla den Neubau der Kathedrale beschloss: an Schönheit und an Größe solle sie nicht ihresgleichen haben,27 beweist diese Gesinnung in grundsätzlicher Weise. Es zeigte sich auch an dem Beispiel der Kathedrale von Beauvais, wie die Erbauer sich sogleich zum Unmöglichen aufgerufen fühlten, wie sich mit dem fortschreitenden Bau dann freilich auch das Unmögliche zu den Menschen herbeiliess. Nach dem Tode Arnulfos von C ­ ambio fand sich über ein Jahrhundert [S. 13] lang niemand, der den notwendig vorgesehenen riesigen Kuppelabschluss des Florentiner Domes hätte ausführen können. Da aber das Einmalige, damals Unerhörte gerade das Wesen ­dieses Bauwerks ausmachte, so konnte die Stadt auch mit Geduld den Einen erwarten, dem die Vollendung gelingen würde. Jede Kathedrale war ein Anliegen Gottes. Für die Nachwelt ist es äusserst merkwürdig zu sehen, wie sehr man unter Seiner Anleitung baute. Häufig sind in den alten Annalen Sätze wie diese: „magnificum, Deo auctore, coeperunt monasterium“.28 Durch die Traumerscheinung eines seiner Mönche wird Abt Hugo von Cluny dazu bestimmt, einen der gewaltigsten Kirchenbauten des Abendlandes zu beginnen.29 Wie die Erbauer der Kathedralen von Sevilla und Florenz vertraut auch Abt Suger darauf, dass ihm ein höherer Beistand beim Bau seiner Abteikirche von S. Denis zu Hilfe kommen werde, dessen er bei der Grundsteinlegung noch durchaus nicht versichert sein konnte. Der Westteil der K ­ irche war bereits grösstenteils vollendet, als man gewahr werden musste, dass die Dachbalken noch nicht vorhanden waren, ja nach der Meinung der Zimmerleute sich Baumstämme von genügender Stärke nirgends in den umliegenden Wäldern befinden konnten. Aber eines nachts kommt Suger in seiner Niedergeschlagenheit der Gedanke, selber in den Wald hinauszuziehen und nach den geeigneten Stämmen zu suchen. Auch die Förster, ­welchen er am nächsten Morgen auf seinem Wege begegnet, „hätten am liebsten laut aufgelacht“ bei Sugers Frage, ob ihnen so große Baumstämme irgendwo im Walde bekannt wären. Aber „kühn unserm Glauben trauend“30 dringt der große Bauherr mit

24 Thomas, de veritate q. 22 a 1 ad 12 „…quicumque appetit bonum, appetit ex hoc ipso pulchrum“. vgl. auch J. Maritain, Art et scolastique, Paris 1927 p. 41 ff. 25 Thomas S. c. g. I, 93 Augustin, confes. X, 34: „…pulchra traiecta per animas in manus artificiosas ab illa pulchritudine veniunt’quae supra animas est“. 26 So auch Wolfram im Willehalm (2, 23) vgl. Glunz l. c. S. 296 und 216 ff. 27 „una tal y tan buena, que non haya otra su igual“. 28 Mortet I, p. 19. 29 vgl. A. L’Huillier, la vie de saint Hugues (1888), auch Mortet, ibid. p.271. 30 „quadam fidei nostrae audacia“. Sugers „Libellus de consecr. eccles. St. Dionys. ed. A. Lecoy de la Marche, Paris 1867 findet sich teilweise übersetzt bei Gall l. c. S. 93 ff.

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den Seinen dennoch in den Wald vor. Und bis zur neunten Stunde haben sie im Dickicht zwölf mächtige Stämme (so viele waren erforderlich) gefunden. Dass aber die Schönheit der vollendeten ­Kirche den Betrachter nur auf die einzige und höchste Schönheit hinweisen sollte, hat Suger selbst ausgesprochen.31 In ähnlicher Weise ist übrigens Bischof Gerhard I. von Florines, der Wiedererbauer der Kathedrale von Cambrai [S. 14] (1023 – 1030) selbst hinausgeritten, um die Steine für seine Säulen zu finden. In der Furcht, heisst es, der Tod möchte ihn überraschen, bevor die Kathedrale vollendet sei, flehte er um Gottes barmherzigen Beistand und ritt eines Morgens von dannen. Auch seine Zuversicht ward wunderbar belohnt.32 Dieses Vertrauen auf den besonderen Schutz, unter welchem die Gotteshäuser ständen, hatte zuweilen beklagenswerte Folgen. Aus dem Brand der Kloster­ kirche Petershausen hätte nach der Meinung des Chronisten weit mehr können gerettet werden, wären nicht die Mönche sehr nachlässig bei den Rettungsarbeiten gewesen – vertrauend, dass Gott die Zerstörung seiner K ­ irche gewiss nicht zulassen werde.33 Noch hieran offenbart es sich, wie das Mittelalter sich in seinen kirchlichen Bauten ganz in Gottes Nähe fühlte. In einzigartiger Weise wird das erst an der Beteiligung deutlich, mit welcher die Bevölkerung bei diesen Bauten mithalf. „Um das Jahr 1000 (so berichtet Glaber in seiner Chronik) begann fast in der ganzen Welt, vorab jedoch in Italien und Gallien der Neubau von ­Kirchen. Nicht als habe ein besonderer Mangel sich fühlbar gemacht; aber die christlichen Völker suchten einander mit immer schöneren Bauten zu übertreffen. Es war als hätte die Welt ihr Alter ausgezogen, als schmücke sie sich überall mit dem leuchtenden Gewand ihrer K ­ irchen“.34 Dieser Vorgang, der das hohe Mittelalter bis auf seinen Gipfel begleiten sollte, hat in der Geschichte der Baukunst nicht seinesgleichen. Er wird geistesgeschichtlich erst begreiflich, indem wir die Stimmung betrachten, ­welche die Gemüter angesichts der emporwachsenden Kathedralen ergriff. Im Jahre 812 hatten die Mönche von Fulda eine Beschwerde an Karl den Grossen gerichtet, dass ihre Kräfte beim Bau „gewaltiger und überflüssiger“ Gebäude 35 übermässig beansprucht würden. Etwas ähnliches erscheint kaum [S. 15] möglich in dem Zeitalter, welches wir nun betrachten. Schon beim Neubau der Abteikirche von Saint-­Remi zu Reims (um 1039) leistete die Bevölkerung mit ihren Rindergespannen und Wägen unermüdlich Hilfe.36 Das Chronicon monasterii Casinensis 37 erzählt, w ­ elche Hilfe die Gläubigen beim Bau der Hauptkirche auf dem Monte Cassino (1066) leisteten. Nachdem man die Säulen mit vieler Mühe zu Wasser und zu Lande von Rom herbeigeschafft hätte die Bevölkerung in ihrem religiösen Eifer die erste Säule mit eigenen Armen auf „steilem, engem und schrecklichem Pfade“ hinaufgezogen. Nicht Zugtiere sondern Menschen spannten sich auch vor die Lastwägen, w ­ elche das Baumaterial für die K ­ irche S. Trond (zwischen Löwen und Maastricht) herbeiführten.38 Eine allgemeine Begeisterung ergriff die Gemüter. In der Normandie wetteiferten die Grossen miteinander in der Bereicherung der Klöster und in der

31 „Nobile claret opus, sed opus quod nobile claret Clarificet mentes, ut eant…ad verum lumen“. Lecoy p. 198. 32 Mortet I, p. 65 ff. 33 Schlosser l. c. S. 239. 34 Rod. Glabri Hist. l. 3 cap 4 § 13 Migne PL.142, Sp. 710. 35 „aedificia immensa atque superflua… quibus fratres ultra modum fatigantur“, bei Carl Schnaase, Gesch. d. bild. Künste im Mittelalter, Düsseldorf 1871 IV, S. 213 ff. 36 Mortet I, S. 39 ff. 37 Mon. Germ. SS. VII, 554 ff. 38 Ibid. X, 213 ff.

168 |  Bruno Klein Errichtung von ­Kirchen auf ihren Ländereien.39 Wilhelm VIII. Herzog von Aquitanien stiftete zum Kirchenbau Land und alles Baumaterial; überdies verbot er den Ministerialen, diejenigen von ihrer Arbeit abzuhalten oder zu einer anderen zu zwingen, die bei jenem Bau mithalfen.40 Nach der Predigt Bischof Gottfrieds von Amiens, worin er die Gläubigen ermahnte, an der Verschönerung und Ausschmückung der Kathedrale mitzuhelfen, geriet die Menge in solchen Eifer, dass Gold und Silber, Armspangen und Ringe gespendet wurden. Ja mehrere sollen über Land und Meer gereist sein, um Schätze zum Schmuck der ­Kirche herbeizuschaffen.41 I. J. 1155 fordert Ludwig VII. alle Erzbischöfe, Bischöfe und Priester des Bereiches auf, den Neubau der K ­ irche Notre-­Dame zu Senlis nach Kräften zu unterstützen. Auch die Bevölkerung dieser Stadt opferte für ­dieses Werk gewiss einen Teil ihres Besitztums auf. 1180 aber, als diese ­Kirche bei weitem noch nicht vollendet war, flossen nach einer Predigt des päpst­lichen Legaten und der Aussetzung der Religion wiederum so reichliche Mittel zusammen, dass man unverzüglich zum Bau der Abteikirche S. Frambourg, „kaum [S. 16] 100 Schritt von der Kathedrale entfernt“, schreiten konnte.42 Man scheute vor keinen Schwierigkeiten zurück, um den Bau der immer herrlicher geplanten Kathedralen ins Werk zu setzen. I. J. 1112 reist man mit den Reliquien der Kathedrale von Laon durch Frankreich, ja bis nach England, um Spenden für zu deren Neubau zu sammeln.43 Stephan von Tournai schreibt (1188 – 1190) an den Erzbischof von Lund, an den Bischof von Schleswig, an den Neffen des dänischen Königs, um ihre Hilfe beim Bau seiner Abteikirche S. Genofeva zu erbitten.44 Und der grosse Bischof Meinwerk von Paderborn (1009 – 1063) schickte gar den Abt Wino von Helmwardhausen bis nach Jerusalem, weil die von ihm geplante ­Kirche zu Busdorf der Hl. Grabeskirche in allen Maassen genau entsprechen sollte.45 Man muss sich bei all dem immer vor Augen halten, wie das Gotteshaus gleichsam das Herz des mittelalterlichen Gemeinschaftslebens bedeutete. 1094 fiel die neuerrichtete Kathedrale von Chartres einem Brande, der auch die Stadt verheerte, zum Opfer. So gross war aber die Trauer über die Zerstörung der ­Kirche, dass niemand daran dachte, wie sein eigenes Haus in Asche liege und fast das ganze Besitztum verloren sei.46 Man sieht daran, wie wirklich, ja gegenständlich das Religiöse damals aufgefasst ward. Dies konnte sich zuweilen in wunderlicher, selbst hässlicher Weise äussern. Um das Jahr 1070 hatte ein Priester namens Odfridus den Plan gefasst, zu Watten eine Prioratskirche zu gründen, und sich mit der Bitte, ihm für diesen Zweck einige Reliquien zu überlassen, an die Abteikirche S. Riquier gewendet. Als man ihn dort abschlägig beschied, wendete sich der Zorn des Priesters nicht gegen den Abt sondern gegen den Heiligen des Klosters selbst. Er verbot, den Hl. Richard fürderhin zu verehren oder auch nur seinen Namen zu nennen. An seiner Stelle sollte künftig nur der Hl. Nicolaus angerufen werden. Seine Bauleute aber sollten nur noch im Namen und zur Ehre des Hl. Nikolaus und nicht des Hl. Richard arbeiten dürfen!47 Man sieht, 39 Vgl. Duchesne, hist. Norm. SS. p. 278. [handschriftlich darunter: 1619]. 40 Mortet I. 377 ff. 41 Ibid. 322. 42 Mortet II p. 95 f. 43 Ibid. I. 319 f. 44 Ibid. II. 158. 45 „pro optinenda celesti Jerusalem ecclesiam ad similitudinem sanctae Jerosolimitanae ecclesiae facere disponens“. Bei W. Jüttner, Ein Beitr. z. Gesch. d. Bauhütte, Köln 1935, S. 18. 46 Miracula B. Mariae Virg. in Carnot. eccles. facta. Mortet II 167 ff. 47 „Indignando decrevit, sanctum illic Richarium non amplius nominare, non amplius venerari, sed, abraso penitus nomine illius, beati nomen Nicolai ibidem celebrari et invocari statuit“ usw. M ­ ortet I. 126 f.

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die Verehrung der [S. 17] Heiligen wird damals durchaus nicht über die gewöhnlichen Verhältnisse des Lebens erhoben. Was soll man erst zu dem folgenden Ereignis sagen. I. J. 1262 hat der Papst Urban IV. an der Stelle seines Geburtshauses zu Troyes seinen Namensheiligen eine ­Kirche gestiftet. Die feierliche Chorweihe ward auf den 25. Mai 1266 festgesetzt. Von jeher aber hatten die Nonnen von Notre-­Dame-­aux-­Nonnains Rechte auf den Boden, wo sich die neue ­Kirche jetzt erhob, geltend gemacht. Auf ihr Anstiften erbrachen Unbekannte bei Nacht die Kirchentüre und zertrümmerten den Altar. Obgleich man die Schuldigen sogleich dem Kirchengericht überlieferte, haben sich die eigentlichen Anstifter scheinbar nicht einschüchtern lassen. Schon nach wenigen Wochen vernichtete ein Brand den Dachstuhl der ­Kirche, für dessen Anstiftung die öffentliche Stimme wiederum die Nonnen schuldig sprach.48 Solche Erscheinungen gehören doch zu den Ausnahmen. In der Liebe zu seinen heiligen Stätten, in dem Eifer, mit w ­ elchen es an ihrer Errichtung und Ausschmückung teilnimmt, zeigt sich das Mittelalter von seiner freundlichsten Seite. In der K ­ irche war das Wunder gleichsam zu Hause, hier empfing auch das Geringe eine höhere, strahlende Bedeutung. Ausführlich erzählt der Chronist, wie sich (den 27. April 1254) Alt und Jung in der Kathedrale von Mans eingefunden habe, als man die Religion des Hl. Julian dorthin verbrachte, und wie alle miteinander wetteiferten, das Gotteshaus für den feierlichen Anlass zu reinigen und zu schmücken: „Da sieht man unter den Weibern würdige Frauen, die ihrer reinlichen Kleider nicht schonen, wie es doch sonst die Gewohnheit der Frauen ist: in ihren Mänteln, in grüngemusterten oder in anderen Farben leuchtenden Kleidern trugen sie den Sand aus der K ­ irche. Viele trugen den Kehrricht sogar in ihren Hemden hinaus und freuten sich noch, wenn der Staub diese verunreinigte“.49 [S. 18] [Das Blatt ist oben beschnitten. Dort muss Fußnote 50 gewesen sein.]50 Die folgende Geschichte ist psychologisch sehr merkwürdig. Ein gewisser Vital, ein Schreiner aus dem Orte Isigny hatte gelegentlich gelobt, der Pfingstprozession nicht nur bis Bayeux sondern nach Coutances zu folgen. Er hatte aber seine Gelübde nicht gehalten, in dem er sich’s innerlich zurechtlegte, dass „die Hl. Maria von Bayeux und die Hl. Maria von Coutances doch immer die Eine Gottesmutter sei“. Nachdem ein Traum ihm seine Sünde vorgeführt, verrichtet er zur Busse eine mühevolle Arbeit für eine arme Verwandte auf dem Lande und verunglückt dabei sehr schwer. Man trägt den Verletzten, der noch unter Thränen seine Reue bekennt, nach Coutances. Auf der Bahre setzt man ihn in der Kathedrale vor dem Altare nieder, am nächsten Morgen findet man ihn geheilt. Sogleich begibt er sich zum Prior, eine Axt erbittend, um mit den andern Handwerkern am Kirchenbau zu arbeiten. Als ihm der Vikar am Abend für die Arbeit entlohnen will, die er schön und gefällig ausgeführt hat, verweigert der Reuige jeden Entgelt. Er bekennt zugleich, sich der hl. Jungfrau als Sklave verkauft zu haben; solange er lebe werde er dieser ­Kirche den Kopfpreis für sein eigenes Haupt abbezahlen müssen“. Um seiner Seele willen hat der Fromme dann wirklich viele Jahre das Heiligtum der Jungfrau vollenden helfen.51 Die Anzahl derer aber, die aus solchen Gründen unentgeltlich am Kirchenbau mithalfen, wuchs damals ins Unermessliche. Guido von Bazoches berichtet in einem Brief, wie Vornehme und Geringe 48 Lasteyrie l. c. p. 119. 49 Mortet II, 258. 50 Mortet I, 320 51 Miracula eccles. Constant. Bibl. Ecole des Chartes 2. Bd. IV (1848) p. 345 Merkwürdig die zitierte Stelle: „in suo corde revolvens, quod Beata Maria Bajocensis et Beata Maria Constantiensis una eademque Dei genetrix est“.

170 |  Bruno Klein beim Bau der Kathedrale zu Châlons in gleichem Eifer mithalfen: Ritter und Frauen, Mädchen und Jünglinge, Greise und Kinder haben sich vor die schwer beladenen Lastwagen gespannt und [S. 19] ziehen sie frohen Herzens oft über weite Strecken zum Bau. Da sieht man Wolf und Lamm, den Löwen mit dem Kitzlein, blosfüssig, das Zugseil um Brust und Schultern gelegt; wo aber einer ermattet, da eilen andere so gleich herbei, um die Last des Ermüdeten zu übernehmen. Wieder andere begleiten den mühevollen Zug mit Musik, mit Hymnen und Ermahnungen, die Arbeitenden ermunternd.52 Wer heute die Kathedrale betritt, wird jener begeisterten Zeit unwillkürlich gedenken. Beim Bau der Kathedrale von Chartres (1145) scheint diese Stimmung zum ersten Mal grosse Menschenmassen erfasst zu haben. „Wer hat jemals zuvor gesehen (ruft Haimon, Abt von S. Pierre-­en-­Dive aus), dass die Fürsten, die Reichen und Mächtigen dieser Welt sich wie Lasttiere vor die Wägen spannen um die Bausteine zur Herberge Christi zu schaffen! Das wunderbarste aber ist, dass man keinen Laut, kein Aechzen oder schweres Atmen dabei vernimmt, obgleich oft tausend Menschen und mehr die überschweren Fuhrwerke ziehen müssen. Während der Rast aber bekennt hier einer reuig seine Sünden; unter den Ermahnungen der Priester wird dort ein Streit beigelegt, einem Armen seine Schulden erlassen und eine allgemeine Eintracht hergestellt.“ Bei Einbruch der Nacht wurden die Wägen in einem Kreis zusammengeschoben, und beim Schein der Fackeln ertönten fromme Gesänge, das Allerheiligste ward in feierlicher Prozession umhergetragen, Kranke durch den Anblick der heiligen Reliquien gestärkt.53 Hatte man eine K ­ irche vollendet, so hinterliess man die leeren Fuhrwerke sowie alle etwa mitgebrachte Habe der ­Kirche oder man führte jene fort, um einen neuen Bau zu beginnen.54 Es breitete sich diese Gewohnheit aber damals über fast ganz Frankreich aus.55 Es ist fast das Bezeichnendste an dieser allgemeinen Begeisterung, dass nicht nur Geistliche, Bürger und Arme, sondern auch Fürsten und Herren von ihr erfasst wurden. Als es beim Neubau der Abteikirche S. Vanne zu Verdun den Schutt wegzuschaffen galt, den das alte Bauwerk hinterlassen, da erröteten die [S. 20] freiwilligen Helfer, so niedrige Arbeit zu verrichten, und jedermann trat zurück, „wie dies so zu sein pflegt“. Dies aber hatte Graf Friedrich von Verdun kaum bemerkt, als er schon den Schutt auf der eignen Schulter von hinnen trug. Wer von den Hochmütigen, ruft der Chronist aus, hätte es wohl mit angesehen, wie dieser Graf, der Bruder zweier Herzöge und Vetter des Kaisers s­olche Arbeit verrichtete, – und [?] sich noch gescheut, ein gleiches zu tun!56 Wie in Chartres und Châlons so wirkten nach Salimbenes Bericht „königliche Männer und Frauen“ beim Bau der ­Kirche zu Reggio (1233) mit. Sie legten dort das ganze Fundament und führten einen Teil der Mauern auf. „Glücklich aber der, welcher mehr tragen durfte als die andern.“57 Vor allen aber hat sich hier König Ludwig der Heilige von Frankreich ausgezeichnet. Den Ablass, w ­ elchen der päpstliche Legat für alle ausgesetzt hatte, w ­ elche in dieser Weise Werke der Demut verrichteten, suchte auch er sich zu gewinnen. Von seinem Schloss zu Anieres, wo er damals residierte, kam er oftmals nach der Abtei Royaumont, die gerade im Bau war. Wenn nun die Mönche nach ihrer 52 Wattenbach, Neues Archiv 1891 S. 75 ff. 53 Bibl. De l’ecole des chartes, 5. sér. 1 (1860) p. 120 ff. 54 Mortet II, 63 ff. 55 „Non solum ibi (Chartres), sed in tota pene Francia et Normannia“ Chronik Rob. v. Torigny ibid. 56 “Qui, jam similia facere erubesceret, cum videret Fredericum, comitis filium, fratrem duorum ducum, imperatoris consanguinem, et fecisse, et non erubuisse?“ Chronicon Hugonis mon. Germ. SS. VIII, 373. 57 Cronaca, Ed. Bertani, Parma 1857, p. 34 f.

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Ordensregel die Arbeit unterbrachen, trug der König selbst die Steine zum Bau. Seinem Beispiel folgten seine Brüder, selbst die Bischöfe und viele andere Würdenträger. Dem König selbst war es überaus ernst bei dieser Arbeit. Als seine Brüder dabei einmal scherzen und sprechen wollten, verwies er es ihnen, weil auch die Mönche bei ihrer Arbeit nicht redeten. Und wie jene fortarbeiteten, so gönnte auch er sich und andern keine Ruhepause.58 Ueberhaupt würde man sehr irren in der Annahme, es s­ eien diese Dienstleistungen im Grunde nur eine fromme Geste gewesen. Die Strapazen, denen sich hier jedermann unterzog, waren oft unsäglich. Oft wurde es Nacht, bevor man mit den Lastwägen das erstrebte Ziel erreicht hatte. Die [S. 21] ermatteten Arbeiter mussten unter freiem Himmel übernachten, und dabei hatten viele nicht einmal daran gedacht, sich mit Proviant zu versorgen! [Hier folgt Fußnote 58a: vgl. Miracles de N. D. de Chartres, Bibl. ec. chartes 42 (1881) p. 504 ff.] oder es brach ein plötzliches Gewitter herein und durchnässte die unglücklichen bis auf die Haut. Bei alldem ist zu bedenken, dass sich unter diesen Freiwilligen auch ältere Männer und Frauen befanden. Und doch wollte sich niemand ablösen lassen, so erschöpft er immer sein mochte.59 Bei all dem war es, wie Erzbischof Hugo von Ruon berichtet, durchaus nicht leicht, in diese begeisterte Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nur wer zuvor gebeichtet und Busse getan hatte, wer allen Zorn ablegte und seinen Feinden verzieh, durfte an dem grossartigen Werke teilnehmen. Dem gewählten Aufseher hatte jedermann unbedingt zu gehorchen.60 Es ist merkwürdig, dass der Lohn, ­welchen die ­Kirche für diese Opferwilligkeit den Gläubigen zusicherte, nicht einmal gross war. Uns ist ein Brief überliefert, den Arnauld de Verdale, Bischof von Maguelone, an den Papst Johannes XX. gerichtet hat (um 1030). Es wird darin der traurige Zustand der Diözese geschildert, ­welche durchaus nicht in der Lage sei, die zum Neubau der Kathedrale nötigen Mittel aufzubringen. Es ward daraufhin verkündet, dass ein jeder, der zum Bau etwas beisteuerte oder selbst daran mitwirkte, folgenden Ablass erhalten solle: wenn er an dem jährlichen Stiftungstage der ­Kirche oder innerhalb der folgenden Woche beichte und im Jahr darauf plötzlich stürbe, so solle er die apostolische und bischöfliche Absolution und Vergebung der Sünden erhalten.61 [S. 21v] Als um 1238 die Prämonstratenser ihre Stiftskirche zu Bloemhof erbauten, bestimmten sie, dass denjenigen Bürgern, ­welche mit einer Kirchenbusse belegt wären, davon fünf Tage erlassen sein sollten, wo fern sie bei dem Bau mithülfen. [Es folgt Fußnote 61a: E. Michel, Zeitschr. f. kath. Theologie 1910, Baubetrieb in d. roman. Kstperiode] Das Werk, an welches hier alle Kräfte gesetzt wurden, war um seiner selbst willen herrlich genug. Indes die Kathedralen emporwuchsen, an deren Vollendung jeder Arbeiter sein Leben setzte, ward eine höhere Wirklichkeit mächtig. Wem der Geist dieser Architektur zugänglich ist, der wird es nicht überraschend finden, dass Wunder, Heilungen von Verunglückten zumal, in den alten Baugeschichten so häufig sind. Zahlreiche Bauunfälle werden unvermeidlich gewesen sein – zumal wenn man bedenkt, dass ein guter Teil der Arbeiter ganz [S. 22] ungeschult waren.62 Beim Neubau der Abteikirche von Saint-­Benôit-­sur-­Loire (gegen 1100) stürzt ein Jüngling von dem Grundgerüst 58 „Et pour ce que ses freres voloient aucune foiz parler et crier et jouer, li benoiez rois leur disoit: Les moines tienent orendroit silence et ausi la devon [handschriftlich: nos] tenir“. Vie des saint Louis v. Wilh. v. Saint-­Pathus. Mortet II 241 ff. 59 Vgl. ibid. Cap. IV. 60 Mabillon, Ann. Ord. S. Benedicti Vi, 392. 61 Bei Mortet I, 88 f. 62 Ueber Bauunfälle in jener Zeit vgl. E. Lefèvre Pontalis, Bull. Mon. 1991.

172 |  Bruno Klein hinab auf den Steinboden. Man legt den scheinbar Entseelten, ohne ihm ärtzlichen Beistand zu leisten, vor den Marienaltar nieder und er gesundet wieder.63 Ein ähnlicher Unfall ereignete sich beim Bau der älteren Abteikirche von Cluny unter dem Hl. Odilo. Man hinterbringt dem Abte, der sich soeben den Bart schert, die traurige Nachricht, dass mehrere Bauleute mit dem morschen Gerüst zusammengebrochen sind und ohne Bewusstsein darnieder liegen. Ruhig befielt der Heilige allen, Stillschweigen zu bewahren, eilt in die ­Kirche und ergreift die Reliquien, ­welche er über die Verletzten hält. Wie er sich von dannen wendet, erheben sich die Verunglückten wie unverletzt. Als wenn nichts geschehen wäre, richten sie das Gerüst von neuem auf und verrichten ihre Arbeit bis zum Abend.64 [S. 22v] Bei dem Bau der Kathedralen glaubte man Gottes wunderbaren Beistand überall wahrzunehmen. Einst, beim Bau der Kathedrale zu Laon, verweigerte eines der Zugtiere auf ansteigender Strasse den Dienst. Vergebens trieb der Kleriker, welcher den Lastenzug leitete, den Ochsen an. Unversehens sah man jedoch einen andern Ochsen herbeitraben, der sich dem erhitzten Mann „aus reinem Diensteifer anzubieten schien. Als er den Wagen in frohem Lauf mit den andern bis zur ­Kirche gezogen hatte, war der Kleriker unschlüssig, wem er den unbekannten Ochsen wohl wiedergeben müsse. Doch hatte man diesen kaum losgeschirrt, als er schon, ohne auf einen Führer zu warten, dahin zurücklief, woher er gekommen war“ [Es folgt Fußnote 64a: Mortet I, 320]. Es ist ganz wahrscheinlich, dass die steinernen Ochsen an den Türmen der Kathedrale von Laon die Erinnerung an den bescheidensten Baugehilfen und seine Gefährten bewahren sollen, deren Dienst noch den Willen Gottes wunderbar zu erweisen schien. [S. 22] Zu Chartres ereigneten sich damals besonders viele Wunder. Ein Sturzregen, der die Leute, ­welche von Bonneval mit ihren Lastwagen heranziehen, plötzlich überrascht, lässt die kostbare Mörtelladung völlig unversehrt. Die Gesellschaft aus der Bretagne, die allen anderen zuvorkommen wollte, muss trotz aller Anstrengung die Nacht hereinbrechen sehen, noch ehe Chartres erreicht ist. In der tiefen Dunkelheit erblickt man plötzlich drei Fackeln, die, über den Wägen in der Luft schwebend, den Ziehenden den Weg weist, ähnlich der Feuersäule des Alten Testaments.65 Man wird diese Erzählungen nicht belächeln. Der Geist, von dem sie Zeugnis geben, bleibt ewig denkwürdig. In den Kathedralen hatte sich die mittelalterliche Menschheit zu einem geistigen Werke vereinigt, wie es die menschliche Gemeinschaft nie wieder hervor gebracht hat. Zum Bau der Pyramiden versammelte sich ein Herr von Sklaven unter dem furchtbaren Willen eines Despoten. Dass im Dienste Gottes Könige und Herren den gotischen Baumeistern den Mörtel zugetragen haben, dass, meine ich, [S. 23] birgt sich noch sichtbar in der Gestalt der mittelalterlichen Dome und hebt jene Architektur über die alten heidnischen Denkmäler empor. Es bleibt uns noch ein Wort über die Baumeister des Mittelalters zu sagen. Bekanntlich findet sich unter ihnen bis ins hohe Mittelalter eine grosse Anzahl von Geistlichen. Neben Meinwerk von Paderborn ­seien nur Benno II. von Osnabrück und Otto von Bamberg genannt, die nacheinander den Dombau zu Speyer leiteten. Die Architekturgeschichte mag auch Albert dem Grossen mehr verdanken, als sich heute beweisen lässt. Unglaublich war der Eifer, mit dem sich jene geistlichen Architekten ihrem Werke widmeten. Der Gehirnschlag, welchem Bischof Poppo von Trier zum 63 Miracula s. Benedicti 1.8 cap. 80 bei Mortet I, 8. 64 „Mira dicturus sum, sicut in veritate testantur, qui praesentes fuerunt..: illo recedente, qui videbantur de vita et sanitste desperati subito surgunt, deambulatoria erigunt, opus verum arripiunt, et tanquam nihil mali passi essent, usque ad finem diei opus debitum coneludunt”. Mortet I, 130 und Neues Archiv 1890, 136. 65 Les miracles de Notre Dame de Chartres l. c.cap. 10.

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Opfer fiel, mag in der Tat davon herrühren, dass er sich, die Wiederherstellung des Domes leitend, allzu unbedacht der sengenden Julisonne ausgesetzt hatte.66 Abt Hellonin von Bec (gest. 1078) leitete nicht nur die Bauarbeiten, sondern er selbst grub und schaffte die Erde von dannen, trug den Mörtel auf seiner Schulter herbei und führte die Mauer empor. Während die Arbeiter aber abwesend waren, nutzte er noch die Zeit, um das benötigte Material herbeizuschaffen.67 In ähnlicher Weise arbeitete Abt Hugo von Selby liess sich an jedem Sonnabend mit den anderen Handwerkern den Wochenlohn auszahlen und verteilte ihn unter die Armen.68 Bei ­diesem Eifer der Kirchenfürsten, die bei grosser persönlicher Bescheidenheit 69 alles an die Vollendung ihrer K ­ irchen setzen, wuchsen diese oft unglaublich schnell empor. Die romanische Kathedrale von Cambrai ward in sieben Jahren vollendet (1023 – 30), eine fast unglaublich kurze Zeit, wenn man die technischen ­Hilfsmittel der damaligen Zeit bedenkt. Nicht selten liess man es dabei an der Sorgfalt fehlen, und die im Zuge der Begeisterung errichteten ­Kirchen stürzten schon nach wenigen Jahren wieder zusammen.70 Die Laienarchitekten, die schon in den frühen Zeiten überliefert sind, [S. 24] haben sich ihrem Werk mit nicht geringerer Hingebung gewidmet. In einem Pariser ms. des 14. Jahrh. wird Klage darüber geführt, dass der Architekt nicht selbst Hand an sein Bauwerk lege. In solchen Beschwerden wird noch deutlich, was man aus Gewohnheit für recht hält. Die enge Zusammenarbeit, ­welche im Mittelalter z­ wischen dem Architekten, der auch ein Handwerker war, und seinen Steinmetzen, die selber Künstler waren, bestand, hat auch Viollet-­le-­Duc betont.71 Im Jahre 1174 ward mit dem Neubau der niedergebrannten Kathedrale von Canterbury Meister Wilhelm von Sens beauftragt. Unter die mutlosen Kleriker war er getreten, und seinem Genius ward das grosse Unternehmen anvertraut, an welches zuvor sich niemand gewagt hatte. Unglücklicherweise stürzte der Meister im 5. Baujahr von dem Gerüst, welches man unter der Wölbung errichtet hatte, 50 Fuß tief hinab und ward schwer verletzt. Von seinem Krankenbett aus leitete er lange Zeit hindurch noch die Arbeiten, bis er jede Hoffnung auf seine Wiederherstellung aufgeben musste und in die Heimat zurückkehrte.72 Ein denkwürdiges Beispiel dafür, wie die alten Baumeister Leben und Mühen ihrer Arbeiter teilten, hat uns Hugo, Architekt der Abteikirche zu Conques, hinterlassen. Als man die Säulenteile aus dem Steinbruch schaffte, gerieten auf abschüssiger Bahn Pfäle [sic] von am Wege liegendem frischem Holz ­zwischen die Räder des schweren Lastwagens. Der Architekt selbst, welcher den Transport leitete, eilte mit einer Stange zur Hilfe. Während er sich aber müht, das Gestrüpp aus den Rädern zu stossen, gleitet er plötzlich aus, und das plötzlich angetriebene Fuhrwerk geht über den Unglücklichen hinweg, ja schleift ihn noch sechs Schritte mit sich fort. Vor Schrecken versteinert weiss jeder nur eine höhere Hilfe anzurufen. Der Meister aber nahm die verwundeten und scheinbar zermalmten Schenkel in die Hände, sie 66 „Huic etenim operi studiosius insisteret… die quadam cum sederet ubi fiebat sol, ut erat solito ferventior, refulsit in caput eius, erat enim calvus. et sicut solet febre correptus, de die in diem ingravescente eadem valitudine fortiter aegrotare coepit, nec multo post… spiritum reddidit“. Gesta Tev. Mon. Germ. SS. VIII.181. 67 Mortet I, 46. 68 Levèvre l. c. p. 425. 69 Vgl. über Suger Félibien hist. de l’abbaye r.de S.Denys, 1706 p. CXCVIss. 70 Lefèvre l. c. S. Pierre zu S. Benoît-­sur-­Loire ward in zwei Jahren vollendet, der Chor von S. Denis in vieren. 71 Das ma. Bibl. Nat. nr. 16490/fol. 30 bei Mortet, la maitrise d’oeuvre, Bull. Mon. 1906. 72 „Magister tamen in lecto recubans, quid prius, quid posterius fieri debuit ordinavit“ Schlosser l. c. 252 ff.

174 |  Bruno Klein „als wären sie weiches Wachs“ zurückbiegend. Und der wunderbar geheilte begibt sich [S. 25] mit heiterem Antlitz von neuem ans Werk und führt es zu Ende.73 Die alten Architekten fühlten sich im Dienste Gottes. In dem Gedanken, dass alle Kunst Wirkung und fernes Abbild jener Schönheit sei, w ­ elche allein in Gott ist, wussten sich auch die Baumeister des Mittelalters in der herrlichen Berufung des Glaubens. Es ist noch eine Erinnerung an diese Berufsauffassung, wenn im späten Mittelalter die Steinmetzordnungen allen Parlierern und Gesellen einen ehrbaren Lebenswandel und den jährlichen Empfang der Sakramente zur Pflicht machen.74 Es ist nicht ganz richtig, von einer Anonymität der grossen mittelalterlichen Künstler in dem Sinne zu sprechen, welches d ­ ieses Wort bei uns heute hat. Die Meister der Kathedralen waren auch damals berühmt, ihr Genius noch von den Nachkommen gefeiert. So konnte, wie bei den Parlern, der Beruf, in welchem so Herrliches war vollbracht worden, als Familienname noch Kinder und Enkel des alten Künstlers auszeichnen.75 Dieser Ruhm aber gehörte Gott, wie alle Kunst Ihm gedient hatte. So wusste das Mittelalter seine grossen Baumeister nicht besser zu ehren, als indem es sie in den Domen bestattete, w ­ elche sie selber errichtet hatten. Peter von Montereau, dessen Geist Notre Dame und die Ste. Chapelle zu Paris, vor allem aber die Abteikirche S. Denis bezeugen, liegt in der K ­ irche S. Germain des Prés in der Marienkapelle, w ­ elche sein Werk ist, begraben. Er selbst ist auf dem Stein mit Regelmasz und Zirkel dargestellt. Dabei stehen die Worte: „Weine! Reich an Tugenden, der Baumeister Lehrer eins, Peter von Montereau liegt hier begraben, ­welchen der König des Himmels zum ewigen Licht geleiten möge.“

73 Lib. miraculorum S. Fidis bei Mortet I, 105 f. 74 Vgl. Regensburger Steinmetzordnung von 1459 bei Jüttner l. c. S. 49. 75 O. Kletzl, Titel und Namen von Baumeistern. Schriften d. dtsch. Akad. München 1935.

Ingo Herklotz

Chicago und das Abendland Schritte zur Remigration Otto von Simsons Zeit an der Universität Chicago (1944/45 – 1957) stellt die wissenschaftlich fruchtbarste Phase seines Lebens dar. Hier, im mittleren Westen der U. S. A., war es, wo seine bekannten Bücher Sacred Fortress und The Gothic Cathedral, Studien zur mittel­alterlichen Kultur Europas, entstanden. Zugleich prägte das Ambiente dieser damals vielleicht renommiertesten Hochschule der Vereinigten Staaten seine Persönlichkeit in entscheidender Weise. Zu keiner Zeit hat der Gelehrte den aristokratischen Habitus so weit hinter sich gelassen wie damals. Erst in ­diesem Abschnitt seiner Vita, der mit dem Ende des Weltkrieges, der unmittelbaren Nachkriegszeit und dem Kalten Krieg zusammenfiel – einer Zeitgeschichte, die man in Chicago sehr viel aufmerksamer als in anderen akademischen Institutionen des Landes zur Kenntnis nahm –, entwickelte der Kunsthistoriker jenes politische Verantwortungsbewusstsein, das fortan einen wesentlichen Bestandteil seiner Persönlichkeit ­ausmachen sollte. Eine reiche Dokumentationslage erlaubt es, die Umstände dieser Selbstfindung eingehender zu beleuchten.1

1. Der Weg nach Chicago Tatsächlich reichten von Simsons erste Berührungen mit der Universität Chicago noch über die Zeit seiner Emigration zurück. Schon im Anschluss an seinen Amerika-­Besuch des Jahres 1937 hatte er für die katholische Zeitschrift Hochland, deren Redaktion er damals angehörte, einen Bericht über Reformbestrebungen an den amerikanischen Universitäten verfasst.2 Sein Ausgangspunkt waren die Bücher von Abraham Flexner, The U ­ niversities in 1

2

In den Anmerkungen werden die folgenden Abkürzungen benutzt: ASNL = Alfred Stange, Nachlass: Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, ZR ABK 1403; CJBNL = Carl Jacob Burckhardt, Nachlass: Basel, Universitätsbibliothek, NL 110; EWP = Edgar Wind Papers: Oxford, Bodleian Library; HRP = Henry Regnery Papers: Hoover Institution Archives, Stanford University; JUNP = John Ulric Nef Jr. Papers: University of Chicago Library, Special Collections Research Center; OvSNL = Otto von Simson, Nachlass: Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, NL 290; OvSP = Otto G. von Simson Papers: University of Chicago Library, Special Collections Research Center; RMHP = Robert Maynard Hutchins Papers, University of Chicago Library, Special Collections Research Center. Der Dank des Verf. gilt Diana L. Sykes von den Hoover Institution Archives, die Scans umfangreicher Materialien beschaffte, und Anna Maria Voci für eine anhaltende Diskussion vieler hier behandelter Fragen. Otto von Simson, Reformbestrebungen an den amerikanischen Universitäten, in: Hochland, 35, 1937 – 38, 2. Bd. (Heft 12, Sept. 1938), 468 – 476. Zum Zustandekommen ­dieses Aufsatzes auch

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America, England, Germany (1930), und Robert Mainard Hutchins, The Higher Learning in America, sowie dessen No Friendly Voice (beide 1936), in denen die Autoren ihre Vorstellungen von einer Erneuerung des Bildungssystems vorlegten. Hutchins, seit 1929 Präsident der Universität Chicago, hatte an seiner Hochschule bereits einiges aus ­diesem Programm verwirklichen können.3 Zu dieser Reform gehörte es, dass gerade die College-­Ausbildung, die Hutchins in Curriculum, Lehrkörper und Verwaltung von den divisions, gleichsam den Fakultäten der Universität, abzutrennen suchte, nicht mehr berufsorientiert, sondern mit Blick auf eine umfassende Bildungsgrundlage erfolgte. Wie sehr diese Grundlage am europäischen Kanon ausgerichtet war, führten nicht zuletzt die Great Books courses vor Augen, die H ­ utchins, unterstützt von dem enzyklopädisch orientierten Philosophen Mortimer Adler, der diese Methode von der Columbia University mitgebracht hatte, zum unabdingbaren Bestand der College-­Lehre machte.4 Sie dienten der Lektüre und Diskussion von Klassikern der europäischen Geistesgeschichte, Homer, Herodot, Thukydides, Aristophanes, Platon, A ­ ristoteles, Cicero, Vergil, Plutarch, Marc Aurel, Augustin, Thomas von Aquin, Dante, Cervantes, dem Neuen Testament und anderen. Bildung um ihrer selbst willen und zur ethischen Formung der Persönlichkeit sollte somit an die Stelle einer rein utilitaristisch denkenden Berufsvorbereitung treten. Wie sehr d ­ ieses Ideal durch Wilhelm von Humboldt und die deutsche Universitätstradition geprägt war, liegt auf der Hand. Dass Hutchins’ Konzept überdies eine religiöse Prägung besaß, dass er in Thomas von Aquin einen vorbildlichen Repräsentanten für die Einheit des Wissens und dessen Rückführung auf Gott erkannte, hat von Simson den Lesern des Hochland freilich nicht verschwiegen, obgleich er kaum umhin kam, den Anachronismus einer solchen Auffassung, die nur schwer in die materialistisch geprägte Gegenwart passen wollte, zu betonen. Dennoch machte von Simson aus seiner Bewunderung für Hutchins keinen Hehl: „… als bewußten Gegensatz zu allem im schlechten Sinne Amerikanischen läßt sich seiner Gesinnung der höchste sittliche Wert gar nicht absprechen.“ Von Hutchins’ Erfolg zeugten dann auch die gestiegenen Bewerberzahlen an seiner Universität und die verbesserten Leistungen, mit denen die Studierenden in ihren Prüfungen neuerdings zu überzeugen vermochten. Man darf von Simsons Ausführungen als durchaus mutige, ja, als politische Stellungnahme werten, die ganz auf der Linie jener indirekten Kritik lag, die das Hochland seit mehreren Jahren praktizierte.5 Das, was Flexner und Hutchins gerade nicht wollten, die

3

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ders., Humanismus in USA, in: Hochland, 40, 1947 – 48, 112 – 124, hier 112. Zu Hutchins u. a. Mary Ann Dzuback, Robert M. Hutchins: Portrait of an Educator, Chicago/ London 1991; William H. McNeill, Hutchins’ University: A Memoir of the University of Chicago 1929 – 1950, Chicago/London 1991; John W. Boyer, The University of Chicago, Chicago 2015, 215 – 320. Dazu auch Robert M. Hutchins, Great Books: The Foundation of a Liberal Education, New York 1954; und wissenschaftsgeschichtlich Alex Beam, A Great Idea at the Time: The Rise, Fall, and Curious Afterlife of Great Books, New York 2008; Tim Lacy, The Dream of a Democratic Culture: Mortimer J. Adler and the Great Books Idea, New York 2013. Konrad Ackermann, Die geistige Opposition der Monatsschrift Hochland gegen die nationalsozialistische Ideologie, München 1965; Felix Dirsch, Authentischer Konservatismus: Studien zu einer

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allein berufsorientierte Hochschule, hatte der Nationalsozialismus zum Paradigma seiner Universitätspolitik erhoben. Unschwer gab sich für von Simsons Leser dann auch zu erkennen, dass sein Einspruch gegen Hutchins’ „Glauben an die reine Vernunft … in einem Augenblick, da sich die Nationen der Alten Welt von den alten pädagogischen Träumen fortwenden, um ‚das Trugbild der gebildeten Persönlichkeit‘ durch die Gestalt des im politischen Kampf gewordenen Menschen zu ersetzen“, nur eine Scheinkritik darstellte. Der Amerikaner hatte alle humanistisch-­ethischen Argumente auf seiner Seite. Nazi-­Deutschland vor allem, nicht so sehr die Alte Welt, wandte sich vom vormals deutschen Bildungsidealismus ab. Bernhard Rust, zunächst in Preußen tätig, seit 1934 aber Hitlers Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, war es dann, der das „Trugbild der gebildeten Persönlichkeit“ denunziert hatte.6 Im Juli 1939, als er von New York aus eine Anstellung in Amerika suchte, sandte von Simson einen Sonderdruck seines Aufsatzes an Hutchins.7 Der Begleitbrief bittet um Entschuldigung für eine gewisse Oberflächlichkeit und betont, dass er einzelne Kritikpunkte bringen musste, „writing on something so remote from Nazi ideas“, hebt aber hervor, w ­ elche Ermutigung Hutchins’ Reformen für viele Deutsche bedeuteten. Zwar bringt der Brief von Simsons Hoffnung zum Ausdruck, eines Tages auch persönlich mit Hutchins zusammenzutreffen, und dieser hat sich für den „excellent summary“ sehr höflich bedankt; ob der Aufsatz dann aber zum Schlüssel für die Karriere des Emigranten in Chicago wurde, wie er es in seinen späten Jahren vermutet hat, mag man bezweifeln. Welcher Universitätsdozent wäre schon direkt über den Präsidenten eingestiegen? Zur selben Zeit, als von Simson am unweit entfernten St. Mary’s College in South Bend (Indiana), dem weiblichen Zweig der berühmteren Notre Dame University, tätig war, lehrte in Chicago Edgar Wind, den der junge Deutsche 1936 in London kennengelernt hatte.8 Vermutlich brachte ihn Wind mit John U. Nef, an der Universität Chicago Professor für Wirtschaftsgeschichte und Spiritus Rector des Committee on Social Thought, zusammen (Abb. 1). Dieser interdisziplinären Graduiertenschule, die damals in Chicago Gestalt annahm, gehörte Wind, vormals Mitarbeiter des Warburg Instituts, ebenfalls an. Stets auf der Suche nach Unterstützern und Mitarbeitern für sein Projekt, muss Nef von Simson schon vor Beginn des Jahres 1944 gekannt haben. Anfang Februar

6 7 8

klassischen Strömung des politischen Denkens, Berlin 2012, 189 – 200. Sabine Dengel, Untertan, Volksgenosse, sozialistische Persönlichkeit: Politische Erziehung im Deutschen Kaiserreich, dem NS-Staat und der DDR, Frankfurt a. M. 2005, 131. Der Sonderdruck und die zugehörige Korrespondenz sind erhalten in RMHP, Box 61, Folder 8. Ein Empfehlungsschreiben von Olga Samaroff Stokowski, New York, begleitete von Simsons Brief an Hutchins. Zur frühen Bekanntschaft mit Wind vgl. Oxford, Bodleian Library, S. P. S. L., Ms. 551, hier der Bogen General Information; ferner Art Historian Otto von Simson interviewed by Richard ­Cándida Smith [1991], online-­Ed. https://oac.cdlib.org/findaid/ark:/13030/kt6z09s1gn/entiretext/, hier 28. Für Wind und seine Karriere in den U. S. A. vgl. Ulrike Wendland, Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil, München 1999, Bd. 2, 774 – 778; sowie Edgar Wind: Kunsthistoriker und Philosoph, hg. von Horst Bredekamp u. a., Berlin 1998.

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Abb. 1 John U. Nef Jr., nach 1940

lud er den Emigranten dann zu einem Lunch in seine Chicagoer Wohnung ein, ein Treffen, das offenbar beide für einander zu begeistern vermochte.9 Der Deutsche zeigte sich beeindruckt von den Plänen des nur dreizehn Jahre älteren Nef, von Breite und Tiefe des Wissens, das dieser den Studenten des Committee vermitteln wollte. Nef erkannte in von Simson seinerseits einen Wissenschaftler, der auf vielen Gebieten der Geistes­geschichte zu Hause war – in Tarrytown hatte er über Kunstgeschichte hinaus Geschichte und International Relations unterrichtet – und somit der von ihm angestrebten integration of knowledge voll und ganz entsprach. Bald nach der Begegnung schickte ihm der jüngere Kollege ein Exemplar seiner Dissertation und Sonderdrucke seiner in Amerika publizierten Aufsätze.10 Falls Nef die Genealogie der weltlichen Apotheose tatsächlich gelesen hat, so fand er dort nicht nur die von ihm geforderte Überwindung der disziplinären Grenzen verwirklicht; gerade in seinem ersten Teil bot das Buch einen Ritt über die Höhen der europäischen Geistesgeschichte, wie ihn die Universität Chicago, zumal mit ihrem Great Books-­Programm, ebenfalls ansteuerte. Hier ergaben sich Berührungspunkte. Ob von Simson dem kunst- und literaturbeflissenen Amerikaner, der etliche Jahre in Europa verbracht hatte, auch von seinen Versuchen in der Poesie berichtet hat, wissen wir nicht. Doch gehörte die Geschichtsschreibung als literarisches Kunstwerk zu den Zielen, die Nef sein Leben lang verfolgte. Von Simson wusste seinen neuen Bekannten dann aber auch durch eine Stellungnahme zu dem im Rahmen des Committee on Social Thought geplanten Renaissance-­Kurs, die 9 Der entsprechende Briefwechsel ist in JUNP, Box 56, Folder 9, erhalten. 10 Von Simson an Nef, 11. Februar 1944, in JUNP, Box 56, Folder 9. Auszüge aus von Simsons Rubens-­ Aufsatz im Review of Politics von 1944 leitete Nef später an Hutchins weiter: RMHP, Box 174, Folder 9.

