Otakismus: Mediale Subkultur und neue Lebensform - eine Spurensuche [1. Aufl.] 9783839403136

Die Möglichkeit, neue Medienwirklichkeiten zu kreieren, verändert die menschlichen Sozialbeziehungen. Selbsteinschließun

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Otakismus: Mediale Subkultur und neue Lebensform - eine Spurensuche [1. Aufl.]
 9783839403136

Table of contents :
INHALT
VORBEMERKUNG
ABSCHNITT I. Einleitung – Wie die Geschichte erzählt wird
Otaku – Ein wenig Etymologie
Das Mehr des Begriffs Otaku
Das Inhumane – Charakteristika zur Lebenswelt des Otaku
Freiwilliger Bildungszwang
Szenenberichte
Puppen-Mania: Der Puppen-Otaku
Foto-Otaku – »Natürliche Mädchen-Lust« oder die Ordnung desPhantasmas
Idol-Otaku: Idolemania – Der obszöne Blick
Manga-Mania
Schluss-Betrachtungen
Die These – die Erweiterung des Blickfeldes
Otakismus – Ausweitungen des Forschungsgegenstandes
Die Zeit
Der Raum
Figur des Ich
Argumentationslinien der Studie
Medien
ABSCHNITT II. Phantasie – Phantasma: die nie abgeschlossene Innenweltschöpfung
Phantasie – Ein Ausgangspunkt
Phantasie bei Sigmund Freud – Wunscherfüllung als Korrektur der
unbefriedigten Wirklichkeit
Die Urphantasie
Žižek und Lacan – Was, wenn Phantasie mehr als Wunscherfüllung ist?
Wie begehrt man?
Che vuoi?
Auftauchen im Verloren-Sein
Die Installation des Gesetzes
Der unmögliche Blick
Die inhärente Überschreitung
Die Interaktion
Wer stiehlt die Phantasie?
Cyberspace und Psychoanalyse – Die diversen Medienwelten
Cyberspace – Das Ende des Ödipus
Nähe versus Distanz
Zwischenbetrachtung
Das menschliche Bewusstsein als Interface
Der große Andere existiert nicht (mehr)
Interpretationen
ABSCHNITT III. Flussers Telematik: Vom Utopischen ins Machbare
Ein Plädoyer für die Utopie – Das technische Universum
Die Kulturrevolution – Das Emportauchen in die nachgeschichtliche Nulldimensionalität
Das Bilder-Machen / Vom Imaginieren zum Einbilden / Von der Vorgeschichte zur Nachgeschichte
Gesten der Einbildung – Kalkulieren und Komputieren
Dem Absurden einen Sinn geben
Die Staudamm-Metapher
Die Gesellschaftsstruktur im Universum der technischen Bilder
Das Befragen der Generalisten
Die vertane Chance
Creatio ex nihilo
Resümee – Die verborgenen Leiden der Idioten
ABSCHNITT IV. Den Raum Denken – Information als Lebensraum
Beantwortung der Hypothese
Fazit
LITERATUR

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Michael Manfé Otakismus

Michael Manfé ist Lehrbeauftragter für Kultur- und Medientheorie an den Universitäten Salzburg, Klagenfurt und München sowie an der Fachhochschule Salzburg.

Michael Manfé Otakismus. Mediale Subkultur und neue Lebensform – eine Spurensuche

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Yoshitomo Nara, »Nobody’s Fool« Lektorat & Satz: Michael Manfé Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-313-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT VORBEMERKUNG 5

ABSCHNITT I Einleitung – Wie die Geschichte erzählt wird 13 Otaku – Ein wenig Etymologie 15 Das Mehr des Begriffs Otaku 20 Das Inhumane – Charakteristika zur Lebenswelt des Otaku 26 Freiwilliger Bildungszwang 30 Szenenberichte 37 Puppen-Mania: Der Puppen-Otaku 37 Foto-Otaku – »Natürliche Mädchen-Lust« oder die Ordnung des Phantasmas 43 Idol-Otaku: Idolemania – Der obszöne Blick 47 Manga-Mania 49 Schluss-Betrachtungen 59

Die These – die Erweiterung des Blickfeldes 63 Otakismus – Ausweitungen des Forschungsgegenstandes 64 Die Zeit 65 Der Raum 66 Figur des Ich 67 Argumentationslinien der Studie 69 Medien 71

ABSCHNITT II Phantasie – Phantasma: die nie abgeschlossene Innenweltschöpfung 79 Phantasie – Ein Ausgangspunkt 83 Phantasie bei Sigmund Freud – Wunscherfüllung als Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit 86 Die Urphantasie 91 Žižek und Lacan – Was, wenn Phantasie mehr als Wunscherfüllung ist? 97 Wie begehrt man? 100 Che vuoi? 101 Auftauchen im Verloren-Sein 103 Die Installation des Gesetzes 105 Der unmögliche Blick 106

Die inhärente Überschreitung 108 Die Interaktion 109 Wer stiehlt die Phantasie? 110 Cyberspace und Psychoanalyse – Die diversen Medienwelten 114 Cyberspace – Das Ende des Ödipus 115 Nähe versus Distanz 121 Zwischenbetrachtung 124 Das menschliche Bewusstsein als Interface 128 Der große Andere existiert nicht (mehr) 132 Interpretationen 134

ABSCHNITT III Flussers Telematik: Vom Utopischen ins Machbare 143 Ein Plädoyer für die Utopie – Das technische Universum 153 Die Kulturrevolution – Das Emportauchen in die nachgeschichtliche Nulldimensionalität 155 Das Bilder-Machen / Vom Imaginieren zum Einbilden / Von der Vorgeschichte zur Nachgeschichte 161 Gesten der Einbildung – Kalkulieren und Komputieren 165 Dem Absurden einen Sinn geben 169 Die Staudamm-Metapher 171 Die Gesellschaftsstruktur im Universum der technischen Bilder 173

Das Befragen der Generalisten 176

Die vertane Chance 180

Creatio ex nihilo 184

Resümee – Die verborgenen Leiden der Idioten 192

ABSCHNITT IV Den Raum Denken – Information als Lebensraum 201

Beantwortung der Hypothese 209

Fazit 216

LITERATUR 221

Meinem Maná – der geheimnisvollen Kraft, dem heimlichen Motor, dem Zauber und der Magie

VORBEMERKUNG Am Beginn dieser Arbeit erlaube ich mir vorerst nicht über die vorliegende Studie zu schreiben, sondern über jene Personen, die einen unermesslichen Beitrag zum Finalisieren dieser Arbeit geleistet haben. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, merke ich, wie sehr ihr dafür verantwortlich zeichnet, dass eine Lust am Schreiben und eine Lust am Text entstanden ist. Zum Ausdruck möchte ich bringen, wie gerührt ich über eure eifrige und wirksame Unterstützung bin. Ihr habt mich während der vergangenen Jahre nicht nur begleitet oder unterstützt, sondern seid Stücke des Weges mit mir gegangen und habt mich mit eurer Präsenz durch die Arbeit geführt. Ich bin euch allen zu großem Dank verpflichtet. Jetzt kann ich euch endlich nennen und meine Freude darüber hat einen einfachen Grund: Respekt vor eurer Freundschaft und Unterstützung. FRANK HARTMANN danke ich für die Betreuung der Studie. Dein Geschick ist die einzigartige Form der Kritik, und ich entging dadurch dem »Regiert-werden« durch die Texte. TANIA HÖLZL – Deine Zwischenrufe irritierten und ich hoffe, dass es zumindest an manchen Stellen gelungen ist, deinen Interventionen gerecht zu werden. Übrigens: Deine sensible Lektüre der Rohfassung war eine Großtat. WOLFGANG MACHREICH, MARTIN GMACHL UND ALICE SCHERNTHANER – Ohne eure Lektüre würde ich diese Arbeit niemals aus der Hand geben und ich bin mir sicher, die Leser und Leserinnen werden euch danken, dass ihr diese Studie korrigiert habt. GEORG HIRSCHBICHLER, WOLFGANG STRAUSS, KARL ROTHAUER – für den technischen Support. ANDREA BRAMBERGER und EDGAR J. FORSTER – Menschen, die es verstehen im Hintergrund zu bleiben und von subtilen Orten aus einem ihre Unterstützung zusprechen, sind eine unglaubliche Wohltat. Mein spezieller Dank gilt PAUL EMPL und EGON VOITHOFER – Die Liebenswürdigkeit, mit der ihr mich unterstützt habt, bleibt einzigartig. ELIA STEIDL – Irgendwann wirst du wissen, warum ich so oft hinter den Büchern verschwunden bin. Es gibt einen Mann, der schreibt von einem Krieger des Lichts. Na ja, ich bin auf der Suche nach diesem Krieger und musste eine Zeit lang auch in Büchern nach ihm suchen. Aber

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

ich danke dir, dass du mich oft hervorgeholt hast, denn in Büchern findet man nur eine Spur des Kriegers, nicht aber den Krieger. Meine Eltern ROSEMARIE und JOSEPH MANFÉ – irgendwo habe ich gelesen, ein Mensch würde Glaube, Liebe, Hoffnung brauchen. Ich habe diese bei euch beiden entdeckt.

Michael Manfé

Salzburg, Mai 2004

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ABSCHNITT I Einleitung – Wie die Geschichte erzählt wird Am Beginn der 1980er Jahre wurde die Weltöffentlichkeit mit einem ihm bislang unbekannten Phänomen konfrontiert: Die Rede ist von den japanischen Otakus. In Europa taucht der Begriff Otaku zeitgleich auf, da seit dieser Zeit Übersetzungen von japanischen Mangas und Animes in einem größeren Umfang am Comic- und Videomarkt erhältlich sind. Auch erscheinen zu dieser Zeit die ersten wissenschaftlichen Texte zu diesem Thema1. Ein weiteres wichtiges Ereignis für die Verbreitung des Begriffs stellt 1992 die Erscheinung des Filmbeitrags Otaku no Video des OtakuAnime-Studios Gainax dar. Otaku no Video kann mit ›Ihr Video‹ übersetzt werden und ist eine Art Pseudo-Dokumentation von Otakus für Otakus. Der Film thematisiert den Aufstieg der Otakus in der Manga- und Anime-Industrie und kann als ironische Selbstparodie von exzentrischen Otakus und ihrer exzessiven Fankultur gesehen werden. Ebenso kann der Beitrag als eine Warnung interpretiert werden. Eine Warnung davor, was passieren kann, wenn man Manga oder Anime zu ernst nimmt. Gibt es neben dem durchdringenden Humor von Otaku no Video ernsthafte negative Konnotationen? Nein, im Gegenteil. Otaku no Video versucht vielmehr den Facettenreichtum der Otaku-Kultur aufzuzeigen. Die Autoren des Films werden nicht müde darauf hinzuweisen, dass eine Stereotypisierung des Phänomens ein verzerrtes Bild über die Otakus zeichnet.2 In Europa wurde die Debatte 1996 durch den französischen Filmemacher Jean-Jacques Beineix und seine Dokumentation Otaku wieder belebt. Im Gegensatz zu Otaku no Video ist dieser Film populistisch. Die Autoren charakterisieren die Otakus als obsessive Mediennutzer, positionieren den Otakismus in einem problematischen Umfeld und lassen keine positiven Perspektiven entstehen. Otakismus avanciert dabei für viele Menschen zu einer beängstigenden Lebensform, da in dieser die Auswüchse einer mediatisierten Gesellschaft hervortreten und vor allem auch eskalieren. Obwohl seit 1996 im deutschsprachigen Raum bekannt, hat die Forschung den Otaku bislang kaum in ihre Analysen aufgenom1 2

Im deutschsprachigen Raum zeichnet hierfür Volker Grassmuck verantwortlich. Weiterführend hierzu Eng 2002; Grassmuck 1990 und 1999; Barral 1999.

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

men. In verschiedenen Publikationen oder Filmbeiträgen tauchen zwar Verweise zum Otakismus – oder einige seiner Ausprägungen, wie der Takotsubo3 oder Hikikomori4 – auf, doch existieren im europäischen Raum nur wenige Ansätze zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit diesem Phänomen. Das Forschungsvakuum mündet in einer einseitigen negativen Rezeption, die dazu führte, Otakus pauschal als schizophren und ihren Medienkonsum als pervers zu bezeichnen. Die vorliegende Studie versteht sich als ein Beitrag zur Erweiterung des Fachbereiches. Sie ist kein ethnografischer Beitrag von Otakismus in Japan oder anderswo. Zentral innerhalb dieser Ausführungen ist der Diskurs, in dem dieser Gegenstand eingebettet ist.5 Was waren bzw. sind die primären Bedingungen des Phänomens bzw. der Subkultur des Otakismus? Welche Bilder von Otakismus existieren und wie charakterisieren diese Bilder das Phänomen? Ergeben sich aus den gezeichneten Bildern gar Instrumentalisierungsvorwürfe an die Gesellschaft? Dies sind nur einige der Fraugen, die diese Studie zu beantworten versucht. Was aber ist ein Otaku bzw. was ist unter Otakismus zu verstehen? Folgend wird primär eine Begriffsbesprechung des Terminus Otaku vorgenommen. Konkret wird versucht, die Wurzeln des Terminus aufzuspüren und seine Verwendungsweise zu erläutern. Warum wird aber jemand ein Otaku? Verschiedene Analysen6 sehen die Gründe hierfür in den spezifischen lebensweltlichen Charakteristika innerhalb der japanischen Gesellschaft. Die Gesellschaftsstruktur im Allgemeinen, die Familie und die Schule im Speziellen werden in diesem Kontext als zentrale intervenierende Faktoren angeführt. Diesen Bereichen ist auch ein Teil der Ausführungen in diesem Kapitel gewidmet. 3

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Das Wort takotsubo kam vor etwa zehn Jahren in der Kulturkritik auf und meint soviel wie Tintenfisch-Topf. Dabei handelt es sich um ein Gefäß zum Fangen von Tintenfischen. Diese verstecken sich darin und können nicht wieder herauskommen. Takotsubo dient als Metapher für eine Sackgassen-Situation. »Die takotsubo-Kultur meinte etwas ähnliches, wie die otaku heute, eine autistische Kultur, sehr spezialisiert, geschlossen, selbstzufrieden, nicht an anderen interessiert. Mit dem Unterschied, dass ein Telefonkabel und vielleicht schon bald ein ISDN-Glasfaserkabel den Tintenfisch-Topf mit anderen Töpfen verbindet. Dem abgeschlossenen Innenraum des takotsubo entspricht ein hyperkontrollierter, hyperverwalteter öffentlicher Raum (den selbst noch die otaku sich schaffen, wenn sie als präsente Masse auf einer komiketto zusammenkommen). Diesem Raum der fiktionalen, relativischen administrativen Gesellschaft ohne Außen und ohne Freiräume galten die Gewaltausbrüche Anfang der 80er Jahre. Die otaku gehen nicht frontal dagegen an, sie ziehen sich aus ihm zurück« (Grassmuck 1990). Diesem Thema widmete sich zum Beispiel das Weltjournal des ORF am 28. Januar 2004. Vgl. hierzu: http://www.orf.at/040127-70209/index.html?url= http://www.orf.at/040127-70209/70212txt_story.html, April 2004. http://www.rpi.edu/~engl/otaku.pdf, Juni 2004. Eine Auswahl: Eng 2003; Grassmuck 1999; Barral 1999; Kinsella 1998.

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Otakismus ist kein Phänomen, welches ausschließlich auf den japanischen Inseln zu finden ist. Das Phänomen existiert auch in Europa. Die europäische Debatte basiert jedoch – viel mehr als anderswo – auf der Dokumentation von Beineix. Daher werden im abschließenden Teil des Kapitels Fallbeispiele aus dieser Dokumentation angeführt. Die Beispiele verdeutlichen, wo die negative Konnotation, die mit dem Begriff Otaku einhergeht, ihren Ursprung hat.

Otaku – Ein wenig Etymologie Stark simplifizierend wird mit dem Begriff Otaku im Allgemeinen eine Person bezeichnet, die sich durch ihren eigenwilligen, ja obsessiven Medienumgang charakterisiert. Die obsessive Hingabe zu einem Medium führt zu einer ersten negativen Konnotation. Wenn ein Otaku dieses spezifische Medium als seinen Lebensmittelpunkt bestimmt, mündet dies in eine zweite negative Konnotation, da der Otaku hierbei einem virtuellen Raum bzw. einer virtuellen Figur mehr Aufmerksamkeit widmet als den Räumen und Personen im reellen Leben. Woher rühren diese negativen Konnotationen? Existieren Alternativen zu diesen Erklärungen oder handelt es sich tatsächlich um unumstößliche Fakten? Das japanische Wort Otaku bedeutet eigentlich Zuhause und wird unter anderem als eine sehr förmliche Form der Anrede eingesetzt. Mit dem Begriff Otaku werden aber auch Personen bezeichnet, die von irgendetwas (in der Regel einer Art Sammlung) derartig besessen sind, dass sie den Großteil ihrer Zeit (zu Hause) ihrer Leidenschaft widmen und folglich keine engen persönlichen Beziehungen eingehen. In Japan ist Otaku eine abwertende Bezeichnung, die im Deutschen etwa verwendet wird, um einen Freak oder Spinner zu bezeichnen. Diese Einstellung scheint sich jedoch in der letzten Zeit zu ändern.7 In Europa trifft diese negative Konnotation nicht zu. Hierzulande ist es eher eine Ehre, als Otaku bezeichnet zu werden. Generell wird der Begriff Otaku hierzulande für obsessive Konsumenten von Mangas und Zeichentrickfilmen verwendet. Diese eingeschränkte Sichtweise blendet spezifische Charakteristika des Otakismus jedoch aus und führt zu einer inflationären Verwendung des Begriffes. Dem Terminus Otaku ist eine doppelte Wortbedeutung eigen. Die erste bezieht sich auf den Ort, an dem man lebt, die zweite ist eine unpersönliche Form des Siezens. Allgemein greifen Japaner auf sie zurück, 7

Vgl. http://www.brazils-animeland.de/expl-de.html, Januar 2004. Dies ist nur eine der unzähligen Internetquellen zu diesem Thema. Google listet beim Stichwort Otaku 622 000 Einträge auf (Stand Juni 2004).

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

wenn sie mit jemandem kommunizieren, mit dem sie keine nähere Bekanntschaft eingehen wollen. Otaku ist im Japanischen also die unpersönlichste Form einer persönlichen Anrede auf die zurückgegriffen wird, wenn man das Gegenüber auf Distanz halten will. »Das Japanische ist sozial ungleich differenzierter als das Deutsche und erfordert, dass ein Sprecher seine Stellung zum Angesprochenen genau einschätzt, um aus Dutzenden von Personalpronomen das angemessene zu wählen. Fehlen ihm Informationen, um den rechten Grad von Vertrautheit, Höflichkeit oder Unterordnung zu treffen, kann er auf das neutral höfliche otaku zurückgreifen. Es überbrückt eine Unbestimmtheit« (Grassmuck 19998).

Der Begriff Otaku eignet sich also dazu, seine eigene Position deutlicher zu bestimmen. Dadurch kann eine andere Person auf Distanz gehalten werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass mit Otaku ein Mensch als ausgestoßen oder als geächtet zu betrachten ist. Im Gegenteil, die Otakus haben sehr wohl einen zugewiesenen Ort der Existenz. Dieser ist zwar am Rande einer Gesellschaft positioniert und aus vortelematischer Sicht nur von dünnen Banden gehalten, aber es ist ein Ort, der einen Raum konstituiert. Dieser Raum charakterisiert sich, frei nach Toshiya Ueno, als ein Bereich des Schaffens. Obwohl aus den bisherigen Ausführungen die Bezeichnung Otaku keineswegs negativ zu deuten ist, so ist die Positionierung am gesellschaftlichen Rand gerade in Japan für die Betroffenen prekär, da der Ausschluss aus einem Gruppenverband für die Japaner mit dem Verlust des Ich (Moi) gleichzusetzen ist. Dies wird mit drei Grundzügen der japanischen Kultur in Verbindung gebracht: dem Kollektivismus,9 der Hierarchie und der Formalität der japanischen Gesellschaft. Konkret thematisieren diese drei Faktoren den Umstand, dass Japan auf einer sehr stark hierarchischen Gesellschaftsstruktur basiert und eine sehr formelle auf Harmonie und Stabilität ausgerichtete Kultur ist. Im traditionellen Japan ist das Individuum von Kindheit an damit konfrontiert, dass es an einem konkret definierten, anerkannten Raum partizipiert. Ohne diesen Raum verliert es sich in seiner Existenzlosigkeit. In keiner sozialen Gruppe integriert zu sein, ist für Menschen in Japan eine völlig untertolerierbare Situation, da die Akzeptanz innerhalb einer Gruppe die nötige Sicherheit gibt. Die Werte Kollektivismus, Hierarchie und Formalität müssen die meisten (jugendlichen) Japaner in Schule, Beruf oder Familie einhalten. Außerhalb dieser Bereiche gelten diese Werte heute nur noch bedingt. Gerade die jüngere Generation in 8 9

http://waste.informatik.hu-berlin.de/Grassmuck, Mai 2004. Vgl. weiterführend Tandis (1995) bzw. Grassmuck (1999).

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Japan steht zwischen der Tradition und den zeitgenössischen Werten, die nicht zuletzt durch das Auftauchen der westlichen Werte in der japanischen Kultur zum Thema wurden. »Various youth subcultures in Japan are as much the products of American culture as they are the products of their own culture« (Eng 200210). Der Otaku ist ein Produkt der postindustriellen Gesellschaft.11 Unverkennbar ist der Gegenstand seiner Leidenschaft sein Lebensmittelpunkt. Dabei handelt es sich um einen Gegenstand, welcher der Populärkultur entstammt. Anime oder Manga (Comics) gehören ebenso wie Idole (Teenie-Sänger und -Sängerinnen aus der Retorte der Musikindustrie), Video-Spiele, Modellbausätze, Militaria, Technik im Allgemeinen und im Speziellen Computer zu den Kernbereichen. »Doch auch von Aquariums-, Fußball- oder Gesundheits-Otaku ist inzwischen die Rede. Das Otakutum hat nichts mit einem bestimmten Thema zu tun, es ist vielmehr eine Art und Weise sich darauf zu beziehen« (Grassmuck 1999).12 Der Terminus Otaku bezeichnet Personen, die versuchen, ihr Leben in eine virtuelle Welt zu verlagern oder ganz spezifische Inhalte der virtuellen Welt ins Zentrum ihres realen Lebens zu stellen. Dies kann zum Beispiel eine Medienfigur, etwa eine Puppe oder eine absolute Fußballleidenschaft sein.13 Insofern ist ein Otaku nicht nur über eine Computerleidenschaft definierbar. Otakus sitzen vor ihren Bildschirmen, sammeln Comics, Zeichentrickfilme, Plastikmonster oder Puppen von ihren Idolen. Aber vor allem: Sie kümmern sich nicht um die Außenwelt. Nicht zuletzt im Ignorieren der Außenwelt manifestiert sich auch eine Abgrenzung zum Fan. Obwohl der Fan ein anthropologisches Grundmuster (Grassmuck) des Otakus darstellt, ist es unkorrekt, den Begriff Otaku als ein Synonym für Fan zu verwenden. Ein Fan im herkömmlichen westlichen Sinne mag zwar auch eine Leidenschaft besitzen, aber eine solche Leidenschaft bewegt eine Person nicht selbstredend dazu, seinem (sozialen) Umfeld den Rücken zu kehren. Ein Otaku zeichnet sich durch sein, zumindest aus vortelematischer Sicht, ungewöhnliches Hobby aus.14 Er ist ein richtiger Fanatiker; ein »manic collector of instance records, magazines and games« (Ueno

10 http://www.rpi.edu/~engl/otaku.pdf, Juni 2004. 11 Der Verweis auf die Wurzeln des Otakus in der postindustrielle Gesellschaft findet sich zum Beispiel bei Barral (1999: 27), bei Eng (2002) oder auch bei Gibson (2001 – http://www.ob server.co.uk/life/stry/0,6903,466391,00.htm, Juni 2004). 12 Otakismus ist nicht auf ein bestimmtes Objekt beschränkt. Es existieren Fußball-Otakus, Golf-Otakus, Windsurf-Otakus oder auch Gesundheits-Otakus, um nur einige zu nennen (vgl. Barral 1999: 30; Grassmuck 1999). 13 Otaku als Synonym für Fan zu verwenden, ist nicht zulässig. Der Otaku ist mehr als ein passionierter Anhänger einer speziellen Mannschaft oder Person. 14 http://www.intercoaster.de/nachtblende/a_otaku.htm, Dezember 2003.

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

200115). Also eine Person, die in der Regel keine Freunde hat, insofern als langweilig gilt und in der Regel zu Hause in seinem Raum hockt. Personen, die dem Otakismus zugeordnet werden, gelten als zurückgezogen und verschlossen. Otakus sind Wahlverwandte der Datendandys.16 Sie verzichten darauf, Mitte Zwanzig eine Familie zu gründen oder als Angestellte einer Firma zu dienen. Nein, sie bevorzugen in den medialen Parallelwelten zu verschwinden, da diese virtuellen Welten so verdichtet und durch Aktion aufgeladen sind, »dass sie viel realer erscheinen als die trübe Wirklichkeit« (Groschupf 199717). Bei Otakus handelt es sich um Personen, insbesondere Jugendliche, »die sich aus der Leibwelt ihrer Eltern in eine vernetzte digitale Sphäre abgesetzt haben. Auch Älteren ist das Concooning nicht fremd, das mit einer Krise des öffentlichen Raumes einhergeht. Urbane Gewalt und Heimarbeit, Pizza-Lieferdienste und Telefonsex stellen die Rahmenbedingungen dar für ein Dasein, das in einer Schutzhülle, vielleicht besser: einer distanzierten Dreimeilenzone eingesponnen ist« (Grassmuck 1999).

Die Bezeichnung Otaku weist nicht unbedingt auf ein neues Phänomen hin. Spätestens seit der dreistündigen Dokumentation von Jean-Jacques 15 http://www.nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-0109/msg00265.html, Juni 2004. 16 Doch ist der Datendandy kein wirklicher Otaku. Der Datendandy irritiert, er sorgt für Aufregung, weckt die Neugier. Der Datendandy sammelt Informationen. Aber er sammelt nicht wie der Otaku. Er sammelt, um mit diesen Informationen zu prahlen und um sie zu übertragen. Er ist nicht nur sehr gut, sondern übertrieben gut informiert. Auf gezielte Fragen kommen unerwünschte Antworten. Der Datendandy konfrontiert das Gegenüber immer mit etwas anderem. Daher rührt die Irritation. »Die elegante Extravaganz, mit der das kleinste Detail dargeboten wird, schockiert die zielbewussten Medienbenutzer« Der Datendandy sucht die extravergierteste Newsgroup auf, um dort seine unproduktiven Beiträge zu lancieren. Er, der Datendandy, braucht die Bühne. Er kann sich nicht wie der japanische Otaku in seiner virtuellen Blase aufhalten und nach innen gekehrt sein. Er braucht ein Podium, um somit die anderen zu schockieren. Im Netz ist er also eine absolut öffentliche Person (http://home.snafu.de/videoweb/hdb/11neuron/lovink.html, Dezember 2003). Zusammengefasst ist Lovinks Datendandy der Counter-Part zur Copland’schen Generation X und ihrem mit Lethargie gekoppelten Zynismus. »Der Datendandy braucht (in Anlehnung an die Saloon-Dandys aus den alten Zeiten) ein Parkett, eine Bühne und als Zuschauer die anonyme Masse. Beides ist das Netz. Der Datendandy sammelt Daten, überrascht mit ihnen zur richtigen Zeit am richtigen Ort; er provoziert und ist agil. Er ist das krasse Gegenteil von Lethargie, obwohl er an sich eine Aufforderung zur Unproduktivität darstellt. Seine Substanz ist das Fluidum im geregelten Daten-Etwas. Diese Metapher eines Menschentyps soll Denkanstösse geben im Umgang mit dem Netz; soll einen lockereren Umgang mit dem Netz als ohne weiteres realisierbar darstellen« (http://www.brock.uni-wuppertal.de/Projekte/Inter netseminar/Theorie/lovink/dt_dandy.htm, Dezember 2003). 17 http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/43/28a.htm, Dezember 2003.

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Beineix hat auch die westliche Welt dieses Phänomen erkannt. Otaku ist einerseits ein Medienphänomen (Hartmann) und andererseits ein kulturelles Phänomen. Ein spezifisches kulturelles Phänomen leistet einen Definitionsbeitrag für Kultur. Ausgehend von einem entsprechenden kulturellen Phänomen lässt sich auch eine Aussage über Kultur treffen. Kultur als Ganzes kann letztlich nicht bestimmt werden. Auch nicht jene der Otakus. Kultur ist eine unbekannte Größe,18 die nur ausschnittsweise bekannt und nur fragmentarisch rekonstruieren ist. Zwei Gründe zeichnen hierfür verantwortlich: »Zunächst besitzt ein kulturelles Phänomen nur eine kurze Lebensdauer. [...] Kultur bleibt aber nicht nur aufgrund der Kurzlebigkeit des sie bezeichnenden und bestimmenden kulturellen Phänomens die unbekannte Größe. Es existiert nicht nur jeweils ein einziges kulturelles Phänomen, sondern im Gegenteil eine unübersehbare Vielzahl sich ungleichzeitig ereignender kultureller Phänomene. Insofern bestehen zur selben Zeit verschiedene, sich sowohl überschneidende als auch gegenseitig ausschließende Bestimmungen von Kultur. Über Kultur kann daher keine eindeutige Aussage getroffen werden. Es lässt sich nur in einem übertragenen Sinne, in einer metaphorischen Redeweise von ihr sprechen« (Wichens 1997: 123).

Ist Otakismus ein kulturelles Phänomen der japanischen Kultur? Nein. Otakismus ist vielmehr eine Subkultur, die sich dadurch charakterisiert, dass sie gegen die dominante Ideologie einer hegemonialen Uniformierung der japanischen Gesellschaft auf- bzw. antritt. Das Wort Otaku beschreibt Personen, die ein Medienprodukt ins Zentrum ihres Alltagslebens positionieren. Dieses Produkt kann zur Identifikation dienen, muss jedoch nicht nur die Funktion einer Identifikation erfüllen. Dieses Medienprodukt ist selbst Medium und als solches erfüllt es unter anderem die Aufgabe zu speichern, zu verstärken und zu vermitteln.19 Otakus sind mit Medien aufgewachsen und sie verwenden diese Medien als ein Angebot, um ihre momentanen Wünsche20 mit all

18 Eine ausführliche Besprechung von Kultur bietet Eagleton (2001). 19 Speichern, vermitteln und verstärken sind Basisfunktionen von Medien. Der Mensch wird (gegenwärtig) mit immer neuen Medienumwelten konfrontiert. »Neue elektronische Informations- und Kommunikationstechnologien – kurz: Neue Medien – sind zur unabdingbaren Funktionsgrundlage unserer Kultur geworden und verdienen deshalb theoretisches Interesse. Medien sind keine neutralen Vermittler, sondern die zentralen Transformatoren von Kultur. Schon auf technischer Ebene generieren und verändern sie die kulturelle Praxis« (Hartmann 2003: 17). Siehe hiezu auch Debray (2003). 20 »La particularité temporelle de leur monde est d’être constamment disponible et jetable, d’où leur grande vulnérabilité aux modes« (Barral 1999: 27).

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

jenen Inhalten zu befriedigen, die ihnen eben diese Medien bieten (können). Der Begriff Otaku ist, wie schon erwähnt, in Japan eher negativ behaftet. In der westlichen Welt ist die Bezeichnung Otaku jedoch eine Ehrerweisung, ja, Personen aus westlichen Kulturen sind fasziniert von der Otaku-Kultur und dies ist auch der Grund, warum sie tauglich für die Vermarktung wurde.21 Die Otakus haben eine zerbrechliche körperliche und seelische Konstitution und sind keine angry young men. Sie sind im zwischenmenschlichen Umgang absolut unsicher. Dies ist der Grund, warum sie überhöfliche, defensive Redeformen verwenden. Sie wollen keine Fehler machen. Aber vor allem wollen sie sich dahinter verstecken. Auf diese Art kommen sie damit durch, sich (a) nicht zu exponieren, sich (b) nicht preiszugeben und sich (c) somit eben nicht den möglichen Zurückwiesungen und Enttäuschungen auszusetzen. »Der Otaku ist ein zurückgezogenes, scheues Wesen, das monomanisch einem Interessensgebiet nachgeht, in dem Bestreben, das vollkommen zu beherrschen, darin Meisterschaft zu erlangen und dafür nur zu bereitwillig den Preis zu zahlen, alles andere völlig auszublenden« (Volker Grassmuck 1999). Otakus beherrschen ihr virtuelles Universum. Der von ihnen kreierte Raum ist einerseits Kommandozentrale, andererseits Museum für seine Sammelleidenschaft. Der Otaku taucht in seine Leidenschaft ein, informiert sich und speichert Information. Die Medien des Otakus bilden eine Materie,22 innerhalb welcher dieser Zuflucht findet und auf die er mittels Technologie einwirken kann. Otaku ist also eine postmoderne Identität, die nur in dem von ihm oder ihr konstruierten virtuellen Universum Zufriedenheit findet.

Das Mehr des Begriffs Otaku Die historischen Gründe, warum Personen als Otakus bezeichnet werden, sind nicht eindeutig rekonstruierbar. Unterschiedliche Quellen23 stimmen darin überein, dass der Terminus Otaku von Mitgliedern einer Fansub21 Ueno ist einer jener Theoretiker, der die kulturellen und politischen Voraussetzungen des Otakismus kritisiert. »I am criticizing the cultural condition of otaku and its political context. I myself am an otaku of sorts, being crazy about Japanese animations and psychedelic trance techno. I am sceptical about Japanese art based on otakuism. Western people are fascinated by otaku culture and that’s why it can be marketable. Some even tray to emphasize the cultural traditions and history of otaku. They say Japanese culture has always been dominated by collectors infomania. For them Japanese history has been postmodern and eclectic right from start« (http://www.nettime.org/ Lists-Archives/nettime-l-0109/msg00265.html, Dezember 2003). 22 »Materie umfasst Natur, vom Menschen modifizierte Natur, vom Menschen produzierte Natur und menschliche Natur selbst« (Castells 2001: 16). 23 Vgl. Eng 2003; Eng 2002; Grassmuck 1999 und 1999; Schodt 1996.

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

kultur zur Eigendefinition herangezogen wurde.24 Warum aber bezeichneten sich Fans von Manga oder Anime als Otaku? Hierfür existieren verschiedene Theorien. x Die sozialen Interaktionen in einem Otaku-Netzwerk tendieren dazu, unpersönlich und kurzlebig zu sein; sind kurzfristigen Geschäftskontakten ähnlich. Durch den Terminus Otaku wird die emotionale Distanz zwischen den einzelnen Akteuren betont. x In einer anderen These wird die Vermutung geäußert, dass Otakus ihr Heim nur sehr selten verlassen und der Terminus deshalb aufkam, um im negativen stigmatisierenden Sinn einen so genannten Nesthocker zu bezeichnen. x Toshio Okada (Inhaber eines Lehrstuhls für Otakismus an der Universität Tokio) argumentiert gänzlich anders. Er ortet den Ursprung des Begriffs bei Shoji Kawamori und Haruhiko Mikimoto. Kawamori und Mikimoto gelten als die Begründer von Macross (1982). Sie verwendeten die neutral höfliche Form otaku als Anrede. Die Fans ihrer Arbeit begannen den Terminus zu verwenden, um den Gründern des Studio Nue dadurch Respekt zu zollen. Okada meint also, dass der Begriff Otaku aus Respekt vor dem Club anderer eingesetzt wurde (vgl. Eng 200325). Obwohl die negative Konnotation des Begriffs dominiert, zeigen diese Ausführungen, dass diese Verwendung durchaus inkorrekt bzw. zumindest unvollständig ist. Vor allem deshalb, da im Folgenden gezeigt wird, dass die negativen Konnotationen auf einem Medienereignis basieren. Die (allgemeine) gegenwärtige Verwendung des Begriffs lässt sich sehr genau rekonstruieren. Als eine Bezeichnung für Personen mit einem exzentrisch-obsessiven Medienumgang wurde der Terminus Otaku erstmals 1983 vom Essayisten Akio Nakamori verwendet. In Beiträgen für das Manga-Magazin Manga Burikko veröffentlichte der Autor eine Serie von Artikeln mit dem Titel Otaku no Kenkyu (Studien von Otakus). Nakamori verwendet den Begriff Otaku, um ein Phänomen zu beschreiben, 24 »Bis [...] einige junge Leute anfingen, diesen Ausdruck von Abstand für Kollegen und Freunde zu verwenden. Es gibt keinen Konsens über den genauen Zeitpunkt und Ort dieses historischen Ereignisses. Die jüngste Vergangenheit scheint die ungewisseste zu sein, und sie wird nur in der Form von Gerüchten überliefert. Es bedürfte eines Alltagshistorikers, um auszugraben, was gestern geschah. Einige Informanten sind der Ansicht, dass das Phänomen in der Welt der Werbung begann, andere sagen, es war in Krisen von Sammlern von Zeichentrickfilm-Bildern: »Zeig mir bitte deine (otaku) Sammlung.« Das vertrauenswürdigste Gerücht besagt, dass es zuerst unter Leute aufkam, die in TV- und Animations-Firmen arbeiteten. Von da verbreitete sich unter den Zuschauern von animes (Animation, Zeichentrickfilme) und in den engverwandten Welten der manga und Computerspiele« (Grassmuck 1999). 25 http://www.cjas.org/~leng/otaku-origin.htm, Juni 2004.

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welches den neuen Medienumgang, insbesondere von Jugendlichen, kennzeichnet. »He called those hard core fans who called each other otaku the otaku-zoku (zoku meaning tribe). He was perhaps the first article widely characterizing otaku as being anti-social, unkempt, and unpopular. In addition to those traits, Nakamori also described otaku as being obsessively interested in the details of a single field of interest, most commonly anime and manga, but anything else that was generally considered useless from a professional perspective, such as computer games or television stars« (Eng 200226).