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er ihm schon wenige Tage nach dem Treffen im Februar zukommen ließ, für sich einzunehmen.11 In seinem Kommentar – Nef reichte ihn gleich an seine Kollegen weiter – plädierte von Simson dafür, auch das Speculum perfectionis, die Lebensbeschreibung des Franz von Assisi aus der Feder des Bruders Leon, unter die „großen Bücher“ der Renaissance aufzunehmen und entsprechend die neuere Vita des Heiligen von Paul Sabatier (erstmals 1894) auf die Liste der Sekundärliteratur zu setzen. Zu beflissentlich habe die Forschung übersehen – hier kommt die Kritik an Burckhardts Renaissancebild zum Ausdruck, das von Simson schon anlässlich seiner Dissertation in Frage gestellt hatte –, wie sehr die Entdeckung des Menschen zunächst eine religiöse Entdeckung gewesen sei. So besehen dürften die mittelalterliche Totenliturgie und die Schriften des Franz von Assisi als Voraussetzungen von Petrarcas Denken gelten. Was die Texte zur Ästhetik der Renaissance betraf, hätte er dann auch gern Wölfflins Grundbegriffe auf die Liste der Pflichtlektüren gesetzt; obwohl nur schlecht ins Englische übertragen, könne das Buch den Studierenden doch als eye-­opener dienen. Selbst Winckelmann schien ihm an dieser Stelle noch angemessen. Für Nef war klar: Diesen hochgebildeten, selbstständig denkenden jungen Mann musste man im Auge behalten. Schon am 16. März lud er ihn ein, bald nach Chicago zu kommen, um dort für die Kollegen und Studenten des Committee eine oder auch mehrere Seminarsitzungen zu gestalten.12 Hocherfreut stimmte von Simson umgehend zu und hatte auch gleich eine ganze Palette von Th ­ emen anzubieten: „Rubens and R ­ ichelieu, or St. Francis and the Renaissance, Mysticism and Realism, or, perhaps, Liturgy and Architecture (Latin basilica and Byzantine domed church as reflecting the religious concepts of East and West)“, Alternativen, die allesamt keinen Zweifel ließen, dass er eine „integration of knowledge“ auch für die Kunstgeschichte fruchtbar zu machen wusste.13 Mysticism and Realism war dann der Vorschlag, für den sich Nef nach Rücksprache mit Wind und anderen Kollegen entschied. Am 5. Mai 1944 reiste von Simson wieder nach Chicago, was sich von South Bend aus als Tagestour bewältigen ließ, um dort in Nefs weiträumiger, mit französischen Gemälden und Grafiken ausgestatteter Wohnung an der Dorchester Avenue über Gothic Mysticism and the Discovery of Man, so der endgültige Titel, zu sprechen.14 Die Hinweise auf Bild- und Textmaterial, das der Redner benötigte, lassen erahnen, worum es ihm ging.15 Szenen vom Leid des Herrn, Vesperbilder, Beweinungen und Christus-­ Johannes-­ Gruppen wurden in Bezug gesetzt zu 11 12 13 14 15

Von Simson an Nef, 25. Februar 1944, in JUNP, Box 72, Folder 16. Nef an von Simson, 16. März 1944, in JUNP, Box 56, Folder 9. Von Simson an Nef, 21. März 1944, in JUNP, Box 56, Folder 9. Von Simson an Nef, 11. April 1944, in JUNP, Box 56, Folder 9. Dazu der Brief in Anm. 14. Benötigt wurden die Abbildungen aus Wilhelm Pinder, Die deutsche Plastik des vierzehnten Jahrhunderts, München 1925, T. 52 – 54, und ders., Die deutsche Plastik des fünfzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1924, T. 2 – 5, 29 – 30, sowie die Gedichte aus Spiritual Songs from English Mss. of Fourteenth to Sixteenth Centuries, hg. von Frances M. Comper, London 1936, Nr. 33, 42, 44, 72, 96, 108. Das Thema des Vesperbildes hatte von Simsons Lehrer Pinder auch in seinem Bändchen Die Pietà, Leipzig 1922, behandelt, den frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekt indes nur andeutungsweise zur Sprache gebracht.

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Passionsgedichten und Marienklagen aus dem spätmittelalterlichen England, die allesamt als fiktiver Dialog mit dem Leser oder der menschlichen Seele stilisiert waren. Vermutlich postulierte der Vortragende einen entsprechenden Dialog für die Bildwerke, die somit als Medium der Affektübertragung und eines neuartigen Nachvollzugs der Schmerzen Christi und Mariens durch den Betrachter gedient und den Ausgangspunkt einer sehr persönlichen Passionsmeditation dargestellt hätten. Nach der Veranstaltung vom Mai schien klar, dass man Otto von Simson stärker in das Committee on Social Thought einbinden wollte. Schon im Juni bot ihm Nef ein einjähriges Stipendium von 1200 Dollar an, die das President’s Office übernehmen würde.16 Die Lehrtätigkeit in South Bend hätte er dabei weitergeführt, so dass er die Zuwendung aus Chicago als willkommene Aufstockung seines spärlichen Gehalts verstehen durfte, eine Lösung, gegen die auch Sister Madeleva, die Präsidentin des St. Mary’s College, im Hinblick auf die schmeichelhafte Zusammenarbeit mit der Universität Chicago keine ­Einwände erhob.17 Von Simson, so die Absprache, sollte ab September 1944 einmal wöchentlich in Chicago erscheinen, um die Studierenden des Committee als Tutor zu betreuen. Das hat er getan, kam darüber hinaus auch bald mit den Lehrenden ins Gespräch, kommentierte die Memoranda zur Organisation des Studiums und begutachtete die neuen studentischen Bewerbungen für das Committee.18 In jeder Hinsicht war der Eindruck, den er hinterließ, vorzüglich. So berichtet er, dass zu seinem ersten Treffen mit den Studenten sechs Teilnehmer erschienen s­ eien, von denen nur zwei zuvor schon den Kontakt mit ihm gesucht hätten: Those present said they were interested in ethics, its different concepts as well as its impact upon the history of ideas. We therefore agreed […] that we would discuss during the year „religion and ethics“, their influence upon each other as well as upon various patterns of civilization. For the next session they will read Plato’s Phaido and Apology, and look into More’s Religion of Plato, – and that will do no harm.19

An der erstaunlichen Vielseitigkeit des Kunsthistorikers konnte somit kein Zweifel bestehen. Nef vermochte er des Weiteren dadurch für sich zu gewinnen, dass ihm die Problematik von historischer Forschung im Wechselspiel mit bleibenden, überzeitlichen Werten am Herzen lag, ein Thema, das den Wirtschaftshistoriker sein Leben lang beschäftigte. Auf Nefs Wunsch unterbreitete er d ­ iesem schon im Oktober 1944 überdies die Skizze für ein

16 Nef an Robert Redfield, 14. Juni 1944, sowie das dort folgende Schreiben; ferner Nef an Hutchins, 26. Oktober 1944; in JUNP, Box 56, Folder 9. 17 Nef an Sister Madeleva, 30. Juli 1944, sowie deren Antwort vom 5. August, in JUNP, Box 56, Folder 9. 18 Von Simson an Nef, 23. Oktober und 30. Dezember 1944, sowie von Simson an Daniel Boorstin, 19. November 1944, in JUNP, Box 56, Folder 9. 19 Von Simson an Nef, 2. Oktober 1944, in JUNP, Box 56, Folder 9. Angesprochen ist Paul Elmer More, The Religion of Plato, Erstausg. Princeton 1921.

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eigenes Forschungsprojekt.20 Die Überlegungen, mit denen sich von Simson schon seit einigen Jahren auseinandergesetzt hatte, verdienen Beachtung, da sie in seinen publizierten Schriften nur bedingt Niederschlag fanden. Vielmehr knüpfen sie an die Stellungnahme des vorangehenden Winters 1943/44 und wahrscheinlich auch an das Seminar im Mai des Jahres an. Nicht weniger als das Verhältnis von Kunst und Frömmigkeit im Zeitalter ­zwischen Franziskus und Luther sollte hier untersucht werden. Dabei zielte der Kunsthistoriker zum einen darauf ab, die Kluft z­ wischen formaler und ikonographischer Analyse zu überwinden. In Frage zu stellen sei ebenfalls, inwiefern die Selbstbespiegelung der Humanisten für ihre Zeit als repräsentativ einzustufen sei, ob nicht eine Volksfrömmigkeit, eine religiöse „Phantasie“ bestanden habe, die vom humanistischen Denken weitgehend unberührt geblieben sei, gleichwohl sie in der Kunst ihren Ausdruck gefunden habe und dort eine sehr viel stärkere Kontinuität z­ wischen Gotik und Renaissance zu erkennen gebe, als es die Forschung seit Burckhardt gemeinhin zugestehen wolle. Und er wiederholt noch einmal seine These vom Beginn des Jahres: „The ‚discovery of man‘ finds its first expression in Gothic art and mysticism.“ Kunst, Religiosität und die zentrale Stellung des Menschen – der Problemkreis sprach Nef unbedingt an. In eben jenen Wochen ergab sich der für von Simson glückliche Umstand, dass Edgar Wind, bislang der einzige Kunsthistoriker des Committee on Social Thought, seine Kündigung bei der Universität Chicago einreichte. Verschiedene Streitigkeiten, die er dort mit der Verwaltung geführt hatte, und das fehlende Vertrauen in die Zukunft des nicht unumstrittenen Committee ließen eine Forschungsprofessur am Smith College in Northampton/Mass. attraktiver erscheinen.21 Zudem sah es bei Ende des Jahres 1944 so aus, als hätte Wind in Kürze nach London zurückkehren können, um am Warburg Institut die Rolle des stellvertretenden Direktors zu übernehmen. In Chicago sollte von Simson die sich unversehens auftuende Lücke schließen. Nef ersuchte daher Sister Madeleva, ihn fortan für zwei Tage pro Woche freizustellen, was die Präsidentin selbst mit der Aussicht, dass die Universität Chicago für einen größeren Teil seines Gehalts aufkam, ablehnte.22 Die Alternative schien somit eindeutig: Chicago übernahm ihn ganz. Im Februar des Jahres 1945 erhielt der Emigrant seine Ernennung zum Counselor, im April als Executive Secretary of the Committee on Social Thought.23 Damit rückte er in jene Stellung, die zuvor John Nef innegehabt hatte, der seinerseits zum Chairman des Committee aufstieg. Bald darauf hat man von Simson dann auch in das Executive Committee on Social Thought, 20 Vgl. den undatierten Text Plan of Work in JUNP, Box 56, Folder 9. Weitere Hinwiese auf ­dieses Forschungsprojekt finden sich in OvSNL, Kasten 9, Mappe „Gothic Mysticism and Renaissance Realism“. 21 Dazu Winds Briefe in EWP, Ms. 8, Folder 2, und in JUNP, Box 61, Folder 7. Ferner McNeill (wie Anm. 3), 119. 22 Nef an Sister Madeleva, 7. Dezember 1944, und deren Antwort vom 2. Januar 1945, sowie von Simson an Nef, 11. Dezember 1944, in JUNP, Box 56, Folder 9. 23 Nef an von Simson, 15. Februar 1945, und Hutchins an von Simson, 25. April 1945, in JUNP, Box 56, Folder 9. Die Originale dieser Anschreiben finden sich in OvSNL, Kasten 9, Mappe „Idea and Work of the Committee on Social Thought“.

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gleichsam die Geschäftsführung der Graduiertenschule, berufen. Dass Nef es war, der ihn aus dem St. Mary’s College „herausgefischt“ habe, und nicht Hutchins, sollte von Simson wenig später dankbar eingestehen.24

2. The Committee on Social Thought Das Committee on Social Thought entstand seit dem Studienjahr 1941/42 aus Gesprächen heraus, die Nef nicht nur mit Hutchins, sondern auch mit dem Chicagoer Anthro­pologen Robert Redfield und dem Soziologen Frank H. Knight geführt hatte.25 Nef verkörperte die treibende Kraft des Unternehmens, das deshalb heute seinen Namen trägt. Ziel der Neugründung war es, die der fortschreitenden Spezialisierung geschuldete Fragmentierung allen Wissens durch eine interdisziplinäre Graduiertenschule, die langfristig den Status eines eigenen Instituts hätte annehmen können, zu überwinden. Dass ­diesem Vorhaben ein anderes Fundament zugrunde lag als dem modischen Ruf nach Interdisziplinarität, der wenige Jahrzehnte später auch die europäische Hochschullandschaft durchdrang, lässt sich einem frühen Memorandum Nefs unschwer entnehmen.26 Der mittelalterlichen Gelehrsamkeit, die stets the abstract – Begriffe des Transzendenten und Göttlichen werden vermieden, obwohl sie natürlich angesprochen sind – im Blick gehabt habe, sind jene neuzeitlichen, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert entwickelten Erkenntnisinteressen gegenübergestellt, die auf „concrete and varifiable knowledge“ abzielen. Es entspricht klassisch-­konservativem Denken, wenn Nef die seit der Aufklärung um sich greifende Säkularisierung des Wissens keineswegs nur positiv werten möchte.27 Vielmehr habe die sich zunehmend spezialisierende, dabei aber ganz auf „material improvement“ der Lebensbedingungen fokussierte Wissenschaft einen entscheidenden Werte- und Sinnverlust bewirkt, einen „loss among the 24 Von Simson an Nef, 20. September 1948, in JUNP, Box 56, Folder 10. 25 Zum Committee on Social Thought bes. Katja Naumann, Laboratorien der Weltgeschichtsschreibung: Lehre und Forschung an den Universitäten Chicago, Columbia und Harvard 1918 bis 1968, Göttingen 2018, 366 – 370, 400 – 412. Nef sah das Committee als sein Lebenswerk an, in seinen Erinnerungen spielt es eine zentrale Rolle: John U. Nef, Search for Meaning: The Autobiography of a Nonconformist, Washington D. C. 1973, bes. 173 – 292. Zu Redfield auch Clifford Wilcox, Robert Redfield and the Development of American Anthropology, Lanham 2004. 26 John U. Nef, Memorandum Concerning the Field of Social Thought, undatiert (ca. 1944). Der für den Universitätsgebrauch gedruckte Text ist überliefert in JUNP, Box 72, Folder 17, und in EWP, Ms. 8, Folder 2. Die folgende Darstellung des Committee stellt die Situation bei Mitte der vierziger Jahre dar, spätere Modifizierungen des Konzepts konnten nicht berücksichtigt werden. Zudem liegt das Augenmerk auf der Rolle von Simsons. 27 Kriterien konservativen Denkens umreißen Panajotis Kondylis, Konservatismus: Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, sowie Dirsch (wie Anm. 5). Die amerikanische Auffassung unterschied sich von der europäischen nur geringfügig; dazu die klassische Position von Russell Kirk, The Conservative Mind: From Burke to Santayana, Chicago 1953. Weitere Literatur zum konservativen Denken in den U. S. A. bei John Bloxham, Ancient Greece and American Conservatism: Classical Influence on the Modern Right, London / New York 2018.

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Western peoples themselves of common traditions, customs and beliefs, and of a common language, in the sense of a common body of concepts and propositions understood to a substantial degree by all educated men.“ Dabei sollte gerade das Leben in einer Demokratie ein Einverständnis über zentrale Lebensziele voraussetzen. Angesichts der „overemphasis on concrete as over abstract knowledge“, die seine Zeit bestimme, gelte es, die „purposes of learning“ zu überdenken, das reine Faktenwissen in Frage zu stellen und ein Bemühen um „philosophical values“ einzuleiten. Eben darin sah Nef den Erziehungsauftrag des Committee on Social Thought. Drei Fragenkreise taten sich für ihn auf, zum einen der nach dem Sinn des menschlichen Daseins als Individuum wie auch als gesellschaftliches Wesen – ein Problem, dem sich die Studierenden nicht nur über die großen Werke aus Moralphilosophie, politischer ­Theorie und Kunst annähern sollten, sondern auch mittels neuerer gesellschaftskritischer Autoren, sofern diese dem notwendigen demokratischen Konsens entsprachen. Bedeutsam schien ihm darüber hinaus die historische Komponente des Problems: Welche geschichtlichen Kausalitäten gab es? Wie haben der menschliche Geist und die Umwelt auf S­ itten, Traditionen und Gesetze gewirkt, und wie haben diese wiederum auf die Geistesgeschichte zurückgewirkt? An dritter Stelle stand dann eine komparatistische Gesellschaftswissenschaft, die primitive und moderne Lebensformen mit anthropologischen und soziologischen Methoden zu analysieren verstand. Wichtig war ihm, dass die Studenten bei ihren Forschungen stets nach den generalizations fragten, die ihr Gegenstand gestattete. Bei diesen Verallgemeinerungen ging es ihm offenbar um das, was er später als „enduring values“, allgemeingültige, auch angesichts besonderer historischer Umstände nicht verhandelbare Werte, bezeichnete. Dass die Demokratie zu ihnen gehörte, verwundert nicht. Nefs durchgehend christlich-­konservative Prägung ist ebenso aus seinem Umfeld zu erschließen. Der anglo-­katholische Schriftsteller T. S. Eliot und der Franzose Jacques Maritain, bekannt durch seine Forschungen zur thomistischen Philosophie, gehörten lange Zeit zu seinen engsten Beratern. Während der zwanziger Jahre hatten beide dem Kreis um die national-­royalistische Tageszeitung L’Action Française und ihrem Herausgeber Charles Maurras nahegestanden, was der Gelehrte aus Chicago offenbar nicht als Makel empfand.28 Dass Robert Hutchins ebenfalls thomistischen Idealen anhing, dass auch er der menschlichen Bildung eine transzendente Dimension beimaß, kam bereits zur Sprache. Ebenso aufschlussreich wirken die Leerstellen in Nefs Vita. Trotz seiner langjährigen Aufenthalte in Paris und seiner Nähe zu den dortigen Historikern beeindruckte ihn – sieht man von seiner Bewunderung für Marc Bloch und sporadischen Kontakten mit Lucien Febvre ab – die Annales-­Schule offenbar nicht, obwohl man auch dort Wirtschafts- und Handelsgeschichte betrieb und ähnlich wie Nef – man denke an Braudels Méditerrannée – eine histoire intégrale anstrebte. Bei zahlreichen Besuchen in London hat er den Austausch mit dem Warburg Institute – hier hätte Edgar Wind als Brückenbauer dienen können – nicht gesucht. Das Gleiche gilt offenbar für die New School in New

28 Nef (wie Anm. 25), 265; zu Nefs Verbindung mit Eliot und Maritain, ebd., passim.

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York. Möglicherweise wurden Nefs hehrer Ansatz zur Weltverbesserung und seine trans­ zendente Note in diesen bisweilen linkslastigen Kreisen eher mit Befremden registriert. Als von Simson 1944 nach Chicago kam, hatte das Committee on Social Thought seine Lehrtätigkeit bereits aufgenommen. Social Thought im Sinne der drei von Nef zuvor umrissenen Problemkreise stellte für die Studierenden eine unabdingbare Kernkompetenz, Essentials genannt, dar.29 Darum hatte man allerdings eine Reihe anderer Fachkurse, Nebenfächer gleichsam, gruppiert. Unter der Bezeichnung Historical Fields waren Ancient Near Eastern und Far Eastern Civilizations zusammengefasst, gefolgt von Classical-, Medieval-, Renaissance-, Eighteenth Century- und American Civilizations. Die sogenannten Analytical Fields umspannten Anthropology and Sociology, ferner Politics, Economics, Jurisprudence, and Ethics sowie als drittes Teilgebiet Education, Psychology, and Human Development. Die epochenfokussierten Lehreinheiten bestanden darauf, den jeweiligen Zeitrahmen in seiner kultur- und geistesgeschichtlichen Vielfalt zu vermitteln. Hier ging es folglich um politische Geschichte, wirtschaftliche Entwicklungen, philosophische Strömungen und Religion ebenso wie um Literatur und bildende Kunst. Wie bei den Great Books lag der Akzent des Programms auf der Western civilization, auf dem also, was man in Deutschland als das Abendland bezeichnet hätte. Die Lehrenden dafür wurden zu d ­ iesem Zeitpunkt noch aus den entsprechenden Departments der Universität rekrutiert. Nefs integration of knowledge sah im Prinzip zwei weitere Aspekte vor, die im Curriculum nur bedingt zum Tragen kamen, die Auseinandersetzung mit den aktuellen Naturwissenschaften und das Gespräch mit Künstlern. Durch Einladung zahlreicher Gäste hat er d ­ iesem Defizit entgegenzuwirken versucht. Seine Vorstellung eines komparatistischen Vorgehens, aus dem heraus dann ein gemeinsamer Nenner zu entwickeln war, kristallisiert sich zumindest andeutungsweise anlässlich des Vortragszyklus The Works of the Mind heraus, den die Universität Chicago in den ersten Monaten des Jahres 1946 veranstalte­ iesem Programm hatte von Simson mitgewirkt.31 Hochkarätige Vertreter unterte.30 An d schiedlicher Wissens- und Betätigungsfelder berichteten dort über die geistige Kreativität, die gerade ihr Gebiet voraussetzte. Marc Chagall, Alfeo Foggi und Frank Lloyd Wright sprachen damals über die verschiedenen bildkünstlerischen Gattungen, Arnold Schönberg über die Arbeit des Musikers. Der ehemalige deutsche Reichskanzler Heinrich Brüning stellte das Aufgabenfeld des Staatsmannes, J. B. Fulbright das des Legislator und Hutchins den Verwalter vor. Naturwissenschaften und Mathematik waren durch S. ­Chandrasekkar und John von Neumann präsent, die Geschichtswissenschaft mit C. McIlwain und die Philosophie mit Mortimer Adler. Ob das Ganze am Ende mehr als die Summe seiner Teile 29 Dazu die für den Universitätsgebrauch aufgelegte Druckschrift Program of Studies: The Committee on Social Thought, 1944 – 1945, in EWP , Ms. 8, Folder 2; auch erläutert in Naumann (wie Anm. 25), 404 – 406. Zur Entstehung der historical fields auch das Material in OvSNL, Kasten 9, das Dossier Correspondance to set up the Committee on Social Thought. 30 Robert B. Heywood, Hg., The Works of the Mind, Chicago 1947. 31 Von Simson bemühte sich um die Teilnahme des Bischofs von Berlin Konrad von Preysing; dazu von Simson an Theobald J. Dengler, 27. Okt. 1945, und andere Briefe in OvSP, Box 1, Folder 1.

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hervorbrachte, und das heißt auch, ob die anvisierte integration of knowledge um die Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt noch möglich war, sei dahingestellt. In Anbetracht seiner eigenen Arbeiten muss Otto von Simson die in Chicago propagierte Interdisziplinarität – zumindest im Bereich der Geisteswissenschaften – überaus entgegengekommen sein. Was das Curriculum betraf, so liegt es nahe, dass die Historical Fields für ihn größere Attraktivität besaßen als jene zentralen Kurse zur Gesellschaftslehre, die nur bedingt historisch ausgerichtet waren. Der mehr oder minder laut artikulierte religiöse Anspruch des Committee dürfte ihn nicht gestört haben. Für die katholische Zeitschrift Hochland hatte er in Deutschland gearbeitet, katholische Colleges hatten ihm den Einstieg in die amerikanische Hochschullandschaft eröffnet.32 Ähnliche Ausbildungsstätten, so das Rosary College in River Forest (Ill.), das von Grailville in Loveland (Ohio), St. ­Francis in Joliet (Ill.) und St. Mary’s in Notre Dame (Ind.), wo er zuvor unterrichtet hatte, bespielte er mit seinen Vorträgen noch, nachdem er bereits in Chicago etabliert war.33 Enge Kontakte verbanden ihn schließlich mit den Benediktinern von St. John’s Abbey in Collegeville (Minn.). Auch dort hielt er Vorträge, für ihre Zeitschrift Orate fratres hat er sogar geschrieben, und ihrem Kirchenhistoriker Godefrey Diekmann verdankte er einige liturgiegeschichtliche Hinweise, die seinem Ravenna-­Buch zugutekamen.34 Nach dem Erscheinen der Gothic Cathedral, als man in St. John’s Abbey übrigens auch die Errichtung eines Studienzentrums für auswärtige Forscher in Erwägung zog, schlug einer der Patres dem damaligen Abt vor, das Buch im Refektorium verlesen zu lassen.35 Zu von Simsons wichtigstem Ratgeber in liturgischen Fragen wurde dann aber ein anderer Benediktiner, Anselm Strittmatter von der St. Anselm’s Priory in Washington, der die entsprechenden Ausführungen von Sacred Fortress noch bis in die Druckfahnen hinein korrigieren ­konnte.36 Als ein Rezensent ­dieses Werks, offenbar von einem jüdischen Bekenntnis des Verfassers ausgehend, behauptete, er schreibe über das ganz und gar christliche Thema aus einer „position outside the faith“, sah sich von Simson zu einer Klarstellung genötigt: „I have been a Catholic for only twelve years but a Christian for 36, – and a pagan for but a few inconsequential and pristine days of my life.“37 An seiner katholischen Identität ließ er somit auch in seinem neuen akademischen Umfeld keinen Zweifel. Insofern mag der 32 Dazu Karen Michels im vorliegenden Band. 33 Für die entsprechenden Planungen vgl. OvSNL, Kasten 14, Mappe 3. 34 Dazu die Korrespondenz mit Diekmann in OvSP, Box 2, Folder 3. In Orate Fratres, 22, 1948, 524 – 527, publizierte von Simson eine Rezension zu Walter Lowrie, Art in the Early Church, New York 1947. Ein Beitrag über Ravenna wurde mit Diekmann lange diskutiert, kam aber offenbar nicht zustande. 35 Chrysostom Kim an von Simson, 22. Februar 1957, in OvSP, Box 2, Folder 2. 36 Zu Strittmatters Unterstützung von Sacred Fortress vgl. den Beitrag von Carola Jäggi in d ­ iesem Band, ferner den Briefwechsel in OvSP, Box 3, Folder 5. Mit von Simson gemeinsam publizierte Strittmatter den Rezensionsartikel A Tribute to Albert Friend, in: Traditio, 14, 1958, 422 – 455. 37 Von Simson an Philip Burnham, 8. Dezember 1948, in OvSP , Box 3, Folder 5; publ. in Commonweal, Dec. 31, 1948, 303. Burnham hatte von Simsons Buch in Commonweal, Dec. 3, 1948, 199 – 201, besprochen.

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Übergang von Tarrytown und South Bend nach Chicago weniger gravierend gewesen sein, als man vermuten könnte. Dass seit 1945 neue Aufgaben und Herausforderungen auf den damals erst Zweiunddreißigjährigen zukamen, steht dennoch außer Frage. Ungeklärt war letztlich, welcher Stellenwert der Kunstgeschichte im Committee on Social Thought zukommen sollte. Edgar Wind hatte dazu 1943 ein wenig stringentes Memorandum vorgelegt.38 Darin umriss er zunächst einige Schnittflächen, die sich aus Bildkünsten und Social Thought zu ergeben vermochten. Das Verhältnis der Fine Arts zu folklore und Magie rückt für Wind in den Vordergrund, gefolgt von der sozialen Position des Künstlers, der Verehrung und Furcht, die man seiner – mithin priesterlichen – Rolle entgegenbrachte. Der religiöse Ursprung und die spätere Entwicklung des Geniebegriffs schienen ihm darüber hinaus ebenso beachtenswert wie die Verengung des Kunstbegriffs auf eine rein ästhetische Kategorie, die er im 18. Jahrhundert verwurzelt sah und die sich deutlich von der zuvor bestimmenden religiösen Rolle künstlerischer Produkte abhob. Eben hier lag die soziale Funktion des Künstlerischen und seiner Symbolik, die es für Wind in den Blick zu nehmen galt. Was ihm darüber hinaus vorschwebte, war eine Sozialgeschichte der Stile, die nach der Bedingtheit von künstlerischen Revolutionen und Restitutionen (revivals) fragte. An diese deutlich von der Warburg-­Tradition geprägten Anregungen schließt ein zweiter, eher befremdlicher Teil an, der um die „distinction between good and bad works of art“ kreist und schnell zu erkennen gibt, wie wenig der Verfasser mit dieser ihm offenbar vorgegebenen Fragestellung anzufangen wusste. Die Annahme von ästhetischen Prinzipien, die auf rationalen Kriterien beruhten, weist Wind von vornherein zurück. Zwar gebe es „universals of sensibility“, aber deshalb noch kein „universal element in the organization of sounds and colours“. Auch die Frage nach den „universals of the imagination“ führt ihn viel eher auf die historisch-­kulturelle Bedingtheit von Symbolen und Metaphern. Diese zu vermitteln, sei Aufgabe des Committee, wohingegen die geschärfte Sensibilität für die feinen Unterschiede ästhetischer Objekte, der Erwerb einer „ästhetischen Grammatik“ gleichsam, eher in den Kompetenzbereich des Art Department falle. In einer überarbeiteten Fassung des Textes vom Januar 1944, die dann unter den Dozenten und Studierenden des Committee verbreitet wurde, fiel der erste Teil von Winds Überlegungen unter den Tisch. Was Wind sich von dem interdisziplinären Austausch in Chicago erhoffte, war offenkundig etwas ganz anderes. Er arbeitete damals über Michelangelos religiöse Symbolik, zudem hatte er gerade eine Buchreihe zum Enzyklopädismus konzipiert, die den Bogen von den griechischen Symposia (Athenaios’ Deipnosophistai) über Isidor von Sevilla und die mittelalterlichen Summae und Specula, die Ars memorativa und die Enzyklopädien der Neuzeit bis hin zu Leibniz, Diderot und Humboldt gespannt hätte.39 Das auf nicht weniger als 25 Bände angelegte Projekt räumte der Visualisierung enzyklopädischer Systeme 38 Der Text und seine überarbeitete Fassung finden sich in EWP, Ms. 136, Folder 2. 39 Vgl. Winds Memorandum on Encyclopedic Studies to be Edited by the Committee on Social Thought, in EWP, Ms. 8, Folder 1. Dazu auch Pascal Griener, Edgar Wind und das Problem der Schule von Athen, in Edgar Wind (wie Anm. 8), 77 – 103, bes. 99 – 101.

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beträchtlichen Anteil ein. Nach Winds Vorstellung hätte Fritz Saxl dem großangelegten Unternehmen einen Band über die Pictorial Illustrations of Medieval Encyclopedias beigesteuert, Panofsky hingegen den über Sculptured Encyclopedias on French Cathedrals. Noch unbestimmt war, wer den Bereich The Iconography of the Seven Liberal Arts abzudecken vermochte. Wind selbst wollte sich in dieser Reihe zu den enzyklopädischen Vorstellungen der Renaissance in Raffaels Stanza della Segnatura äußern. Ein weiterer Band trug den Arbeitstitel The Encyclopedia of the Arts in the Circle of Samuel Johnson (Reynolds – ­Garrick – Goldsmith). Winds geistige Wurzeln im Warburg Institute – auch Frances Yates war als Autorin vorgesehen – scheinen in seinem Konzept allenthalben durch. Wohl auch, weil er Chicago bald darauf verließ, kam das Projekt nicht wesentlich über die Planungsphase hinaus. Man ahnt, dass Nef es war, der Wind eine Stellungnahme zur Unterscheidung „guter und schlechter Kunst“ abverlangt hatte. Ihn nämlich beschäftigten die „enduring values“ auch in den Künsten, gab er sich doch stets überzeugt, dass neben einer zeitlosen Wahrheit genauso verbindliche Kriterien absoluter Schönheit existieren mussten. Trotz seiner eindrucksvollen, wiewohl sehr fokussierten Kunstsammlung gelangte Nef in seiner Betrachtung der visual arts nie über den Status des gehobenen Dilettanten hinaus. Als er im Mai 1944 die Einführung zu Winds Vorträgen über Raffaels Stanza della Segnatura und Michelangelos Werke in der Sixtinischen Kapelle gab, fasste er das Programm des Committee noch einmal aus seiner Sicht zusammen.40 „Unification of knowledge“ sei das große Bedürfnis der aktuellen Wissenschaft. Dazu gehöre die Erforschung der „­ history of thought in relation to philosophical values“ ebenso wie die der „history of art in relation to aesthetic values“ und schließlich „the interrelation between various branches of history, studied with a view to an examination of the integral history of civilizations“. Wind sprach er das Format zu, diese drei Fragenkomplexe anzugehen. „On top of all this, his audience will have the joy of considering and contemplating some of the most beautiful paintings which western art has created.“ Seine Proposals for the Place of Art in the Program of the Committee on Social Thought, die im Frühjahr 1945 entstanden, gehen über s­ olche Gemeinplätze ebenfalls kaum hinaus.41 Hier wird denn auch der Anspruch des Committee auf Breitenwirkung, auf eine Verantwortung dem „general public“ gegenüber erhoben. Diesem Publikum sei die „imaginative side of man“ nahezubringen: „This is the side from which charity, in the Christian sense of the word, and creative art come.“ Eine Parallelsetzung, die sich nicht ohne weiteres aufdrängt. Im Folgenden erfährt der Leser, inwiefern sich der Umgang mit Kunst und schöngeistiger Literatur im Committee vom Zugriff der entsprechenden Departments unterscheiden sollte:

40 JUNP, Box 61, Folder 7. 41 JUNP, Box 72, Folder 17. Kritisch dazu schon der Chicagoer Theologe Henry Nelson Wieman an von Simson, 9. Juni 1945, ebd., Folder 16.

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We are not concerned, for example, except indirectly with the details of particular paintings or plays, with the psychology of artists, with their economic and social background (by itself ), or even with the formal analysis of works of art by itself. […] Those of us who invoke the arts in this program of the Committee are concerned with a principle. That principle may be described in these terms: to breathe into some of the work of a university, where the desire exists in members of the faculty or students, the spirit, the essence of great art itself.

Nicht darum gehe es, Streitfragen zu lösen, die nur für wenige Wissenschaftler von Interesse ­seien, sondern, Kunst lebendig zu erhalten und die „capacity to be moved by works of art“ zu schulen, ganz so, wie ein Stück vergangener Literatur noch immer zum Lachen oder Weinen anregen solle. Solche Aussagen reflektieren keine methodische Innovation, vielmehr erinnern sie an das, was man in der vorwissenschaftlichen angelsächsischen Kunstbetrachtung als „art appreciation“ zu bezeichnen pflegte. Dass sein neues Umfeld eine strikt historische Kunstbetrachtung nicht freudig begrüßen würde, muss auch von Simson sehr bald klar geworden sein. Schon im Oktober 1944 hatte Joseph J. Schwab, der Biologe des Committee, ihm gegenüber bekundet, dass „the realm of history and the realm of values […] mutually exclusive“ ­seien.42 Die Schau des ewig Schön-­Guten schien somit eher gefragt, als zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen ist“. Zwar hoffte von Simson ­zwischen den beiden Standpunkten eine Brücke bauen zu können, doch mögen s­ olche Signale entscheidend gewirkt haben, wenn er darauf beharrte, über seine Arbeit für das Committee hinaus auch im Art Department, das zur Division of Humanities gehörte, unterrichten zu können. Nef erklärte sich einverstanden, legte allerdings fest, dass von Simson dort keine Lehrveranstaltungen anbieten solle, die er nicht ohnedies für das Curriculum des Committee vorbereite.43 Hier scheinen Konflikte auf, die schon in der Vergangenheit und gerade im Falle Winds ausgebrochen waren. Wie weit kollidierte die Vereinnahmung durch das Committee, in der Division of Social Sciences angesiedelt, mit den Interessen anderer Departments und Divisions? Großer Beliebtheit erfreute sich das Committee an der Universität nicht, schon deshalb nicht, weil es als Hätschelkind von Hutchins galt, der sich durch seine Universitätsreform allzu viele Feinde geschaffen hatte. Überdies hatten die frühen programmatischen Rechtfertigungen der Graduiertenschule die Lehre in den Departments mehr oder minder offen der Engstirnigkeit beschuldigt. Dabei erweckte das Committee schon zu einem frühen Zeitpunkt selbst den Eindruck, in seinem Eurozentrismus und der philosophisch-­idealen, mithin geradezu ahistorischen Herangehensweise zu engen und antiquierten Vorstellungen nachzuhängen.44 Mit Neid blickten die Departments zudem nicht nur auf die herausragende finanzielle Ausstattung des Committee, sondern auch auf die elitäre Auswahl der Studierenden, die man sich dort erlauben konnte. Mittels strenger 42 Von Simson an Nef, 23. Oktober 1944, in JUNP, Box 56, Folder 9. 43 Nef an Ralph W. Tyler, Dean der Division of Social Sciences, 31. Januar 1945, in JUNP, Box 56, Folder 9. 44 Für Kritik am Programm des Committee vgl. Naumann (wie Anm. 25), 407 – 412.

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Prüfungen wählte man aus den internationalen Bewerbern eine hochqualifizierte Gruppe von nicht mehr als ungefähr 25 Studierenden aus, manche davon nur für einen Status der Anwärterschaft, über deren endgültigen Verbleib man erst nach einem Jahr entschied. Nicht weniger Missgunst erregte das Lehrdeputat, mit dem die ersten neuberufenen Koryphäen schon bald nach Chicago gelockt wurden, denn ob sie überhaupt lehren wollten und, falls ja, wie viel, blieb ihnen selbst überlassen.45 Der bevorzugte Unterrichtsmodus war dann der Seminarstil, die Diskussionsrunden, deren inhaltliche Ausrichtung zumeist den Forschungsinteressen des jeweiligen Dozenten entsprach. So waren von Simsons Seminare der drei Terms des Jahres 1945/46 den Th ­ emen Art and Religion at the End of the Middle Ages, The Art of the Mendicant Orders und The Renaissance Problem gewidmet; im Herbst 1946 folgte dann eine Veranstaltung Art and Politics: Political Symbolism in Western Art.46 Aufwendige survey courses mit Unmengen von Klausuren, die es während und bei Ende des Terms zu korrigieren galt, gab es für die Lehrenden des Committee nicht. Allerdings erfreuten sich die Studierenden einer sehr intensiven Betreuung, die vermutlich über das hinausging, was die Departments zu leisten vermochten. Jedem der dort eingeschriebenen Post-­Graduates waren zwei oder mehr Tutoren aus dem Lehrkörper zugeordnet, die bei den allmonatlichen Meetings kritisch über die Fortschritte der ihnen Anvertrauten berichteten.47 Chairman des Art Department war seit 1940 ein anderer Emigrant, Ulrich Middeldorf, der von Simsons Anstellung zunächst mit skeptischem Zögern zusah, hatte doch nicht er sich diesen neuen Kollegen ausgesucht, sondern Nef und die Leute vom Committee.48 Dennoch spielte sich hier bald eine ungestörte Zusammenarbeit ein, gleichwohl sich die beiden Kunsthistoriker in methodischer Hinsicht wenig zu sagen hatten. Zum Department gehörten des Weiteren der aus München stammende Ludwig Bachhofer, der ostasiatische Kunst unterrichtete, und – für die Antike zuständig – Franklin P. Johnson.49 Für die mittel­ alterliche Kunst, zumal die mittelalterliche Malerei, zeichnete Margaret Rickert verantwortlich. Im Windschatten von Middeldorf waren dann G. Haydn H ­ untley und B ­ ertha H. Wiles zum Lehrkörper gestoßen, die sich beide durch ihre Arbeiten zur italienischen Plastik des 16. Jahrhunderts qualifiziert hatten. Mit seinen Interessen an frühchristlicher 45 So in Nefs Angebot an den Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek, vom 26. Oktober 1948, der damit von der London School of Economics nach Chicago geholt wurde; HRP, Box 57, Folder 1. Das in Aussicht gestellte Jahresgehalt belief sich auf 15.000 Dollar. 46 Vgl. die Sekretärin Seifried an von Simson, 11. April 1945, in OvSNL, Kasten 9, Mappe „Outline of Conference on the City of Chicago“; und von Simson an Nef, 14. März 1946, in JUNP, Box 56, Folder 9. 47 Protokolle dieser Meetings sind in OvSP, Box 1, Folder 4 und 6, bewahrt. 48 Dazu von Simson an Nef, 30. Dezember 1944, und an Middeldorf, 24. Januar 1945, sowie Nef an Tyler, 25. Januar 1945; alle in JUNP, Box 56, Folder 9. Ferner Middeldorf an von Simson, 29. Januar 1945, in OvSP, Box 1, Folder 1. 49 Das Folgende nach dem Vorlesungsverzeichnis The University of Chicago Announcements: The College and the Divisions, Sessions of 1944 – 1945 (May 15, 1944), hier 126. Die Auszüge über das Department of Art sind erhalten in EWP, Ms. 8, Folder 2.

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Kunst wie auch am Verhältnis von Kunst und Frömmigkeit in Mittelalter und Renaissance hat von Simson das Lehrangebot deutlich erweitert. Ein intensiverer Austausch ­zwischen ihm und diesen eher konventionellen Kunsthistorikern ergab sich darüber hinaus wohl nicht. Im Sommer 1947 stand von Simson mit dem Universitätspräsidenten Colwell in Verbindung und schickte ihm, offenbar ohne M ­ iddeldorfs Wissen, eine kurze Liste von art historians zu, die man für Chicago in Betracht ziehen könne.50 Der berühmte Byzantinist André Grabar, kurz zuvor als Gast in Dumbarton Oaks, steht dabei an erster Stelle, gefolgt von dem Emigranten John Ewalt, einem Spezialisten für Impressionismus und französische Malerei des späten 19. Jahrhunderts, der am Art Department eine empfindliche Lücke hätte ausfüllen können. Mit der aus Polen stammenden Karolina Lanckorońska und Rensselaer Lee waren dann zwei Renaissanceforscher benannt, die dem Institut eigentlich nicht fehlten. Lanckorońska hatte über ihre hervorragenden Arbeiten hinaus durch ihre Vergangenheit in polnischem Widerstand und Konzentrationslagern eine Vita vorzuweisen, die als „truly heroic“ gelten durfte. Lees publiziertes Werk blieb hinter dem der anderen zurück und konnte bis dahin eigentlich nur seinen großen Aufsatz Ut pictura poesis im Art Bulletin von 1940 vorweisen, was von Simson freimütig eingestand, doch glaubte er, dass dessen Erfahrung in Verwaltungsfragen für ihn spreche. Worum es ihm geht, macht er abschließend unmissverständlich klar: „The four I have mentioned are excellent art historians. But in addition they are humanists whose work is relevant beyond the immediate confines of art history. Their appointment therefore, would in my opinion make the art department a more integral part of the Humanities Division, than it is at present“. Mit diesen Leuten hätte dann auch das Committee on Social Thought etwas anfangen können, so dass von Simson ein „joint appointment“ von Committee und Art Department durchaus für denkbar hielt – was Middeldorf eher nicht wollte. Im Rahmen des Committee on Social Thought waren es weniger die Lehrverpflichtungen als wissenschaftliche Planungs- und Verwaltungsaufgaben, die dem Executive Secretary zufielen. Immer wieder galt es, das Lehrprogramm zu modifizieren, Veranstaltungen über das gängige Curriculum hinaus vorzubereiten sowie Gutachten über Studierende und potentielle Gäste des Committee zu erstellen. Hunderte von Anfragen und Vorschlägen, die von außerhalb an Nef und die Institution herangetragen wurden, hat er beantwortet. Eine der ersten Leistungen von Simsons bestand in der Neukonzeption des Renaissance-­ Kurses, für den er nach Winds Ausscheiden gemeinsam mit Nef die Verantwortung übernahm. Die revidierte Kursbeschreibung The Field of Renaissance Civilization trägt an ­vielen Stellen seine Handschrift und zeigt, dass die Brücke ­zwischen den vielbeschworenen bleibenden Werten und der historischen Verortung sehr wohl geschlagen werden konnte.51 Keine Epochenbetrachtung, so liest man einleitend wohl in von Simsons Worten, sei so sehr 50 Von Simson an den Universitätspräsidenten Ernest Cadman Colwell, 14. Juli 1947, in OvSP, Box 1, Folder 3. Dazu ferner die Briefe Nefs vom Juli und August 1947, der Grabar und Lanckorońska auch für das Committee gewinnen wollte; JUNP, Box 56, Folder 10. 51 Zum Folgenden vgl. den Text The Field of Renaissance Civilization in JUNP, Box 72, Folder 17; auch in RMHP, Box 174, Folder 9.

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durch ein einziges Werk der Sekundärliteratur, nämlich Burckhardts Kultur der Renaissance, geprägt wie das Zeitalter z­ wischen 14. und 16. Jahrhundert. Einer kritischen Beleuchtung der Forschungs- und Rezeptionsgeschichte komme deshalb besondere Aufmerksamkeit zu. Renaissance-­Bewegungen habe es in der europäischen Kultur immer wieder gegeben, wobei es stets um eine „re-­interpretation of the values of Classical and early Christian civilization“ gegangen sei. Zur Diskussion stehe damit die noch immer belangreiche Frage nach der „renewed birth of values upon which our civilization is based“. Drei den Studenten zur Vertiefung vorgeschlagene Themenkreise führen an diesen Rezeptionsprozess heran: Zum einen die Erneuerung der Ausdrucksformen des Klassischen in Sprache, Literatur, Philosophie und Kunst; zum anderen der Rekurs auf charakteristische Konzepte antiken Sozialverhaltens, virtus, Ruhm, civis; und schließlich die Auseinandersetzung mit bedeutenden Einzelgestalten des Altertums, mit Homer, Cicero, Alexander und Brutus. Das Renaissancekonzept – und auch hier wird Burckhardts Ansatz entscheidend erweitert – erscheint im Folgenden unter doppelter Kodierung, denn zum einen gehe es um die humanistische Begeisterung für die heidnische Antike, zum anderen aber um den Rückblick der religiösen Reformer – seit Franz von Assisi – auf die biblische Epoche. Darüber hinaus postuliert die Kurskonzeption etwas wie eine long Renaissance, die in ihren Anfängen bis ins 13. Jahrhundert ­zurückreiche, deren Wirkung jedoch bis ins 17. und 18. Jahrhundert, ja bis in die Gegenwart ausgreife. Hier gelte es, nach Ländern – Schauplatz der Renaissance war das Europa westlich der Oder, das „Abendland“ somit – und auch nach subject matter zu unterscheiden. Vier solcher Themen­ felder werden umrissen: Ökonomie und Sozialgeschichte, die Ereignisgeschichte, der auch die Religion zugeordnet ist, die vielfältige Entwicklung der Institutionen und schließlich die „history of the mind and spirit“, eine breit gefächerte Geistes­geschichte also, die ebenso Kunst und Kunsttheorie umfassen sollte. Das Ziel der stets im Auge zu behaltenden „unification of knowledge“ lag vor allem darin, die Geistesgeschichte in ihrer Relation zu den drei anderen Aspekten des subject matter zu begreifen, aber auch die Zivilisation der Renaissance an die Kernkompetenz des Social Thought rückzukoppeln, das heißt von der historischen Epoche ausgehend zu allgemeinen gesellschaft­lichen Wertefragen zu gelangen. Überdies kam dem Ländervergleich ein hoher Stellenwert zu. Es folgt dann eine Lektüreempfehlung einschlägiger Quellentexte, die „great books of the Renaissance“ gleichsam, w ­ elche von den Fioretti des hl. Franziskus über Petrarca, Cusanus, Paracelsus, Erasmus, Luther und viele andere bis hin zu Leibniz, Vico und Newton voranschreitet. Merkwürdigerweise ist das 17. Jahrhundert in dieser Liste stärker vertreten als das 16., was auf die Interessen Nefs zurückzuführen sein dürfte. Die Sektion der Sekundärliteratur beginnt mit den Viten und Memoiren aus der Renaissance selbst, um über die Klassiker der Renaissanceforschung, Michelet, Ranke, Burckhardt, bis in die jüngste Zeit, Gotheins Ignatius-­Monographie etwa, zu führen. Mit Geoffrey Scotts The Architecture of Humanism (erstmals 1914) erscheint nur ein vereinzeltes, nicht unbedingt aktuelles kunsthistorisches Buch in dieser Reihe. Den Abschluss des Exposés bilden beispielhafte Fragestellungen für mögliche Prüfungsessays, deren Komplexität erstaunen lässt. Wie sehr von Simson dem interdisziplinären Diskurs des Committee gewachsen war, stellte er auch im eher privaten Austausch mit seinen Kollegen unter Beweis. So unterzog er

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das Manuskript von Daniel Boorstins Jefferson-­Monographie einer ebenso kritischen Lektüre wie Nefs War and Human Progress.52 Der junge Mann konnte bisweilen sehr deutlich, wenn nicht gar schulmeisterlich auftreten. Dem Projekt eines Indexes zu den Great Books, den Mortimer Adler zu publizieren gedachte – etwa 3000 Rubriken waren von ihm und seinen Mitarbeitern ausgehoben worden –, begegnete von Simson mit ausgesprochener Skepsis, stellten die Bücher doch nur eine zeitgebundene Auswahl dar; zugleich beruhten die entsprechenden Lemmata auf den wiederum subjektiven Kriterien ihres Urhebers.53 Den Anspruch, mit dieser Aufschlüsselung einen enzyklopädischen Spiegel europäischen Denkens vorzulegen, wie Adler ihn erhob, sah von Simson in keiner Weise gerechtfertigt. Auf dessen briefliche Erwiderung hin belehrte ihn der Kunsthistoriker, dass Aristoteles, Bacon und Kant kaum als Autoritäten im Bereich der Poesie zu gelten hätten, wie es der Index suggeriere, der damit aber eine sehr viel grundlegendere Schwäche offenbare: „I am more than ever afraid that either the categories of your Index may press the great books for information they are not meant to yield, or that your discussion of the categories, if based on the books indeed, will be inadequate.“ Unverständnis zeigte der deutsche Kollege bisweilen für Adlers Beurteilung von Goethe, unter den Great Books nur mit seinem Faust vertreten: „Is it possible to avoid the conclusion that your indexers either haven’t read Goethe or that they are totally unqualified for the work of the Index?“ Damit brach die Diskussion ab. 1952 erschienen die umstrittenen Indexbände im Druck.54 Mit solchen Einlassungen, die weit über sein Herkunftsfach hinausgriffen, verschaffte sich der Executive Secretary innerhalb des Committee schon bald erhebliche Autorität. Gerade Nef pflegte auf seinen engagierten und loyalen Mitstreiter zu hören, was dieser nutzte, um auch in personellen Angelegenheiten seinen Einfluss geltend zu machen. Sein Vorschlag ging dahin, im Rahmen der Reihe The Works of the Mind den Berliner Bischof Konrad von Preysing, den er aus seiner deutschen Zeit kannte, über The Work of Religion sprechen zu lassen.55 Anhaltenden Bemühungen zum Trotz scheiterte die Initiative daran, dass die amerikanischen Besatzungskräfte noch nicht bereit waren, dem Prälaten die Ausreise zu gestatten. Eine Berufung, an der von Simson ausschlaggebenden Anteil hatte, war die seines Münchner Studienfreundes Peter Heinrich von Blanckenhagen im Herbst 1946. Dass dem Committee eine „adequate representation of Graeco-­Roman antiquity“ fehle, war selbst von Außenstehenden bemängelt worden.56 Der nur sehr allmählich wieder in Kraft 52 Von Simson an Boorstin, 15. November 1946, in OvSP, Box 1, Folder 1; für Nefs Manuskript vgl. von Simsons Briefe vom Sommer 1946 in JUNP, Box 56, Folder 9. Zur Diskussion standen die Manuskripte der Bücher von Daniel J. Boorstin, The Lost World of Thomas Jefferson, Boston 1948, und John U. Nef, War and Human Progress, Cambridge, Mass. 1950. 53 Dazu die Korrespondenz von Simsons mit Mortimer Adler vom Oktober und November 1946 in OvSP, Box 1, Folder 1. 54 The Great Ideas: A Synopticon of Great Books of the Western World, hg. von Mortimer J. Adler, Chicago 1952. 55 Dazu von Simson an Nef, 20. Juli 1945, in JUNP, Box 56, Folder 9; sowie von Simson an von Preysing und Theobald J. Dengler im Oktober 1945, in OvSP, Box 1, Folder 1. 56 Anselm Strittmatter an von Simson, 28. März 1945, in OvSP, Box 1, Folder 1.

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­tretende Postverkehr mit Deutschland machte es möglich, den damals am Archäologischen Institut der Universität Marburg tätigen Privatdozenten zu orten und bald darauf in die Staaten zu holen.57 Von Simson gelang es, Panofsky für ein Gutachten zu gewinnen, das von Blanckenhagen, obwohl er kaum Englisch sprach, den Weg in das Committee eröffnete.58 Panofskys Wort hatte dort Gewicht, um ihn hatte man sich früher schon vergebens bemüht.59 Nach seiner Ankunft setzte von Blanckenhagen seine vormalige Freundschaft mit dem Ehepaar von Simson unmittelbar fort.60 Von Simsons deutsche Bindungen kamen erneut ins Spiel, als sich das Committee 1948 entschloss, den Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker zu einem Forschungsaufenthalt einzuladen.61 Der Executive Secretary hatte von Weizsäcker Nef gegenüber als „quite possible the best German scholar of this generation“ ausgegeben: „His present book, Geschichte der Natur, shows his deep interest in the unification of knowledge and his concern with metaphysical and religious questions beyond those of science.“62 Ob er ihm auch die familiäre Verbundenheit offenbarte – von Weizsäckers Vater hatte von Simsons Vater 1938 kraft seiner Stellung im Auswärtigen Amt die Emigration ermöglicht –, bleibt ungewiss.63 Die Begegnung mit den Gästen des Committee machte einen beträchtlichen Reiz der Arbeit in Chicago aus. Was Louise Alexandra von Simson darüber geschrieben hat, muss hier nicht wiederholt werden.64 T. S. Eliot, Louis Massignon, Konrad Lorenz, Marc ­Chagall, dessen Vortrag von 1946 Otto von Simson einleitete, Isaiah Berlin, Michael Polanyi, der ehemalige Reichskanzler Heinrich Brüning, Kurt von Schuschnigg, österreichischer Kanzler vor dem Anschluss, Paul Tillich, Rudolf Bultmann, T. S. R. Boase 65 und andere gehörten zu diesen Besuchern, mit denen das Ehepaar von Simson zum Teil langjährige Bekanntschaften aufzubauen wusste. 57 Den Anstoß für die Berufung hatte von Simsons Empfehlung an Nef vom 10. August 1945 gegeben; JUNP, Box 56, Folder 9. Zum Fortgang auch die Korrespondenz von Simsons mit von Blanckenhagen in OvSNL, Kasten 16, Mappe 1. 58 Panofsky an von Simson, 20. Mai 1946, in: Erwin Panofsky, Korrespondenz 1910 bis 1968: Eine kommentierte Auswahl in fünf Bänden, hg. von Dieter Wuttke, Bd. 2, Wiesbaden 2003, 729. 59 Dazu die Briefe Panofskys vom November und Dezember 1944 an Nef und Tyler in OvSL, Kasten 9, Mappe „Idea and Work of the Committee on Social Thought“. Wegen einer Erkrankung seiner Frau lehnte Panofsky die Einladung ab. 60 Louise Alexandra von Simson, Happy Exile, Darmstadt 1981, 109 – 110, 126 – 127. 61 Bei einem Meeting des Committee am 16. Dezember 1948 zog man von Weizsäcker für ein „permanent appointment“ in Betracht; so das Protokoll in OvSP, Box 1, Folder 4. Von Weizsäcker kam 1949 für einige Monate als Gastwissenschaftler; dazu auch von Simson an Nef, 9. März 1949, in JUNP, Box 56, Folder 10. 62 Von Simson an Nef, 26. Juli 1948, in JUNP, Box 56, Folder 10. Von Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, war 1948 in Stuttgart erschienen. Von Simson hatte schon die Druckfahnen des Buches gelesen; so an Nef, 6. August 1948, ebd. 63 Dieter Neitzert, „Das Amt“ ­zwischen Versailles und Rapallo: Die Rückschau des Staatssekretärs Ernst von Simson, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 60, 2012, 443 – 490, hier 452 – 453. 64 L. A. von Simson (wie Anm. 60), 142 – 156. 65 Von Simson an T. S. R. Boase, 29. April 1955, in OvSP, Box 1, Folder 9.

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John U. Nef hat Otto von Simson offenkundig bewundert. Dem Deutschen dankte er seine Loyalität der frühen Jahre dahingehend, dass dieser auch auf ihn unbedingt zählen konnte. Hilfe benötigte von Simson immer wieder. Als 1946 sein in München eingelagerter Besitz, zu dem nicht nur Möbel des 17. und 18. Jahrhunderts, sondern auch gotische Skulpturen und Zeichnungen von Guardi und Kobell gehörten, von der amerikanischen Militärregierung beschlagnahmt wurde, brachte Nef seine Verbindungen zum Foreign Office ins Spiel, um dem Emigranten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.66 Erneut nahm er Kontakt mit Washington auf, als Louise Alexandra von Simson vom Verbleib ihres Bruders, Louis von Schönburg-­Hartenstein, in russischer Kriegsgefangenschaft erfuhr. Nach einer auszehrenden Inhaftierung erfolgte seine Freilassung dann allerdings ohne amerikanische Intervention.67 Unterstützend griff Nef auch ein, um die Wohnungsprobleme seines Mitarbeiters zu lösen. So schon bei der Übersiedlung von 1945, mehr aber noch, als die Familie zwei Jahre später ihr damaliges Haus verlassen musste. Nach langer Suche erwarb die Universität ein Haus in der Maryland Avenue am Rande des Campus, das von Simson auf der Grundlage eines Universitätskredits dann selbst kaufen konnte.68 Anhaltenden Einsatz zeigte der Chairman des Committee einmal mehr, um Ende des Jahres 1950 von Simsons Einstufung in den Rang eines Full Professor zu befördern.69 Da die Professorengehälter inzwischen auf 12.000 Dollar im Jahr angehoben worden waren, verweigerte die Universitätsverwaltung aus Budgetgründen die gewünschte Höherstufung. Nef fühlte sich aufgrund eines früheren Versprechens an von Simson jedoch in der Pflicht und erdachte einen Kompromiss, für den er bald auch Hutchins, der damals kurz vor seinem Abschied aus Chicago stand, gewinnen konnte. Die Lösung sah vor, dass dem Kunsthistoriker zwar der Titel zugesprochen, er zunächst aber noch nach altem Tarif, das heißt mit 8.750 Dollar jährlich, bezahlt wurde. Schrittweise sollte sein Gehalt dann angepasst werden, bis es dem neuen Standard entsprach. Diesem Angebot stimmte die Finanzabteilung schließlich zu, so dass von Simson zum 1. Juli 1951 mit noch nicht 38 Jahren seine Ernennung zum Full Professor erhielt.

3. Hilfe für Deutschland Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft in Chicago bezeugte Otto von Simson ein Ereignis, das noch Jahrzehnte später zu den bleibenden Eindrücken seiner Universitätslaufbahn gehören sollte. Am 8. Mai, dem Tag der deutschen Kapitulation, hatte Robert Hutchins kurz entschlossen eine Zusammenkunft in der als Rockefeller Memorial Chapel 66 Dazu verschiedene Briefe vom Juni 1946 mit einem Inventar des Besitzes in OvSP, Box 1, Folder 1, und in JUNP, Box 56, Folder 9. 67 Dazu Nefs Briefe an das Foreign Office in Washington in JUNP, Box 56, Folder 9; ferner L. A. von Simson (wie Anm. 60), 79 – 81. 68 Für Nefs Bemühungen von 1947 vgl. JUNP, Box 56, Folder 10. 69 Die langwierigen Verhandlungen sind dokumentiert in OvSP, Box 1, Folder 6 – 7, und JUNP, Box 56, Folder 10. Von Simson hatte in Chicago als Assistant Professor angefangen, war aber schon 1948 zum Associate Professor aufgestiegen; vgl. OvSNL, Kasten 41, Mappe 3.

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bekannten Universitätskirche einberufen. Der auf dem Campus gelegene neugotische Saalbau von imposanten Ausmaßen war bis in die Gänge hinein mit Studierenden und Lehrkörper gefüllt. Nachdem die Anwesenden, unter ihnen zahllose Emigranten, gemeinsam die amerikanische Nationalhymne gesungen hatten, hielt der Universitätspräsident, selbst Sohn eines protestantischen Predigers, von der Kanzel herab eine Rede, die in die Annalen seiner Hochschule einging (Abb. 2).70 Dank und Gebet, so die Eröffnung, ­seien nun angesagt, Dank für die Soldaten, lebend oder tot, und Gebet für Demut, Menschlichkeit, Vernunft und Nächstenliebe, damit auf den schlimmsten Krieg der Geschichte ein dauerhafter Frieden folge. An Amerika gerichtet, betonte Hutchins, der sich lange Zeit gegen den Kriegseintritt seines Landes ausgesprochen hatte, dass es nun gelte, jene bessere Weltordnung, um derentwillen man zu den Waffen gegriffen habe, ihrer Verwirklichung entgegenzuführen. Dafür ­seien Opfer nötig, Opfer, um Millionen Europäer, zumal Deutsche, vor dem Hungertode zu bewahren, und er warnte davor, Deutschen und Japanern eine Kollektivschuld zuzuschreiben. Überdeutlich klang seine Absage an alle das deutsche Volk in seiner Gesamtheit treffenden Strafmaßnahmen, wie sie sich vornehmlich im Morgenthau-­Plan kristallisierten. „Unhistorical and senseless“ würden sie die Grundlage eines neuen Krieges bieten. Die Schuldigen waren zur Verantwortung zu ziehen, aber auch sie „with justice, and, if possible, with mercy“. – „Vengeance is the Lord’s.“ Allein die „restoration of the German and Japanese people“ eröffne die Chance eines anhaltenden Friedens, denn „all men are the children of God, and […] members of the human community“. Und Hutchins, der bald darauf ein Gremium leiten sollte, das über die Möglichkeit einer Weltregierung nachdachte, beschwor schon hier jene „world organization“, ohne die der ersehnte Frieden nicht möglich sei. Hutchins’ eindrucksvolle Rede dürfte Otto von Simson dazu veranlasst haben, unmittel­ bar im Anschluss einen eigenen Text zu verfassen, der, im Tenor ähnlich, manches noch sehr viel schärfer formulierte. Whose Victory? überschrieben, erschien er Anfang Oktober des Jahres im Social Justice Review, einer katholischen Monatsschrift.71 Auch von S­ imson fragt nach den Idealen von Demokratie und Freiheit, für die Amerika im unlängst beendeten Krieg gestritten habe. Mit Leo XIII . und wie es Beispiele aus der Geschichte zeigten, sei eine militärische Auseinandersetzung nur gewonnen, wenn über die Menschen hinaus deren Ideen überwunden werden könnten. Dazu bedürfe es der Etablierung einer neuen Friedensordnung mehr als aller Machtdemonstrationen der Siegerstaaten. Eben das, 70 Für den Text der mehrfach nachgedruckten Rede vgl. u. a. Robert M. Hutchins, V-E Day. The New Realism (Human Events), Chicago 1945. Für das Ereignis selbst auch Art Historian Otto von Simson (wie Anm. 8), 68 – 69. 71 Otto von Simson, Whose Victory?, in: Social Justice Review: Pioneer American Journal of Catholic Action, 28, Nr. 6, Okt. 1945, 187 – 191. Die Zeitschrift war das Organ des Catholic Central Verein of America. Von Simson hatte den Text im Juni 1945 der Zeitschrift Commonweal angeboten, ihn dann aber zurückgezogen, weil er glaubte, diese wolle schon Hutchins Rede vom 8. Mai abdrucken. Die anschließende Versendung des Textes an die New Yorker Zeitschrift The Catholic World blieb ohne Reaktion, so dass Social Justice Review seine dritte Anlaufstelle wurde. Für die entsprechenden Briefwechsel vgl. OvSP, Box 2, Folder 3.

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Abb. 2 Ansprache von Robert M. Hutchins am 8. Mai 1945 in der Rockefeller Memorial Chapel der Universität Chicago

„the conqueror’s power to impose his will upon the opponent“, war es jedoch, was ihm in den Medien der Zeit als die amerikanische Intention entgegentrat. In ihrer deutschlandfeindlichen Polemik gingen sie, so der Autor, nicht nur davon aus, dass die deutsche Nation einen grundlegend militaristischen Charakter habe, sondern mehr noch setzten sie die Identität von Regierungs- und Volkswillen voraus. Beide Behauptungen, so die energische Antwort, entsprächen eher dem Denken Hitlers, dessen Ideen folglich nicht besiegt ­seien, als der Geschichte und dem philosophischen Räsonnement. Was folgt, ist eine Diskussion, die Jahrzehnte später noch einmal während der Goldhagen-­Debatte an die Oberfläche kommen sollte: Hitler, der Verführer oder lediglich das Werkzeug der Deutschen? In von Simsons Augen wurzelte der Hitlerismus nicht mehr in der deutschen Tradition als die Eroberungszüge Napoleons in der französischen. Was den vermeintlich imperialistischen deutschen Charakterzug angehe, so schien es ihm überdies, „hypocritical enough to mention Frederick the Great but not Louis XIV , Hegel but not Rousseau […], Nietzsche but not Sorel.“ Es gelte vielmehr, sich der deutschen Notlage von 1933 zu erinnern, um zu verstehen, wie dem mit Täuschung arbeitenden Demagogen Hitler die Machtergreifung über „a foolish or, still better, a desperate people“ gelungen sei. Wer das deutsche Volk vom Ausland aus bezichtige, den Gewaltherrscher bereitwillig unterstützt zu haben, mache sich zumeist keine Vorstellung von der Einschüchterung durch ein totalitäres Regime. Welcher Amerikaner hatte je unter Einsatz seines Lebens

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Akte der Lynchjustiz zu verhindern gesucht? Dass Teilnahmslosigkeit auch zur Schuld werden könne, zu einer Schuld, an der Deutschland noch Generationen zu tragen habe, leugnet der Autor keineswegs. Doch möchte er fehlenden Mut zum Widerstand von jeder Form der Mittäterschaft unterschieden wissen. Zu fragen bleibe überdies – und hier verschärft sich der Ton noch einmal erheblich –, ob es allein die Deutschen waren, auf die Hitler sich stützen konnte. Hatten nicht auch all jene, die durch ausländische Pässe geschützt zur Olympiade kamen und mit ihren Rolls Royce in Bayreuth vorfuhren, „beaming with adoration for the wonderful accomplishment of these Teutons“, Hitlers Herrschaft gefestigt? Der Nationalsozialismus habe sich zudem einer psychologischen Waffe bedient, der die Bevölkerung nicht gewachsen gewesen sei, der Propaganda nämlich, der politischen Werbung. Auch in ihrem amerikanischen, ihrem kapitalistischen Kontext könne aggressive Werbung das öffentliche Bewusstsein manipulieren, künstliche Bedürfnisse schüren und Konkurrenten verdrängen. Das Genie von Goebbels habe es dann verstanden, ­solche Strategien politisch nutzbar zu machen. „In capitalist society this man might merely have become a topflight advertising executive“, so der zugespitzte Vergleich. Im Übrigen sei die Intoleranz, w ­ elche die NS -Propaganda hervorgebracht habe, kein deutsches Spezifikum: „In this country [den U. S. A.] immorality, anti-­semitism, and anti-­catholicism are rampant though they have never enjoyed the assistance of publicity on any considerable scale.“ Von Simsons Schlussfolgerung deshalb: „The miracle is not that so many Germans have succumbed to Nazi propaganda, but, as I well know, that so many remained steadfast.“ Das abschließende Plädoyer wendet sich noch einmal nachdrücklich gegen die Annahme einer deutschen Kollektivschuld, von der die amerikanischen Zeitungen offenbar überzeugt waren. Die Pogrome von 1938 s­ eien eben keine Ausbrüche des spontanen Volkszorns gewesen, wie von den Nazis behauptet, sondern gezielte, von oben gesteuerte Aktionen. Der Zynismus von Presse und einzelnen U. S.-Militärs, etwa im Umgang mit Kriegsge­ fangenen, zeige, dass der Kampf noch nicht vorbei sei, die Brutalität der Schlachtfelder jetzt vielmehr die home front erreicht habe, und er empfiehlt, dass auch Amerika jener noble dignity folge, mit der Norweger, Dänen und Holländer ihre ehemaligen Folterer behandelten. Ähnlich wie bei Hutchins dann der abschließende Appell an die amerikanischen Tugenden: „[…] we have not better, we have no other weapon by which to secure peace than the American sense of justice, decency, dignity and charity. This is the lesson the German schoolboy will learn, a language his parents will understand. Again let us secure our victory by being human.“ Wenn der Herausgeber des Social Justice Review betont, er habe den Text aufgrund seiner kontroversen Aussagen zweimal gelesen, bevor er sich zu einer Veröffentlichung habe entschließen können,72 so versteht man, warum, denn kaum ein zweiter in den U. S. A. publizierter Beitrag der unmittelbaren Nachkriegszeit dürfte die Schuldfrage so differenziert gesehen haben wie von Simsons rhetorisches Meisterwerk. Die Nolte-­Widersacher des sogenannten Historikerstreits der 1980er Jahre hätten den Autor sicherlich der Relativierung 72 F. P. Kerkel an von Simson, 28. August 1945, in OvSP, Box 2, Folder 3.

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durch Vergleich bezichtigt. Worum es ihm als Leidtragenden des NS-Regimes indes ging, war keine revanchistische oder apologetische Zielsetzung, sondern eine christliche: Nur wer selbst ohne Schuld, der werfe den ersten Stein. Otto von Simson war sich bewusst, dass sein Artikel in einer Zeitschrift, die er selbst als „obscure little Catholic sheet, largely for German-­Americans“ und nicht als „respectable publication“ einstufte, kein nennenswertes Echo finden würde.73 Im Herbst desselben Jahres nahm bereits ein anderer Plan Gestalt an, mit dem er in die Politik selbst vorzudringen gedachte. Alarmiert durch die Nachrichten über den katastrophalen Zustand des eroberten Deutschlands setzte er im Namen einer Reihe prominenter Emigranten eine Petition auf, die den politisch Verantwortlichen an höchster Stelle, so Präsident Truman, James F. Byrnes, dem damaligen Außenminister, aber auch den Kongressabgeordneten zugehen sollte.74 Der Text, in seiner frühen Fassung offenbar gemeinsam mit Walter Peterhans, dem früheren Photographielehrer des Bauhauses, jetzt in Chicago am Illinois Institute of Technology tätig, ausformuliert,75 wiederholt die Grundgedanken des Beitrags Whose victory?, kommt im Ton jedoch ungleich zurückhaltender daher. Als Opfer des Nazi-­Regimes, die aus Deutschland und Österreich kommend in einem freien demokratischen Land, den U. S. A., Zuflucht gefunden hätten, baten die Unterzeichner alle amerikanischen Politiker und das amerikanische Volk, ihren Umgang mit den unterworfenen Staaten zu überdenken. Die Potsdamer Erklärung habe den Deutschen ihre Rückkehr in die Völkerfamilie vor Augen gestellt, allein die Wirklichkeit lasse eine solch positive Entwicklung nicht einmal erahnen. Deutschland liege als Trümmerwüste und Ödland da, der Industrie beraubt und ohne Agrartätigkeit, dabei von Millionen Flüchtlingen aus dem Osten überflutet. Der Hungertod bedrohe Alte und Kinder, wenn nicht das gesamte Volk. Das in Amerika weit verbreitete „Selber schuld!“-Argument treffe den Sachverhalt nicht wirklich, denn unter der gegenwärtigen Notlage litten die vormaligen Opfer des Regimes, sofern sie im Land geblieben ­seien, ebenso wie unschuldige Kinder. Um einen allgemeinen Frieden zu gewährleisten, erscheine ein „program of instant relief in Germany and Austria“ unumgänglich. Arbeitslosigkeit, Hunger und Verzweiflung 73 Von Simson an Kyrill Schabert, 17. Dezember 1945, in OvSP, Box 2, Folder 3. 74 Die endgültige Textfassung mit den Namen der Unterzeichner ist in OvSNL, Kasten 9 (Mappe ohne Zählung und Titel), überliefert. Zwei andere, vorläufige Textversionen wurden bereits publi­ ziert; vgl. Hermann Broch, Politische Schriften (Komment. Werkausgabe, hg. von Paul Michael Lützeler, Bd. 11), Frankfurt a. M. 1978, 449 – 450; und Jost Lemmerich, Aufrecht im Sturm der Zeit: Der Physiker James Franck 1882 – 1964, Diepholz/Stuttgart/Berlin 2007, 253 – 255. Die beiden Herausgeber haben die Vorgeschichte des Appeal kurz erläutert, ohne von Simsons Schlüsselstellung zu berücksichtigen. 75 Die Beteiligung von Peterhans an der ersten Fassung des Appeal bezeugt Alexander Böker an von Simson, 12. November 1945, in OvSNL, Kasten 14, Mappe 2. Peterhans stand dem Committee on Social Thought nahe, wurde 1946 dort sogar Stipendiat. Vgl. von Simson an Nef, 20. Juli 1945, in JUNP, Box 56, Folder 9, sowie Shils an von Simson, 15. August 1947, in OvSP, Box 1, Folder 3. 1944 war er bereits an den Planungen der Vortragsreihe The City: Organism and Artefact beteiligt; JUNP, Box 74, Folder 11.

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sowie der Hass, den s­ olche Missstände hervorbrächten, ließen sich weder als Heilmittel gegen den Faschismus noch als Grundlage einer demokratischen Staatsbildung einsetzen. Bis zur Lösung der ökonomischen Probleme empfehle es sich, zumindest private Wohlfahrtsorganisationen in den besetzten Ländern zuzulassen. Jede Form von Gleichgültigkeit hingegen entspreche nicht den moralischen Prinzipien, die Amerika veranlasst hätten, in den vergangenen Krieg einzutreten. Mit den Namen von annähernd 200 Unterzeichnern versehen ging der Appeal kurz vor dem Weihnachtsfest von 1945 an die politischen Entscheidungsträger und kam darüber hinaus in einzelnen Presseorganen zum Abdruck.76 Einige prominente Wissenschaftler deutscher Herkunft, darunter auch ­solche jüdischen Bekenntnisses, hatten das Gesuch unterstützt, so der in Chicago tätige Physiker und Nobelpreisträger James Franck, die beiden Klassischen Philologen Hermann F. Fränkel und Paul Friedländer, Ernst K ­ antorowicz und Paul Oskar Kristeller. Erwartungsgemäß finden sich mit Oswald Goetz vom Chicago Art Institute, Julius Held, Wilhelm Köhler, Ulrich Middeldorf, Georg Swarzenski, ­Wilhelm Valentiner und Martin Weinberger etliche Kunsthistoriker auf der Liste. Berühmtheiten aus den kreativen Tätigkeitsbereichen kamen hinzu – der Dirigent Bruno Walter, die Architekten Gropius, Hilberseimer und Mies van der Rohe, die Schriftsteller Erich von Kahler und Hermann Broch wie auch – dies mochten die Initiatoren als besonderen Erfolg verbuchen – Thomas Mann. Den Unterzeichnern folgte dann eine Reihe von etwa zwanzig amerikanischen supporters, darunter Hutchins und andere hochrangige Universitätsvertreter ebenso wie autoritative Kirchenleute und mehrere Rabbiner. Erst von Simsons Nachlass gibt zu erkennen, welch wochenlange Diskussionen dem Abschluss des Dokuments vorangegangen waren. Kritik sowohl an einzelnen Formulierungen wie am Ton des Appeal gab es in großer Zahl, so dass neben die Unterstützer auch eine stattliche Zahl von Nicht-­Unterzeichnern trat.77 Albert Einstein, der zum prominentesten Zugpferd des Unternehmens hätte werden können, gehörte zu dieser Gruppe.78 Ihm hatte James Franck bereits eine modifizierte Fassung des Schreibens vorgelegt. Die Vehemenz, mit der Einstein sie zurückwies, ließ sogar Franck skeptisch werden, der sich am Ende aber doch zu einem Schulterschluss mit den Befürwortern entschied. Manch einem der potentiellen Bejaher war der Tenor des Schreibens zu Amerika-­kritisch, anderen wiederum zu unterwürfig. Angriffe auf die Sowjetunion hat von Simson ebenso streichen müssen wie den Appell an die charity, dem in einer früheren Textfassung noch ein bedeutender Stellenwert zukam. Der junge in Washington tätige Journalist Alexander Böker, in Harvard von Brüning promoviert, hat ihn während 76 Für die Namen der ursprünglichen Unterzeichner vgl. die in Anm. 74 zitierte Textüberlieferung. Offenbar sammelte man auch danach noch Unterschriften, die dann für verschiedene Publikationen des Appeal genutzt werden konnten. Korrespondenz, die darauf hindeutet, findet sich in OvSL, Kasten 14, Mappe 2. 77 Für ablehnende und kritische Stimmen zu den unterschiedlichen Textfassungen vgl. OvSNL , ­Kasten 14, Mappe 2; sowie Broch (wie Anm. 74), 428 – 4 48; ders., Briefe 3 (1945 – 1951), (Komment. Werkausgabe, Bd. 13/3), Frankfurt a. M. 1981, 56 – 59, 71 – 72, 74 – 78. 78 Lemmerich (wie Anm. 74), 252 – 259, der auch Einsteins energische Briefe an Franck zitiert.

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dieser Wochen anhaltend beraten und sich nicht nur für weitere Unterschriften, sondern auch für die mediale Verbreitung des Texts eingesetzt.79 Was die Unterzeichner anging, so empfahl Böker Strategien, die sich Otto von Simson nicht ohne weiteres aufgedrängt hatten: Auch Gewerkschaftsleute und Sozialdemokraten sollten hier in Erscheinung treten, damit das Vorhaben keine auffällig konservative Einfärbung annehme; insbesondere warnte er vor zu vielen Adeligen. Der Wortlaut, das gestand von Simson freimütig ein, stellte am Ende einen Kompromiss dar, der ihn in keiner Weise befriedigte – anders als die imposante Liste der Unterzeichner. Einen gewissen Erfolg scheint der Aufruf dann tatsächlich hervorgebracht zu haben. Immerhin nahm ihn der amerikanische Kongress zu seinen Akten; einzelne Senatoren schrieben an den Initiator und beteuerten, sich in seinem Sinne verwenden zu wollen.80 Ein Jahr später sollte der Kunsthistoriker eine weitere Initiative auf den Weg bringen. Inzwischen war ein Postverkehr mit der alten Heimat, wenn auch enorm verlangsamt, wieder möglich, und Briefe der früheren Freunde, Wolfgang Lotz, Josef Raczyński, Peter Heinrich von Blanckenhagen, gelangten nach Chicago.81 Aus ihnen, aber auch aus den deutschen Presseberichten ließ sich entnehmen, wie sehr die Notlage gerade das akademische Leben beeinträchtigte.82 Verheerend wirkte sich die Wohnungsnot aus. Nobelpreisträger mussten als Untermieter kleine ungeheizte Kammern beziehen. Weder Kohle noch Strom standen ausreichend zur Verfügung, so dass die Hörer der Kollegs bisweilen Brennholz für ihre betagten Professoren sammelten. Der fast achtzigjährige Philosoph Max Dessoir, bei Frankfurt einquartiert, zog sich im Winter 1945/46 schwere Erfrierungen an Händen und Füßen zu. Schwächeanfälle, Hungerödeme und Tuberkuloseerkrankungen der Universitätsdozenten häuften sich. Über seinen bevorstehenden Ruf nach Chicago unterrichtet, äußerte von Blanckenhagen umgehend die Bitte, ihm gleichsam als Vorschuss auf sein Gehalt doch zwei CARE-Pakete zukommen zu lassen, die es ihm erlauben sollten, zwei weitere Monate zu überleben.83 Im Dezember 1946 wies von Simson Hutchins eindringlich auf diese Situation hin, und er vertraute darauf, dass andere Hochschulen einem Vorstoß zur Abhilfe folgen würden, ginge die Universität Chicago nur mit gutem Beispiel voran. Immerhin standen hier die „higher education in Germany“ und die „re-­education“ des Landes auf dem Spiel, fraglos Anliegen von internationalem Interesse.84 Während der nächsten Wochen 79 Verschiedene Briefe an von Simson in OvSNL, Kasten 14, Mappe 2. 80 Von Simson, Humanismus in USA (wie Anm. 2), 121. Zuschriften von Senatoren an von Simson sind in OvSNL, Kasten 14, Mappe 2, überliefert. 81 OvSNL, Kasten 16, Mappe 1; einzelnes auch in OvSP, Box 1, Folder 2. 82 Zum Folgenden der Bericht Existenzkampf der Wissenschaft: Das Los deutscher Professoren und Nobelpreisträger, in: Die Welt, 31. Mai 1947; auch überliefert in OvSNL, Kasten 14, Mappe 2. 83 Zitiert in von Simsons Brief an Hutchins, 16. Dezember 1946, in OvSNL, Kasten 14, Mappe 2. Seine erbärmlichen Lebensumstände schildert von Blanckenhagen überdies in den Briefen an von Simson in OvSNL, Kasten 16, Mappe 1. 84 Von Simson an Hutchins, 16. Dezember 1946, in OvSNL , Kasten 14, Mappe 2. Dort auch die Materialien, auf die sich das Folgende stützt.

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führte man nicht nur eine universitätsinterne Spendensammlung durch, die bereits 2.500 Dollar einbrachte, sondern man gründete ein Committee for Aid to German and Austrian Scholars. Ihm gehörten etwa zwanzig Professoren aus Chicago an, vorab wiederum deutsche Emigranten, aber auch Nef und Hutchins reihten sich ein. Von Simson zeichnete einmal mehr als Secretary des Committee, hatte als Treasurer dann den Theologen ­Wilhelm Pauck an seiner Seite. Das Gründungspapier des Committee hält mit Kritik nicht zurück. Die US -Regierung habe hochrangige Wissenschaftler ins Land geholt, denen ein maßgeblicher Anteil an der Entwicklung von Hitlers Waffenprogrammen zukomme, stelle ihnen nunmehr die amerikanische Staatsbürgerschaft in Aussicht und versorge ihre in Deutschland zurückgebliebenen Familien mit Sonderrationen. Der neu anlaufenden Initiative gehe es hingegen darum, Gelehrte zu unterstützen, die sich nicht um die Produktion von Vernichtungswaffen verdient gemacht hätten, sondern das, was von deutscher Zivilisation noch erhalten sei, zu bewahren suchten und ein „survival of one important section of the intellectual and moral heritage of the West“ erstrebten, wie es von Simson an anderer Stelle formuliert.85 Ein naheliegendes Hilfsmittel waren die Paketsendungen der Cooperative for American Remittance to Europe, die berühmten CARE -Pakete also. An die Direktoren der deutschen und österreichischen Universitäten verschickt, sollten sie die Sendungen unter den bedürftigsten Fakultätsmitgliedern verteilen. Ein Schreiben an weitere Universitäten der Vereinigten Staaten forderte zur Gründung lokaler Committees auf, deren Treasurers sich anschließend mit Pauck hätten kurzschließen sollen. Das Programm lief schon im Januar 1947 mit Paketen für fünfzehn Universitäten in Deutschland und Österreich an. Ein Spendenaufruf von Simsons erschien darüber hinaus in der New York Times, der Washington Post, der Baltimore Sun, dem Independant Star und anderen Zeitungen. Dennoch blieb der Erfolg des Unternehmens vorerst enttäuschend. Von „a few hundred dollars, incidently less than we expected“ ist im Juni des Jahres die Rede, was allerdings untertrieben sein mochte.86 Von Simsons Bemühen für das Land seiner Herkunft kannte weitere Facetten. So setzte er sich für Buchspenden an das werdende Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte ein, wo sein Freund Wolfgang Lotz inzwischen als einer der führenden Köpfe tätig war.87 Auf privater Ebene bemühte er sich um Freunde und Bekannte in jeder Hinsicht, sei es durch CARE -Pakete, durch Hilfestellungen bei deren Emigrationsanträgen oder auch bei ihren Entnazifizierungsgesuchen. Deutschland stand ihm nahe. Über ­solche Einzelinteressen hinaus verdient es nicht weniger Beachtung, wie sehr sich die Emigranten der Universität Chicago für das geistige Erbe ihres Heimatlandes stark machten. Innerhalb des Lehrkörpers hatte sich etwas wie eine deutsche Enklave herausgebildet, als deren graue 85 Von Simson an Hutchins, 16. Dez. 1946, in OvSNL, Kasten 14, Mappe 2. 86 Von Simson an Otto Krayer, 24. Juni 1947, in OvSNL, Kasten 14, Mappe 2. 87 Dazu der Briefwechsel mit Wolfgang Lotz in OvSNL, Kasten 16, Mappe 1, und OvSP, Box 1, Folder 2. Ferner von Simsons Korrespondenz mit der Carl Schurz Memorial Foundation vom April 1947, in OvSNL, Kasten 14, Mappe 2.

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Eminenz Arnold Bergstraesser gelten konnte.88 Von Hause aus Politikwissenschaftler, war Bergstraesser jetzt am Department of Germanic Languages and Literatures angestellt, um sich vorwiegend mit Goethe zu beschäftigen, für dessen neue englische Werkausgabe er sich tatkräftig einsetzte. An der Universität leitete er darüber hinaus einen Arbeitskreis für Deutsche Fragen, dem neben von Simson, Bachhofer und von Blanckenhagen der Jurist Max Rheinstein, der Historiker Hans Rothfels und der Germanist Wolfgang Liepe angehörten. Für den Winter 1947/48 schlug Bergstraesser Das Bild der deutschen Geschichte als übergreifendes Diskussionsthema des Kreises vor.89 Von der gegenwärtigen Besatzungspolitik ausgehend wollte man sich dort zunächst mit der jüngeren Geschichte Deutschlands, mit Bismarck, Weimar und dem Nationalsozialismus, auseinandersetzen, um dann weiter zurückzublicken. Von Simson sollte vor d ­ iesem Gremium über Die geschichtliche Stellung der deutschen Reformation referieren. Offenbar war es auch hier völlig selbstverständlich, dass die Mitglieder sich zu Themen äußerten, die jenseits des eigenen Fachgebiets lagen. Prekäre Fragen der Gegenwart wie die Ost-­West-­Spannungen in Deutschland, der Wieder­aufbau von Baudenkmälern und die Situation deutscher Studenten in den U. S. A. drängten sich dann allerdings immer wieder in den Vordergrund. Bergstraesser spielte überdies eine führende Rolle in der schon vor seiner Zeit gegründeten Literarischen Gesellschaft Chicagos, die sich „der Pflege deutscher Sprache, Literatur und Kunst“ verschrieben hatte.90 Mittels einer Leihbibliothek wollte die Gesellschaft ihren Mitgliedern die literarischen Neuerscheinungen des Landes zugänglich machen. Auf Breitenwirkung zielte sie gleichermaßen mit den von ihr organisierten deutschsprachigen Vortragsreihen ab. Eine erste Sammlung solcher Vorträge hat Bergstraesser 1947 im Zusammenspiel mit dem Universitätsinstitut für Germanistik unter dem programmatischen Titel Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung publiziert. Das Vorwort des Herausgebers geriet zu einem Manifest jenes abendländischen Denkens, das sich auch im Nachkriegsdeutschland einer beispiellosen Blüte erfreute.91 „In der deutschen Überlieferung sind Kräfte erhalten, die als edle und ­unentbehrliche Teile zur geistigen Welt des Abendlandes gehören.“ – „Zu ihrer Deutung und ihrem Fortleben“ wolle das nun vorgelegte Buch beisteuern. Somit „spiegelt [es] die Mannigfaltigkeit und vielfache Spannung, die sich im Schicksal des deutschen Geistes ausspricht.“ Die Autoren „suchen ihn dort zu erfassen, wo er dem universalen Gehalt der abendländischen 88 Zu Bergstraessers Zeit in Chicago bes. Claus-­Dieter Krohn, Der Fall Bergstraesser in Amerika, in: Exilforschung: Ein internationales Jahrbuch, 4, 1986, 254 – 275. Für den deutschen Kreis an der Universität auch Jan Eckel, Hans Rothfels: Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, 218 – 223. Etwa 45 zumeist aus Deutschland emigrierte Gelehrte fanden seit 1933 an der Universität Chicago eine Anstellung; dazu John W. Boyer, „We are all Islanders to Begin with“: The University of Chicago and the World in the Late Nineteenth and the Twentieth Century, ­Chicago o. J. (2008), 69 – 125. 89 Programme der Treffen des Arbeitskreises sind in OvSP, Box 1, Folder 2, erhalten. 90 Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung, Chicago 1947, 251 – 252. 91 Arnold Bergstraesser, Vorwort, in: Deutsche Beiträge (wie Anm. 90), vii–ix.

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Bildungsgeschichte verbunden ist. Christlich religiöses Leben und Denken, in katholischer und protes­tantischer Symbolik, hat in Gemeinschaft mit der humanistischen Erneuerung des Verhältnisses zum klassischen Altertum die bleibenden Schöpfungen der deutschen Religiosität, Philosophie und Dichtung begründet. Auch die geistigen Bewegungen unseres Jahrhunderts kreisen um die universalen, an den Menschen gerichteten Fragen […]. Wenn inmitten der Katastrophen der Gegenwart die Beiträge es übernehmen, aus dem Reichtum des deutschen geistigen Erbes zu schöpfen, so geschieht es in dem Vertrauen auf seine Fruchtbarkeit und seine unzerstörte Gemeinschaft mit der abendländischen Ökumene. Die jenseits und diesseits des Ozeans sich mehrende Einsicht in die geistig-­ethischen Ursachen der Krisen unseres Jahrhunderts vertieft die geschichtliche Verpflichtung des geschichtlichen Betrachters, die Frage nach seinem überzeitlichen Gehalt an das Werk der Vergangenheit zu richten.“

Die politische Botschaft hinter d ­ iesem Bekenntnis scheint eindeutig. Der deutsche Geist hat einen unabdingbaren Baustein zum abendländischen Denken geliefert, einem Denken, dem auch die Gegenwart sich aufs Tiefste verpflichtet fühlen muss. Dieser Umstand macht es unerlässlich, die Deutschen wieder in die europäische Ökumene aufzunehmen. Wird hier zugleich der überzeitliche Gehalt des Werks beschworen, so spiegelt sich ­Bergstraessers Nähe zum Committee on Social Thought, das die ­gleiche abendländische Ideologie uneingeschränkt verinnerlicht hatte. Otto von Simson schrieb in den Deutschen Beiträgen über die Mosaiken von Ravenna, kein deutsches Thema zwar, doch deutete er diese wie bald darauf in Sacred Fortress mit Hilfe des liturgischen Geschehens, dem er einleitend grundsätzliche Überlegungen widmete.92 Eben deshalb ist der Aufsatz Das abendländische Vermächtnis in der Liturgie überschrieben. Wie sehr dieser Bezugsrahmen dem Zeitgeist geschuldet war, hat der Autor an späterer Stelle selbst eingeräumt.93 Die Deutschen Beiträge, zunächst von der Chicago University Press publiziert, waren offenbar als Jahrbuch geplant. Allerdings dauerte es dann doch sechs Jahre, bis ein zweiter und letzter Band erschien, der bereits als Koproduktion der Henry Regnery Company in Chicago und des Münchner Verlegers Hermann Rinn auf den Buchmarkt kam. Hier dokumentiert sich das außergewöhnliche Interesse, auf das die erste Aufsatzsammlung in Deutschland gestoßen war. Auch an diesen zweiten Beiträgen war Otto von Simson beteiligt. Sein Aufsatz Über das Religiöse in Wolframs Parzival galt einem Thema, das er der Literarischen Gesellschaft Chicagos schon im April des Jahres 1947 vorgestellt hatte.94 92 Otto von Simson, Das abendländische Vermächtnis in der Liturgie, in: Deutsche Beiträge (wie Anm. 90), 1 – 57. 93 Otto von Simson, Von der Macht des Bildes im Mittelalter, Berlin 1993, 10, Anm. 1. Der Aufsatz von 1947 ist in ­diesem Band, 11 – 54, nachgedruckt. 94 Otto von Simson, Über das Religiöse in Wolframs Parzival, in: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung [2], München/Chicago 1953, 25 – 45. Zur Vortragsfassung: Deutsche Beiträge (wie Anm. 90), 252.

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Aus der Arbeitsgemeinschaft für deutsche Fragen ging schließlich noch ein weiteres kurzlebiges, aber dennoch beachtenswertes Projekt hervor, die German Books, ein Rezensionsorgan für deutschsprachige Bücher (Abb. 3). Auf schlechtem Papier nur hektographiert, stellen die zwei Jahrgänge (1948 – 1949) mit ihren zehn billig produzierten Lieferungen dem amerikanischen Publikum doch mehrere hundert Publikationen verschiedenster Wissensgebiete vor. Das Editorial Board war weitgehend mit dem Arbeitskreis identisch: M ­ iddeldorf, Pauck, Rheinstein, Rothfels, von Simson und andere. Dem Executive Committee gehörten neben Bergstraesser Helena M. Glamer und George J. Metcalf an, beide vom Department of Germanic Languages and Literatures, das auf dem Titelblatt als tragende Institution geführt wurde. Wie die Herausgeber im Vorspann des ersten Heftes betonen, gehe es darum, zu einem Zeitpunkt, da die „channels of intellectual intercourse“ noch nicht vollständig wiederhergestellt ­seien, mit deutschsprachigen Werken und englischsprachigen über spezifisch deutsche Probleme vertraut zu machen. Die humanities und social sciences sollten dabei im Mittelpunkt stehen, naturwissenschaftliche Veröffentlichungen nur, sofern sie auch für jene belangreich ­seien. Besondere Aufmerksamkeit komme überdies den Periodika zu, da sie als „primary carriers of discussion in present-­day Germany“ gelten dürften. Vereinzelt sollten auch Bücher der Kriegszeit, die in Amerika noch nicht rezipiert worden ­seien, Beachtung erlangen. Es folgt dann eine Einführung des Direktors der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart, Wilhelm Hoffmann, der eine kritische Rückschau auf das deutsche Buchwesen vorlegt.95 Nach der intellektuellen Isolation Deutschlands während der NS-Zeit ströme selbst jetzt keine ausländische Literatur ins Land, wie auch die deutsche Buchproduktion nur gedrosselt wieder angelaufen sei. Hier habe man eine Chance vertan. Renommierte Verlagshäuser hätten ebenso große Mühe, an ihre alten Traditionen anzuknüpfen, wie die Bibliotheken, sich dem Publikum zu öffnen. Die Druckerzeugnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit hätten sich auf geistlose Pamphlete beschränkt, geschrieben mit Blick auf die Besatzungsmächte, ­seien also letztlich noch immer Propaganda gewesen. Besser stellten sich die neuen Periodika dar. Bücher im klassischen Sinne gewännen indes nur sehr langsam an Boden. Von 1945 bis zum Frühjahr 1947 ­seien 5.000 neue Titel erschienen, was lediglich einem Sechstel der vormaligen Jahresproduktion entspreche. Die riesige Aufgabe der Wiederherstellung des geistigen Lebens und der intellektuellen Kontakte Deutschlands sei somit erst in Anfängen geleistet. Zu eben diesen intellektuellen Kontakten wollten die Deutschen in Chicago beitragen. Offenbar waren sie, Hoffmanns pessimistischen Ausblicks ungeachtet, der Meinung, das, was in Deutschland – wenn auch auf billigem Papier – bereits wieder angeboten werde, sei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wert. Annähernd 30 Lehrende der Universität Chicago und über 40 von außerhalb, ganz überwiegend deutsche und österreichische Emigranten, haben sich als Rezensenten an den German Books beteiligt. Vermutlich stellten 95 Wilhelm Hoffmann, German Books, in: German Books: A Selective Critical Bibliography of Publica­ tions in German, 1, Nr. 1, Jan. 1948, 3 – 12. Aus der Planungsphase der Zeitschrift stammt B ­ ergstraessers Brief an von Simson und andere vom 7. Dezember 1947 in OvSNL, Kasten 14, Mappe 2.

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Abb. 3 German Books, Bd. 1, Heft 1, Januar 1948

die akademischen Auswanderer und gerade nicht die Amerikaner dann auch das eifrigste Lesepublikum dieser Hefte dar. Das abgedeckte Themenspektrum ist breit, gleichwohl der Krisenbewältigung, will sagen dem Verstehen der Nazi-­Zeit und der Wiederaufbauliteratur mit ihrer moralischen Erneuerung – Sedlmayr, Jaspers, Guardini, um nur die prominentesten Autoren zu nennen –, erhebliche Aufmerksamkeit zukommt. Von Simson hat zu den beiden Jahrgängen dreizehn Texte beigesteuert, die mithin mehrere Bücher behandeln.96 Einmal mehr verblüfft der Gelehrte durch die Breite seiner 96 Die publizierten Bibliographien von Simsons weisen für seine amerikanische Zeit erhebliche Lücken auf (einzelne Nachträge oben Anm. 34, 36, sowie unten Anm. 172, 215). Von den Rezensionen der German Books sind dort nur zwei erfasst. Tatsächlich schrieb von Simson über: German Periodicals: Die Gegenwart, Die Wandlung, Hochland, in: German Books, 1, Nr. 1, Jan. 1948, 63 – 69; Walter Nigg, Große Heilige, Zürich 1946, ebd., 1, Nr. 3, Juni 1948, 132 – 133; Max Pribilla, Deutschland nach dem Zusammenbruch, Frankfurt a. M., ebd., 1, Nr. 3, Juni 1948, 174 – 175; Theodor Hetzer, Die Sixtinische Madonna, Frankfurt a. M. 1947, ebd., 1, Nr. 4, Okt. 1948, 211 – 212; Kurt Steinbart, Konrad von Soest, Wien 1946; sowie Ludwig von Baldass, Conrad Laib und die beiden Rueland Frueauf, Wien 1946, ebd., 1, Nr. 4, Okt. 1948, 212 – 214; Ordenberg Bock von Wülfingen, Rubens in der deutschen Kunstbetrachtung, Berlin 1947, ebd., 1, Nr. 5, Dez. 1948, 280 – 281; Wilhelm Schubart, Justinian und Theodora, München 1943, ebd., 1, Nr. 5, Dez. 1948, 285; Karl Adam, Una Sancta in katholischer Sicht: Drei Vorträge über die Frage einer Wiedervereinigung der getrennten christlichen Bekenntnisse, Düsseldorf 1948, ebd., 2, Nr. 1, März 1949, 3 – 4; Friedrich

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Interessen, denn das Wenigste von dem, was er hier vorstellte, gehörte zum Bereich seiner Forschungen – Bock von Wülfingens Buch zur Rubens-­Rezeption, Wilhelm Schubarts ­Justinian und Theodora, Deichmanns Frühchristliche K ­ irchen Roms, mehr aber nicht. Anderes fällt unter die allgemeine Kunstgeschichte, so Ludwig von Baldass über Conrad Laib und Kurt Steinbarts Buch zu Konrad von Soest, dessen Gegenüberstellung von „germanisch“ und französisch für von Simson einen „somewhat hollow and obsolete ring“ besaß. Der Neuauflage von A. E. Brinckmanns erstmals 1938 publiziertem Geist der Nationen zum Nationalcharakter der Kunst von Deutschen, Italienern und Franzosen gesteht er zu, die Fragestellung im Unterschied zur Haltung seiner Zeit nicht chauvinistisch missbraucht zu haben, findet in dem Buch allerdings auch keine wesentlich neuen Erkenntnisse. Begeistert zeigt er sich dann von Theodor Hetzers Band über die Sixtinische Madonna. Dessen These, wie sehr das Gemälde Bedürfnissen von Ästhetik und Frömmigkeit gerecht werde, kann er sich nur anschließen, macht dann aber seiner Empörung darüber Luft, dass das Bild mit großen Teilen der Dresdner Sammlung in die Sowjetunion verschleppt worden sei, „in what undoubtedly constitutes the greatest loot of art treasures in modern times. It is strange to think of this serene and gentile child of Christian piety wedded to Grecian beauty in the Bolshevik capital.“ Der Kalte Krieg kündigt sich an. Neben den kunsthistorischen Schriften stehen etliche Bücher zur Zeitgeschichte. So ­Heinrich Portmanns Bände über Kardinal Galen, dessen Widerstand gegen das NS-Regime von Simson offenkundig bewunderte. Möglicherweise sah er sich bei der Lektüre noch einmal in seiner eigenen Konversion zum katholischen Glauben bestätigt. Max Pribillas Deutschland nach dem Zusammenbruch gab ihm erneut Gelegenheit, die in Amerika verbreitete Vorstellung von der deutschen Kollektivschuld zurückzuweisen. Gedanken über das Schicksal seines Heimatlandes forderten ebenso die neuen Merian-­Hefte zu Hamburg und Lübeck heraus, führten sie doch auch die Zerstörungen dieser Städte vor Augen. Eine ­solche Dokumentation sei wertvoll, so der pathetische Kommentar, „not only because it recalls the spirit of a great past, but because it attests to the survival of this spirit with its fortitude, its devotion, its sense of community, even amidst ruins.“ Eine Lektion für die Gegenwart war dann sogar Walter Niggs Buch Große Heilige zu entnehmen, denn über alle Fallstudien ­hinaus zeige der – übrigens protestantische – Autor, wie sehr das Phänomen der Heiligkeit die Epochen transzendiere und noch für das 20. Jahrhundert paradigmatische Bedeutung habe. Publikationen zu Luther und Ignatius von Loyola hat der Rezensent ebenfalls besprochen. Sein eingehendster Beitrag setzt sich dagegen mit drei Periodika auseinander. An ­erster Stelle steht das in München ansässige Hochland, mit dessen Herausgeber Franz Josef ­Schöningh Wilhelm Deichmann, Frühchristliche ­Kirchen in Rom, Basel 1948, ebd., 2, Nr. 1, März 1949, 4; Lübeck (Merian Heft), Hamburg 1948, und Köln (Merian Heft), Hamburg 1948, ebd., 2, Nr. 1, März 1949, 21; Heinrich Böhmer, Ignatius von Loyola, neu hg. von Hans Leube, Leipzig 1941, ebd., 2, Nr. 1, März 1949, 55 – 56; A. E. Brinckmann, Geist der Nationen: Italiener, Franzosen, Deutsche, Hamburg 1948, ebd., 2, Nr. 2, Mai 1949, 55 – 56; Heinrich Portmann, Der Bischof von Münster, Münster 1947, und ders., Dokumente um den Bischof von Münster, Münster 1948, ebd., 2, Nr. 2, Mai 1949, 73 – 74.