In den folgenden sechs Jahren geriet der Begriff in Vergessenheit, ehe er 1989 wirkliche Popularität erlangte. Bis zu diesem Zeitpunkt existierte der Terminus, zog aber aufgrund der geringen Medienpräsenz keine bzw. nur wenig Aufmerksamkeit auf sich. Was aber musste geschehen, damit der Begriff des Otaku in seiner gegenwärtigen Verwendung in die breite öffentliche Diskussion aufgenommen wurde?

Abbildung 1: Akio Nakamori27

Eine barbarische Begebenheit holte den Begriff Otaku aus dem Untergrund. Der 27-jährige Miyazaki Tsutomu28 wird des Mordes an vier 26 http://www.rpi.edu/~engl/otaku.pdf, Juni 2004. 27 Quelle: Beineix, Jean-Jacques (2004). Otaku. Eine Dokumentation. Cargo Films: OVA Films. 28 Zur Geschichte von Miyazaki Tsutomu vgl. Fels (1997) Miyazaki Tsutomu. Otaku und Serienmörder. In: http://www.japan-link.de/ll/ll_leute_miyazaki. sht ml, November 2003. Vertiefende Ausführungen zu Miyazaki finden sich bei Barral 1999; 247ff, Kinsella 1998 – http://kinsellaresearch.com/nerd.html,

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kleinen Mädchen überführt und schließlich von den Medien als typischer Otaku dargestellt. Die mediale Präsentation des Mörders und die kolportierte Verbindung zu der Masse jener in Anonymität agierender und niemand störender Otakus, lässt das Wort all seine Romantik ablegen. Unzählige Konnotationen lassen daraufhin ein verändertes Bild des Otaku entstehen. »Être un otaku devenait synonyme de ›être un assassin pervers en puissance‹, capable des pires crimes pour satisfaire ses passions« (Barral 1999: 29).

Abbildung 2: Der Massenmörder Miyazaki Tsutomu29

Miyazaki Tsutomu M. der Dämon. M. steht für Miyazaki Tsutomu und ohne M. wäre das Milieu der Otakus niemals jenes, das es durch seine Tat heute ist. Wie bereits erwähnt hat M. vier kleine Mädchen ermordet. Die Mädchen, alle zwischen vier und sieben Jahre alt, verschwanden seit dem Sommer 1988. Nach jedem Verschwinden stürzten sich die Medien auf die Geschichte und stellten dabei stets dieselbe Frage. Existieren in Japan Wesen, die zu derartigen Untaten fähig sind? Eine makabere Steigerung erhält der Fall der Verschwundenen, als nach sechs Monaten die Familie der ersten Entführten ein Halsband mit Zähnen und einzelnen Knochen des Kindes zugeschickt bekommt. Am 23. Juli 1989 wird M. beim Versuch, ein fünftes Mädchen zu entführen, festgenommen. Rasch gesteht er die Entführungen der vier Mädchen. Nach einigen Tagen der Geheimhaltung wird am 10. August die Öffentlichkeit informiert. Der Fall M. beginnt. M. wohnte im Haus Juni 2004; Eng 2002 – http://www.rpi.edu/~engl/otaku.pdf, Juni 2004. 29 Quelle: Beineix, Jean-Jacques (2004). Otaku. Eine Dokumentation. Cargo Films: OVA Films.

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seiner Eltern und der erste Weg führte die Medienvertreter dorthin. Der von der Unschuld seines Sohnes überzeugte Vater öffnet ohne Vorahnung die Tür zu M.s Zimmer. Die sich bietende Szenerie ließ das Bild des Otaku entstehen und führte zu seiner negativen Konnotation. Im Zimmer von M. stapelten sich etwa 6.000 Videokassetten. Die Manga-Magazine türmten sich bis zur Decke und ließen keinen Zweifel über die sexuellen Vorlieben des Täters offen. Bis zu diesem Tag fand der Term Otaku vor allem in Insiderkreisen Verwendung. Die Berichterstattung über M. führte zu einer Flut von Beiträgen über die verlorene Generation, die ein Monster entstehen hat lassen. Das psychologische Portrait von M. lässt nicht lange auf sich warten und bringt zu Tage, dass er seit seiner Geburt an einem körperlichen Gebrechen der Hände litt. Er konnte die Daumen nicht nach oben drehen. M. hatte wenig Selbstvertrauen und kam mit seinem Handikap nicht zurecht. Er zog sich in sein Zimmer zurück und verbrachte die Zeit damit, sich Videoaufnahmen anzusehen. Die einzige Bezugsperson war sein Großvater. Drei Monate nach dessen Tod beginnt er mit den Entführungen. Makabere Rituale mit den Körpern der Verstorbenen sollen ihn wieder auferstehen lassen. In den japanischen Medien manifestiert sich folgender Kausalzusammenhang: M. ist ein Otaku. M. ist ein Mörder, also müssen alle Otakus Mörder sein (insofern ist Otakismus ein Medienphänomen im doppelten Sinne: Es hat den Medienumgang zum Inhalt und zudem wird es von den Medien zum Phänomen dargestellt). Die Hypothese von der Persönlichkeitsspaltung wurde zugunsten einer geistigen Verwirrung mit schizophrener Tendenz zurückgewiesen. Damit war der Täter voll für seine Taten verantwortlich und wurde schließlich am 14. April 1997 hingerichtet. Der Terminus Otaku ist also wie Phönix aus der Asche aufgestiegen und wie ernst der Otaku-Diskurs genommen wird, zeigt sich unter anderem darin, dass an der Universität von Tokio ein eigener Lehrstuhl für Otakismus eingerichtet worden ist. In Japan wagte nach diesem »(Medien-)Ereignis«30 kaum noch eine Person sich selbst als Otaku zu bezeichnen. Das Wort verlor seine Salonfähigkeit, bezeichnet etwas Dämonenhaftes und avanciert zum Schimpfwort. In der Informationsgesellschaft herrscht als Grundgefühl ein schlechtes Gewissen vor, sich nie genug informiert bzw. nie genug kommuniziert zu haben. Der Otaku schafft Inseln im Meer der Information, auf welchen er sich einerseits sicher fühlen kann, und auf welche er andererseits vor-

30 Das Medienereignis hat eine Definitionsleistung zur Konsequenz. Die Medien haben hierfür den Raum zur Verfügung gestellt; einen ideologischen Raum bzw. eine ideologische Stimme. »Die Autorität der Stimme der Ideologie oder der Anrufung erscheint in der Figur einer Stimme, der sich niemand verwiegern kann« (Butler 1998: 51). Die Anrufung verfehlte ihre Wirkung nicht.

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bereitet ist. Der Sammler, der Bastler, der Spieler und der Fan sind nach Grassmuck die anthropologischen Grundmuster. »Wird eines von ihnen monomanisch und beschränkt auf einen winzigen Weltausschnitt gelebt, spricht man in Japan und anderswo von einem Otaku. Im Inneren des Kokons vollzieht sich keine Metamorphose, kein Schmetterling bricht schließlich hervor, um sich die Welt zu erobern. Das Gespinst mit seiner Vielzahl von elektronischen Anschlüssen ist ihnen Wohnstatt geworden« (Grassmuck 1999).

Die Diskussion des Terms Otaku, der an sich bereits keine definitorische Erklärung zulässt, findet seit August 1989 vor zwei Polen statt: einmal die archaische Bedeutung des Wortes und einmal die durch die Medienpräsenz eingeleitete negative Zuschreibung des Begriffs. Der Otaku wurde als sozialpsychologische Figur erst mit dem Versickern der Verbindlichkeit von Sozialisationsumgebungen möglich. Selbst die in Japan sehr dominanten Wirklichkeitsproduktionsmaschinen, wie die Familie und die Arbeit, verlieren ihre kontingente Position. Otakus leben zum Teil bei ihren Eltern, aber kommunikationslos; dies zeigt sich etwa in der Geschichte von Miyazaki Tsutomu. Otakus verzichten in der Regel auf eine Karriere im Beruf, sie üben Jobs aus. »Jede Zuordnung zu sozialen Zusammenhängen wird optional. Das operativ geschlossene System als Endprodukt sozialer Desintegration lebt unter dem Motto Allein aber nicht einsam« (Grassmuck 1999). Ist der Otakismus als ein Effekt einer bestimmten Gesellschaftsform bzw. -struktur zu bezeichnen? Um hierauf eine Antwort zu finden, widmet sich der folgende Abschnitt dem ausgeprägten Konformitätsdruck der japanischen Kultur, die auf einem inneren Ausschließungsmechanismus beruht.

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Das Inhumane – Charakteristika zur Lebenswelt des Otaku Wer ist der absolute Konsument? Das ist der Tod, er konsumiert alles, und so bin ich sozusagen todesähnlich, wenn ich alles konsumiere. Boris Groys ... bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine Opfer. Richard Sennett

Die Entstehung des Otakismus wird in der Literatur allgemein mit der japanischen Gesellschaftsstruktur in Verbindung gebracht, da diese ein primärer Einflussfaktor bei der Identitätskonstruktion einer Person ist. Konkret wird argumentiert, dass die japanische Gesellschaft an sich die Entstehung des Phänomens Otaku ermöglichte.31 Um dieses Argument zu darzulegen, werden nachfolgend einige der lebensweltlichen Charakteristika, auf die im Besonderen japanische Jugendliche stoßen, dargestellt. Japan ist heute eine informationelle Gesellschaft. Der Terminus informationell bezeichnet hierbei ein Attribut »einer spezifischen Form sozialer Organisation, in der die Schaffung, die Verarbeitung und die Weitergabe von Information unter den neuen technologischen Bedingungen dieser historischen Periode zu grundlegenden Quellen von Produktivität und Macht werden« (Castells 2001: 22). Die zentralen Prozesse der Wissensproduktion, der Wirtschaftsproduktivität, der politisch-militärischen Macht sowie der Medienkommunikation sind in Japan bereits tief greifend durch das informationelle Paradigma transformiert und an globale Netzwerke von Reichtum, Macht und Symbolen angeschlossen, die eben genau nach dieser Logik funktionieren. Erklärungen für den Lebensstil der Otakus werden mit verschiedenen Faktoren in Verbindung gebracht. Als integrale Einflussgrößen gelten: x die japanische Familienstruktur, x das Bildungssystem, x die Perspektiven in der Arbeitswelt und x die Medien 31 Japaner werden dazu erzogen, alles hinzunehmen. Ein Großteil ihres Lebens ist fremdbestimmt, und Japaner werden von ihrer Umwelt nicht dazu ermutigt, zu improvisieren. So werden etwa Aktivitäten, die Entspannung und Vergnügen bringen sollen, mit einer Zurschaustellung großer Disziplin verfolgt. Vielfach hat es den Anschein, als sei der ganze Spaß wegorganisiert (vgl. Van Wolferen 1989: 85). Vgl. des Weiteren Pohl (2002: 286ff); Barral 1999; Grassmuck 1999; Eng 2002.

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Im nachfolgenden Teil der Studie werden jene Transformationsprozesse thematisiert, die ihren Ursprung in der Familie bzw. in den Bildungsinstitutionen haben. Die Faktoren Bildung, Information und Konsumation nehmen in keinem Land der Welt eine derartig zentrale Rolle ein, wie in Japan.32 Zu ergänzen ist diese Liste noch um die Aspekte der Tradition bzw. des Konformitätsdrucks. Eben diese fundamentalen Säulen der japanischen Gesellschaft werden von japanischen Jugendlichen im Allgemeinen und von Otakus im Speziellen massiv in Frage gestellt. Diese Personen stehen im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne.33 Dieses Spannungsfeld entstand nicht zuletzt deshalb, da sich in Japan das System x der Bildungsgesellschaft, x der Lebensanstellung in den Kernunternehmen, x der Gruppenorientierung, x der Loyalität gegenüber Sicherheit versprechenden Institutionen sowie x der Nationalidentität länger hielt, als etwa in den okzidentalen Industrieländern. Die Familie – die Mutter, der Vater In der japanischen Gesellschaft existiert ein unausgesprochenes Gesetz: die Mütter bleiben in der Regel in den ersten fünf Lebensjahren ihres Kindes bei diesem. Es stellt die absolute Ausnahme dar, wenn eine Frau nach der Geburt sofort wieder in das Berufsleben einsteigt, ja, es ist schier undenkbar. Nach der Geburt strukturiert sich das Familienleben kompromisslos um das Kind.34 Die Konsequenz daraus ist, dass die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Frau vom Ehegatten zum Kind 32 »Y a-t-il en effet, en dehors du Japon, une société de notre monde moderne qui ait autant mis l’accent sur l’éducation, l’information et la consommation?« (vgl. Barral 1999: 13). 33 Vgl. weiterführend: Kerr, Alexander (2001). 34 Das Kind ist also der heimliche Herrscher. Dieses Kinderbild ist jedoch nicht mit dem Puer Sanctus, dem heiligen Kind, oder dem Puer Salvator, dem Erlöser Kind zu verwechseln. Puer Sanctus – das heilige, weil andersartige Kind, das fremde, unerreichbare Welten verspricht. Die mythologische Figur des Urkindes gehörte ebenso wie die der göttlichen Mutter zur vorolympischen Götterwelt des Mittelmeer-Raumes. Diese Sichtweise impliziert die Zuschreibung einer reinen, heiligen bzw. unverdorbenen Kindheit – um nur einige wenige Vorstellungen anzuführen. Dabei handelt es sich um ein sehr stark idealisiertes Kinderbild. Ebenso stark religiös geprägt ist auch das Bild des Puer Salvator – des Erlöser Kindes –, »einer Figur, die bereits in der jüdisch-alttestamentarischen und in der griechisch-hellenistischen Tradition« (Richter 1996: 83) aufgetreten ist. Vergils Erzählungen zufolge wird die Wiederkehr des goldenen Zeitalters durch die Geburt des Kindes eingeleitet; später verspricht die hoffnungsvolle Geburt des Christuskindes ähnliches (vgl. zu Kinderbildern Bramberger/Forster 1998; Manfé 2000; Richter 1996).

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wandert. Der japanische Psychiatrieprofessor Tôru Takahashi bezeichnet die Mutterbindung der Japaner als eine »unüberwindbare Hürde, die der Emanzipation der Kinder und ihrem Reifungsprozess im Wege steht, besonders im Falle der Otaku« (Takahashi zit. nach Grassmuck 199935). Der Patriarchalismus ist in einer Reihe von Gesellschaften mitunter stark erschüttert worden und zwar ungeachtet der Schwierigkeiten, die dem Transformationsprozess der Lage von Frauen anhaftet. Der soziale Wandel ist ebenso dramatisch wie die technologischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse. Die Geschlechterverhältnisse in einem großen Teil der Welt sind aus einer Sphäre kultureller Reproduktion zu einem umstrittenen Bereich geworden. Eine grundlegende Neudefinition der Beziehungen zwischen Frauen, Männern und Kindern hat sich daraus ergeben, also der Familie, der Sexualität und der Persönlichkeit.36 In Japan gilt der Vater als diejenige Person, welche in der familiären Hierarchiekette die oberste Position einnimmt. Von seiner Seite sollte, neben der Vorbildfunktion, ein wesentlicher Beitrag zur Konstituierung des Männerbildes in die Erziehung einfließen. Doch gegenwärtig stellt der durch Abwesenheit glänzende japanische Vater für Heranwachsende kein Rollenvorbild dar. Der Vater ist viel eher ein Fremdkörper, der eine ideologische Figur darstellt, die nur mehr sporadisch in die Wirklichkeit einbricht (vgl. Flusser 2000: 282). Die Mutter ist die Alleinverantwortliche für die meisten Erziehungsfragen und sobald ihre Zuwendung abnimmt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auf die technischen Apparate eine zentralere Rolle übergeht (vgl. Grassmuck 1999). In einer Welt der globalen Ströme von Reichtum, Macht und Bildern avanciert die Suche nach Identität37 zur grundlegenden Quelle gesellschaftlicher Sinnstiftung. Die Menschen organisieren dabei Sinn immer weniger um das herum, was sie tun, sondern vielmehr auf der Grundlage dessen, was sie sind bzw. zu sein glauben. Da unsere Gesellschaften immer mehr nach den »bipolaren Gegensatz zwischen dem Netz und dem Ich« (Castells 2001: 3) strukturiert sind, öffnet sich ein tiefer Riss zwischen einem »abstrakten, universalen Instrumentalismus und historisch verwurzelten partikularen Identitäten« (ebd.). Daraus ist eine Situation 35 Vgl. hierzu weiters Barral 1999 und Beineix 2004. Sowohl Barral als auch Beineix gehen näher auf die Ausführungen von Takahasi ein. 36 »So sind die Geschlechterverhältnisse in einem großen Teil der Welt aus einer Sphäre kultureller Reproduktion zu einem umstrittenen Bereich geworden. Daraus hat sich eine grundlegende Neudefinition der Beziehungen zwischen Frauen, Männern und Kindern ergeben, also der Familie, der Sexualität und der Persönlichkeit. Das Umweltbewusstsein ist bis in die Institutionen der Gesellschaft vorgedrungen« (Castells 2001: 2). 37 Identität wird der Prozess verstanden, durch den eine Person sich selbst erkennt und Sinn primär auf der Grundlage eines gegebenen kulturellen Attributs konstruiert. Dadurch ist auch ein umfassender Bezug auf andere gesellschaftliche Strukturen ausgeschlossen (vgl. Castells 2001: 23).

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strukturaler Schizophrenie entstanden und in dieser Situation zwischen Funktion und Sinn geraten die Muster gesellschaftlicher Kommunikation immer stärker unter Druck. Wenn aber die Kommunikation zwischen den einzelnen Individuen und ihrer sozialen Gruppen zusammenbricht, entfremden sich diese voneinander und betrachten sich gegenseitig als fremd und in weiterer Folge als Bedrohung. In Japan sieht man – nicht zuletzt aufgrund der Berichterstattung über dieses Phänomen – den Otaku oft als eine gesellschaftliche Bedrohung. Fortschrittliche industrielle Gesellschaften generieren eine Generation von Jugendlichen, die das Erwachsenwerden ablehnt.38 Für die Menschen dieser Generation ist symptomatisch, dass sie weniger in der Lage sind, sich ihrer Existenz zu stellen. Warum wird eine Person zu einem Otaku? Eine Antwort liegt darin, dass die Otaku-Generation in einer geschützten Umwelt aufwächst und sich daher über seine zukünftige Laufbahn keine Sorgen zu machen braucht. Die Otakus gelten als die ersten Nutznießer des Wirtschaftsaufschwungs der 60er- und 80er-Jahre. In Japan haben diese Wirtschaftsaufschwünge dazu geführt, dass die Bevölkerung zu einem der größten Verbraucher unseres Planten wurde. Im Zuge der Euphorie über die positiven Effekte des Wirtschaftsaufschwunges verzichtete man in Japan auf eine Reflexion über ein neues Sozialmodell. Und dies ist eine Reflexion, welche die Nach-60er-Generation dringend gebraucht hätte.39 Denn seit den 80er-Jahren häuften sich die Zeichen für strukturelle Veränderungen und einen Wertewandel, und man verabsäumte es in dieser Zeit, sich Sennets40 Fragen zu stellen. Wie lassen sich in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft langfristige Ziele anstreben? Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen in einer von Kapitalismus geprägten Welt aufrechterhalten? Wie kann ein Mensch in einer aus Episoden und Fragmenten bestehenden Gesellschaft seine Identität und seine Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln (vgl. Grassmuck 1999)?

38 Siehe hierzu auch die Erklärung zu dem Phänomen Kid Attitude. 39 »Sur le fronton de la démocratie naissante, il aurait fallu la traduction japonaise de Liberté, Égalité, Fraternité, quand le jeunesse n’a eu que: Étudiez, Travaillez, Consommez« (Barral 1999: 38). 40 »Es ist die Zeitdimension des neuen Kapitalismus, mehr als die High-Tech-Daten oder der globale Markt, die das Gefühlsleben der Menschen außerhalb des Arbeitsplatzes am tiefsten berührt. Auf die Familie übertragen bedeuten diese Werte einer flexiblen Gesellschaft: bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine Opfer« (Sennett 1998: 29). Vgl. weiters Sennett (2002).

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Freiwilliger Bildungszwang Die Entstehung des Otakismus über den Konsumrausch41 der japanischen Gesellschaft im Allgemeinen und der Jugendlichen im Besonderen zu erklären, ist ein zu simplifizierender populistischer Zugang.42 Verkannt wird im Besonderen der soziale Druck, der auf der Bevölkerung lastet. Dieser Druck nährt sich vielfach an den unumstößlichen Traditionen innerhalb des Berufslebens sowie des Bildungs- bzw. Erziehungssystems. Der folgende Ausschnitt thematisiert das Schul- und Ausbildungssystem. Die Schule ist nach der Mutter und der Familie die erste Gruppe, mit der ein japanisches Kind konfrontiert ist und bildet somit (selbstredend) einen wichtigen Ort für die Sozialisationsprozesse von Kindern und Jugendlichen. Japanische Schulen sind als zentrale Sozialisationsinstanz deshalb auch wichtig geworden, da sie einerseits die Funktion als Bildungsanstalt erfüllen, andererseits jedoch jener Raum sind, an dem die Kinder zu japanischen Bürgerinnen und Bürgern erzogen werden.43 Die radikale Modernisierung des Bildungswesens im 19. Jahrhundert gilt als Grundlage für die rasche Industrialisierung Japans. Die Schule wurde dabei als diejenige Instanz betrachtet, die am besten dafür geeignet ist, moralische und soziale Werte zu vermitteln. Als besondere Werte galten der Ultranationalismus, der Militarismus und der Kaiserkult. Aufbauend auf einem breiten allgemein bildenden Schulsystem wurden zu dieser Zeit Oberschulen und Universitäten gegründet. Grundgedanke war, in diesen Schulen die Elite des Landes in Politik, Verwaltung und Wirtschaft auszubilden. Dieses System sollte durch eine rigorose Bildungsauslese eine Elitenrekrutierung und einen sozialen Statuswechsel ermöglichen. Für die gegenwärtige Situation ist dies deshalb bedeutsam, als dass die Erziehungsreformen nach 1945 dieses Prinzip nicht aufgehoben haben. In starker Anlehnung an alles Amerikanische galten die Grundsätze liberal, pazifistisch und demokratisch. Verbindungen zu autoritären Militarismen waren nicht mehr salonfähig. Freie und offene Bildung sollte für alle Bürger des Landes garantiert sein. Sozialer Erfolg der einzelnen Bürger bildete nach wie vor ein Ideal und sollte gefördert werden.

41 Der Konsum ist nicht nur als zentrale Säule des japanischen Gesellschaftssystems, sondern auch die leitende Ideologie der Gesellschaft. Ideologie meint jedoch nicht den Konsum an sich, sondern »eine gewisse Einstellung auf das soziale Ganze« (Groys 2003: 76). 42 Die Dokumentation von Bense (2000) oder auch die Ausführungen von Barral verweisen leider sehr eindeutig auf diesen Konsumzwang. Nicht zuletzt durch diese pauschalisierende Stigmatisierung einer ganzen Bevölkerungsschicht ist eine negative Konnotation des Phänomens Otaku entstanden. 43 »De fait, l’école au Japon n’est pas seulement un lieu d’apprentissage du savoir mais également, et peut-être avant tout, le creuset où l’on forme les enfants à devenir japonais« (Barral 1999: 182).

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Obwohl in der neuen Verfassung zwar Grundsätze demokratischer Erziehung festgeschrieben wurden, entledigte man sich nicht der überkommenen konfuzianischen Werte. Idealisierte (antiquierte) Vorstellungen wie Gehorsam, Unterordnung und Loyalität sollten von Individualismus, Freiheit und Selbstverantwortung überlagert werden. Dennoch blieb der Umstand, durch Selektion über zukünftige Karrieren von Menschen44 zu entscheiden, dominierend. Mit der neuen Verfassung verpflichtete sich Japan zudem neben selbstverständlichen Lebensprinzipen, wie etwa der Anerkennung der Menschenwürde einer jeden Person oder der Schaffung einer universellen, eigenständigen Kultur, auch dazu, dass ein jeder Bürger diejenige Ausbildung erhalten solle, die seine individuellen Kapazitäten zulassen. Im Zuge des Kalten Krieges rückten viele der idealistischen Ziele in den Hintergrund und initiiert durch die konservativen Regierungen dieser Zeit manifestierte sich wieder eine rückläufige Entwicklung. Schritt für Schritt wurden die Ideale, wie Patriotismus und Nationalismus, an die Spitze der Werteskala (auch von Bildungsinstitutionen) zurückgeführt. »Maximum d’efficacité, minimum de personnalité« (Barral 1999: 183), so die Kurzformel eines leitenden Grundsatzes des Systems. Durch diese Rückbesinnung auf die alten Ideale konnte auch keine Einstellungsänderung innerhalb der Bevölkerung stattfinden. In diesem Fall dominierte also die Tradition weiterhin über die Moderne. Und genau daraus ergibt sich das Spannungsfeld, welches die Subkultur des Otakismus entstehen hat lassen. In Japan existiert eine Art Bildungspyramide. Die allgemeine Schulpflicht dauert neun Jahre. Sechs Jahre besuchen die Kinder eine Grundschule, drei Jahre ein College, ohne dabei jedoch die Möglichkeit zu haben, eine Klasse zu wiederholen, wenn ihre Leistungen nicht stimmen. Während dieser Zeit erhalten alle Kinder eine vollkommen identische Schulbildung. »In der 6-jährigen Grundschule (unter kommunaler Verwaltung) ist das Bildungsangebot (Japanisch, Sozialkunde, Rechnen, Naturwissenschaften, Musik, Kunst, Technik, Hauswirtschaft) qualitativ vereinheitlicht, der Entfaltung kreativer Fähigkeiten wird breiter Raum gegeben. Aber schon einzelne Mittelschulen (3 Jahre) und selbstverständlich alle Oberschulen (3 Jahre) werden bereits danach beurteilt, wie viele Absolventen eines Jahrgangs zu

44 Dieser Punkt hat sich gegenwärtig einigermaßen relativiert. Die Ausbildung an einer angesehenen Universität garantiert nicht wie einst einen sicheren Job in einer großen Firma. »Die Unternehmen verzichten zu Beginn des 21. Jahrhundert immer häufiger auf die regelmäßig jährliche Anwerbung von Nachwuchspersonal, um die Zahl ihrer Mitarbeiter abzubauen« (Pohl 2002: 243).

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM angesehenen Universitäten gehen – je mehr, desto angesehener die Schule« (Pohl 2002: 236).

Japanische Kinder wachsen in einer bildungsbesessenen Gesellschaft auf. Problematisch dabei ist, dass diese Besessenheit durch einen rücksichtslosen Zwang (Manfred Pohl) erzeugt ist. Er entspringt eben nicht einem so genannten natürlichen Wissensdrang. Der Uniformierungszwang bezieht sich nicht nur auf das Tragen einer Schuluniform, sondern vor allem auch auf einer zwanghaften Synchronisation der Vermittlung von Lehrinhalten. Diese rührt daher, dass man davon ausgeht, dass die Homogenität einer Gruppe, auf der Homogenität des jeweiligen individuellen Wissens fußt.45 Der Zwang zur Synchronisierung nimmt mitunter sehr skurrile Formen an und es ist nicht außergewöhnlich, dass im ganzen Land an einem bestimmten Tag des Schuljahres in allen Klassen46 derselben Altersstufe, dieselben Wissensinhalte vermittelt werden. Allgemein ist festzuhalten, dass das Bildungsideal ein gleichmäßig hohes und breites Wissensniveau anstrebt. Mit höherem Schultyp verändert sich dies jedoch. Verlangt wird die Wiedergabe von eingepauktem Prüfungswissen. Generell müssen Oberschulen auf Eingangsprüfungen für die Eliteuniversitäten vorbereiten. Die Vermittlung von abstrakten Bildungsinhalten nimmt nur eine sehr untergeordnete Position ein. Kurzum: Die Kinder sind mit einem rücksichtlosen Ausleseprinzip konfrontiert. Ein besserer Jahresabschluss berechtigt die Kinder und Jugendlichen, in eine höher angesehene Schule einzusteigen. Ziel eines jeden Kindes bzw. seiner Eltern sind schlicht gute Noten. Jedoch verfolgen nicht nur die Schüler und deren Eltern dieses Ziel. Ebenso die Lehrer einer Schule streben danach. Das Ziel eines jeden Gymnasiums ist es, das Leistungsniveau seiner Absolventen an einen Punkt anzunähern, der gewährleistet, dass ein höchstmöglicher Prozentsatz von Absolventen den Sprung in eine der Elite-Universitäten (Tokio und Kyoto) schafft. Dies ist die Basis für die Qualitätsbewertung der Schulen. Im Gymnasium geht der Leistungsgedanke soweit, dass der Lehrinhalt von drei Jahren innerhalb von zwei Jahren durchgearbeitet wird. Das abschließende Schuljahr dient danach ausschließlich der Wiederholung und dem Schreiben von Probeprüfungen. Schüler, die hierbei nicht mithalten, bleiben von den Lehrern

45 »Les professeurs considèrent en effet que la cohésion d’une groupe d’élèves de la même promotion prime sur l’acquisition des connaissances individuelles. Il est donc courant que des élèves que se sont connus sur les bancs du cours préparatoire restent ensemble jusqu’à la fin des leur scolarité au collège. Entre-temps il n’y aura eu aucune sélection ni filière en option« (Barral 1999: 188). 46 Die Schülerzahlen einer Klasse betragen im Schnitt 40 Kinder.

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unbeachtet, da für diese lediglich ein hoher Prozentsatz an Absolventen zählt, der in angesehene Universitäten wechselt. Das Erreichen eines hohen Leistungsniveaus erfordert einen erheblichen persönlichen Einsatz. Ein sehr guter Abschluss in einem renommierten Gymnasium garantiert nicht mehr selbstredend einen Prüfungserfolg in einer anerkannten Universität. Viele Schüler besuchen aus diesem Grund private Abend- und Wochenendkurse. Diese privaten Schulen, juku47 und yobiko genannt, sind für viele ein fixer Bestandteil des Alltags. 1999 besuchten bereits 38 Prozent der Grundschüler und über 60 Prozent der Mittelschüler (collège) regelmäßig einen juku48 (vgl. Pohl 2002: 240). Wollen Kinder in ein renommiertes Gymnasium aufgenommen werden und dadurch den Grundstein für alle späteren Lebensabschnitte setzen, sind sie in Japan gezwungen, mindestens viermal wöchentlich für mindestens vier Stunden einen juku-Kurs zu besuchen. Das bedeutet, dass diese Kinder nicht vor 22 Uhr nach Hause kommen. Die Einschätzung, die Kinder würden in einen juku getrieben werden, mag zwar nicht falsch sein, jedoch ist es nicht selbstverständlich, dass die Eltern eines Kindes bzw. eines Jugendlichen dafür verantwortlich sind. Vielfach entspricht die Inskription in einen juku dem Wunsch der Betroffenen; getrieben werden sie dabei von den Kameraden. Immerhin 60 Prozent der befragten Eltern gaben an, dass der Besuch eines juku durchaus problematisch sei, da die Belastung49 für die Kinder zu groß werde und sich dies negativ auf die physische und psychische Gesundheit auswirke. Hinzu kommt, dass zum Beispiel eine Wiederholung der Prüfung (etwa an der Tokio Universität50) nicht möglich ist. Da nach einem Misserfolg nur die Bewerbung an einer anderen Universität bleibt, stellen sich die Jugendlichen nicht sofort der Prüfung, sondern bereiten sich noch ein weiteres Jahr vor.

47 Eine 1994 publizierte Untersuchung des japanischen Bildungsministeriums führt 45.000 wichtige jukus an. Zählt man jedoch auch die sehr kleinen Bezirksjukus dazu, so erhält man die Zahl von 200.000. Auf die Frage, warum ein juku besucht wird, gaben die Befragten an, dass sie mit ihrer Teilnahme vor allem ihr Leistungsniveau an die Norm anpassen wollten. Vielen geht es zudem darum, ihr Leistungsniveau zu halten. 48 Bildung hat auch ihren Preis. 1998 mussten die Eltern 27 % ihres Jahreseinkommens in das Studium ihrer Kinder investieren. Nachhilfestunden sind zu einem Riesengeschäft geworden, die Betroffenen zahlen horrende Summen für die private Förderung ihrer Kinder (vgl. Pohl 2002 bzw. Barral 1999). 49 Ein weiterer Faktor, der die Belastung steigert, ist ein System, welches eine permanente Evaluierung erlaubt. Mit standardisierten Tests kann jeder einzelne Schüler einen direkten Vergleich zu Gleichaltrigen herstellen und somit seinen individuellen Leistungsstand bzw. einen möglichen Leistungsfortschritt evaluieren. 50 Seit 1999 bewerben sich an der Universität von Tokio jährlich etwa 11.000 Personen um 3.500 Studienplätze.

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

Mittlerweile setzen sich japanische Bildungsstrategien auch in Europa durch. Kumon-Schulen erfreuen sich einer beständig größer werdenden Beliebtheit. Das Kumon-Prinzip geht davon aus, dass durch ständiges Wiederholen eine Person (Kind) irgendwann zum Verständnis gelangt. Eine Übung wird so oft wiederholt, bis garantiert kein Fehler mehr passiert. Die Kritiker des Kumon-Systems argumentieren, dass es sich um mechanisiertes, automatisiertes Üben handle, welches lerndidaktisch überholt sei. Die Befürworter verweisen auf die Lernerfolge der Kinder. Zudem arbeiten die Kinder immer gegen die Zeit, und das würde ihnen große Freude bereiten (vgl. Koch 2003: 74). In Japan prallen traditionelle Positionen auf progressive und dies löst zwischen den Vertretern dieser Positionen lange Diskussionen aus. Exemplarisch sei die Bekleidungsvorschrift in den Schulen erwähnt, welche die Schüler in der Regel dazu verpflichtet, Schuluniformen zu tragen. Der Widerstand gegen diese Uniformierung nimmt unter großem Misstrauen der konservativen Kräfte zu. Die Jugend Japans lernt, dass die Schule einen nahezu sakralen Ort darstellt, dem man Respekt zollen muss. Die Schule ist eine Institution, die allen gehört und gegenüber der jede Person Verantwortung trägt. Japanische Schulen werden zudem auch außerhalb der offiziellen Schulzeiten genützt. So ist es selbstverständlich, dass etwa die Benutzung von Turnhallen im Sommer gestattet ist. Nach den Unterrichtsstunden fungiert die Schule als Jugendzentrum. Die Freizeit wird, zumindest räumlich, also nicht von der Schule gelöst. Verschiedene Interessengemeinschaften, Clubs genannt, konstituieren sich in den Bildungsinstitutionen. Ein Charakteristikum aller Aktivitäten innerhalb der Schulen ist, dass die Schüler viele Inhalte eigenverantwortlich mitgestalten. So entscheiden sie etwa selbstständig über die inhaltliche Ausrichtung des Clubs. Im Hintergrund steht ein verantwortlicher Professor, dem die Funktion eines Supervisors zukommt. Er hilft bei der Lösung von Problemen. Das Clubwesen ist wesentlich für die Entwicklung jedes einzelnen Kindes. »Des ces clubs où les jeunes ont l’occasion de s’initier et de s’adonner à des activités culturelles et sportives, les barrières de l’âge sont pour une fois abolies, les plus expérimentés (les sempai) guident les débutant (les kohai), les privilèges de l’ancienneté forcent le respect des novices. Une minicommunauté se forme où les enfant font pour la première fois l’expérience des relation sociales verticales. [...] C’est dans cette atmosphère qu’ils élaborent des projets communs pour la fête de consacrés à l’entraînement sportif dans les locaux que l’intérieure du groupe. C’est grâce à ces activités de clubs parascolaires que les jeunes Japonais font l’apprentissage de la mécanique de fonctionnement du groupe« (Barral 1999: 187).

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Wenn in dieser Einleitung die Überschrift Das Inhumane auftauchte, so deshalb, da die Institution Schule innerhalb des Otaku-Diskurses eine zentrale Rolle einzunehmen scheint, ja, diesen mitträgt. Und das Inhumane der Schule äußert sich sehr oft in einem Terror einzelner, der nicht selten zu Verzweiflungstaten der Schülerinnen und Schüler, sprich zu Selbstmord, führt.51 Japans Bildungssystem wird zumindest von der PisaStudie als hervorragend bezeichnet. Offensichtlich spielt es keine Rolle, dass diesem Bildungssystem ein Terror inhärent ist, der wohlwollend verschwiegen wird. Japan ist ein Land, dessen Bildungssystem den Schülern die Kindheit raubt und in dem das Motto freiwilliger Bildungszwang vorzuherrschen scheint. Die bisherigen Ausführungen sollten verdeutlichen, dass es sich beim Geburtsland der Otakus um ein Land handelt, in dem der traditionelle Kollektivismus und der daraus resultierende Konformitätsdruck den Raum, in dem die Ausprägung von individuellen Werten stattfinden kann, stark reglementiert. Hohe Bildungsabschlüsse dominieren (noch immer) eine Gesellschaft der Lebensläufe, in der individuelle Wünsche nur wenig Beachtung finden. Diese Strukturen materialisieren das, was die Überschrift Das Inhumane bezeichnen will. Dieser Diskurs ließ eine Subkultur entstehen, welche zeitgenössische Technologien in ihre Strategien der Lebensbewältigung integrierten. Dass sich im traditionellen Japan eine negative Konnotation des Phänomens durchsetzte, ist wenig verwunderlich. Doch auch die westliche Welt betrachtet neue Lebensformen nicht ohne Skepsis. Wenn dabei neue oder gar unbekannte Technologien integriert sind, mündet dies leicht in Kulturpessimismus. Wird dieser Pessimismus und Skeptizismus in die Otakismus-Studien auf- bzw. übernommen, so führt dies zu einer weiteren Stigmatisierung des Phänomens. Im abschließenden Teil dieses Kapitels wird gezeigt, welche Art von Beiträgen zu einer negativen Konnotation das Phänomen Otaku in Europa beitrug. Es sind dies Beiträge, die sehr rasch auf schizophrene Tendenzen der Otakus verweisen und den Otakismus mit der Geschichte über den Kindermörder Myiazaki in Verbindung bringen. Allgemein ist zu konstatieren, dass die Ausführungen oftmals in eine Pathologisierung münden. 51 Der enorme psychische Druck hat zu einem Anstieg von Gewalt unter Schülern und gegen Lehrer geführt. So terrorisieren etwa Schüler (Jungen wie Mädchen) ihre Mitschüler oder bedrohen Lehrer (vgl. Pohl 2002: 240). Unter der Rubrik KURZ GEMELDET berichteten die Salzburger Nachrichten von einem Fall aus der jüngeren Vergangenheit. »Selbstmord beging eine 13-jährige Japanerin aus Verzweiflung über die Schikanen ihrer Mitschüler. Ein japanisches Gericht wies jedoch die Klage der Eltern gegen die Stadt Toyama ab. Die Behörden trügen zwar eine moralische Verpflichtung zum Schutz des Mädchens, hätten jedoch nichts Illegales getan. Schul-Terror ist in Japan gang und gäbe« (Salzburger Nachrichten, 6.11.2001).