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von Simson erneut Kontakt hatte und für das er selbst schon wieder schrieb. Das Hochland, jetzt gefragter denn je, werde von Schöningh ganz im Sinne des Gründers Carl Muth geführt, mit der Zielsetzung, „to restore the Catholic legacy to its place in contemporary German culture“. Der „spirit of reconciliation“ sowie „values of Christianity and Humanism“ leiteten die Autoren. Die in Heidelberg verlegte Wandlung, bei der unter anderem Jaspers und Alfred Weber mitarbeiteten, schien ihm subtiler und anspruchsvoller als das Hochland, ließ sich weltanschaulich jedoch weniger festlegen. Die Gegenwart aus Freiburg sei das originellste der drei Organe, erstaunlich frei dann auch in seiner Kritik der Besatzungsmächte, ausgenommen allerdings die französische, unter der die Hefte erschienen. Dieser Tatbestand nötigt dem verstörten Rezensenten einige grundsätzliche Gedanken über die Zensur ab. Was man derzeit aus Deutschland an Indirektheiten, an Vorsicht, Ironie und Anspielungen vernehme, sei ganz das, was die Autoren schon unter den Nazis gelernt hätten, „patiently re-­ employed today“. Befangenheit herrsche allerdings nicht nur im Ausdruck, sondern auch bei der Themenwahl. So bevorzuge man Tagebücher zur jüngeren Vergangenheit, Erinnerungen und literarische Miniaturen – kurzum die Flucht in eine esoterische Innenwelt. Noch mehr beunruhigte es ihn, wie sehr die von den Alliierten ausgegebene Parole der „collective guilt“ inzwischen selbst von einer Vielzahl deutscher Autoren verinnerlicht worden sei. „There is in present day Germany too much disposition to hysteria and imagined illness […] one feels that an altogether abnormal and unhealthy situation has created a climate in which creative work is well-­nigh impossible.“ Dass die Zerschlagung des Hitler-­Regimes nicht jene Wende zum Guten gebracht hatte, auf die so große Hoffnungen gesetzt worden waren, entsprach einer Missstimmung, in der sich e­ tliche Emigranten vereint sahen. Ob man von Simson Recht geben wollte oder nicht, in diesen frühen Chicagoer Jahren kreisten seine Gedanken um Deutschland. Mit den zahlreichen deutschen Kollegen diskutierte er deutsche Fragen, deutsche Bücher wollte er den Amerikanern nahebringen, Deutsche in der Heimat – und nicht nur die eigene Familie – von Amerika aus unterstützen, und er publizierte weiterhin auf Deutsch. Bezeichnend mag es scheinen, wenn der Verfasser sowohl für Sacred Fortress wie auch bei der Gothic Cathedral schon während seiner amerikanischen Zeit auf eine zusätzliche deutschsprachige Ausgabe hoffte und entsprechende Verlagsverhandlungen führte.97 So verhält sich niemand, der seinem Herkunftsland endgültig den Rücken gekehrt hat. Dass Amerika für ihn bei aller Bereicherung stets Fremde und nur eine Übergangslösung blieb, deren Ende er nachgerade herbeisehnte, hat von Simson in seinen späten Jahren mehrfach betont.98 Sein Verhalten gibt ihm recht und 97 Über eine deutschsprachige Ausgabe der Gothic Cathedral, die beim Hermann Rinn Verlag in München oder beim Roscher Verlag in Zürich hätte erscheinen sollen, dachte von Simson bereits nach, bevor die amerikanische Ausgabe erschien; vgl. seine Korrespondenz mit Carolyn Richardson von Pantheon Books im März 1956; OvSP, Box 2, Folder 1. Zur gleichen Zeit besprach er mit dem in Freiburg und München tätigen Verlag Karl Alber die Möglichkeit einer deutschen Ausgabe von Sacred Fortress; vgl. E. D. Boyer von der Chicago University Press an Louise Alexandra von Simson, 22. Juni 1956, und Robert Scherer an von Simson, 23. August 1956; beide in OvSP, Box 2, Folder 2. 98 Otto von Simson, Vorwort, in: L. A. von Simson (wie Anm. 60), 7 – 20, hier 18. So auch in dem Fernseh-­Interview von Uwe Lehmann-­Brauns aus der Reihe Gespräche am Abend, das vom 3. Programm

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unterscheidet ihn von anderen Emigranten, zumal aus dem Bereich der Kunstgeschichte, nachdrücklich.99 Nicht nur, dass sich diese mit ihren Kontakten zur ehemaligen Heimat wesentlich schwerer taten, auch ihr Eintauchen in die amerikanische Kultur wirkt kompromissloser. Die Frage scheint legitim, aus welchem Grunde sich von Simson von der Mehrzahl seiner Leidensgefährten so deutlich absetzte. Der Umstand, dass seine Familie zwar Emigration, Kränkung und materielle Verluste, aber keine Todesopfer zu beklagen hatte, könnte erklären, warum die Kluft zu Deutschland von ihm weniger tief als von anderen empfunden wurde. Auch das katholische Bekenntnis muss diese deutsche Identität gefördert haben. Außerordentlich, ja im Emigrantenspektrum einmalig blieb überdies seine familiäre Verwurzelung in deutscher Geschichte und Kultur. Sie preiszugeben war ihm offenbar nicht möglich. Schließlich dürfte auch die so eigene Stimmung in Chicago, jenem merkwürdigen Brückenkopf deutscher Bildungstraditionen in den U. S. A., nicht ohne Wirkung geblieben sein.

4. Frankfurt Die Beschwörung des Abendlandes, der Western civilization, wie sie im Vorangehenden mehrfach anklang, stellt keine Erfindung der Nachkriegszeit dar, doch erfreute sich das Abendland als historisch-­moralische Kategorie zu keiner Zeit so herausragender Bedeutung wie in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, die gerade auf deutschem Boden mehrere Versuche einer Institutionalisierung der zugrundeliegenden Gesinnung mit sich brachten.100 Nach Gründung der Zeitschrift Neues Abendland (1946 – 1958) formierte sich 1951 jene Abendländische Aktion, aus der ein Jahr später die in Eichstätt und München sich zusammenfindende Abendländische Akademie hervorging. Die Kerngedanken des abendländischen Diskurses beruhten zunächst auf der politischen Einheit Westeuropas – hier wirkte die Erinnerung an das Karolingerreich nach –, die nun helfen sollte, gerade den in drei Kriegen vertieften Gegensatz ­zwischen Deutschland und Frankreich des NDR am 28. Februar 1983 ausgestrahlt wurde. 99 Zu den wenigen Fällen der Remigration von Kunsthistorikern und ihren Beweggründen auch Karen Michels, Transplantierte Kunstwissenschaft: Deutschsprachige Kunstgeschichte im amerikanischen Exil, Berlin 1999, 188 – 194. 100 Aus der breiten Literatur s­eien lediglich genannt: Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika: Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999; Dagmar Pöpping, Abendland: Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900 – 1945, Berlin 2002; als bündige Gesamtschau auch Johann Baptist Müller, Der abendländische Topos in der konservativen Denkfamilie der Vor- und Nachkriegszeit, in: Der europäische Gedanke: Hintergrund und Finalität, hg. von Reinhard C. Meier-­Walser und Bernd Rill, München 2001, 133 – 154. Auswirkungen auf die Kunstgeschichte behandelt Willibald Sauerländer, Von den „Sonderleistungen Deutscher Kunst“ zur „Ars Sacra“: Kunstgeschichte in Deutschland 1945 – 1950, in: Wissenschaft im geteilten Deutschland: Restauration oder Neubeginn nach 1945?, hg. von Walter H. Pehle und Peter Sillem, Frankfurt a. M. 1992, 177 – 190.

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zu überwinden. Entscheidend darüber hinaus – und spätestens hier trifft sich die Abendlandideologie mit dem Konservatismus –,101 dass diese vermeintliche Einheit auf einer doppelten historisch-­geistigen Tradition, der griechisch-­römischen Antike nämlich und dem christlichen Glauben, beruhte. Streiten mochte man deshalb, ob der Gedanke des Abendlandes nicht schon durch die Aufklärung und ihre Verabsolutierung der menschlichen Vernunft unterminiert worden war, ein Prozess, der dann im blinden Vertrauen auf Technik und materiellen Wohlstand, wie das 19. Jahrhundert ihn an den Tag gelegt hatte, und in der Relativierung aller Werte durch den Historismus auf fatale Weise weitergetrieben worden war. Einvernehmen bestand darüber, dass die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vom Verfall traditioneller Werte und dem Verlust der Transzendenz herrührten. Ganz so las es Otto von Simson in zahlreichen Briefen der seit 1946 wieder schreibenden Freunde aus seiner alten Heimat: Eine Erneuerung des physisch und moralisch zerstörten Deutschlands sei nur aus dem Glauben heraus möglich.102 Damit erklärt sich, warum das abendländische Credo gerade in den Ruinenstädten des ehemaligen Nazi-­Reichs eine so ungewöhnliche Konjunktur erlebte. Das Bekenntnis zu ihm war nicht nur Büßerpose, sondern ebenso Schlüssel zum Wiedereintritt in die europäische Staatengemeinschaft. Deutschland – soviel schien offenkundig – gehörte zum Okzident, der dem deutschen Volk wesentliche kulturelle Impulse verdankte. Ein Konsens ließ sich ebenso über die Mehrzahl der Feindbilder herstellen, ­welche die Abendländler vor Augen hatten. Materialismus und die Annahme von der Gleichheit aller Menschen, Voraussetzungen, die im Kommunismus zu einer dämonischen Symbiose fanden, sowie der übersteigerte Nationalismus und somit auch der menschenverachtende Nationalsozialismus standen hier an erster Stelle, gefolgt allerdings von Liberalismus, Positivismus und Historismus, denen mithin ein mehr oder minder latenter Anti-­Amerikanismus zur Seite treten konnte. Wie viel solcher Vorstellungen selbst an der Universität Chicago, und nicht nur bei Bergstraesser, sondern auch im Committee on Social Thought zum intellektuellen Rüstzeug gehörte, kam auf den vorangehenden Seiten zur Sprache. Im Hochland, dessen Herausgeber Franz Josef Schöningh sich in jenen Jahren vollends bestätigt sah, denn nun erst habe man begriffen, welch essentiellen Beitrag die deutsche Identität der christlichen Kulturtradition schulde, erschien im Dezember 1947 ein Aufsatz mit dem Titel Humanismus in USA : Aus einem Brief von Otto Simson.103 Natürlich war dieser vermeintliche Brief von Schöningh angefordert worden. Als von Simson dem Wunsch des mit ihm seit den dreißiger Jahren befreundeten Schriftleiters entsprach, ahnte er vermutlich nicht, welches Aufsehen sein Text in Deutschland erregen 101 Vgl. die Literatur in Anm. 27. Zu den Schnittstellen mit der Abendlandideologie bes. Dirsch (wie Anm. 5), 111 – 149. 102 So etwa Joseph Alexander von Raczyński am 7. April 1946; Ludwig Marese am 11. August 1946; Emil Preetorius am 27. Februar 1948; Ludwig Prinz von Hessen am 6. Dezember 1949; alle in OvSNL, Kasten 16, Mappe 1. 103 Von Simson, Humanismus (wie Anm. 2). Voran ging die Korrespondenz mit Schöningh in OvSNL, Kasten 16, Mappe 1.

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würde. An seinen zehn Jahre zurückliegenden Bericht über Hutchins’ Reformbemühungen anknüpfend, legte der Kunsthistoriker nun eine erneute Leistungsbilanz vor. In den humanistischen Idealen der Aufklärung verankert, ziele die amerikanische Verfassung auf die Ausbildung des „wahrhaft gesitteten Menschen“. Damit aber gerate die Erziehung, zumal die universitäre Erziehung, zu einer Aufgabe von politischem Anspruch. Eben diese Überzeugung mache den Kern von Robert Hutchins’ pädagogischer Philosophie aus. Nur durch Bildung lasse sich die Bedrohung des Atomkriegs ausschalten, durch echte Bildung, die nicht den Tagesmeinungen hinterherlaufe, sondern hinführe zu den „Mächten des Guten, des Wahren und des Schönen“. Gerade deshalb lese man in Chicago die „großen Bücher“, um den Studenten die Aneignung der Tradition und des zeitlos Gültigen zu ermöglichen. Ganz wie die Metaphysik zu den Grundwerten der amerikanischen Verfassung geführt habe, so bestimme sie das Denken Hutchins’, und von Simson zitiert aus einer jüngeren Rektoratsrede: „Wir werden die Bruderschaft aller Menschen nur verwirklichen können, wenn für uns die Vaterschaft Gottes Wahrheit ist.“ Ohne dass dabei von Simsons eigener Anteil ersichtlich würde, folgt eine Beschreibung der Initiativen zur Umsetzung, ­welche die hohen Ideale ­dieses pädagogischen Humanismus bereits hervorgebracht hatten. Das Committee on Social Thought, die Vortragsreihe über die geistige Arbeit, zu der Brüning und Kardinal Preysing eingeladen waren, der Appeal der Emigranten, das Committee for Aid to German and Austrian Scholars, die von Bergstraesser initiierte amerikanische Goethe-­Ausgabe, seine Deutschen Beiträge, aber auch Hutchins’ versöhnliche, auf einen menschlichen Frieden mit Deutschland und Japan abzielende Rede vom 8. Mai 1945 – all das ließ sich als Früchte jener wahren, stets gültigen Menschlichkeit begreifen, zu der die Universität Chicago erziehen wolle. Insofern mochten seine Leser von Simson recht geben, wenn er einleitend behauptete: „Jetzt aber ist Amerika die Verantwortung für die abendländische Überlieferung in ihrer Gesamtheit zugefallen, die Verantwortung für ihren Schutz, ja in einem sehr ernsten Sinne für ihren Fortbestand.“ Als ehemaliger „Ableger“ Europas kämen die U. S. A. nun gleichsam als Erneuerer des alten Kontinents, als Erneuerer Deutschlands zurück. Chicago, diesen Eindruck musste die Lektüre des Hochland vermitteln, war ungleich abendländischer als das Abendland selbst. Für die geschundene deutsche Seele wirkten von Simsons Worte wie Balsam, vermittelten sie doch die Gewissheit, dass in der amerikanischen Academia zumindest eine Fraktion existierte, die den Ausgestoßenen die Hand reichen wollte. Die Wirkung seines Beitrags war außerordentlich. Heinrich Brüning gehörte zu den ersten Gratulanten, und sogar im Hamburger Rundfunk hat man den Text verlesen.104 Zur gleichen Zeit fanden darüber hinaus die Deutschen Beiträge ihr Publikum, das auch diesen Band mit großem Interesse, ja „mit Ergriffenheit“ zur Kenntnis nahm.105 Von Simsons dort publizierter Aufsatz Die Liturgie als abendländisches Vermächtnis wurde – wohl ohne sein Wissen – in der 104 Vgl. Brüning an von Simson, 20. Februar 1948; zur Radiolesung von Simson an A. B. Schussen, 17. Mai 1947; beide in OvSP, Box 1, Folder 4. 105 Emil Preetorius an von Simson, 27. Februar 1948, in OvSNL, Kasten 16, Mappe 1.

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neuen Zeitschrift Universitas noch einmal nachgedruckt.106 Den Abendland-­Verfechtern stellte sich der Autor nun als gewichtiger und kompetenter Gesprächspartner auf dem neuen Kontinent dar. Vom Präsidenten der Universität München, dem sich bald der bayerische Kultusminister anschloss, bekam er die Einladung zu einer Vortragsreihe an seiner früheren Alma Mater, die auch diesen Aspekt, die geistige Situation im gegenwärtigen Amerika, berücksichtigen sollte, war man an der Universität München doch gerade dabei, ein neues Amerika-­Institut aus der Taufe zu heben.107 Auch Publikationsanfragen und Einladungen zur redaktionellen Mitarbeit häuften sich jetzt. Hugo Kretzschmar, Leiter eines kurz vor der Gründung stehenden „Universitäts-­Verlages“, unterbreitete von Simson schon im Oktober 1947 das Projekt dreier neuer Zeitschriften, denen die gemeinsame Überzeugung zugrunde lag, dass die gegenwärtige deutsche Notlage „eine Krisis des Geistes und der Seele“ sei, denn Technik und Zivilisation hätten „die Gefilde des Geistes und des Gefühls überflutet. Der Mensch sucht wieder nach einem tieferen Inhalt seines Lebens, nach Gott.“108 Geplant war zunächst eine „Zeitschrift für Religion und religiöses Leben“ mit dem Titel Symbolon, die sich vom gängigen abendländischen Topos insofern absetzte, als sie sogar indische und orientalische Religionen berücksichtigen wollte, um Ost und West miteinander zu versöhnen. Von der Prämisse ausgehend, dass allein die Werke der Kunst ihre Transzendenz über die vergangene Katastrophe hinweg bewahrt hätten, sollte sich ein zweites Periodikum, Gestalt und Gestaltung, mit Kunst, Dichtung und Musik auseinandersetzen. Die dritte Zeitschrift mit dem Namen Die Natur hätte dann Naturwissenschaften und Naturphilosophie zu ihrem Gegenstand gemacht, wobei es darum gehen sollte, den Zwiespalt z­ wischen den pragmatischen Erkenntnisinteressen der Naturwissenschaften und ihrem geistig-­seelischen Gehalt zu überwinden, um somit eine Verständigung z­ wischen Natur- und Geisteswissenschaften zu erzielen. Das mochte von Simson an die Absichten John Nefs erinnern. Um Unterstützung aller drei Periodika wurde er damals gebeten. Obwohl Kretzschmar behauptete, dass ihm bereits zweihundert führende Forscher, Gelehrte, Künstler und Schriftsteller ihre Mitarbeit an den Zeitschriften in Aussicht gestellt hätten, blieb das ehrgeizige Vorhaben ohne greifbare Ergebnisse. Tatsächlich zeugen die Zeitschriftenprojekte dieser Periode in besonderer Weise von jener rückgewandten Aufbruchsstimmung, die der Abendland-­Bewegung eignete. Der Publizist Erik Maria von Kuehnelt-­Leddihn, bekannt als katholischer Konservativer und Demokratiekritiker mit einer gewissen Nostalgie für die K.-u. k.-Monarchie, trug sich zur gleichen Zeit wie Kretzschmar mit dem Gedanken, ein Periodikum namens Kairos auf den Weg zu bringen.109 Auch ihm war am religiösen Anspruch auf „eternal truth“ gelegen, 106 Dort unter dem Titel Die Liturgie als heilige Handlung und Dichtung, in: Universitas, 3, 1948, 1 – 18, 129 – 147. Dazu von Simson an Alfred Stange, 16. Januar 1950, in ASNL, I, C-80. 107 Die Briefe vom 5. Mai 1948 und vom 21. Januar 1949 sind in OvSP, Box 1, Folder 2, erhalten. 108 Kretzschmar an von Simson, Oktober 1947, in OvSP, Box 1, Folder 2. 109 Von Kuehnelt-­Leddihn an von Simson, ohne Datum, in OvSP, Box 1, Folder 4. Zur Bekanntschaft mit von Kuehnelt-­Leddhin und seiner Frau auch L. A. von Simson (wie Anm. 60), 55.

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am Kampf gegen „materialism, collectivism, state omnipotence and de-­personalization, herd instinct and the hatred of God […]“. Für den März 1948 kündigte er bereits die erste Nummer des Kairos an, der dann alle zwei Monate Hefte von nicht weniger als 160 Seiten Umfang folgen sollten, wobei die Aufsätze allerdings zugleich in Übersetzungen und somit dreisprachig erschienen wären. Auch ­dieses Vorhaben, an dem sich von Simson ebenfalls beteiligen sollte, verlief im Sande. 1948 half er von Kuehnelt-­Leddihn zumindest bei der Organisation einer amerikanischen Vortragsreise, vermittelte ihn allerdings nur an katholische Colleges, da sein militanter Katholizismus andernorts, wie von Simson befürchtete, eher Befremden ausgelöst hätte.110 Angesichts des Interesses, das man ihm in seinem Herkunftsland entgegenbrachte, und der regen Korrespondenz, die er mit deutschen Briefpartnern führte, dürfte sich für von Simson nach seinem Hochland-­Artikel die Frage eines Deutschlandbesuchs sicherlich aufgedrängt haben. Erneut spielte ihm die Universität Chicago in die Hände. Auf Anregung Rheinsteins entschloss sich Hutchins, einen Fakultätsaustausch in die Wege zu leiten.111 Nach anfänglichen Überlegungen fiel die Wahl auf Frankfurt, eine Stadt mit vergleichsweise junger Universität, die im Krieg stark gelitten hatte. Dem entsprechenden Organisationskomitee gehörten neben Rheinstein unter anderem Pauck und von Simson an. Über den Sinn des Unternehmens bestand kein Dissens. Nicht re-­education war das Anliegen, sondern man musste den deutschen Kollegen vermitteln, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und sich darüber austauschen zu wollen, was in den Zeiten der Isolation im jeweiligen Land erforscht worden war. Durch die Übernahme von je zwei Lehreinheiten sollten überdies Kontakte mit den Studierenden aufgebaut und Einblicke in unterschiedliche Lehrsysteme gewonnen werden. Eine Handvoll Studierender konnte die Professoren begleiten, auch an ihrer Auswahl war von Simson beteiligt. Bevor die erste Delegation zum Sommersemester 1948 aus Chicago nach Frankfurt aufbrach, gab es allerdings Störfeuer von unerwarteter Seite. In einer tumultartigen Studentenversammlung, die am 3. März zusammenfand, behauptete der Communist Club President Hans F ­ reistadt lautstark, bei der Universität Frankfurt handele es sich um „the most ‚reactionary‘ university in Germany, a hotbed of Nazi intrigue“, und er warnte seine Kommilitonen: „The University of Chicago should have no part in this ‚fascist‘ plot.“112 Nach chaotischer Diskussion kam eine Erklärung zustande, dass die Versammlung Liberalisierungs- und Demokratisierungsbestrebungen aller Universitäten, auch der in Frankfurt, gutheiße, dem Austausch ansonsten aber keinerlei Unterstützung gewähren wolle. Die vor der Abreise stehenden Dozenten, als deren Sprecher Wilhelm Pauck auftrat, ließen sich von solchen eher abstrusen Tönen kaum beeindrucken. Ihr Erfolg war denn auch durchschlagend. Die deutschen Partner bemühten sich, ihre amerikanischen Kollegen vollends zu integrieren, so dass Pauck sogar mit Stimmrecht an den Senatssitzungen 110 Dazu von Simson an Reginald Lang, 14. Oktober 1948, und andere Schreiben in OvSP, Box 1, Folder 4. 111 Boyer (wie Anm. 88), 128 – 147; OvSP, Box 3, Folder 11. 112 Dazu das Protokoll der Versammlung vom 3. März 1948 in OvSP, Box 3, Folder 11.

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teilnahm und darüber hinaus in die studentischen Gremien eingeladen wurde.113 Von den Deutschen habe man im Hinblick auf Austausch von Ergebnissen und Methoden, so Pauck, ebenso viel gelernt wie diese von den Amerikanern. Etliche von amerikanischer Seite in eher privatem Rahmen organisierte Zusammenkünfte hätten die unbeabsichtigte Wirkung gezeitigt, dass sich die Frankfurter Lehrenden, viele von ihnen neu an der Universität, sogar untereinander besser kennengelernt hätten. Da einige der Delegationskollegen an weitere deutsche Universitäten eingeladen wurden, sei dort ebenfalls der Wunsch nach entsprechenden Partneruniversitäten und Dozentenaustausch aufgekommen. Dies verbuchte Pauck als die vielleicht bedeutendste Folge des Besuchs. Einen gewissen Höhepunkt dieser Zusammenführung stellte der 18. Mai des Jahres dar, als man in der Frankfurter Universität die Hundertjahrfeier der ersten Paulskirchenversammlung beging. Walter Hallstein, der Rektor, sprach bei d ­ iesem Festakt für seine Universität, Hutchins, eigens eingeflogen, als Ehrengast von internationalem Renommee.114 Er verglich die Situation von 1848 mit der ungleich schwereren hundert Jahre danach und betonte, welch herausragende politische Verantwortung den Hochschulen in der gegenwärtigen Krise für den Aufbau der Demokratie und bei der Sicherung des Friedens zukomme, um dann noch einmal sein Steckenpferd, das Thema der Weltregierung, zu reiten. Nur sie garantiere föderative Strukturen und demokratischen Geist. „Intellektuelle aller Länder müssen sich vereinen, um den Grundstein zu legen für eine gute Welt.“ Und der Schlusssatz: „Am Jahrestag eines so großen demokratischen Ereignisses der deutschen Geschichte rufe ich die Intellektuellen Deutschlands auf, an dieser Aufgabe mitzuwirken.“ Die Bedeutung von Universität und Bildung, Demokratie, deutsche Integration – Hutchins lieferte jene Stichworte, die seine beeindruckten Zuhörer von ihm erwartet hatten. Die Tagespresse machte seine Ausführungen anschließend einem breiteren Publikum bekannt. Zu den Frankfurtern, die im Gegenzug während des Sommersemesters nach Chicago reisten, gehörte der Germanist und damalige Dekan der Philosophischen Fakultät Julius Schwietering, dem von Simson schnell näherkam. Schwieterings Buch über die deutsche Dichtung des Mittelalters beeindruckte den Emigranten außerordentlich und er beteuerte, wie sehr die Kunstgeschichte von ­diesem Werk profitiere.115 Er honorierte es zudem, dass sich der Frankfurter Gelehrte auch während der dunklen Zeit nicht durch Zugeständnisse 113 Dazu Paucks Bericht an R. W. Harrison, den Vizepräsidenten der Universität Chicago, vom 19. Oktober 1949, in OvSP, Box 3, Folder 11; weitere Stimmen zur positiven Einschätzung der Initiative bei Boyer (wie Anm. 88), 135 – 145. 114 Zum Folgenden: Wissenschaft und Politik: Festrede des derzeitigen Rektors Walter Hallstein, Ansprache des Kanzlers der Universität Chicago Robert W. Hutchins beim akademischen Festakt aus Anlaß der Hundertjahrfeier der Nationalversammlung am 18. Mai 1948, Frankfurt a. M. 1949. Eine Analyse von Hutchins’ Text geben Daniela Carranza und Kai Sina, Goethe, „the last universal man“: Zur amerikanischen Erfindung eines neuen Humanismus nach 1945, in: Humanismus in der Krise: Debatten und Diskurse z­ wischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland, hg. von Matthias Löwe und Gregor Streim, Berlin 2017, 253 – 268, bes. 261 – 263. 115 Eine Art Gutachten von Simsons über Schwietering ist in OvSP, Box 3, Folder 7, erhalten. Von seiner Wertschätzung zeugt auch sein Brief an Nef, 26. August 1948, in JUNP, Box 56, Folder 10.

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an die völkische Rhetorik habe korrumpieren lassen. Schwietering zeigte sich seinerseits begeistert von Sacred Fortress und drängte auf einen Entschluss, den von Simson selbst sicherlich auch schon erwogen hatte: Der nächsten Delegation an die Universität Frankfurt sollte er sich unbedingt anschließen.116 Dazu kam es im Sommersemester 1949. Das Kunsthistorische Institut der Mainmetropole wurde damals von Harald Keller geleitet, der zur Zeit, als von Simson in München promovierte, ebendort Privatdozent gewesen war. Was die Situation des Instituts anging, machte er dem zu erwartenden Gast keine Illusionen.117 Dias musste er aus den U. S. A. mitbringen, da die Institutssammlung den Krieg nicht überlebt hatte. Einen Apparat zur Projektion von Kleinbilddias gab es in Frankfurt damals noch nicht. Indes: Er konnte die Lichtbilder sogar in Frankfurt herstellen lassen, sollte dann aber bedenken, dass englischsprachige Literatur dort kaum vorhanden sei, und Keller gestattete sich den Wunsch, gleichsam als Gastgeschenk möge der visiting professor doch die letzten zehn Jahrgänge des Art Bulletin mitbringen, was von Simson dann auch tat. Seine Frankfurter Vorlesung war übrigens der frühchristlichen und byzantinischen Kunst gewidmet, das Seminar den Problemen der Renaissance, zumal ihrem Verhältnis zum späten Mittelalter.118 Zehn Jahre, nachdem er das Land verlassen hatte, kam von Simson im März 1949 wieder nach Deutschland. Inzwischen hatte die Währungsreform Wirkung gezeigt, so dass sich zumindest die Versorgungslage wieder normalisierte. Die Trümmerwüste war jedoch allenthalben gegenwärtig. Erste Eindrücke, noch konfus, wie er betont, hielt der Rückkehrer zwei oder drei Wochen nach seiner Ankunft fest. Das Bild grausamer Zerstörung belaste ihn weniger als die zwei Welten, denen man begegne, à la Passage to India, wie es in Anspielung auf den Kolonialroman von E. M. Forster heißt. Dennoch vertrat er die Überzeugung, „daß es etwas Verbindendes gibt und daß ­dieses Verbindende hüben und drüben das Essentielle ist. Es ist merkwürdig, wie man nach so langer Abwesenheit die Dinge und Menschen ‚von außen‘ beurteilt und sie einem zugleich vertrauter sind als alles dazwischen liegende.“119 In den folgenden Wochen sollten sich diese Eindrücke verfestigen: „I am very happy here […]. There is not only the joy of seeing many old friends, relatives, and acquaintances, but the definite feeling that things are going upwards not only materially but intellectually and, I think, politically too.“120 So liest man in seinen Briefen kurz vor Ende der Berlin-­Blockade. Diese Aussagen haben nichts von den Fremdheitserfahrungen, wie sie andere Ausgewanderte bei ihrer Wiederbegegnung mit Deutschland machten. Von Simson, neben Paul Frankl der erste Emigrant, der nach dem Krieg in

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Das mehrfach nachgedruckte Buch Die deutsche Literatur des Mittelalters erschien erstmals 1932 – 1941 in Potsdam. Schwieterings Briefe an von Simson sind in OvSP, Box 1, Folder 2, überliefert. Zu Sacred Fortress auch ders. am 18. Dezember 1948, in OvSNL, Kasten 14, Mappe 1. Keller an von Simson, 22. November 1948, in OvSP, Box 1, Folder 2. So die Ankündigung von Simsons vom 13. Dezember 1948 in OvSP, Box 3, Folder 11. Von Simson an Paul Scheffer, 13. April 1949, in OvSP, Box 1, Folder 5. Von Simson an Henry Regnery, 3. Mai 1949, in HRP, Box 69, Folder 7.

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Deutschland lehren sollte, kam augenscheinlich ohne alle Ressentiments zurück, und so begegnete man ihm denn auch ohne Schuldkomplexe und Verlegenheit, ja, nach allem, was man von ihm wusste und gelesen hatte, wurde er geradezu hofiert. Vielleicht war er auch deshalb so beliebt, weil er den deutschen Kollegen die Illusion gab, eine Wiedereingliederung der Exilierten sei mühelos möglich. Zu seiner Korrespondenz fehlte ihm fortan die Zeit: „[…] neben meinem reich gefüllten Stundenplan hier flitze ich ­zwischen allen erdenklichen deutschen Universitätsstädten hin und her, um Vorträge zu halten und Menschen zu sehen. Wahrscheinlich dumm, aber die Zeit ist viel zu kurz und alles, was ich hier sehe, so positiv, daß ich mich noch nie in meinem Leben mit mehr Berechtigung angestrengt habe.“ – „Menschlich und beruflich sind diese Monate unendlich reich für mich“, heißt es an anderer Stelle.121 Beim Deutschen Kunsthistorikertag in Schloss Nymphenburg fühlte er sich offenbar ebenso zu Hause wie im Rahmen der fünften Internationalen Hochschulwochen in Alpbach (Tirol). Deren Organisator Otto Molden hatte schon im Jahr zuvor den Kontakt mit dem Committee on Social Thought gesucht, weil er glaubte, hier gäbe es gemeinsame Interessen, die man möglicherweise bündeln könne.122 Tatsächlich zielten die frühen, eindrucksvoll besuchten Hochschulwochen, aus denen später das Europäische Forum Alpbach erwuchs, auf das politisch-­philosophische Gespräch und die Frage nach einer neuen Gesellschaftsordnung, dabei grenzübergreifend, aber christlich orientiert. Berührungsängste kannte von Simson offenbar nicht. Zu den Gratulanten, die mit der Publikation von Sacred Fortress auf die Bühne traten, gehörte auch Hans Sedlmayr, Parteimitglied schon vor 1933, seit seinem Verlust der Mitte allerdings einer der prominentesten katholischen Modernekritiker der Nachkriegszeit.123 Enger noch war von Simsons Austausch mit Alfred Stange, der sich 1933 am Münchner Institut als Erster mit dem Parteiabzeichen geschmückt hatte.124 Nach dem Krieg gehörte er zu den wenigen Kunsthistorikern, denen ein erneuter Zugang in die Hochschullehre aufgrund ihrer politischen Belastung verwehrt blieb. Als Student hatte von Simson Stanges Lehrveranstaltungen besucht. Möglich, dass er aus dieser Zeit einen gewissen Respekt dem vormaligen Dozenten gegenüber bewahrte. Stanges aktuelle Forschungen zur Architektursymbolik waren für seine eigenen 121 So an Paul Scheffer, 29. Juni, in OvSP, Box 1, Folder 5, und an Alfred Stange, 13. September 1949, in ASNL, I, C-80. 122 Dazu Moldens Briefe von 1948 in OvSP, Box 1, Folder 2; und von Simson an Nef, 25. Januar und 3. Februar 1949, in JUNP, Box 56, Folder 10. Zur Geschichte der Internationalen Hochschulwochen in Alpbach vgl. Maria Wirth, Ein Fenster zur Welt: Das Europäische Forum Alpbach, Wien 2015. 123 Sedlmayr an von Simson, ohne Datum, in OvSP, Box 1, Folder 8. Von Sedlmayr ist wiederkehrend in Alfred Stanges Briefen an von Simson die Rede: OvSNL, Kasten 14, Mappe 5. 124 Stange an von Simson in OvSNL, Kasten 14, Mappe 5; von Simson an Stange in ASNL, I, C-80. Für Stange vgl. man im vorliegenden Band den Beitrag „Peter Paul Rubens z­ wischen Geistesgeschichte und politischer Ikonographie“, Anm. 2. Zu seinen Studien gotischer Malerei in Deutschland bes. Iris Grötecke, Alfred Stanges Buchreihe ‚Deutsche Malerei der Gotik‘: Ein Stil als geschichtliches Schicksal, in: Mittelalterbilder im Nationalsozialismus, hg. von Maike Steinkamp und Bruno ­Reudenbach, Berlin 2013, 13 – 29.

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Interessen von Belang. In Chicago kümmerte er sich anschließend um Photographien aus amerikanischen Museen für Stanges Bände zur deutschen Malerei der Gotik.125 Im Mai 1949 traf auch John Nef aus Paris in Frankfurt ein und hielt fünf Vorträge über die Zusammenhänge von Krieg und Industrialisierung. Von Simson hatte ihm bei der Erstellung des deutschen Textes geholfen und führte den Vortragenden beim Frankfurter Publikum ein. Nefs Erinnerung an das Ereignis, die er Jahre später in seinen Memoiren festhielt, lässt keine Begeisterung erkennen.126 Obwohl es nicht um den Zweiten Weltkrieg ging, habe einer der Studenten seinen ersten Vortrag mit einem laut hervorgebrachten „Wir sind nicht schuldig“ kommentiert und gerade damit seine Schuldgefühle eingestanden. Das ganze Land schien dem frankophilen Nef, der schon in den zwanziger Jahren unangenehme Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus gesammelt hatte, auch 1949 noch von einem argen Misstrauen gegen die vielen Nazis, die es einzelnen Zeitzeugen zufolge noch immer geben sollte, geprägt. Es wäre nicht auszuschließen, dass von Simson s­ olche Missstimmungen aus einer gewissen Euphorie heraus nicht wahrnehmen wollte. Eine überaus erfreuliche Bilanz zog er dann auch im Hinblick auf die universitäre Mission.127 Gerade für Frankfurt, so sein Bericht an Hutchins, könne die Bedeutung des Dozentenaustauschs kaum überschätzt werden, zumal ­zwischen den Vertretern der amerikanischen Besatzung und der Bevölkerung ansonsten keine Kontakte bestünden, die Deutschen diesen gegenüber vielmehr in einem passiven Misstrauen verharrten. Dabei gebe es ein Bedürfnis nach intellektuellem Austausch durchaus, und diese Chance werde jetzt genutzt. Später machte er sich dafür stark, noch mehr studentische Teilnehmer in das Programm einzubinden.128 Aufschlussreicher noch klingt ein privates Abschiedswort, das er am 23. Juli vernehmen ließ: „Das Semester hier schließt nächste Woche, und ich fahre tatsächlich schweren Herzens ab. Wenn man nur ohne ­dieses verflixte Land existieren könnte.“129 Die erneute Rückkehr in das „verflixte Land“ folgte dann aber schon ein Jahr später. Für das Wintersemester 1950/51 ließ sich von Simson noch einmal nach Frankfurt entsenden und blieb diesmal bis zum Ende des Sommers in Europa. In politischer Hinsicht fand er jetzt, nach dem ersten Jahr von Adenauers Kanzlerschaft, eine veränderte Stimmung vor. Die sich abzeichnende Westbindung – im April 1951 kam es zur Montanunion –, Pläne zur Wiederbewaffnung, die den Innenminister Heinemann hatten zurücktreten lassen, und der schärfere Töne annehmende Kalte Krieg sorgten für kontroverse Diskussionen: „The general mood here is almost impossible to describe: halcyonic and ostrichlike and fatalistic, all at the same time. The terrible thing is that in the case of another catastrophe neutrality might really be the only thing that might save this unhappy country from complete destruction.“130 125 OvSNL, Kasten 14, Mappe 5, dokumentiert von Simsons Anfragen bei verschiedenen amerikanischen Museen. 126 Nef (wie Anm. 25), 238 – 239. 127 Von Simson an Hutchins, 25. April 1949, in OvSP, Box 3, Folder 11. 128 Boyer (wie Anm. 88), 139, 145. 129 Von Simson an Paul Scheffer, 23. Juli 1949, in OvSP, Box 1, Folder 5. 130 Von Simson an Henry Regnery, 15. Dezember 1950, in HRP, Box 69, Folder 7.

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Seine Vorlesung galt bei d ­ iesem Besuch der gotischen Architektur, das Seminar dem Zusammenhang von Kunst und Frömmigkeit im späten Mittelalter.131 Neben den klassischen Typen des Andachtsbildes wurden hier Probleme der Marien- und Passionsikonographie, aber offenbar auch die Wirkung franziskanischer Frömmigkeitspraktiken erörtert. An der Veranstaltung nahmen auch Schwietering und Keller sowie mehrere Doktoranden teil. Keller wollte aus dem Seminar anschließend ein Buch machen und dafür einen zweijährigen Assistentenaustausch in die Wege leiten.132 Aufgrund von finanziellen Engpässen gelang weder das eine noch das andere. Dem von Keller vorgelegten Buchkonzept begegneten die beiden potentiellen Mitherausgeber allerdings eher skeptisch. Kellers Brief, so Schwietering, zeige, wie wenig er sie verstanden habe.133 Ganz wie in Chicago hatte sich von Simson offenbar auch in Frankfurt mit den Vertretern anderer Disziplinen mehr zu sagen als mit seinen unmittelbaren Fachkollegen. Zu neuen Bekanntschaften kam es auch diesmal, und man erkennt nicht nur am Thema der Vorlesung, dass dieser zweite Frankfurter Aufenthalt bereits im Vorfeld der Gothic Cathedral anzusiedeln ist. Ein langer Briefwechsel mit Hanno Hahn, der sich kurz darauf entspann, kreiste um die Proportionsverhältnisse der Zisterzienser-­Bauten, einen Themenkomplex aus Hahns Dissertation, der in von Simsons Buch ebenfalls eine Rolle spielen sollte.134 In Frankfurt lehrten während jenes Wintersemesters auch Horkheimer und Adorno. Horkheimer besuchte bald darauf die Universität Chicago. Schwietering legte von Simson nahe, mit ihm über einen neu zu begründenden mediävistischen Arbeitskreis zu sprechen.135 Falls es dazu kam, hat die Begegnung in von Simsons intellektueller Biographie keine Spuren hinterlassen. Auch das Committee on Social Thought nahm den marxistischen Denker, was nur wenig verblüfft, nicht zur Kenntnis.

5. Measure: A Critical Journal Bald nach der Gründung des Committee on Social Thought begann Nef die Möglichkeit einer eigenen Zeitschrift zu erwägen, mittels derer die Forschungen und das Denken der um ihn versammelten Gelehrtengruppe wie auch anderer Gleichgesinnter bekanntgemacht werden konnten. Seit 1946 sah sich Otto von Simson in diese Planungen einbezogen.136 131 Von Simson an S. Carter, 20. Februar 1950, in OvSP, Box 3, Folder 11. 132 Keller an von Simson, 11. Februar und 14. Mai 1952, mit dem Entwurf eines Inhaltsverzeichnisses, in OvSP, Box 3, Folder 11. 133 Schwietering an von Simson, 10. April 1952, in OvSP, Box 3, Folder 11. 134 Dazu Hahns Briefe in OvSNL, Kasten 17, Mappe 2. Hahns Dissertation erschien unter dem Titel Die frühe Kirchenbaukunst der Zisterzienser: Untersuchungen zur Baugeschichte von Kloster Eberbach im Rheingau und ihren europäischen Analogien im 12. Jahrhundert, Berlin 1957. 135 Schwietering an von Simson, 10. April 1952, in OvSP, Box 3, Folder 11. 136 Nef an von Simson, 23. April 1946, und von Simson an Nef, 3. und 18. August 1946; alle in JUNP, Box 56, Folder 9.

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Zwei Jahre später, als sich das Projekt zu konkretisieren begann, stand fest, dass er für das neue Periodikum die Rolle eines Managing Editor, des Herausgebers und Schriftleiters also, übernehmen sollte. Ein frühes Konzeptpapier zu den Zielsetzungen des geplanten Journal, aller Wahrscheinlichkeit nach von Nef verfasst, datiert vom Juni 1946 und liest sich wie ein Manifest konservativen Denkens.137 Ganz im Sinne der Abendländler beschwört es die ethische Krise der Western civilization. Werte und Institutionen, die von den Vorfahren in Europa und Amerika moralisch und metaphysisch verankert worden s­eien, drohten ihr Fundament zu verlieren. Vormals selbstverständliche Wahrheiten würden mit dem Argument der Toleranz und ihrer Einstufung als lediglich historische Phänomene – hier zielt man gegen den Historismus – ihrer zeitlosen Verbindlichkeit beraubt. Das neu zu begründende Periodikum bekenne sich dagegen zur Unveräußerlichkeit dieser Prinzipien und verstehe sich als „platform for the elucidation and affirmation of those principles upon which we believe Western civilization as we have known it and the future of any civilization to rest.“ Dass ein solches Bekenntnis Widerspruch provozieren musste, war dem Verfasser bewusst, doch hinderte ihn das nicht an der beabsichtigten Wahrheitssuche: If we are called traditionalists who look nostalgically toward the past instead of facing up to the issues of the present, we shall use this challenge to show traditional values to be present ones and to contrast the values that are currency today with the values of the past, allowing our readers to choose for themselves. Again, if we are told that our values are inadequate because they are not specifically American, we shall seize the opportunity to show that true values cannot belong exclusively to single nations, groups or individuals, and that not only the culture but the existence of this nation must depend on its integration into the realm of universal values.

Wie sehr die Zeitschrift damit den Vorsätzen des Committee entsprochen hätte, bedarf keiner Erläuterung. Die ­Themen, die sie diskutieren sollte, schienen dann zu wichtig, um sie den professionellen Philosophen und Historikern zu überlassen. Fünf mögliche Schwerpunkte werden an dieser Stelle umrissen: 1. die Frage nach dem Gehalt und den gemeinsamen Werten der Western civilization, 2. das Problem des Föderalismus, auch im Zusammenspiel mit Demokratie und Freiheit, 3. die Frage nach der Freiheit selbst, so im Bezug auf die amerikanische Verfassung, auf die Wirtschaft und auf ihre kulturelle Wirkung, 4. all das, was die Religion betraf, und 5. das Verhältnis von Metaphysik und Kunst. – Dem Verfasser schwebte somit ein Publikationsorgan vor, das, den während der Nachkriegszeit in Deutschland geplanten Neugründungen nicht unähnlich, ­zwischen politischer Th ­ eorie, Ethik, Religion und Kultur angesiedelt war. Historische Probleme sollten dabei nur insofern berücksichtigt werden, als sie für die Gegenwart bedeutungsvoll erschienen. Die altehrwürdige historia magistra vitae feierte somit ihre Auferstehung.

137 JUNP, Box 120, Folder 1, hier der Text „The proposed journal is to be an answer […]“. Weitere Strategiepapiere aus der Planungsphase der Zeitschrift finden sich im selben Ordner.

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Als man zwei Jahre später daran ging, Merkblätter zur Beschreibung des Periodikums, für das man sich inzwischen auf den Namen Measure geeinigt hatte, an potentielle Abonnenten und Autoren zu versenden, klang die inhaltliche Akzentuierung zwar anders, aber kaum weniger anspruchsvoll.138 Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Einheit und Frieden der Welt wolle die Zeitschrift befördern, Grundwerte von Zivilisation und Menschlichkeit somit. Nicht nur politische und soziale Maßnahmen hätten diese values etabliert, sondern auch Werke aus Kunst und Literatur, Errungenschaften im Bereich von Naturwissenschaften und Philosophie und die religiösen Erfahrungen. Ihr Beitrag zu einem übergreifenden Zivilisationsprozess mache ihren Wert aus. Ihn festzustellen, das Maß (measure) hierfür anzulegen, sei die Absicht der Zeitschrift. Measure war somit Maßstab und Messlatte in der Hand seiner Autoren, denen es folglich nicht darum gehen sollte, aufzuzeigen, „wie es eigentlich gewesen ist“; ihre anspruchsvolle Aufgabe lag vielmehr darin, zu begutachten und zu werten – die Werke aus Wissenschaft und Kultur, aus Philosophie und transzendentem Denken. Der spätere Untertitel A Critical Journal stellte folglich mehr als eine Floskel dar. Es werden dann noch einmal die fatalen Folgen der wissenschaftlichen Spezialisierung beschworen, ­welche die moderne Kunst, Philosophie, Wissenschaften und Politik unverständlich gemacht und ihres Bezugs zum Menschen beraubt hätten. Auch hier wollte Measure entgegenwirken, um die unterschiedlichen Wissensgebiete wieder an den Menschen heranzuführen, um sie nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel eines neuen Humanismus zu begreifen. Aus demselben Grunde sollten die Autoren nicht für Spezialisten, sondern für ein breiteres educated public schreiben. Dass sie eine der konkreteren Absichten zudem darin sahen, die Verständigung z­ wischen Europa und den U. S. A. auszubauen, haben einzelne Redaktionsmitglieder betont.139 Das Board of Editors der Zeitschrift bestand weitgehend aus Mitgliedern des Committee on Social Thought.140 Neben von Simson und Nef gehörten der Anthropologe Redfield, Daniel J. Boorstin als Jurist und der Klassische Philologe David Grene der Gruppe an, während Hutchins ihr zumindest nominell als Chairman vorstand. Von außerhalb der Universität stieß der Verleger Henry Regnery hinzu, in dessen Verlag Measure erscheinen sollte. Regnery, der sein Geschäft keineswegs sine ira et studio und nur aus finanziellen Interessen betrieb, hatte bereits mit etlichen Angehörigen der Universität zusammengearbeitet.141 138 Das Folgende nach dem Informationsblatt Measure: A Quarterly Journal, in CJBNL, G 6730, Beilage 2. Zur Bedeutung des Titels Measure auch das Memorandum Measure: A Quaterly in JUNP, Box 120, Folder 1: „The Journal should help to create the habit of using moral and metaphysical principles as the measure of contemporary aspirations and events, and of using historical events and aspirations as guides in this evaluation.“ 139 Von Simson an Carl Jacob Burckhardt, 11. November 1948, in CJBNL, G 6730, 1; Nefs Begleitschreiben zu seinem Brief an das Editorial Board vom 5. Juli 1949, in JUNP, Box 46, Folder 19; ferner Regnery an Hutchins, 14. September 1951, in HRP, Box 33, Folder 1. 140 Das Board of Editors wird in den gedruckten Heften benannt sowie in den Protokollen der Redaktionssitzungen; zu diesen JUNP, Box 46, Folder 19. 141 Den besten Einblick in seine Tätigkeit als Verleger gibt Regnery selbst in seiner Autobiographie Memoirs of a Dissident Publisher, New York 1979.

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Für die von ihm seit 1944 herausgegebene Reihe Human Events, Faltblätter (pamphlets) zu aktuellen politischen Fragen, hatten Hutchins und Nef geschrieben; Bergstraesser publi­ zierte mit der Regnery Company zwei seiner Goethe-­Bände, der in Chicago lehrende Historiker Hans Rothfels sein Buch über den deutschen Widerstand gegen Hitler.142 Seit 1949 war Regnery dann auch als Verleger der inzwischen zahlreiche Universitäten beliefernden Great Books Foundation tätig, ein nur scheinbar lukratives Geschäft, das ihm schon 1951 wieder entzogen wurde, hatte die politische Ausrichtung seines Verlagsprogramms doch Unwillen im Vorstand der Foundation erregt. In gewissen Kreisen schon damals als reactionary verschrieen,143 gefiel sich Regnery darin, gegen den intellektuellen mainstream seines Landes, gegen New York Times und Washington Post, zu publizieren. Nach dem Ende des Krieges erschienen bei ihm mehrere Werke, die mit der verzweifelten Situa­ tion im besiegten Deutschland und der verfehlten amerikanischen Besatzungspolitik hart ins Gericht gingen. Es folgten etliche revisionist books, deren Ziel darin lag, die offizielle Lesart der amerikanischen Kriegsbeteiligung als ein widerwillig und selbstlos aus Solidarität mit den Verbündeten eingegangenes Wagnis in Frage zu stellen. Kurze Zeit später wurde Regnerys Verlagshaus dann durch die Publikation mehrerer Gründungsschriften des amerikanischen Konservatismus bekannt. William F. Buckleys God and Man at Yale (1951) sowie Russell Kirks The Conservative Mind (1953) gehörten dazu. Hutchins, Nef und von Simson schreckten vor einer Zusammenarbeit mit Regnery indes keineswegs zurück. Ob ein Verleger, der zwangsläufig auch kommerzielle Interessen berücksichtigen muss, in das Editorial Board einer von ihm selbst verlegten Zeitschrift gehört, sei dahingestellt. Engagiert hat sich Regnery für Measure zweifellos – etliche der eingereichten Manuskripte hat er persönlich eingeworben, allein sein verlegerisches Kalkül ging nicht auf. Die Hoffnung, einen Großteil der etwa sechstausend Abonnenten seiner Human Events, die er im September 1949 einstellte, für Measure gewinnen zu können, verwirklichte sich nur begrenzt, denn die Zeitschrift sollte eine Auflagenhöhe von zwei- bis dreitausend Exemplaren nie überschreiten. Dem in Chicago ansässigen Herausgebergremium war ein internationales Advisory Board assoziiert, das die Interessen der Zeitschrift in verschiedenen europäischen Ländern vertreten und dort auch mögliche Autoren ausfindig machen sollte.144 Für Frankreich übernahm Nefs Freund Jacques Maritain diese Aufgabe, für Deutschland hingegen von Simsons väterlicher Ratgeber Franz Josef Schöningh, der auch in Aussicht stellte, einzelne Beiträge aus dem Hochland für mögliche Übersetzungen weiterzuleiten. ­Alessandro P ­ asserin d’Entrèves, als Rechtsphilosoph und Romanist seit 1946 in Oxford lehrend, versprach seine 142 Arnold Bergstraesser, Goethe’s Image of Man and Society, Chicago 1949; Goethe and the Modern Age: The International Convocation at Aspen, Colorado, 1949, hg. von Arnold Bergstraesser, Chicago 1950; Hans Rothfels, The German Opposition to Hitler: An Appraisal, Chicago 1948. 143 So Regnery an Hutchins, 29. Januar 1952, in HRP, Box 33, Folder 1. 144 Die Editorial Advisors sind durch das Merkblatt Measure: A Quarterly Journal in CJBNL, G 6730, Beilage 2, dokumentiert. Zu den vorangehenden Diskussionen vgl. die Protokolle der Redaktionssitzungen in JUNP, Box 46, Folder 19. Auf Schöningh hatte von Simson bereits in der frühen Planungsphase bestanden; so an Nef, 3. August 1946, in JUNP, Box 56, Folder 9.