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

1993 kommt die Dokumentation Otaku von Jean-Jacques Beineix in den Handel. Einer, der am Drehbuch mitgearbeitet hat, ist Étienne Barral. Er hat 1999 ein Buch mit dem Titel Otaku. Les enfants du virtuel publiziert. Sein Beitrag ist über weite Strecken identisch mit den Inhalten der Beineix-Dokumentation. Neben diesen beiden Produkten wird im deutschsprachigen Raum die Öffentlichkeit auch noch durch verschiedene Japanschwerpunkte, etwa auf dem Sender Arte, mit dem Phänomen Otakismus konfrontiert. Diese Beiträge orientieren sich zu einem Großteil an den Recherchen von Barral und Beineix. Anhand von einigen ausgewählten Beispielen wird anschließend dargelegt werden, wie das Phänomen Otakismus präsentiert wird. Dabei wurden jene Beispiele ausgewählt, die (neben dem Fall des Kindermörders) zentral zur negativen Pauschalisierung des Phänomens beitrugen. Die dämonisierenden Bilder halten sich hartnäckig. Insofern verwundert es nicht, wenn die Konfrontation mit dem Otakismus vorerst von den negativen Bildern und Erzählungen geprägt ist. Hinter der folgenden Darstellung steht die Absicht, zu zeigen, wie das Phänomen Otakismus allgemein wahrgenommen wird. Deutlich sollte dabei werden, wie eine ganze Gruppe innerhalb einer Kultur stigmatisiert wurde. Otakueskes Verhalten taucht in verschiedenen literarischen Erzählungen auf. An manchen Stellen werden einige dieser Geschichten aufgegriffen. Dies geschieht jedoch nicht, um dadurch eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Inhalt der Erzählung und dem Otakismus herzustellen. Nein, vielmehr werden in diesen Geschichten einige der kolportierten grundlegenden Charakteristika des Otakismus überzeichnet dargestellt. Leider ist zu konstatieren, dass der kritische Diskurs über Otakismus zwar existiert, jedoch noch nicht so weit gediehen ist, dass eine differenzierte Betrachtung des Phänomens selbstverständlich ist. Der kritische Diskurs, von dem die Rede ist, wurde von Volker Grassmuck bereits 1990 in die Debatte eingebracht. Der japanische Otaku-Spezialist der Universität von Tokio, Toshio Okada, und der US-Amerikaner Lawrence Eng sind weitere Forscher, die nach differenzierteren Analyen verlangen. Eines haben diese Wissenschafter gemeinsam: In ihren Texten verschwindet das Dämonenhafte, das dem Otakismus inhärent ist.

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Szenenberichte Puppen-Mania: Der Puppen-Otaku Jeder, der einer Manie verfallen war, bleibt für immer gefährdet. Stefan Zweig

Als eine charakteristische Erscheinungsweise des Otakismus gilt die Leidenschaft zu Puppen. Verwirrung stiftet hierbei der Umstand, dass die Personen eine Beziehung zu einer Puppe eingehen und auf eine reelle Beziehung verzichten. Die Puppe übernimmt die Rolle eines Partners. Als Einstieg in die Puppen-Thematik wird die Geschichte von Kawamorita Yû aufgegriffen. Einerseits beschreibt diese Geschichte das Leben mit Puppen, anderseits steht sie exemplarisch für das Argument, dass für die Entstehung des Otakismus negative Erlebnisse aus der Kindheit verantwortlich zeichnen. Kawamorita Yû ist 36 Jahre alt und Insider kennen ihn wegen seiner Puppensammlung. Doch es ist mehr als nur eine Sammlung. Yû lebt mit Puppen und »er-lebt« dabei intensive Beziehungen mit diesen. Der Puppen-Otaku Yû wird als eine Person mit mangelndem Selbstvertrauen beschrieben, die nur sehr zögerlich Bereitschaft erkennen lässt, über seine Leidenschaft zu sprechen. Spricht er dennoch mit anderen Personen über seine Puppen, so muss er sich gehörig anstrengen, um überhaupt die Stimme erheben zu können, und es sind die Puppen, die ihm die Kraft dafür geben. Im Wissen, dass er ohne deren Unterstützung nicht die Energie für ein Gespräch aufbringt, bedankt er sich dafür bei ihnen. Ihr Beisein erst gibt ihm den Mut zu sprechen. Als Kleinkind wechselte Yû’s Familie häufig den Wohnort. Die wenigen Freundschaften, die er an einem Ort geschlossen hatte, brachen daraufhin. Yû war ein kränkelndes Einzelkind. Ein Lungenproblem hinderte ihn an der Teilnahme bei Sportspielen seiner gleichaltrigen Kollegen. Eine frühe Kurzsichtigkeit machte ihn zudem zum Gespött der Kameraden.52 Viele Faktoren für eine erfolgreiche Integration in das vorherr52 »Ein bedeutender negativer Faktor in der Genese des Otaku-Phänomens ist das ijime, das mit ›Hänseln‹ oder neudeutsch ›Mobbing‹ übersetzt werden kann. Anwesenheitsgruppen bilden und festigen sich durch die Ausgrenzung eines ihrer Mitglieder. Opfer des ijime kann jeder werden, der sich durch eine Andersartigkeit auszeichnet, sei es eine Schwäche oder Stärke, einen Dialekt aus einer anderen Region, einen längeren Auslandsaufenthalt, eine besondere Begabung beispielsweise Mathematik, die als Strebertum gegen ihn verwendet wird. Die Schülergruppe bekräftigt ihre innere Homogenität, indem sie sich geschlossen gegen diesen Anderen im Eigenen richtet. Dies kann die Form von Sticheleien annehmen, aber auch soweit eskalieren, dass das Opfer keinen Ausweg als den Selbstmord sieht« (Grassmuck 1999: 161).

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

schende Gesellschaftssystem waren für Yû somit entweder überhaupt nicht gegeben oder haben sich zusehends verschlechtert. Um diese geringe Wertschätzung in der Peer-Group zu kompensieren, beschloss Yû in einem Bereich unschlagbar zu werden. Jedoch nicht irgendein Bereich war sein Ziel, es handelte sich dabei um einen solchen, der alle Jungen seines Alters fasziniert: Monstergeschichten. Das Wissen über diese avancierte zu seiner Waffe. Er beschränkte sich dabei nicht lediglich auf das Sammeln von Monsterfiguren, sondern weitete seine Sammeltätigkeit auf Puppen aus. Nach Abschluss der sechsten Klasse entschied seine Mutter, dass Puppen kein adäquates Spielzeug für einen Jungen seien und veranlasste ihn dazu, seine Sammlung zu verschenken. In dieser Situation habe er nicht nur seine Sammlung verloren, sondern auch einen Teil von sich selbst, erzählt Yû (vgl. Barral 1999: 48). Im Alter von 24 Jahren zog Yû nach Tokio und begann als Redakteur zu arbeiten. Als in seinem Magazin eine Puppe präsentiert werden soll, erinnert er sich an seine erste Puppensammlung und ist sogleich vom Anmut der Puppe entzückt; das frühere manische Begehren ist wiedererweckt.53 Das Wiederkehren des manischen Begehrens beschreibt auch Stefan Zweig in seinem Roman Die Schachnovelle. »Jeder, der einer Manie verfallen war, bleibt für immer gefährdet, und mit einer – wenn auch ausgeheilten – Schachvergiftung soll man besser keinem Schachbrett nahe kommen« (Zweig 2000: 96). Yû ist den Puppen wohl wieder zu nahe gekommen, und wenn er sagt, dass ihn der flehende, beinahe verängstigte Blick der Puppe in den Bann gezogen habe und er den Wunsch hegte, sie zu beschützen, so klingt dies durchaus absurd; doch in westlichen literarischen Werken finden wir diese Situation dargestellt. In dem bereits erwähnten Werk Die Schachnovelle wird sehr markant der Wiedereintritt in ein manisches Verhalten beschrieben. Dr. B., Zweigs Held, der die psychischen Grausamkeiten eines Zellenaufenthalts zwar mit Hilfe des Schachspiels überstand, jedoch in eine Schachmanie verfiel, lässt sich nach 25 Jahren ohne Schach dazu überreden, eine Partie gegen den Schachweltmeister Czentovic zu spielen. Dr. B. bringt Czentovic dermaßen in Bedrängnis, dass dieser die Partie abbricht, um vor den Schaulustigen nicht sein Gesicht zu verlieren. Nach dem Abbruch bat Czentovic Dr. B. um eine weitere Partie. Dieser stimmte begeistert zu und ließ sich auch nicht mehr von der Partie abbringen. Zweigs Erzähler berichtet von einer unangenehmen Erregtheit bei Dr. B, die in weiterer Folge sogar zu Angst mutierte. Eine »sichtbare Exaltiertheit war über den vorher so stillen und ruhigen Menschen gekommen: Das Zucken fuhr 53 Kamper (1993) schreibt, dass die Immanenz des Imaginären wie eine Arche funktioniere. Was zum Bild werden kann, kommt mit. Alles andere geht unter. Yû hat etwas mitgenommen: die Bilder seiner Puppensammlung.

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

immer öfter um seinen Mund, und sein Körper zitterte wie nach einem jähen Fieber geschüttelt« (ebd.: 103). Dr. B. und Czentovic hatten zehn Minuten Zugzeit vereinbart. Czentovic bemerkt die ins Unermessliche steigende Ungeduld von B. und beginnt nach einer Weile, die Denkzeiten bis zum Maximum auszunutzen. Dr. B. hingegen spielt schnell. Er kann die nächsten Züge nicht abwarten. Das Spiel berauscht ihn. »[...] von einem Intervall zum anderen wurde das Benehmen unseres Freundes sonderbarer. Es hatte den Anschein, als ob er an der Partie gar keinen Anteil mehr nehme, sondern mit etwas ganz anderem beschäftigt sei. Er ließ sein hitziges Aufundniederlaufen und blieb an seinem Platz regungslos sitzen. Mit einem stieren und fast irren Blick ins Leere vor sich starrend, murmelte er ununterbrochen unverständliche Worte vor sich hin; entweder verlor er sich in endlosen Kombinationen, oder er arbeitet [...] sich ganz andere Partien aus, denn jedes Mal, wenn Czentovic endlich gezogen hatte, musste man ihn aus seiner Geistesabwesenheit zurückmahnen. Dann brauchte er immer einige Minuten, um sich in der Situation zurechtzufinden; immer mehr beschlich mich der Verdacht, er habe eigentlich Czentovic und uns alle längst vergessen in dieser kalten Form des Wahnsinns, der sich plötzlich in irgendeiner Heftigkeit entladen konnte. Und tatsächlich, bei dem neunzehnten Zug brach die Krise aus. Kaum dass Czentovic seine Figur bewegte, stieß Dr. B. plötzlich, ohne recht auf das Brett zu blicken, seinen Läufer drei Felder vor und schrie derart laut, dass wir alle zusammenfuhren: ›Schach! Schach dem König!‹« (Zweig 2000: 106ff).

Dr. B. hatte sich jedoch geirrt. Der König war durch einen Bauern abgesichert. Er stammelt heftig, glaubte eine andere Partie zu spielen. Sein Bekannter, Zweigs Erzählperson, packt ihn derart heftig am Arm, dass Dr. B. stockte. »Er wandte sich um und starrte mich wie ein Traumwandler an. ›Was ... was wollen Sie?‹ Ich sagte nichts als ›Remember!‹ und fuhr ihm gleichzeitig mit dem Finger über die Narbe seiner Hand. Er folgte unwillkürlich meiner Bewegung, sein Auge starrte glasig auf den blutroten Strich. Dann begann er plötzlich zu zittern, und ein Schauer lief über seinen ganzen Körper« (ebd.: 107).

Zweig fokussiert in seiner Geschichte sehr präzise jenen Moment, in dem Dr. B. die Gefahr erkennt und sich darauf besinnt, dass er einst einer Manie verfallen war.

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM »›Um Gottes willen‹, flüsterte er mit blassen Lippen. ›Habe ich etwas Unsinniges gesagt oder getan [...] bin ich am Ende wieder [...]?‹ ›Nein‹, flüsterte ich leise. ›Aber Sie müssen sofort die Partie abbrechen, es ist höchste Zeit. Erinnern Sie sich, was der Arzt Ihnen gesagt hat!‹ Dr. B. stand mit einem Ruck auf. ›Ich bitte um Entschuldigung für meinen dummen Irrtum‹, sagte er mit seiner alten höflichen Stimme und verbeugte sich vor Czentovic. ›Es ist natürlich purer Unsinn, was ich gesagt habe. Selbstverständlich bleibt es ihre Partie.‹ [...] Er verbeugte sich und ging, in der gleichen bescheidenen und geheimnisvollen Weise, mit der er zuerst erschien« (ebd.: 109f).

So wie Dr. B. seinen Zellenaufenthalt nur durch eine Manie, das Aufgehen im Schachspiel, ertragen kann, so mag der Lebensantrieb von Yû beschrieben werden; ein »(Über-)Leben« ohne offensichtlichen Lebensmittelpunkt. Dieser Lebensmittelpunkt wird auch als Phantasma beschrieben, welches die Strukturierung des Lebens erst ermöglicht. In dem Werk The Stuff of Madness von Patricia Highsmith taucht ein ähnlicher Mittelpunkt auf. Es ist diesmal kein Spiel, sondern die Wachsfiguren von Penelope. »The Stuff of Madness [...] liest sich wie eine Variation auf das Motiv von Stephen Kings Der Friedhof der Kuscheltiere. Christopher Waggoners Frau Penelope hängt krankhaft an ihren Tieren: Im Garten hinter dem Haus stellt sie all ihre verstorbenen Katzen und Hunde ausgestopft zur Schau. Als die Presse von dieser Absonderlichkeit erfährt, wird die Frau von vielen Journalisten besucht, Artikel werden über sie geschrieben und natürlich Fotos ihres Gartens gemacht. Christopher leistet bis zum Äußersten Widerstand gegen diese Störung seiner häuslichen Privatheit, doch als er am Ende gezwungen wird, der Resolutheit seiner Frau nachzugeben, ersinnt er eine grausame Rache: Heimlich verfertigt er eine genaue Wachsfigur von Louise, seiner ehemaligen großen Liebe, und stellt dann diese Statue auf eine Steinbank in der Mitte des Gartens. Als Penelope die Journalisten am nächsten Morgen durch den Garten führt, sieht sie Louise und bricht mit einer Herzattacke zusammen (sie hatte immer gewusst, dass Chris sie niemals geliebt hatte und dass Louise seine einzige wahre Liebe war). Sie wird ins Krankenhaus gebracht und Chris bleibt allein zu Haus; am nächsten Morgen findet man ihn tot im Garten, steif wie eine Puppe im Schoß seiner Louise« (Žižek 1997a: 85).

Durch die Pflege und Kultivierung ihrer verstorbenen Haustiere schöpft Penelope also die Kraft, den wunden Punkt ihrer Ehe soweit zurückzudrängen, dass sie ein einigermaßen geregeltes Leben führen kann. Das

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Phantasma organisiert ihre Lebenswelt und dieses Phantasma wird durch die Grausamkeit ihres Ehemanns zerstört. Penelope wird sich beim Anblick der heimlichen Geliebten ihres Mannes ihres Phantasmas bewusst und in diesem Moment verliert das Phantasma schlagartig seine Funktion, ein organisierendes Prinzip des alltäglichen Lebens zu sein. Kann nun Penelope als Otaku bezeichnet werden? Obwohl otakueske Verhaltensweisen erkennbar sind (etwa in Form der sehr ausgeprägten Phantasie bzw. des dominierenden Phantasmas), ist sie kein Otaku. Die Geschichten von Highsmith und Zweig werden deshalb in dieser Studie erwähnt, da Otakus, ähnlich wie Penelope und Dr. B. ebenso auf ein organisierendes Prinzip zurückgreifen, durch welches die Strukturierung ihres Alltags möglich wird. Der mehrfach thematisierte Mittelpunkt bezeichnet also jenes Objekt, welches die Einsamkeit überwinden hilft, welches einen »(Aus-)Weg« aus der Verzweiflung bietet, einen Weg aus der offensichtlichen Hoffnungslosigkeit. Und das kann eben auch eine (Medien)Figur in Form einer Puppe sein. Die Bedeutung, welche die Puppen im Leben von Yû einnehmen, ist nur schwer artikulierbar. Seine Puppen geben ihm Sicherheit und in ihrer Gegenwart ist es ihm erlaubt zu leiden. Das Leben von Yû mit seiner Lieblingspuppe Ranze nimmt die Form einer realen Beziehung an. Ranze ist allgegenwärtig und besetzt den Platz, den, einer traditionellen Gesellschaftsstruktur folgend, der Partner einnimmt. »Le soir, j’avais hâte de rentrer. Elle m’attendait. C’était mon amie. Je lui parlais, je lui racontais ma journée. Bien sûr elle ne pouvait pas me répondre, mais mon imagination faisait le reste. Parfois je entendais le son de son voix. Je suppléais à son silence« (Barral 1999: 49).

Die Puppe besetzt den Platz der Frau und zwar nicht, weil Yû keine Frauen mag, sondern weil in den Puppen die ideale Frau, die so genannte Wunsch-Frau, kulminiert. In seinen Puppen erkennt er die pure, die wahre vollkommene Frau, eine Frau, die, wie er meint, in der realen Welt nicht mehr existiert. Die Realität stellt aus der Sicht von Yû einen Verrat dar. Die Realität ist nicht mehr das, was sie sein sollte.54 Aber das Leben mit Puppen ist in Japan nicht sonderlich ungewöhnlich. Unter der Rubrik Gesellschaft findet sich im Spiegel ein Kurzartikel zu Puppen als Kindersatz. Interessant ist, dass hier im Gegensatz zu Yû, ältere Personen ähnliche Strategien zur Lebensbewältigung anwenden, wie die Jüngeren. Otakismus ist also nicht ein ausschließliches Phänomen, welches sich innerhalb der japanischen Jugendkultur findet. 54 »La représentation imaginaire prend le pas sur le réel. La réalité n’est pas conforme à ce qu’elle devrait être, elle trahit la pureté idéale« (ebd.: 51).

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM »Bandai, der japanische Spielzeug-Gigant, verkauft seit vier Jahren Primo Puel55, eine Puppe, die einem Jungen ähnelt und die in der Lage ist, auf ihre Umwelt zu reagieren. Die Puppe ist mit Sensoren ausgestattet und beherrscht 285 Sätze. Morgens sagt sie Ich bin hungrig, abends Ich bin müde, und drückt man sie an sich, reagiert sie mit dem Satz Lass uns für immer zusammen sein. Vermarktet wurde Primo Puel als Spielzeug für Kinder, doch nun, nachdem 800 000 Stück verkauft wurden, stellte der Konzern fest, dass nicht Kinder, sondern Erwachsene mit Pimo Puel spielen. 70 Prozent der Produktion gehen nicht an Mädchen, sondern an Frauen über vierzig. Sie nehmen ihre pflegeleichten Ersatzkinder mit auf Reisen, kaufen ihnen Kleider, Spielzeug und organisieren Treffen. Etsuko Kashiwagi, 47, besitzt 16 Puppen, und sie besteht darauf, nicht verrückt zu sein: Ihr Sohn besuchte ein College, und sie und ihr Mann fühlten sich geborgen inmitten der Puppen, so wie andere Menschen inmitten ihrer Haustiere«.56

Die Hingabe von Otakus zu Puppen oder allgemeiner Figuren ist ein Indiz für die Kreation eines eigenen Universums, in dem die (Medien)Figuren mittels der Imaginationsfähigkeiten von Otakus ihren Auftritt erwarten. Ein Universum, das als Rückzugsgebiet für all jene dient, die im traditionellen Japan eben diese traditionellen Perspektiven ablehnen.57 Ist die Leidenschaft zu Puppen also lediglich eine Form von Idolatrie oder gar Fetischismus? Der Terminus Idolatrie58 bezeichnet allgemein die Verehrung von Bildern, in denen Realpräsenz einer Gottheit angenommen wird. Die Leidenschaft zu Puppen ist durchaus als eine Form der Idolatrie zu betrachten. In den Puppen wird die Realpräsenz einer Person angenommen. Die Puppen sind eben nicht ein lebloser unbeseelter Gegenstand. Der Begriff Fetischismus leitet sich vom lateinischen facticius ab und bedeutet soviel wie nachgemacht. Es kann ein beliebiger Gegenstand sein, der im Gegensatz etwa zum Amulett, nicht aus sich heraus, sondern erste durch einen Zauber bzw. eine magische Kraft schützend oder helfend wirkt. Fetischismus wurde ursprünglich von den Portugiesen verwendet, um westafrikanische Götterbilder zu benennen. Später erst wurde der Begriff allgemein zur abwertenden Bezeichnung von nichtchristlichen Religionen, die künstlich hergestellte Dinge verehrten. Fetischismus im wissenschaftlichen Gebrauch ist der Glaube an einen machtgeladenen Gegenstand, der als Fetisch bezeichnet wird. Da die 55 http://www.insite-tokyo.com/column/john/index10.html, März 2004. 56 Dieser Artikel erschien ohne Angabe eines Autors im Spiegel Nr. 48/2003: 77. 57 Ein Indiz für die Grenzenlosigkeit der Imagination von Otakus ist unter anderem das Basteln. Otakus konsumieren nicht nur Medienprodukte, sondern kreieren diese auch weiter. Somit kulminiert die Imagination in dem ausgewählten Gegenstand und in diesem erkennen sie auch einen Teil ihrer selbst. 58 Vgl. hierzu auch den Abschnitt zu Flusser in dieser Studie.

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Puppen für den Otaku durchaus die Kraft von Fetischen besitzen, ist die Bezeichnung Fetischismus nicht generell abzulehnen. Sie ist jedoch insofern zu präzisieren, als Fetischismus in dem vorliegenden Kontext nicht ausschließlich der Interpretation Freuds folgt.59 Fetischismus ist nicht nur als eine sexuelle Abweichung zu verstehen, bei der dem Geschlechtspartner gehörende Gegenstände als Fetische sexuelle Erregung hervorrufen. Wenn im Zusammenhang mit Otakismus von Fetischismus gesprochen wird, dann im Sinne einer Verehrung und den Glauben an die Kraft von Fetischen.

Abbildung 3: Detailsuche60

Foto-Otaku – »Natürliche Mädchen-Lust« oder die Ordnung des Phantasmas Die im vorangegangenen Kapitel thematisierten Puppen werden nach Fotovorlagen gefertigt. Als einer der renommiertesten Fotografen dieser Branche gilt Toshiaki Sonoda. Er ist ein so genannter Foto-Otaku und als solcher hat er in den vergangenen fünfzehn Jahren mehr als 4.000 junge Mädchen abgelichtet. Das Fotografieren dieser jungen Mädchen ist seine Spezialität, seine Leidenschaft oder anders formuliert: der Gegenstand seines Begehrens. In seiner Arbeit strebt er danach, den natürlich femininen Ausdruck der Mädchen festzuhalten und um diesen perfekten Abzug

59 Vgl. den Aufsatz Fetischismus von Freud (1999, Bd. IV: 311ff). 60 Quelle: Beineix, Jean-Jacques (2004). Otaku. Eine Dokumentation. Cargo Films: OVA Films.

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

zu erhalten, verzichtet er auf Bilder, die in einer fiktiven Umwelt entstehen.61 »Ce sont des adolescentes anonymes dans tout leur banalité, donc je ne veux pas les photographier comme on photographie des idoles et encore moins comme des actrices de vidéos porno. Il faut qu’elles gardent leur naturel, et je les photographie dans leur quotidien. Je leur demande donc de ne pas se maquiller, de se coiffer comme elles ont l’habitude de le faire et de mettre autant que faire se peut les vêtement qu’elles portent dans leur vie quotidienne« (Barral 1999: 75).

Sonoda ist ein absoluter Star, er hat mehrere Bildbände veröffentlicht (jeweils mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren) und vertreibt zudem Videokassetten, in denen die Mädchen in ihrer natürlichen Umgebung auftreten, und selbstverständlich sind seine Arbeiten auf CD-Rom erhältlich. Immerhin, so der Urheber, müsse er mit der Zeit gehen. Auch sind die Fotos Inspiration für unzählige Puppen. Der logische Schritt nach der Produktion der CD-Rom ist die Interaktivität. Mittlerweile können Otakus ihrem Fotoliebling vorprogrammierte Fragen stellen, auf welche dieser dann live antwortet. Die existierenden technischen Möglichkeiten geben dem User dabei ein machtvolles Instrumentarium in die Hand. Will dieser zum Beispiel ein Bildschirm-Mädchen ausziehen, so bedarf es lediglich eines Mausklicks. Der Computer ist nicht mehr bloße Rechen- oder Schreibmaschine, er besetzt, frei nach Sonoda, eine derart zentrale Position im Alltag, dass ihm bereits »Persönlichkeit« zukomme.62 Beim Einschalten des Computers erscheint die Auserwählte und begrüßt den Benutzer und bei Beendigung der Sitzung verabschiedet sie sich. Sonoda lebt jedoch nicht ausschließlich vom Verkauf seiner frech-frivolen Videos. Er betreibt in einem traditionellen und touristisch stark frequentierten Stadtteil Tokios ein kleines Töpfereigeschäft. Der Laden ist sein ganzer Stolz und, zur allgemeinen Überraschung, bis an den Deckenrand mit so genannten »low level-Pornos« voll gestopft. Die Passion Sonodas, sein zweites Standbein neben der unverfälschten Natürlichkeit junger Mädchen, ist die Pornografie; er ist der kapitalistischen Logik erlegen, denn es verdient sich leichter Geld mit Videos von halbnackten Mädchen, als etwa mit dem Umweltschutz ņ ein Bereich, von dem Sonoda sagt, er sei ihm sehr verbunden. Aber was bewegt ihn, Fotos von jugendlichen Frauen zu schießen?

61 Paradox daran ist jedoch, dass er die Mädchen sehr wohl in seinem Studio ablichtet. Siehe hierzu auch Abbildung 5. 62 »Combien de gens passent plus de temps devant l’écran de leur ordinateur qu’à communiquer avec des êtres vivants?« (Barral 1999: 76).

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD »Lancés sur les rails du quotidien normatisé, les adultes gardent néanmoins la nostalgie de cette liberté adolescente et c’est ce qui les attire chez les lycéennes. Je reconnais cependant que l’attrais plus sexuel pour des corps dans la fraîcheur de leur épanouissement n’est pas négligeable« (Barral 1999: 78).

Der Fotograf sucht sich ausschließlich Mädchen, die absolut keine Model-Erfahrung haben. Er will keine Kinderstars oder Idole anderer Art, da ihnen das Mediensystem bereits die Jugend geraubt habe, und sie zu puren Merchandising-Produkten hat reifen lassen. Sie haben, so Sonoda, ihre Unschuld verloren. Er selbst will jedoch nicht in die Irre führen und schenkt man seinen Ausführungen Glauben, so wissen jene Jugendlichen, die seine Alben kaufen, sehr wohl, dass die Fotos ein verfälschtes Universum63 darstellen. Warum stillen (vorwiegend männliche) Jugendliche ihren Kennenlern-Durst aber dennoch mit Videos aus dem verfälschten Universum? Der Starfotograf Sonoda meint, dass es vor allem daran liege, dass das virtuelle Mädchen verfügbarer ist als ihr reelles Gegenüber.64 Sie seien immer da, mehr oder weniger in Reichweite. Zudem können sich die Konsumenten in eine virtuelle Beziehung projizieren, ohne sich für diese genieren zu müssen. Man mache seine Erfahrungen in einem geschützten Raum: kein Lärm, keine Gefahren. In Rollenspielen etwa kann man, entsprechend dem individuellen Entwicklungsstatus, experimentieren und sich auf diese Art und Weise auf reelle Alltagssituationen, die in einer späteren zwischenmenschlichen Beziehung auftreten, vorbereiten. Was aber bedeutet es, ungestört Erfahrungen machen zu können? Bedeutet es nicht, dass sich die Jugendlichen in einer Gesellschaft wieder finden, die für ihre Entwicklung keine Zeit mehr hat? Eine Gesellschaft, welche sie in ein Chaos stürzen lässt, und welche jeglichen Blick auf einen möglichen Ausweg verstellt? Bietet der Computer nicht die Möglichkeit der Ordnung? Kann nicht der Computer das Phantasma organisieren (helfen)? Die Rede ist hierbei von einem Phantasma, welches die Lust auf eine Beziehung in der realen Welt verschwinden lässt. »Les jeunes perdraient alors totalement le désir de rencontrer de vraies filles« (ebd.). Ehe die Ausführungen zu Sonoda einem Ende entgegengeführt werden, bedarf es noch einer Antwort. Wie über63 Wieder taucht ein eklatanter Widerspruch auf. Einerseits strebt Sonoda danach, den natürlich femininen Ausdruck der Mädchen festzuhalten, andererseits argumentiert er, dass er nicht in die Irre führen will und dass die Käufer seiner Alben sehr wohl wissen, dass es sich um ein verfälschtes Universum handelt. Der Widerspruch liegt darin, dass er genau das Gegenteil versucht: Er versucht darauf hinzuweisen, dass in seiner Fotografie es eben kein verfälschtes Universum gäbe, und dass er die Natürlichkeit festhalten könne. 64 Dieser Schluss wird zum Beispiel auch von Manga-Experten Jack Seward bestätigt (vgl. Fels 1997a: http://www.japanlink.de/mk/mk_manga_eromanga s.html, Mai 2004).

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

zeugt Sonoda die jungen Mädchen, für ihn zu posieren? Welche Überzeugungsstrategie wendet er an? Seine Masche kann als das große Bruder-Spiel bezeichnet werden. Sonoda nimmt die Rolle des verständnisvollen Zuhörers ein, der für die Probleme der Mädchen ein offenes Ohr hat. Das Argument, dass es sich hierbei um keinen sonderlich intelligenten Trick handelt, mag richtig sein, bedenkt man jedoch, dass sich in der japanischen Gesellschaft niemand die Zeit nimmt, um auf die Probleme von Jugendlichen einzugehen, so wird schon klarer, warum Sonoda mit diesem »(Rollen-)Spiel« erfolgreich ist. Immerhin geben 95 Prozent der japanischen Jugendlichen an, nie einen tiefer gehenden Dialog mit ihren Eltern zu führen. Für diese Jugendlichen ist es beklemmend aufzuwachsen, ohne je verstanden zu werden.65 Erschwert wird die Situation dadurch, dass es für sie sehr schwierig ist, Argumente gegen die bestehende Situation zu finden. Den Jugendlichen des Wirtschaftsbooms wird unterstellt, dass es ihnen materiell an nichts fehle und die ältere Generation versteht nicht, worüber sich die Jugend beklagt, da diese weder den Krieg noch die Nachkriegsjahre erlebt haben. Worüber beschweren sie sich also? Es wird als ein regelrechter Affront empfunden, dass die jungen Menschen überhaupt ihren Unmut äußern. Auf der materiellen Seite mag es den Jugendlichen tatsächlich nur an wenig fehlen, doch das Drama ereignet sich nicht dort. Die jungen Menschen suchen auch nach einem Sinn, den sie ihrem Leben geben möchten, und müssen dabei erkennen, dass sie alleine gelassen wurden (vgl. Bense 2000).

Abbildung 4: Mädchen mit Puppe66

65 »C’est angoissant de grandir sans comprendre. Les adolescentes qui viennent me voir expriment toutes un profond désir de mieux se connaître« (Barral 1999: 80). 66 Quelle: Beineix, Jean-Jacques (2004). Otaku. Eine Dokumentation. Cargo Films: OVA Films.

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Sonodas Model mit der von ihr angefertigten Puppe. Puppen nach einem reellen Vorbild gibt es jedoch nicht nur in Japan. Der Playboy bietet maßstabsgetreue Nachbildungen einiger seiner Modelle an. Diese sind übrigens keine simplen Plastikpuppen. Nein, sie sind gar mit einer weichen, samtigen Haut überzogen.

Abbildung 5: Playmate mit Puppe67

Idol-Otaku: Idolemania – Der obszöne Blick Wir leben in der Ekstase der Kommunikation. Jean Baudrillard

Diejenigen Idol-Otakus, die hauptsächlich wegen dem Fotografieren den Auftritten ihrer Stars beiwohnen, nennt man camera kozô. Die jungen Künstlerinnen verabscheuen die camera kozô, da sie in ihren Augen die schlimmste Form von sexueller Besessenheit darstellen. Zwei Formen der camera kozô68 sind zu unterscheiden: Den sexuell Besessenen stehen die von Liebe Erstarrten (amoureux transis) gegenüber. Die einen versuchen, jedes Detail einer Künstlerin auf Bild festzuhalten, die anderen sehen in ihrem Idol eine Art Göttin, die sie verehren. Der Anblick der fotohungrigen Otakus – es sind jedes Mal unzählige – ist für Étienne Barral jener Moment, in welchem sich das Obszöne zeige. 67 http://people.freenet.de/essi/playboy1.jpg, Januar 2004. 68 Die camera kozô entstanden am Beginn der 80er Jahre, als in Japan der Markt für Fotoapparate erschlossen wurde. Das erste Publikationsforum für die camera kozô stellte das Magazin Super Shashin Juku dar. Das Magazin spezialisierte sich auf Veröffentlichung erotischer Fotos von Amateuren. Die Amateure eiferten den Profis nach und versuchten, vor allem Schnappschüsse zu erzielen, die einen Blick unter die Röcke der Mädchen eröffneten. Das Magazin hatte dadurch vor allem einen Vorteil: Die Fotos der camera kozô sind im Vergleich zu jenen der renommierten Fotografen billig (vgl. Barral 1999: 127; Beineix 2004; Bense 2000).

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

»Tout à l’heure, lorsque ces centaines d’objectifs seront pointés sur la petite idole en jupette flottante et socquettes blanches, je ne pourrai m’empêcher de penser que cette scène a quelque chose d’obscène, car que font Yoshiyuki et ses dizaines de camerades sinon utiliser leur objectifs comme autant de pénis virtuels?« (Barral 1999: 123). Der voyeuristische Blick der camera kozô unter einen durch eine sanfte Brise gehobenen Rock ist nicht neu. Die Situation des durch einen Windhauch gehobenen Rockes basiert auf einer der berühmtesten Filmszenen des vergangenen Jahrhunderts und ist eine Ehrerbietung an Marilyn Monroe. Die Existenz eines offiziellen Mediums, welches seinen Umsatz durch Fotos von Minderjährigen macht, legitimierte den obszönen Blick auf den Intimbereich von jungen Frauen. Nicht nur ein Tabu ist gebrochen, auch ein Verbot aufgehoben. Die Legitimation des Blicks erfuhr eine bewusste Stärkung, durch welche das Blick-Begehren weitere Befriedigung erfahren sollte. Die mini-concerts wurden nicht mehr ausschließlich in Hallen abgehalten, sondern auf die Dächer der großen Hallen verlegt. Über den Dächern von Tokio ist den Veranstaltern die Unterstützung des Windes sicher, auf welche sie in den Hallen nicht zählen können. Die mehr oder weniger starken Windböen bringen etwas Dynamik in die glatten, um nicht zu sagen langweiligen, Bühnensituationen. Der Wind unterstützt das Entstehen von Blick-Perspektiven, die sich zum Beispiel durch einen angehobenen Rock ergeben. Dadurch wird einerseits die Lust der Fotografen befriedigt, andererseits auch weiter vorangetrieben.

Abbildung 6: Camera kozôs69

69 Quelle: Beineix, Jean-Jacques (2004). Otaku. Eine Dokumentation. Cargo Films: OVA Films. Die abgebildeten Camera kozôs wohnen einem Auftritt von Nachwuchsidolen bei.

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Die Fotojagd der camera kozôs ist obszön. Der pauschale Schluss, Otakus seien obszön, ist jedoch nicht haltbar. In Frage zu stellen ist, ob der Otakismus tatsächlich ein Spiegelbild der Kommunikationsgesellschaft darstellt. In der Einleitung wurden einige Charakteristika der Lebenswelt des Otaku beschrieben. Diese Charakteristika zeigen, dass es eben zu einfach ist, in den Bedingungen der Informationsgesellschaft die Ursachen zu suchen.

Abbildung 7: Nachwuchshoffnungen70

Manga-Mania Mit dem Begriff Manga wird die japanische Comicform bezeichnet. Wörtlich übersetzt bedeutete der Begriff so viel wie unverantwortliche Bilder. Mangas sind keine Hochglanz-Heftchen. Die schräg geklebten Lettern »wie auch der billig wirkende, meist schwarzweiße Druck auf Recyclingpapier sind beabsichtigt. Sie verweisen auf die Wurzeln des Mangas, die bis in die Edo-Zeit (1600-1867) zurückreichen. Eine neue Holzdrucktechnologie ermöglichte die Massenproduktion der fünfzehn Bücher des Holzschnittmeisters Katsushika Hokusai (1760-1849), in denen Alltagsszenen und Landschaften abgebildet sind und die unter dem Namen Hokusai Manga gesammelt wurden« (Affolter 199871).

Nachwuchsidolen bei. 70 Quelle: Beineix, Jean-Jacques (2004). Otaku. Eine Dokumentation. Cargo Films: OVA Films. 71 http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/1998/09/articles/affolter.html, Mai 2004.

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

Der moderne japanische Manga mit sequenzierter Bildfolge und Sprechblasen ist ein Nachkriegsphänomen und geht auf den Zeichner Osamu Tezuka (1929-1989) zurück. Tezuka wird in Japan als manga no kamisama (Gott der Mangas) verehrt. Der Disney-Fan, der unter anderem seine Autobiographie in Manga-Form schrieb, verband moderne, filmische Elemente mit der Holzschnitttradition des Mangas. Er verstand den Manga als eine Art gezeichneten Film. Auch gegenwärtig ersetzen raffinierte Bildfolgen die Wortsprache. So kann ein Samuraikampf wortlos auf über 50 Seiten ausgedehnt werden. Jedes Bild entspricht dabei einer anderen Einstellung. Analysen ergaben, dass ein 320-Seiten-Manga in etwa 20 Minuten gelesen werden kann, »das macht 16 Seiten pro Minute oder 3,75 Sekunden pro Seite. Manga lesen ist wie Daumenkino im Slowmotion-Tempo« (Affolter 1998). In einem größeren Umfang werden Mangas in Japan etwa seit den 50er Jahren gelesen. Sie umfassen ein breites Themenspektrum, wie etwa Fantasie, Romantik, Science Fiction, Erotik, und werden von allen Bevölkerungsschichten und allen Altersgruppen72 rezipiert (vgl. Izawa 200473). Der Konservator der zweitgrößten Comic-Sammlung Europas an der Bibliothèque Municipale Lausanne, Cuno Affolter, bestätigt, dass die Manga-Mania alle Alters-, Geschlechts- und Sozialschichten erfasst und eine Industrie hervorgebracht hat, die jährlich 2,3 Milliarden Mangas absetzt und mit einem Umsatz von 6,5 Milliarden Franken bereits 1998 zu den größten Wirtschaftszweigen Japans gehörte. Im Gegensatz zu westlichen Comics, in denen der Kontext des Geschehens oft eine erzählerische Funktion einnimmt, steht in einem Manga der Mensch immer im Zentrum der Erzählung. In Mangas wird die Grenze zwischen Schrift, Text und Bild aufgehoben. Die Themenvielfalt der Mangas ist sehr groß. Die Liebe einer Nonne mit einem Boxer, geschichtliche Ereignisse, über einen Meister im Reiten oder politische Komplotte,74 alles kann zum Inhalt werden. In der europäischen bzw. westlichen Vorstellung handelt es sich bei Mangas um Geschichten, die sich durch ihre bluttriefenden Geschichten und »expliziten Darstellungen sämtlicher sexueller Perversionen« (Affolter 1998) charakterisieren. Dieses pauschale Urteil stimmt jedoch nur bedingt, da es eine Vielzahl von 72 Dennoch stellen Kinder und Jugendliche den größten Anteil des Absatzmarktes dar. 1997 wurden pro Woche etwa 17 Millionen Exemplare von Comicheften verkauft, die für diese Zielgruppe auf den Markt gebracht wurden. Vgl. hierzu auch http://www.tokyoland. de/anime+manga.html, April 2004. 73 http://www.mit.edu:8001/afs/athena.mit.edu/user/r/e/rei/WWW/Expl.htm l1, Mai 2004. Vgl. weiters Barral 1999: 136f. Vertiefende Literatur zum Thema Manga: Philipps, Susanne (2000). Tezuka Osamu. Figuren, Themen und Erzählstrukturen im Manga Gesamtwerk. Berndt, Jacqueline (1995) Phänomen Manga. Comic-Culture in Japan. 74 http://www.wz-newsline.de/seschat4/200/sro.php?redid=48045, Mai 2004.

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Mangas mit so genannten seriösen Inhalten gibt, die etwa die Alltagskultur Japans oder religiöse bzw. philosophische Themen aufgreifen.75 Mangas erscheinen in der Regel wöchentlich und für viele Leser, vor allem die Jüngeren, ist die regelmäßige Rezeption sehr bedeutungsvoll. In Japan ist der soziale Druck, den eine Gruppe ausübt, besonders groß. Eine regelmäßige Rezeption ist deshalb wichtig, da dadurch die Partizipation an den aktuellen Diskussionen der Gleichaltrigengruppe ermöglicht wird. Fragt man, was die Popularität dieses speziellen Genres in Japan ausmacht, so werden unterschiedliche Gründe angeführt. Einige Faktoren76, die genannt werden, sind: x Mangas eignen sich als Zeitvertreib, auf den man jederzeit und überall zurückgreifen kann. x Mangas erlauben den Rezipienten rasch und ohne großen Aufwand in ein fiktives Universum zu flüchten. Sprich: Sie dienen der Unterhaltung und Ablenkung. x Mangas sind leicht zugänglich. Man kauft sie am Kiosk und kann sie während der Metrofahrt konsumieren. x Mangas sind kostengünstig. x Mangas sind ein klassisches Wegwerfmedium. Hat man sie gelesen, landen sie in der Mülltonne.77 x Mangas stellen eine imaginäre Wolke im Alltag dar, in welche man rasch eindringen und dabei die festen Strukturen innerhalb des Alltags vergessen kann. x Der Manga dient aber auch der Bildung und Information. Vor allem da in Japan politische Skandale nicht in der Zeitung behandelt werden. Die Mangas übernehmen, zwar stark kodiert, diese Aufgabe.78 75 Ikkyu von Hisashi Sakaguchi erzählt zum Beispiel den Werdegang eines Novizen zum Zen-Meister. Eine andere Geschichte ist jene des 35-jährigen Oda, der es in Dispersion wagt, die Zwischenwelt von Tod und Leben bildlich einzufangen und aus einer Liebesgeschichte einen buddhistischen Diskurs über den Sinn des Lebens entwickelt. »Beide Werke zeichnen sich aus durch einen Mut zu Leere und Stille, durch Sequenzen von meditativer Durchlässigkeit, wie sie im Westen unbekannt ist« (Affolter 1998). 76 Vgl. Affolter (1998) bzw. Barral 1999: 138. 77 Nach der Lektüre landet das Manga auf dem Müll. »Die dicken Schinken lassen sich in den kleinen Wohnungen schlecht horten, und auch die Tiefpreispolitik fördert die Wegwerfmentalität. Durchschnittlich 250 Yen kostet ein MangaMagazin, das ist weniger als ein U-Bahn-Ticket. Ein Magazin wird zuweilen auch bloß wegen einer einzigen Serie gekauft« (Affolter 1998). 78 »Through Manga it is possible to trace the deep veins of yearning, dejection, frustration, obsession, desire, euphoria, disappointment and fantasy not so apparent in other media. In an advanced industrial society in which the volume of information, intellectual attention, and culture focuses on national ideology, national psychology, corporate organization, technology and aesthetics, has overwhelmed any serious interest in actual people and contem-

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

Von den Manga-Kritikern wird beharrlich das Argument vorgetragen, dass diese keine intellektuellen Ansprüche an die Rezipienten stellen. Dieser Einwand ist zu relativieren, da er nicht pauschal auf alle Mangas angewendet werden kann (vgl. Izawa 2004). Wie bereits erwähnt, gibt es für alles und jede/n sein/ihr Manga. Auffallend ist, dass mehr als etwa im Kino- oder in der Videobranche gewaltreiche und pornografische Inhalte auftauchen. Generell ist Gewalt ein Element, das seit den 60er-Jahren generell im Medium Manga eine immer größere Rolle spielt. Offensichtlich dienen gewaltreiche Mangas als Kompensationsmedium erlebter Zwänge, ohne dass dabei die Gewalt in die Alltagswirklichkeit übertragen wird (vgl. Fels 199779). Zudem wird angeführt, dass man die Freiheit der künstlerischen Expression nicht einschränken will. Bezogen auf die künstlerische Expression von ErotikMangas ist auffallend, dass in diesen die weiblichen Figuren meist jünger aussehen, als dies von den Geschichten her der Fall sein kann. Paradox ist, dass hierfür gesetzliche Gründe verantwortlich zeichnen. In dem Anfang der 1990er-Jahre überarbeiteten Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches war die Verbreitung, der Verkauf sowie die Auslage von obszönen Druckerzeugnissen verboten. Dies bezog sich im Besondern auf die präzise Abbildung von Schamhaaren, Genitalien und Geschlechtsverkehr. Das Paradox liegt darin, dass dies für die Darstellung von Erwachsenen, nicht aber für jene von Kindern galt. Auf diese Art und Weise wurde also die Zensur umgangen. In diesem Umstand liegt auch ein Faktor (von vielen), der den Lolita-Komplex80 mitgeprägt hat (vgl. Fels 199781). Hinzu kommt, dass die Zeichnung als etwas absolut Künstliches gilt. Sie ist nur ein vom Menschen geschaffenes Artefakt und daher beherrschbar. Vom gezeichneten Bild geht keine Gefahr aus, vom Foto sehr wohl, da es die Realität darstelle.82 Doch worin liegt die Faszination bzw. der Reiz an den jungen Mädchen für die meist männlichen Konsumenten? Offensichtlich daran, dass diese Mädchen leichter zu dominieren sind. Der Psychologe Fukushima Akira ortet einen Aspekt der Attraktivität der Mangas unter anderem darin, dass die Leser von Mangas in der Regel einem enormen Kontrolldruck ausgesetzt sind. Die Gesellschaft und die Familien seien Konstrukteure von normosen (Barral). Die Jugend

79 80 81 82

porary creativity, manga culture has been an important extra dimension for communicating focus on how people feel has given manga a clear humanistic value« (Kinsella 2000: 7). http://www.japanlink.de/mk/mk_manga_eromanga.shtml, Mai 2004. Vgl. weiterführend Berndt (1995). Zu Lolita siehe Vladimir Nabokovs Roman Lolita sowie Andrea Brambergers Studie Die KindFrau. http://www.japanlink.de/mk/mk_manga_eromanga.shtml, Mai 2004. So werden etwa nach Japan importierte Playboy-Nummern an intimen Stellen geschwärzt. Schamhaare dürfen nicht zu sehen sein (vgl. Thomas 1999: 211).

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

suche nach Mitteln und Wegen, sich diesem Zwang zu entziehen; den Mangas wird eine Katharsis-Funktion zugesprochen. Machino Henmaru, Zeichner von pornografischen Mangas, präzisiert dies und führt die Argumente weiter aus. Es sei für ihn viel aufregender, die Abenteuer seiner Heldin zu imaginieren. Obwohl er selbst mit seiner Freundin (einer reellen Frau) zusammen lebe, habe er nicht das Verlangen sie zu lieben; Vor allem deshalb nicht, da er seine Phantasien sowieso nicht realisieren könne. Die imaginäre Welt sei das Faszinierende. Seine Leser seien mündige Personen, insofern sei es auch nicht seine Aufgabe, seine eigenen Phantasien zu zensurieren. Ein Manga, welches nicht auf die Imagination schlägt, sei kein gutes Manga. Machino bestätigt, dass die Zeichner traditionelle Tabus nicht mehr respektieren und somit eine beständige Verschiebung der Genregrenzen erfolgt. Die Konsequenz sind komplett irreale Geschichten; das Gesetz des Genres verlange jedoch danach (vgl. Barral 1999: 141). Eine Ausprägung der Mangas bricht ganz besonders offensichtlich mit traditionellen Sichtund Darstellungsweisen: die Yaoi-Mangas83. Allgemeine Charakteristika von Yaoi-Mangas sind, dass x auf detailreiche Beschreibungen der verschiedenen Szenen besonderer Wert gelegt wird, x sich graphische Darstellungen mit längeren Textpassagen abwechseln, x speziell die Gedanken der Protagonisten detailreicher offen gelegt bzw. beschrieben werden. Der Begriff Yaoi entstand in den 80er Jahren und ist in der Regel lediglich Insidern bekannt. Er bezeichnet eine Form von Mangas, die, wenn auch symbolisch, mit geltenden narrativen Regeln brechen. Das Wort yaoi setzt sich aus drei Wortstämmen zusammen: x ohne Höhepunkt/Zenit x ohne Niedergang x ohne Bedeutung Doch kursiert eine weitere Bedeutung des Begriffes, welche sich in drei Adjektiven manifestiert: x gefährlich x abschreckend x libidinös

83 Yaoi steht für Yama-nashi, Ochi-nashi, Imi-nashi. Kein Höhepunkt, keine Pointe, keinen Sinn (vgl. Grassmuck 1999).

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In gegenseitiger Ergänzung charakterisieren diese Wortbedeutungen den Gegenstand sehr gut und sind als Ausdruck einer gewissen Art von Respektlosigkeit gegenüber konventionellen Mangas zu sehen. Dies ist ein weiteres zentrales, inhaltliche Charakteristika von Yaoi Mangas. In den Yaoi Mangas schufen junge Zeichnerinnen Geschichten, in denen die Erlebnisse von homosexuellen Jugendlichen erzählt wurden. Im Zentrum des Interesses ist nach wie vor das andere Geschlecht positioniert, aber durch die spezielle Auswahl ist es den Zeichnerinnen gestattet, all ihre Wünsche und Phantasien zu Papier zu bringen, ohne sich dabei zu sehr auf existierende Klischees einzulassen. Die Themen gestatten den Leserinnen und Lesern somit, den oft sehr monotonen Alltag zumindest für kurze Zeit abzuschütteln. Ein zusätzlich irritierendes Stilmittel bei den Yaoi Mangas ist, dass sie bekannte Comicfiguren zweckentfremden. Die bekannten Helden nehmen eine Rolle ein, die eben nicht ihrer üblichen Darstellung entspricht. Idealtypischerweise sind die vorwiegend männlichen Figuren kommerziell erfolgreichen Mangas entnommen. Viele Vorlagen finden die Yaoi-Zeichnerinnen in Geschichten, denen ein sportliches Schwerpunktthema, wie etwa Fußball oder Basketball, zugrunde liegt. Die Wahl von Mannschaftssportarten ist hierbei kein Zufall, denn sie gewährleisten, dass verschiedene Personen die Handlung der einzelnen Geschichten dominieren; zudem ergibt sich eine Vielzahl von Kombinationsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Protagonisten. Um erfolgreich zu sein, müssen die auserwählten Helden der »(Vorstellungs-)Norm« der weiblichen Leserinnen entsprechen. Hierbei sind x feine Gesichtszüge x große Augen x lange blonde Haare x schön definierte Muskeln (jedoch nicht zuviel) wünschenswert. Wie bereits erwähnt, lassen in Yaoi-Mangas die Helden die Charaktereigenschaften ihrer ursprünglichen Kreationen hinter sich. Die ursprüngliche Kreation wird entfremdet. Meist ändern sich die sexuellen Neigungen der Helden (etwa von hetero- zu homosexuell). Die Liebesabenteuer der homosexuellen Helden bilden anschließend den roten Faden der jeweiligen Geschichte. Das Genre der Yaoi Mangas wird ebenso als eine Revolte gegen das stereotype Image und die Handlungsweisen innerhalb der traditionellen Manga-Storys gesehen. In kommerziellen Mangas sind Mädchen und junge Frauen meist unterwürfig und nett dargestellt, die Jungen hingegen stark und machohaft. Männer bestechen durch ihre makellose Schönheit und die Fähigkeit, auf die Gefühlswelt der Partnerin adäquat eingehen zu

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

können. Yaoi Mangas lassen sich auch als eine freche Forderung der Zeichner lesen. Yaoi Mangas thematisieren zudem, dass traditionelle Lebensformen nicht jene sein müssen, die unbedingt erstrebenswert sind. Insofern weist das Genre einen Weg, der alle traditionellen Formen vergessen macht, da es diese als zu banal erachtet. Hier zeigt sich sehr deutlich auch die politische Dimension, die Mangas einnehmen können. Angesichts der gewalthaltigen und pornografischen Inhalte von vielen Mangas entsteht in Japan in regelmäßigen Abständen eine Debatte – die übrigens bis ins Parlament reicht – über den Einfluss der Mangas auf die Gewaltbereitschaft sowie auf das individuelle Sexualverhalten – insbesondere auf jenes von Jugendlichen. Die Sittenwächter sehen in diesen Comics eine Gefahr für die Jugend (Fels 1997a). Dabei prallen zwei unterschiedliche Standpunkte aufeinander. Die konservativen Kräfte, bestehend aus Eltern, religiösen Gruppen, der Exekutive und den konservativen Regierungsvertretern, fordern die Zensur von bestimmten Inhalten. Die progressiven Kräfte, auf deren Seite sich die Zeichner wieder finden, fordern die Gedankenfreiheit des künstlerischen Ausdrucks. Sie lehnen Zensur ab und argumentieren, dass die Debatte in die falsche Richtung gehe. Vielmehr versuche eine Gruppe von Menschen, insbesondere die Eltern, ihre eigene Verantwortung abzuwälzen. Die Gegner der Mangas werfen soft- und hard-Magazine in den gleichen Topf. Sie weisen unermüdlich auf die Risiken hin, die vor allem darin bestehen (sollen), dass die lesenden Personen verwirrt werden und nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können. Des Weiteren werden psychische Faktoren angeführt. »Ils insistent sur les risques de confusion entra la fiction et la réalité, sur la mauvaise influence que ces publication peuvent avoir sur le psychisme des jeunes et sur l’image dégradante de la femme telle qu’elle est représentée dans certains mangas. Ils protestent également contra la représentation de relations sexuelles entre mineurs ou entre adultes et adolescents prépubères, qui tend à donner aux jeunes l’impression que la sexualité prépubère est dans la norme. Ils s’insurgent contre l’absence de morale des maisons d’édition et des dessinateurs, et regrettent la passivité du gouvernement, qui ne s’empresse pas d’établir une juridiction stricte et préfère négocier au coup par coup« (Barral 1999: 143).

Bereits 1990 versuchte die Elternvereinigung zum Schutz der Kinder vor Comic-Büchern durch eine Unterschriftensammlung 930 verschiedene Manga indizieren zu lassen. Der Protest richtete sich selbstredend auf die Gewaltdarstellungen und gegen die unsittliche Erziehung der Jugendlichen sowie die Kommerzialisierung des weiblichen Geschlechts. Der

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

Protest war erfolgreich und führte dazu, dass seit 1991 gewaltreiche und pornografische Comics84 mit dem Aufdruck Erwachsenen Comic (vgl. Fels 1997a) versehen werden müssen. Die Annahme, das Lesen von Comics (und der Otakismus) sei eine männliche Domäne, mag nahe liegend erscheinen, sie ist jedoch nicht korrekt. Comic City Tokio Harumi ist zu 99 Prozent (!) von jungen Frauen zwischen 15 und 25 Jahren besucht. Am Comic-Markt nehmen die Produkte für Frauen und Mädchen eine wichtige Position ein. Im Mittelpunkt der Geschichten von Mädchen- und Lady-Comics stehen eben die Mädchen und Frauen, deren Alltag, deren Psyche. Allgemein gilt, dass die weiblichen Leser nicht dermaßen bildfixiert sind wie männliche. Daher wird auf die Beschreibung der Gefühlsebene der Helden besonderes Augenmerk gelegt. Lady-Comic, die Erwachsenenversion der Mädchen Manga, basieren auf stereotypen Geschichten um Büroarbeit, Eheleben und Fremdgehen und sind in der Regel von dramatischen Sexszenen durchdrungen. Den Lady-Comics wird unterstellt, dass sie ein erstes Anzeichen von Frustration darstellen. Gemeint ist die Frustration über ein (traditionelles) Verständnis von partnerschaftlichen Beziehungen in der japanischen Gesellschaft.85 Die Diskussion um den Gegenstand Otakismus kann also nicht einfach davon ausgehen, dass Frauen keinen produktiven Part einnehmen ņ im Gegenteil. Diese wird auch durch den Gründer der ersten Universität für Otakismus Okada bestätigt. Er erklärt, dass »of the 600,000 people who attend the Japanese Comic Market, 60% are actually female. If one just watches TV, one sees mostly males because the women are far more likely to run away from cameras. In fact […] women are very good at hiding otakuness. Males may wear embarrassing otaku T-shirts on the trains on the way to Comic Market, but the females wear staid business suits and pumps, and only once at the destination will they change in the bathrooms into their embarrassingly otaku cosplay clothes. (The applicable Japanese word is gitai, implying camouflage or mimicry.) While 84 Die Lolita-Heftchen werden am stärksten von den polizeilichen Zensoren beanstandet. 85 In den japanischen Medien wird seit nunmehr fast 25 Jahren über die Gleichberechtigung der Frau gesprochen, doch die Gleichberechtigung ist erst seit kurzem im Gange. »La principale conséquence de cette libération de la femme est la perte de leurs repères sociaux. Les jeunes filles au Japon sont comme un cheval redevenu sauvage. Elles ne ressemblent plus à leur mère, mais elles ne savent pas pour autant que faire de leur liberté dans uns société encore dominée par les hommes. La société n’attend plus d’elles qu’elles ne soient que de bonnes épouses et de bonnes mères, mais ce n’est pas pur autant qu’elles ont gagné leur place dans le monde du travail. Elle sont libres, certes, mais pas à égalité« (Barral 1999: 164). Weiterführend vgl. Berndt (1995).

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD men do not hide their otakuness from their wives, otaku wives apparently are very good at hiding their otakuness from their husbands, keeping their doujinshi and erotic doujinshi purchases in a hidden cache« (Izawa 200386).

Dieser Abschnitt thematisierte Verhaltensweisen und Strategien zur Lebensbewältigung, mit denen Otakismus in Verbindung gebracht wird. Verschiedene Faktoren sind in diesem Zusammenhang zu nennen: x Dem Otakismus liegt ein obsessiver Medienkonsum zugrunde. x Der Otaku zieht sich aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Leben zurück und widmet sich ausschließlich seiner Leidenschaft. x Beim Otakismus ist die Medienfigur ein Instrumentarium zum Strukturieren des Alltags. Es ist sein Lebensmittelpunkt. x Otakismus charakterisiert sich durch eine manische Sammelleidenschaft von allen Informationen, die mit der Medienfigur in irgendeiner Verbindung stehen. x Otakismus ist kein Phänomen, welches auf eine spezifische Alters- oder Bildungsschicht zutrifft. x Der Otaku versucht ein vollkommenes Wissen über seine Leidenschaft zu erlangen. x Der Otaku schafft sich einen virtuellen Raum, in dem er lebt. Er betritt den öffentlichen Raum nur mehr sporadisch. x Die inhaltlichen Schwerpunkte der Otakus sind mehr oder weniger unbegrenzt, das Forschungsfeld ist charakterisiert durch die Offenheit seiner inhaltlichen Ausprägungen. Viele Ausprägungen des Otakismus blieben im einleitenden Abschnitt unerwähnt, und es ist leicht noch viele verschiedene Beispiele für otakueske Handlungsweisen anzuführen. Doch bereits McLuhan wies darauf hin, dass er bei der Analyse eines Mediums eben nicht den Inhalt fokussiere. Auch der Otakismus ist, in Anlehnung an McLuhan, nicht ausschließlich über den Inhalt seiner Leidenschaft analysier- bzw. definierbar. Es ist falsch, jede Sammel- oder sonstige Leidenschaft mit dem Stempel Otaku zu behaften. Um dies zu veranschaulichen, folgen abschließend zwei Beispiele. Im Rahmen der Sendung AM SCHAUPLATZ strahlte der ORF einen Beitrag über Menschen aus, die durch die Gegend streifen und all jene Dinge einsammeln, die andere wegschmeißen. Kurzum: Diese Menschen sammeln Müll und horten ihn dann irgendwo ņ oftmals in ihren Wohnungen. Diese Personen werden Misties genannt. Für sie ist unerklärlich, wie die Menschen all die schönen Gegenstände wegschmeißen können. Misties charakterisieren sich zwar durch ihre mani86 http://www.mit.edu:8001/afs/athena.mit.edu/user/r/e/rei/WWW/mangaokadaluncheon.htm, Mai 2004.

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

sche Sammelleidenschaft, die auch beim Otaku zu finden ist. Misties aber pauschal auch dem Otakismus zuzuordnen, wäre deshalb falsch, da Misties den Überblick über das Gesammelte verlieren. Der Otaku behält aber den Überblick. Das zweite Beispiel greift eine gänzlich andere inhaltliche Schwerpunktsetzung auf. In der Ausgabe des Österreichischen Magazins Profil vom 20. August 2001 findet sich unter der Rubrik Gesellschaft ein Beitrag mit der Überschrift Geschmackspolizei. »Kid Attitudes Ein Eighties-Revival der besonderen Art hält derzeit in den Szeneklubs von Paris Einzug. 30-Jährige lassen auf so genannten Mottopartys das Kinderfernsehen der achtziger Jahre wieder aufleben. Was an die Wickie, Slime & Paiper-Bewegung der Kinder der Seventies erinnert, nimmt in der Stadt der Liebe bedenkliche Formen an: Erwachsene verkleiden sich als ihre Lieblingsfigur aus dem Fernsehen und grölen die Titelmelodie. Gleichzeitig werden Zeichentrickserien, wie Albtor alias Captain Harlock, auf DVD wieder aufgelegt. Unter den Psychologen hat das neue Phänomen – in Fachkreisen als Kid Attitude bekannt – längst Aufsehen erregt: Sie führen den seltsamen Rückfall der Businessgeneration in die Kindheit auf ihre berufliche Karriere zurück. Die heute 30-Jährigen seien zwar im Job erfolgreich, dafür bleibe aber das Sozialverhalten zurück – was manchmal wirklich nicht zu leugnen ist«.87

Das Phänomen Kid Attitude bewegt sich auch an der Grenze zum Otakismus. Diese Personen jedoch als Otakus zu bezeichnen, ist auch hier eher eine Fehlinterpretation. Bestimmt Gemeinsamkeiten, wie die Wahl einer Medienfigur, das Übernehmen einer bestimmten Rolle (also die Identifikation im klassischen Sinne), können geortet werden, doch die Medienfiguren haben nicht denselben Stellenwert wie die Medienfiguren eines Otakus. Der Otaku setzt die Medienfigur als Instrumentarium zur Strukturierung seines Alltags ein. Interessanter bei Kid Attitude ist der Umstand, dass dieses Phänomen zur Jahrtausendwende in Europa auftaucht. Es thematisiert, banal formuliert, eine Art Anfälligkeit für Medienfiguren (der Kindheit) und zeigt, dass es den Menschen offensichtlich ein Bedürfnis zu sein scheint, diese Zeit wieder aufleben zu lassen. Es sind nicht die Fakten der Kindheit, die diese für den Erwachsenen wertvoll machen, nein, es sind die Phantasien über diese. Durch diese Träumerei bleibe, so Bachelard (1999: 42), die Kindheit in einem Menschen lebendig.

87 O.A. Profil Nr. 34/32 Jg., 20. August 2001: 81.

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EINLEITUNG – WIE DIE GESCHICHTE ERZÄHLT WIRD

Schluss-Betrachtungen Die Beschreibung von Einzelfällen sollte verdeutlichen, warum Otakismus oftmals über seine negative Konnotation debattiert wird. Auch sollte verständlicher geworden sein, warum im Zusammenhang mit Otakismus die Zuschreibung von Perversion auftaucht. Doch wie pervers ist es, Puppen zu sammeln, Mangas mit homosexuellen Akteuren zu zeichnen oder intimen Schnappschüssen nachzulaufen? Möglicherweise ist für manche Menschen bei diesen Beschreibungen die Spitze der Perversion bereits erreicht, möglicherweise wird es von anderen Personen als eine Form von Freiheit betrachtet; eine Freiheit, die zu erreichen nicht zuletzt erklärtes Ziel der Cyberpunk-Bewegung ist. Diese bezeichnet Thomas Fischermann gar als die Piraten des 21. Jahrhunderts (Fischermann 2003: 11) und Vilém Flusser würde gegenwärtig wohl einiges Potential dieser Bewegung für seine positive Utopie der telematischen Gesellschaft fruchtbar machen. Im Besonderen trifft dies wohl den Umstand, dass sich die Cyberpunks, wie die Otakus, von einem diskursiven System88 abwenden und einem dialogischen zuwenden. Sowie das Phänomen Otakismus nicht mit dem Argument der Perversion erklärbar ist, so ist es, trotz des obsessiven Mediengebrauchs, auch nicht über Medieninhaltsanalysen erklärbar. Frei nach McLuhan hat die Analyse von Inhalt und Programm deshalb keinen Sinn, da diese Analysen keinen Hinweis auf die »Energie dieser Medien oder auf die unterschwellige Energie« (McLuhan 1992: 31) geben. Ein Fokus auf den Inhalt ignoriert also die Energie des spezifischen Mediums und zudem, dass der Otakismus durchaus eine Subkultur ist, welche seinerseits das traditionelle Gesellschaftssystem massiv in Frage stellt. Bei der Rede um den Mediengebrauch wird nur allzu gerne vergessen, dass dieser »Mediengebrauch eine befreiende und nicht nur eine kommunitär integrierende Rolle für das Individuum bedeutet« (Hartmann 2003: 18). Wie bereits expliziert ist es nicht das Ziel dieser Studie, jede spezifische Form des Otakismus zu beschreiben. Zudem wird keine Studie über die Sozialisation von Otakus vorgelegt. Die Abstraktion und Faszination des Gegenstandes Otakismus kulminiert in seiner Differenziertheit. Und obwohl dieser Facettenreichtum unbarmherzig sein mag, bleibt sie Teil des Phänomens und bleibt als solches unangetastet. Daher verzichtet die vorliegende Studie auf einen Systematisierungsversuch von Otakismus. Es reicht den Otakismus als eine Subkultur zu betrachten, die sich durch die manisch-obsessive Konzentration auf ein mediales Objekt charakterisiert. Und dieses Objekt ist nicht einfach nur 88 Auf den Unterschied zwischen Diskurs und Dialog wird in Abschnitt III dieser Studie näher eingegangen.

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ein Gegenstand, der in einem Geschäft erworben wird. Das Objekt wird transzendiert (daher auch das Naheverhältnis zur Idolatrie), es wird transformiert und internalisiert. Der Otaku bedient sich also des traditionellen Gesellschaftssystems, doch durch das Transzendieren und das Transformieren des Objekts öffnet sich für ihn eine neue Dimension der Erfahrung (daher auch der wiederkehrende Hinweis zur Subkultur). Der Otaku wird also nicht als Fan oder als ein Protagonist einer counter revolution betrachtet. Nein, bei Otakus handelt es sich um Personen, die spezifische Formen entwickelt haben, um ihr Leben zu gestalten und dabei Handlungsweisen zu finden, die sie dabei unterstützen, die in Japan existierenden sozialen Zwängen zu umgehen. Anders formuliert: Otakismus ist eine Lebensform, die auf einem obsessiven Umgang mit Medien-Produkten basiert und die den traditionellen Lebensformen skeptisch gegenübersteht. Zudem hat diese Lebensform auf die veränderten Realitätsbedingungen innerhalb der Gesellschaft bereits reagiert. Viel zu kurz greift auch der Versuch, den Otakismus über das Argument einer Fluchtbewegung zu erklären und dabei mögliche positive Aspekte außer Acht zu lassen. »Unter seinen positiven Beweggründen ist ein Lustgewinn, ein Mehrwert an Sinn zu nennen« (Grassmuck 1999). Und genau diesen Mehrwert, unabhängig von seinen Erscheinungsformen, gilt es nicht aus den Augen zu verlieren. Die Irritation, die Otakus hervorbringen, gründet nicht zuletzt darauf, dass es sich als analysierendes Sujet den definitorischen Zuschreibungen beständig entzieht. Aber wie finden das Transzendieren und das Transformieren eines Objekts statt? Otakus charakterisieren sich unter anderem auch über eine Bastlerleidenschaft bzw. dadurch, dass sie Objekte informieren. Durch dieses Informieren wird das Objekt transzendiert; in den unterschiedlichen Objekten finden sich jeweils spezifische Teile der Otakus. Andererseits bedienen sich Otakus auch eines Phantasmas. Ähnlich wie Patricia Highsmiths Figur der Penelope, die sich in ihrem Garten einen Raum mit Figuren (von verstorbenen Haustieren) schaffte, der es ihr ermöglichte, einen Mangel (in der Beziehung) zu kompensieren, schaffen sich Otakus mediale Räume, um einen Mangel89 (in ihrem Leben) zu kompensieren. Somit ist das ausgewählte Objekt eben nicht mehr nur ein Konsumgegenstand. »Die Triebstruktur bezieht sich auf keinen Fall auf die Dinge selbst; [...], die Dinge selbst sind uns egal, wir haben zu den Dingen selbst keine Beziehung« (Groys 2003: 77). Die Beziehung liegt beim Otaku nicht in dem ursprünglichen Objekt, sondern in dem informierten, 89 Diesen Mangel ortet unter anderem auch Barral und er thematisiert diesen beständig. »Lorsqu’on a un trou dans le cœur, la collection vient sans doute compenser ce manque« (Barral 1999: 54).

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transformierten und transzendierten Gegenstand, den sich der Otaku selbst erschaffen hat. Otakus betrachten die Objekte oder Produkte als Teil ihrer Selbst. All ihre Energie ist in diese Objekte geflossen. Für Otakus ist nicht der zur Schau getragene Luxus, sondern tatsächlich ihre auserwählte Leidenschaft der Selbstzweck. »Das nötige Geld verdienen sie sich mit einem Minimum an Einsatz und Bindung durch Teilzeitjobs, zum Beispiel in den 24-Stunden-Supermärkten« (Grassmuck 1999: 162). Das Transzendieren und Transformieren soll durch den folgenden kurzen Exkurs weiter veranschaulicht werden.

Gedanken eines Mangaka »Ich liebe Buchläden, die großen Bookstores. Da wimmelt es nur so von Buchstaben. Ich gehe in die Comic-Ecke. Auch dort herrscht eine Flut von Lesestoff. Ich gehe in die Hentai »(Erotik-Manga-)Ecke«. Ich bin erneut verblüfft, wie viele Mangas es allein in diesem Genre gibt. Was für eine Menge an kreativer Energie, Fantasie, Vorstellung und Gefühlen mögen wohl in diesem Buchgeschäft verborgen sein, – mir wird ganz schwindelig bei diesem Gedanken. Ich gehe in einen CD-Laden rein. Genauso wie bei den Büchern. Eine Wahnsinnsmenge an Discs. Die Rock-Abteilung ist voller Musik, die sich gleich anhört und sich nur in Details von einander unterscheidet. Auch bei den Comics ist das so: ähnliche Bilder, ähnliche Storys. Eben nur ein bisschen anders. Ich schaue mir zu Hause meine CD-Sammlung an: Ich habe nichts, was ich mir gerade anhören möchte. Obwohl ich Hunderte habe, gibt es nichts, was meine jetzigen Emotionen aufhellt. Das nimmt ja kein Ende, denke ich. Ich gehe seit über zehn Jahren in Buch- und Plattenläden ein und aus, um das ultimative Buch zu finden – wenn ich dieses Buch habe, brauche ich sonst keins mehr. Oder versuche den ultimativen Sound zu entdecken – wenn ich diese Platte habe, kann ich alle anderen getrost wegschmeißen. Wenn ich neuen Ausdrucksformen begegne, empfinde ich anfangs Euphorie. Aber ich merke, dass meine Gefühle irgendwann abstumpfen. Alle Ausdrucksmöglichkeiten können meine Gefühle nicht komplett aufsaugen. Ist ja normal. Es sind ja andere Menschen, die diese Dinge geschaffen haben. [›che vuoi?‹, Anm. M.M.] Als ich NEO GENESIS EVANGELION bis zur 14. Folge gesehen habe, habe ich gedacht: ›Wow, die haben alles gemacht, was ich je selbst machen wollte.‹ Ich brauche nichts mehr zu tun. Dieser Anno macht das alles schon, dachte ich. Aber einen Monat nach Ende der ersten Ausstrahlung merkte ich, dass meine Gefühle für ›Eva‹ langsam zu bröckeln begannen. Bei der letzten Folge

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM war ich nicht unzufrieden – im Gegenteil. Aber ich dachte nicht ›Weil es das nun gibt, brauche ich nichts anderes mehr.‹ Vielleicht sammeln die Anime-Parodisten die eigenen Gefühle, die bei einer Serie ›abfallen‹, ›kleben‹ sie zusammen und wollen so eine eigene Story produzieren. Als ich meine ›abgefallenen‹ Gefühle ›zusammengeklebt‹ habe, entstand ein Teil von EDEN. Aus meinem Sammelsurium entstand wiederum ein zusammengestückeltes Werk. Dieselben Dinge wiederholen sich. Aber ›gute Sachen‹ sollten immer wieder wiederholt werden, denke ich. Solange ich daran glauben kann. Und in letzter Zeit stellte ich fest, dass von MEINEN EIGENEN WERKEN AUCH MEINE EIGENEN GEFÜHLE ABFALLEN«

(Endo 1998: 215).