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Abb. 4 Otto von Simson und Mitarbeiter mit dem ersten Heft von Measure, Dezember 1949 (OvSNL, Kasten 43, Mappe 2)

italienischen Kontakte bemühen zu wollen, wohingegen England, nachdem Nef zuvor auf T. S. Eliot gesetzt hatte, durch den britischen Autor Montgomery Belgion vertreten war. Bereits 1949 hatte Belgion sein Buch Victors’ Justice, eine Kritik der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, bei Regnery publiziert. Nur zwei Jahrgänge (1950 – 1951) mit insgesamt acht Heften von zusammen stattlichen neunhundert Seiten Text hat Measure seit Dezember 1949 hervorgebracht (Abb. 4 – 5). Zweifellos verdient das Unternehmen Beachtung, nicht nur aufgrund der internationalen und überaus prominenten Autoren, die hier mitarbeiteten, T. S. Eliot, Etienne G ­ ilson, Jacques Maritain, Jawaharlal Nehru, Martin Heidegger, Carl Jacob Burckhardt und andere, sondern mehr noch wegen seiner thematischen Ausrichtung, die im amerikanischen Spektrum weitgehend singulär geblieben ist. Aller inhaltlichen Bandbreite ungeachtet kam Politik und politischer ­Theorie der auffälligste Schwerpunkt zu. T. S. Eliots Zeitschrift The Criterion (1922 – 1939), die gelegentlich als Vorbild für Measure benannt worden ist, wies dagegen eine stärker literarische Ausrichtung auf. Auch Measure räumte der deutschen Frage erhebliche Aufmerksamkeit ein, was sich schon in der beträchtlichen Zahl deutscher Autoren spiegelt. Bernhard Guttmann, vormals Herausgeber der Frankfurter Zeitung, stimmte mit dem Verweis auf die in Versailles vertane Chance und dem Tadel, dass die Alliierten Hitler in der Hoffnung, er werde seine Waffen gegen den Osten richten, zu lange gewähren ließen, apologetische Töne an.145 Die Fehler von 1919 s­ eien nach 1945 wiederholt worden, als man das Land seiner Ostgebiete beraubt und die Vertreibung von Millionen von Menschen zugelassen habe. Die Zweiteilung des Landes in eine atlantische und eine sowjetische Sphäre fördere das europäische Bewusstsein nicht. Und einmal mehr erklingt der Ruf nach religiöser Erneuerung, womit 145 Bernhard Guttmann, Europe’s Balance Sheet, in: Measure, 1, 1950, H. 1, 9 – 16.

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Abb. 5 Measure, Bd. 1, Heft 1, Dezember 1949

eine echte Religiosität gemeint sei, nicht jene Pseudo-­Religiosität einzelner politischer Parteien, die sich aus taktischen Gründen einen solchen Anstrich verliehen. Auf die zweifach verfehlte Wiederherstellung von 1919 und 1945 hob auch der aus dem amerikanischen Exil nach Erlangen berufene Philosoph Helmut Kuhn ab.146 Statt solcher Akte der Rache postuliert der aus jüdischer Familie zum katholischen Glauben konvertierte Verfasser ein Reich der Nächstenliebe, und er weist nachdrücklich darauf hin, ­welche Christen Widerstand gegen Hitler leisteten, um in den Konzentrationslagern als Märtyrer zu sterben. Dass es während der dunklen Zeit noch ein anderes, ein besseres Deutschland gegeben habe, stellt auch Hans Rothfels in seinem Beitrag über den deutschen Widerstand gegen Hitler heraus.147 In einer humanistisch-­christlichen Tradition 146 Helmut Kuhn, The Christian Conscience in our Political World, in: Measure, 1, 1950, H. 4, 372 – 385. 147 Hans Rothfels, International Aspects of the German Opposition to Hitler, in: Measure, 2, 1951, H. 2, 175 – 190. Zum selben Thema ausführlicher Rothfels (wie Anm. 142). Zum Erfolg seiner

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verwurzelt, habe dieser besonders um Ernst von Weizsäcker im Auswärtigen Amt sich sammelnde Kreis von Dissidenten versucht, Kontakt mit dem westlichen Ausland, zumal mit London, aufzunehmen. Gefangen in der eigenen Propaganda, dass alle Deutschen gleich ­seien, ein Argument, das es nach Kriegsende noch immer zu bekämpfen gelte, habe das Ausland an diesen Kontakten indes kein Interesse gezeigt. Um einen Weg aus der Krise zu weisen, bediente man sich auch in Measure mithin des abendländischen Appells. „Fratricidal struggle“ habe die westliche Gemeinschaft entzweit, so Kuhn, während Stalin, ein nicht weniger tyrannischer Herrscher als Hitler, jene Supermacht aufgebaut habe, die nur hinter Amerika noch zurücktrete.148 Die Rhetorik des Kalten Krieges bestimmt viele der Beiträge. Angesichts der Gefahr aus dem Osten schien es geraten, dem romantischen Abendlandbegriff spezifisch deutscher Prägung einen verstärkt realpolitischen Anspruch zu geben. André Siegfried, der Begründer des Conseil français pour l’Europe unie (1947), tat hier einen entscheidenden Schritt.149 Sein Aufsatz What is Europe? geht zwar noch von dem gleichen in der Antike verwurzelten, über das Karolingerreich vermittelten Länderverbund aus, sieht aber auch, dass d ­ ieses alte Europa seine führende Rolle an die U. S. A., „members of our race“ [sic], und an die Sowjetunion verloren habe. Als politisches Ziel Europas definiert der Verfasser eine „economic unity“, die eine ähnliche Massenproduktion wie in den U. S. A. ermöglichen solle, und die Anpassung an das amerikanische Vorbild „without self-­denial“. Europas notwendige Erneuerung ist für Siegfried folglich eine politische, keine religiöse. Nicht zufällig erschien im selben Heft von Measure zugleich ein sehr viel nüchternerer Beitrag des Ökonomen Wilhelm Röpke, der die Chance des Marshall-­Plans gerade in der Einheit Europas als Wirtschaftsverband begreift.150 Sein Blick zurück gilt weder der Antike noch dem christlichen Großreich des Mittelalters, sondern den zwanziger Jahren, als man durch verbindliche Wechselkurse und intensive Handelsbeziehungen Schritte zur Überwindung der Grenzen unternommen hatte, eine Entwicklung, die mit der Weltwirtschaftskrise und dem nationalen Protektionismus in ihrem Gefolge abrupt zum Ende gekommen sei. Ob Abendlandvisionen oder Realpolitik, der Gegensatz zum Ostblock und zum Kommunismus mit seiner vermeintlichen Diktatur der Massen, seiner Gewaltbereitschaft und der Unterdrückung von jeglichem Individualismus prägte das Bild von Europa. Die entsprechende Polarisierung stellte eines der Leitmotive in den Bänden der Zeitschrift dar. Maritain sah im zeitgenössischen Russland einen totalitären Staat, nur mit dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland zu vergleichen.151 Michael Argumentation gerade in Deutschland auch Eckel (wie Anm. 88), 243 – 263. 148 Kuhn (wie Anm. 146), 374. 149 André Siegfried, What is Europe?, in: Measure, 1, 1950, H. 4, 399 – 409. 150 Wilhelm Röpke, The Economic Integration of Europe, in: Measure, 1, 1950, H. 4, 386 – 398. 151 Jacques Maritain, The People and the State, in: Measure, 1, 1950, H. 3, 249 – 264. Der Kalte Krieg hinterließ seine Spuren freilich nicht nur in Measure; vgl. Joel Isaac, The Human Sciences in Cold War America, in: The Historical Journal, 50, 2007, 725 – 746, mit breitem Überblick zu den ­neueren Cold War Studies.

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Polanyi ging hier noch einen Schritt weiter, indem er die Französische Revolution als Ahnfrau des Marxismus und über eben diesen auch des Nationalsozialismus erkennen wollte.152 Lenin, Mussolini und Goebbels fanden für ihn in einem zynischen Nihilismus zusammen, der seinerseits die Frucht eines falsch verstandenen Freiheitsbegriffs darstelle. – Abschreckend wirkten sowohl die kollektivistische Landwirtschaft des Ostblocks als auch die dort und in China vom Staat kontrollierte Industrie.153 Selten bewegte sich die historische Analyse von der Schwarz-­Weiß-­Malerei fort. Carl Jacob Burckhardt, der über sein historisches Werk hinaus als Kommissar des Völkerbundes und Schweizer Botschafter in Paris tätig gewesen war, gab Churchill beachtenswerterweise eine nicht unerhebliche Mitschuld an der gegenwärtigen Blockbildung.154 Denn der britische Premier habe durch die Unterwerfung unter seine übermächtigen Kriegsalliierten und die Preisgabe der Leitlinien englischer Politik, zu der stets die Machtbalance in Europa gehört habe, nicht nur den englischen Staatssozialismus heraufbeschworen, sondern auch jenes europäische Machtvakuum geschaffen, das den alten Kontinent nun hilflos ­zwischen den beiden Supermächten zurücklasse. Die anti-­sowjetische Tendenz gewann mit dem Koreakrieg, der im Juni 1950 ausbrach, noch einmal an Schärfe, glaubte man sich doch nun an der Schwelle eines neuen Weltkriegs. Diese vom Ostblock ausgehende Bedrohung, so H. Stuart Hughes, Geschichtsdozent in Harvard, der kurz zuvor die neokonservativen Bewegungen in Europa studiert hatte, trage dazu bei, dass man die alten Klassengegensätze und ideologischen Grabenkämpfe überwinde.155 Allenthalben strebe man einen Kapitalismus mit sozialen Zügen an. Eine Okkupation Europas durch die Sowjetunion würde schlimmer ausfallen als die durch den Nationalsozialismus, der den Eliten der besetzten Länder, sofern nicht jüdischer Abkunft, noch ein halbwegs normales Leben und den Verbleib in der europäischen Tradition gestattet habe. Vor ­diesem Hintergrund befürwortet der Verfasser die Wiederbewaffnung Deutschlands nachdrücklich. Andere Autoren wissen allerdings auch Beispiele einer erfolgreichen Appeasement-­Politik in Erinnerung zu rufen.156 Maurice Duverger, der ebenfalls unter dem Eindruck von Korea und China schrieb, erkannte die Notwendigkeit einer Doppelstrategie, w ­ elche gegen die Ausbreitung des Kommunismus in Asien notwendig sei: Rüstungsgleichgewicht oder besser noch militärische Überlegenheit einerseits, politische Propaganda andererseits.157 Doch in dieser Hinsicht täten sich die Demokratien schwer, denn die westlichen Werte der christlich-­ freiheitlichen Tradition richteten sich an eine „population which in its entirety enjoys a

152 Michael Polanyi, The Logic of Liberty: Perils of Inconsistency, in Measure, 1, 1950, H. 4, 348 – 362. 153 René Cercler, Toward a New Agriculture, in: Measure, 1, 1950, H. 2, 142 – 151; und Colin Clark, Economic Life in the Twentieth Century, in: Measure, 1, 1950, H. 4, 329 – 347. 154 Carl Burckhardt, On Reading Churchill’s ‚Memoirs‘, in: Measure, 2, 1951, H. 4, 386 – 390. 155 H. Stuart Hughes, The End of Political Ideologies, in: Measure, 2, 1951, H. 2, 146 – 152. 156 Anatol Rapoport, Gwen Goodrich Rapoport, Alfonso Shimbel, Sanity and the Cold War, in: M ­ easure, 2, 1951, H. 2, 159 – 174. 157 Maurice Duverger, Military and Political Rearmament, in: Measure, 2, 1951, H. 3, 259 – 268.

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rather advanced level of material and intellectual progress“ und verfingen bei den Unterschichten, an die sich der Kommunismus wendete, gerade nicht. Dennoch standen die U. S. A., durchgehend begriffen als das weiße, das europäische Amerika, in diesen Analysen zumeist als Garant westlicher Humanität da. Nehru, dessen Text auf einen in Chicago gehaltenen Vortrag zurückging, erklärte die Vereinigten Staaten zum Vorbild des indischen Freiheitskampfes und des Demokratisierungsprozesses.158 Die Zuversicht, „that in America the eternal feeling for the value of the human person has been preserved“, äußerte auch Guttmann, und Maritain attestierte dem Land, nie jene fatale Gleichsetzung von Nation und Staat betrieben zu haben, die in Europa zum extremen Nationalismus geführt habe.159 Dass noch Präsident Wilson an Idealen der Aufklärung festgehalten habe, als diese den zynischen Nihilisten der europäischen Politik nur noch lächerlich erschienen s­ eien, betont auch Michael Polanyi, und Robert Hutchins schreibt seinem Land eine Chancengleichheit im Bildungswesen zu, die umfassender sei als irgendwo sonst.160 André Siegfried sah die U. S. A. zwar auch als den großen Bewahrer der Gedankenfreiheit, ahnte aber, dass die auf Massenproduktion abzielende amerikanische Wirtschaft eine neue Zivilisation heraufbeschwören könne, die dem europäischen Individualismus letztlich entgegenwirke.161 Zu einer harschen Kapitalismuskritik fand dann der herausragende Essay von Russell Kirk Beyond the Dreams of Avarice.162 Wofür stehe der Begriff des Amerikanischen noch ein, so lautet seine provokante Frage. „American“ sei inzwischen gleichbedeutend mit „industrialized, motorized, Hollywoodized, capitalized, federalized, corporatized, and modernized.“ Eben diese Standards wolle Truman nun in alle Winkel der Welt verbreiten, übersehe dabei jedoch, wie schnell materielle Fülle mit geistiger Leere einhergehen könne. Reichtum mache noch keine moralische Stärke, keine virtue im klassischen Sinne aus. Gerade sie sei aber gefordert, wolle man den Kommunismus auch intellektuell überwinden. Und er appelliert an eine Rückbesinnung auf die echten amerikanischen Kräfte: „Christian morality, national freedom, natural law, dignity and justice“. – Die Warnung vor einer geistlosen Konsummentalität klingt in weiteren Beiträgen, auch mit Blick auf Europa, durchaus an.163 Skepsis dem kapitalistischen Profitstreben gegenüber kam fernerhin bei der Diskussion wirtschaftlicher und landwirtschaftlicher Praktiken zum Ausdruck.164

158 Jawaharlal Nehru, The State of India, in: Measure, 1, 1950, H. 1, 75 – 87. 159 Guttman (wie Anm. 145), 16; Maritain (wie Anm. 151), 154. 160 Polanyi (wie Anm. 152), 360; Robert M. Hutchins, T. S. Eliot on Education, in: Measure, 1, 1950, H. 1, 1 – 8. 161 Siegfried (wie Anm. 149), 407 – 408. 162 Russell Kirk, Beyond the Dreams of Avarice, in: Measure, 2, 1950, H. 1, 17 – 33. 163 William Haley, What Standards for Broadcasting?, in: Measure, 1, 1950, H. 3, 209 – 221; André Varagnac, Inactive Leisure, in: Measure, 2, 1950, H. 4, 398 – 403. 164 Edward A. Duddy, Authority and Responsibility of Business, in: Measure, 1, 1950, H. 1, 26 – 34; Cercler (wie Anm. 153).

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Das Thema education spielt in Measure keine unerhebliche Rolle. Allein Hutchins hat sich in vier Beiträgen dazu geäußert, die letztlich noch einmal seine bekannten Positionen vor Augen führten.165 Von der Identität des guten Menschen mit dem guten Staatsbürger (citizen) ausgehend, liege die erzieherische Aufgabe in einer Formung junger Menschen, „as rational, moral, spiritual and political beings“. Dass d ­ ieses „political being“ wie auch der „good citizen“ alternativlos für die Demokratie einstehen, scheint dabei – wie eigentlich in allen Artikeln der Zeitschrift – unverhandelbar. Flankiert wurde Hutchins’ Credo gleich von mehreren Seiten. So stellte William Haley, der damalige Direktor der BBC, den verantwortungsvollen Auftrag des Rundfunks heraus, der zur Zivilisierung der Menschheit beitragen solle, die ihrerseits als Basis jeder Demokratie zu gelten habe.166 Die Vermittlung von „ancient moral values“ schien dabei unerlässlich: „They are well established. They derive from Greece, Rome, and the Holy Land.“ Dass ein broadcast andererseits der Balance von Erziehung und Unterhaltung bedurfte, war Haley natürlich bewusst. Nicht unwillkommen mochte Hutchins überdies Anthony T. Bouscarens Rückschau auf das amerikanische Verfassungsrecht und seine Kommentatoren sein, weil sie zu dem Ergebnis führte, dass – späteren Urteilen zum Trotz – eine Trennung von Staat und ­Kirche in der Constitution nicht vorgesehen sei, die religiöse Unterweisung schon in Schulen deshalb keinen Rechtsverstoß beinhalte.167 Der amerikanische Grundgedanke ziele vielmehr auf die Unterstützung der Religion durch den Staat. Hutchins hatte in der ersten Nummer von Measure Kritik an T. S. Eliot geübt, der den Sinn des pädagogischen Auftrags zu relativieren und zu historisieren schien. Im Herbst 1950 bekam der angloamerikanische Autor Gelegenheit, seine Vorstellungen von education noch einmal genauer darzulegen. Alle vier Vorträge, die er damals vor dem Committee hielt, wurden anschließend in Measure publiziert.168 Natürlich bekannte sich auch Eliot zur Demokratie. Gleichwohl hielt er daran fest, dass Erziehung zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen politischen Systemen divergierende Aufgaben zugewiesen worden s­ eien. Er selbst wollte noch einen Schritt weiter gehen und die Ziele der education von der jeweils zu erziehenden Person abhängig machen, denn nicht alle Menschen s­ eien gleich. Es komme vielmehr darauf an, den jeweiligen Jugendlichen seinen eigenen Potentialen entsprechend zu fördern. Der soziale Sinn der Erziehung, die Hinführung zur Demokratie also, betreffe nur eine Facette und habe nicht die gesamte Natur des Menschen im Blick. Hieraus resultierten dann auch seine Skepsis gegenüber 165 Robert M. Hutchins (wie Anm. 160); ders., The University and the Mind of the Age, in: Measure, 1, 1950, H. 2, 133 – 141; ders., The Idea of the College, ebd., 1, 1950, H. 4, 363 – 371; ders., A ­Message to the Young Generation, ebd., 2, 1950, H. 4, 355 – 361. 166 Haley (wie Anm. 163). 167 Anthony T. Bouscaren, Church and State in America, in: Measure, 1, 1950, H. 3, 222 – 236. 168 T. S. Eliot, The Aims of Education, 1. Can „Education“ be Defined?, in: Measure, 2, 1950, H. 1, 3 – 16; 2. The Interrelation of Aims, ebd., 2, 1951, H. 2, 191 – 203; 3. The Conflict Between Aims, ebd., 2, 1951, H. 3, 285 – 297; 4. The Issue of Religion, ebd., 2, 1951, H. 4, 362 – 375. Die Texte wurden postum nachgedruckt in T. S. Eliot, To Criticize the Critic and other Writings, London 1965.

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einem staatlich gelenkten Bildungswesen, das zwangsläufig zur Standardisierung führe, und seine Vorbehalte gegen eine unbedingte Chancengleichheit. Mit Blick auf Hutchins’ Ineinssetzung von gutem Menschen und gutem Staatsbürger machte er geltend, dass für beide verbindliche Kriterien fehlten. Zwar verstand auch Eliot die Religion als Grundlage des „improvement of man“, schloss aber nicht aus, dass die Aufgaben der Erziehung in Zukunft neu bestimmt werden müssten. Damit war nicht nur Hutchins’ Wertekanon, sondern selbst seine Auffassung des menschlichen Individuums zugunsten eines ungleich individuelleren Menschen in Frage gestellt. Von Simson bestand darauf, dass jede Ausgabe von Measure „an article on art“ beinhalten solle.169 Als prominenter Vertreter des Neuthomismus schrieb Etienne Gilson gleich im ersten Heft über das Thema Artists and Saints.170 Gilson rückte Künstler und Priester in unmittelbare Nähe, denn angeblich vermittelten beide eine jenseits des Dinglich-­ Anschaulichen liegende Wirklichkeit, „they honour Divinity“. Eine gewagte Verknüpfung von Zitaten aus Platon, Rodin, Michelangelo, der Imitatio Christi und Richard Wagner sollte diese These, als deren nachdrücklichster Kronzeuge sich Wackenroder hätte anführen lassen, untermauern. Doch zeigt der Aufsatz in erster Linie, zu welch unhaltbaren Verallgemeinerungen der Widerstand gegen eine Historisierung der Quellen und des Denkens führen konnte. In die g­ leiche Richtung wie der Franzose ging William E. Hocking, Philosophieprofessor aus Harvard, der in der universalen Sprache des Künstlers neben Recht und Naturwissenschaften einen von drei Wegen erkannte, um die Einheit der Welt zu erreichen.171 Keine ernsthafte Kunst sei gänzlich profan oder vollkommen abstrakt, denn wie der Philo­soph und der Theologe wolle ein Künstler von der „truth that the world has meaning“ überzeugen. Kunst sei die „undogmatic religion of mankind“, die gegen den Materialismus und die Vorstellung eines sinnlosen Universums ankämpfe, sie sei die „continuance of creation“. Die vermeintliche Gefahr, dass moderne Künstler ihre Aufgabe weniger universal verstünden, um stattdessen ihr persönliches Bewusstsein oder mehr noch ihr Unterbewusstes zur Anschauung zu bringen, sah Hocking durchaus. Doch musste seines Erachtens eben hier ein Umdenken ansetzen: „What art most needs today is an appreciation of its great function and a pride in it.“ Das hatte Sedlmayr ähnlich gesagt. Neben solchen metaphysischen Spekulationen standen mehrere kunsthistorische Versuche, Otto von Simsons früher Beitrag über die gotische Kathedrale, Edgar Winds Untersuchung zu typologischen Motiven in Michelangelos Sixtinischer Decke oder auch Earl Reeds Aufsatz über den Priesterarchitekten Mazzuchelli.172 Um ein Zusammenspiel 169 Protokoll des Board Meeting vom 10. Februar 1950, in JUNP, Box 46, Folder 20. 170 Etienne Gilson, Artists and Saints, in: Measure, 1, 1950, H. 1, 48 – 59. 171 William E. Hocking, Aids and Obstacles to World Civilization, in: Measure, 1, 1950, H. 2, 93 – 108. 172 Otto von Simson, The Birth of Gothic, in: Measure, 1, 1950, H. 3, 275 – 296; Edgar Wind, The Ark of Noah, ebd., 1, 1950, H. 4, 411 – 421; Earl Reed, Mazzuchelli, Priest and Architect in the American Wilderness, ebd., 2, 1951, H. 2, 241 – 253. – Von Simsons Beitrag Max Beckmann, ebd., 2, 1951, H. 3, 320 – 323, blieb seinen Bibliographen unbekannt.

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von Kunst und christlichem Denken ging es auch hier, doch standen die Ausführungen auf einer soliden historischen Basis. Wind und von Simson entsprachen dabei ganz der gewünschten Interdisziplinarität. Das Gleiche galt für P.-H. von Blanckenhagen, wenn er als Klassischer Archäologe Rilkes Auseinandersetzung mit Picassos Gemälde La famille des saltimbanques nachging.173 Daran zu erinnern, dass deutsche Dichtkunst selbst 1915 noch im Dialog mit dem Ausland entstehen konnte und dass es eine Wertschätzung der Moderne damals durchaus gegeben hatte, mochte nach dem Ende des Nationalsozialismus sogar unter politischem Blickwinkel lohnend erscheinen. Auch die Literatur wurde zum Thema. Nicht nur, dass einzelne Prosa- und Theaterstücke sowie etliche Gedichte auf den Seiten von Measure erschienen, gezielte ­Überblicke waren der neueren Belletristik einzelner Länder gewidmet. An Werturteilen fehlte es dabei nicht. So glaubte sich Guglielmo Alberti berufen, die „Dekadenz“ eines D’Annunzio und eines Moravia zu verurteilen, und Albert Béguin sah in André Gide einen zu Lebzeiten überbewerteten Autor, der, getrieben von seiner „personal anomality“ [sic], zu viel seiner Schaffenskraft in den Kampf gegen eine ihn scheinbar unterdrückende Gesellschaft investiert hatte.174 Waren es ­solche Aussagen, die man von einem critical journal um 1950 noch erwartete? Transzendentes scheint erneut in den naturwissenschaftlichen Beiträgen durch. Eine imposante, unter dem verstörenden Titel Is God a Mathematician? publizierte Überschau von Hans Jonas zeigte sich bemüht, die gesamte Geschichte von Naturwissenschaft und Weltbildern auf die Präsenz des Göttlichen zurückzuführen.175 Der Heidegger-­Schüler Karl Löwith fragte dagegen nach den Wirkungen der naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 16. Jahrhunderts auf das existentialistische Denken.176 Seine überraschende Antwort geht dahin, dass der christliche Philosoph Pascal die „condition of modern man“ ­besser verstanden habe als die modernen Denker, womit vermutlich Sartre, Heidegger und ­Kierkegaard angesprochen sind. Als Heidegger selbst sich ein Jahr später in Measure zu Wort meldete, bestätigte er hingegen seinen Ruf als Kritiker aller Transzendenz.177 Die seit dem 18. Jahrhundert sich herauskristallisierende Vorstellung vom Weltbild zeugte für ihn vom wachsenden menschlichen Subjektivismus, der nur einen Aspekt des von Heidegger offenkundig begrüßten Zu-­sich-­selbst-­Findens des Menschen ausmache. Auch ­solche Positionen waren in Measure möglich. Vertrauter klang es natürlich, wenn Carl Friedrich von Weizsäcker ein ethisches Verantwortungsbewusstsein der Naturwissenschaften anmahnte.178 173 Peter H. von Blanckenhagen, Picasso and Rilke: „La famille des Saltimbanques“, in: Measure, 1, 1950, H. 2, 165 – 185. 174 Guglielmo Alberti, Italian Fiction: The New Realism, in: Measure, 1, 1950, H. 4, 423 – 437; Albert Béguin, André Gide, ebd., 2, 1951, H. 4, 449 – 453. 175 Hans Jonas, Is God a Mathematician?, in: Measure, 2, 1951, H. 4, 403 – 426. 176 Karl Löwith, Man between Infinities, in: Measure, 1, 1950, H. 3, 297 – 310. 177 Martin Heidegger, The Age of the World View, in: Measure, 2, 1951, H. 3, 269 – 284. Der Text war zuvor auf Deutsch in Heideggers Buch Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, erschienen. 178 Carl Friedrich von Weizsäcker, The Experiment: Its Nature and its Limits, in: Measure, 1, 1950, H. 1, 35 – 47.

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In seinen Memoiren auf Measure zurückschauend, zeigte sich Henry Regnery noch nach dreißig Jahren beeindruckt vom hohen Niveau, das die Zeitschrift über acht Ausgaben hinweg beizubehalten vermochte. „Its excellence was largely the work of Otto von ­Simson“, der als Managing Editor die „full editorial responsibility“ getragen habe.179 Tatsächlich hat von Simson viele der Manuskripte, zumal die der deutschen Autoren und Emigranten, persönlich und bisweilen mit erstaunlicher Beharrlichkeit eingeworben.180 Übersetzungen und Vorschläge zur Verbesserung der Texte gingen auf ihn zurück. Dabei zeichnete sich im Verlauf des Unternehmens sehr schnell ab, wie schwierig es sein konnte, in der heterogen zusammengesetzten Redaktionskonferenz einen Konsens herzustellen. Von Simson war stolz darauf, von dem deutschen Juristen Hellmut Becker jenes aufsehenerregende Plädoyer bekommen zu haben, das Becker im November 1948 während des sogenannten Wilhelmstraßenprozesses für Ernst von Weizsäcker gehalten hatte.181 Dass Weizsäcker, dem die von Simson-­Familie eng verbunden war, damals zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, obwohl er im Mittelpunkt eines Dissidenten-­Kreises gestanden hatte, galt selbst in amerikanischen Kreisen als Justizskandal, hinter dem man den persönlichen Ehrgeiz des stellvertretenden Hauptanklägers der Vereinigten Staaten, Robert Kempner, vermutete.182 Der aus deutsch-­jüdischer Familie gebürtige Kempner war vor seiner Emigration Jurist im preußischen Staatsdienst gewesen. Vom Tenor ähnlich wie Rothfels’ Aufsatz, wies Beckers Plädoyer ein konsequent gegen Hitlers Kriegspolitik gerichtetes Handeln des Angeklagten nach und betonte einmal mehr, wie sehr jenes andere Deutschland der alliierten Kollektivschuld-­These zuwiderlief. Der Fall warf zugleich ein allgemeines Problem auf, das der lediglich äußeren Beteiligung am Tun eines verbrecherischen Regimes mit dem Ziel, Schlimmeres zu verhindern; der „Schein des Unrechts um des höheren Rechts willen“ stand zur Debatte.183 Von Simson wollte dem Becker plea einen auffälligen Platz gleich im ersten Heft von Measure einräumen, was allerdings auf praktische Probleme stieß, denn die Ausführungen überstiegen nicht nur die Länge der anvisierten Texte um einiges, sie hätten auch der Kontextualisierung bedurft: Was waren die Punkte der Anklage etc.? Nachdem man lange über Kürzungen des Manuskripts und eine angemessene Einführung gestritten hatte, wurde das 179 Regnery (wie Anm. 141), 56. 180 Von Simsons Briefe an Burckhardt veranschaulichen diese Beharrlichkeit auf eindrucksvolle Weise; CJBNL, G 6730, 1 – 20. 181 Zum Zustandekommen des Textes vgl. Hellmut Becker, Quantität und Qualität: Grundfragen der Bildungspolitik, Freiburg i. Br. 1962, 403. Zur Diskussion um die Drucklegung bes. das Protokoll des Board Meeting vom 16. Juni 1949, in JUNP, Box 46, Folder 19; sowie von Simson an Nef, 18. Juni 1949, in JUNP, Box 56, Folder 10; und von Simsons Korrespondenz mit Paul Scheffer in OvSP, Box 1, Folder 5. Ferner Regnerys Briefwechsel mit Hutchins in HRP, Box 33, Folder 1, insbes. die Schreiben vom 13. und 22. April, vom 4. Mai und vom 8. Juni 1949. Sein Interesse an deutschen Fragen und der amerikanischen Besatzungspolitik bekundete von Simson auch beim Board Meeting vom 28. Dezember 1948; dazu das Protokoll in JUNP, Box 46, Folder 19. 182 Regnery (wie Anm. 141), 76. 183 Becker (wie Anm. 181), 48 – 49.

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Vorhaben für Nef offenbar auch aus politischen Gründen zu heikel. Man solle, zumal in der ersten Ausgabe, nicht den Eindruck erwecken, sich zum Anwalt der deutschen Sache oder auch einer Einzelperson machen zu wollen, so ließ er im Juni 1949, als von Simson noch in Frankfurt lehrte, verlauten.184 Der Beitrag war damit vom Tisch. Erst 1962 kam die Verteidigungsrede in deutscher Sprache zum Abdruck.185 Wenn Regnery schon 1951 von Weizsäckers Erinnerungen publizierte, so verstand er dies sicherlich auch als Geste der Rehabilitierung, zu der man sich in Measure am Ende nicht bereitgefunden hatte.186 Mit dem Streit um das Becker plea ist bereits die Frage nach dem frühen Scheitern von Measure berührt. Nef und Regnery haben in ihren gedruckten Erinnerungen die finanziellen Engpässe für das vorzeitige Ende verantwortlich gemacht.187 Tatsächlich brachte die Zeitschrift erhebliche Kosten mit sich, da über die Produktion hinaus die Stelle eines Editorial Assistant zu finanzieren war. Im übrigen erhielten die Autoren stattliche 150 Dollar pro Beitrag. Die finanzielle Frage wurde verschärft, als Hutchins, ein versierter Beschaffer von Stiftungsgeldern, zu Beginn des Jahres 1951 aus der Universität ausschied; dennoch dürften die fehlenden Gelder letztlich nicht den Ausschlag gegeben haben. Vielmehr wies die Zeitschrift mehrere Geburtsfehler auf. Unscharf stellte sich ihre Beziehung zum Committee on Social Thought dar. Zwar gehörten bis auf Regnery alle Mitglieder des Editorial Board dem Committee an und dort gehaltene Vorträge und Antrittsvorlesungen kamen wiederholt zum Abdruck, dennoch hatte man von einem entsprechenden Verweis – etwa auf dem Titelblatt – bewusst Abstand genommen.188 Als problematisch erwies sich überdies, dass die Herausgeber nur eingeforderte Manuskripte publizierten, wobei die thematischen Anregungen selbst bei prominenteren Autoren nicht selten auf das Redaktionskomitee und den Managing Editor zurückgingen. Dennoch konnte es zur Ablehnung der eingegangenen Manuskripte kommen, wie sogar ein Martin Buber und ein Montgomery Belgion, selbst Mitglied des internationalen Advisory Board, feststellen mussten.189 Peinlich war das abschlägige Urteil der Redaktion dann aber auch für denjenigen aus ihrer Mitte, der die jeweilige Einladung ausgesprochen hatte. Hier geriet John Nef, der etliche seiner persönlichen Freunde zur Mitarbeit angeregt hatte, immer wieder in Konflikt mit dem Editorial Board. Trotz seines 184 Beilage zu seinem Brief an die Redaktionskonferenz vom 5. Juli 1949, in JUNP, Box 46, Folder 19. 185 Becker (wie Anm. 181), 13 – 58. 186 Ernst von Weizsäcker, Memoirs, Chicago 1951; die deutsche Ausgabe war 1950 in München erschienen. Regnery hat das Buch auf Anregung von Hellmut Becker publiziert; vgl. Regnery (wie Anm. 141), 76 – 77. 187 Nef (wie Anm. 25), 260; Regnery (wie Anm. 141), 57. 188 So der Beschluss des Editorial Board vom 4. November 1948, in JUNP, Box 46, Folder 19. 189 Kritisch zu Bubers Goethe-­Manuskript äußerte sich Nef am 4. Oktober 1949, in JUNP, Box 46, Folder 19. Von Simson hatte Buber ermutigt, seinen Text einzureichen; vgl. Buber an von Simson, 20. März 1949, in OvSNL, Kasten 14, Mappe 1. Zum Manuskript von Belgion, „a rather polemical discussion of socialism“, vgl. die Diskussion vom 16. Juni 1949 und Nefs Stellungnahme, die seinen Brief vom 5. Juli des Jahres begleitet; JUNP, Box 46, Folder 19. Ferner von Simson an Nef, 5. und 18. Juni 1949, in JUNP, Box 56, Folder 10.

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Insistierens wies es die Veröffentlichung einer Art Werkstattbericht des Komponisten Artur Schnabel zurück, denn zu gering erschien der intellektuelle Tiefgang seiner Ausführungen, die auf Vorträgen in Chicago beruhten, aus deren Notizen Nef im Übrigen selbst einen kohärenten Text zusammengestellt hatte.190 Zu einem Eklat kam es dann, als Nef eine Kant-­Kritik des französischen Priesters und Theologen Charles Journet zur Publikation vorschlug, die bei von Simson und den anderen Mitgliedern der Redaktionskonferenz auf Widerspruch stieß.191 Nefs Intimus Maritain hatte Journet als möglichen Autor vorgeschlagen, so dass die Absage auch von ihm als Kränkung empfunden werden konnte. In einem Schreiben an die Redaktion zitierte Nef bald darauf tatsächlich aus einem Brief Maritains, der Journets Text zwar nicht gelesen hatte, sich für den Autor aber verbürgte und seine eigene Rolle als französischer Berater der Zeitschrift im Falle einer kompromisslosen Zurückweisung des Artikels niederlegen wollte. Obwohl Nef heraufbeschwor, was ein solches Zerwürfnis auch für das Committee on Social Thought bedeuten würde, dem Maritain über Jahre hilfreich zur Seite gestanden hatte, gab das Board of Editors nicht nach. Im Übrigen lagen kaum Manuskripte vor, gegen die nicht zumindest eines der Redaktionsmitglieder Einwände geltend gemacht hätte. Das grundlegende Problem bestand darin, dass die Texte nicht nur sachlich auf ihren wissenschaftlichen Neuertrag hin, sondern auch weltanschaulich beurteilt wurden. Entsprachen sie der ethischen Stoßrichtung von Measure, wie auch immer diese aussehen mochte? Ein Kompromiss der ersten Hefte ging dahin, strittige Thesen nur mit zusätzlichen Kommentaren einzelner Redaktionsmitglieder abzudrucken. Als man sich nach langen Kontroversen entschloss, d’Entrèves’ Beitrag über Machiavelli anzunehmen – auch d’Entrèves gehörte dem internationalen Beirat an –, fügte Hutchins dem einen Comment hinzu, der die – für d’Entrèves weniger offensichtlichen – moralischen Defizite des italienischen Autors in helles Licht rückte.192 Solche Zusätze beizusteuern bot auch Nef sich mehrfach an, fand bei der Redaktion aber nur wenig Zuspruch.193 Offenbar gewann Nef den Eindruck, dass ihm die Zeitschrift zunehmend entglitt und nicht zu dem wurde, was er sich vorgestellt hatte. Im Editorial Board setzte sich von 190 Dazu die Briefe Nefs an das Editorial Board vom 5. und 20. Januar und 18. Februar 1950, sowie das Board Meeting vom 10. Februar 1950, in JUNP , Box 46, Folder 20. Schnabel empfand die Ablehnung offenbar als weniger dramatisch; vgl. seinen Brief an von Simson vom 19. Februar 1950, in OvSNL, Kasten 14, Mappe 1. Nach dem Tode des Verfassers erschienen die Chicagoer Vorträge in: Artur Schnabel, My Life and Music, London 1961. 191 Dazu Nefs Briefe an das Editorial Board vom 4., 18., 23. und 28. März 1950, in JUNP, Box 46, Folder 20. 192 Comment, in: Measure, 2, 1950, H. 1, 46 – 48. Das Manuskript d’Entrèves’ war beim Board ­Meeting des 5. März 1950 ausführlich diskutiert worden; JUNP, Box 46, Folder 20. Von Simson und R ­ egnery sahen die Notwendigkeit eines zusätzlichen Kommentars nicht; so laut Ausweis ihrer Briefe vom 17. November und 6. Dezember 1950, in HRP, Box 69, Folder 7. 193 Nef an das Editorial Board, Begleittext zum Brief vom 5. Juli 1949, sowie seine Briefe vom 27. Oktober und 4. November 1949 und vom 18. Februar 1950; ferner die Protokolle der Board Meetings am 4. November 1949, 10. Februar 1950, 3. März 1950. Vgl. JUNP, Box 46, Folder 19 – 20.

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Simson durch, nicht er. Unterschwellig ging damit der Konflikt einer stärker deutschen gegen eine französische Nuancierung von Measure einher. Hier rächte sich nun, dass die Zielsetzungen des Periodikums im Vorfeld zu vage geblieben waren; schon das Fehlen eines entsprechenden Editorial in der ersten Ausgabe mochte man als symptomatisch für diese Unbestimmtheit ansehen. Der Zeitschrift fehle ein „editorial policy“, so der in erster Linie an von Simson gerichtete Vorwurf, den man nach der Anfangsphase immer wieder vernehmen konnte. Jedenfalls zeichnete sich bald schon ab, dass die drei Protagonisten in unterschiedliche Richtungen gehen wollten. Tat sich Nef als Verfechter der „universal values“ und von „morality and faith above politics“ hervor, so hätte Regnery der Zeitschrift gern eine stärker tagespolitische Gewichtung mit Stellungnahmen etwa zur amerikanischen Außenpolitik gegeben – das aber, wie nicht anders zu erwarten, im ­­Zeichen eines „enlightened conservatism“.194 Von Simson schließlich schwebte über sein Interesse an der deutschen Frage hinaus wohl eine eher kulturwissenschaftliche Ausrichtung vor. Mit dem, was man in den ersten Ausgaben erreicht hatte, zeigte er sich am wenigsten unzufrieden: „I feel that the journal stands a very good chance of becoming the best humanist journal in the world and, I think, is something we ought not to allow to die as long as we can hope to improve it.“195 Von Simsons zweiter Aufenthalt in Frankfurt schien Nef die Chance zu geben, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Die lange Abwesenheit des Herausgebers war aus seiner Sicht mit den Interessen von Measure schwer vereinbar. Er bot sich deshalb an, die Rolle eines Substitute Editor zu übernehmen.196 Von Simson konterte dahingehend, dass die nächsten zwei Nummern bereits in trockenen Tüchern ­seien, und er warnte die Mitglieder des Editorial Board vor einem Herausgeber Nef, der sich vermutlich autoritär durchsetzen, zudem die Autoren vorab aus seinem Freundeskreis rekrutieren würde.197 In dem hier ausgebrochenen Machtkampf konnte Nef auch Regnery auf seine Seite ziehen, um gemeinsam über einen neuen Herausgeber, tunlichst einen Muttersprachler, oder zumindest einen zweiten Managing Editor nachzudenken. Hutchins stand allerdings zu von Simson.198 Mit dem Scheitern des Putsches entschloss sich Nef, das Unternehmen vollständig zu beenden, wobei ihm die finanziellen Engpässe einen willkommenen Vorwand lieferten. Schon im Sommer 1951 war klar, dass die Zeitschrift bei Jahresende eingestellt 194 Nefs Standpunkt dokumentieren die Protokolle der Board Meetings vom 5. Juli 1949 und 8. Mai 1950 in JUNP, Box 46, Folder 19 – 20. Regnerys Vorstellungen kommen besonders in seinen Briefen an Hutchins zum Ausdruck, so am 9. November 1948, 7. September 1950, 19. und 27. April 1951. Vom „enlightened conservatism“ ist am 14. September 1951 die Rede. Die Briefe sind in HRP, Box 33, Folder 1, überliefert. 195 So an Regnery, 22. März 1951; HRP, Box 69, Folder 7. 196 Zum Folgenden ist der Briefwechsel Regnerys mit Hutchins, Nef und von Simson zu vergleichen; HRP, Box 33, Folder 1; Box 57, Folder 1; Box 69, Folder 7. Ferner Nef an Hutchins in RMHP, Box 175, Folder 1; sowie Hutchins an Nef in JUNP, Box 41, Folder 3. 197 Von Simson an Hutchins, 1. März 1951, in HRP, Box 33, Folder 1; und ders. an Regnery, 3. März 1951, in HRP, Box 69, Folder 7. 198 Hutchins an Regnery, 18. September 1951, in HRP, Box 33, Folder 1.

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werden sollte.199 Hatte Nef anfangs noch die Möglichkeit eröffnet, dass man ohne ihn ­weitermachen könne, so belegte er ­dieses Zugeständnis kurz darauf mit dem Vorbehalt eines neuen Namens, den die Zeitschrift in ­diesem Falle tragen müsse, was ebenfalls einem Todesurteil gleichkam.200 Von Simson musste Nefs Verhalten als Missachtung seiner Tätigkeit für die Zeitschrift werten. Verstimmte Urteile über den jeweils anderen, die dann nur durch Dritte weitergetragen wurden, verschlimmerten die Situation. Ein bitterer Brief, den Nef am 11. Oktober 1951 an seinen langjährigen Mitarbeiter richtete, beklagte sich nicht nur über die Zurückweisung seines Bemühens um Measure, sondern er bezichtigte den Deutschen, der allein durch seine Protektion so weit gekommen sei, der Undankbarkeit.201 Damit schien der Bruch ­zwischen den beiden nach Jahren engster Zusammenarbeit besiegelt. Erst nachdem von Simson Chicago verlassen hatte, fanden sie wieder zueinander. – Ein Gefühl, dass hier vorschnell und zu sehr aus persönlicher Eitelkeit heraus entschieden worden war, mag später manch einen der Beteiligten ergriffen haben. Nef zumindest erkannte schon zwei Jahre nach dem Zerwürfnis: „I had many disagreements with my fellow members of the Board and with Otto Simson, but as I look back on the venture and reread some of the numbers, I find myself full of appreciation for the work he did as editor.“202 Noch ein Jahrzehnt später schrieb Hutchins an von Simson mit tiefem Bedauern: „I often wish we could have kept Measure going.“203

6. Späte Jahre und Wirkung Nach dem Scheitern von Measure herrschte im Committee on Social Thought eine gewandelte Atmosphäre, das Verlangen nach gemeinsamen Unternehmungen war offenkundig gedämpft. Auch der politische Rahmen stellte sich bei Beginn der fünfziger Jahre anders dar als während der unmittelbaren Nachkriegszeit, als man sich in der Solidarität mit Deutschland zusammenfand. Erste Erfolge der Adenauer-­Regierung ließen keinen Zweifel, dass die besiegte Nation ihr historisches Tief durchschritten hatte, wohingegen McCarthy seinen unheilvollen Schatten auf die amerikanische Academia warf. Ein größeres Projekt, an dem von Simson federführend beteiligt war, hat der Kreis um John Nef allerdings 1952 noch anzugehen versucht. Es zeigt das sonst so idealistisch verklärte Committee von einer anderen, realitätsnahen Seite. Kein weniger aktuelles Thema 199 Dazu Nefs Memorandum The Suspension of the Publication of Measure vom 25. Juni 1951 in HRP, Box 57, Folder 1. 200 Nef an Regnery, 31. August 1951, in HRP, Box 57, Folder 1. 201 Nef an von Simson, 11. Oktober 1951, in JUNP, Box 56, Folder 10. Die Spannungen z­ wischen den beiden hatten begonnen, lange bevor die erste Nummer von Measure ausgedruckt war; vgl. von Simson an Nef, 9. und 22. März 1949, ebd. 202 Nef an Regnery, 14. Oktober 1953, in JUNP, Box 53, Folder 5. Mit Bedauern, aber ohne Selbstkritik auch Nef (wie Anm. 25), 260. 203 Hutchins an von Simson, 30. September 1963; OvSNL, Kasten 16, Mappe 2.

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als The City of Chicago wollte von Simson damals durch Vorträge, Diskussionsrunden und Ausstellungen einer breiten Öffentlichkeit nahebringen. Mit dem Vorhaben schloss er an eine aufsehenerregende Vortragsreihe vom Herbst 1944 an, The City: Organism and Artifact, die nicht nur von prominenten Mitgliedern der Universität, sondern auch durch Meyer Schapiro sowie die Architekten Mies van der Rohe und Ludwig Hilberseimer unterstützt worden war.204 Der eben erst in Chicago Fuß fassende von Simson hatte an der Abschlussdiskussion mit einem grundsätzlichen Statement teilgenommen.205 Die erneute, für den Herbst 1953 vorgesehene Auseinandersetzung mit der Urbanistik sollte sich auf Chicago konzentrieren und dem Problemkreis aus drei unterschiedlichen Richtungen näherkommen – zunächst der historischen: Wie habe die Stadtbaukunst älterer Epochen ausgesehen – das hätte eine Ausstellung veranschaulichen können – und wie sei Chicago zu dem geworden, was es derzeit darbot? Daneben trat der philosophische Gesichtspunkt – „the understanding of the rational means by which the city, for the sake of the community that is its living form, ought to be improved.“ Einfacher ausgedrückt: Was überhaupt mache eine gute Stadt aus? Der praktische Ansatz sollte schließlich Möglichkeiten abwägen, die zuvor gewonnenen Einsichten in neue Realitäten umzusetzen.206 Unterstützt von Walter H. Blucher, dem Direktor der American Society of Planning Officials, und dem Architekten Alfred Shaw, der zugleich Mitglied der Chicago Planning Commission war, arbeitete von Simson ein entsprechendes Konzept aus. Für das Organisationskomitee hatte er über Blucher, Shaw und Nef hinaus nicht nur Vertreter der städtischen Politik, sondern auch den republikanisch-­konservativen Besitzer und Herausgeber der Chicago Tribune Robert H. McCormick gewinnen können. Die Liste der einzuladenden Gäste zielte auf alles, was in der amerikanischen Stadtplanung und darüber hinaus Rang und Namen hatte – Robert Moses, Louis Mumford, William Wurster, Catherine Bauer, Steen Eiler Rasmussen, Leslie Patrick Abercombie, Le Corbusier und Rudolph Schwarz, der den Wiederaufbau von Köln geleitet hatte, zählten dazu. Warum das an der Schnittstelle von Kultur und gestaltender Politik anzusiedelnde Projekt schließlich im Sande verlief, bleibt undeutlich. Jedenfalls zeigt es von Simson an einem Weg, der sich für seine Vita als zukunftsträchtig erweisen sollte.

204 Für das Programm dieser Veranstaltung und weitere Materialien dazu vgl. JUNP, Box 74, Folder 11. 205 Otto von Simson, The City Planner’s Art and the Nature of Man, in JUNP, Box 74, Folder 11. Der Text wurde am 19. Dezember 1944 vorgetragen. Von den Überlegungen Mies van der Rohes ausgehend, bietet er sehr allgemein gehaltene Gedanken zum Utilitarismus von Architektur und Stadtbaukunst, die der menschlichen Doppelnatur als Individuum und soziales Wesen zugleich gerecht werden sollen. 206 Verschiedene Fassungen des Konzepts und Vorschläge zur Finanzierung sind überliefert in OvSNL, Kasten 9, Mappe „Outline of Conference on the City of Chicago“, sowie in JUNP, Box 74, Folder 11. Soziale Notstände, die auch im Hintergrund der Planungen gestanden haben dürften, beleuchtet Arnold R. Hirsch, Making the Second Ghetto: Race and Housing in Chicago, 1940 – 1960, Cambridge 1983.