Die Entstehungsbedingungen des Otakismus liegen primär in der japanischen Gesellschaftsstruktur. Auf zahlreiche Faktoren wurde oben eingegangen und sicherlich sind dies noch lange nicht alle Aspekte. Neben den gesellschaftlichen Faktoren ist das Aufkommen der neuen Medien90 und ihre Nutzung ein wichtiger Aspekt für die Konstituierung des Otakismus in der gegenwärtigen Form. Medien erlauben allgemein eben auch einen anderen Zugang zur Welt und verändern auch die Wahrnehmung91 über diese. Dies bedeutet nicht, dass die neuen Medientechnologien die Gesellschaft determinieren oder gar umgekehrt, dass eine Gesellschaft die technologische Innovation determiniert. Die Gesellschaft benutzt die Technologien.92

90 Michael Giesecke (1999: 189) weist darauf hin, dass neue Medien von der älteren Generation immer schon voller Misstrauen betrachtet wruden. »Das Taschenbuch war natürlich kein richtiges Buch; gedruckte Bücher, Film und Fernsehen betratete man als Ursache stitlicher Verrohung, selbst die verwendung des Kugelschreibers in der Schule zog heftige pädagogische Kontroversen nach sich«. Verwundert es vor diesem Hintergrund noch, wenn die Otakus mit Misstrauen betrachtet werden? 91 Darüber hinaus lassen Medien den Menschen auch Dinge wahrnehmen, die gar nicht in der Welt sind (vgl. Hartmann 2003: 24). 92 Die Angst vor sozialen Konflikten durch technologische Entwicklungen ist nichts Neues. Ein Blick nach China zeigt, dass sie bis ins 14. Jahrhundert und weiter zurückreicht (vgl. Castells 2001: Kap. 1).

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Die These – die Erweiterung des Blickfeldes Eine Filmtheorie, die sich auf Film beschränkt, beschneidet ihre Möglichkeiten wohl noch mehr als eine auf Musik eingeschränkte Musik – oder eine auf Literatur begrenzte Literaturtheorie. Karl-Ludwig Pfeiffer Für die akuten Massenkulturen ist es typisch, dass die bewegten Bilder um vieles lebendiger geworden sind als die meisten unter ihren Betrachtern: Wiederholung des Animismus auf der Höhe der Modernität. Peter Sloterdijk

Eine wiederkehrende Problematik innerhalb wissenschaftlicher Analysetätigkeit liegt in der Gefahr, dass sich die Forscher in den aktuellen, relativ unkontrollierten Interessen verzetteln bzw. den »Verlautbarungen der laufenden kulturellen Diskurse in Wort und Bild folgend, aktuelle Höhepunkte des Mediengeschehens zu Markensteinen der Mediengeschichte« (Pfeiffer 1999: 439) ausrufen.93 Dabei wird vergessen, so Siegfried Zielinski (2002: 41), dass sich die besten Mediendiskurse souverän zwischen den Disziplinen bewegen, und dabei spielt sowohl die Beweglichkeit als auch das, was Dazwischen liegt, eine gleich bedeutende Rolle. Aber was ist zu erwarten, wenn man das Dazwischen-Liegende in die Analysen aufnimmt? Dies lässt sich am Beispiel der Begriffdefinitionen erklären. Begriffdefinitionen abzugeben ist insofern schwierig, als mit der Definition eine Polarisierung eintritt. Diese Polarisierung schließt das Dritte, das Dazwischen-Liegende, aus. De facto ist genau dies bei der Definition von Otaku geschehen. Régis Debray (2002) schreibt etwas süffisant, dass bis drei zu zählen doch recht schwierig sei. Die binäre Kultur, die das Dazwischen ausblendet, mag dominiert haben bzw. dominiert noch immer, aber durch das Zurückweisen einer Kultur der Außenansicht bleiben viele Möglichkeiten ungenutzt. Konkret sind die Nuancen der Komplexität, jene der Mischung, der Schlussfolgerung und der Vermutung gemeint, denen oft keine Bedeutung beigemessen wird und die aus diesem Grund vernachlässigt werden.

93 Darauf wies übrigens auch Dietmar Kamper hin. Der Soziologe argumentierte, dass wissenschaftliche Problembewältigung oftmals deshalb nicht funktioniere, da gewisse Probleme schlichtweg nicht wahrgenommen werden. Zudem generiert die Problembewältigung beständig neue Probleme und diese entziehen sich durch einen kanalisierten Blick vollkommen der Wahrnehmung (vgl. Kamper 1995a: 22ff).

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Otakismus – Ausweitungen des Forschungsgegenstandes Von einem kulturellen Phänomen (und an anderer Stelle von einem Medienphänomen) zu sprechen, ist deshalb hilfreich, da bei einem kulturellen Phänomen das Dazwischen weiter existieren kann und es somit für folgende Analysen offen bleibt. Doch was versteht man unter einem kulturellen Phänomen? Ein kulturelles Phänomen ist ein solches, das eine gewisse Widerständigkeit besitzt. Dadurch ist es nicht in einen als selbstverständlich geltenden Kontext integrierbar. Das kulturelle Phänomen nimmt innerhalb eines spezifischen Kontextes einen prekären, niemals exakt zu bestimmenden Zwischenraum ein. Da es nicht in diesen (traditionellen) Kontext hineinpasst, sondern im Gegenteil als Fremdkörper aus diesem herausfällt, macht es sich als Irritation, als Störung bemerkbar. Otakismus ist zumindest für den traditionellen Teil der japanischen Gesellschaft mit Sicherheit eine Irritation. Allgemein ist festzuhalten, dass Theorien über Kultur sich stets bemühen, das zusammenzuhalten, was verschieden, intuitiv aber eben doch zusammengehörig ist und zwar unabhängig davon, ob diese Theorien Kultur als »Zeichen, Bild, Bedeutung, Wert, Identität, Solidarität, Selbstartikulation« (Eagleton 2001: 56f) betrachten. Dabei geraten diese Theorien in die eine oder die andere Schieflage, weil die »anthropologische Unschärfe der Ausgangslage schnell von ihren kulturhistorisch motivierten Vereindeutigungen überdeckt wird« (Pfeiffer 1999: 470).94 Hinzuzufügen wäre, dass aus medienwissenschaftlicher Sicht, Kulturtheorien und hierbei insbesondere die Kultur- und Geisteswissenschaft medientheoretische Fragestellungen ignorieren bzw. nur unzureichend in ihre Analysen aufnehmen.95 Innerhalb der Kultur- und Geisteswissenschaften muss aber auch die anthropologische Forschung auf Veränderungen innerhalb ihres Gegenstandes reagieren. Allgemein widmete sich die anthropologische Forschung der Analyse großer Strukturen aus dem Bereich der Gesellschaft. Marc Augé konstatiert, dass gegenwärtig die Frage ins Zentrum rückt, ob das gegenwärtige soziale Leben Aspekte besitzt, die heute mit derselben Relevanz für die anthropologische Forschung sind, wie in früheren Jahren etwa die Besonderheiten der Verwandtschaft, der Heiratspraktiken etc. Ein Hinweis auf den kanadischen Wirtschaftshistoriker Harold A. Innis ist unumgänglich. Er hat versucht dazulegen, welchen »tiefgreifenden Einfluss das Kommu94 Während des 6. und 7. Jahrhunderts verfestigte sich die vermeintliche Selbstständigkeit des Menschen. Psyche und nous verschmelzen tendenziell. Der Geist gewinne an autotelischer Präsenz (vgl. Pfeiffer 1999: 470). 95 Frank Hartmann plädiert in seiner jüngsten Publikation Mediologie für eine medientheoretische Grundlegung von Kultur- und Geisteswissenschaft (vgl. Hartmann 2003: 11).

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nikationswesen auf die Kultur des Abendlandes hatte und dass merkliche Veränderungen bei den Kommunikationsmitteln weitreichende Auswirkungen zeitigten« (Innis 1997: 69). Und eben diese weitreichenden Auswirkungen können nicht einfach ignoriert werden – weder in der medienund kommunikationswissenschaftlichen Forschung, noch im Feld der empirischen Soziologie oder aber auch in der zeitgenössischen anthropologischen Forschung. Die heutige Welt verlangt aufgrund des beschleunigten Wandels selbst nach einem anthropologischen Blick und dies impliziert ein neuartiges methodisches Nachdenken über die Kategorie Andersheit. Drei große Bereiche unterliegen durch die Beschleunigung einem Wandlungsprozess: x Die Zeit x Der Raum x Die Figur des Ich Die Zeit Die Geschichte ist uns auf den Fersen, ja, sie beschleunige sich gegenwärtig. »Die Geschichte – das heißt eine Folge von Ereignissen, die von vielen als Ereignisse verstanden werden (die Beatles, 1968, der Algerienkrieg, Vietnam), [...], eine Folge von Ereignissen, von denen wir annehmen dürfen, dass sie in den Augen der Historiker von morgen oder übermorgen Gewicht haben werden und zu denen jeder von uns – obschon er sehr wohl weiß, dass er in diesem Geschehen keine gewichtigere Rolle gespielt hat – ein paar partikuläre Bilder hinzufügen könnten, als wäre es jeden Tag ein wenig weniger wahr, dass die Menschen, die ja die Geschichte machen (wer sollte es sonst tun?) nicht wissen, dass sie sie machen« (Augé 1994: 35f).

Aber schafft nicht gerade die Überfülle von Ereignissen auf einem Planeten, der beständig schrumpft, die diffizilen Probleme für den Historiker der Zeitgeschichte? Das Ereignis war stets ein Problem für diejenigen Historiker, die dieses in die große Bewegung der Geschichte eingetaucht sahen. Sie verstanden das Ereignis als bloßen Pleonasmus, also als eine Anhäufung sinngleicher und sinnverwandter Ausdrücke, zwischen dem Vorher und dem Nachher. Dieses Nachher wurde dabei als Entwicklung dieses Vorher betrachtet. Die Beschleunigung der Geschichte manifestiert sich in der Tat in der Häufung der Ereignisse, die meist weder von Ökonomen noch von Historikern oder Soziologen vorausgesehen werden. Und das Problem steckt dabei in der Vielzahl an Ereignissen und eben nicht in dem Schrecken des 20. Jahrhunderts oder im Wandel der Denkformen. Hat die Welt gegenwärtig keinen oder weniger Sinn als in

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vergangenen Jahren? Nein, vielmehr verspüre der Mensch tagtäglich sehr bewusst den Drang, der Welt einen Sinn zu geben. Doch die mit Ereignissen überladenen Zeiten verstellen den Blick auf die Gegenwart und die Vergangenheit und dadurch wird die Sinngebung massiv erschwert. Für diesen Zustand prägte Marc Augé den Begriff der Übermoderne und beschreibt diese in erster Linie durch die Figur des Übermaßes (an Zeit). Der Raum Der Mensch lebe heute im Zeitalter des Wechsels der Größenordnung.96 Die Schnelligkeit der Verkehrsmittel sorgt dafür, dass sich der Abstand zwischen verschiedenen Städten (Orten) verkleinert. Und so ist der Mensch gegenwärtig mit dem Umstand konfrontiert, dass das Übermaß des Raumes das Korrelat zur Verkleinerung der Erde, zur Entfernung von sich selbst bildet. Durch die Satellitenübertragung gewinnt der Menschen aus seiner Wohnung heraus einen augenblicklichen und zeitgleichen Blick auf Ereignisse, welche sich an anderen Orten ereignen. Das Bild übt dabei einen spezifischen Einfluss aus. Und die Macht des Bildes gehe weit über die objektive Information,97 deren Träger es ist, hinaus. Zu den unterschiedlichen Bildern der Information mischen sich solche der Werbung und der Fiktion und lassen beim Menschen eine relativ homogene Welt entstehen. Die räumliche Überfülle funktioniere wie ein Köder. Ursprung des Otakismus? Die räumliche Überfülle bildet einen Ersatz für die Welten, welche die Ethnologen zu den ihren gemacht haben. Bei den fiktiven Welten handelt es sich um Welten des Wiedererkennens (Augé) oder um eine Reorganisation in einer zeitlichen Sukzession. »Symbolische Welten haben die Eigentümlichkeit, dass sie für die Menschen, die sie als Erbe übernommen haben, eher ein Mittel des Wiedererkennens sind als ein Mittel der Erkenntnis: ein geschlossenes System, in dem alles Zeichen ist, ein Ensemble aus Codes, für das manche den Schlüssel besitzen und von denen sie die Gebrauchsweise kennen, dessen Existenz jedoch von allen anerkannt wird, partiell fiktive, aber effektive Totalitäten, Kosmologien, von denen man meinen möchte, sie seien erdacht worden, um den Ethnologen eine Freude zu bereiten« (Augé 1994: 42f).

Das ursprüngliche Erkenntnisinteresse der Ethnologen bestand darin, bedeutungsvolle Räume in der Welt abzugrenzen. Die Überfülle von Ereignissen verkomplizierte die »Erkenntnis der Zeit«, die Überfülle des Raumes die »Erkenntnis des Raumes«. Dies zeigt sich in einem Wechsel der 96 Auch Flusser erkannte die Tendenz zur Miniaturisierung innerhalb des technischen Universums. 97 Vgl. Manuel Castells (2001). Besonders Kapitel 5.

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Größenordnungen, in der Vermehrung von bildlichen und imaginären Konnotationen sowie in einer spektakulären Beschleunigung der Verkehrsmittel. Die sich daraus ergebenden physikalischen Veränderungen sind beträchtlich: Verdichtung der Bevölkerung in den Städten, Wanderungsbewegungen sowie die Häufung dessen, was als ein Nicht-Ort bezeichnet wird. Zu den Nicht-Orten werden solche Einrichtungen gezählt, welche für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern verantwortlich zeichnen. Aber nicht nur Schnellstraßen oder Flughäfen, sondern ebenso die Verkehrsmittel selbst und natürlich die riesigen Einkaufszentren oder die Durchgangslager für Flüchtlinge sind solche NichtOrte. Eine paradoxe Epoche: Auf der einen Seite wird die Einheit des irdischen Raumes denkbar, auf der anderen Seite mehren sich die Rufe jener, die für sich bleiben wollen und nach einem Ort suchen, den sie Heimat nennen können. In der Übermoderne stoßen Menschen auf das Problem, dass die Welt, in der sie leben, nicht dieselben Maße besitzt wie jene, in der sie zu leben glauben. Gegenwärtig lebt der Mensch in einer Welt, die zu erkunden er noch nicht gelernt hat. »Wir müssen lernen, den Raum zu denken« (Augé 1994: 46). Figur des Ich Der dritte Wandlungsprozess bezieht sich auf die Figur des Ich. Diese Figur des Ich kehrt deshalb in die anthropologische Reflexion zurück, da es in einer Welt ohne Territorien an neuen Feldern und in einer Welt ohne große Erzählungen an theoretischen Grundauffassungen mangle. Neue Ausgangspunkte sind einzukreisen oder um Francis Ponge zu bemühen: »Ich betrachte den gegenwärtigen Stand der Wissenschaften: ganze Bibliotheken über jeden ihrer Zweige [...] Muss ich nun anfangen, sie alle zu lesen und zu studieren? Mehrere Leben würden dazu nicht ausreichen. Inmitten des außerordentlichen Umfangs und der Fülle der Erkenntnisse, die jede Wissenschaft erworben hat, und der vergrößerten Anzahl der Wissenschaften sind wir verloren. Das Beste, was man tun kann, ist also alle Dinge als unbekannt ansehen und spazieren zu gehen oder sich unter Bäumen oder im Grase auszustrecken und alles noch einmal von vorn anfangen« (Ponge 1986: 151).

Heute stellen sich in Begriffen, welche dem Anthropologen neu sind, letzten Endes dieselben Probleme wie einst etwa Marcel Mauss: Wie sei das Individuum zu denken und zu orten? Nicht zuletzt der Otaku weist auf diesen Zustand hin. Warum sind die drei Ausprägungen des Übermaßes von Augé für eine gegenwärtige Analysetätigkeit hilfreich? Die Einsicht, dass diese drei Aspekte einem Wandlungsprozess unterliegen,

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gestatten dem Forscher ein Phänomen, einen Sachverhalt etc. zu erkunden, ohne dabei die Komplexität und die Widersprüche zu vertuschen und ohne sie zum »unüberschreitbaren Horizont einer verlorenen Moderne zu machen« (Augé 1994: 51). Kein Zweifel: Die Wandlungsprozesse können innerhalb einer zeitgenössischen Analyse- und Forschungstätigkeit nicht ignoriert werden. Doch reicht ihre Implementierung aus? Und wenn nicht, womit sind sie zu ergänzen? Nun, auf jeden Fall mit einer Reflexion zur medien- und kommunikationswissenschaftlichen Begrifflichkeit. Gemeint ist entweder eine Präzisierung der vorhandenen Begriffe oder sich (und dies scheint zielführender) mittels einer Befreiungsgeste von den »(Alt-)Lasten« zu distanzieren, »um sich der Realität einer vernetzten Gesellschaft und ihrem digitalen Schein unter Bedingungen der Medienkonvergenz kritisch anzunähern« (Hartmann 2003: 98). Um zu einem Verständnis über das Phänomen und die Subkultur des Otakismus zu gelangen, ist eine Reflexion über die Kategorien der Analyse unumgänglich. Nicht, weil das Phänomen aus dem fernen Japan stammt, nein, zentral ist, dass das Phänomen sich nicht vor dem Hintergrund vortelematischer Analyseverfahren analysieren lässt. Régis Debray beklagt, dass »insbesondere die empirische Soziologie die Medien- und Kommunikationsforschung für sich vereinnahmt habe, dass sie ihre spezifische Methodik und Fragestellungen dem neuen Gegenstand einfach überstülpe und ihm mit Hegemonieanspruch verwalte« (Weber 1999: 404). Das informierte Kommentieren neuer Technologien und der mit ihnen verbundenen Praktiken unter Verwendungen einer bestimmten, möglichst geschlossenen Techno-Terminologie reicht nicht aus. Das führt lediglich dazu, dass das Neue mit den alten Maßstäben gemessen wird (vgl. Hartmann 2003: 15). Das gängige Konzept der Kommunikation hinterlässt eine Leerstelle und dieses ist nicht so ohne weiteres aufzufüllen. Wenn Debrays Mediologie thematisiert wird, so deshalb, weil dabei Transmissionsleistungen in der »Kultur als zentrale Bedingung für Bedeutungen diskutiert« werden. Dadurch löst sich die Mediologie vom kulturanalytischen Diskurs des Konzeptes »der an sprachliche Codierung gebundenen Kommunikation« (Hartmann 2003: 116). Auf lange Sicht sind die zeitgenössischen Medien in der Tiefe und der Zeit zu entziffern. Debray (1999a: 68) schreibt hierzu: »Der Augenblick wird durch den Prozess verständlich, sowie der Teil durch das Ganze verständlich wird«.

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Argumentationslinien der Studie x Die vorliegende Studie plädiert für eine vertiefende medientheoretische Betrachtung von Alltags- und Medienphänomenen und schließt sich der Forderung nach einer medientheoretischen Grundlegung von Kultur- und Geisteswissenschaften an (vgl. Hartmann 2003). x Ausgehend von der Frage, wodurch das Handeln des Subjekts dominiert ist, zeigt die Untersuchung, dass diese Frage eben nicht über eine rein psychoanalytische Betrachtung zu klären ist. Demnach wird der Anspruch der Psychoanalyse im Feld des Otakismus geprüft. x Eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Phantasie zeigt, dass in den verschiedenen Phantasiekonzepten ein und derselbe Anknüpfungspunkt auftaucht: das Bild. Frei nach Bruno Latour (2002: 40): Vermittlungen sind überall nötig. In vielen Bereichen bringt eine medientheoretische Betrachtung eine Form der Anthropologie hervor, die vor dem Hintergrund einer mediatisierten Gesellschaft letzten Endes einer neuen Medienanthropologie (Hartmann) bedarf. Leroi-Gourhan zeigte, dass die Geschichte der Menschen immer auch schon die Geschichte ihrer Medien ist und eine neue Medienanthropologie nimmt eben darauf Rücksicht. x Vor dem Hintergrund des Otakismus plädiert die Untersuchung demnach für ein Zurückdrängen der psychoanalytischen Ebene und ein Stärken der medientheoretischen Betrachtung eines gesellschaftlichen Phänomens. Im Zentrum dieser Studie ist das Bild positioniert. Das bedeutet nun nicht, dass der Otakismus vor dem Hintergrund einer aktuellen Bilddebatte thematisiert wird. Das Bild dient in der vorliegenden Arbeit als ein Knotenpunkt, in dem einige interessante Erkenntnisstränge zusammenlaufen. Diese hervorzuheben, ist ein wichtiger Aspekt der vorliegenden Studie. Deshalb verlieren die eingangs angeführten konstituierenden Faktoren jedoch nicht an Relevanz, bezweifelt wird lediglich deren alleiniger Erklärungsanspruch. Die folgende Auseinandersetzung geht von der Hypothese aus, dass das Bild – und die verschiedenen Facetten seines »in Erscheinung Tretens« – wesentliches zur Illumination des Otakismus beitragen kann. Wie bereits erwähnt, geht die Macht des Bildes weit über die objektive Information hinaus und vor diesem Hintergrund ist die Annahme, dass die Bilder den Otaku hervorgebracht haben, zu verstehen. Daher wird das Bild auch als ein konstituierender Faktor gesehen und ins

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Zentrum gerückt und Gaston Bachelard folgend werden einige der »intimen Bilder« analysiert. Mittels einer Suchbewegung werden also verschiedene Knotenpunkte eingekreist und zur Diskussion gestellt. Letzten Endes entstehen dabei drei umfangreichere Abschnitte. Die angesprochenen Schnittstellen werden wohl angedeutet, jedoch nicht einer umfangreichen Detailanalyse unterzogen. Dies begründet sich dadurch, dass die vorliegende Studie als Grundlagenarbeit angelegt ist. Die eingekreisten Schnittstellen idealtyptischerweise dienen somit als Ausgangspunkte für weitere Studien. Kurzum: sollen das Fortschreiten verschiedener Analysen initialisieren. Noch einmal zurück zur Anthropologie. Bezogen auf Medien sind zwei Differenzierungen zu erwähnen: Jener zwischen kulturanthropologischer Medientheorie und der so genannten Medienanthropologie. Was ist unter kulturanthropologischer Medientheorie zu verstehen? Anthropologie ist nicht mehr lediglich die simple Menschenkunde und die Suche nach essenziellen oder exotischen menschlichen Qualitäten und sie zielt nicht nur auf konstante menschliche Eigenschaften, dies hat schon McLuhan gezeigt, als er Medien als Erweiterungen des Individuums bezeichnete. »Sie konzentriert sich [...] auf die unterstellte, historisch sehr unterschiedliche Tendenz von traditionell Erfahrung genannten Selbstzuschreibungen« (Pfeiffer 1999: 39). Eine derartige Anthropologie ist medial verfasst, da sie auf der Annahme basiert, dass durchsetzungsstarke, evidente Erfahrungen vornehmlich »in und durch Medien inszeniert werden« (ebd.). Kulturanthropologische Medientheorie konfrontiert sich nicht, wie etwa die Systemtheorie damit, die Fiktion eines substanziellen oder wenigstens erfahrungsmächtigen Selbst fallen zu lassen. Nein, sie »bezieht weder dafür noch dagegen Stellung. Sie unterschreibt aber auch nicht den Versuch, Erfahrungszuschreibungen zu bloßen Momenten historischer Semantiken zu entmächtigen« (ebd.). Verkürzt ist festzuhalten, dass der Begriff der Anthropologie auf all jene Ansätze anzuwenden ist, die konvergierende Auswirkungen biologischer und kultureller Dimensionen erforschen. Wozu aber braucht es in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung eine Medienanthropologie? »Die gegenwärtige mediale Ausdifferenzierung in der Kultur erzeugt ein neues Netzwerk kultureller Reproduktion«, so Hartmann (2002a: 58), nicht zuletzt deshalb bedarf es einer medientheoretischen Grundlegung von Kulturwissenschaft. Eine Medienarchäologie vermag nur einen bedingten Beitrag zur Hypothesen(er)klärung beizusteuern. Ein differenzierter Umgang ist erforderlich und diesen sollte bzw. könnte eine Medienanthropologie leisten. Die digitale Technik zwingt die Menschen eben in eine neue Ontologie und fördert

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dadurch eben eine neue Anthropologie.98 Sowohl Medienanthropologie als auch die These, Otakismus sei ein Medien-Phänomen, verlangen nach einer Präzisierung des Begriffs Medium.

Medien Medien stellen ungeachtet dessen, dass nicht mehr erkenntlich ist, was der Begriff Medien bezeichnet, einen konstituierenden Faktor von Kultur dar. Die menschliche Kultur bewegt sich seit jeher in einer multimedialen Welt – eine Lebenswelt, welche aus den spezifischen Beschränkungen der Wahrnehmungsleistung ihrer Bewohner entsteht, die mit Hilfe spezifischer anderer Beschränkungen zumindest teilweise überwunden werden können (vgl. Seel 1998: 248). Ruft man sich die Medien der Otakus in Erinnerung (etwa Puppen), so ist ein eng gefasster Medienbegriff insofern problematisch, als dass die spezifischen Medien nicht in seine Kategorien aufgenommen werden können. Gerade die Neuen Medien charakterisieren sich dadurch, dass sie einen besonderen Weltzugang ermöglichen. Prinzipiell ist der Medienbegriff so offen wie möglich zu halten. Eine Festlegung auf eine bestimmte Definition bzw. Position ist nicht erforderlich. Medientechnologien, wie Übertragung, Speicherung, Verarbeitung (Kittler 1993), verlangen nach einer polysemen Betrachtung bzw. nach einem komplexen Analyseverfahren wie dem der Mediologie (Weber 1999). Ein die Tradition verlassender Zugang zu Medien und Medientheorie ist also erforderlich.99 Ein sehr eng gefasster Medienbegriff listet bei der Frage nach dem Medium die klassische Palette, also Radio, Fernsehen, Zeitung und möglicherweise den Computer auf, oder 98 Hartmann weist darauf hin, dass dies der Schluss ist, den Flusser aus seinen Betrachtungen zum digitalen Schein zieht. Flusser spricht vom »digitalen Weltbild, in dem die Unterscheidung zwischen Sein und Schein sinnlos geworden ist, da eine in ihre Partikel zerlegte Welt beliebig neu zusammengesetzt werden könne. Damit habe das kalkulatorische Denken gesiegt. Das Zahlendenken – Leibniz’ Calculemus! – ist in alle Lebensbereiche vorgedrungen; die klaren und einfachen Entscheidungsstrukturen sind schaltbar geworden, und mit einfachster Symbolik ausgestattet, haben sie die kulturell höchstmöglichste Problemlösungskapazität erreicht. Nun müsse das Denken, so Flusser, mit dieser Tatsache auf Augenhöhe gehen und den Menschen neu begreifen: nicht mehr als Subjekt, das sich in einer Welt der Objekte existentiell verwirklicht, sondern als ein Projekt des exakten kalkulatorischen Denkens, das alternative Welten entwirft« (Hartmann 2003: 139f). 99 Exemplarisch sei Siegfried Zielinski genannt. Er nennt seine methodische Analyse An-Archäologie der Medien. Darunter ist das Sammeln von Kuriositäten zu verstehen. Kuriositäten sind »Fundstücke aus der Geschichte des Sehens, Hörens und Kombinierens mit technischen Mitteln, in denen etwas aufblitzt, was ihr Eigenleuchten ausmacht und was zugleich über die Bedeutung oder Funktion in ihrem Entstehungskontext hinausweist« (Zielinski 2002: 49). Bei seiner An-Archäologie geht es nicht um eine Kritik, sondern um ein Preisen der Medien.

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es wird mittels einer Dreiteilung in primäre, sekundäre oder tertiäre Medien bereits eine erste Differenzierung vorgenommen. Diese Sicht von Medien ist für die vorliegende Studie nicht sehr ergiebig, da, wie erwähnt, die Medien der Otakus keinen Eingang in ihr Repertoire finden. Die Multimedien sowie die Massenmedien sind leider in der gegenwärtigen Diskussion dermaßen dominant, dass dagegen ein anderer veränderter Medienbegriff erst durchgesetzt werden muss.100 In einer ähnlichen Art und Weise wie die Geschichte der Medien auch als die Geschichte des Menschen zu betrachten ist, ist auch die Geschichte der Otakus jene ihrer Medien. Wendet man sich der Hisotirie der Medien zu, dann zeigt sich, dass an ihrem Ursprung die Medialisierung von Körperfunktionen steht. Konkret geht es um die Exteriorisierung des Geistes »im besonderen Sinn der Fähigkeit, Denken symbolisch zu fixieren und auf Datenträger zu speichern« (Hartmann 2002a: 12). Die Exteriorisierung des Geistes101 thematisiert eine Auslagerung, die durchaus Sinn ergibt, da die Evolution bei Lebewesen kein anderes Kriterium als jenes des kollektiven Ertrages kenne. Der Wissensbestand des Kollektivs habe jedoch keinen Platz im Gedächtnis einer Einzelperson. Auf diese Weise entstehe ein soziokultureller Makrokosmos, der seinerseits das Individuum konditioniere und zwar in einer Form, die ihm jede Freiheit nimmt. Frank Hartmann konstatiert, dass Leroi-Gourhan ein Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung von Menschen und Medien zeichnet. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Mensch als solcher nicht existiert, da sich die Spezies in Abhängigkeit der von ihm selbst geschaffenen Innovationen des Werkzeug- und Symbolgebrauchs beständig verändert. Leroi-Gourhans Ansatz zeigt, wie sich die biologischen Anlagen in der Technik weiterentwickeln bzw. fortsetzen, wie die indirekte Motorik der menschlichen Geste zur direkten Motorik der Maschine werde, die sich wiederum zum Automaten weiterentwickle. Die Konklusion daraus: Medien sind als Fortsetzung dieser Befreiungsgeste102 zu sehen. Eine Be100 Ein Umstand, auf den etwa auch Belting (2001: 26) hinweist. 101 Mit seiner Rekonstruktion der Gleichursprünglichkeit von Werkzeug- und Symbolgebrauch hat der französische Paläontologe André Leroi-Gourhan die menschliche Fähigkeit herausgestrichen, nicht nur Dinge der Natur zu bearbeiten, sondern einen kollektiven symbolischen Organismus zu schaffen, der durch mündliche Überlieferung, Mythen und dann Schriften die Möglichkeit zur Kumulation von Innovationen schafft (vgl. Hartmann 2002b: 258). 102 »Man kann sich diese wie in einem Zeitraffer vorstellen: Jedes Mal, wenn ein Körperorgan sich von einer bestehenden Verpflichtung befreit, kommen neue Funktionen hinzu. Sobald der Mensch aufrecht gehen kann, lernt die Hand zu differenzieren. Befreit von der Fortbewegungsfunktion des Vierbeiners, kann die Hand zugreifen. Die greifende Hand befreit ihrerseits das Maul von seiner bisherigen Greiffunktion, und dieser Funktionsverlust ermöglicht eine Formveränderung des Schädels und ein Anwachsen des Gehirns. Die neuromotorische Gesamtorganisation des Menschen verschiebt sich, der befreite Mund lernt das Sprechen. So entfalten sich im Prozess der Menschwerdung

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freiung des Gedächtnisses durch die Entwicklung der Schrift sowie der Entdeckung des Buchdrucks und der noch nicht abschätzbaren Folgen durch die Mikroelektronik, der Computertechnologie und der Vernetzung von Wissensressourcen. Die Veränderungen in der Zivilisationsentwicklung ereignen sich in einem ungemein kurzen Zeitrahmen und in kürzer werdenden Intervallen. Die kulturelle Entwicklung ist dabei an zwei Eigenarten festzumachen: Erstere ist topologisch. Der Mensch ist als nomadisches Tier zu betrachten. Die häufigen Ortswechsel führen zu produktiven Verbindungen und Vermischungen von unterschiedlichen Traditionen und Situationen, die sich in raschen Entwicklungsschüben ausdrücken.103 Die zweite Eigenart betrifft die kulturell erworbene Fähigkeit, Wissen und Erfahrungen nicht nur zu sammeln, sondern diese auch zu speichern und weiterzugeben. Daraus können enorme zeitliche Verdichtungen in qualitativen Entwicklungen hervorgehen. Medien stellen Handlungsräume für gebaute Versuche der Verbindung von Getrenntem104 dar. Die kurzlebigen Produkte, die aus den Medien des späten 20. Jahrhunderts hervorgingen, eignen sich nur wenig für eine hermeneutische Interpretation. Was hat sich verändert? Das traditionelle Interpretationsverhalten basierte auf dem Einschluss von Bedeutungen (meist in der Literatur). Diese Bedeutungen breiteten sich rückwärts in historische Bereiche aus und ergreifen einerseits den verschriftlichten Rest des menschlichen Daseins und andererseits auch andere Kulturbereiche.105 Trotz der Kurzlebigkeit von Produkgleichzeitig die zwei Potenziale Hand und Wort, woraus die beiden gleichursprünglichen Kulturprodukte Werkzeug und Symbol entstehen« (Hartmann 2002b: 260). 103 Die oben angeführten Kategorien Raum und Zeit tauchen hier wieder auf. 104 Es existierten Zeiträume, in denen diese Verbindungsarbeit besonders intensiv war und auch sein musste. Und genau in diesen Zeiträumen werden Schnitte angelegt; Zielinski vermutet, dass an diesen Schnittflächen Qualitäten von Mannigfaltigkeit existieren, die in einer genealogischen Betrachtung verloren gingen oder auch nicht beachtet worden sind. Das Forschen in dieser Tiefenzeit ist nicht als Retrospektive zu sehen. Nein, man wird dabei mit Situationen konfrontiert, in denen sich die Dinge und Verhältnisse noch nicht verfestigt haben und in denen Optionen für unterschiedliche Entwicklungsrichtungen existierten, »in denen die Zukunft denkbar wurde, die vielfältige Lösungen technischer und kultureller Art für die Konstruktion von Medienwelten anbot. Und wir begegnen Personen, die eine experimentelle und risikofreudige Haltung auszeichnet. Mit den Medien bewegen wir uns im Reich der Illusionen. Der Soziologe und Philosoph Dietmar Kamper insistierte in öffentlichen Debatten darauf, dass das Zeitwort illudere nicht nur bedeute, etwas vorzutäuschen, einen schönen Schein zu erzeugen, sondern dass in ihm etwas mitschwinge, was von höchster Brisanz für mediales Handeln ist: etwas aufs Spiel zu setzen, inklusive der eigenen Position« (Zielinski 2002: 21). 105 »Vielleicht erklärt das bis zu einem gewissen Grad, warum die Thesen zur angeblich neuen Funktion gegenwärtiger, digitaler Medien ständig wiederholt werden. (Noch beim Film, dessen literarisches Substrat nach McLuhan deutlicher ist, war das nicht so der Fall.)« (Pfeiffer 1999: 49).

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ten im 20. Jahrhundert zeigt sich, dass kein anderes Jahrhundert zuvor die Medien in dieser Vehemenz benötigte, da keines derartig viele gewaltsame Trennungen, Zerstörungen und künstlerische Katastrophen erzeugte. Mittlerweile sind diese Zeiten vorbei und das 21. Jahrhundert wird nicht mehr gierig nach den Medien verlangen, da diese zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Alltags avancierten. Kulturen bestehen aus Kommunikationsprozessen und Kommunikation beruht auf der Produktion und Konsumtion von Zeichen. Die Trennung zwischen der Wirklichkeit und ihrer symbolischen Repräsentation besteht nicht. In allen Gesellschaften existierte der Mensch in einer symbolischen Umwelt und hat durch diese symbolische Umwelt gehandelt. Der fundamentalste Effekt der (neuen) Medientechnologien ist jener, dass sie die Wahrnehmung und Auffassung von Wirklichkeit der Menschen verändern.106 Audiovisuelle und elektronische Medien gehören zum Alltag, doch der Mensch hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, sich in den »zunehmend flüchtigen Umwelten« zurechtzufinden. »Dabei geht es nicht um die Phantasien einer Virtual Reality, oder um Vermeidungsstrategien im Lichte einer vermeintlichen Authentizität der Wirklichkeitserfahrung, sondern darum, dass Interaktionen unter Bedingungen der neuen Medienwirklichkeit107 zunehmend künstlich werden – es wäre wohl besser, angesichts der Telefonstimmen, der Fernsehbilder, der akustischen Umwelt und der graphischen Benutzeroberflächen, mit denen wir alltäglich interagieren, wenn wir angesichts dieser telematischen Präsenz von anderen also von einer zunehmenden realen Virtualität sprechen würden« (Hartmann 2000: 17).108

Die Virtualität von Realität ist kein Novum. Die erfahrene Wirklichkeit wird durch Symbole wahrgenommen, die wohl der Praxis einen Sinn vorgeben, doch sich einer semantischen Definition entziehen. Die Kritiker der elektronischen Medien argumentieren, dass die durch diese konstruierten Welten keine Realitäten repräsentieren. Dabei verkennen sie ihren eigenen Interpretationsstandpunkt: Sie argumentieren vor dem Hinter106 Medien ändern nicht nur die Wahrnehmung von der Welt, sie lassen darüber hinaus den Menschen auch das wahrnehmen, was gar nicht in der Welt ist (vgl. Hartmann 2003: 24). 107 Die neue Medienwirklichkeit ist eben nicht nur eine der veränderten Wahrnehmung, sondern auch eine der veränderten Sozialbeziehungen (vgl. Hartmann 2003: 37) und genau dieser Umstand zeigt sich sehr deutlich beim Phänomen des Otakismus. 108 Hartmann bezieht sich auf Castells. Dieser schreibt: »Das historisch Spezifische an dem neuen Kommunikationssystem, das um die elektronische Integration aller Kommunikationsweisen von der typografischen bis zur multisensorischen herum organisiert ist, ist daher nicht die Einführung einer virtuellen Realität, sondern die Konstruktion realer Virtualität« (Castells 2001: 425).

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grund der primitiven Vorstellung einer unkodierten, realen Erfahrung. Doch diese hat es nie gegeben, da alle Wirklichkeit durch Symbole kommuniziert wird.109 Der Mensch kennt das Phantasma nicht erst seit der Erfindung des Computers oder der EDV, sondern (spätestens) seit es Spiegel110 gibt; Die Spiegel stellen der Wirklichkeit ein geheimnisvolles, verführerisches Duplikat entweder an die Seite oder entgegen. Die Erweiterungen, die durch den Spiegel entstehen, spielten stets mit der Konfusion zwischen Original und Erweiterung und die Annahme, Wirklichkeit sei unerschütterlich, ist nicht stimmig. Im Gegenteil: Mit Phantasie und Technik ist es einfach, den Begriff von Wirklichkeit ins Wanken zu bringen. An Rezepten, wie mit der hervorgehenden Verwirrung umzugehen ist, fehlt es. Selbstverständlich könnte man in diesen Situationen dem Spuk ein Ende bereiten und den Stromkreislauf, der die Verwirrung ermöglicht hat, unterbrechen, »aber das lässt die Frage offen, wer ihn wo und zu welchem Zweck produziert« (Hrachovec 1996: 219) hat. Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass ein verändertes Mediensystem entstanden ist. Dieses System beruht auf der digitalisierten und vernetzten Integration multipler Kommunikationsweisen. Es charakterisiert sich dadurch, und dies ist das Neue daran, dass jegliche kulturelle Ausdrucksform eingebunden wird.111 Vor diesem Hintergrund verwundert die Forderung nach einem anthropologischen Medienbegriff nur mehr wenig. Doch was hätte dieser zu leisten? Ein anthropologischer Medienbegriff müsse versuchen, einen Sinn für Vermittlungen, Spannungen und kulturell-mediales Aushandeln zu entfalten, »in denen die Figuren des Imaginären, und Erscheinungen, die Effekte der so genannten harten Realität, in packenden, aber auch prekären und fragwürdigen Formen zusammenkommen« (Pfeiffer 1999: 54). Aber weder die Figuren des Imaginären, also zum Beispiel Archetypen oder Stereotypen, noch jene der Realitäten sind gegebene Instanzen. Sie sind Varianten hochvermittelter Produkte und ihnen ist die Fähigkeit inhärent, dass sie sich oftmals mit 109 »Und in der menschlichen interaktiven Kommunikation sind unabhängig vom Medium alle Symbole im Hinblick auf den ihnen zugeschriebenen semantischen Sinn etwas verschoben. In gewisser Weise wird jede Realität virtuell wahrgenommen« (Castells 2001: 426). 110 Dieses Argument ist sogar noch auszuweiten. Nicht erst seit der Existenz von Spiegeln, sondern seit dem Erkennen der Spiegelung ist das Phantasma in den Köpfen der Menschen verankert. 111 Die Einbeziehung der meisten kulturellen Ausdrucksformen in das integrierte Kommunikationssystem hat einschneidende Folgen für die gesellschaftlichen Formen und Prozesse. »Auf der einen Seite schwächt dies beträchtlich die symbolische Macht traditioneller Sender, die außerhalb des Systems stehen und sich auf den Weg über historisch codierte gesellschaftliche Gewohnheiten einschalten: Religion, Moral, Autorität, traditionelle Werte, politische Ideologien. [...] Die Gesellschaften sind endgültig und wahrhaft entzaubert, weil alle Wunder online zu haben sind und zu selbstkonstruierten Vorstellungswelten kombiniert werden können« (Castells 2001: 428f).

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einer enormen Macht aufdrängen. Ein Gegebenheitseffekt ist ihnen nicht abzusprechen und dabei ist es nicht wichtig zu entscheiden, ob diese Effekte tatsächlich erreicht oder nur täuschend simuliert sind. Die imaginären und die realen Effekte sind dabei aufeinander zu beziehen und genau darin liegt das Ziel von Medien. Der Verdacht liegt nahe, dass elektronische Medien möglicherweise das Unbewusste kolonisieren, das gesamte Feld des Imaginären besetzen, indem sie die perzeptiven Fähigkeiten mit allen erdenklichen Bildern bombardieren.112 Deshalb beschreibt manch gegenwärtige bzw. kritische Medientheorie die aktuellen Technologien und »ihren kommerziellen Imperialismus als radikal beschränkende Eingriffe in das menschliche Vorstellungsvermögen« (ebd.).113 Die kritischen Theorien gedeihen also prächtig. Doch welchen Erkenntniswert haben diese, wenn dabei der Gegenstand verkannt und Opfer der ihnen inhärenten Ideologien wird? Der mediatisierte Körper (Virilio) bzw. Mensch bewegt sich in einem Konglomerat von Einzelmedien und dennoch: Einzelmedientheorien können nur einen eingeschränkten Beitrag zur Klärung des Phänomens des Otakismus beitragen. Sie sind zwar notwendig, verstellen jedoch den Blick darauf, dass durch die Kreuzung bzw. die Hybridisierung von Medien gewaltige Kräfte frei werden. Die Lebenswelt ist also eine Art Pulverfass. Die massenmediale Moderne hat Mittel hervorgebracht, um riesige »Populationen in synchronisierten polemischen Delirien und gewaltträchtigen Regenerationsphantasmen« (Sloterdijk 2000: 411) aufschäumen zu lassen. Der Mensch kann dem Aufschäumen durch die Zuflucht zu einem Gegenmedium entgehen. »[...] neuerdings erweist sich auch das Abtauchen in die Idiotie der eigenen tape recorders als ein effektives Exil. Die totalitäre Wirkung von Erfassungsmedien kann nur durch Selbstabdichtungsmedien gebrochen werden« (ebd.: 411f). Die Neuen Medien, oder die Medien der Otakus, stehen für intermediäre Erfahrungsweisen als intermediale Inszenierung zur Verfügung. Zu erkennen ist, dass die Wahrnehmung und Kommunikation nicht länger an 112 Elektronische Medien brechen die einseitige Orientierung auf bestimmte Formen der visuellen und akustischen Informationsgewinnung und –darstellung auf. Zudem fördern sie sprachunabhängige Formen des Umgangs mit Information. Der springende Punkt ist nun, dass die »Bedingung wirklich tiefgreifender kultureller Umwälzungen immer deren Andersartigkeit ist« (Giesecke 1999: 198). Und genau das scheint die Verwunderung über den Otaku hervorzurufen. 113 Michael Giesecke argumentiert hierzu folgendermaßen: »Die wirklich neuen elektronischen Medien umgehen das Bewusstsein. Sie wirken direkt auf das Unbewusste oder andere kognitive Instanzen unserer Informationsverarbeitung. Sie wirken taktil, durch Geräusche und durch Schwingungen. Sie sind ganzheitlich und nicht sequentiell organisiert, sie evozieren Gestalten und keine geometrische Formen, sie sind grenzenlos und unvollkommen« (1999: 200). Verwundert es vor diesem Hintergrund, dass sich der Otaku unter Rückgriff auf Mediatisierungen sein Haus (Bachelard) baut?

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die Situation des leiblichen Aufenthalts einer Person gebunden ist. So eröffnet etwa der Eintritt in eine virtuelle Realität Zugang zu Situationen, in denen der Mensch nicht ist. Daher ist die Begegnung mit Situationen, in denen der Mensch nie war und nie sein wird, dank der Medien zu einem ganz alltäglichen Ereignis geworden. Durch die elektronischen Medien hat sich also eine »gravierende Lockerung des Zusammenhangs von erfahrener Situation und Situation der Erfahrung ereignet« (Seel 1998: 259). Doch wie in der Einleitung gezeigt wurde, hat sich diese Lockerung nicht nur zwischen im Felde der elektronischen Medien ereignet, sondern zieht viel weit reichendere Kreise. Der ausgeweitete Mediengebrauch, oder wenn man so will, der obsessive Mediengebrauch, hat zur spezifischen Lebensform des Otakismus beigetragen. Die Welt ist eben nur medial zugänglich und dabei ist die Rede von der Wahrnehmung abstrakter geworden als die Wahrnehmung selbst.

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A B S C H N I T T II Phantasie – Phantasma: die nie abgeschlossene Innenweltschöpfung Es ist dies das Phantasieren, welches bereits mit dem Spielen der Kinder beginnt und später, als Tagträumen fortgesetzt, die Anlehnung an reale Objekte aufgibt. Sigmund Freud Auf Kosten des Mangels [...] muss sich jedes Individuum eine eigene Phantasie erfinden ... Slavoj Žižek In Wirklichkeit wissen wir nichts, denn die Wahrheit liegt im Abgrund. Demokrit1 Du bist selbstansteckend, vergiss nicht. Lass deinem Du nicht die Oberhand. Henri Michaux2

Wodurch wird das Handeln des Subjekts dominiert bzw. wird das Handeln überhaupt von diesem Subjekt dominiert? Wodurch ist das Handeln von Otakus dominiert bzw. was dominiert sein Handeln? Können allgemeine Erkenntnisse einer lacanianisch geprägten psychoanalytischen Theorie einen Beitrag zum Verständnis des Otakismus leisten? In welchen Bereichen verorten sich die Defizite, wenn diese psychoanalytischen Erkenntnisse herangezogen werden, um ein Medienphänomen zu beschreiben? Welche Interpretationen liefern Theoretiker, welche die psychoanalytische Theorie3 heranziehen, um Aussagen zum Otakismus

1 2 3

Vgl. Zielinski 2002: 71. Zitiert nach Sloterdijk 2000: 209. Allgemein ist zu den psychoanalytischen Konzepten festzuhalten, dass sie letztlich dazu dienen, den Zusammenhang zwischen Medieneffekten und seelischen Leiden zu klären. Die entscheidende Frage dabei ist, welche Rolle die Medien bei der Verarbeitung basaler Konflikte und Traumata spielen. In psychoanalytischen Konzepten können Medien sich als »Apparaturen der Verdrängung, als Orte der Wiederkehr des Verdrängten und der Ersatzbildung oder gar als Hilfsmittel zur Befreiung von krankhaften Wünschen und Phantasmen erweisen« (Ellrich 2003: 225).

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zu formulieren und an welchem Punkt stoßen diese Theoretiker an unüberwindbare Grenzen? Wo entstehen einerseits Anknüpfungspunkte und wo ist andererseits das Feld der Psychologie zu verlassen? Der folgende Abschnitt versucht vor dem Hintergrund psychoanalytischer Interpretationen einen Beitrag zur Klärung dieser Fragen zu leisten. Der Versuch, dominierende Faktoren für das Handeln eines Subjekts festzumachen, führt zur durchaus banalen Folgerung, dass einerseits intrinsische und andererseits extrinsische Faktoren für das Handeln verantwortlich zeichnen. Beide Ebenen gelten als Teil der psychoanalytischen Therapie4 und sind als solche auch Gegenstand dieses Kapitels. Ein ausschließlicher Fokus auf die intrinsischen Faktoren findet demnach nicht statt. Zu bedeutsam ist in den folgenden Reflexionen das lacansche »che vuoi?5«, das Dritte, welches von Außerhalb auf das Subjekt einwirkt, wird also nicht außer Acht gelassen. Gezeigt wird zudem, dass bei den Ausführungen zum Otakismus der Rückgriff auf psychoanalytische Theorie insofern auf einem sehr wackeligen Fundament steht, als die Kritik an der Psychoanalyse und ihren Konzepten (meist) ignoriert wird. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek spricht von einem Ritual, welches, zwar nicht bewusst, aber dennoch den Menschen von seinem Inneren heraus dominiert. Žižek geht hierbei von äußeren Ritualen aus, deren Auftreten die Ideologie materialisieren. Ein erster Schluss lautet, dass äußere Rituale das Handeln des Subjekts dominieren. Nun, auch wenn der These der Dominanz der äußeren Rituale zugestimmt wird, so bleibt dennoch die Frage unbeantwortet, was denn die konstituierenden Momente sind, die zu diesem Festhalten führen. Welcher Mechanismus bzw. welche Fähigkeit lässt den Otaku an seinen Ritualen festhalten? In vielen Ausführungen wird diesbezüglich der Phantasie eine zentrale Funktion zugeschrieben. Die Phantasie nimmt offensichtlich eine Schlüsselfunktion ein? Doch wie manifestiert sich diese? Phantasien gelten als etwas Individuelles, wenn nicht gar Intimes. Sie sind durch ihren intersubjektiven Charakter bestimmt, da das Begehren, das in den Phantasien in Szene gesetzt wird, sich stets auf die Anderen bezieht. Anders formuliert: Das Begehren wird in der Phantasie realisiert, ist jedoch beständig das Begehren des Anderen. Konkret taucht 4

5

Der Begründer der Psychoanalyse schreibt: »Die Unterscheidung des Psychischen in Bewusstes und Unbewusstes ist die Grundvoraussetzung der Psychoanalyse und gibt ihr allein die Möglichkeit, die ebenso häufigen als wichtigen pathologischen Vorgänge im Seelenleben zu verstehen, der Wissenschaft einzuordnen. Nochmals und anders gesagt: Die Psychoanalyse kann das Wesen des Psychischen nicht ins Bewusstsein verlegen, sondern muss das Bewusstsein als eine Qualität des Psychischen ansehen, die zu anderen Qualitäten hinzukommen oder wegbleiben mag« (Freud 1999, XIII: 239). Das »che vuoi?« ist ein Neologismus Lacans. Dieser Neologismus kann auch durch die Frage »Was wollte er damit sagen?« veranschaulicht werden (vgl. Salecl 1993).

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in dieser Argumentation das lacansche »che vuoi?« auf, welches danach fragt, was die Anderen von einer Person wollen, was sie in dieser sehen, kurzum: Was eine Person für die Anderen ist. Peter Sloterdijk (2000: 113) weißt darauf hin, dass das menschliche Subjekt ein Übermaß an »Verlangen nach der absoluten Ichheit des Anderen in sich« hegt. »Man sollte sich immer vor Augen halten, dass das Begehren, welches in der Phantasie ›realisiert‹ (aufgeführt) wird, nicht das eigene des Subjekts ist, sondern das Begehren des anderen: Phantasie, phantasmatische Formation, ist eine Antwort auf das Rätsel des ›che vuoi?‹, ›Du sagst es, aber was willst du tatsächlich, indem du es sagst?‹, was die ursprüngliche Frage konstitutive Position des Subjekts wiedergibt« (Žižek 1999: 22).

In den Jahren 1907 bis 1909, als der Begriff Phantasie zu zahlreichen Arbeiten anregte und in seiner unbewussten Wirksamkeit voll anerkannt wurde, bemühte sich Freud, typische Szenen, imaginäre Szenarien oder theoretische Konstruktionen, wie etwa die infantile Sexualtheorie, herauszuarbeiten, »durch die der Neurotiker und vielleicht ›jedes menschliche Kind‹ die großen Rätsel seiner Existenz zu beantworten sucht« (Laplanche 1999: 574f). Das große Rätsel der menschlichen Existenz birgt drei zentrale Fragen für das Kind in sich: x zum Ersten jene nach dem Ursprung des Subjekts, welche in der Urszene dargestellt wird, x zum Zweiten die Frage nach dem Ursprung sexueller Begierde, für welche die Verführungsphantasien entwickelt werden, und schließlich x zum Dritten die Frage nach dem Geschlechtsunterschied, dessen Erklärung man in den Kastrationsphantasien sucht (vgl. ebd.: 574). Das Feld der Phantasie ist ein verborgenes; es zeigt sich nicht, ist nicht fass- und nur schwer definierbar. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Phantasie von ihren freudschen Krusten zu befreien. Von Krusten, welche sie wie ein Kokon umspinnen, um darin die halluzinatorische Wunscherfüllung festzuhalten. Die Phantasie gilt als ein Werkzeug, welches der Otaku einsetzt.6 So beschreibt etwa auch Dietmar Kamper (1995a: 32) die menschliche Phantasie als das einzige Vermögen, geschlossene Räume aufzusprengen und auf Zeit hin zu überschreiten. Das Bild, welches die Öffentlichkeit über den Otakismus erhält, basiert stark auf dem jeweils zu Grunde 6

Viele der Befragten weisen der Phantasie eine konstituierende Rolle zu. Vgl. Bense (2000), Barral (1999) und Beineix (2003).

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liegenden Phantasiekonzept. Warum? Ein wesentlicher Unterschied in der Beurteilung des Phänomens manifestiert sich, wenn Phantasie als Wunscherfüllung oder im Gegensatz dazu als Realitätskonstruktion definiert bzw. betrachtet wird. ›Phantasie ist also nicht gleich Phantasie‹. Offensichtlich existieren verschiedene Konzeptionen und Vorstellungen über Phantasie. Doch welche sind das? Obwohl nicht explizit angeführt, rekurrieren viele der allgemeinen Aussagen über den Otakismus auf die Erkenntnisse von Sigmund Freud. Ein Pseudo-Freud-Wissen. Warum Pseudowissen? Eine gegenwärtige Auseinandersetzung mit Phantasie darf diese nicht lediglich als halluzinatorische Wunscherfüllung betrachten. Die Rezeption von Freud durch Lacan und Žižek zeigt, dass Phantasie eben auch das radikale Gegenteil sein kann: nämlich Realität. In den Ausführungen zur Phantasie wird versucht, den Leser für diesen Begriff zu sensibilisieren und ihn von seiner umgangssprachlichen Verwendung, der ihn primär als Einbildungskraft charakterisiert, zu befreien. Zudem dient die Auseinandersetzung mit Freud dazu, einige zentrale Termini zu erklären. Dies ist wichtig, da ein Wissen über viele dieser Begriffe als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Daher wird es in diesem Abschnitt mehr oder weniger lange Einführungen in einzelne theoretische Konzepte Freuds geben, um dadurch auch einige Anknüpfungspunkte für die fortführende theoretische Auseinandersetzung aufzuzeigen. Die größte Schwierigkeit bei der Arbeit mit Freuds Texten liegt darin, in der Fülle seiner Schriften jene Abschnitte aufzuspüren, die für die Behandlung des Themas relevant sind.7 Neben Freud sind die Reflexionen von Žižek zur Phantasie zentral. Žižek wird vor Lacan gestellt und zwar deshalb, da er gegenwärtige Kulturphänomene8 vor dem Hintergrund der lacanschen Theorie(n) analysiert und zudem einen Fokus auf die Medien legt.9 Zusammenfassend sei festgehalten, dass zuerst der Begriff Phantasie etymologisch erhellt, im Anschluss konkret auf Freuds Phantasiekonzept eingegangen und abschließend Phantasie vor der lacanschen Interpretation Slavoj Žižeks betrachtet wird. Diese Interpretation wird durch eine psychoanalytische Interpretation des Cyberspace komp7

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Hingewiesen sei auf das Risiko, sich in Freuds Schriften zu verlieren. An die freudschen Texte wurde sehr pragmatisch herangegangen und vor allem all jene Texte bearbeitet, in denen Freud explizit das Thema der Phantasie anspricht. Nahe liegend wäre gewesen, an dieser Stelle von Populärkultur zu sprechen. Dieser Begriff ist aber zu nahe an den Cultural Studies. Die vorliegende Analyse distanziert sich von deren affirmativen Zu- und Umgang mit Medienphänomenen bzw. Medientheorie. Zur Kritik an den Cultural Studies vgl. Bal (2002) bzw. Hartmann (2003). Žižek verknüpft die Interpretation medialer Inhalte mit der »Analyse formaler und technischer Aspekte und zeigt die verschiedenen Möglichkeiten auf, welche die Medien zur Verfügung stellen, damit ihre Nutzer existentielle Grundprobleme bewältigen können« (Ellrich 2003: 267).

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PHANTASIE – PHANTASMA: DIE NIE ABGESCHLOSSENE INNENWELTSCHÖPFUNG

lettiert. Doch wie eingangs erwähnt, nähern wir uns den Bildern, dem Bildermachen (Flusser) sowie der Symbolisierung. Insofern wird nach diesem Kapitel die Brücke hin zur Medientheorie zu schlagen sein.

Phantasie – Ein Ausgangspunkt Das Bild verbindet das, was erscheint, mit dem, was zu klären ist, d.h. mit den aufdrängenden Fragen und Bedürfnissen des Menschen Ernesto Grassi

Das Wort Phantasie ist aus dem griechischen phantasía abgeleitet. Dieses bezeichnet ein geistiges Bild, eine Vorstellung oder eine Einbildung. Ganz allgemein meint Phantasie, dass vorhandene Bewusstseinsinhalte zu neuen bzw. nicht erlebten Vorstellungen kombiniert werden. Der griechische Terminus phantasía wurzelt im Verbum Phaíno, welches erscheinen, ins Licht treten bedeutet. Auf dasselbe Verb geht der Terminus phainȩmenon, das Erscheinende, zurück. Was die phantasía als Einbildungskraft nun hervorbringt, ist bildhaft, ist eine Abbildung: eikasía; dieser Begriff wird aus Verbum éiko – das ähnlich sein, scheinen – gebildet. Der Begriff eikasía ist polysem, da er sowohl die ähnliche, als auch die scheinhafte Abbildung bezeichnen kann und die angesprochene Doppeldeutigkeit kennzeichnet ebenso die Einbildungskraft – die phantasía – selbst. Warum? Die ontologische Funktion von Phantasie besteht darin, dass sie als ursprüngliche Tätigkeit gesehen werden kann, die auf Grund der Sicht von Ähnlichkeiten Beziehungen aufdeckt, um dadurch etwas Neues in Erscheinung treten zu lassen: Neben der ontologischen Funktion kann Phantasie auch als Tätigkeit verstanden werden. Dabei greift sie auf Eindrücke zurück, um sie als Scheinbilder zu reproduzieren bzw. neu zu arrangieren. Hinter der Deutungsmöglichkeit von Phantasie als Tätigkeit steht die Annahme, Phantasie sei eine Vorstellungsgabe für Irreales. Phantasie wird dabei als reine Fiktionsfähigkeit, als Vermögen, etwas Unwirkliches10 zu zeigen, betrachtet (vgl. Grassi 1984: 184). Die zweite Deutungsmöglichkeit ist jene, die (meist) dem Phantasiekonzept 10 Grassis Ausgangspunkte liegen bei Aristoteles. Betreffend des Unwirklichen oder Falschen schreibt dieser: »Was aber die behauptete Wahrheit alles Erscheinenden betrifft, so ist zu erwidern, dass nicht alles Erscheinende wahr ist; einmal, weil jede Sinneswahrnehmung nur in dem ihr eigentümlichen Gebiete von Irrtum frei ist, und weil die Vorstellung von der Sinneswahrnehmung verschieden ist« (Aristoteles 1995, Bd. 5: 81). Und er ergänzt: »Dinge also heißen falsch in diesen beiden Bedeutungen, entweder weil sie nicht sind, oder weil die von ihnen hervorgerufene Vorstellung die Vorstellung eines Nicht-Seienden ist« (Aristoteles 1995, Bd. 5: 122).

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zu Grunde liegt, welche im Zuge der Auseinandersetzung mit Otakismus auftauchte. Um Phantasie im Lateinischen zu charakterisieren, verwendet man das Wort imagiatio. Dieser Begriff benennt auf einer allgemeinen Ebene ebenso die Einbildungs- bzw. Vorstellungskraft – kann jedoch ebenso eingesetzt werden, um den Traum zu bezeichnen. Im philosophischen Diskurs versteht man unter Phantasie das Vermögen, sich Wahrnehmungen vorzustellen. Daraus leitet sich auch die Verwendung im Zusammenhang mit Vorstellung ab. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Phantasie und Gedächtnisvorstellung, sprich Einbildungskraft und Erinnerung und zwischen Phantasie und der so genannten Ernst-Vorstellungen. Ferner ist, wenn der Phantasie auch Spontaneität zukommt, zwischen reproduktiver (passiver) und produktiver (aktiver) Phantasie zu unterscheiden: Jene besteht darin, Erinnerungsvorstellungen zu kombinieren, diese darin, aus ihnen Neues zu gestalten. Daher gilt in letzterer Hinsicht die Phantasie als die Voraussetzung allen künstlerischen Schaffens. Eine Interpretation von Phantasie als das Spiel des menschlichen Geistes11 drängt sich im Zusammenhang mit Otakismus geradezu auf, da das Spiel als eine grundlegende Fähigkeit der Otakus als Mittel des Eintritts in ihr alternatives Universum gedeutet wird. Phantasie wird zudem als die ursprüngliche Form des Sehens verstanden. In den aristotelischen Schriften12 wird der Begriff der Phantasie ausdrücklich mit dem Hinweis auf seinen etymologischen Zusammenhang mit dem griechischen Wort für Licht (phos) erklärt. Verantwortlich für dieses Argument ist die Interdependenz zwischen Sehen und Sinnerscheinung. Das Sehen wird in einem besonderen Maß als Sinnerscheinung betrachtet, und die Phantasie erhielt ihre Benennung vom Licht, da man ohne Licht nicht sehen könne. Der griechische Philosoph thematisiert im Kontext des Sehens den Zusammenhang zwischen der Phantasie und der Tätigkeit des noûs. In der antiken Tradition wird Noeîn als eine Fähigkeit des Sehens verstanden und bezeichnet das »höchste Vermögen der Einsicht in jene Bilder, die jeder Unterscheidungs- und Deutungsfähigkeit zu Grunde liegen, weil durch sie den Erscheinungen Bedeutungen übertragen werden« (Grassi 1984: 185). Die Leistung des Aristoteles liegt nun darin, dass er die Quelle unseres prägnantesten Realitätssinnes in den dynamischen Verkettungen von Wahrnehmungen (aisthesis), phantasia und Handeln lokalisiert hat. Phantasie bezieht sich dabei nicht auf unbewusste Schichten des Gedächtnisses. Sie ist ein wahr11 »Hervorzuheben ist, dass die Tätigkeit der Phantasie bei dem Menschen in keiner Weise unmittelbar zur ontologischen Bestimmung der Umwelt beiträgt [...], so dass sie auch als ›Spiel‹ des menschlichen Geistes gedeutet werden kann« (Grassi 1984: 185). 12 Vgl. Aristoteles Schrift Über die Seele.

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nehmungsgeschützter Modus kritischen Unterscheidens und nährt freiere aber ebenso reale Bilder, und diese Bilder sind libidinös besetzt, da sie das Handeln einer Person antreiben (vgl. Pfeiffer 1999: 262). Aristoteles geht davon aus, dass die Psyche keine Einsicht (noûs) ohne Phantasma, ohne Bild, habe und behauptet, dass das einsehende Vermögen die Bilder in den Erscheinungen sehe. Der Noûs habe jene Bilder inne, die der Außenwelt einen Sinn übertragen. Das Bild verbindet also dasjenige, was erscheint, mit demjenigen, was es zu klären gibt. Konkret werden die aufdrängenden Fragen und Bedürfnissen des Menschen verbunden. Die Phantasie ist zudem mit der Erinnerung (anámnesis) verknüpft, da ihr erst durch das Gedächtnis (mnéme) das Material ihrer Bilder geliefert wird. Dieses Material steht bei der Phantasie unter dem doppelten ursprünglichen Zeichen der hoffnungs- oder angstvollen Erwartungen. Einerseits die Hoffnung, zu einer richtigen Sinngebung zu gelangen, andererseits diese aber auch zu verfehlen. Aus Anamnesis entspringt das Lernen als intellektuelle Aktivität des Ich, das sich damit selbst als »ingeniöses und phantasievolles Wesen« bewusst wird. Abschließend zu den ersten Ausgangspunkten ist festzuhalten, dass bei Aristoteles die Phantasie mehr oder weniger eine Erklärungsfunktion einnimmt. Sie vermittelt zwischen den aufdrängenden Fragen und den Bedürfnissen eines Menschen. Ein medientheoretischer Anknüpfungspunkt zieht sich hierbei durch diese Ausführungen: das Bild. Aristoteles erkannte, dass ohne Bild der Mensch stillsteht. Die Freiheit der menschlichen gegenüber der biologischen Phantasie birgt eine spezifische Schwierigkeit: Sie lässt den Menschen verwirrt vor die möglichen Bilder treten. Dieser Umstand wird als magischer Kreis, innerhalb dessen die alltägliche Realität sich verwandelt und eine andere wird, bezeichnet. Und da der Mensch sich nicht mehr in einer unmittelbar bedeutungsvollen Umwelt befindet, ist die Welt eine solche, die zu bestimmen ist. Der Mensch findet sich selbst als isoliertes Ich wieder und ist gefordert, den Gegenstand sinnvoll zu deuten. Sprich: Das Subjekt steht vor der schwierigen Aufgabe, eine für ihn sinnvolle und richtige Sinngebung zu realisieren. In Zeiten der Übermoderne (Augé) ist dies ein schwieriges Unterfangen. Die Problematik der Sinngebung zeigt sich zudem darin, dass der Mensch in Anbetracht der möglichen Sinndeutungen regelrecht erstickt, weil er mit all seinen Fragen oftmals alleine dasteht. Durch die Befriedigung der biologischen Bedürfnisse erhält der Mensch eine andere Umwelt als das Tier. Die Erfahrung des Menschen beginnt also mit der unmittelbaren, sinnlichen Deutung des Realen und dadurch entsteht auch die Angst, dass die objektive Deutung nicht eintritt. Gemeint ist die Angst, dass der entworfene Sinn nicht maßgebend sei. Angesichts einer vieldeutigen mediatisierten Welt schweben Subjekt und Objekt in Ungewissheit und fühlen sich be-

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drängt von der Frage nach dem Sinn des Geschehens der menschlichen Welt. Die Erfahrung dieser Ungewissheit reißt den Einzelnen aus der geschlossenen Einheit der Natur heraus. Dabei scheint es sich um das Drängen nach etwas zu handeln, was einer Person im Leben fehlt. Dieses Drängen avanciert somit zur Bedingung der Erfahrung. Genau darauf basiert die Theorie des Begehrens von Lacan. Will das Individuum aber seine Bedürfnisse befriedigen, muss der Einzelne aber die Gestalten (eíde), die ihm zur Verwirklichung helfen, erst suchen. Aber die Ratio als Fähigkeit der Deduktion kann nichts Neues finden und daher kommt der Phantasie hierbei eine inventive Aufgabe zu. Diese Aufgabe besteht darin, ausgehend von konkreten Einzelfällen, die Sinnerscheinungen auf die maßgebenden Bilder zurückzuführen. Es handelt sich also um eine ursprüngliche Form der Induktion. Und somit ist das Spiel der Bilder wohl mehr als eine postmoderne Täuschung. Die einleitenden Erläuterungen versuchten den Weg nachzuzeichnen, wie der Begriff Phantasie zu seiner gegenwärtigen Verwendungsweise als Imaginationsfähigkeit gelangte. Anhand der entstandenen Knotenpunkte wurden einige der Argumente, die den Terminus Phantasie mit jenem des Bildes verbinden, deutlicher. Dies ist insofern bedeutsam, als diese Verbindung die Grundlage der These der vorliegenden Studie darstellt. Nach diesen einleitenden Darstellungen zu Phantasie wird anschließend versucht, eine Frage auf die Antwort zu geben, wie denn der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud die Phantasie in seinem Denk- und Theoriegebäude positionierte.

Phantasie bei Sigmund Freud – Wunscherfüllung als Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit Phantasie wird umgangssprachlich als Synonym für Vorstellungen, Imaginationen, Einbildungskraft, Kreativität oder gar für die Bezeichnung von Visionen verwendet und diese Interpretation bzw. Verwendung des Begriffs ist vor dem Hintergrund der ursprünglichen Wortbedeutung durchaus verständlich und korrekt. Im folgenden Abschnitt wird der Frage nachgegangen, welche Rolle bzw. Position der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud13, der Phantasie zuschreibt oder anders formu13 »Freud gilt als Schöpfer bio-energetischer Modelle des menschlichen Geistes und zugleich als Erforscher der Diskurse der Menschen. Er versuchte den Geist als wortloses Zusammenspiel der Intensitäten von Druck und Gegendruck zu bestimmen und dabei doch auch die verborgenen Bedeutungen der Sprache jeder seiner Patienten zu verstehen. Die Psychoanalyse hätte demnach in einer ungewissen Mitte zwischen Hydraulik und Semantik allmählich zu der

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liert: Wie positioniert Freud die Phantasie innerhalb seines theoretischen Konzepts? Warum aber Freud? Oben wurde der Verdacht erwähnt, dass die Erkenntnisse Sigmund Freuds in einem unzureichenden Ausmaß auf das Phänomen Otakismus angewendet werden. Die These der Wunscherfüllung wurde in der Einleitung14 mehrmals unterstrichen. Insofern ist Barral ein Freudianer, der den Otakismus über einem Rückgriff auf psychoanalytische Erkenntnisse zu erklären versucht. Wunscherfüllung hätte sich auch als Überschrift für eines der Otaku-Kapitel geeignet. Betrachtet man die klassischen Definitionsversuche von Otakismus, so zeigt sich, dass eine Otaku-Generation schlicht eine Generation der Wunscherfüllung ist. Doch wodurch charakterisiert sich das Konzept der Wunscherfüllung bei Freud? Anzuführen ist, dass Sigmund Freud sich nicht in einer konkreten Schrift zur Phantasie bzw. ihrer Rolle geäußert hat. Der Versuch, eine Position Freuds zur Phantasie zu formulieren, mündet daher in Streifzügen durch sein Werk und dem Sammeln von Aussagen. Ich beginne meinen Streifzug in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Freud nimmt darin konkret zu Phantasie und ihrer Funktion Stellung. Er schreibt: »Sie [die Phantasie, Anm. M.M.] genießt, wie Ihnen bekannt ist, allgemein eine hohe Schätzung, ohne dass man über ihre Stellung im Seelenleben klar geworden wäre. Ich kann Ihnen folgendes darüber sagen. Wie Sie wissen, wird das Ich des Menschen durch die Einwirkung der äußeren Not langsam zur Schätzung der Realität und zur Befolgung des Realitätsprinzips erzogen und muss dabei auf verschiedene Objekte und Ziele seines Lustlebens – nicht allein des sexuellen – vorübergehend oder dauernd verzichten. Aber Lustverzicht ist dem Menschen immer schwer gefallen; er bringt ihn nicht ohne eine Art von Entschädigung zustande. Er hat sich daher eine seelische Tätigkeit vorbehalten, in welcher all diesen aufgegebenen Lustquellen und verlassenen Wegen der Lustgewinnung eine weitere Existenz zugestanden ist, eine Form der Existenz, in welcher sie von dem Realitätsanspruch und dem, was wir Realitätsprüfung nennen, frei gelassen sind. Jedes Streben erreicht bald die Form einer Erfüllungsvorstellung; es ist kein Zweifel, dass das Verweilen bei den Wunscherfüllungen der Phantasie eine Befriedigung mit sich bringt, obwohl das Wissen, es handle sich nicht um Realität,15 dabei nicht getrübt ist. In der Phantasietätigkeit genießt also der Mensch die Freiheit vom äußeren Zwang16 weiter, auf die er in der Wirklichkeit längst verzichtet hat. [...]. Die

ihr eigenen Stimme gefunden« (Bowie 1997: 17). 14 Diese finden sich sehr massiv in den Ausführungen von Étienne Barral und in den Filmbeiträgen von Bense und Beineix. 15 Wir werden sehen, dass Slavoj Žižek hier eine radikal andere Position einnimmt. Seiner Meinung nach konstituiere die Phantasie Realität. 16 Ein äußerer Zwang, dem sich die Otakus verwehren.

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM Schöpfung des seelischen Reiches der Phantasie findet ein volles Gegenstück in der Errichtung von ›Schonungen‹, ›Naturschutzparks‹ dort, wo die Anforderungen des Ackerbaues, des Verkehres und der Industrie das ursprüngliche Gesicht der Erde rasch bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen. [...]. Alles darf darin wuchern und wachsen, wie es will, auch das Nutzlose, selbst das Schädliche. Eine solche, dem Realitätsprinzip entzogene Schonung ist auch das seelische Reich der Phantasie« (Freud17 1999, XI: 386f).

Bereits in diesem einleitenden Zitat zu diesem Kapitel18 betont Freud die zwei Aspekte, welche im Zusammenhang mit seinem Phantasiekonzept zentral sind. Zum einen ist dies der Verweis auf die Wurzeln der Phantasie in der Kindheit, zum anderen die Verbindung der Phantasie mit dem Tagtraum. In dem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren sind diese beiden Aspekte exemplifiziert. Freud fragt darin, ob die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon beim Kind zu suchen sind. Er argumentiert, dass die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes das Spiel sei. Daher ist es legitim zu sagen, dass sich jedes spielende Kind wie ein Dichter benehme, indem es sich eine eigene Welt erschaffe oder, präziser ausgedrückt, die Dinge der kindlichen Welt in eine neue, dem Kind gefällige Ordnung versetze.19 Ungerecht ist der Schluss, das Kind nimmt diese Welt nicht ernst. Im Gegenteil, das Kind nimmt sein Spiel sehr ernst und verwendet große Affektbeiträge darauf. Der Gegensatz zum Spiel ist für Freud also nicht der Ernst, sondern die Wirklichkeit. Das Kind unterscheidet seine Wirklichkeit und lehnt seine imaginierten Objekte und Verhältnisse gerne an greifbare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an. Nichts anderes als diese Anlehnung unterscheidet das Spielen des Kindes (noch vom) Phantasieren.20 Zudem erwähnt 17 Alle Zitationen, die Sigmund Freud betreffen, beziehen sich auf die 1999 veröffentlichte Gesamtausgabe seines Werkes. 18 »Es ist dies das Phantasieren, welches bereits mit dem Spielen der Kinder beginnt und später, als Tagträume fortgesetzt, die Anlehnung an reale Objekte aufgibt« (Freud 1999, VIII: 234). 19 Peter Sloterdijk argumentiert: »Das Kind, das seinen Seifenblasen ins Offene folgt, ist kein cartesisches Subjekt, das in seinem ausdehnungslosen DenkPunkt verharrt, während es ein ausgedehntes Ding auf seiner Bahn durch den Raum beobachtet. Begeistert solidarisch mit seinen schillernden Kugeln stützt sich der experimentierende Spieler in den offenen Raum und verwandelt die Zone zwischen Auge und Gegenstand in eine beseelte Sphäre. Ganz Auge und Aufmerksamkeit, öffnet das Kindergesicht sich dem Raum vor ihm. Unmerklich geht so dem Spielenden inmitten seiner glücklichen Unterhaltung eine Einsicht auf, die er unter schulischen Mühen später wieder verlernen wird: dass der Geist auf seine Weise selbst Raum ist« (2000: 19). 20 Die frühkindliche Körpererfahrung drückt sich buchstäblich in der Psyche ab. »Wenn später die Phantasie mit soziokulturellen Materialen gefüttert wird, wird sie diese weiterhin mit den Körperbildern spielerisch, neurotisch usw. amalgamieren. Bewusstsein kann als ein Addieren verbaler zu vorgängigen körperlichen Einschreibungen aufgefasst werden« (Pfeiffer 1999: 487).