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Seine Stellung in Chicago änderte sich während der fünfziger Jahre im Übrigen auch deshalb, weil das Amt des Executive Secretary innerhalb des Committee on Social Thought nun zu rotieren begann. Ob dies ein Schachzug Nefs gewesen war, um von Simson zu „entmachten“, sei dahingestellt. Seinen Forschungen kam die neue Aufgabenteilung zweifellos zugute. Fast will es scheinen, als habe er sich nun auf seine fachliche Herkunft rückbesonnen, denn nach den ebenso anregenden wie unruhigen Jahren des Kontakts mit den Abendländlern und der intellektuellen Expansion, die seine Arbeit für Measure mit sich brachte, stehen unter seinen Korrespondenten erstmals wieder Kunsthistoriker an führender Stelle.207 Bereits im Sommer 1953 brachte er dann eine erste Fassung der Gothic Cathedral zu Papier.208 Die innere Entwicklung des Buches verdient Beachtung, denn mehr als Sacred Fortress, ein Werk, das bei der Ankunft in Chicago schon in Arbeit gewesen sein dürfte, scheint der Band zur Gotik die neue Umgebung des Verfassers zu spiegeln. Am Anfang der Untersuchung stand offenbar der Erwerb einer Serie von Diapositiven gotischer B ­ auten und ihrer Glasfenster, die es vor allem ermöglichten, Fragen der Ausstattung anzugehen. Wie in der Ravenna-­Studie sollte eine ikonographische Arbeit entstehen, wobei Skulpturen und Glasmalereien an die Stelle der Mosaiken getreten wären.209 Zwangsläufig erinnert das an die großen Entwürfe zur französischen Sakralkunst, die Emile Mâle seit 1898 vorgelegt hatte. Schon bald verschob sich die methodische Ausrichtung allerdings zugunsten der Architekturikonographie, die damals in Amerika (Krautheimer, ­Wittkower, Panofsky) und Deutschland (Stange, Sedlmayr, Bandmann) an Boden zu gewinnen begann. Die Ergebnisse des Buches von 1956 sind hier nicht zu diskutieren, noch sei behauptet, dass ­dieses immens erfolgreiche Werk an keinem anderen Ort hätte entstehen können. Dennoch: Einige Parallelen z­ wischen der Gothic Cathedral und den in Chicago verbreiteten Denkmustern drängen sich auf. Das Zusammenspiel der Disziplinen, im Idealfall von Geistes- und Naturwissenschaften, war ein Leitgedanke des Committee on Social Thought. Mit seiner Verbindung von Kunst, Theologie, Mathematik und Musik entspricht von ­Simsons Analyse gotischer Baukunst ­diesem Zugriff voll und ganz. Das Bekenntnis zu einer abendländischen Kultur, die sich aus antiken und christlichen Wurzeln speist, gehörte in Chicago zu den Fundamenten des Bildungsprogrammes, wie es sich am unmissverständlichsten im Kanon der Great Books niederschlug. Mit der im Platonismus verwurzelten, 207 Vgl. OvSP, Box 1, Folder 8 – 9; Box 2, Folder 1 – 2. 208 Zur Entstehung des Textes der Gothic Cathedral vgl. man die Korrespondenz von Simsons mit seiner Assistentin Annice L. Mills in OvSP , Box 1, Folder 8; im November 1953 ging das Manuskript bereits an John D. Barrett von der Bollingen Foundation; im Frühjahr 1954 trafen die auswärtigen Gutachten ein: Box 3, Folder 4. Zur Gothic Cathedral auch Bruno Klein im vorliegenden Band. Dass die gotische Architektur in erster Linie als gebaute Geometrie zu verstehen sei, die ihrerseits die kosmische Ordnung zum Ausdruck bringe, war schon im 19. Jahrhundert gesehen worden; vgl. Wojciech Balus, Gotik ohne Gott? Die Symbolik des Kirchengebäudes im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2016, 94 – 97. Auch die Beziehung von Architektur und Musik wurde damals bereits postuliert. 209 Von Simson an John D. Barrett, 10. April 1950, in OvSP, Box 2, Folder 10.

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über Dionysios Areopagita an das Mittelalter weitergereichten Lichtmetaphysik und der zunächst pythagoreischen, durch die Kirchenväter christlich interpretierten Zahlensymbolik scheint sich die gotische Baukunst genau dieser doppelten Codierung zu verdanken. Is God a Mathematician? hatte Hans Jonas in Measure an einen älteren theologischen Diskurs anknüpfend ernsthaft gefragt, dann allerdings abschlägig geantwortet.210 In M ­ easure, jener immer wieder das Transzendente suchenden Zeitschrift aus dem Umkreis des Committee, deren Autoren auch in den Schöpfungen Michelangelos und Rodins noch den göttlichen Funken erkennen wollten, publizierte von Simson den ersten Baustein seines späteren Buches. Der göttliche Mathematiker, mit dem Zirkel in der Hand seiner Schöpfung zugeneigt, erscheint nach dem Vorbild der Wiener Bible moralisée unter von Simsons Tafeln von 1956 (Abb. 6). Die Konzentration der Abhandlung auf lediglich zwei Bauten, die Abteikirche von Saint-­Denis und die Kathedrale von Chartres, hat erstaunt. Man könnte argumentieren, dass den Great Books hier die Great Buildings zur Seite gestellt werden sollten. An der Organisation einer genau so überschriebenen Vortragsreihe hat von Simson übrigens 1952 mitgewirkt.211 Verwunderung erregte des Weiteren seine Auswahl von Denkmälern, die natürlich nicht rein formgeschichtlich bedingt war, sondern jene beiden Bauten herausgreift, die sich durch die Schriften Sugers von Saint-­Denis, des vermuteten Kronzeugen der Lichtmetaphysik, und die philosophisch-­mathematischen Werke der Schule von Chartres wissenschaftsgeschichtlich wie auch theologisch scheinbar am schlüssigsten kontextualisieren ließen. Von Simsons Argumentation wäre deshalb einiges an Boden entzogen worden, hätte man nachweisen können, dass die vermutete Schule von Chartres nicht in Chartres angesiedelt war. Doch vermochten sich die dahingehend argumentierenden Versuche bislang kaum durchzusetzen.212 Zu pauschal klingt dann auch der spätere Vorwurf, das Buch stelle eine rein geisteswissenschaftliche Arbeit dar, denn viele Seiten sind der Frage gewidmet, wie die Kathedrale von Chartres finanziert wurde. Damit berührt der Verfasser die Wirtschaftsgeschichte, das Fachgebiet John Nefs. Bald nach der Publikation seiner Gothic Cathedral hat von Simson Chicago verlassen. Dass er nach dem Abschluss des Buches neue Herausforderungen suchte, scheint offensichtlich. Ein didaktisches Filmprojekt, The Medieval Vision, das er 1956/57 gemeinsam mit seinem ehemaligen Schüler John W. Meany, inzwischen Manager of Film Production an der Universität Houston, entwickelte, zeugt von dem gleichen Wunsch.213 „The series is designed to dramatize the continuity and unity of the ideological and artistic tradition in the West during the middle ages.“214 Dieser abendländische Kanon, um den es auch jetzt 210 Jonas (wie Anm. 175). 211 Dazu von Simsons Briefe an Fiske Kimball und Huntington Cairns, beide 5. Oktober 1952, in OvSP, Box 1, Folder 7. Die Vortragsreihe war Teil des Erwachsenenbildungsprogramms der Universität. 212 Zur Schule von Chartres zuletzt Roland Halfen, Chartres: Schöpfungsbau und Ideenwelt im ­Herzen Europas, Bd. 4: Die Kathedralschule und ihr Umkreis, Stuttgart 2011. Dort, 10 – 11, zu den Forschungen von Richard W. Southern, der versucht hatte, die Schule von Chartres zur Fiktion zu erklären. 213 Zum Folgenden die Korrespondenz mit Meany in OvSP, Box 2, Folder 1, und Box 3, Folder 1. 214 So das erklärende Blatt ohne Titel in OvSP, Box 3, Folder 1.

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Abb. 6 Gott als Schöpfer der Welt aus der Wiener Bible Moralisée, Codex Vindob. 2554 (nach von Simson, The Gothic cathedral, 1956)

wieder ging, sollte einen Bogen spannen von der Hagia Sophia und den ravennatischen Mosaiken über ausgewählte Beispiele karolingischer Buchmalerei, St. Michael in Hildesheim, Caen und Durham als Hauptwerke normannischer Baukunst in Frankreich und England, über Cluniazenser und Zisterzienser, Chartres und den Kölner Dreikönigen­ schrein bis hin zu Castel del Monte und Giottos Arenakapelle. Das Anliegen, über die Universität hinaus zu wirken, neben den angehenden Spezialisten ein Laienpublikum anzusprechen, hatte zu Hutchins’ hochschulpolitischen Richtlinien gehört. Von Simson hat sich dieser Maßgabe auch durch verschiedene populärwissenschaftliche Publikationen gestellt.215 Für den geplanten Pilotfilm der Medieval Vision, in dessen Mittelpunkt die Kathedrale von Chartres stehen sollte, bearbeitete er dann selbst das Drehbuch. Zu einer Verwirklichung des Projekts kam es allerdings nicht. Neben finanziellen Schwierigkeiten dürfte von Simsons Rückkehr nach Europa hier den Ausschlag gegeben haben. 215 Für die American Peoples Encyclopedia: A Modern Reference Work schrieb von Simson schon 1956 – 57 die Beiträge Gothic Art and Architecture und Illuminated Manuscript; in der Ausg. New York 1969, Bd. 9, 87 – 90, und Bd. 10, 149 – 151. Dazu die Korrespondenz in OvSP, Box 2, Folder 2. Für weitere populärwissenschaftliche Publikationen zu Rubens’ Medici-­Zyklus und die Reihe Man through his Art, London 1963 – 6 4, vgl. von Simson (wie Anm. 93), 232 – 233.

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„Der Abschied aus Europa wird nicht leichter, so oft ich ihn nun auch schon durchgeprobt habe“, schrieb von Simson vor seiner Rückfahrt nach Chicago im Sommer 1951.216 Vermutlich fiel ihm das Leben in der Emigration nach der erneuten Begegnung mit der geliebten Heimat sogar schwerer als zuvor. In Chicago begannen zur gleichen Zeit einige der aus Deutschland Vertriebenen ihre Zelte wieder abzubrechen. Hans Rothfels folgte 1951 einem Ruf nach Tübingen, Ulrich Middeldorf übernahm ein Jahr später die Leitung des deutschen Kunsthistorischen Instituts in Florenz, Wolfgang Liepe ging 1954 nach Kiel zurück, wo er schon vor der Machtergreifung tätig gewesen war, und Arnold ­Bergstraesser wurde 1955 Direktor des Berliner Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Wenn von Simsons Rückkehr über das Auswärtige Amt und die UNESCO führte, so war dieser Weg zum einen seiner Familientradition geschuldet. Hans von ­Herwarth, ein ehemaliger Mitarbeiter Ernst von Simsons, der Otto von Simson schon 1953 in Chicago mit Konrad Adenauer bekannt machte, gab später an, den Kunsthistoriker unter Verweis auf das Vorbild seines Vaters vom Eintritt in den diplomatischen Dienst überzeugt zu haben.217 Das patriotische Gefühl, dem Krieg und Elend der Nachkriegszeit unberechtigterweise entgangen und seinem Land dadurch etwas schuldig geblieben zu sein, mag, wie von Simson selbst betonte, diesen Impuls noch bestärkt haben.218 Aber auch die Wirkung seines Umfeldes in Chicago sollte nicht unterschätzt werden. Dass ein Wissenschaftler politische Verantwortung übernehmen konnte, ja, übernehmen musste, und dies nicht nur in Krisenzeiten, hatte er dort verinnerlicht. Bei Ende der fünfziger Jahre gründete Hutchins, seit 1951 an der Spitze der Ford Foundation, in Washington das Center for the Study of Democratic Institutions, während Nef um die ­gleiche Zeit ein Center for Human Understanding auf den Weg brachte.219 Auch Bergstraesser stand der Politik jetzt nahe. Dessen Institut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gehörte von Simson spätestens 1956 als externer Berater an.220 Bergstraesser war es dann auch, der den ehemaligen Kollegen noch im selben Jahr mit einem Gutachten zur Bonner Kulturpolitik beauftragen ließ.221 Möglich, dass diese Stellungnahme seinen Eintritt ins Auswärtige Amt ein Jahr später erleichterte. Obwohl von Simson während der nächsten zwanzig Jahre nicht mehr nach Chicago zurückkehren sollte, haben sich einige der damaligen Verbindungen bewährt. Nef unterbreitete dem UNESCO-Delegierten schon 1961 ein erneutes Angebot als Professor am Committee on Social Thought: „We have missed you very much during the past four 216 So an Burckhardt, 7. August 1951, in CJBNL, G 6730, 18. 217 Hans von Herwarth, Zwischen Hitler und Stalin: Erlebte Zeitgeschichte 1931 – 1945, Frankfurt a. M. 1982, 29; ders., Von Adenauer zu Brandt: Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1990, 156. Interesse an einer Stellung im diplomatischen Dienst hatte von Simson schon vor dem Besuch Adenauers von 1953 bekundet; vgl. Herwarth an von Simson, 11. Januar 1952, in OvSP, Box 1, Folder 8. 218 So in dem in Anm. 98 zitierten Fernsehinterview. 219 Für Hutchins’ Gründung vgl. die Literatur in Anm. 3. Zu Nefs Initiative ders. (wie Anm. 25), ­passim (Index s. v. ‚Center for Human Understanding‘). 220 Reginald Lang an von Simson, 28. Mai 1956, in OvSP, Box 2, Folder 2. 221 So das Fernsehinterview von 1983 (wie Anm. 98).

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years and it will be a delight to have you back.“222 Mit einem Gehalt von 12.000 Dollar konnte er allerdings nicht mehr in die Waagschale werfen, als man dort schon 1950 verdient hatte. Von Simson lehnte den Vorschlag zwar ab, war in späteren Jahren aber wieder mit Nef befreundet.223 Hutchins unterstützte den ehemaligen Mitarbeiter noch einmal, als sich dieser 1963, des diplomatischen Dienstes müde, in Oxford bewarb. Neben T. S. R. Boase und Herbert von Einem steuerte er eines von drei geforderten Empfehlungsschreiben bei.224 Auch die Einladung nach Oxford nahm von Simson in Erwartung eines Rufes an die Freie Universität nicht an. Henry Regnery, der seinen politischen Überzeugungen treu bleiben sollte, feierte von Simson noch 1979 in seinen Memoiren als Vorbild, weil er an der Freien Universität „a leading role and a courageous part in the fight to save the university from communist domination“ übernommen habe, enthüllte allerdings nicht, dass er selbst diesen Kampf, von der Notgemeinschaft für eine Freie Universität mit einschlägigen Materialien ausgerüstet, durch Vorträge und Zeitungsartikel unterstützt ­hatte.225 Auch Regnery blieb von Simson lange verbunden. In eine der Lebenslinien von Simsons fügten sich die Jahre in Chicago mühelos ein. Sie führt vom Hochland über die katholischen Colleges der U. S. A. und das Committee on Social Thought auf direktem Wege zur Berliner Guardini-­Gesellschaft. Man mag darüber streiten, ob auch seine Tätigkeit für die UNESCO auf dieser Linie lag. Die ihn 1964 nach seiner Rückkehr an die deutsche Hochschule erwartende „Suhrkamp-­Kultur“ sowie die bald darauf ausbrechende Studentenrevolte und deren jahrelange Nachwehen taten es zweifellos nicht.

222 Nef an von Simson, 26. März 1961, in OvSNL, Kasten 41, Mappe 3. 223 Die Briefe in JUNP, Box 7, Folder 7, dokumentieren die späte Freundschaft. 224 Hutchins an von Simson, 30. September 1963, in OvSNL, Kasten 16, Mappe 2. Kopien der drei Empfehlungsschreiben und anderer Dokumente den – eigentlich schon angenommenen – Ruf nach Oxford betreffend in EWP, Ms. 13, Folder 5. 225 Regnery (wie Anm. 141), 57. Zu Regnerys späten Kontakten (1965 – 1979) mit von Simson und der Notgemeinschaft HRP, Box 7, Folder 7; sowie OvSNL, Kasten 14, Mappe 7.

Ingeborg Becker

Der Blick nach Innen Otto von Simson und die Malerei des 19. Jahrhunderts Im Vorwort des 1986 in Berlin erschienenen Buches Der Blick nach Innen schreibt Otto von Simson: Die folgenden vier Versuche über Caspar David Friedrich, Carl Spitzweg, Ludwig Richter und Wilhelm Leibl haben langsam Gestalt angenommen. Sie sind aus Vorlesungen über die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts, die ich zuvor vor mehr als zehn Jahren an der Harvard Universität, später dann in Berlin gehalten habe, sozusagen herausgefallen wie reife Kastanien aus ihrer Stachelschale. Meinen Studenten in Harvard und an der Freien Universität schulde ich Dank für ihre Mitwirkung an der allmählichen Klärung meiner Gedanken.1

Von Simson, der für seine Veröffentlichungen zur mittelalterlichen Sakralkunst bekannt und berühmt wurde, verweist mit dieser späten Publikation auf eine völlig andere Facette seiner kunsthistorischen Forschung. Was sich vielleicht dem unbefangenen Leser wie ein im Laufe eines langen Gelehrtendaseins herauskristallisiertes neues Forschungsgebiet darstellt, diesmal allerdings an ein allgemeines Publikum gerichtet, weist jedoch bei näherer Betrachtung Kontinuität auf. Als frühes und einziges erhaltenes Kollegheft aus von Simsons Studienzeit bei Wilhelm Pinder in München findet sich im Nachlass ein kleiner Schnellhefter, in dem seine Vorlesungsmitschrift vom Wintersemester 1931/32 über die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts festgehalten ist (Abb. 1 a–c). Zwar unter Einbeziehung der Franzosen, liegt aber offensichtlich der Schwerpunkt auf der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts. Von Simson notiert: C. D. Friedrich, Mönch am Meer, schärfster Gegensatz zu früheren, ganz niedriger Horizont! Hier ist der Mensch nicht mehr Zentrum wie im Klassizismus. ER will sich auflösen in der Unendlichkeit. Symbol der Romantik. Ph. O. Runge ist ein sehr viel unruhigerer, dämonischerer umstürzlerischer Geist, aber auch wie alle von politisch-­freiheitlicher Unruhe erfüllt, gegen Napoleon. In seinen Bildern ist aber immer noch die Neigung zu geschlossener Monumentalität. Gegensatz Turner, der die romantische Gesinnung – […] […] viel stärker in sich trägt. Friedrichs Romantik ist dagegen sehr viel „ordentlicher“, biedermeierlicher. Eins seiner bedeutendsten Bilder das eingefrorne Wrack (Abb. 2).2 1 2

Otto von Simson, Der Blick nach Innen. Vier Beiträge zur deutschen Malerei des 19. Jahrhundert, Berlin 1986. Hs. Vorlesungsmitschrift (Kollegheft): Bez. auf dem Deckel: Pinder Kunstgeschichte des 19 + 20. Jahrh Winter 1931/2, Kl. Oktav, Sonnecken-­Hefter, 20 Blätter (40 Seiten), unpag., Tinte; Berlin,

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Abb. 1 a–c Otto von Simson, Vorlesungsmitschrift (Kollegheft) „Pinder. Kunstgeschichte des 19 und 20. Jahrh Winter 1931/2“, Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung

Das weitere Interesse für die Malerei des deutschen 19. Jahrhunderts zeigt sich dann in einem Beitrag für die liberal-­katholische Kulturzeitschrift Hochland, an der von Simson in den 30er Jahren auch redaktionell tätig war. 1937 erscheint dort der kleine Aufsatz über den österreichischen Maler Ferdinand von Rayski,3 ein zweiter Essay über Philipp Otto Runge kann auf Grund der politischen Situation und von Simsons Emigration nicht mehr zum Druck gelangen. In einem Brief vom 31. Januar 1939 dankt der Hauptschriftleiter Franz Josef Schöningh von Simson für seine Mitarbeit und bedauert, dass sein Aufsatz über Runge vor seiner Abreise in die USA nicht mehr publiziert werden konnte; er beteuert aber: „Die Veröffentlichung ­dieses Aufsatzes wird dem ‚Hochland ‘ zur Ehre gereichen, zumal auch hier wieder Ihre schriftstellerische Begabung sehr deutlichen Ausdruck findet.“4 Der Essay erscheint 1942 in den USA als Veröffentlichung im Art Bulletin auf Englisch: Philipp Otto Runge and the Mythology of Landscape.5

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Staatsbibliothek, Nachlass 290, Kasten 11. Ein Vortrag von Simsons im Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin kehrt noch einmal an die Wurzeln zurück; am 3. Juni 1988 spricht er über seinen Doktorvater: „Wilhelm Pinder und die deutsche Kunst – Kunstgeschichte ­zwischen Nationalismus und Drittem Reich“. Otto von Simson, Ferdinand Rayski, in: Hochland, 34, 1937, 508 – 511. Nachlass 290, Kasten 41, Mappe 2; der Brief suggeriert, dass der Artikel noch im Hochland erscheinen soll. Die Abreise wird noch nicht als Exil gesehen, obwohl die „Schwierigkeiten der Zukunft“ angedeutet werden. Otto Georg von Simson, Philipp Otto Runge and the Mythology of Landscape, in: The Art Bulletin, 24, 4, 1942, 335 – 350.

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Exkurs: Das 19. Jahrhundert in der kunsthistorischen Forschung bis in die 1970er/80er Jahre Das 19. Jahrhundert bedeutet seit den 1970er Jahren eine Erweiterung des traditionellen Begriffs der Kunstgeschichte. Bildmuster der Hochkunst werden mit dem Einbezug auch des Trivialen sichtbar gemacht. Die Einführung populärer Medien wie Plakat und Werbung spielte im interkulturellen Dialog eine Rolle. Der Kunsthistorikertag in Köln 1970 konstatierte erstmals die „Umformung zu einer massenmedialen Gesellschaft“ und richtete sich gegen eine Kunstgeschichte als „Weltfluchtfach“. Aby ­Warburgs „Kunstgeschichte als allgemeine Bildwissenschaft“ gewann enorme Signifikanz für eine Generation junger Kunsthistoriker.6 Auch die Museen entdeckten neue Felder. Ehemals als „peinlich empfundene Fehlleistungen“ wie Gründerzeit und Salonkunst rückten in den Fokus der Betrachtung.7 Die Ausstellung Ein Geschmack wird untersucht, 1970 in der Hamburger Kunsthalle, gab dem Interesse nach solchen Th ­ emen öffentlich Raum. Der Kanon wurde überprüft, die Depots der Museen einer näheren Betrachtung unterzogen. Das 19. Jahrhundert erschien auf einmal als ein neues Gebiet, das sich großer Beliebtheit erfreute. Es äußerte sich ebenfalls im Wissenschaftsdiskurs und in zahlreichen Forschungsvorhaben, die jetzt auch Kleinmeister der zweiten und dritten Reihe untersuchten. Dieser neue Blick auf das 19. Jahrhundert erwies sich als der Beginn vom Ende der tradierten Kunstwissenschaft, die sich immer mehr der Gegenwartskunst annäherte.8 In den gesammelten Essays Werner Hofmanns, die er 1979 in dem Band Bruchlinien – Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts 9 veröffentlichte, finden sich unterhaltsame Abhandlungen über Rangfragen in der neueren Kunst, Artikel, die in den Jahren 1970 bis 1973 erschienen waren. Mit dem Beitrag Zu einer ­Theorie der Kunstgeschichte, der den Band eröffnet, setzt sich Hofmann mit dem Buch auseinander, das bereits 1948 erschienen war und seit Beginn der 1950er Jahre in ungekannter Weise polarisierte, mit Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte, das den Untertitel Die Bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit trägt.10 6

Vgl. Der Marburger Bildersturm. Ein Gespräch mit Horst Bredekamp, in: ZIG – Zeitschrift für Ideengeschichte, 2012, 2, 91 – 104, hier 92, 94. 7 Werner Hofmann, Vorwort, in: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts, München 1960, überarb. Neuaufl. 1974. 8 Siehe Bredekamp (wie Anm. 6), 96: „Mittlerweile ist die Kunstgeschichte so weit umgeschlagen, dass sie zu einer Gegenwartswissenschaft zu werden droht. Diese Seite des Erfolges ist ziemlich fatal.“ 9 Werner Hofmann, Bruchlinien – Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München 1979. 10 Ebd., 16. Hier wird konstatiert, dass bei Sedlmayr eine Pathologisierung, eine Art „Krankengeschichte“ der Kunst des 19. Jahrhunderts vorgenommen wird, verdeutlicht schon mit der Einteilung seines Buches in „Symptome“, „Diagnose und Verlauf“, „Zur Prognose und Entscheidung“. Nachruf und Würdigung anlässlich des Todes von Hans Sedlmayr 1984 durch Willibald S­ auerländer in der Wochenschrift Die Zeit, Nr. 30, 1984: Zum Tod von Hans Sedlmayr: Ein heimlicher Moderner. Hans Belting trat 1995 mit seinem Buch Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995, in den Diskurs zur Einbeziehung der Ikonographie des Alltags in die Kunstgeschichte ein.

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Abb. 2 Caspar David Friedrich, Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung), um 1823/24, Öl auf Leinwand, 96,7 × 126,9 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. 1051

Der öffentliche Siegeszug mit der Beschäftigung der Kunst des 19. Jahrhunderts betraf besonders die deutschen Künstler dieser Epoche. Hier öffnete sich noch ein spezielles Forschungsfeld. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im Sinne einer Polarisierung französische Kunst der Moderne als nicht adäquat dem deutschen Empfinden gegenüber gestellt – und vice versa von der Partei der Fortschrittlichen die deutsche Kunst als in keiner Weise der Modernität der Franzosen gleichrangig erachtet. Von konservativer Seite betraf diese Abneigung sogar die deutschen Impressionisten, als normgebend galt die akademische nationale Historien- und Genremalerei. Die romantische deutsche Malerei des frühen 19. Jahrhunderts war zudem in Vergessenheit geraten. C. D. Friedrich und auch das Frühwerk des jungen, „impressionistischen“ Adolf Menzel aus den 1850/60er Jahren wurden erst durch die sogenannte „Jahrhundertausstellung“ 1906 in der Berliner Nationalgalerie überhaupt einem größeren Publikum bekannt gemacht.11 Die neuartige Ausstellungskonzeption sorgte für viel Furore und führte zur 11 Der vollständige Titel lautete Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775 – 1875 in der Königlichen Nationalgalerie Berlin und steckte damit den zeitlichen Rahmen von Künstlern aus

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Wiederentdeckung der Maler des frühen 19. Jahrhunderts.12 In der Kritik galt das deutsche 19. Jahrhundert bis dato als nicht unbedingt gleichrangig mit anderen Kunstäußerungen des Deutschen,13 aber die „nachhaltige Kanonisierung C. D. ­Friedrichs gehört zu den wichtigsten Ergebnissen der Jahrhundertausstellung“. Es „setzte ein Popularisierungsprozess ein, in dessen Folge Friedrichs Bekanntheitsgrad denjenigen aller anderen Maler, die um die Jahrhundertwende ebenfalls aufgewertet wurden, weit hinter sich lassen sollte.“14 Friedrich avancierte dann in den Folgejahren zum „deutschen“ Künstler schlechthin. Hier fand sich ein beruhigter, empfindsamer, gleichwohl künstlerisch qualitativ hochstehender Gegenentwurf zu den Herausforderungen neuer, von Dissonanzen bestimmter Kunstäußerungen, und nachvollziehbar erscheint es auch, dass diese deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts sich einer besonderen Hochachtung seitens der Kunstpolitik der Nationalsozialisten erfreute.15 Dazu kam, dass die Vorliebe für Friedrich auch eine versteckte politische, „heroische“ Botschaft seines Bildkosmos beinhaltete: die Zeit der Freiheitskriege mit der nationalen Erhebung der Deutschen gegen Napoleon. Aus dieser Melange erklärt sich wohl auch zum Teil die vehemente Ablehnung der gegenständlichen Malerei nach 1945, und erst zu Beginn der 1970er Jahre kam es zu einer Wiederentdeckung der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts. Es wurden große monographische Ausstellungen realisiert, die auf die aktuellen Werkverzeichnisse zu Malern der deutschen Romantik zugreifen konnten: Wegweisend war hierin die Hamburger Kunsthalle ab 1972 mit dem Ausstellungszyklus Kunst um 1800.16 Als besonderer Publikumsmagnet erwies sich 1974 die Ausstellung zum Werk Caspar David Friedrichs. Schon zwei Jahre früher, mit einer Ausstellung in der Tate Gallery London, setzte auch

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deutschsprachigen Ländern ab. Als Herausgeber des zweibändigen Katalogs zeichnete der Vorstand der Deutschen Jahrhundertausstellung, zu dem die Museumsdirektoren Hugo von Tschudi und Alfred Lichtwark aus Hamburg gehörten. Die Bände erschienen im Verlag von F. ­Bruckmann 1906 in München. Angelika Wesenberg, Impressionismus und ‚Deutsche Jahrhundertausstellung Berlin 1906‘, in: Ausstellungs-­Katalog Manet bis Van Gogh. Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne, hg. von Georg Prinz von Hohenzollern und Peter Klaus Schuster, München/New York 1996, 364 – 370, hier 364: „Blechen feiert Triumphe. Vor Friedrich stehen die Menschen mit weitaufgerissenen Augen […]“. Christian Scholl, Revisionen der Romantik. Zur Rezeption der „neudeutschen Malerei“ 1817 – 1906, Berlin 2012, 638. Gleichwohl erschienen auch bereits vor der Jahrhundertwende Kompendien zur deutschen Kunst, so beispielsweise Richard Muther, Geschichte der Malerei des XIX. Jahrhunderts, Bd. 1.2, München 1893; Cornelius Gurlitt, Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1899, sowie Rudolf Klein, Ein Jahrhundert deutscher Malerei, Berlin 1906. Scholl (wie Anm. 13), 636. Birgit Schwarz, Geniewahn: Hitler und die Kunst, Wien/Köln/Weimar 2009. Caspar David Friedrich, 1974; Runge in seiner Zeit, 1977, insgesamt sind es neun Ausstellungen, der Zyklus geht 1982 zu Ende. Die Werkverzeichnisse stammen von Helmut Börsch-­Supan, C. D. Friedrich, München 1973, und Jörg Träger, Runge, München 1975. Von Bedeutung für die kunstgeschichtliche Neubewertung des 19. Jahrhunderts wurde auch das große Forschungsprojekt „Materialien zur Kunst des 19. Jahrhunderts“ der Fritz Thyssen Stiftung, das 1962 begründet wurde; ab 1965 erschienen die ersten Veröffentlichungen, 1982 wurde die Reihe abgeschlossen.

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Abb. 3 Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer, um 1818, Öl auf Leinwand, 98,4 × 74,8 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. 5161

international die Wahrnehmung von Friedrich als einer der gefragtesten deutschen Maler ein (Abb. 3). Anlässlich der Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle und der allgemeinen Begeisterung über den geheimnisvollen romantischen Maler und seinen enigmatischen Kosmos erschien die Provokation des Kunst-­Generalisten Bazon Brock – Dreh Dich endlich um, Kerl – Ein Versuch, Caspar David Friedrichs Rückenfiguren ins Gesicht zu sehen 17 – wie eine zeitgenössische Rezension schreibt: „ziemlich konkurrenzlos Brocks Arbeiten über die Rückenfiguren C. D. Friedrichs“. Die hier nur in Umrisslinien dargestellte Forschungssituation zur deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts versucht, die Neubewertung einer Epoche in der Nachkriegszeit aufzuzeigen, die zudem durch starke nationale Ideologisierung der vergangenen Jahrzehnte belastet worden war. 17 Essay für die Frankfurter Rundschau vom 5. 10. 1974, abgedruckt in: Bazon Brock, Ästhetik als Vermittlung, Köln 1977, 384 – 393. Bazon Brock, geb. 1936: Künstler, Kunsttheoretiker, Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung.

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Die Bedeutung der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts für Otto von Simson Bei von Simson lässt sich eine fast ausschließliche Beschäftigung mit deutschen Malern ­dieses Jahrhunderts nachweisen. Diese nationale Ausrichtung erstaunt zunächst, denn von Simson hatte das Privileg, bereits als Jugendlicher mit der bedeutenden Sammlung moderner französischer Kunst des 19. Jahrhunderts in der großelterlichen Villa von Franz Oppenheim in Berührung zu kommen.18 In der weiteren Verwandtschaft war es die internationale Sammlung der klassischen Moderne von Paul und Charlotte von Mendelssohn-­ Bartholdy, mit herausragenden Gemälden der Rosa und Blauen Periode Picassos und den berühmten Sonnenblumen von Van Gogh sowie Bildern von Braque, Degas und Henri Rousseau. Beide Sammlungen kamen durch frühe Erwerbungen bei dem Berliner Kunsthändler Paul Cassirer zustande.19 Der Erwerb von Kunstbesitz, besonders von moderner französischer Kunst, entsprach einem reich gewordenen Bürgertum auf der Suche nach gesellschaftlichen Ausdrucks- und Würdeformen, das sich durch ausgesuchte Kennerschaft ausweisen konnte.20 Das allgemeine Kunst-­Klima der wilhelminischen Vorkriegszeit war jedoch anti-­modernistisch und besonders anti-­französisch geprägt.21 Hinzu kam, dass die großen Sammlungen der Moderne hauptsächlich von Angehörigen der liberalen jüdischen Berliner Oberschicht angelegt wurden, die zwar national eingestellt waren, aber durch ihre hochrangigen Positionen im Bank- und Wirtschaftswesen, in Wissenschaft und Kunst einen internationalen Horizont hatten. Die konservative Stimmungsmache gegen die moderne französische Kunst erhielt dadurch zusätzlich eine verkappte antisemitische Tendenz.22 Die Kampfschrift von Carl Vinnen Ein Protest 18 Die Sammlung Oppenheim besaß Bilder von Cézanne, Manet, Van Gogh und wurde hauptsächlich durch Margarete Oppenheim bestimmt. Siehe Sebastian Panwitz, „…das Departement Kunst untersteht meiner Frau“ – Margarete Oppenheim und ihre Sammlung, in: Aufbruch in die Moderne. Sammler, Mäzene und Kunsthändler in Berlin 1880 – 1938, hg. von Anna Dorothea Ludewig u. a., Köln 2012, 120 – 135, als Anhang, 129 f.: Verzeichnis der Gemäldesammlung Margarete ­Oppenheim (in Zusammenarbeit mit Anna-­Carolin Augustin). Freundlicher Hinweis von Miriam-­Ester Owesle sowie ihr Vortrag Die Kunstsammlung Franz Oppenheim in der Galerie ­Mutter Fourage in Berlin-­ Wannsee am 22. Juli 2018. 19 Julius H. Schoeps, Wegbereiter der Moderne. Die Mendelssohns als Mäzene und Sammler, in: Aufbruch in die Moderne (wie Anm. 18), 192; Charlotte, verh. Mendelssohn-­Bartholdy, war die Tochter Margarete Oppenheims aus erster Ehe. 20 Siehe Thomas W. Gaehtgens, Vom Inhalt zur Form. Deutsche Sammler und französische Moderne, in: Andrea Pophanken und Felix Billeter, Die Moderne und ihre Sammler. Französische Kunst in deutschem Privatbesitz vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Berlin 2001, 2. 21 Siehe dazu beispielsweise die sog. „Tschudi-­Affäre“. Hugo von Tschudi (1851 – 1911), Direktor der Nationalgalerie Berlin, wurde 1909 seines Amtes enthoben, da er durch umfangreiche Ankäufe von Werken der französischen Moderne in Misskredit geraten war. 22 Dem einflussreichen Kunstkritiker Julius Meier-­Graefe (1865 – 1937), der sich bereits sehr frühzeitig publizistisch für die französischen Impressionisten und Van Gogh eingesetzt hatte, wurde in d ­ iesem Zusammenhang von der konservativen Presse seine jüdische Herkunft vorgehalten. Paul Cassirer,

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­deutscher Künstler von 1911,23 speziell gegen Überfremdung durch die moderne französische Malerei und hier besonders gegen den Ankauf von Van Goghs Mohnblumenfeld durch die Bremer Kunsthalle, passte in diese Stimmungslage. Bereits die frühe Präferenz des jungen Otto von Simson für die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts lässt sich vielleicht, neben einer persönlichen Vorliebe, auch aus einer gewissen Verweigerungshaltung gegenüber der familiär prononcierten internationalen Ausrichtung und aus seiner Neigung zum Katholizismus erklären. Möglicherweise spielt auch seine Bewunderung für den charismatischen Dichter Stefan George (1868 – 1933) eine Rolle, dessen hermetisches Weltbild, unter anderem, die Vorstellung eines „Geheimen Deutschlands“ propagierte.24 Er wurde aber sicher auch, wie eine Generation von Kunsthistorikern vor ihm, durch die „Jahrhundertausstellung 1906“ geprägt, die in einer aufwendigen Publikation für die Nachwelt dokumentiert worden war und zu einer Neubewertung der romantischen Malerei geführt hatte. Die gesellschaftlich konservative Atmosphäre seines Studienortes München trug wahrscheinlich noch das Ihrige bei. Hier bestimmten der Kunstverleger Hugo Bruckmann und die Repro-­Anstalt des Photographen Heinrich Hoffmann wesentlich den Kunstgeschmack, die Schack-­Galerie zeigte eine Sammlung, die ausschließlich deutscher Malerei des 19. Jahrhunderts gewidmet war. Um 1930, dem Beginn seiner Studienzeit, galt sein Interesse einem Gebiet, das durchaus neben der ästhetischen Wertigkeit zu ­diesem Zeitpunkt noch neue wissenschaftliche Erkenntnisse versprach, und für von Simson verlor die deutsche Malerei dieser Epoche auch weiterhin nichts von ihrem Reiz. Im Nachlass finden sich spätere ausführliche Notizen zu C. D. Friedrich, Leibl, Feuerbach, der Düsseldorfer Akademie, der Düsseldorfer Schule, zu Menzel, allerdings keine separate Veröffentlichung, obwohl von ihm wiederholt als „einer der größten deutschen Maler“ bezeichnet, zu Blechen, Waldmüller, Marées, Böcklin, Makart, Richter und anderen.25 dessen Kunsthandlung Zentrum der modernen Franzosen war, entstammte ebenfalls einer bedeutenden jüdischen Familie und war entsprechenden Angriffen ausgesetzt. Auch der jüdische Maler Max L ­ iebermann, der von Tschudi in seinen Ankäufen unterstützte, sah sich mit diesen Ressentiments konfrontiert. 23 Carl Vinnen (1863 – 1922) war als Maler und Kunstschriftsteller tätig und galt als assoziiertes Mitglied der Künstlerkolonie Worpswede. Seine Streitschrift, erschienen 1911 im konservativen Verlag Eugen Diederichs (Jena), führte zur Kontroverse mit der Fraktion der fortschrittlichen Künstler, deren Erwiderung, die Publikation Im Kampf um die Kunst (1911), in dem der Moderne zugewandten Piper-­Verlag erschien und den sogenannten „Bremer Künstlerstreit“ auslöste. 24 Im Italienischen Tagebuch (siehe den Beitrag von A. M. Voci im vorliegenden Band) notiert von ­Simson wiederholte Besuche bei Karl Wolfskehl (1869 – 1948) in Florenz. Der deutsch-­jüdische Germanist und Dichter Wolfskehl gehörte zum Stefan George-­Kreis, sein Werk ist geprägt von nationalen ­Themen. Von Simson erwähnt in seinen Aufzeichnungen mit ihm Gespräche über deutsche Literatur (E. T. A. Hoffmann, Hölderlin, Kleist, u. a.); vgl. im vorliegenden Band A. Voci, 67. Wolfskehl hielt sich seit 1933 in Italien auf, um dann später nach Neuseeland zu emigrieren. Bei diesen Zusammentreffen wird auch der Historiker Percy Gothein erwähnt, der ebenfalls zum George-­Kreis gehört. 25 Nachlass 290, Kasten 7, Manuskript, keine Paginierung, Mappe „Realism, Diverses zum 19. Jahrhundert“.

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In d ­ iesem Zusammenhang ist es auch verständlich, dass die deutsche „Moderne“ nicht sein Interesse findet, abgesehen von einem k­ urzen Bezug auf Franz Marc, mit dessen Aphorismus der Runge-­Aufsatz von 1942 schließt: „Lastly, in his color mysticis, Runge appears as a forerunner of the Expressionists. Due to its emotive qualities, color provided the magic weapon with subjectivism could dominate (romantisieren) the world. […] As the German expressionist Franz Marc wrote: ‚Unsere Seelen zogen den Farben nach in die letzte Tiefe‘.“26 Keine der neueren deutschen Kunstströmungen wird aber einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Weder die Maler der Brücke noch des Blauen Reiters sind für ihn von Interesse, die bereits mit bedeutenden Ausstellungen in Berlin und München im Deutschland der ersten Vorkriegszeit präsent vertreten waren. Als einzige Ausnahme ist allein eine spätere essayistische Reflektion über Max Beckmann zu vermerken, die noch während seines Amerika-­Aufenthalts erschien.27 Interessanterweise befand sich in der Sammlung französischer moderner Kunst seiner (Stief-)Großmutter, Margarete Oppenheim, neben einem Gemälde von Max Slevogt als einzige weitere Ausnahme deutscher Malerei Die Loge von Max Beckmann.28 Bei dem Beitrag in der Zeitschrift Measure handelt es sich um einen Nachruf auf den deutschen Maler, der 1950 in New York starb, „without doubt the most important German painter of his generation“.29 Beckmanns Kunst und sein Leben werden für von Simson gleichsam als Spiegelbild der deutschen Tragödie empfunden, brutal und deutlich vor Augen geführt, da der Künstler konsequent dem Abbildhaften verbunden bleibt, ohne aber eine politisch ideologische Vereinnahmung zu zeigen und ohne in eine surreale Traumwelt auszuweichen oder aber eine abstrakte Formgebung zu wählen, „the most anemic form of artistic escapism.“30 Die beigefügte Abbildung, Beckmanns Raub der Europa (1933), deute ein an sich graziöses Thema der Kunstgeschichte in ein Bild von Leiden und brutaler Gewalt um: „It is as if it were the frontispiece of our age.“31 Nach von Simsons Rückkehr nach Deutschland sind von ihm kleinere Veröffent­ lichungen nachzuweisen, aber auch Vorträge, die angesichts des vielschichtigen ­Diskurses zum 19. Jahrhundert in der kunsthistorischen Öffentlichkeit wahrscheinlich auch der Zeitstimmung entsprachen.32 26 Von Simson (wie Anm. 5), 350. 27 Otto Georg von Simson, Max Beckmann, in: Measure. A Critical Journal, 2, 1951, H. 3, 320 – 323. Siehe auch die vertiefenden Ausführungen in dem Beitrag Chicago und das Abendland von Ingo Herklotz in d ­ iesem Band. Den freundlichen Hinweis auf diesen unbekannten Text von S­ imsons und seine Bereitstellung verdanke ich Ingo Herklotz. 28 Die Loge, 1928, Öl/Lw., 121 × 85 cm, Erstbesitz Julius Meier-­Graefe, jetzt Staatsgalerie Stuttgart, erworben 1968, Inv.-Nr. 2809. 29 Von Simson (wie Anm. 27), 320. Interessanterweise bezieht sich von Simson ausdrücklich auf die 1949 erschienene Publikation von Benno Reifenberg und Wilhelm Hausenstein, Max Beckmann, Piper-­Verlag München, und stellt damit seine Kenntnis der aktuellen deutschen Kunstliteratur unter Beweis. 30 Ebd., 321. 31 Ebd., 322. 32 Nachlass 290, Kasten 7, zum Beispiel der Vortrag Karl Spitzweg – Idylle und Satire in der Kunstwissenschaftlichen Gesellschaft Berlin am 22. März 1974 und ebenso am 2. Februar 1976 in der

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Zur Genese des Buches In der Publikation Der Blick nach Innen, erschienen 1986, bündelt von Simson gleichsam seine diversen Vorstudien und Notizen in der Darstellung von vier Malern, deren Zusammenstellung zunächst ungewöhnlich anmutet: Friedrich, Spitzweg, Richter, Leibl. Im Nachlass finden sich umfangreiche Konvolute, an denen sich die komplizierte Entstehung d ­ ieses Buches nachverfolgen lässt. Es existieren zwei englische Fassungen, einmal als Manuskript und zum anderen als ausgearbeitetes Typoskript. Beide Fassungen beschäftigen sich zunächst nur mit drei Künstlern, nämlich Friedrich, Spitzweg und Leibl. Der wohl als Arbeitstitel gedachte Oberbegriff lautet „Symbolic Structures“.33 Ebenso sind ein handschriftliches Notiz-­Konvolut und ein Typoskript auf Deutsch vorhanden.34 In der englischen wie auch in der deutschen Fassung der Vorstudien präzisiert von Simson bereits die Symbolic structures seiner drei ausgewählten Maler als eine Ergänzung zur Bildinterpretation. Diesen wissenschaftlichen Diskurs, der besonders durch Erwin Panofsky angestoßen wurde,35 nimmt von Simson auf, wenn er bemerkt, dass Ikonologie wieder in der Kunstgeschichte geschätzt werde, nachdem man sich zu sehr auf valeurs ausgerichtet habe, auf koloristische Effekte, Farbauftrag, Interpretation und formalen Aufbau: „Iconology is not really concerned with the aesthetic qualities of the painting“. Bei einem Künstler, der wiederholt eine bestimmte Botschaft durch sein Werk gibt, müssen wir annehmen, dass es unbewusst geschieht.36 Von Simson führt aus, dass hier Bildstrukturen vorzufinden ­seien, die sich nicht unbedingt durch das Thema erklären lassen: Auf den ersten Blick mögen sie ­diesem sogar widersprechen oder aber eine ganz bestimmte und eigenartige Bedeutung mitteilen, und sie ­seien auch keineswegs an ein Thema gebunden. Sie geben Einblick in die Persönlichkeit des Künstlers, in seine Lebenserfahrung, in sein Verhältnis zur Welt; der Bildanlage komme damit symbolische Bedeutung zu, sie werde zur symbolischen Struktur.37 In den handschriftlichen Notizen werden die „Symbolischen Strukturen“ noch einmal

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Staatswissenschaftlichen Gesellschaft zu Berlin. Höchstwahrscheinlich ein Vortragstext zu Karl Philipp Fohr, Italiänische Landschaft mit Hirten (Darmstadt, Wolfsgarten, Prinzessin von Hessen), Mappe 7. Als Veröffentlichungen erschienen die Beiträge Über einige Zeichnungen von Karl Blechen (Festschrift für Margarethe Kühn, München 1975) und Über die symbolische Bildstruktur einiger Gemälde von C. D. Friedrich (Festschrift für Jan Białostocki, Warschau 1981). Siehe Der Blick nach Innen, Vorwort, die Vorlesungen in Harvard betreffend, sowie die Danksagung und der Hinweis auf die Forschungsprofessur der Kress Foundation an der National Gallery Washington. Hs. Manuskript (Kugelschreiber) auf Englisch: Symbolic Structures (Vorstufe zum Typoskript?), Papier, weiße linierte Quartbogen, z. T. hälftig getrennt; Typoskript englisch: C. D. Friedrich, Spitzweg, Leibl, Nachlass 290, Kasten 7, zwei Mappen, weiße Quartbogen, Kap. I–III. Typoskript deutsch sowie Notiz-­Konvolut, hs. deutsch, Mappe „Realism. Diverses zum 19. Jahrhundert“, Nachlass 290, Kasten 7. Erwin Panofsky, Studies in Iconology, New York 1939. Nachlass 290, Kasten 7, Typoskript englisch, weiße Quartbogen, Seite 1. Nachlass 290, Kasten 7, Typoskript englisch, Seite 3.

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mit großen Namen garniert – nicht gedacht sei, so von Simson, an eine Strukturanalyse im Stil der Wiener Schule (oder) an den Strukturalismus im Sinne [Roland] Barthes’ und Levi-­Strauss’.38

Deutsche Fassung: Manuskript und Buch Das deutsche Typoskript zum Blick nach Innen beschäftigt sich zunächst, wie das englische, mit drei Malern des 19. Jahrhunderts: Friedrich (I.), Spitzweg (II .), Leibl (III .). Die Auswahl betrifft mit diesen Künstlern eine Generationenabfolge, mit der ein Jahrhundert gespiegelt werden kann. Ein Unterfangen, „dass die Verschiedenheit der Drei untereinander“ zeige, und „wie fragwürdig es überhaupt ist, ein Jahrhundert als eine Art von Einheit zu sehen“.39 Das erste Kapitel d ­ ieses Versuches galt C. D. Friedrich, dem bedeutendsten Maler der deutschen Romantik, das zweite war Spitzweg gewidmet, der, so persönlich seine Kunst auch ist, die Epoche des Biedermeier vertritt. In d ­ iesem dritten und letzten Kapitel soll uns Wilhelm Leibl beschäftigen, der für Courbet der bedeutendste deutsche Maler der Gegenwart war.40

Die Zusammenstellung wird anhand der Chronologie vorgenommen, womit exemplarisch die Kunst des 19. Jahrhunderts abgedeckt wird, sinnfällig, da mit Leibls Tod (1900) das Saeculum endet. Im Typoskript wie auch im Buch findet sich für die drei Künstler jeweils ein signifikantes symbolisches Kompositionselement, für Friedrich die „Schwelle“, für Spitzweg der „Schacht“, für Leibl wahrscheinlich der Innenraum.41 Was alle drei Künstler miteinander verbindet, ist ihre Entfremdung von der Gesellschaft ihrer Zeit. Nicht, daß sie ignoriert worden wären. […] aber keiner der Drei hat an öffentlichen Wettbewerben teilgenommen oder einen jener großen Aufträge erhalten […]. Alle Drei haben merkwürdig einsam gelebt und waren mit ihrer Kunst allein […]. Ihre Gemälde sind Selbstgespräche.42

38 Nachlass 290, Kasten 7, „Symbolische Strukturen“, Blatt 1 – 7, hs. Notizen, Manuskript, deutsch, Seite 1, in Mappe „Notizen zu dt. Malern des 19. Jhs“. 39 Siehe Anm. 13 zu den entsprechenden Publikationen um 1900, Typoskript deutsch, unpaginiert, Kap. III, Wilhelm Leibl. 40 NL 290, Kasten 7, Typoskript deutsch, unpaginiert, Kap. III, Wilhelm Leibl, Hervorheb. I. B. 41 „Symbolische Strukturen glaube ich im Oeuvre mehrerer Maler des 19. Jahrhunderts zu finden, und zwar im Werk verschiedener Meister wie etwa Caspar David Friedrich, Carl Spitzweg oder Wilhelm Leibl“, NL 290, Kasten 7, Typoskript, Seite 2, in: Mappe „Karl Philipp Fohr, Blechen, C. D. Friedrich“. 42 NL 290, Kasten 7, Typoskript „Blick nach Innen“, Seite 2.

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Dieser expliziten Auswahl von drei deutschen Malern wird im Typoskript dann ein weiterer Künstler hinzugefügt, Ludwig Richter, der allerdings noch einmal mit „II“ bezeichnet wird. Die Zusammenstellung entspricht damit der gedruckten Buchausgabe, die dann aber die richtige chronologische Reihenfolge aufweist. Auch Ludwig Richter ist eine volkstümliche „Ikone“ der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts. Als Buchkünstler und Graphiker erreichen seine Werke ab den 1850er Jahren eine ­solche Breitenwirkung, die in der Sehnsucht nach Geborgenheit in der Familie, nach glücklichen Kindertagen, nach religiöser Zuversicht und idyllischer Natur so sehr den allgemeinen Wunschvorstellungen entspricht, dass Richter zum echten Volkskünstler wird. Der Brotberuf der immerwährenden graphischen Arbeiten wird zwar von ihm als Fron empfunden, aber Richter bedient die an ihn gestellten künstlerischen Erwartungen bis zur Selbstaufgabe. Noch im hohen Alter und fast erblindet schenkt er der Öffentlichkeit weiterhin jene „Innerlichkeit“, die so sehr beliebt ist. Bei Richter gibt es offensichtlich keine „symbolischen Strukturen“, hier wird „Innerlichkeit“, der Rückzug in die Idylle, zum Schlüssel des Bildverständnisses, so von Simson: Welt und Innerlichkeit stehen hier schroff gegeneinander, nur die letztere ist Heimat der Kunst. Richard Sennett hat es als „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ im 19. Jahrhundert bezeichnet, „Rückzug des Menschen in sich selbst“, der den Sinn für die Familie bewahrt, aber den Sinn für die Gesellschaft verloren hat.43

In der Buchausgabe bedeutet für von Simson Innerlichkeit jetzt die inhaltliche Klammer, die die vier unterschiedlichen Künstler verbindend zusammenfügt, ein Begriff, der aber jeweils anders gedeutet werden muss. Friedrichs religiöse, heroisch einsame Natur-­ Innerlichkeit, Spitzwegs kleinbürgerliche Absonderlichkeiten und Skurrilitäten seiner Einzelgänger, Richters idyllische Gegenwelten oder Leibls sich aus der Gesellschaft herausnehmende Künstler-­Einsamkeit weisen ein breites Spektrum auf.44 Innerlichkeit ist aber so oder so ein vermintes Gebiet. „Deutsche Innerlichkeit“ wird bereits in den frühen 1920er Jahren und dann gefährlich verstärkt in den folgenden Jahrzehnten als nationale, diffuse Charaktereigenschaft und Identität des Deutschen proklamiert, als ausschließ­liche Wesenheit und Qualität, geradezu als Rassenmerkmal. Als Spiegelbild und adäquate Ausdrucksformen dienen Malerei und Musik. So heißt es bereits 1920 bei Ludwig Justi im Schlusswort in den Amtlichen Veröffent­ lichungen der National-­Galerie in dem Führer zur C. D. Friedrich-­Sammlung:

43 Nachlass 290, Kasten 7, Typoskript, 91, der Begriff „Innerlichkeit“ wird hier zum ersten Mal verwandt. Richard Sennet,: amerikanischer Soziologe, geb. 1941, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt 1986 (im Original The Fall of Public Man, New York 1977). 44 Vorwort zum Blick nach Innen (wie Anm. 1), 8 – 12.

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Abb. 4 Einband zu Ludwig Justi, Kaspar David Friedrich (Amtliche Veröffentlichungen der Nationalgalerie zu Berlin), Berlin 1921

So empfängt uns hier vor der kalten Hoheit des unnahbaren Felsengebirges, hineingezaubert in die Form der malerischen Darstellung, der Reichtum und die Innigkeit der deutschen Seele: die Andacht vor der Größe und Gewalt der Natur, die Ehrfurcht vor dem Geheimnis, die Wärme und die Traumseligkeit des männlich-­kindhaften Wesens. Hier ist das Gegenteil von Regel und Gewohnheit, hier ist persönliches Empfinden, deutsches Empfinden. All der unerschöpfliche und doch klare, seltsame und doch unmittelbare Lebensreichtum d ­ ieses Bildes ist den Kunstfreunden anderer Völker nicht zugänglich – so wie das Innerlichste in der Musik Beethovens.45 (Abb. 4 a, b)

Im allgemeinen Diskurs ist der Begriff demnach seit den 1968er Jahren verpönt beziehungsweise mit einer pejorativen Konnotation wie fehlender Urbanität und fehlendem politischen Bewusstsein belegt, mithin fast auch als eine der Ursachen für die „Tragödie der Deutschen“ betrachtet. Diese ambivalente, zeitgebundene Bewertung zeigt sich auch in dem Bazon Brock-­Essay über C. D. Friedrich, wenn es heißt: „Es ist Friedrich 45 Ludwig Justi, Kaspar David Friedrich. Ein Führer zur Friedrich-­Sammlung der National-­Galerie. Sonderdruck aus: Deutsche Malkunst im neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1921, 32. Ludwig Justi (1876 – 1957), Direktor der National-­Galerie von 1909 bis 1933, richtete die Abteilung der Moderne im Kronprinzenpalais ein. Offensichtlich wurde das 19. Jahrhundert aber mit dieser speziellen Emotion interpretiert und für das Deutsche reklamiert. Dazu gehört auch die deutsche Schreibweise des ersten Vornamens von Friedrich.

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vorgeworfen, und was genauso falsch ist, zu höchster Ehre angerechnet worden, er sei der Maler der Innerlichkeit“.46 „Der wahre Inhalt des Romantischen ist die absolute Innerlichkeit“,47 so stellt von Simson Hegels knappe Definition dann in der Einleitung zum Blick nach Innen an den Anfang und ebenso wird das Vorwort von Madame de Staël in ähnlicher Weise mit der Sentenz von dem „interieur de l’âme“ rubriziert, eine geschickte und gelehrte exsolutio, um das Tabuthema „Innerlichkeit“ zu neutralisieren. Denn kein Begriff wies in den vorangehenden Jahrzehnten vergleichbare, auch politisch aufgeladene Emotionen auf. In einer Rezension zum Blick nach Innen heißt es einfühlend dazu, von Simson lasse „sowohl die noch in den zwanziger Jahren hochquotierte Innerlichkeit wie die in den Sechzigern einsetzende Kritik an ihr auf sich beruhen. Er schreibt Kunstgeschichte und er erforscht das Phänomen so unparteiisch, wie es Hegel mit seinem lapidaren Satz charakterisiert hat.“48 „Innerlichkeit“ lautet das Generalthema des Buches und interessanterweise bezieht sich von Simson des Öfteren auf den modernen französischen Philosophen Gaston Bachelard und dessen Publikation Poetik des Raums,49 bei dem der Begriff der „Innerlichkeit“ in der deutschen Übersetzung eine wichtige, aber neutrale Rolle spielt.

Metaphysisches – Philipp Otto Runge and the Mythology of Landscape Wie bereits erwähnt, ist anzunehmen, dass der Essay zu Philipp Otto Runge ursprünglich für die Zeitschrift Hochland bestimmt war.50 Dieser frühe Text von Simsons, seine erste amerikanische Publikation, zeigt ein weites und erstaunliches Spektrum geisteswissenschaftlicher Bezugspunkte. Im Zentrum steht Runges Transformation biblischer Mythen zu einer symbolischen Landschaft, die im Kontext des geistesgeschichtlichen, ästhetischen und religiösen Ideenguts der Romantik betrachtet wird, aber auch die Quellen des Mittelalters oder der Gegenreformation heranzieht. Eine Berechtigung zu diesen großen literarischen und philosophischen Bezügen sieht von Simson in der Person Runges, der nicht 46 Wie Anm. 17, Bd. II, Teil 5.4., 385, Hervorheb. I. B. 47 Nachlass 290, Notizen, Kasten 7, Hegel, II, 3, 2, 929, und Blick nach Innen (wie Anm. 1), 8. 48 Werner Ross, Kunst als Fluchtburg. Otto von Simsons ‚Der Blick nach Innen‘, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 80, 4. April 1987. Ausgespart erscheinen hier in der Aufzählung die dreißiger und vierziger Jahre, in denen die „deutsche Innerlichkeit“ in der Kunstgeschichte mit der gleichnamigen Publikation von Ulrich Christoffel, München 1940, dem Zeitgeist besonders entgegenkam. 49 Gaston Bachelard (1884 – 1962), Poetik des Raums, Berlin 1975 (frz. Original: La poétique de l’espace, Paris 1957). 50 Nachlass 290, Kasten 7, Typoskript „Runge“, deutsch, allerdings nur bis Seite 18, dann ausführliche hs. Ergänzungen „Runge T. 2“ mit Hinweis auf Jörg Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk. Monographie und kritischer Katalog, München 1975, und damit um Jahrzehnte später, allerdings nicht realisiert. Vgl. Anm. 5.

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nur Maler war, sondern mit seinen „treaties, letters, poems“ auch als profunder Autor gelten kann: „In the light of both, Runge appears as a strange prophet of a dawning age.“51 Von Simson schlägt einen großen Bogen, der vom Konzil von Trient und dem Bilderstreit reicht, d. h. alle heiligen Bilder zu entfernen, die der menschlichen Einbildungskraft entsprungen ­seien. Gottes Unabbildbarkeit könne nur „hinter einer goldenen Wolke verborgen“ dargestellt werden, Beispiel sei die Summa Theologica von Cajetan, also der Wunsch nach der Darstellung von der Transzendenz Gottes. Es zeigt sich hier der Beginn vom Ende des abendländischen Sinnbildes mit den künstlerischen und theologischen Konsequenzen der Bilderfurcht und einer Hinwendung zum Pantheismus. Von hier aus führt der Weg zu der Vorstellung von Gott in Gestalt der Natur und damit zu romantischem Ideengut. Das Ende von traditionellen Bildinhalten zeigt sich für von Simson paradigmatisch in Runges bildmäßiger Zeichnung Niltal-­Landschaft,52 die von ihm im Zusammenhang mit dem Gemälde Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1805/06) gesehen wird. In dieser großforma­tigen Studie, einer eigenständigen Komposition gleich, singulär bei Runge, der anders als Friedrich keine selbstständigen Naturansichten im herkömmlichen Sinne verwendet, werden die Personen der Heiligen Familie in eine reine Landschaft überführt. Von Simson, der in seinem Essay erstmals auf die Verwandlung der heiligen Personen, „auf diese in der Geschichte der Kunst einzigartige Transformation hingewiesen hat“,53 deutet Joseph als alten knorrigen Baum, das Christkind als blumige Ranke. Die literarische Quelle wurde von Simson in dem Gedicht des Dänen Adam Oehlenschläger ausfindig gemacht.54 Landschaft war nicht mehr länger Hintergrund für christliche Inhalte, sondern wurde selbst zur Allegorie (Abb. 5 a, b). Nach von Simson erwies sich das Naturgefühl des Künstlers mächtiger als die mehr sentimentalischen Empfindungen der Romantiker. In dem deutschen Typoskript heißt es dazu, dass seine nördliche Herkunft hier sehr sinnfällig sei. Von Norddeutschland und den skandinavischen Ländern gingen damals die stärksten geistigen Bewegungen aus. In Runges künstlerischer Einbildung scheine die alte in den germanischen Ländern nie versiegte Fähigkeit, aus Naturkräften Göttergestalten zu bilden, wiederum hervorzutreten. Norddeutsch in seiner Prägung aber sei auch das andere Element, das für seine Ideen wie 51 Von Simson (wie Anm. 5), 335. 52 Pinsel in Grau über Blei, 39,8 × 50,1 cm, quadriert, bez. „Original von Philipp Otto Runge 1805/06“, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. 34155. Abb. in: Art Bulletin 1942, fig. 1, 2 (o. S.); vgl. auch Runge in seiner Zeit (Ausst.-­Kat. Hamburg), hg. von Werner Hofmann, München 1977, 180, Abb. 150. 53 Hanna Hohl, Abend des Abendlandes und Morgen des Morgenlandes. Die Ruhe auf der Flucht und das Problem der religiösen Landschaft, in: Runge in seiner Zeit (wie Anm. 52), 174 – 178, hier 177. 54 Von Simson (wie Anm. 5), 337 mit Anm. 7: „This strange experiment, far more than an artistic caprice, reveals the mythology of the whole age. In a lengthy poem by Runge’s contemporary, the Danish poet Oehlenschäger, in which the story of the Gospels is identified with seasonal life in the natural world, there occurs a Rest on the Flight where, as in Runge’s sketch, Joseph has become a barren tree ‚around which the infant Jesus twines himself like a blooming vine‘“ (Hervorheb. im Original), Aarets Evangelium I Naturen og Mennesket und ‚Runge in seiner Zeit (wie Anm. 52), 177 mit Anm. 14.

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Abb. 5a Philipp Otto Runge, Niltal-­ Landschaft, 1805/1806, Pinsel in Grau über Blei, 39,8 × 50,1 cm, quadriert, Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. 34155

Abb. 5b Philipp Otto Runge, Die Ruhe auf der Flucht, 1805, Feder in Schwarz über Blei, 62,2 × 81,6 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. 34258

für seine Kunst gleich bedeutungsvoll war: das christliche. Eine starke Durchdringung von Religion und Naturempfindung ­seien in dem pietistischen Elternhaus vorgegeben, Runge versuche in seinem Werk beides zu einer Einheit zu führen. Als Fazit heißt es bei von Simson: Durch diesen Versuch zur Synthese gehe von Runges Charakter und von seinem Werk etwas Zwiespältiges aus, aber trotzdem eine eigentümliche Größe: Gott erscheine in der Gestalt der Natur und verkörpere damit romantisches Ideengut.55 55 Nachlass 290, Typoskript „Runge“, deutsch, Seite 4; die englische Druckversion im Art Bulletin ist wesentlich „pathosarmer“. Interessanterweise ändern das Exil und die fremde Sprache auch den schriftstellerischen Duktus.

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Von Simson nähert sich auch dem enigmatischem Tageszeiten–Zyklus, den Runge 1802 beginnt und mit dem er als Schöpfer einer „neuen symbolischen“ Landschaft hervortritt. Dem damaligen Forschungsstand entsprechend stellt von Simson das neuartige, „romantische“ Ideengut erstmals ausführlich in den Vordergrund. Denn nach Runges Wiederentdeckung, hundert Jahre nach seinem Tod, so von Simson, erfahre der Künstler zunächst nur eine Bewertung innerhalb der großen malerischen Erfindung des 19. Jahrhunderts, der Landschaft. Als Vorläufer des „alternden Impressionismus“,56 beispielsweise der Malerei eines Renoir und Monet, werde er gesehen, ohne dass sein spezieller programmatischer Ansatz berücksichtigt werde. The real link between Runge and nineteenth-­century painters consists in a similarity of ideas which are reflected in their style and in their imagery. Runge’s „symbolic landscape“ may appear almost medieval beside the sensuous realism of the nineteenth century; but both are rooted in the same metaphysical conceptions, though representing different phases of the latter evolution. The importance of Runge lies in the fact that he realized earlier and more clearly than any other artist that landscape was the great mythological experience of the nineteenth century, of which even Cézanne’s work was an expression.57

In einem weit angelegten Bildungspanorama, das die Ideengeber aus Dichtung und Philosophie der deutschen Romantik mit einbezieht, positioniert von Simson die künstlerische Persönlichkeit Philipp Otto Runges, der, anders als C. D. Friedrich, rege Beziehungen zu Literaten, Dichtern und Philosophen seiner Zeit unterhielt. Seine Abhandlung zielt nicht so sehr auf eine Interpretation, sondern auf den spirituellen, geistigen Kosmos von Runges Welt, der sich ihm in dem theoretischen Werk des Künstlers, in seinen Schriften, darstellt. Großen Einfluss auf Runge sieht von Simson in den Büchern des frühbarocken Mystikers, Philosophen und Theosophen Jakob Böhme, dessen erste Veröffentlichung Aurora oder Morgenröte im Aufgang von 1620 bereits das christliche Dogma als Naturmysterium umdeutet. Nach von Simson lässt sich Runges Hinwendung zur Mystik ebenfalls im Zusammenhang mit seinen theoretischen Farbstudien, beispielsweise auch der Farbkugel, sehen: Licht und Farbe sollen in enge Beziehung zur christlichen Gottesvorstellung gebracht werden, bei Runge sei es die Darstellung der Heiligen Trinität als eine Abstraktion in den Farben Blau, Rot und Gelb.58 Physikalische Versuche innerhalb der Farbenlehre zeigen Nähe zu Alchemie und Magnetismus auf, die Transzendenz des Göttlichen 56 Nachlass 290, Typoskript „Runge“, deutsch, Seite 1. 57 Von Simson (wie Anm. 5), 335. Auch Typoskript „Runge“, deutsch, NL 290, Kasten 7, Seite 2, wo es heißt: „Die großen Schöpfungen Cézannes können nicht gedacht werden ohne jenes besondere symbolische Landschaftserlebnis, um dessen Gestaltung zuerst Runge sich gemüht hat.“ 58 Von Simson (wie Anm. 5), 345; eine ebensolche Denkfigur findet sich in den Vorstellungen des romantischen Naturwissenschaftlers und Philosophen Franz von Baader (1765 – 1841). In ­diesem Zusammenhang erstaunlich: von Simsons Ablehnung von Barnett Newmans Who is afraid of Red, Yellow and Blue, Variante IV von 1969 in der Neuen Nationalgalerie Berlin (West). Vortrag von Thomas W. Gaehtgens am 26. 5. 2018 in Berlin anlässlich der Tagung zu Otto von Simson.

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wird aus der Lichtmetaphysik der biblischen Texte entnommen. Runge entwerfe neue Sinnbilder, nicht im romantischen Sinn, sondern im christlichen. Damit einhergehend erfolge die Zersetzung der christlichen Symbole, Runges Zerrissenheit manifestiere sich mehr und mehr in seinen Schriften und auch in seinem persönlichen Schicksal: Begun in the fateful winter 1802/3, which was the end of the old German Empire and the beginning of Napoleon’s tyranny, Runge’s Tageszeiten are magnificent proof of the spirit’s freedom and independence.59 Despairing in the hour of death, he enjoined upon his brother the destruction of Morning, the only completed part of Tageszeiten. He died broken in health and spirit, in one of the darkest moments of European history, December 2, 1810.60

Noch einmal, Jahrzehnte später, und völlig überraschend finden sich bei von Simson Analogien zu dem frühen Runge-­Text in dem Essay Kreuzigung. Das Bekenntnis des Mystikers Joseph Beuys.61 Die Installation der Stuttgarter Kreuzigung 62 verwende in der Komposition zwar Assoziationen an christliches Bildgut, aber auch Beuys entwerfe „neue Sinnbilder“: Die in „Rückenansicht“ gezeigten Assistenzfiguren der Kreuzigung s­eien bei Beuys die beiden Blutkonserven, der Gekreuzigte werde durch den Balken symbolisiert, Nägel und Draht verweisen auf die Passion. Über allem das Kreuz in geronnenem Blut auf einem Blatt Papier. „Von allem Abbildhaften, Ikonischen seiner Frühzeit hat Beuys sich schroff abgewandt“, die Annäherung an das Spirituelle sei erfolgt. „Beuys war ein niederrheinischer Mystiker. Nicht als historische Figur hat er Christus, schon gar nicht den Gekreuzigten, erlebt, sondern als geheimnisvolle gegenwärtige Wirklichkeit“, schreibt von Simson.63 Ähnlich wie in dem Runge-­Essay findet er bei Beuys die Nähe zur Alchemie, wobei Elektrizität, Physik und Magnetismus eine große Rolle spielen, um die Transzendenz des Göttlichen sichtbar zu machen. Das Prinzip der Substanzumwandlung sei für Beuys gleichbedeutend mit der Eucharistie. Anders aber als in dem Runge-­Essay, in dem von Simson dem romantischen Künstler Irrwege und dämonische Zerrissenheit attestiert, geradezu Nähe zum Aberglauben, fühlt er sich in absolut positiver Weise in das Werk des Objektkünstlers Beuys ein, der zu dieser Zeit durchaus als Bürgerschreck und Reizfigur gilt (Abb. 6).64 59 Von Simson (wie Anm. 5), 350. Hervorhebung im Original. 60 Ebd., 349. Runge nahm auf Bitten seines Bruders Daniel seinen letzten Wunsch zurück; tragischerweise wurde das Gemälde dann 1890 von einem Nachfahren zerschnitten und erst 1927 restauriert. Hervorhebung im Original. 61 In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Tiefdruckbeilage vom 2. 4. 1988 (Ostern), wiederabgedr. in: Wir sehen jetzt im Spiegel rätselhaft: Otto von Simson zum Gedächtnis, hg. von Reiner Haussherr und Wieland Schmied, Berlin 1996, 272 – 274. 62 Installation, Holz, Glas, Papier, Draht, Elektrokabel, benannt nach dem Standort, der Staatsgalerie Stuttgart, Maße: Höhe 42,5 cm, Breite 19 cm, Tiefe 15 cm, Inv.-Nr. PLNA 159. 63 Vgl. Wir sehen jetzt im Spiegel rätselhaft (wie Anm. 61), 273. 64 Erstaunlicherweise auch bei dem Zeichner, Dichter, Karikaturisten und Humoristen Robert ­Gernhardt (1937 – 2006), der eine süffisante, alle Vorurteile bedienende kleine Skizze über Beuys und von

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Abb. 6 Joseph Beuys, Kreuzigung, Installation, 1962/63, Holz, Glas, Papier, Draht, Elektrokabel, Staatsgalerie Stuttgart, Inv.-Nr. PLNA 159

Resümee In der Auseinandersetzung Otto von Simsons mit der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts sind in seinen Veröffentlichungen zwei Stränge zu finden. Zum einen der frühe metaphysische Bezug wie in dem Runge-­Aufsatz, wiederholt in dem späten Essay über Joseph Beuys, der jetzt im zeitgenössischen Kontext steht, zum anderen die Beschäftigung mit Malern, die für von Simson offensichtlich paradigmatisch die Spannweite von deutscher Kunst des 19. Jahrhunderts bedeuten. Gerade die Popularität und allgemeine Verfügbarkeit von Friedrich, Spitzweg, Richter und Leibl, seinen Leitfiguren in der Publikation Blick nach Innen, sind für ihn durchaus von Relevanz, aber nicht Gegenstand einer weiteren, vertiefenden Untersuchung. Die ausführliche kunsthistorische Beschäftigung mit diesen

Simsons FAZ -Beitrag schreibt: Faz, Beuys, Schmock (1988), in: Robert Gernhardt, Der letzte Zeichner. Aufsätze zu Kunst und Karikatur, Zürich 1999, wiederabgedr. in: ders., Über alles – Ein Lese-­und Bilderbuch, Frankfurt 2014.

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Abb. 7 Carl Spitzweg, Der Schmetterlingsfänger, um 1840, 31 × 25 cm, Öl auf Holz, Museum Wiesbaden, Dauerleihgabe der Bundesrepublik Deutschland Inv.-Nr. M 838

geradezu volkstümlichen „Ikonen“ setzt bei ihm erst in den 1970er Jahren ein, vielleicht auch ein Reflex auf das veränderte Forschungsinteresse dieser Jahre. Allerdings werden die Verwerfungen ausgeblendet, die die Rezeption gerade der von ihm gewählten Künstler in der ungebrochenen Beliebtheit auch durch die NS-Zeit erfuhr. Eine Sichtweise, die in den 1980er Jahren noch durchaus üblich war, während die heutige, kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Wissenschaftsgeschichte und die geschärfte Bewusstseinslage hinsichtlich Provenienzfragen in der Forschung erst zu Beginn der 1990er Jahre einsetzt. Von Simsons Publikation entzieht Friedrich, Spitzweg, Richter und Leibl vielleicht aber auch bewusst einem politisierenden Zeitgeist, wie immer er ausfällt. Es sind Vier Beiträge zur deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts, wie der Untertitel lautet, von ihm des Weiteren auch als „Versuche“ bezeichnet, sich den vier Malern und damit dem Jahrhundert anzunähern. Die Betrachtungen und Untersuchungen zu den von ihm ausgewählten Malern des 19. Jahrhunderts lassen offensichtlich eine persönliche Vorliebe erkennen, mit der diese Künstler in einen eigentümlichen, stillen und hermetischen kunsthistorischen Kosmos zurückgeholt werden. Vom heutigen Standpunkt und Forschungsstand aus irritiert aber dennoch gerade diese Auswahl. Als ein von Flucht und Exil betroffener deutsch-­jüdischer

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Abb. 8 Wilhelm Leibl, Tierarzt Reindl in der Laube (Bildnis Dr. Reindl), um 1885, Öl auf Pappe, 26 × 19,5 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Inv.-Nr. G 307

Kunsthistoriker verbietet sich von Simson offensichtlich jegliche Emotion gegenüber der ihm wahrscheinlich doch bekannten Vorliebe der nationalsozialistischen Führung gerade für Maler wie Friedrich, Spitzweg, Leibl und der diesbezüglichen Raubzüge für das „Führer­museum Linz“ (Abb. 7).65 65 Schwarz (wie Anm. 13). Im Blick nach Innen findet sich zu der Abbildung von Carl Spitzweg Der Schmetterlingsfänger als Bildnachweis „Städtisches Museum Wiesbaden, Treuhandverwaltung für Kulturgut München“ (Abb. 9, 132). Nach 1949 wurde die Verantwortung für den Restbestand von NS-Raubkunst aus dem amerikanischen Central Collecting Point München schrittweise an die Bundesrepublik Deutschland übertragen, 1953 die „Treuhandverwaltung von Kulturgut München“ gegründet, die bis 1962 existierte. Danach war das Bundesschatzministerium verantwortlich für die verbleibenden Kulturgüter aus den Collecting Points München und Wiesbaden, delegiert wurde diese Zuständigkeit an die Oberfinanzdirektion München. Seit 1965 werden aus ­diesem Bestand Kunstwerke an Museen der Bundesrepublik Deutschland ausgeliehen, dort neutral gekennzeichnet als „Dauerleihgabe des Bundes“. Interessanterweise wird im Abbildungsnachweis bei von Simson (1986) nicht der aktuelle, sondern der ursprüngliche, aber aufschlussreiche Besitzvermerk angegeben. Vgl. Iris Lauterbach, Der Central Collecting Point in München. Kunstschutz, Restitution, Neubeginn (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte München Bd. 34), Berlin 2015.

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Ist es der berühmte blinde Fleck in der Wahrnehmung gegenüber einer als traumatisch empfundenen Vergangenheit, der als typisches Kennzeichen der Remigranten konstatiert werden kann?66 Eine persönliche, fast subversive Rückeroberung, die diese Künstler durch von Simson erfahren? Zumal es durchaus eine familiäre Implikation gab: Im Dezember 1937, kurz vor seinem Weggang ins Londoner Exil, erwarb sein Vater, Dr. Ernst von ­Simson, bei dem Kunsthändler Karl Haberstock für den exorbitanten Preis von 11.500 Reichsmark eine Zeichnung von Wilhelm Leibl, Der Sohn des Dr. Reindl.67 Haberstock, der in den 1930er Jahren maßgeblich in die kriminelle Raubkunstpolitik der Nationalsozialisten eingebunden war, sagte dann vor dem Anhörungsausschuss des Central Collecting Point München am 10. März 1949 aus, dass Ernst von Simson die Zeichnung unmittelbar „als Geschenk“ an den Reichskanzler Adolf Hitler übergeben ließ, der es nach Linz weiterleitete. Da es sich sicher um ein überteuertes und erpresstes „Geschenk“ handelte, wurde die Zeichnung 2007 an die Familie restituiert.68 Im Blick nach Innen setzt sich von Simson interessanterweise mit einem Werk Leibls auseinander, das in diesen Kontext gehört, dem Bildnis Dr. Reindl, Porträt des Tierarztes und engen Freundes des Künstlers (Abb. 8).69 Otto von Simsons Blick nach Innen ist aber auch ein Blick von außen: Die Beschäftigung mit deutscher Malerei verdankt ihre Anstöße oder auch Realisierungen der Ferne. Der Runge-­Artikel erscheint als eine der ersten Arbeiten im Exil, der Essay über Beckmann 1950 in der amerikanischen Zeitschrift Measure, und die Vorarbeiten zum Blick nach Innen beginnen zunächst 1973 während einer Forschungsprofessur in Harvard. Friedrich, Spitzweg, Richter und Leibl – offensichtlich Maler, die von Simson bereits seit Jugendjahren schätzte – werden in einer schönen Sprache einem interessierten, gebildeten Lesepublikum dargebracht. Es wird eine wissenschaftlich fundierte, kunsthistorische Ordnung aufgestellt, die durch eine eigentümliche Abgeschlossenheit besticht und vielleicht auch ein metaphorisches Heimweh nach „Heimat“ darstellt. Richtig zeitgemäß war das Buch aber offenbar nicht, denn von Simson beklagt des Öfteren bei seinem Verleger den mangelnden Absatz.

66 Die besondere Situation der Kunstgeschichte im Nachkriegsdeutschland ließ sich laut Horst ­Bredekamp auch damit erklären, dass das Fach „so viele Emigranten ‚erzeugt‘ hat wie nur die Musikwissenschaft“. Der Konflikt mit einer jüngeren Generation beruhte darauf, dass diese Kunsthistoriker etwas zu bewahren suchten, „was jenseits der Geschichte und jenseits der Konflikte angesiedelt war.“ Vgl. Der Marburger Bildersturm (wie Anm. 6), hier 92 – 93. 67 Zeichnung, Schwarze Kreide auf Bütten, 50,5 × 32 cm; siehe auch Horst Keßler, Karl Haberstock. Umstrittener Kunsthändler und Mäzen, hg. von Christof Trepesch, München/Berlin 2008, darin als Anhang Geschäftsbücher, 282: Verkäufe: Dez. 1937 an Staatssekretär A. D. Dr. Ernst von S­ imson, Bln-­Dahlem, Wilh. Leibl: „Zeichnung des jungen Reindl“, 11.500,00; Foto Nr. 2474, Sign. HA/ XXIV/37, Abb. auf S. 307. 68 Siehe zur Provenienz http:/www.dhm/datenbank/ccp/dhm_ccp_add.php?seite=6&fld_1=8890&fld_​ 1_e [Zugriff: 2. 5. 2019]. Karteikarte Mü-­Nr. 8890 Linz-­Nr. (laut DB Sonderauftrag Linz) 87. Für den Hinweis danke ich Anna Maria Voci, Rom. Zu dieser Problematik vgl. den Beitrag von Hans Gerhard Hannesen in ­diesem Band, Anm. 16. 69 Siehe Der Blick nach Innen (wie Anm. 1), 102 mit Abb. 13, 101.

Thomas Gaehtgens

Erinnerungen an Otto von Simson in Berlin Forschung und öffentliches Leben Es war eine unvergessliche Erfahrung, für die ich große Dankbarkeit empfinde, mit Otto von Simson in gemeinsamem Engagement für verschiedene öffentliche kulturelle und wissenschaftliche Aufgaben über 13 Jahre wirken zu können. Mein Beitrag unterscheidet sich von den übrigen hier versammelten, da er von persönlichen Erinnerungen geprägt ist. Dabei ist eine enge Freundschaft, auch mit Marie Anne, seiner zweiten Frau, entstanden. Otto von Simson kann in einem k­ urzen Beitrag nicht ausreichend geschildert werden. Zu umspannend waren seine Lebensstationen und zu umfassend waren seine Aktivitäten. So wie es einer Reihe seiner Schüler bedurfte, seine wissenschaftliche Leistung zu würdigen, müsste eigentlich ein zweiter Teil seiner diplomatischen, politischen und gesellschaftlichen Tätigkeit und Ausstrahlung gewidmet werden. Ich kann nur an wenige Erlebnisse und Erfahrungen erinnern, von denen ich weiß, dass viele sie mit mir teilen. Es gibt eine erstaunliche Parallele z­ wischen Otto von Simsons Schriften und seinem Leben. Man könnte, vielleicht etwas überpointiert, sagen, er hat seine Schriften gelebt. Seine Forschungen als Kunsthistoriker waren eng mit seinem ungewöhnlich aktiven, politischen und kulturellen Engagement verbunden. Manche Bücher mögen in einem Elfenbeinturm geschrieben worden sein. Man kann sich die Entstehung seines Werkes Gothic Cathedral nur als höchst konzentrierte, gleichsam in klösterlicher Stille geschriebene Arbeit vorstellen. Aber in Wahrheit entstanden Simsons Bücher aus einer großen Neugier, aus einer höchst aktiven Teilnahme des Autors an den Vorgängen um ihn herum, nah und fern! Im Fall der Gotischen Kathedrale auch aus ganz persönlichen Gründen, aus seiner intensiven Beschäftigung mit der mittelalterlichen Theologie und seiner Konversion zum Katholizismus. Seine wissenschaftliche Arbeit ist nicht denkbar ohne seine Zeitgenossenschaft am historischen Geschehen, das er sehr bewusst erlebte und darüber hinaus auf vielfältige Weise selbst zu gestalten suchte. Ich werde auf die Frage nach der Beziehung von wissenschaftlichem Werk zu diplomatischer, politischer und gesellschaftlicher Aktivität nochmals zurückkommen. Otto von Simson hätte mein Lehrer sein können. Es gab dafür sogar eine theoretische Chance. Denn als Student und später Assistent von Herbert von Einem am Kunsthisto­ rischen Institut in Bonn in den 1960er Jahren hätte ich ihn eigentlich kennenlernen sollen. Aber Otto von Simson, außerplanmäßiger Professor an d­ iesem Institut seit 1957 – ein Umstand, der in seinen Biographien meist ausgelassen wird – wurde nie gesehen und wurde im Lehrprogramm nur auf dem Papier geführt, vermutlich um ihm im akademischen Lehrbetrieb die Venia Legendi zu erhalten! Er war auf Dauer entschuldigt für seine Tätigkeit als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der UNESCO in Paris.

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In meiner Bonner Studienzeit las ich mit Begeisterung sein Buch über die Medici-­ Galerie. Vor allem studierte ich seine Gotische Kathedrale, die in Bonn im Seminar bei Günter Bandmann Pflichtlektüre war und in meinem Doktorexamen bei Herbert von Einem über die gotische Baukunst Gegenstand des wissenschaftlichen Gesprächs wurde. Gesehen oder in Vorlesungen gehört haben wir als Studierende den Autor von Simson in Bonn bedauerlicherweise jedoch nicht. Meines Wissens hatte Otto die Einladung nach Bonn von meinem Lehrer Herbert von Einem erhalten. Von Einem, der mit großen Schwierigkeiten völlig integer die Zeit des Nationalsozialismus überstanden hatte, engagierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg nachhaltig für einen würdigen Wiederaufbau des Faches, wobei er auch versuchte, emigrierte Kollegen wieder nach Deutschland zurückzuholen. In ­diesem Zusammenhang ist sicher die Anstellung von Simsons nach Bonn zu erklären. Aus einem Brief von Simsons an von Einem vom 9. Dezember 1963, auf den mich Roland Kanz freundlicherweise hingewiesen hat, ist zu entnehmen, dass er den diplomatischen Dienst in Paris zu verlassen plante. Um seine Berufung nach Oxford zu unterstützen, schrieb von Einem dem Emigranten ein Gutachten. Den Ruf nach Oxford erhielt von Simson 1964 nahezu gleichzeitig mit einem zweiten Angebot aus Berlin, und er zögerte nicht, seiner Geburtsstadt den Vorzug zu geben. Wenn ich Otto von Simson in den 1960er Jahren nicht persönlich kennenlernen konnte, so haben seine Schriften jedoch meinen beruflichen Werdegang entscheidend geprägt. Denn viele meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen brachen während oder nach ihrer Studienzeit in Bonn nach Italien auf, folgten den Anregungen der Vorlesungen und Seminare ihres Lehrers von Einem, um an den dortigen deutschen kunsthistorischen Insti­tuten, der Bibliotheca Hertziana oder dem Kunsthistorischen Institut in Florenz, ihre Doktorarbeit abzufassen oder weitere Forschungen über die italienische Kunst zu betreiben. Ich war einer der wenigen meiner Generation, der nach Paris strebte, in gewisser Weise aus Protest gegen die Welle der Italienbegeisterten, vor allem aber auch wegen des Eindrucks, den von Simsons Gotische Kathedrale und sein Buch über die Medici-­Galerie bewirkten! Erst 20 Jahre später bin ich ihm in Berlin persönlich begegnet, 1979, kurz vor meiner Berufung auf den Lehrstuhl von Tilman Buddensieg, seinem Kollegen am Kunsthistorischen Institut, das auch Simson gerade als Emeritus verlassen hatte. Alles, was ich im Folgenden zu berichten habe, ist von einem ungewöhnlichen Umstand geprägt. So unnahbar und distanziert er für manche bei Begegnungen erscheinen mochte – ein Eindruck, der mir gelegentlich übermittelt wurde und immer meinen Widerspruch erfuhr –, neben den vielen Begabungen, die ihn auszeichneten, war die der Freundschaft vielleicht die prägendste. Ich weiß, dass auch einige von Ihnen dies so empfunden haben und nach wie vor als immer noch sehr stark präsente Erinnerung in sich tragen. Dabei spielte der Generationsabstand keine Rolle. Er vermochte den Respekt oder gar die Verehrung des Jüngeren in einer Partnerschaft aufzuheben, deren Grundlagen gemeinsame Leidenschaften, Offenheit, Vertrauen, Verlässlichkeit, eben Freundschaft waren. Auch mit seinen politischen Überzeugungen musste man keineswegs völlig übereinstimmen. Andererseits wusste er seinen politischen Gegnern, die ihm oft nicht gewachsen waren, mit höflicher, ja gewinnender Bestimmtheit zu begegnen.

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Ich habe mich bei der Vorbereitung d­ ieses Beitrags gefragt, w ­ elche Ereignisse, Vorgänge mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Von einigen möchte ich hier berichten, in der Hoffnung, dass sie paradigmatisch auf die herausragende kulturelle, politische und gesellschaftliche Rolle, die Otto von Simson in Berlin gespielt hat, ein Licht werfen.

Notgemeinschaft Als ich 1980 an die FU nach Berlin kam, waren mit seinem Namen die zwiespältig vermittelten Berichte, Gerüchte und Deutungen über die sogenannte „Notgemeinschaft für eine Freie Universität“ verbunden. Man hatte davon in ganz Deutschland gehört. Die universitären Auseinandersetzungen von 1968 hatte ich in Bonn miterlebt. Sie hatten dort nicht die dramatischen Formen angenommen, die sich in Berlin abspielten. Persönliche Bedrohungen von Professoren hatte es, meines Wissens, in Bonn nicht gegeben. Ich erfuhr bald, dass auch Otto gewaltsam angegriffen wurde. Ein elektrisches Gartentor wurde an seinem Haus angebracht, damit er mit dem Auto direkt in die Garage fahren konnte, da Protestierende bedrohlich vor seinem Haus auf ihn warteten. Fritz Stern hielt in seinen Memoiren fest, wie er als internationaler Gutachter über die deutsche Universitätsausbildung mit einigen Professoren zusammentraf, unter ihnen Otto von Simson. Sie berichteten ihm von dem Hass und der Gewaltbereitschaft von Studenten gegen einige Professoren der „Notgemeinschaft“, was Stern tief erschütterte. Von all dem war 1980 nichts mehr zu spüren. Vor allem aber, der emeritierte Hochschullehrer, den ich traf, war das Gegenteil eines unzugänglichen, distanzierten Professors. Mit dem Begriff „konservativ“ konnte man ihn verbinden, aber in einem überzeugenden Sinn des Bewahrens bei größter Offenheit zum Gespräch und zur Diskussion. Was ihn kennzeichnete war eine angelsächsische Erfahrung. Amerika, das ich von meinem Aufenthalt in Princeton am Institute for Advanced Study kannte, hatte seine Spuren hinterlassen. Vorname und Sie, das war sehr schnell der Umgangston. Und dann ergab sich bald eine ungewöhnliche Vertrautheit, an deren Entstehen Marie Anne in ihrer so herzlichen wie entschiedenen Art einen nicht unwesentlichen Anteil hatte. Vertrautheit ja, zu dem um eine Generation Jüngeren, der in gewisser Weise sein verspäteter Schüler werden sollte. Und mehr noch: aus der liebenswürdigen, gelegentlich verführerischen Verbindlichkeit, die er allen gegenüber zeigte, bewahrte er aber die seltene Begabung konsequenter Verlässlichkeit und Zugeneigtheit seinen Freunden gegenüber.

Reisen Otto von Simson hatte einen ungewöhnlich großen Freundeskreis, der nicht unwesentlich zum Erfolg seiner Aktivitäten beitrug. Vielleicht wird dieser Umstand durch ein Beispiel anschaulich. Neben dem unvergesslichen Salon, den sie in der Max-­Eyth-­Straße führten, reisten Otto und Marie Anne von Simson auch mit einem Kreis von Freunden, in immer

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wieder unterschiedlicher Zusammensetzung, sowohl in die Umgebung, als auch in die weitere Ferne. Diese Fahrten oder Reisen hatten stets einen politischen, in jedem Fall aber kulturpolitischen Hintergrund. Scheinbar nur private Anlässe boten den Ausgangspunkt. So wurden lange vor dem Fall der Mauer alle möglichen und auch normalerweise unmöglichen Wege beschritten, einer Gruppe von Berlinern und Westdeutschen auf den Spuren von Fontane die Landschaft und Denkmäler Brandenburgs zu zeigen. Wie man dort die denkmalpflegerischen Arbeiten unterstützen könnte, war in Gesprächen mit Hans-­Joachim Giersberg, den wir in Rheinsberg trafen und der bereits zu jener Zeit für diesen Bereich in Potsdam zuständig war, ein Hauptthema. Die weitere engste Zusammenarbeit mit dem späteren Generaldirektor der nach der Wende gegründeten Stiftung der Preußischen Schlösser und Gärten hatte damals auf einer offiziell als „Kaffeefahrt“ deklarierten Exkursion ihren Anfang. Geburtstag hatte übrigens Winfried Baer, ein langjähriger Freund von Otto und später aktives Mitglied der Freunde der Preußischen Schlösser und Gärten, auf die ich gleich zu sprechen komme. Ein anderes Beispiel: Aus dem Anlass eines runden Geburtstages, dem des damaligen Senatsdirektors für Kultur im Berliner Senat, Winfried Fest, flog eine Freundesrunde im Jahre 1989, ebenfalls Jahre vor dem Mauerfall, nach Leningrad! Leider sind die Bilder etwas verblichen. Aber sie vermitteln doch noch den Eindruck einer wunderbaren Gemeinschaft sehr unterschiedlicher temperamentvoller Köpfe, die nicht zuletzt entscheidend von Otto inspiriert und geführt und von Marie Anne souverän zusammengehalten sowie liebevoll diszipliniert wurden. Die Reise in die Sowjetunion ging nur nach Leningrad/St. Petersburg und Umgebung. Sie galt den Museen und Schlössern, war den einzigartigen Sammlungen gewidmet. Sie war aber vor allem eine Studienfahrt, in der die Lebensbedingungen in der spätkommunistischen Phase d ­ ieses Landes erfahren werden konnten. Wenn heute Karl Schlögel in seinem jüngsten Buch, Das Sowjetische Jahrhundert, wenige Jahrzehnte nach der Wende gleichsam archäologisch die Spuren der Kultur der Sowjetunion rekonstruieren muss, erlebten wir damals die von oben verordnete Lebensform noch ungebrochen. Ein innerer Widerstand gegen die Einschränkung der Freiheit sich zu bewegen und zu verhalten prägte diese Gruppe, irritiert und ungewohnt, ­solche Bevormundung zu erleben. Die enge Bindung von Politik und Kultur stand täglich auf dem Programm der Diskussionen. Die Gruppe war unbändig und auch prominent genug, sich Freiheiten zu nehmen, die der staatlich verordnete Reiseplan nicht vorsah. Unsere hochrangige sowjetische Reiseleiterin schlug gelegentlich die Hände über dem Kopf zusammen wegen unserer als unangepasst aufgenommenen und abgelehnten Wünsche. Sie respektierte und bewunderte sogar erstaunt unsere Dickköpfigkeit und unseren Durchsetzungswillen sowie unseren spielerischen Umgang mit der sowjetischen Disziplin. Entgegen dem offiziellen Reiseplan wurde kurz vor Mitternacht ein Bus auf der Straße organisiert, um ein mitternächtliches Konzert in einer ­Kirche zu erleben, ein unvergessliches Ereignis. Erst am nächsten Tag bekamen wir etwas Ärger, verhindert wurde unsere Aktion allerdings nicht! Die Reise nach St. Petersburg war ganz nach dem Geschmack von Otto von Simson. In eindringlichen Gesprächen wurde die Erfahrung der Kunst und ihrer Geschichte in einer

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politischen Gegenwart diskutiert, in der die Selbstbestimmung des einzelnen Bürgers in der Gemeinschaft schwere Einschränkungen erfuhr. Eindrücklich waren die endlosen Schlangen der Besucher, die in der Eremitage keineswegs die Zeugnisse der U ­ nterdrückung durch die Zaren, sondern vielmehr den unermesslichen Reichtum an künstlerischer Qualität und die Vielfalt ästhetischer Erfahrung erleben wollten. Nicht mit Verachtung der Autokraten, wie es die offizielle Kunstpolitik erhoffte, sondern mit Stolz wurden die Sammlungen wahrgenommen. Immer wieder wurde über die Rolle der Kultur in der von der Mauer umgrenzten Stadt Berlin diskutiert. Kunst, Wissenschaft, Musik und ­Theater zu fördern und auf diese Weise eine Ausstrahlung zu erzeugen, die Berlin als ein politisch zu lösendes Problem ­zwischen Ost und West im Bewusstsein erhält, wurde in ­diesem Kreis als politische Verantwortung angesehen. Die Besichtigungen in der Eremitage, die wir privilegiert an einem Tag besuchen konnten, an dem sie für die Öffentlichkeit geschlossen war, führten uns zu den Meisterwerken der europäischen Kunst, und zu Rubens, von dem das Museum 49 Werke besitzt. Auch eine meisterhaft gemalte Ölskizze für die Medicigalerie, die Rubens im Auftrag der Maria von Medici, der Gemahlin Heinrichs IV., ausführte, ist Teil der Sammlung. Natürlich führte Otto in die Geschichte dieser monumentalen Bilderserie ein, die heute im Louvre bewahrt wird, war sie doch Gegenstand seiner Dissertation im Jahre 1936. Mit der faszinierenden Gestalt Richelieus, der den Bilderzyklus mit Rubens in seiner politisch-­diplomatischen Funktion diskutierte, und dem Thema Kunst und Politik hat sich von Simson zeit seines Lebens intensiv beschäftigt. Die Reisegruppe in die Sowjetunion war in ihrer Zusammensetzung paradigmatisch für die Freunde, die Otto von Simson umgaben. Kunstfreunde waren sie alle, aber mit ihren Leidenschaften in verschiedenen Gebieten beheimatet. Einige waren in einem politischen Amt, Wissenschaftler, Historiker, Kunsthistoriker, andere Journalisten, Heraus­geber einer Zeitung, Kunsthändler, Anwalt und Filmdirektor. Alle verband ihr Engagement neben ihrem Beruf im öffentlichen kulturellen Leben. Das war die Gesellschaft und die Gemeinschaft, die im Hause von Simson in der Max-­Eyth-­Straße in Berlin anzutreffen war.

Freunde der Preußischen Schlösser und Gärten Der Verein der Freunde der Preußischen Schlösser und Gärten ist heute einer der angesehensten Berliner Fördervereine einer staatlichen musealen und denkmalpflegerischen Einrichtung. Ohne Otto von Simson hätte er ­dieses Renommee nicht erreichen können. Es ist allgemein bekannt, dass der Verein seine Entstehung dem Umstand verdankt, dass 1983 eine kleine Gruppe sich voller Enthusiasmus für den Erhalt von Watteaus meisterhaftem Gemälde mit der Darstellung der Einschiffung auf Cythera, die im Charlottenburger Schloss hängt, einsetzte. Das von Friedrich dem Großen erworbene Werk, Eigentum der Hohenzollern, sollte für 15 Millionen Mark, für die damalige Zeit eine ungeheure Summe, verkauft werden.

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Ohne Otto von Simson, der sehr bald den Vorsitz des mit d ­ iesem Ziel gegründeten Vereins übernahm, wäre der Erwerb nicht gelungen. Er fand sich plötzlich vor eine Aufgabe gestellt, die ihn nicht nur begeisterte, sondern ihm auch die Möglichkeit bot, seine Erfahrungen und seine Beziehungen zu Freunden in Politik, Wirtschaft und Kultur zu n ­ utzen. Die Sympathie für das Engagement und die konkrete Hilfe des damaligen Regierenden Bürgermeisters, Richard von Weizsäcker, der sich im Hause von Simson oft zu Gesprächen über die Strategie dieser ungewöhnlichen Aktion bereitfand, förderte die Begeisterung für die Sache wesentlich. Solche mäzenatischen Unternehmen waren in Deutschland, im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von Amerika, damals noch nicht geläufig. Aus den privaten kleineren und größeren Spenden war die benötigte Summe allerdings nicht aufzubringen. Bund und Land Berlin beteiligten sich mit je einem Drittel. Für die privaten Mittel war die Hilfe von Hermann-­Joseph Abs, dem Vorstandvorsitzenden der Deutschen Bank, entscheidend, der den größten Teil der benötigten Summe durch seine Überzeugungskraft von einer Reihe von Wirtschaftsunternehmen gewinnen konnte. Die vielen Aktivitäten des jungen Vereins, Konzerte der Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan, Mozarts Figaros Hochzeit unter Karl Böhm in der Deutschen Oper Berlin, eine unvergessliche Inszenierung eines Stückes von Marivaux durch Peter Stein im Park des Charlottenburger Schlosses und eine Ausstellung, die vier Meisterwerke unter dem Thema Bilder vom Irdischen Glück zusammenführte und viele andere Aktionen brachten der Initiative die öffentliche Ausstrahlung und Anerkennung.

Neue Ziele Der Verein der Freunde löste sich nach der gelungenen Erwerbung des Gemäldes von Watteau nicht auf, sondern setzte – nach dem Vorbild des ­Kaiser Friedrich Museumsvereins und der Freunde der Nationalgalerie – seine Arbeit fort. Otto von Simson leitete ihn bis zu seinem Tod. Unter seiner Führung und in enger Abstimmung mit der Generaldirektion, zunächst Hans-­Joachim Giersberg, dann Hartmut Dorgerloh, hat er sich zu einer Gemeinschaft mit 1.300 Mitgliedern entwickelt, wobei in ­diesem Zusammenhang an die unermüdliche organisatorische Leistung von Hanne von Manteuffel an Ottos Seite erinnert werden muss. Dieser Erfolg war zunächst keineswegs voraussehbar. Erst nach ausführlichen Überlegungen wurde der Beschluss gefasst, die Initiative fortzusetzen. Otto von Simson sah sich keineswegs als der Vorsitzende eines Fördervereins ohne eine weite kulturelle Perspektive. Er zögerte zunächst, erkannte aber bald, nicht so sehr durch das Drängen der Jüngeren bewegt, dass sich hier eine Institution entwickeln ließ, die eine nicht unerhebliche kultur­ politische Rolle spielen könnte, um Berlin aus seiner Isolation herauszuführen. Viele Jahre vor dem Mauerfall haben wir bereits darüber diskutiert, wie den brandenburgischen Schlössern, vor allem in Potsdam, bei ihren Restaurierungen geholfen werden könnte. Kontakte zu den Kolleginnen und Kollegen nach Potsdam waren schwierig, zumal von Berlin aus. Aber, wie ich bei der Beschreibung der „Kaffeefahrt“ auf Fontanes Spuren auf Einladung von Winfried Baer erwähnte, nicht völlig ausgeschlossen. Die Aussicht, diplomatisch und

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politisch wirken zu können, hat Otto geleitet. Und in ­diesem Sinne hat er auch seine jüngeren Gefolgsleute motiviert. Der Verein sollte sich nicht auf das Sammeln von Spenden beschränken, so wichtig dies auch war. Er sollte Brücken schlagen, Verständnis für das gemeinsame Berlin-­ Brandenburgische kulturelle Erbe gewinnen. In ­diesem Sinne hat er gewirkt. Die von Otto und Marie Anne so elegante wie warmherzige, so stilvolle wie intellektuelle Gastfreundschaft in Dahlem diente im Berlin der 1980er Jahre als ein Ort, der freundschaftliche Verbindungen einleitete und kulturelle Initiativen entwarf und förderte. Freunde und Kollegen wurden oft an die Hand genommen, über die berufliche Tätigkeit hinaus der Verantwortung zu entsprechen, Teil einer Gesellschaft zu sein. Dies geschah völlig unaufdringlich. Mit seiner Leidenschaft, seiner geistigen Überzeugungskraft, seinem ansteckenden Enthusiasmus war Otto von Simson stets der Jüngste! Als Fußnote sei hier erwähnt, dass wir bei der Watteau-­Aktion über unser Ziel hinaus erfolgreich waren. Wir hatten mehr Geld gesammelt, als notwendig war. Otto hat dieser Umstand beeindruckt. Dies war für ihn aber kein Anlass, über weitere Projekte nachzudenken. Allein die Gespräche über die politischen und kulturellen Perspektiven, für die die Fortentwicklung des Vereins eine Grundlage bilden konnte, haben ihn überzeugt und zu ungewöhnlichem weiterem Engagement bestimmt.