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Freud in dem Aufsatz über den Dichter und das Phantasieren die Möglichkeit einer Aufhebung des Gegensatzes zwischen Spiel und Wirklichkeit. In diesem Text weist der Begründer der Psychoanalyse darauf hin, das wenn ein Kind herangewachsen ist und aufgehört hat zu spielen und sich dabei über Jahre hinweg seelisch bemüht hat, die Wirklichkeit des Lebens ernsthaft zu erfassen, der Mensch eines Tages in eine seelische Disposition gerät, welche den Gegensatz zwischen dem Spiel und der Wirklichkeit wieder aufhebt. Eine Verbindung zum Tagtraum existiert und die Argumente hierfür sind, dass das Beenden des Spieles einen scheinbaren Verzicht auf Lustgewinn bedeutet. Doch wer das Seelenleben des Menschen kenne, der wisse auch, so Freud, dass diesem kaum etwas anderes so schwer fällt, wie der Verzicht auf einmal gekannte Lust. Eigentlich kann der Mensch auf nichts verzichten, er vertauscht lediglich eines mit dem anderen. Was ein Verzicht zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine Ersatz- oder Surrogatbildung. Insofern gibt auch der Heranwachsende, wenn er aufhört zu spielen, nichts anderes als die Anlehnung an reale Objekte auf. Anstatt zu spielen phantasiere dieser nun eben. »Er baut sich Luftschlösser, schafft sich das, was man Tagträume nennt. Ich glaube, dass die meisten Menschen zu Zeiten ihres Lebens Phantasien bilden« (Freud 1999, VII: 215).21 Doch im Gegensatz zum Erwachsenen verbirgt das Kind sein Spiel nicht. Zum Zwecke des Spiels bildet das Kind ein geschlossenes psychisches System. Der Erwachsene schämt sich jedoch seiner Phantasien und verstecke sie vor anderen, er hegt sie als seine eigensten Intimitäten, und er würde in der Regel lieber seine Vergehung eingestehen als seine Phantasien mitteilen. Warum diese Scham der Erwachsenen? Wovor schämen? Es ist an der Zeit, das berühmte »che vuoi?« von Lacan zur Erklärung einzuführen. Das »che vuoi?« kann mit der Frage, ›Was wollte der Andere mir damit sagen?‹ (vgl. Salecl 1993) übersetzt werden. Der Mensch macht unaufhörlich die Erfahrung, dass er nicht lediglich ein einsames Potenzial an Verlangen nach dem Anderen in sich trägt, nein, er würde sogar die Erfahrung machen, dass es auf eine undurchsichtige und nicht-triviale Weise möglich ist, die Objekte seines Begehrens mit dem eigenen Verlangen nach ihnen anzustecken. »[...] zugleich ahmen Individuen wie unter einem infektiösen Zwang das Verlangen des anderen nach einem Dritten nach« (Sloterdijk 2000: 212). Besteht die Möglichkeit, dass eine Person deshalb seine Phantasie nicht preisgibt, weil sie damit sein bzw. ihr Begehren benennen würde? Dort, wo das Begehren auftaucht, so Peter Sloterdijk, wird die bereits existierende Zugehörigkeit 21 Und Freud schreibt an dieser Stelle weiter: »Es ist das eine Tatsache, die man lange Zeit übersehen und deren Bedeutung man darum nicht genügend gewürdigt hat. Das Phantasieren der Menschen ist weniger leicht zu beobachten wie das Spielen der Kinder« (Freud 1999, VII: 215).

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des Subjekts zu einem Objekt manifest. Insofern gibt es auch kein Privateigentum an Verlangen nach dem Anderen. Hat sich um das Begehren, das nach einem Mehr im Leben verlangt, nicht ein Diskurs ausgebreitet, der als einer des Irr-Realen bezeichnet wird? Freud würde ihn möglicherweise als einen Diskurs des Kindischen und des Unerlaubten bezeichnen.22 Die Charaktere der phantasierenden Protagonisten spielen ebenfalls eine Rolle. Dies äußert sich in der freudschen Annahme, dass der Glückliche nie phantasiere, sondern nur der Unglückliche. Glück und Unglück scheinen dabei vom Gelingen der Wunscherfüllung abhängig zu sein. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasie, und jede Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit. Die treibenden Wünsche von phantasmatischen Persönlichkeiten sind je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen zwar verschieden, dennoch sind bei Freud zwei primäre Diskursstränge wahrnehmbar. Einerseits spricht er von ehrgeizigen Wünschen, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, andererseits von erotischen Wünschen.23 Die These Freuds mag verkürzt erscheinen, doch wie bereits erwähnt: In vielen Ausführungen zum Otakismus finden sich Rückbezüge zu seinen theoretischen Konzeptionen. Die Phantasie nimmt bei ihm eine Art Ersatzfunktion ein. Die Träume der Kindheit werden durch das Phantasieren ersetzt, und auch den Traum bringt er in eine enge Beziehung mit der Phantasie. »Auch unsere nächtlichen Träume sind nichts anderes als solche Phantasien, wie wir durch die Deutung der Träume evident machen können« (Freud 1999, VII: 218). Für den Begründer der Psychoanalyse sind Träume also durchaus Wunscherfüllungen. Der Unterschied zwischen Tagtraum und Traum verschwimmt somit. Jedes Streben hat sehr bald die Form einer Erfüllungsvorstellung erreicht und es besteht kein Zweifel darin, dass das Verweilen bei den Wunschvorstellungen einer Phantasie zu einer Befriedigung führt. Diese Befriedigung erfolgt unabhängig von dem Wissen, dass es sich bei der Phantasie nicht um Realität handle. In der Phantasietätigkeit genieße der Mensch also die Freiheit vom äußeren Zwang, auf die er in Wirklichkeit längst verzichtet habe. Der Mensch habe es zu Stande gebracht, abwechselnd noch Lusttier und dann wieder ein verständiges Wesen zu sein. Er finde mit der kargen Befriedigung, die er der Wirklichkeit abringe, aber nicht sein Auskommen (vgl. Freud 1999, XII: 22 Vgl. Freud 1999, VII: 216. 23 Freud schreibt hierzu: »Beim jungen Weibe herrschen die erotischen Wünsche fast ausschließlich, denn sein Ehrgeiz wird in der Regel vom Liebesstreben aufgezehrt; beim jungen Manne sind neben den erotischen die eigensüchtigen und ehrgeizigen Wünsche vordringlich genug. Doch wollen wir nicht den Gegensatz beider Richtungen, sondern vielmehr deren häufige Vereinigung betonen« (Freud 1999, VII: 217).

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387). Aber ist die Phantasie eine Abwehrbewegung gegenüber der unbefriedigten Realität? Ist die Phantasie nicht vielmehr eine Bewegung, die auf die Realität zugeht, in dem sie Möglichkeiten dieser vorausnimmt? »Die Doppelpoligkeit der Phantasie, die die zwei Arten ihrer Wirksamkeit beschreibt, nämlich einerseits ›Erfüllungsvorstellungen‹ repräsentieren zu können, ohne jedoch diese Erfüllung als reale zu setzen, wie es in der Halluzination geschieht, und andererseits ›Erwartungsvorstellungen‹ vorwegnehmen zu können, kommt in ihrer vollen Tragweite beim späteren Werk Freuds zur Geltung, in dem er den ›regressiven Charakter‹ der Phantasie immer wieder in den Vordergrund rückt und die ›progressive‹ auf Handlung und Realität bezogene Seite ziemlich vernachlässigt« (Pagel 1984: 38).

Freud Phantasiekonzept wandelte sich im Zuge seines Schaffens. In der Anwendung Freuds auf den Otakismus wird auf dessen frühes Phantasiekonzept zurückgegriffen. Sigmund Freud versuchte, eine theoretische Basis für die Phantasie zu schaffen. Zur Erklärung der Phantasie wurde das Konzept der Urphantasie entwickelt. Im Terminus Urphantasie vereinte sich das, was man den Grundstein des Erlebnisses nennen könne. Wenn dieser Begriff gebrochen und mehr oder weniger zersetzt in der Geschichte des Individuums ausgelöscht wird, ist es möglich, bis zur Geschichte einer Art aufzusteigen: Sprich ins Vor-Diskursive. Die Reflexionen zur Urphantasie zeigen sehr deutlich das Bemühen, die Struktur der Phantasie selbst auf etwas anderes als das Ereignis zu gründen (vgl. Laplanche/Pontalis 1999: 575).

Die Urphantasie Eine gänzlich falsche Interpretation ist es, in der Urphantasie lediglich ein Konzept zu sehen, welches eine Verbindung zu den Phantasien der frühen Kindheit herstellt. Urphantasien bezeichnen typische Phantasiestrukturen, die der Psychoanalyse zufolge das Phantasieleben des Menschen gestalten. Die Universalität dieser Phantasien erklärt sich dadurch, dass diese Phantasien phylogenetisch übermitteltes Erbe sind. Allgemein ist wichtig, auf einen Bruch in der freudschen Theorie aufmerksam zu machen. Dieser erfolgte 1896. Bis zu diesem Zeitpunkt war Freud der Ansicht, dass die Phantasien seiner Patienten auf tatsächlich erlebte Ereignisse der Kindheit zurückzuführen seien. Nach 1896 erkannte er, dass diese Szenen zumeist phantasiert waren. »Als ich dann doch erkennen musste, diese Verführungsszenen seien niemals vorgefallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM ihnen vielleicht selbst aufgedrängt hatte, war ich eine zeitlang ratlos. [...] Als ich mich gefasst hatte, zog ich aus meiner Erfahrung die richtigen Schlüsse, dass die neurotischen Symptome nicht direkt an wirkliche Erlebnisse anknüpften, sondern an Wunschphantasien, und dass für die Neurose die psychische Realität mehr bedeutet als die materielle. [...] Ich war da zum ersten Mal mit dem Ödipuskomplex24 zusammengetroffen, der späterhin eine so überragende Bedeutung gewinnen sollte, den ich aber in solch phantastischer Verkleidung noch nicht erkannte« (Freud 1999, XIV: 59f).

Der Begründer der Psychoanalyse gestand ein, dass sich primär traumatische Ereignisse als Phantasien entlarvten. Aber: Sind die traumatischen Ereignisse selbst die Phantasien oder sind sie nicht vielmehr dasjenige, was die Phantasie entstehen lässt, ihr den Nährboden zur Verfügung stellt, den diese brauchen, um ihr Fortbestehen zu sichern? Im Unbewussten existiert kein Realitätszeichen und insofern ist eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und der mit Affekt besetzten Fiktion nicht möglich. Plötzlich war für Freud keineswegs mehr klar, dass der Mensch Erinnerungen aus der Kindheit hat. Er fragte sich, ob dies nicht vielmehr Erinnerungen an die Kindheit sind (vgl. Pagel 1984: 145f). Was erinnert eine Person an die Kindheit? Diese Frage rückt ins Zentrum der freudschen Reflexion zu diesem Themenfeld und manifestiert sich unter anderem in den Reflexionen zu Leonard da Vinci. In dem Text über den italienischen Künstler geht Freud konkret auf den Aspekt des Erinnerns ein. »Wenn die Erzählungen Leonardos vom Geier, der ihn in der Wiege besucht, also nur eine spätgeborene Phantasie ist, so sollte man meinen, es könne sich kaum verlohnen, länger bei ihr zu verweilen. Zu ihrer Erklärung könnte man sich ja mit der offenen kundgegebenen Tendenz begnügen, seiner Beschäftigung mit dem Problem des Vogelfluges die Weihe einer Schicksalsbestimmung zu leihen. Allein mit dieser Geringschätzung beginge man ein ähnliches Unrecht, wie wenn man das Material von Sagen, Traditionen und Deutungen in der Vorgeschichte eines Volkes leichthin verwerfen würde. Allen Entstellungen und Missverständnissen seiner Urzeit zum Trotze ist die Realität der Vergangenheit doch durch sie repräsentiert. Sie sind das, was das Volk aus

24 Freud schreibt in seinen Abhandlungen zur Sexualtheorie: »Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen; wer es nicht zustande bringt, ist der Neurose verfallen« (Freud 1999, V: 127). »Was uns am Schicksal des Ödipus erschüttert, ist, dass wir hier die ›Tragödie der Wahrheit’, unser eigenes Schicksal, wiedererkennen, ohne es zu kennen. Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn« (Pagel 1984: 148). Freud betrachtet den Ödipuskomplex nicht als realiter ausgeübten Einfluss der Eltern, sondern als eine transzendierende Struktur des individuellen Lebens und Erlebens.

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PHANTASIE – PHANTASMA: DIE NIE ABGESCHLOSSENE INNENWELTSCHÖPFUNG den Erlebnissen seiner Urzeit gestaltet hat, unter der Herrschaft einstens mächtiger und heute noch wirksamer Motive, und könnte man nur durch die Kenntnis aller wirkenden Kräfte dieser Entstellung rückgängig machen, so müsste man hinter diesem sagenhaften Material die historische Wahrheit aufdecken können. Gleiches gilt für die Kindheitserinnerungen oder Phantasien der einzelnen. Es ist nicht gleichgültig, was ein Mensch aus einer Kindheit zu erinnern glaubt; in der Regel sind hinter den von ihm selbst nicht verstandenen Erinnerungsresten unschätzbare Zeugnisse für die bedeutsamsten Züge seine seelischen Entwicklung verborgen« (Freud 1999, VIII: 152f).

Die Bereitschaft, die psychische Realität ernst zu nehmen, sie abzuhorchen und zu entschlüsseln, ist für Freud unumgänglich geworden. Die psychische Realität spricht ihre eigene Sprache, nämlich jene des Wunsches. Sie enthalte zwar Elemente aus der Realität, Realitätsprüfungen gelten ihr jedoch nichts. Das Ernstnehmen der psychischen Realität offenbarte ihm die in den Analysen bestätigte x Existenz eines intensiven kindlichen Sexuallebens, x die enorme Bedeutung der Libido in ihrer Beziehung zu den Objekten, x die verschiedenen Phasen libidinöser Entwicklung, x und das differenzierte Spiel der Partialtriebe, welche in der genitalen Organisation zusammenfinden und um welche sich ein reiches Phantasieleben gestalte. Während seiner Auseinandersetzung mit der ontologischen Dimension der Patientenanalyse wurde Freud also mit der Problematik der Analyse von Phantasien konfrontiert. Im Zuge dieser Aufzeichnungen stieß er auf die Urphantasien, welche trotz der unterschiedlichen psychischen Struktur seiner Patienten sich als »typisch gleich bleibende Phantasiestrukturen zeigten, die sich stets um die Themen Geburt, Verführung, Urszene25 und Kastration drehten« (Pagel 1984: 164). All dies findet sich in der Analyse des kleinen Hans bestätigt.26 Die Beobachtung des Liebesver25 Ein sehr anschauliches Beispiel zur Urszene findet man in dem Aufsatz Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (Freud 1999, XII: 54f). Die Urszene ist eine »Szene der sexuellen Beziehung zwischen den Eltern, die beobachtet oder aufgrund bestimmter Anzeichen vom Kind vermutet und phantasiert wird. Es [das Kind. Anm. M.M.] deutet sie im Allgemeinen als einen Akt der Gewalt von Seiten des Vaters« (Laplanche/Pontalis 1999: 576). Urszene bezeichnet also die traumatisch infantilen Erfahrungen, ohne dabei jedoch ausschließlich den elterlichen Koitus zum Inhalt zu haben. Das Verständnis und das Interesse, welche das Kind dem elterlichen Koitus entgegenbringt, stützen sich auf die eigenen präödipalen, körperlichen Erfahrungen des Kindes mit seiner Mutter. 26 Menschen sind eben nicht nur mit einer materiellen Realität konfrontiert, sondern eben auch mit einer psychischen. Die Analyse des kleinen Hans ist

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kehres der Eltern ist ein »vermisstes Stück aus dem Schatze unbewusster Phantasien, die man bei allen Neurotikern, wahrscheinlich bei allen Menschenkindern, durch die Analyse auffinden kann« (Freud 1999, X: 249). Er nennt diese Phantasiebildung, wie die Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehres, die der Verführung, die der Kastration und andere, eben Urphantasien. Das Bedürfnis nach den Phantasien und das Material für diese wurzeln in den Trieben. Diese stellen eine primäre Quelle dar. Darüber ist sich Freud sicher. Für ihn gilt vielmehr zu »(er-)klären«, dass jedes Mal die »nämlichen Phantasien mit demselben Inhalt« geschaffen werden. Verantwortlich hierfür sind die Urphantasien. »Ich habe hier eine Antwort bereit, von der ich weiß, dass sie Ihnen gewagt erscheinen wird. Ich meine, diese Urphantasien – so möchte ich sie und gewiss noch einige andere nennen – sie sind phylogenetischer Besitz. Das Individuum greift in ihnen über sein eigenes Erleben hinaus in das Erleben der Vorzeit, wo sein eigenes Erleben allzu rudimentär geworden ist. Es schein mir sehr wohl möglich, dass alles, was uns heute in der Analyse als Phantasie erzählt wird, in den Urzeiten der menschlichen Familie einmal Realität war, und das phantasierende Kind einfach die Lücke der individuellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit ausgefüllt hat« (Freud 1999, XI: 386).

Der Begründer der Psychoanalyse spricht weder von Instinkt- noch von Triebtätigkeit, sondern betrachtet Urphantasien als Niederschläge der menschlichen Kulturgeschichte. »Insofern können auch die Urphantasien als ›Kern des Unbewussten‹ nicht zu reduzieren sein auf triebhafte Anlagen bzw. als Ausdruck des Triebes selbst [...]. Freud selbst bezeichnet sie als ›primitive Geistestätigkeit‹. Gerade im Begriff der Urphantasien zeigt sich der Trieb schon als denaturierter, geht es

hierfür exemplarisch (Analyse der Phobie eines fünfjährigen Jungen vgl. Freud 1999, VII: 243ff) Hans war in die Übermacht seiner kindlichen Phantasien verstrickt und litt an einer Pferdephobie. Diese bildete einen Schutzbau für freigewordene Ängste und Aggressionen gegen den Vater. Hans gelang es mit Hilfe der Analyse, seine unbewussten Wünsche zu artikulieren und seinen regressiven Phantasien einen Sinn zu geben. »Mit der Zentrierung der Konfliktproblematik auf den Vater und der gelingenden Identifizierung mit dem Vater (Hans wird selbst zum Pferd, das den Vater beißt), gelingt es Hans, sein in der Mutterbeziehung verstricktes Ideal-Ich freizulegen, den bekämpften und gehassten Vater als Über-Ich zu verinnerlichen und den libidinösen Vater als Vorbild, als Ich-Ideal aufzurichten. Hans, dem es zunächst nicht gelang, den Ausschluss aus der Urszene zu ertragen und eine innere Trennung mit der Mutter zu erreichen, kann nun durch Partizipation an der Existenzweise des guten Vaters als einer dritten, der ursprünglichen MutterKind-Beziehung gegenübergestellten Person, welche die Trennungsbeziehung zur Mutter gefahrlos vorlebt, zu einer sich gegenseitig anerkennenden DreiPersonen-Beziehung gelangen« (Pagel 1999: 155).

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PHANTASIE – PHANTASMA: DIE NIE ABGESCHLOSSENE INNENWELTSCHÖPFUNG doch Freud hier darum die Bildung der psychischen Struktur überhaupt abzuleiten« (Pagel 1984: 168).

Das Studium der Neurosen bringt viele Erkenntnisse zu Urphantasien bzw. Urszenen hervor, und diese gelten deshalb als aufschlussreich, da in ihnen die Altertümer der menschlichen Entwicklung aufbewahrt werden. Nach 1896 ist es die Intention Freuds, den Charakter der Phantasie nicht mehr an tatsächlichen Ereignissen anzubinden. Der Wahrheitsgehalt der Phantasien sollte weder auf individuell-historisches Geschehen, noch auf den Trieb als solchen reduziert werden. »Die Wahrheit findet ihren Garanten gerade nicht in der Realität, die sie betrifft; es ist ein anderer Ort, der für sie bürgt« (Lacan zitiert nach Pagel 1984: 168). Primär- und Sekundärvorgang Nach der tiefenpsychologischen Theorie Sigmund Freuds zählt die Phantasie zu den Primärprozessen. Der Primärprozess oder Primärvorgang ist neben dem Sekundärvorgang eine der beiden Funktionsweisen des psychischen Apparats27, auf die Freud im Zuge seines Studiums der Symptombildung sowie an der Analyse der Träume stieß. Die beiden Vorgänge sind topisch sowie ökonomisch-dynamisch vollkommen trennbar; topisch insofern, als der Primärvorgang das System Unbewusst, der Sekundärvorgang das System Vorbewusst-Bewusst kennzeichnet. Ökonomischdynamisch strömt beim Primärvorgang die psychische Energie frei ab, da sie ohne Hindernisse »nach den Mechanismen der Verschiebung und der Kondensation (Verdichtung) von einer Vorstellung zur anderen übergeht; sie strebt danach, die Vorstellungen in vollen Umfange wieder zu besetzen, die mit Befriedigungserlebnissen, welche den Wunsch konstituieren (primitive Halluzination), zusammenhängen« (Laplanche/Pontalis 1973: 397).

Der Primärvorgang ist durch ein stetiges Gleiten charakterisiert. Zwei zentrale Mechanismen sind involviert: x die Verschiebung28 und die 27 Interessant sind die Erkenntnisse von Dietmar Kamper zum psychischen Apparat. Er involviert den Bildschirm in seine Reflexionen. »Bildschirme finden sich zunächst nicht als Bestandteile von Fernsehgeräten, sondern von psychischen Apparaten in der kindlichen Seele. Sie dienen der Angstregulierung. Überforderungen, die Verletzungen gleichkämen, werden in Bildern festgehalten und besänftigt. Um eine Traumatisierung zu verhindern, ist das Phantasma notwendig. [...]. Das Zwischending zwischen Trauma und Phantasma ist der Bildschirm« (Kamper 1995a: 81). 28 Durch die Verschiebung wird einer scheinbar oft unbedeutenden Vorstellung der ganze psychische Wert, die Bedeutung, die Intensität, die ursprünglich zu

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x Verdichtung29. Beim Sekundärvorgang ist die Energie, bevor sie kontrolliert abströmt, nicht mehr frei, sondern gebunden. Das bedeutet, dass die Vorstellungen auf eine stabilere Weise besetzt werden. Die Befriedigungen werden aufgeschoben. Somit werden psychische Erfahrungen, die verschiedene Wege zur Befriedigung erproben, möglich und erlaubt. Im Gegensatz zu den Primärvorgängen können Sekundärvorgänge als jene Funktionen beschrieben werden, die man unter x dem wachen Denken, x der Aufmerksamkeit, x der Entscheidung, x dem Urteilsvermögen, x der kontrollierten Handlung subsumiert. Der Sekundärvorgang ist also eine Modifikation des Primärvorganges, der eine regulierende Funktion erfüllt. Diese regulierende Funktion wurde durch die Ichbildung ermöglicht, deren Hauptaufgabe darin besteht, den Primärvorgang zu hemmen. »Die Wunschbesetzung bis zur Halluzination, die volle Unlustentwicklung, die vollen Abwehraufwand mit sich bringt, bezeichnen wir als psychische Primärvorgänge; hingegen jene Vorgänge, welche allein durch gute Besetzung des Ich ermöglicht werden und Mäßigung der obigen darstellen, als psychische Sekundärvorgänge« (Freud zitiert nach Laplanche/Pontalis 1976: 298).

Wenn Phantasie vor dem Hintergrund Freuds reflektiert wird, dann geht es um nichts anderes als das Erfüllen von Wünschen. Aber es bleibt die Frage, inwieweit diese Feststellung das Phänomen Otakismus erhellt. Es ist nicht zu bestreiten, dass Phantasie bei der Generierung des Otaku-Lebensstils ein wichtiger Faktor ist, doch geht es wirklich nur um halluzinatorische Wunscherfüllung? Ist die Phantasietätigkeit nicht mindestens genauso viel Realitätskonstruktion? Dies ist der entscheidende Grund, warum die freudsche Interpretation zu verlassen ist. Vor dem Hintergrund der veränderten Wahrnehmungsbedingungen, welche zeitgenössische neue Medien- und Kommunikationssituation mit sich bringt, wird das hartnäckige Festhalten an Freud absurd, denn die Kreation von unterschiedlichen Lebenswelten mittels Neuer Medien ist schlichtweg gegeben. Warum soll jemand diese Lebenswelten nicht auch beziehen? einer anderen Vorstellung gehörte, zugeschrieben. 29 Verdichtung meint, dass in einer einzigen Vorstellung alle Bedeutungen zusammenfließen können.

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Dem freudschen Konzept der Phantasie ist ein durchaus bedeutsamer, jedoch historischer Platz einzuräumen. Daher ist die Rolle der Phantasie vor aktuellen sozialwissenschaftlichen Fragestellungen nicht ausschließlich an die Ausführungen Freuds anzubinden. Eine Alternative, im Sinne einer Weiterentwicklung des freudschen Ansatzes, bietet Slavoj Žižek an.

Žižek und Lacan – Was, wenn Phantasie mehr als Wunscherfüllung ist? Der negativ konnotierte Diskurs des Otakismus mündet in ein zielloses Gerede. Anstatt dem allgemeinen Tenor der Hysterischen zuzustimmen, ist es angebracht, einen Theoretiker aufzugreifen, der als ein Grenzgänger zwischen Psychologie und Philosophie gilt: der Kulturphilosoph Slavoj Žižek. Ihm zufolge basiert die paradoxe Funktionsbestimmung kultureller Phänomene in Bezug auf eine unerkennbare und inkonsistente Kultur auf modellhafte Weise einer Struktur des Mangels. Diese Struktur des Mangels wurde von Jacques Lacan im Rahmen einer Theorie des Begehrens beschrieben, und der Verdienst des slowenischen Psychoanalytikers und Philosophen Slavoj Žižek ist, diese für eine Analyse von Phänomenen der Populärkultur, also auch Medienphänomenen, fruchtbar zu machen. Phasenweise wird im Folgenden eine Interpretation des Otakismus gewagt. Diese Interpretation ist an die Psychoanalyse angelehnt, unterstreicht jedoch den zentralen Hinweis auf jene Abschnitte, die einen Ausweg erlauben; einen Ausweg hin zu einer medientheoretischen Reflexion des Phänomens. In diesem Kapitel wird eine vertiefende Klärung des Begriffs Phantasie sowie eine psychoanalytische Interpretation des Cyberspace angestrebt. Konkret werden Phantasie und Cyberspace als Einzelfaktoren reflektiert, um in weiterer Folge zusammengeführt und vernetzt zu werden. Wichtiger als eine in allen Facetten differenzierte Cyberspace-Diskussion ist die Verortung des Individuums, also des Subjekts in dieser Debatte sowie eine Hinführung zur medientheoretischen Debatte (basierend auf Vilém Flusser). Eine Reflexion zu den otakuesken Räumen wird im anschließenden Kapitel geleistet. Die Rolle der Phantasie in der Debatte um den Otakismus ist von ihren herkömmlichen Sichtweisen zu lösen, denn ansonsten bleibt sie Wunscherfüllung. Die Phantasie des Otaku ist wesentlich mehr als eine postulierte halluzinatorische Wunscherfüllung. Zu entwirren ist des Weiteren der Konnex zwischen Otakismus und Schizophrenie. Unter Zuhilfenahme der Diskussion um den Cyberspace wird gezeigt, dass die Verbindung zwischen gespaltener Persönlichkeit und Otakismus nicht stichhaltig genug ist; auch wenn sie in bestimmten Fäl-

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len zutreffen mag. Otakismus liegt der Perversion (dies ist durchaus nicht negativ zu interpretieren) näher als der Schizophrenie. Eingangs werden sieben Merkmale zur Spezifizierung der Phantasie besprochen. Diese Merkmale sind deshalb bedeutsam, als durch sie weitere Dimensionen der Phantasie in den Diskurs eingebracht werden. Kurzum: Deutlich zu machen ist, wie die theoretische Diskussion der Phantasie erweitert werden kann, wo eventuelle Knotenpunkte zu traditionellen Phantasiekonzepten auftauchen und wo eventuelle Mankos der freudschen als auch der lacanschen und der žižekschen Interpretation liegen. In Detailaspekten löst sich Žižek von einem herkömmlichen Phantasiekonzept. Die Phantasie ist bei ihm nicht der Realität entgegengesetzt, sondern konstruiert diese vielmehr. Wichtig ist, dass die symbolische Ordnung nicht ohne den phantasmatischen Raum30 existieren kann. Diese beiden Komponenten sind strikt korrelativ und bedingen sich somit gegenseitig.31 Im zweiten Teil dieses Abschnittes wird Phantasie vor dem Hintergrund des Cyberspace betrachtet. Auch dies ist eine Dimension wichtiger Impulse für die Diskussion zur Otaku-Generation. Warum? Der Cyberspace ist ein virtueller Raum, der dem reellen Raum gegenüber steht. Der Otaku nutzt die Virtualität, um dadurch eine neue Realität zu leben. Der Cyberspace als markanter Lebensraum der Übermoderne unterstützt den Otaku in seiner Lebensbewältigung, es ist ein wichtiges Instrumentarium für seine Realitätskonstruktion geworden. Anders formuliert: Im Zuge der Debatte um den Cyberspace wird sowohl das traditionelle Bild über das Subjekt,32 als auch jenes über den Raum neu definiert und Otakismus ist eine Lebensform, die (in der Regel) niemals auf den Cyberspace verzichten kann. Der Cyberspace ist nur ein Raum der Otakus, aber einer, 30 Zum Phantasma ist anzumerken, dass das Phantasma als eine Konstruktion fungiert, welches die Leere, sprich die Öffnung des Begehrens des Anderen, füllt. Indem das Phantasma dem Individuum eine definitive Antwort auf die Frage »Was will der Andere?« gibt, ermöglicht es dem Individuum, dem unerträglichen Stillstand zu entkommen (vgl. Žižek 2000: 140). 31 Als Beispiel seien Kampfjets oder Steuerfahnder genannt. Niemand würde auf die Idee kommen, Kampfjets zu kaufen, würde der phantasmatische Raum nicht ein dunkles Bedrohungsszenario anbieten. Ähnliches finden wir beim Steuerfahnder. Würde der phantasmatische Raum nicht klar und eindeutig all die Steuersünden beinhalten, wäre es nicht möglich einen Steuerfahnder ins Amt zu bringen. Sprich: die Arbeit eines Steuerfahnders funktioniert nur deshalb, da diametral gegenüber der Steuersünder steht, der nichts anderes zu tun hat, als Steuern zu hinterziehen. 32 So weist Sherry Turkle darauf hin, dass der Computer eine metaphysische Maschine, ja, eine psychologische Maschine ist; nicht, weil man sagen kann, der Computer habe eine Psyche, sondern weil er Einfluss darauf hat, wie der Mensch über sich selbst denkt. Der Computer ist als Maschine in das gesellschaftliche Leben eingetreten und beeinflusst die seelische Entwicklung sowie das Denken des Menschen. Er tangiert die Entwicklung der Persönlichkeit, der Identität und der Sexualität (vgl. Turkle 1986: 8ff).

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ohne dessen Existenz der Otaku, wie er gegenwärtig diskutiert wird, nicht existieren würde. Also eine conditio sine qua non. Bezogen auf den Cyberspace taucht die strukturierende These auf, dass dieses das Ende des Ödipus bedeute, und dass der Cyberspace zu einer postödipalen libidinösen Ökonomie33 führe. Welche Annahmen liegen diesen Thesen zu Grunde? Damit ein Objekt zu einem Objekt des Begehrens wird, muss dieses von einer bedeutungsstiftenden Ordnung vermittelt oder als eine Forderung artikuliert werden. Dadurch geht jedoch die »Unmittelbarkeit des präsymbolischen Realen« verloren und somit avanciert jedes erreichbare Objekt zu einem Ersatz für das inzestuöse, das wahre für immer verlorene Objekt. Kurzum: das Objekt a. Welche Forderung wurde artikuliert, damit der Otaku ein bestimmtes Medienphänomen zum Ziel seiner Begierde ausgewählt hat bzw. wer formulierte diese Forderung? Nach Žižek zeichnet die Phantasie für diese Forderung(en) verantwortlich. Aber, kann tatsächlich die Einkreisung des Objekts des Begehrens Ziel einer Analyse sein? Darin liegt wohl nur eine vordergründige bzw. oberflächliche Spannung, denn der oben formulierte Aspekt des Ersatzes (des inzestuösen, des wahren für immer verlorenen Objektes) ist nicht ausreichend. Wofür stellt es einen Ersatz dar? Für den Verlust des präsymbolischen Realen? Diese Form der Analyse bewegt sich zu nahe am Gegenstand, also dem Inhalt, und verliert dadurch an Objektivität. Die allgemeine Meinung besagt, dass der Cyberspace die Wirksamkeit der symbolischen Kastration34 sprenge oder sie zumindest 33 »Der Cyberspace führt demnach zum Ende des Ödipus, das heißt, was sich darin ereignet, ist der Übergang von der Struktur der symbolischen Kastration (der Intervention der Dritten Instanz, welche die inzestuöse Dyade verbietet/stört und damit den Eintritt des Subjekts in die symbolische Ordnung unmöglich macht) zu einer neuen postödipalen libidinösen Ökonomie« (Žižek 1999b: 227f). 34 Kastration bezeichnet in der Psychoanalyse eine komplexe psychische Erfahrung, »die das Kind im Unbewussten im Alter von etwa fünf Jahren erlebt und die entscheidend für die Akzeptanz seiner zukünftigen sexuellen Identität ist« (Nasio 1999: 7). Der Kastrationskomplex ist eine Etappe in der Entwicklung der kindlichen Sexualität, der sich jedoch nicht auf einen bestimmten Zeitabschnitt reduzieren lässt. Die unbewusste Erfahrung der Kastration erneuert sich das ganze Leben hindurch. Ziel der psychoanalytischen Kur ist es, den Erwachsenen die Erfahrung ihrer Kindheit zugänglich zu machen und »voll Schmerz zuzugeben, dass die Grenzen des Körpers viel enger gesteckt sind als die Grenzen des Begehrens« (ebd.: 8). In der französischen Linie der Psychoanalyse wird der Terminus Kastration verwendet, um persönlichkeitsbildende Trennungen, Versagungen und Verbote zu bezeichnen. »Unverkennbar ist der Ausdruck von der Theorie des Ödipuskomplexes abgeleitet, in dem das Kind nach orthodox analytischer Auffassung es lernen muss, durch einen gut verinnerlichten Verzicht auf das verbotene innerfamiliäre Liebesobjekt, sprich in erste Linie Mutter oder Vater, für spätere genitale Liebespartner aus der eigenen Generation frei zu werden. Durch die symbolische genitale Kastration – also das Inzest-Verbot – werde das künftige Genitalsubjekt von seinem umstandlosen Direktverlangen nach dem naheliegenden ersten Liebespartner getrennt. Nur durch die gut verinnerlichte Kastration lernen die Genitalsubjek-

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potenziell unterminiere. Dies ist insofern ein problematischer Faktor, als der Eintritt des Subjekts in die symbolische Ordnung durch den Cyberspace verunmöglicht bzw. zumindest erheblich gestört wird. Genau darin liegt vor dem Hintergrund einer psychoanalytischen Betrachtungsweise der Grund, warum Otakismus als Problem definiert oder zumindest negativ konnotiert ist. Der Otaku widersetzt sich für den normalen Bürger der symbolischen Ordnung. Bereits diese ersten kurzen Ausführungen zeigen, wie wichtig es sein wird, jene Elemente der psychoanalytischen und der lacanschen Theorie aufzugreifen, welche für eine differenzierte Analyse des Phänomens Otakismus einerseits als bedeutsam erachtet werden und welche andererseits beständig in der Debatte auftauchen: Objekt a, Begehren, Ödipus etc. Dabei ist jedoch eines nicht zu vergessen: Lacans Konzepte sind zwar wichtig, aber eben nicht so wichtig, dass eine ganze Studie zum Phänomen Otakismus mit ihnen zu füllen ist. Neben verschiedenen Cyberspace-Konzepten wird vor allem gezeigt, wie sich das Subjekt in die Cyber-Realität einwebt.

Wie begehrt man? Woher wissen Menschen überhaupt, dass sie ein bestimmtes Objekt begehren? Muss nicht eine Instanz, ein Mechanismus existieren, der einem Menschen mitteilt, dass er ein Objekt begehrt? Das ist der erste Schleier und Funktion der Phantasie. Die Phantasie leistet einen Beitrag zur Erkenntnismöglichkeit eines Menschen. Warum? Sie lehrt dem Menschen, wie zu begehren. Insofern müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass es sich bei Phantasie ausschließlich um eine halluzinatorische Realisation des Begehrens handelt. Phantasie, so Žižek, ist ein Vermittler zwischen res extensia und res cogitans. Die Phantasie vermittelt zwischen der formalen symbolischen Struktur und der Positivität der Objekte. Sprich: Sie stellt ein Schema zur Verfügung, nach dem bestimmte (positive) Objekte der Realität als Objekte des Begehrens fungieren können. Sie füllt also die leeren Plätze, die von der formalen symbolischen Struktur geöffnet wurden bzw. werden (vgl. Žižek 1997: 20). Phantasie ist in diesem Sinne nicht so zu verstehen, dass Menschen, wenn sie irgendetwas begehren, was sie nicht haben können, über dieses etwas phantasieren. Wesentlicher ist die Frage, woher der Mensch überhaupt weiß, dass er ein spezifisches Objekt begehrt. Und gete, nun sozusagen am Begehren beschnitten, einen Bogen um das schlechthin untersagte Liebesziel zu schlagen; ihre Libido wird extravertiert und extrafamilial ausgerichtet; sie wird frei von der bequemen und doch unerträglichen lästigen Besessenheit durch das am nächsten Liegende erste Liebesobjekt« (Sloterdijk 2000: 398).