Über die Mauer hinweg … Und er hatte Recht! Nehmen wir zwei Beispiele! Oft war der Prozess schwierig, verworren und mit unendlichen Hürden verbunden. Aber Otto von Simson konnte sehr beharrlich sein. So offen er für neue Ideen war, so ungern gab er alte auf! Noch vor der Wende hatten wir beschlossen, eine Reihe von Zeichnungen bei Bassenge zu ersteigern, nachdem wir diskret aus Potsdam den Hinweis bekommen hatten, sie stellten Potsdamer Gebäude dar und ­seien für die Geschichte und die Restaurierung dieser Monumente von besonderer Bedeutung. Der Erwerb gelang uns, und – für die Zeit ganz ungewöhnlich –, auf offenbar höhere Ost-­Berliner Genehmigung durften die Blätter sogar von der Schlösserverwaltung in Potsdam als Dauerleihgabe angenommen werden, was in einer fast feierlichen Übergabe in Cäcilienhof stattfand. Das war ganz nach dem Geschmack von Otto von Simson. Ein erster diplomatischer Schritt war vollzogen. Jetzt suchte er nach einem größeren Objekt. Es wurde bald darauf gefunden: das von Friedrich dem Großen auf dem Klausberg 1770 errichtete Belvedere. Bei einer Führung durch Hans-­Joachim Giersberg wurde uns deutlich gemacht, dass das seit Kriegsende als Ruine immer mehr verfallende Gebäude wohl völlig verloren sei, wenn nicht bald mit der Restaurierung begonnen würde. Uns wurde auch die Zusicherung gegeben, dass Hilfe aus dem Westen angenommen werden könne. Otto von Simson gewann mit der Messerschmitt-­Stiftung großzügige mäzenatische Hilfe. Es sollte dann aber noch viele Jahre dauern, bis die Restaurierung abgeschlossen wurde. Die bekannte Durchsetzungsfähigkeit und Überzeugungskraft von Simsons überwanden jedoch alle Hürden.

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Auch die Wiederherstellung des Schlosses Paretz hat den Vorstand und das Kuratorium der Freunde über Jahre beschäftigt, zunächst ziemlich erfolglos. Diese Dinge dauern, und von Simson konnte sehr geduldig sein. Von seiner Beharrlichkeit habe ich gelernt. Ich habe noch immer im Ohr, wie bei einer Vorstandssitzung der Freunde ein stets hilfsbereites, unermüdlich auf Veränderungen und Verbesserungen drängendes Kuratoriumsmitglied ausrief: „Ach, nun hört doch endlich auf, von Paretz zu reden. Paretz ist verloren! Geben wir es auf!“ Otto hätte nie aufgegeben. Und wir taten es auch nicht, zu fest waren wir überzeugt, dass ­dieses politisch und kulturgeschichtlich so wichtige Landgut erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden musste, ganz im Sinne von Otto von Simson. War noch das Hameau im Park des Petit Trianon von Versailles durch Marie-­Antoinette ein höfisches Spiel, bei der zu allgemeiner Begeisterung einige Kühe gehalten wurden und auch etwas Käse zubereitet werden konnte, repräsentiert Paretz einen Gesinnungswandel in der Epoche der preußischen Reformen. Die Schlichtheit und Eleganz der Einrichtung des Herrenhauses sollte Vorbild für Generationen bürgerlicher Lebensformen in einer von Natur und Landwirtschaft geprägten Umgebung werden, fern von höfischem Zeremoniell. Es brauchte auch in ­diesem Fall einige Zeit. Aber vor allem mit Hilfe von Ruth Cornelsen, der über viele Jahre wohl nachhaltigsten und stets hilfsbereiten Mäzenin des Vereins, und ihrer Cornelsen-­Kulturstiftung und der beharrlichen Unterstützung der Freunde gelang es Herrn Giersberg und der Schlösserverwaltung endlich, ­dieses Kleinod der preußischen Geschichte wieder zum Leben zu erwecken.

… sehr große Arbeiten: Das Schloss In einem tiefsinnigen Aufsatz über die Politische Symbolik im Werk des Rubens hat von Simson einen Brief von Rubens an William Trumball, Diplomat und Botschafter von Jacob I. am Hof von Erzherzog Albrecht in Brüssel, zitiert. Es war in der Epoche, in der Rubens in diplomatischen Diensten des spanischen Hofes in England an Friedensverhandlungen z­ wischen Spanien und England beteiligt war. Es erscheint bis heute völlig unerklärlich, wie der viel beschäftigte und, vielleicht neben Poussin, gebildetste Maler seines Jahrhunderts auch noch die Zeit finden konnte, komplizierte politische Vorgänge mit Kompetenz zu verfolgen und aktiv an diplomatischen Gesprächen mitzuwirken. In ­diesem Zusammenhang erhielt er den Auftrag zur Ausmalung der Decke in Whitehall in London. Rubens schrieb: „Ich gestehe, dass es mir von Natur leichter fällt, sehr große Arbeiten auszuführen als kleine Kuriositäten, ein jeder hat seine besonderen Gaben; mein Talent ist so geartet, dass kein Projekt, wie groß auch sein Umfang und wie vielfältig sein Thema, mich jemals entmutigt hat.“ Rubens, Maler, Diplomat und Humanist, blieb seit der Dissertation ein ständiger Begleiter für Otto von Simsons Lebensentwurf. Das scheinbar Unmögliche zu wagen, bedeutete auch ihm Lebenselixier, wie dem von ihm bewunderten Rubens. In d ­ iesem Sinne hat er auch seine Umgebung encouragiert, ja den Enthusiasmus den Jüngeren

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auf den Weg gegeben. Die Freunde der Preußischen Schlösser und Gärten hatten eine nicht nur kulturelle, sondern hochpolitische Mitte gewonnen! Es ging nicht um kleinteiliges Sammeln, sondern um einen Beitrag, die kulturelle Einheit des getrennten Landes wieder­zugewinnen. Es ging Otto um eine neue Sinngebung des Freundeskreises, um politische Sinnstiftung. An einer „sehr großen Arbeit“, wie Rubens sich ausdrückte, einer weit größeren als das Belvedere in Potsdam, hat Otto von Simson ebenfalls entscheidend mitgewirkt, wenn bei dieser monumentalen Herausforderung auch nichts ohne die mittlerweile jahrzehntelange Überzeugungsarbeit von Wilhelm von Boddien realisiert worden wäre: der Wiederherstellung der Berliner Schlosskubatur mit ihren Fassaden. Dieses lange heftig umstrittene Projekt fand mit der Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit der politischen Exekutive und steht nach fast 30 Jahren vor seiner Vollendung. Für Otto von Simson war ­dieses gewaltige Unternehmen kein Projekt der Freunde der Preußischen Schlösser und Gärten. Nicht wegen des Umstandes, dass die Hälfte der Mitglieder ­dieses Projekt mit leidenschaftlichem Nachdruck ablehnten und der Verein sich zu spalten drohte. Vielmehr weil die Wiedererrichtung, beschlossen durch das Parlament, nach seiner Überzeugung eine nationale Angelegenheit darstellte. Nach der Entscheidung über den Umzug des Bundestages und der Regierung von Bonn nach Berlin bedeutete seiner Ansicht nach die Rückgewinnung des Schlosses gleichsam einen Schlussstein der Heilung einer so tief getroffenen und zerstörten Stadtmitte und ein bedeutendes Symbol der Deutschen Einheit.

Guardini-Stiftung Das war wahrlich alles zusammengenommen genug Engagement für einen emeritierten Hochschullehrer, der im Übrigen auch weiterhin wissenschaftlich durch Publikationen tätig blieb. Bei der Betrachtung des Themas „Otto von Simson in Berlin“ muss allerdings noch an ein weiteres Engagement erinnert werden, die Guardini-­Stiftung. Ottos Tätigkeit als einer ihrer Gründer und langjähriger Präsident habe ich aus nächster Nähe verfolgen können, an manchen Gesprächen auch an der Planung und seinen Vorstellungen für diese Initiative Anteil genommen. Otto war als Student, angeregt durch einen befreundeten Jesuiten, entgegen der protestantischen Familientradition zum Katholizismus konvertiert. Sein Buch über die Gotische Kathedrale ist von d ­ iesem Umstand tief geprägt. Auch die Lektüre der Aufsätze, die von Reiner Haussherr unter dem Titel Die Macht des Bildes im Mittelalter herausgegeben wurden, vermitteln dem Leser immer wieder, wie die behandelten wissenschaftlichen Fragen nach den Glaubensvorstellungen der mittelalterlichen Epoche in die Gegenwart reichen und den Autor selbst einschließen. Die Guardini-­Stiftung widmet sich dem Gespräch, den Zusammenhang von Kunst, Wissenschaft und Glauben auszuloten. Sie konnte keinen erfahreneren Gründungspräsidenten finden als von Simson, der in seinen Arbeiten diese Beziehung immer wieder zur

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Sprache gebracht hatte. Dies war niemals aufdringlich sichtbar, wurde vielleicht sogar von den meisten Lesern gar nicht wahrgenommen. Auch mir ist dieser Umstand erst wirklich deutlich geworden, nachdem Otto und einige Freunde die Guardini-­Stiftung gründeten. Ich habe seitdem manche seiner Schriften, vor allem die Gotische Kathedrale, mit ganz anderer Wahrnehmung und einem anderen Verständnis neu gelesen. Es steht mir nicht an, hier ausführlich über die Guardini-­Stiftung zu handeln. Aber ich wage doch einige Bemerkungen in unserem Zusammenhang, die wiederum davon bestimmt sind, was ich von Otto von Simsons Engagement in dieser Sache wahrgenommen habe. Wie bereits gesagt, eine Grundlage war sein Bekenntnis zum Christentum und zur katholischen ­Kirche. Hier gäbe es verschiedene Stationen in seinem Leben zu betrachten, für die die Zeit fehlt. Es sei nur erwähnt, dass Otto von Simsons intensive Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Theologie, der Voraussetzung seiner Analyse und seiner Deutung des gotischen Kirchenbaus als Haus Gottes, in seinem Leben eine konsequente Beschäftigung mit philosophischen Fragen zur Folge hatte. Er war ein vorzüglicher Kenner auch der Geschichte der Philosophie der frühen Neuzeit von Descartes und Pascal, zu Kant und Hegel, sowie Schopenhauer und Heidegger. Besonders beeindruckten ihn die Schriften von Romano Guardini, den er noch selbst in Berlin erlebt hatte. Aber auch die Vorstellungen von Jaspers, Heisenberg und anderen, die Folgen der modernen Naturwissen­ schaften für die Lebensbedingungen der Menschen und ihre existentielle Bedrohung zu diskutieren, lag ihm am Herzen. Sich auf Goethe berufend, der immer wieder das Ende der Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften seit Galileo und Kopernikus beklagt hatte, suchte er mit Gleichgesinnten in dieser Stadt den notwendigen Dialog ­zwischen den Disziplinen zu fördern. Es war diese Initiative wiederum auch ein Engagement für die Stadt Berlin. Von Simson wurde sicherlich durch seine Mitwirkung am Committee on Social Thought, einem Forum, in dem sich Professoren und Studenten der Universität von Chicago zu Gesprächen und Vorträgen über politische, philosophische, soziale, theologische und kulturelle ­Themen trafen, angeregt. Otto von Simson beschrieb Berlin als Deutschlands lebendigste und erfolgreichste Stadt in den Bereichen Kultur und Wissenschaften. „Die religiöse Dimension“, wie er formulierte, „sei in unserer Stadt allerdings kaum sichtbar“. Die Guardini-­ Stiftung sollte diese Perspektive ergänzen und ein Forum sein, nicht für eine Arbeit mit missionarischen Eifer, sondern für Toleranz und Freude am Dialog über grundlegende Fragen der menschlichen Existenz heute. Dies alles wurde gesagt und geschrieben lange vor den Kriegen im Irak, in Afghanistan und in Syrien und den Folgen der Immigration. Es ist wohl so, dass die Ziele, die von Simson mit der Guardini-­Stiftung verband, Naturwissenschaften, Kunst und Glauben im Sinne Guardinis wieder stärker zusammenzuführen, in unserer Gegenwart vielleicht neu definiert werden müssen, aber keineswegs an Aktualität verloren haben.

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Und nochmals Rubens Ravenna, die gotische Kathedrale, auch sein Buch über einige ihm nahestehende Meister des deutschen 19. Jahrhunderts, Caspar David Friedrich, Carl Spitzweg, Ludwig Richter und Wilhelm Leibl, sind im Grunde der politischen Ikonographie, der Suche nach Identität des Individuums und der Gemeinschaft gewidmet. Immer wieder ging es ihm um das Verhältnis des Politischen zum Künstlerischen. Wissenschaftliche Arbeit und eine seltene, schier unbegrenzte Belesenheit, eine tiefe Bildung und ein beneidenswertes Gedächtnis waren die Voraussetzungen für eine Formulierungskunst, die den Redner und Schriftsteller Otto von Simson auszeichneten. Auf Rubens kam er immer wieder zurück. Rubens ließ ihn nicht los! So lud ich eines Tages den emeritierten Professor ein, nochmals an das Katheder zurückzukehren und eine Vorlesung über den flämischen Meister zu halten. Aus den Vorlesungen ist sein letztes Buch entstanden, dessen Erscheinen er nicht mehr erlebte. Er wollte sich zunächst kurz fassen. Es ist aber doch ein schweres Buch mit über 500 Seiten geworden. Wir konnten ­dieses Vermächtnis nicht ungedruckt lassen. Mit großem Engagement stand mir als Heraus­geber Marie Anne von Simson zur Seite. Der Leser spürt in d ­ iesem Buch eine ungewöhnliche Nähe des Autors zu seinem Gegenstand. Er berichtet und analysiert, als sei er dabei gewesen, über den für ihn größten Erzähler. Die Verlebendigung der großen antiken Mythen, der antiken Geschichte und der christlichen Legenden wird als die unerhörte Leistung ­dieses Genies lebendig. In Rubens’ Werk blüht, vielleicht zum letzten Mal in der Kunstgeschichte, das ganze humanistische Wissen nochmals im Bild sichtbar auf. Die Geschichte der Kunstgeschichte, d. h. die Geschichte des Faches, hat in den letzten Jahrzehnten eine große Bedeutung gewonnen. Sie ist zu einem eigenen Forschungsbereich innerhalb der Disziplin angewachsen. Jeder individuelle Autor, das ist bereits ganz selbstverständlich geworden, sucht bei einer neuen Abhandlung, die er beginnt, seinen Standpunkt innerhalb des Faches zu definieren. Die Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Werk eines so bedeutenden Autors wie Otto von Simson gehört in d ­ iesem Sinne zu den selbstverständlichen Aufgaben der Disziplin Kunstgeschichte.

Otto von Simson in Berlin Meine Absicht war es, Zeugnis abzulegen von persönlichen Erfahrungen, die nicht ihren Niederschlag in schriftlicher Form oder Publikationen gefunden haben. Seit dem Tod Otto von Simsons im Jahre 1993 ist fast der Zeitraum einer Generation vergangen. Ich war 13 Jahre mit ihm befreundet und habe sein Wirken aus der Nähe beobachten können. Ich bin in gewisser Weise sicher voreingenommen. Dennoch kann ich versuchen, die Bedeutung seiner Tätigkeit in dieser Zeit aus dem Abstand zu beurteilen. Die politischen Auseinandersetzungen an der Freien Universität habe ich nicht miterlebt. Aber sicher ist, dass von Simson eine erhebliche politische und kulturelle Rolle in

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den 1980er und frühen 1990er Jahren in Berlin gespielt hat. Er war ein entscheidender Akteur in den Jahren vor und unmittelbar nach dem Mauerfall, den er persönlich mit der größten Begeisterung gefeiert hat. Otto von Simson brachte bei seiner Rückkehr nach Berlin die Erfahrung eines Lebensweges mit, der ihn in als Emigrant in die USA geführt hatte, wo er wie andere Hochschullehrer, die sein Schicksal zu teilen hatten, hätte bleiben und eine weitere erfolgreiche Karriere entfalten können. Die Verbundenheit mit seinem Land, seiner Berliner Herkunft und der bedeutenden Rolle, die seine Familie hier gespielt hatte, führten ihn zurück. In seinem Wohnzimmer hing eine Lithographie mit dem Bildnis von Eduard von Simson, dem Präsidenten des Frankfurter Parlaments, einem der bedeutendsten Politiker des 19. Jahrhunderts, dem bewunderten Ur-­Großvater. Zunächst als Vertreter der jungen Bundesrepublik Deutschland bei der UNESCO in Paris, dann als Berliner Hochschullehrer spielte Otto von Simson durch seine umfassende Bildung, seine internationale Erfahrung und seine freundschaftlichen Verbindungen in vielen Ländern eine wichtige Rolle für die allgemeine Anerkennung des Faches nach dem Zweiten Weltkrieg. Die 1960er Jahre waren sicherlich Krisenjahre in seiner Laufbahn als Hochschullehrer. Er zweifelte sogar gelegentlich, ob die Rückkehr an die Freie Universität unter diesen Bedingungen sinnvoll war. Allerdings hielt er zu seinen Mitstreitern. Die Aufgabe erschien ihm zu wichtig. In den beiden folgenden Jahrzehnten im eingeschlossenen Berlin hat Otto von Simson seine politische und diplomatische Erfahrung in kulturpolitischen Initiativen ­nutzen können. Der hohe Respekt, den er als Wissenschaftler erfuhr und seine gewinnende Persönlichkeit ermöglichten ihm den Zugang zu den politischen Vertretern in den Jahren der Berliner Regierungszeit von Richard von Weizsäcker und Eberhard Diepgen. Mit großem Einsatz kämpfte er für die Wiederherstellung und internationale Reputation seiner Stadt, die – für ihn völlig selbstverständlich – nach dem Fall der Mauer wieder die Hauptstadt Deutschlands werden musste. Otto von Simson war ein herausragender Kunsthistoriker, der einen wichtigen Platz in der Geschichte des Faches einnimmt. Seine Forschungen umkreisten, seinen Leidenschaften entsprechend, ­Themen, in denen Kunst in besonderem Maße in historischen und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen entstand. Diejenigen, die an seinen Initiativen Anteil nehmen konnten, hat er geprägt. Die gemeinsamen Jahre waren eine unvergessliche Lehre und zeigten, was eine Persönlichkeit zum Nutzen aller im öffentlichen Leben zu bewirken vermag. Ein Leben, in dem Wissenschaft, politisches und kulturelles Engage­ ment untrennbar miteinander verbunden waren.

Bildnachweise

Hannesen Foto Marburg: 1 Foto: J. C. Schaarwächter: 2 © Otto-­Bartning-­Archiv, Technische Universität Darmstadt: 3, 4 Privatbesitz: 5 – 7 © Joachim G. Jung – Bildjournalist (DJV): 8 Voci Commons.wikimedia.org: 1 – 3 Herklotz Archiv des Autors: 1, 2, 5, 6 Zeno.org: 3, 4, 7 Bildarchiv Foto Marburg: 8 Museum zur Geschichte von Christen und Juden, Schloß Großlaupheim: 9 Michels Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz: 1, 2 Jäggi Otto von Simson, Sacred Fortress, Chicago 1948, Schutzumschlag: 1 Aufnahmen der Autorin: 2, 4, 5, 6, 7, 10 Aus: Carola Jäggi, Ravenna. Kunst und Kultur einer spätantiken Residenzstadt. Die Bauten und Mosaiken des 5. und 6. Jahrhunderts, Regensburg 2016: 3, 9 Foto: Museo Arcivescovile, Ravenna: 8 Klein Archiv des Autors: 1, 4 Wikipedia: 2, 3 Herklotz University of Chicago, Photographic Archive: 1 – 2 Archiv des Autors: 3 – 6 Becker Staatsbibliothek zu Berlin, SPK Berlin, Nachlass 290, Kasten 11; Foto © Staatsbibliothek zu Berlin, SPK Berlin: 1 a–c © bpk (Hamburger Kunsthalle), Foto: Elke Walford: 2, 3

276 |  Bildnachweise

Archiv der Autorin: 4 Aus: Runge in seiner Zeit (Ausst-­Kat.), hg. von Werner Hofmann, München/Hamburg 1977, S. 180: 5a, b © Staatsgalerie Stuttgart: 6 © Museum Wiesbaden, Foto: Bernd Fickert: 7 © Städtische Galerie im Lenbachhaus: 8

Personenregister

A Abercombie, Leslie Patrick  234 Abs, Hermann-Joseph  268 Adenauer, Konrad  216, 233, 238 Adler, Mortimer  176, 184, 192 Adorno, Theodor W.  217 Agnellus von Ravenna, Chronist  131 Agnellus, Bischof von Ravenna  134 Ahrendt, Hannah  122 Alberti, Guglielmo  228 Alberti, Leon Battista  64 Albertus Magnus  172 Albornoz, Gil Álvarez de, Kardinal  77 Albrecht, Erzherzog von Österreich  270 Alexander von Makedonien  191 Alexander VI., Papst  53 Alföldi, Andreas  107, 140 Alfons V. von Aragon  104 Alvensleben, Udo von  123 Amalasuintha 129 Ammannati, Bartolomeo  60 Andrea da Firenze  65 Andrea del Castagno  62, 68 Andrea del Sarto  57, 61, 63, 68 Andrea Pisano  60 Aristophanes 176 Aristoteles  119, 176, 192 Arnauld de Verdal  171 Arnim, Else von  30 Arnolfo di Cambio  78, 166 Athalarich 129 Athenaios 186 Augustinus, Aurelius  176 B Baader, Franz von  257 Bachelard, Gaston  254 Bachhofer, Ludwig  121, 189, 202 Bacon, Francis  192

Baer, Winfried  266, 268 Baldass, Ludwig von  206 Bandinelli, Baccio  60 Bandmann, Günther  153, 235, 264 Barr, Alfred  116 Barrett, John D.  235 Barth, Karl  26 Barthes, Roland  151, 251 Bartning, Otto  15 Bassano, Jacopo da  57 Battifol, Pierre  140 Bauer, Catherine  234 Baumgarten, Paul  16 Baynes, Norman H.  139 Beccadelli, Ludovico  65 Becker, Hellmut  229, 230 Beckmann, Max  227, 249, 262 Beethoven, Ludwig van  67, 68, 253 Béguin, Albert  228 Belgion, Montgomery  221, 230 Belisar 138 Bellori, Giovanni Pietro  104 Benjamin, Walter  99 Bentivoglio, Guido  63 Benvenuto di Giovanni  71 Bergen, Diego von  55 Bergstraesser, Arnold  120, 123, 202 – 204, 209, 220, 238 Berlin, Isaiah  193 Bernhard von Clairvaux  155, 159 Bernini, Gian Lorenzo  55 – 57 Beuys, Joseph  12, 258, 259 Bezold, Gustav von  159 Bismarck, Otto von  21, 202 Blanckenhagen, Peter Heinrich von  192, 193, 200, 202, 228 Blechen, Karl  248, 251 Bloch, Marc  183 Blucher, Walter H.  234

278 |  Personenregister Blümner, Hugo  91 Boase, Thomas Sherrer Ross  193, 239 Bock von Wülfingen, Ordenberg  206 Bode, Wilhelm von  72 Boddien, Wilhelm von  271 Böcklin, Arnold  248 Böhm, Karl  268 Böhme, Jakob  257 Böker, Alexander  198, 200 Bonfigli, Benedetto  78 Bonhoeffer, Dietrich  25 Boorstin, Daniel J.  180, 191, 219 Borromini, Francesco  55 Botticelli, Sandro  69, 98 Bouscaren, Anthony T.  226 Boyer, E. D.  207 Braque, Georges  247 Braudel, Fernand  183 Bréhier, Louis  140 Brinckmann, Albert E.  206 Bruckmann, Hugo  248 Broch, Hermann  199 Brueghel, Pieter (d. Ä.)  93 Brüning, Heinrich  184, 193, 199, 210 Brunelleschi, Filippo  61, 64, 65, 68, 157 Brutus, Iunius  191 Buber, Martin  230 Buckley, William F.  220 Buddensieg, Tilman  264 Büchner, Georg  36, 38, 67 Bülow, Wilhelm von  21, 115 Bultmann, Rudolf  193 Burchard, Ludwig  84 Burckhardt, Carl Jacob  8, 122, 219, 221, 224, 238 Burckhardt, Jacob  37, 41, 42, 46, 91, 102, 179, 181, 191 Burgkmaier, Hans (d. Ä.)  94 Burnham, Philip  185 Buschor, Ernst  84 Byrnes, James F.  198

C Cairns, Huntington  236 Cajetan, Thomas  255 Canaletto (Giov. Antonio Canal)  65 Cassirer, Ernst  94 Cassirer, Paul  15, 247 Cellini, Benvenuto  60 Cervantes, Miguel de  176 Cézanne, Paul  16, 247, 257 Chacon, Alfonso  104 Chagall, Marc  184, 193 Chandrassekhar, Subrahmanyan  184 Charanis, Peter  139 Christoffel, Ulrich  254 Churchill, Winston  224 Cicero  176, 191 Cicorius, Conrad  104 Cimabue, Giovanni  38, 76 Clouzot, Etienne  140 Colwell, Ernest Cadman  190 Constable, William George  116 Cornelsen, Ruth  270 Correggio  50, 57 Cook, Walter S.  116, 118 Courbet, Gustave  251 Cumont, Franz  140 Cusanus, Nicolaus  191 D D’Annunzio, Gabriele  228 Daddi, Bernardo  76 Dahl, Ilse  97, 98, 105 Dal Pozzo, Cassiano  90 Dante Alighieri  48, 76, 176 Davidsohn, Philippine  73 Davidsohn, Robert  36, 73 Degas, Edgar  247 Dehio, Georg  7, 43, 47, 107, 159 Deichmann, Friedrich Wilhelm  137, 138, 206 Deliyannis, Deborah Mauskopf  139 Della Robbia, Luca  72 Della Rovere, Francesco Maria I.  65 Dengler, Theobald J.  184, 192

Personenregister | 279 Descartes, René  272 Desiderio da Settignano  65, 72 Dessoir, Max  200 Dettmann, Ludwig  109 Diderot, Denis  186 Diehl, Charles  82, 140 Diekmann, Godefrey  185 Diepgen, Eberhard  274 Dilthey, Wilhelm  93, 94 Dionysios Areopagita  158, 236 Dix, Otto  109 Donandt, Rainer  93 Donatello  60, 65, 72 Doni, Agnolo  63 Doni, Maddalena  63 Dorgerloh, Hartmut  268 Dorner, Alexander  114 Dovizi, Bernardo (il Bibbiena), Kardinal  63 Droste-Hülshoff, Annette von  36, 67 Droysen, Johann Gustav  34 Duccio di Buoninsegna  38, 64, 70, 71 Dürer, Albrecht  94 Durandus von Mende  160 Duverger, Maurice  224 Dvořák, Max  92, 93, 97 Dyck, Anthonis van  63 E Ecclesius, Bischof von Ravenna  131 Einem, Herbert von  239, 263, 264 Einstein, Albert  199 Eisner, Margarete  15 El Greco  57, 67 Eliade, Mircea  122 Eliot, Thomas Stearns  183, 193, 221, 226, 227 Erasmus von Rotterdam  191 Este, Ippolito d’, Kardinal  63 Evers, Hans Gerhard  82, 83, 87, 106, 107 Ewalt, John  190

F Faulhaber, Michael von  25 Febvre, Lucien  183 Feininger, Lionel  151 Félibien, André  84, 87 Fest, Winfried  266 Feuerbach, Anselm  248 Fiorenzo di Lorenzo  78 Flexner, Abraham  117, 175, 176 Focillon, Henri  82 Fohr, Karl Philipp  250, 251 Foggi, Alfeo  184 Fontane, Theodor  123, 268 Forster, Edward Morgan  214 Fra Angelico  60, 63, 64, 78 Franciabigio  63, 68 Franck, James  199 Fränkel, Hermann F.  199 Frankl, Paul  113, 214 Franz I. von Frankreich  88 Franz von Assisi  48, 53, 76, 77, 179, 181, 191 Freistadt, Hans  212 Freud, Sigmund  42 Frick, Wilhelm  20 Friedländer, Paul  199 Friedlaender, Walter  7, 29, 98, 116, 148 Friedrich II. von Hohenstaufen  48, 76, 77, 101, 104 Friedrich II. von Preußen  196, 267, 269 Friedrich III., dt. Kaiser  15 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen  15 Friedrich von Verdun  170 Friedrich, Caspar David  241, 244 – 246, 248, 250 – 253, 257, 259, 262, 273 Fromm, Bella  35 Fulbright, J. William  184 Furet, François  122 G Gadamer, Hans-Georg  158 Gaddi, Taddeo  68, 69 Galen, Clemens August von  206 Galilei, Galileo  272

280 |  Personenregister Garrick, David  187 Gasparri, Pietro  29 Gaul, August  16 Gay, Peter  48 Gentile da Fabriano  78 Georg Prinz von Sachsen  26, 27, 114 George, Stefan  22, 33, 35 – 37, 57, 70, 82, 248 Gerhard I., Bischof von Cambrai  167 Gerkan, Armin von  107 Gernhardt, Robert  258 Gersheim, Walter  97 Ghirlandaio, Domenico  39, 40, 63, 64, 69, 71, 72, 74 Gibbon, Edward  134 Gide, André  228 Giehlow, Karl  94 Giersberg, Hans-Joachim  266, 268 – 270 Gies, Ludwig  109 Gilbert, Felix  34, 36 – 38, 51, 52, 55, 59, 67, 70, 72 – 74 Gillessen, Herbert  25, 26 Gilson, Etienne  221, 227 Giorgione 98 Giotto di Bondone  43, 48, 68, 72, 76, 77, 237 Glamer, Helena M.  204 Glunz, Hans  162, 166 Goebbels, Joseph  197, 224 Goethe, Johann Wolfgang von  14, 33, 37, 41, 42, 45, 48, 51, 54, 56, 67, 73, 192, 210, 272 Goetz, Oswald  199 Goldhagen, Daniel  196 Goldschmidt, Adolph  7, 113 Goldsmith, Oliver  187 Gonzaga Della Rovere, Eleonora  65 Gothein, Eberhard  70, 248 Gothein, Percy  70, 191 Gottfried, Bischof von Amiens  168 Goya, Franciso de  106 Gozzoli, Benozzo  60, 61, 71, 72, 74 Grabar, André  108, 136, 137, 140, 190 Gregorovius, Ferdinand  47 Grene, David  219 Grimm, Herman  41, 46

Gropius, Walter  151, 199 Grossmann, Karl  85, 86 Grotius, Hugo  110 Grünewald, Matthias  60 Guardi, Francesco  65, 194 Guardini, Romano  25, 41, 205, 272 Guido von Bazoches  169 Guidoriccio da Fogliano  70 Gundolf, Friedrich  33, 37, 42, 43 Gurlitt, Cornelius  84 Guttmann, Bernhard  221, 225 H Haber, Charlotte  72 Haber, Fritz  72 Haberstock, Karl  262 Hackenbroch, Yvonne  84 Haftmann, Werner  105 – 107 Hager, Werner  106, 107, 109 Hahn, Hanno  217 Haimon von S. Pierre-en-Dive  170 Haley, William  226 Hallstein, Walter  213 Hamerling, Robert  59 Harrison, Roland Wendell  213 Hartlaub, Gustav Friedrich  98, 101 Hartwig, Otto  46 Hasenclever, Sophie  41 Hausenstein, Wilhelm  249 Haussherr, Reiner  271 Hauttmann, Max  130, 135 Hawkwood, John  130, 135 Hayek, Friedrich August von  189 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  14, 99, 196, 254, 272 Heidegger, Martin  221, 228, 272 Heidner, Heinrich  109 Heilbronner, Paul  97 Heinemann, Gustav  216 Heinrich IV. von Frankreich  48, 88, 267 Heisenberg, Werner  272 Held, Julius  199 Hellonin von Bec  173

Personenregister | 281 Herder, Johann Gottfried  47 Herodot 176 Heyse, Paul  46 – 48, 59 Herwarth von Bitterfeld, Hans-Heinrich (auch Hans von Herwarth)  17, 18, 238 Hetzer, Theodor  206 Hilberseimer, Ludwig  199, 234 Hillebrand, Karl  46 Hitler, Adolf  35, 79, 115, 116, 177, 196, 197, 201, 207, 220 – 223, 229, 262 Hocking, William E.  227 Hölderlin, Friedrich  33, 36, 67, 248 Hoffmann, Edith  97 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus  36, 67, 248 Hoffmann, Heinrich  248 Hoffmann, Wilhelm  204 Hofmann, Hans  19 Hofmann, Werner  243 Hofmannsthal, Hugo von  38 Holldack, Heinz  59, 70 Holst, Niels von  109 Homberger, Heinrich  46 Homer  176, 191 Honorius III., Papst  77 Honorius Augustodunensis  160 Hooch, Pieter de  57 Horkheimer, Max  217 Hughes, H. Stuart  224 Hugo, Bischof von Rouen  171 Hugo von Cluny  165, 166 Hugo von Conques  173 Hugo von Selby  173 Hugo von St. Victor  162 Humboldt, Alexander von  186 Humboldt, Wilhelm von  48, 176 Huntley, G. Hayden  189 Hutchins, Robert Mainard  114, 119, 120, 176, 177, 180 – 184, 188, 194, 195, 199 – 201, 210, 212, 213, 216, 219, 220, 225 – 227, 229 – 233, 237 – 239 Hutten, Ulrich  82

I Ignatius von Loyola  206 Inghirami, Tommaso (Fedra)  63 Innozenz III., Papst  48, 53, 76 Isabella von Brienne  77 Isidor von Sevilla  186 J Jacob I. von England  270 Janson, Horst  122 Jantzen, Hans  84, 103, 107, 153 Jaspers, Karl  205, 207, 272 Johann von Brienne, Kg. von Jerusalem  77 Johannes VIII. Palaiologos, Ks. von Byzanz  61 Johannes XX., Papst  171 Johnson, Franklin P.  189 Johnson, Samuel  187 Jonas, Fritz  16 Jonas, Hans  228, 236 Journet, Charles  231 Julianus Argentarius  129 – 131, 138 Jung, Carl Gustav  101, 106 Justi, Carl  42, 84 Justi, Ludwig  252 Justinian, Kaiser  125 – 132, 134, 138, 140, 206 K Kahler, Erich von  199 Kant, Immanuel  192, 231, 272 Kantorowicz, Ernst  199 Karajan, Herbert von  268 Karl d. Große  167 Kehrer, Hugo  23 Keller, Harald  214, 217 Kempner, Robert  229 Kerkel, F. P.  197 Kierkegaard, Søren  228 Kieser, Emil  99 Kim, Chrysostom  185 Kimball, Fiske  236 Kimpel, Dieter  157, 158 Kirk, Russell  220, 225 Kirmß, Paul  17

282 |  Personenregister Kitzinger, Ernst  7, 24, 81, 86, 89, 97, 127, 137, 141 Kleist, Heinrich von  36, 67, 248 Kline, Franz  19 Knauer, Elfriede Regina  156 Knight, Frank H.  182 Kobell, Wilhelm von  194 Köhler, Wilhelm  116, 199 Köster, Roland  24 Konrad von Soest  206 Kooning, Willem de  19 Kopernikus, Nikolaus  272 Krautheimer, Richard  116, 122, 153, 158, 235 Krayer, Otto  201 Kretzschmar, Hugo  211 Kristeller, Paul Oskar  199 Kuehnelt-Leddihn, Erik Maria von  211, 212 Kuhn, Helmut  222, 223

Locke, John  119 Löwith, Karl  228 L’Orange, Hans Peter  107 Lorenz, Konrad  193 Lorenzetti, Ambrogio  70, 76 Lorenzo Monaco  68, 69 Lorrain, Claude  38, 51 Lotz, Wolfgang  200, 201 Ludwig II. von Bayern  106 Ludwig VII. von Frankreich  168 Ludwig IX. von Frankreich  170 Ludwig XIII. von Frankreich  88 Ludwig XIV. von Frankreich  83, 196 Ludwig XV. von Frankreich  83 Ludwig Prinz von Hessen und bei Rhein  82, 209 Luise, Königin von Preussen  31 Luther, Martin  181, 191, 206

L Laib, Conrad  206 Lanckorońska, Karolina  190 Lang, Reginald  212, 238 Le Corbusier, Charles-Edouard  234 Lee, Rensselaer  190 Lehmann-Brockhaus, Otto  123 Leibl, Wilhelm  241, 248, 250, 251, 259, 260, 262, 273 Leibniz, Gottfried Wilhelm  186, 191 Lenin, Wladimir Iljitsch  224 Leo X., Papst  63 Leo XIII., Papst  195 Leon (Franziskaner)  179 Leonardo da Vinci  50 Leopardi, Giacomo  59 Lessing, Gotthold Ephraim  17 Lévi-Strauss, Claude  251 Lichtwark, Alfred  16, 245 Liebermann, Max  16, 19, 248 Liepe, Wolfgang  202, 238 Linfert, Carl  99 Lippi, Filippo  64, 65 Lippo Memmi  60 Liss, Johann  65

M Machiavelli, Niccolò  231 Madeleva, Sister  180, 181 Maderno, Carlo  75 Maitani, Lorenzo  60 Makart, Hans  248 Mâle, Emile  235 Manet, Edouard  16, 247, 257 Mann, Heinrich  46, 53 Mann, Thomas  46, 63, 199 Mantegna, Andrea  65 Manteuffel, Hanne von  268 Marc, Franz  249 Marc Aurel  54, 176 Marcks, Erich  59 Marées, Hans von  248 Marese, Ludwig  209 Marie-Antoinette, Königin von Frankreich  270 Marino, Giovanni Battista  88 Maritain, Jacques  183, 220, 221, 223, 225, 231 Marivaux, Pierre Carlet de  268 Martini, Simone  70, 76 Masaccio  43, 49, 62, 64, 103 Massignon, Louis  193 Mathilde, Gem. Wilhelms d. Eroberers  161

Personenregister | 283 Matteo di Giovanni  71 Maurras, Charles  183 Maximian, Bischof von Ravenna  126, 129 – 132, 134, 138, 139 Maximilian I., röm.-dt. Kaiser  94 Mazzuchelli, Samuel Charles  227 McCarthy, Joseph Raymond  233 McCormick, Robert H.  234 McIllwain, Charles Howard  184 Meany, John W.  236 Medici, Lorenzo de’, Hz. von Urbino  62 Medici, Maria de’, Königin von Frankreich  48, 84, 87 – 90, 98, 267 Meier-Graefe, Julius  247, 249 Meinecke, Friedrich  34, 47, 59 Meinwerk, Bischof von Paderborn  168, 172 Mendelssohn, Abraham  34 Mendelssohn, Alexander  34 Mendelssohn, Felix  34 Mendelssohn, Joseph  34 Mendelssohn, Margarethe  15 Mendelssohn, Moses  15, 17, 34 Mendelssohn-Bartholdy, Charlotte  247 Mendelssohn-Bartholdy, Ernst von  58 Mendelssohn-Bartholdy, Paul  16, 247 Menzel, Adolf  244, 248 Messel, Alfred  15 Metcalf, George J.  204 Meyer, Conrad Ferdinand  44 Michalski, Ernst  23, 49, 61, 79, 80 Michel, Émile  85 Michelangelo Buonaroti  37, 41 – 45, 48, 54, 56, 60 – 62, 67, 68, 118, 186, 187, 227, 236 Michelet, Jules  191 Middeldorf, Ulrich  119, 121, 189, 190, 204, 238 Mies van der Rohe, Ludwig  199, 234 Mills, Annice L.  235 Molden, Otto  215 Mommsen, Theodor  8, 16 Monet, Claude  257 Moravia, Alberto  228 More, Paul Elmer  180 Morey, Charles Rufus  116, 140

Morisot, Claude-Barthélemy  87 Moroni, Giovan Battista  118 Moses, Robert  234 Mosti, Tommaso  63 Mozart, Wolfgang Amadeus  268 Müller, Ludwig  26 Münz, Sigmund  46 Mumford, Louis  234 Muratori, Santi  140 Mussolini, Benito  35, 224 Muth, Carl  29, 207 N Napoleon Bonaparte  196, 241, 245, 258 Nattier, Jean-Marc  87 Nef, John Ulric Jr.  126, 127, 136, 177 – 184, 187 – 190, 192 – 194, 201, 211, 213, 216 – 221, 229 – 236, 238, 239 Nehru, Jawaharlal  221, 225 Neumann, John von  184 Neurath, Konstantin von  20, 21, 115 Newman, Barnett  257 Newton, Isaac  191 Niccolò da Tolentino  62 Niebuhr, Barthold Georg  14 Niemöller, Martin  25, 26 Nietzsche, Friedrich  43, 44, 196 Nigg, Walter  206 Nolte, Ernst  197 O Odfridus von Watten  168 Odilo von Cluny  172 Oehlenschläger, Adam  255 Oppenheim, Elsbeth  71 Oppenheim, Enole  34 Oppenheim, Franz Otto  15, 34, 71, 247 Oppenheim, Margarete  71, 72, 247, 249 Oppenheim, Martha  s. Simson, Martha von Orcagna  64, 67 Ostermann, Joseph D.  29, 98, 116 Otto, Bischof von Bamberg  172 Overbeck, Friedrich  75

284 |  Personenregister P Pacelli, Eugenio  29, 52, 117 Panofsky, Erwin  7, 29, 91, 94, 97, 111, 113, 116 – 118, 122, 123, 149, 150, 152, 153, 155, 156, 187, 193, 235, 250 Paolo Uccello  62, 65 Paracelsus 191 Pascal, Blaise  228, 272 Passerin d’Entrèves, Alessandro  220, 231 Pauck, Wilhelm  201, 204, 212, 213 Perugino  75, 78 Peterhans, Walter  198 Petersen, Vita  19 Petrarca, Francesco  179, 191 Pevsner, Nikolaus  7, 61 Picasso, Pablo  228, 247 Piccolomini, Enea Silvio  70 Piero della Francesca  71, 74, 78 Pierre de Montreuil  174 Pierre de Roissy  160 Pinder, Wilhelm  23, 24, 28, 40, 61, 79, 80, 83, 84, 92, 96 – 98, 105, 111, 115, 116, 130, 152, 179, 241 Pinturicchio 70 Pisano, Nicola  70, 78 Pius XII.  s. Pacelli, Eugenio Platon  176, 180, 227 Plutarch 176 Poetzelberger, Oswald  109 Polanyi, Michael  193, 224, 225 Pollock, Jackson  19 Pontormo, Jacopo da  43, 63, 67 Poppo, Bischof von Trier  72 Portmann, Heinrich  206 Poussin, Nocolas  270 Preetorius, Emil  63, 209, 210 Preysing, Konrad von  29, 184, 192, 210 Pribilla, Max  206 Przywara, Erich  26 Q Quidde, Ludwig  8

R Raczyński, Josef Alexander  13, 22 – 27, 30, 81, 82, 125, 148, 200, 209 Radulfus Glaber  167 Raffael  43, 55, 56, 58, 63, 78, 187 Ranke, Leopold von  191 Rasmussen, Steen Eiler  234 Rayski, Ferdinand von  114, 242 Redfield, Robert  180, 182, 219 Reed, Earl  227 Regnery, Henry  203, 214, 216, 219 – 221, 229 – 233, 239 Renoir, Auguste  257 Reynolds, Joshua  187 Rheinstein, Max  202, 204, 212 Rice, David Talbot  138 Richardson, Carolyn  207 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, duc de  88, 90, 99, 100, 179, 267 Richter, Ludwig  241, 248, 250, 252, 259 – 262, 273 Rickert, Margaret  189 Riegl, Alois  7, 47, 84, 93, 106, 107 Rilke, Rainer Maria  46, 228 Rinn, Hermann  203, 207 Robert von Melun  166 Rodin, Auguste  227, 236 Roeder-Baumbach, Irmengard  107 Röpke, Wilhelm  223 Rossellino, Bernardo  60 Rothfels, Hans  202, 204, 220, 222, 229, 238 Rousseau, Henri  247 Rousseau, Jean Jacques  196 Rubens, Peter Paul  12, 48, 72, 82 – 90, 95, 98 – 100, 102, 106, 110, 111, 148, 178, 179, 206, 267, 270, 271, 273 Ruisdael, Jacob van  80 Runge, Daniel  258 Runge, Philipp Otto  241, 242, 249, 254 – 259, 262 Rust, Bernhard  177 S Sabatier, Paul  179 Sachs, Paul J.  116

Personenregister | 285 Salimbene von Parma  170 Salin, Edgar  36 Samaroff Stokowski, Olga  177 Sartre, Jean-Paul  228 Sauerländer, Willibald  156 Sauerlandt, Max  42 Savigny, Friedrich Carl von  14 Saxl, Fritz  7, 91, 94, 187 Schabert, Kyrill  198 Schapiro, Meyer  116, 234 Scheffer, Paul  214 – 216, 229 Scherer, Robert  207 Schleiermacher, Friedrich  14 Schlögel, Karl  266 Schmarsow, August  84 Schnaase, Karl  99, 158 Schnabel, Artur  231 Schniewind, Ewald  30 Schneider, René  82 Schönberg, Arnold  184 Schönburg-Hartenstein, Johannes von  29 Schönburg-Hartenstein, Louis von  194 Schönburg-Hartenstein, Louise Alexandra von  s. Simson, Louise Alexandra von Schöningh, Franz Josef  114, 123, 206, 207, 209, 220, 242 Schopenhauer, Arthur  97, 111, 272 Schrade, Hubert  99, 104, 105, 108 Schramm, Percy Ernst  108 Schubart, Wilhelm  206 Schuschnigg, Kurt von  193 Schwab, Joseph J.  188 Schwarz, Rudolph  234 Schwietering, Julius  213, 214, 217 Scott, Geoffrey  191 Sedlmayer, Hans  7, 150, 152, 153, 155, 156, 205, 215, 227, 235, 243 Sennet, Richard  252 Sessions, Barbara Foster  139 Seznec, Jean  91 Shakespeare, William  57 Shaw, Alfred  234 Siegfried, André  223, 225

Signorelli, Luca  60, 65, 71, 74 Simson, Beate von  72 Simson, Eduard von  14, 15, 17, 21, 113, 274 Simson, Ernst von  16, 17, 20, 21, 24, 45, 55, 80, 81, 115, 193, 238, 262 Simson, Ernst Martin von  29, 30, 117 Simson, Louise Alexandra von  27, 30, 31, 67, 100, 114, 117, 118, 122, 125, 193, 194, 207 Simson, Marie Anne von  263, 265, 266, 269, 273 Simson, Martha von  15, 21, 58, 72, 113 Simson, Otto von  passim Sixtus IV., Papst  65 Slevogt, Max  249 Smend, Johann  55 Sorel, Georges  196 Southern, Richard W.  236 Spellman, Francis J.  29 Spengler, Oswald  42, 43 Spitzweg, Carl  241, 250 – 252, 259 – 262, 273 Staël, Germaine de  254 Stalin, Josef  223 Stange, Alfred  43, 80, 211, 215, 216, 235 Stein, Edith  26 Stein, Peter  268 Steinbart, Kurt  206 Stephan von Tournai  168 Stern, Fritz  265 Storm, Theodor  123 Strauss, Ernst  23, 79 Strittmatter, Anselm  127, 128, 185, 192 Strozzi, Filippo  64 Suckale, Robert  157, 158 Suger von Saint-Denis  123, 155, 166, 236 Sullivan, Louis  149 Swarzenski, Georg  199 Sybel, Heinrich von  8 T Taddeo di Bartolo  70 Theodahat 129 Theoderich, Kg. der Ostgoten  106, 128 – 130, 134 Theodora, Kaiserin  138 Thode, Henry  42, 44

286 |  Personenregister Thomas von Aquin  119, 176 Thuillier, Jacques  90 Thukydides 176 Tillich, Paul  193 Tintoretto  65, 67, 72 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm  54 Tizian  52, 57, 63, 65, 67 Treitinger, Otto  107, 108, 140 Truman, Harry S.  198, 225 Trumball, William  270 Tschudi, Hugo von  245, 247, 248 Turner, William  241 Tyler, Ralph W.  188, 189, 193 U Uhde-Bernays, Wilhelm  46 Ulrich Engelberti  159 Urban II., Papst  165 Urban IV., Papst  169 Ursicinus, Bischof von Ravenna  131 V Valentiner, Wilhelm R.  116, 199 van Gogh, Vincent  16, 247, 248 Vasari, Giorgio  45, 67, 77, 94 Vergil  119, 176 Verrocchio  50, 60 Verwey, Albert  35 Vico, Giambattista  191 Victor, Bischof von Ravenna  131 Vinnen, Carl  247, 248 Viollet-le-Duc, Eugène Emmanuel  161, 163, 165, 173 Volkmann, Ludwig  94 Voss, Richard  58 Vossler, Karl  84 W Wackenroder, Wilhelm Heinrich  227 Wagner, Richard  97, 227 Waldmüller, Ferdinand  248 Walter, Bruno  199

Walther von der Vogelweide  82 Warburg, Aby  7, 46, 91, 92, 103, 120, 153, 186, 243 Warnke, Martin  109, 110, 156, 157 Watteau, Jean-Antoine  267 – 269 Weber, Alfred  207 Weinberger, Martin  199 Weizsäcker, Carl Friedrich von  193, 228 Weizsäcker, Ernst von  21, 193, 229, 230 Weizsäcker, Richard von  268, 274 Wickhoff, Franz  38 Wieman, Henry Nelson  187 Wiles, Bertha H.  189 Wilhelm I., dt. Kaiser  15 Wilhelm II., dt. Kaiser  58 Wilhelm VIII. von Aquitanien  168 Wilhelm der Eroberer  161 Wilhelm von Sens  173 Willoughby, Harold R.  139 Wilson, Woodrow  225 Winckelmann, Johann Joachim  48, 179 Wind, Edgar  7, 118, 120, 177, 179, 181, 183, 186 – 188, 190, 227, 228 Wino von Helmwardhausen  168 Wittkower, Rudolf  235 Wölfflin, Heinrich  7, 23, 44, 93 Wolfram von Eschenbach  121, 203 Wolfskehl, Karl  35, 36, 62, 66, 70, 78, 84, 89, 179, 248 Wollheim, Else  15 Wolters, Christian  23 Wright, Frank Lloyd  184 Wulff, Oskar  140 Wurster, William  234 Y Yates, Frances  187 Z Zelter, Carl Friedrich  14 Zweig, Stefan  43, 56