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nau dies teilt ihm die Phantasie mit. Bereits bei diesem ersten Schleier der Phantasie, dem so genannten transzendentalen Schematismus der Phantasie, wird der Unterschied zu den oben erwähnten Konzepten erkennbar: Phantasie fungiert als eine Vermittlungsinstanz.

Che vuoi? Der zweite Schleier betrifft den radikal-intersubjektiven Charakter der Phantasie. Intersubjektivität ist hierbei nicht in seiner klassischen Wortbedeutung – von zwei oder mehreren Personen in derselben Weise nachvollziehbar – zu verstehen. Intersubjektivität bei Žižek basiert auf den Arbeiten des späten Lacans, welcher der Intersubjektivität die Aufgabe zuwies, dem Rätsel des unergründlichen Begehren des Anderen, Lacan nannte es »che vuoi?«,35 nachzugehen. Das Novum beim zweiten Schleier ist, dass der Phantasie die Eigenschaft zugesprochen wird, einem Menschen mitzuteilen, was dieser für andere ist.36 Es geht also um das »che vuoi?«, welches die ursprüngliche Frage des Begehrens nicht im Was will ich?, sondern, im Was will der andere mir? sieht. Jacques Lacan erkannte, dass das Objekt nicht auf seine inhärenten Qualitäten reduziert ist (zum Beispiel Muttermilch als ein Zeichen von Liebe; Spielzeug wird zum Objekt der Eifersucht, da eine andere Person es vor mir haben könnte). Das Hauptaugenmerk liegt vielmehr auf dem Objekt, welches das Subjekt selbst ist. Konkret setzte Lacan das Objekt a ein, welches »im Subjekt mehr als das Subjekt selbst ist« (Žižek 1997: 24). Das Objekt a ist dasjenige, wovon eine Person phantasiert, dass es der Andere (fasziniert) in ihm sieht. Die Bedeutung von Objekt a liegt darin, dass es den Menschen hilft sich selbst als wertvoll für das Begehren des Anderen wahrzunehmen. Was bedeutet dies nun für den Menschen? Diese Erkenntnis Lacans besagt, dass das, was Menschen als ihren ganz persönlichen Faktor erachten, jener Faktor also, der ihnen ihren individuellen Touch gibt, dass dieser Faktor letztlich nicht existiert. Der Mensch ist phantasiert und entsteht aus der Frage: Was will der Andere, was wollen andere mir? Sowohl Lacan als auch Žižek verstehen unter dem Objekt a ein Objekt, auf welches das Individuum sein Begehren richtet. Das Begehren kann dabei nie durch das Objekt selbst gestillt oder befriedigt werden. Im Gegenteil: Das Objekt des Begehrens bleibt 35 »Che vuoi? Was willst du? Oder: Was will sie mir?« (Forster 1998: 82). 36 Interessant ist hier der freudsche Standpunkt bezüglich der Fundamentalphantasie. Dieser geht davon aus, dass jeder Mensch einen Art Faktor besitzt, der sein oder ihr Begehren reguliert. »Es gibt nichts Aufregendes an unserem Wissen über diesen Faktor: Dieses Wissen kann nie subjektiviert werden, es ist unheimlich, vielleicht auch erschreckend, da es irgendwie das Subjekt enteignet, sie oder ihn auf etwas Puppenähnliches reduziert, jenseits von Würde und Freiheit« (Žižek 1999: 21).

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immer unerreichbar, ja, es besitzt nicht einmal eine Entsprechung in der Wirklichkeit. Diese existiert lediglich in der Vorstellung bzw. in der Phantasie. Doch gerade die konstitutive Irrealität sowie die Abwesenheit des begehrten Objekts führen nun dazu, dass das Begehren erst in Gang gesetzt wird. Es vermag sich somit überhaupt erst zu artikulieren und zu organisieren. In der Erfahrung eines niemals aufzuhebenden Mangels erhält das Begehren37 erst seinen eigentlichen Sinn. Und in dieser Situation fungiert das Objekt a wie eine Projektionsfläche, es spannt seinen phantasmatischen Raum auf, welcher die Grundlage für die Konstitution einer geordneten und berechenbaren Alltags- und Lebenswelt bildet (vgl. Wichens 1997: 126). Anders formuliert: Das Objekt a ist jenes Objekt, welches zwar die Differenz hervorbringt, aber nicht in irgendeiner positiven Differenz etabliert werden kann. Es ist die unergründliche Objekt-Ursache des Begehrens. Würde der Mensch das Objekt a erleben, würde dieser das Mehr-Genießen erleben.38 Das Objekt a ist jenes Objekt, das mir hilft, mich als wertvoll für das Begehren der Anderen zu finden und es ist dasjenige, das in mir mehr ist, als ich selbst bin; von dem ich phantasiere, dass es der Andere fasziniert in mir sieht. Anders: Objekt a ist der persönliche Faktor (Žižek) einer Person. Würde man es je fassen, hielte man die Wahrheit in Händen. Dennoch: Der Objektfetischismus der Psychoanalyse wird auch heftig kritisiert. Der Philosoph Peter Sloterdijk argumentiert, dass die Psychologen, indem sie vom Objektverlust sprachen, selbst nicht verstanden, was sie sagten, da es Objekte im psychologischen Sinn erst dann geben könne, wenn sich die »Stücke und die Instrumente von den Spielern trennen lassen, ohne dass diese ihr performatives Potenzial verlören« (Sloterdijk 2000: 474). Wenn es überhaupt sinnvoll ist, von einer Existenz psychologischer Objekte auszugehen, so der Philosoph weiter, dann nur insofern, als man diese als Pole von Beziehungen definiert, welche vom Ich ohne akute Selbstverarmung ersetz- und transformierbar sind. »Objekt ist nur, was besetzt und losgelassen werden kann« (ebd.).39 37 Das Begehren muss jedoch übermäßig sein, da »ohne Unersättlichkeit der Durchbruch durch die fetischistischen Objektvorstellungen, die groben wie die subtilen, von dem begehrten höchsten Gut nicht bis zum Äußersten vollzogen werden kann« (Sloterdijk 2000: 113). 38 Erinnert sei an die Gedanken eines Mangaka (Einleitung). Dort taucht das Objekt a auf und zwar in dem Satz: »Das nimmt ja kein Ende, denke ich. Ich gehe seit über zehn Jahren in Buch- und Plattenläden ein und aus, um das ultimative Buch zu finden – wenn ich dieses Buch habe, brauche ich sonst keins mehr. Oder versuche den ultimativen Sound zu entdecken – wenn ich diese Platte habe, kann ich alle anderen getrost wegschmeißen«. Würde Endo (1998: 215) das Buch finden, hätte ihr Leben keinen Sinn mehr. Das Begehren als Antrieb würde erlöschen. Der Sinn des Lebens würde sich auflösen. 39 »Das starke Merkmal des psychologischen Objekts ist seine Verlierbarkeit oder, was hier dasselbe bedeutet, seine Ersetzbarkeit und die Neu-Spielbarkeit des eingeübten Stücks mit anderen Partnern. Umgekehrt gilt, dass ein

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Auftauchen im Verloren-Sein Menschen wissen, dass in ihnen ein Etwas existiert, und dass dieses Etwas sie begehrenswert für andere Menschen macht. Würde der Mensch diesem Etwas begegnen, es erkennen, dann würde er jouissance (Genießen) erreichen – doch die Begegnung bzw. das Erkennen bleibt ihm versagt. Und genau dieses Wissen um dieses Etwas gilt als ein Motivationsprinzip. Das Wissen um den Mangel (es nicht zu erkennen und ihm nicht zu begegnen) hält das Begehren des Menschen in Gang. Weiß nicht jeder Mensch, dass in ihm etwas existiert, das ihn ausmacht? Wäre das Ergreifen dieses Etwas nicht die absolute Erfüllung? Wer wüsste nicht gerne über seinen persönlichen Faktor Bescheid? Der dritte Schleier erweitert den Wirkungsbereich der Phantasie insofern, als argumentiert wird, dass die Phantasie die ursprüngliche Form der Erzählung darstelle und eine ursprüngliche Sackgasse als etwas Okkultes behandle. Die Initiierung des Mangels, eine Initiierung, die für die Menschen negativ konnotiert ist, erhält den Status des Besonderen. Der Mensch kann ohne den Mangel40 nicht existieren. Würde der Mangel fehlen, wäre eine radikale Schließung gegeben und in einem derartigen Zustand ist eine Existenz nicht möglich, denn ohne Mangel kein Begehren. »Die Erfahrung der eigenen Fragmentierung und Zerrissenheit, d.h. letztlich die Erfahrung von Nicht-Identität und Differenz stellt somit keine Erfahrung eines Mangels oder gar eines Verlustes dar, im Gegenteil eröffnet diese Erfahrung allererst einen Zugang zu einer Welt, die aus einem komplexen Netz unterschiedlicher, nicht ineinander überführbarer kultureller Wahrnehmungs-, Deutungs- und Interpretationsmuster besteht« (Wichens 1997:116).

Objekt, das nicht, oder noch nicht, als verlierbares, aufgebbares, ersetzbares, übersetzbares auskristallisiert ist, kein Objekt im psychologischen Sinn darstellen kann. Dieses unaufgebbare intime Etwas, in dessen Gegenwart und unter dessen Resonanz das Subjekt allein vollständig ist, nennen wir hier, in Anlehnung an den von Thomas Macho geprägten Ausdruck, das Nobjekt. Nobjekte sind Dinge, Medien oder Personen, die für Subjekte die Funktion des lebenden Genius oder des intimen Ergänzers wahrnehmen. [...] Der Grundbestand der Konsubjektivität, die von der psychologischen Theorie zu rekonstruieren wäre, erscheint also weder in sachlichen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt noch in affektiven Transaktionen zwischen Subjekt und Subjekt, sondern allein in jenen Subjekt-Nobjekt-Einheiten, die als räsonierende Zelle des psychischen Stoffwechsels allen übrigen stofflichen und kommunikativen Aktivitäten vorausliegen« (Sloterdijk 2000: 474f). 40 Im ersten Teil der Matrix-Trilogie wird genau dies thematisiert. Ein Agent gesteht ein, dass bei dem Entwurf der ersten Matrix der Fehler begangen wurde, alles perfekt zu programmieren. Die Menschen konnten in diesem perfekten Zustand nicht überleben – sie produzierten zuwenig Energie.

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Lacan ist ein radikaler Antierzähler, da er davon ausgeht, dass das endgültige Ziel psychoanalytischer Behandlung für den Analysanden nicht darin bestehe, seine verwirrte Lebenserfahrung in einer anderen zusammenhängen Erzählung mit integrierten Traumata etc. zu »(re-)organisieren«. Auf die Frage, warum Menschen Geschichten erzählen, folgt die Antwort, »dass die Erzählung als solche deshalb entsteht, um fundamentale Antagonismen mittels Wiederarrangierung ihre Benennung in einer zeitlichen Sukzession zu lösen« (Žižek 1999: 25f). Der Preis, den man für die narrative Erzählung bezahlt, ist eine »petitio principii« der Zeitschleife, was bedeutet, dass die Erzählung stillschweigend dasjenige voraussetzt, was sie vorgibt, zu reproduzieren. Beim narrativen Einschluss der Antagonismen geht es also darum, dass die Narrativierung Objekte zuerst als gegeben und eben diese Objekte danach als verloren betrachtet. Es ist also konkret der Wandel angesprochen, der eine Abschätzung von Verlust und Gewinn ermöglichen soll. Es besteht eine Synchronizität von Verlust und Auftauchen und darin liegt das fundamentale Paradox des lacanschen Objekt a, welches im »Verloren-Sein auftaucht« (Žižek). Die Narrativierung ist jenes Mittel, welches dem Menschen hilft, dieses Paradox zu schließen, oder noch einmal anders: die ganze Konstellation von Verlust und Auftauchen abzuschätzen. Der narrative Einschluss der Antagonismen bedeutet also schlicht, dass spezifische individuelle Geschichten neu organisiert bzw. arrangiert werden, um so das Paradox zu schließen und dadurch den Mangel und somit auch das Begehren abzuschätzen. Würde man bei Walter Benjamin eine Erklärung für das Objekt a suchen, findet sich folgender Hinweis: Es ist das Aufspüren jener unscheinbaren Stelle, die es erlaubt ein Objekt zu entdecken (vgl. Benjamin 2002: 303). Benjamin will diese Stelle finden, um das Kunstwerk zu beschreiben. »Hat man sich lange genug in so ein Bild vertieft, erkennt man, wie sehr auch hier die Gegensätze sich berühren: die exakteste Technik kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann. Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Handlung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchgesengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heut und so beredt nistet, dass wir, rückblickend, es entdecken können« (Benjamin 2002: 303).

Abschließend eine weitere sehr treffende Erklärung für das kryptische Objekt a. Michel Serres thematisiert einen »Ort eines Diskurses, der ei-

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nen Ort zeichnet, an dem ein Diskurs sich webt« (Serres 1995: 30f). Und genau diesen Ort zu finden, ihn mehr oder weniger zu greifen, daran scheitert der Mensch, aber dennoch: Der Mensch verliert dieses Begehren nicht aus den Augen, schöpft daraus seine Motivationsenergie.

Die Installation des Gesetzes Beim Phantasieren handelt es sich nicht um eine Nachgiebigkeit gegenüber der halluzinatorischen Realisation vom Gesetz verbotener Wünsche. Die phantasmatische Erzählung bildet nicht die Ausgrenzung des Gesetzes ab, sondern genau das Gegenteil: den Akt ihrer Installierung. Das Paradox des Falles – dem Erliegen des Genießens – besteht darin, dass er ein Akt ist, der den Raum der Entscheidung öffnet. »[...] was die Phantasie sich bemüht zu exponieren, ist letztlich die ›unmögliche‹ Szene der Kastration« (Žižek 1999: 31). Somit positioniert sich die Phantasie nahe der Perversion, und das ist ihr vierter Schleier. Eine perverse Person gibt zwar vor, alle Regeln des Normalen zu brechen, verlangt jedoch nach eben diesen Gesetzen.41 Ein perverses Ritual dient der Vorstellung eines ursprünglichen Verlustes, der es dem Subjekt erlaubt, die symbolische Ordnung zu betreten. Das Paradox betreffend die Perversion liegt darin, dass ein perverses Ritual zwar den Anschein erweckt, als würden alle Regeln eines normalen Verhaltens gebrochen, es jedoch genau nach eben diesen Regeln, der symbolischen Ordnung verlangt. Die Operation der Kastration besteht nicht darin, einer Person das Genießen vorzuenthalten, sondern das Genießen zu multiplizieren und eine Art Reihe des Genießens hinzuzufügen. Dieser Prozess erweckt also ein geheimnisvolles Phantom42. Nicht Vollkommenheit wird festgehalten, sondern ein Sym41 Die oben beschriebenen camera kozô, deren Begehren einzig darin liegt, einen Nachwuchsstar abzulichten, eignen sich um das Band zwischen Phantasie und Perversion darzustellen. Derjenige, der den Apparat bedient, versucht den absoluten Schnapp-Schuss zu erzielen. Ein außergewöhnlicher Schnapp-Schuss, der durch seine Unmöglichkeit charakterisiert ist. Seine Bilder widersetzen sich der Norm, verlassen diese. Anders formuliert: Jemand, dessen Ziel es ist, all jenes festzuhalten, was die Intimität des begehrten, ausgewählten Objektes aufhebt, verlässt die Regeln der symbolischen Ordnung. Durch den Schnapp-Schuss des camera kozô entreißt dieser seinem Objekt die Intimität und definiert dadurch seine Perversität. Die Voraussetzung, dass dieser Mechanismus funktioniert, ist die symbolische Ordnung. Ohne diese Ordnung geht der Reiz verloren. Die camera kozô versuchen also ein ultimatives Bild festzuhalten. Dabei handelt es sich um ein Bild, welches ihr ausgewähltes Objekt der Begierde in seiner Vollkommenheit festhält. Ist die Vollkommenheit aber festzuhalten? Nein. Wenn ein Otaku wählt zu fallen, also seinem Begehren nachzugeben, anstatt der jouissance (Genießen) zu widerstehen, ist das, was er verliert eben genau diese jouissance. Anders: Würde das ultimative Bild gelingen, wäre das Genießen erreicht, aber gleichzeitig das Begehren erloschen. 42 Diese ist ein Beispiel für das Funktionieren des Phallus als Signifikant der Kas-

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bol und dieses Symbol weist den Weg zu einem anderen Raum. Oder um die eingangs erwähnte Formulierung zu strapazieren: Der Raum der Entscheidung wird erschlossen. Žižek selbst besteht auf der Struktur der Kastration. Diese will dem Menschen nicht Erfahrungen vorenthalten, sondern fügt eine Reihe von potenziellen, nicht-existierenden Erfahrungen hinzu. Die aktuell erreichten Einsichten werden urplötzlich als mangelhaft und unbefriedigend betrachtet.

Der unmögliche Blick In der Darstellung der zeitlichen Schleife beinhaltet die phantasmatische Narration immer einen unmöglichen Blick43 und hierin manifestiert sich der fünfte Schleier. Angenommen wird jener Blick, durch welchen das Subjekt gänzlich im Akt seiner eigenen Vorstellung gefangen ist. Bei Phantasien handelt es sich um Re-Narrationen, die auch als eine Wiederarrangierung einer Geschichte verstanden werden können. Der unmögliche Blick bezeichnet einen Blick, der sich »fälschlicherweise von seiner historischen Existenz befreit« (Žižek 1999: 38). Eine Person befreit sich also dadurch von seiner tatsächlichen Verstrickung in einen Sachverhalt, Konflikt etc. Das weist darauf hin, dass viele Sachverhalte vor dem Hintergrund eines phantasmatischen Bildes arbeiten. Diese Sachverhalte konstituieren sich in und um das Subjekt. Der zentrale Aspekt des unmöglichen Blickes ist, dass das phantasmatische Bild das Individuum gefangen hält und eine zentrale Rolle einnimmt, wenn es, um beim erwähnten Beispiel zu bleiben, um eine Aussage von Kalkutta oder um die Arbeit von Mutter Teresa geht. Der unmögliche Blick, bezogen auf den Otakismus – wie von Barral, Bense, Beineix beschrieben –, könnte wie folgt erklärt werden: Die Otatration: Der Signifikant des Mangels verhindert, dass das Subjekt die Erfahrungen erreicht und lässt dabei das erwähnte Phantom erwachen. Vgl. hierzu auch die Geschichte von Patricia Highsmith in der Einleitung dieser Studie. 43 Das Wirken von Mutter Teresa ist ein passendes Beispiel für den unmöglichen Blick. Die Berichte über sie verlassen sich klar auf den »phantasmatischen Bild-Schirm einer Dritten Welt«. In den Beiträgen über diese Frau wurde die Stadt Kalkutta als eine Kloake dargestellt. Mutter Teresa zeigte den Armen, dass Hunger einen Weg der Erlösung darstelle. Darin steckt jedoch ein doppelter ›ideologischer Profit‹, da gerade dadurch die Armen daran gehindert wurden, ihre Situation zu politisieren. Doch dieses Bild von Kalkutta vor dem phantasmatischen Bild-Schirm einer Dritten Welt bot gleichzeitig der westlichen Welt eine Art Ersatz-Erlösung durch Spenden für Mutter Teresas karitative Aktivitäten. Das medial vermittelte Bild über Kalkutta operiert jedoch vor dem Hintergrund eines Bildes der Dritten Welt als eine Hölle auf Erden. Denn wer weiß schon, dass Kalkutta eine von Aktivität berstenden Stadt ist und sich etwa kulturell weit mehr entwickelt als Bombay – und das im Fall von Kalkutta mit einer erfolgreichen kommunistischen Regierung, welche ein ganzes Netzwerk von Sozialleistungen anbietet (vgl. Žižek 1999: 38).

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ku-Generation hat ein bestimmtes Bild über die Strukturen der japanischen Lebenswelt. Sie selbst ist in dieser Tradition – seiner symbolischen Ordnung – gefangen und eben die Regeln innerhalb der symbolischen Ordnung verbieten es, diese Tradition in Frage zu stellen (was übrigens nicht funktioniert). Bei der Otaku-Generation reift der Glaube, dass in Japan viele Dinge nicht möglich sind, die in anderen Ländern sehr wohl möglich sind. Der Otaku fühlt sich seiner Freiheit beraubt. Dies ist insofern paradox, als der Otaku vergisst, dass auf Grund dieser Strukturen in seinem Land Alternativen für eine individuelle Lebensbewältigung entstehen konnten, die vielfach genutzt werden. Anders ausgedrückt: Das traditionelle Japan, welches dem Kollektivismus verhaftet ist, fordert von seinen Bürgern ein konkretes Verhalten ein. Die Tradition verbietet bzw. verhindert – ähnlich wie in Kalkutta – eine Politisierung der Situation und somit das Verlassen dieser. Der zentrale Konflikt in Japan kann demnach nur zwischen dem traditionellen Teil der Bevölkerung und der technologisierten Bevölkerung stattfinden.

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Die inhärente Überschreitung Die Phantasie muss implizit, also eingeschlossen bleiben. Sie darf nicht operativ sein und muss eine »Distanz zu der expliziten symbolischen Textur einhalten, die von ihr unterstützt wird und als ihre inhärente Überscheitung funktioniert« (Žižek 1999: 39). Die Funktion einer Phantasie besteht also darin, die symbolische Ordnung zu ignorieren, nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie diese zu überwinden bzw. zu unterlaufen ist und in dieser Funktion liegt der Schleier Nummer sechs. Zwischen der »symbolischen Textur« und ihrem »phantasmatischen Hintergrund« öffnet sich eine »konstitutive Leerstelle«. Diese Leerstelle ist in allen Kunstwerken offensichtlich.

Abbildung 9: Venus von Milo44 44 Die Existenz der Leerstelle wird bei den Verstümmelungen der Venus von Milo offensichtlich. Kunst ist, selbst wenn sie ein organisches Ganzes ist, fragmentarisch, da sie auf einer Distanz gegenüber der Phantasie beruhe.

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PHANTASIE – PHANTASMA: DIE NIE ABGESCHLOSSENE INNENWELTSCHÖPFUNG »Der Trick des künstlerischen Erfolges besteht in der Fähigkeit des Künstlers, diesen Mangel in einen Vorteil zu verdrehen, das heißt die zentrale Leere und ihre Resonanz in den Elementen, die sie einkreisen, geschickt zu manipulieren« (Žižek, 1999: 39).

Erinnert sei an den Abschnitt zum Puppen-Otaku. Bedeutet die stete Weiterentwicklung des begehrten Objektes eines Otaku nicht genau den Versuch, die eben beschriebene Leerstelle zu füllen, also die perfekte Beziehung zu »(er-)leben«? Der Mangel wird in einen Vorteil verkehrt. Anders: Ich habe keine Beziehung, es ist mir auch zu anstrengend und in letzter Konsequenz zu unperfekt. Das Leben mit der Puppe kompensiert all diese offensichtlichen Nachteile und wandelt diese in einen Vorteil. Verkennen die Otakus in diesem Moment nicht, dass sie, sobald die Leerstelle gefüllt ist, ihr Objekt im wahrsten Sinne des Wortes verlieren? Die Strategie, die anzuwenden ist, um sich vor dem Verlust des Objekts zu schützen, kann nur in einem Schaffungsprozess liegen, denn nur durch diesen bleibt das Objekt lebend und spannend, gibt Widerworte (vgl. Bal 200245). Die Phantasie selbst ist eine ursprüngliche Lüge46, ein Schirm, der die fundamentale Unmöglichkeit maskiert.

Die Interaktion Wie aber interagiert ein öffentlicher Text, also ein symbolischer Text oder ein Gesetz mit seinem phantasmatischen Unterhalter? Sie interagieren durch eine leere Geste, die sich in dem Paradox wieder findet etwas zu wollen, was in jedem Fall notwendig ist. So zu tun, als ob es da eine freie Entscheidung gäbe, obwohl tatsächlich keine Freiheit besteht. Das Mittel

45 Im Besonderen Kapitel 1. 46 Ein Exempel für die ursprüngliche Lüge findet sich in dem Film Full Metal Jacket. Auf dem Helm eines Protagonisten steht born to kill und darüber ist das peace-Zeichen angebracht. Dieses Bild hält das Bewusstsein aufrecht, der Soldat verweigere sich einem bestimmten Einfluss (etwa dem Militär), ist also mit diesem nicht völlig ident (noch einmal anders: Es existiert der Glaube, dass daneben eine reine andere Person existiere). Indem der Soldat im Laufe des Filmes aber eben nicht vor dem Töten einer Person zurückschreckt, zeigt sich sehr deutlich, dass »die Anfrage des militärischen großen Anderen vollkommen erfolgreich war, er ist das vollständig ausgebildete militärische Subjekt« (Žižek 1999: 43). Dieses Beispiel zeigt zudem, dass es einen transideologischen Bereich gibt. Ohne die Referenz auf einen solchen transideologischen Kern wäre die Ideologie (Phantasma) nicht arbeitsfähig; und genau an dieser äußert sich die Überschreitung. »Die Lektion ist folglich klar: Eine ideologische Identifikation übt einen mächtigen Einfluss auf uns aus, besonders dann, wenn wir ein Bewusstsein aufrechterhalten, das uns sagt, wir wären mit diesem Einfluss nicht völlig identisch, dass es daneben noch eine reiche menschliche Person gibt« (ebd.).

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der Interaktion ist eine leere Geste. Unter einer leeren Geste wird ein Angebot verstanden, welches sich als solches verwirft47. Das Individuum muss etwas wollen, was in jedem Fall notwendig ist. Aber dem noch nicht genug. Das Individuum muss zudem so agieren als existiere eine freie Entscheidung, also schlicht den Anschein einer freien Entscheidung zu wahren, obwohl tatsächlich keine freie Entscheidung möglich ist. Genau dies entspricht der Vorstellung einer leeren symbolischen Geste, »einer Geste, eines Angebots, welches sich als Möglichkeit verwirft: Was die leere Geste offeriert, ist die Möglichkeit, das Unmögliche zu wählen, dasjenige, was unvermeidlich nicht passieren wird« (Žižek 1999: 54). Auf die Notwendigkeit der Unterstützung eines öffentlichen Textes durch seinen phantasmatischen Unterhalter wird hingewiesen, weil die Systeme verwundbar sind. Das Volksbegehren bzw. die Menschenrechte beinhalten etwa eine derartige leere Geste. Bei dem Volksbegehren handelt es sich im Gegensatz zur Volksabstimmung zwar um eine angebotene Wahlmöglichkeit, jedoch führt sie nicht notwendigerweise zum Durchsetzen des Volkswillens. Die ungeschriebene Regel sagt also, dass das Volk entscheidet. In Wirklichkeit liegt die Entscheidung jedoch nicht beim Volk. Aber wozu dienen derartige Regeln? Das System ist gezwungen, Wahlmöglichkeiten anzubieten und zu erlauben, die tatsächlich nie eintreten würden. Die Funktion einer ungeschriebenen Regel besteht präzise in der Verhinderung der Aktualisierung dieser angebotenen Wahlmöglichkeiten, die das System eben formal erlaubt. Die paradoxe Rolle der ungeschriebenen Regel hinsichtlich des expliziten öffentlichen Rechts besteht darin, dass sie zugleich überschreitend und zwingend ist. Die Phantasie benennt das ungeschriebene Rahmenwerk, welches dem Individuum mitteilt, wie es den Buchstaben des Gesetzes zu verstehen habe, und darin liegt ihr siebter Schleier.

Wer stiehlt die Phantasie? Menschen verlassen den Bereich der Phantasie und beginnen, sich jenseits des Begehrens im Gebiet des Triebes zu bewegen. Was bedeutet dies? Das Individuum betritt den Bereich des Triebes dann, wenn es die 47 Ein Beispiel für eine leere Geste liefert Bertolt Brechts Jasager. Im Jasager wird ein Junge aufgefordert, dem zuzustimmen, was selbstverständlich sein Schicksal sein wird. Im vorliegenden Fall geht es darum, den Jungen in eine Schlucht zu stürzen. Sein Lehrer erklärt ihm, dass es üblich sei, das Opfer zu fragen, ob es seinem Schicksal auch wirklich zustimme. Das Besondere daran ist, dass es für das Opfer ebenso üblich ist, ja zu sagen. »Jede Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft beinhaltet einen paradoxen Punkt, an welchem das Subjekt aus freien Stücken, als ein Resultat dieser Wahl, annehmen muss, was ihm ohnehin auferlegt ist (wir müssen alle unser Land, unsere Eltern lieben...)« (Žižek 1999: 53).

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Lücke der leeren Geste schließt und die Phantasie traversiert. Unter dieser Überschreitung ist zu verstehen, dass der Mensch den phantasmatischen Raum der ungeschriebenen Regel suspendiert und dadurch das Feld des Triebes betritt. Trieb bei Freud ist ein anderer Name für die radikale ontologische Schließung. Insofern ist der Trieb48 auch das Terrain, welches jenseits des Begehrens liegt. Der Ewigkeit des Triebs steht die der Endung des Begehrens gegenüber. Erinnert sei an den transzendentalen Schematismus der Phantasie, nach welchem der Phantasie eine Vermittlungsfunktion zukommt. Das Traversieren der Phantasie weist nun auf die aktive Zustimmung zur passiven Konfrontation mit dem Objekt a hin – unter der Umgehung genau dieser vermittelnden Rolle des Schirms der Phantasie. Die Konsequenz dieser Haltung ist logischerweise katastrophal: das System zerbröckelt. Was aber »wenn die Phantasie selbst, insoweit sie die Leere des Begehrens des Anderen schließt, die (falsche) Öffnung aufrechterhält, das heißt die Vorstellung, dass es da eine radikale Andersheit gibt, die unser Universum unvollständig macht? Und, konsequenterweise, was, wenn ›Traversieren der Phantasie‹ die Akzeptanz einer radikalen ontologischen Schließung beinhaltet? Der unüberbietbare Aspekt der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹, [...] ist der radikale Schluss, den diese Überlegung impliziert: der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ beipflichten und sie völlig annehmen heißt, dass wir völlig auf jede Öffnung verzichten, auf jeden Glauben an eine messianische Andersheit« (Žižek 1999: 59f).

Anders formuliert: Was, wenn die Phantasie das Individuum in die Irre führt und dieses durch sie an ein unvollständiges Universum glaubt? Denn erst das Unvollständige, das Lückenhafte, hält das Begehren in Bewegung, da der Glaube an ein vollständiges bzw. perfektes Universum das Genießen erst ermöglicht. Žižek insistiert darauf, eine klare Unterscheidung zwischen Begehren und Trieb zu treffen. Das Subjekt begehrt, und es begehrt, um das Genießen zu erlangen. Der Trieb hat jedoch nicht unmittelbar mit dem Begehren etwas zu tun. Insofern ist die Annahme falsch, dass der Trieb das Begehren vorantreibt. Der Trieb taucht erst 48 Der Trieb stellt Freud zufolge einen Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem und lässt sich allein durch eine Struktur der Repräsentation bestimmen: »anders zu verfahren hieße, gerade jene Grenzstellung des Triebes zugunsten eines Biologismus aufzugeben. Freud selbst schwankt zwischen zwei Auffassungen dieser Repräsentationsstruktur: einerseits, der Trieb sei »psychischer Repräsentant der aus dem Körperinneren stammenden, in die Seele gelangenden Reize«, andererseits wird der Trieb durch eine Vorstellung (genauer: Vorstellungsrepräsentanz) repräsentiert: »Ein Trieb kann nie Objekt des Bewusstseins werden, nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert. Er kann auch im Unbewussten nicht anders als durch die Vorstellung repräsentiert sein« (Weber 2000: 199f).

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dann auf, wenn das Begehren hinter dem Subjekt liegt und zwischen dem Begehren und dem Trieb liegt die Phantasie. Das Begehren betritt die Bühne in dem Moment, in dem der Trieb durch das Gesetz bzw. das Verbot gefangen wird. Die Phantasie ist jene Erzählung von diesem ursprünglichen Verlust, da sie den Verlauf seiner Wiederholung exponiert – das Erscheinen des Gesetzes. »In genau diesem Sinne ist die Phantasie der Schirm, welcher das Begehren vom Trieb separiert. Sie erzählt die Geschichte, die es dem Subjekt erlaubt, die Leere, um die der Trieb als der ursprüngliche Verlust des Begehrens zirkuliert, (miss)zuverstehen« (Žižek 1999: 62).

Die Phantasie bietet also einen Grund für die inhärente Sackgasse des Begehrens und in ihr wird eben jene Szene konstruiert, in der sich das uns vorenthaltene Genießen im Anderen konzentriert; und zwar einem Anderen der uns die Phantasie gestohlen hat. Die von Lacan entwickelte Theorie des Begehrens kann nur dann funktionieren, wenn das Begehren niemals erlischt. Das Subjekt glaubt an die Möglichkeit einer vollkommenen Existenz. Aber diese vollkommene Existenz existiert nicht im betroffenen Subjekt, sondern in einem Gegenüber. In diesem ortet eine Person die angestrebte Vollkommenheit. Daher ist die Phantasie auch ein Teil der Erzählung, ohne welche die Geschichte, die im Anderen erkannt wird, keine Vollkommenheit erreichen kann. Dies ist der Ursprung, für das Argument, dass der Mensch nach der Phantasie im Anderen strebe, und dass der Andere die Phantasie einer Person stehle. Der Unterschied zwischen Begehren und Trieb ist nicht zu ignorieren und Begehren ist eben kein Synonym für den Begriff Trieb. Die Opposition, Trieb versus Begehren, hat in der Opposition Wahrheit versus Wissen ein Pendant. Wahrheit und Wissen sind aufeinander bezogen wie Begehen und Trieb und dies bedeutet, dass sich der Analysand gegenüber dem Analytiker fortgesetzt im Unrecht befindet; doch diese Situation ist durchaus überwindbar. Daher ist der Unterschied zwischen der Konstruktion und ihrem Gegenpol der Interpretation hinzuzufügen. Das Paar Konstruktion und Interpretation korrespondiert mit dem Paar Wissen und Wahrheit. Interpretation zielt auf die Wahrheit des Subjekts des Begehrens ab, die Konstruktion erweist ein Wissen über den Trieb. Die Interpretation ist eine Geste, in der die intersubjektive Dialektik zwischen der (An)Erkenntnis des Analysanden und der des Interpreten-Analytiker eingebettet ist. Die Interpretation zielt auf den Effekt der Wahrheit ab und greift hierzu partikuläre Formationen des Unbewussten auf: einen Traum, ein Symptom, ein Versprechen. Vom Subjekt wird erwartet, dass es sich selbst in der Signifikation des Interpreten erkennt, ja, diese Interpretation

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sogar subjektiviert. Die Interpretation soll also als die eigene angenommen werden. Im Unterschied zur Interpretation hat die Konstruktion den Status eines Wissens, welches niemals subjektivierbar ist. Insofern ist es ihr auch nicht möglich durch ein Subjekt als Wahrheit über sich selbst angenommen zu werden. Bei der Interpretation ist demnach Wahrheit sehr wohl möglich, dieselbe Form der Wahrheit ist durch Konstruktion nicht erreichbar, da das Wissen der Konstruktion eben nicht subjektiviert werden kann.49 Zurück zur Interpretation. Was wollen andere mir, so die Frage des »che vuoi?«. Bei der Konstruktion handelt es sich um eine erläuternde logische Voraussetzung, die zwar nicht real stattgefunden hat, aber dennoch eine Notwendigkeit in der Existenz eines jeden Individuums bildet. Das Wissen darüber ist ein Wissen im Realen, eine Art acephalitisches nichtsubjektiviertes Wissen. Ein kopfloses Wissen, welches jedoch nicht an ein Subjekt gebunden ist. Das Wissen des Triebs, welches nie subjektiviert werden kann, nimmt in der Psychoanalyse die Form des Wissens über die fundamentale Phantasie an. Die raison d’être des Begehrens kann nicht mit der Realisation eines Zieles beantwortet werden. Vielmehr weist dies darauf hin, dass das Subjekt sich selbst als Begehren reproduziert. Begehren und jouissance, also Genießen, sind inhärent antagonistisch. Das Begehren muss am Laufen gehalten, als Begehren reproduziert werden. Das Ziel ist nicht das Erreichen des Begehrens. Die Verbindung zwischen dem Begehren und der jouissance stellt das Objekt a dar. Begehren und jouissance sind inkompatibel, und das Objekt a vermittelt zwischen den beiden Bereichen. »Das Objekt a ist nicht das, was wir begehren, auf das wir aus sind, sondern dasjenige, was unser Begehren in Gang setzt, im Sinne des formalen Rahmens, der unserem Begehren Konsistenz verleiht: Begehren ist natürlich metonymisch, es wechselt von einem ins andere Objekt; jedoch durch all diese Versetzungen behält es nichtsdestoweniger ein Minimum an formaler Konsistenz, eine Form phantasmatischer Charakteristika, die, wenn sie in ein positives Objekt versetzt werden, uns dieses Objekt begehren lassen – Objekt a als die Ursache des Begehrens ist nichts anderes, als der formale Rahmen der Konsistenz« (Žižek 1999: 73).

Die bisherigen Ausführungen unterstreichen die eingangs erwähnten Feststellung, dass Phantasie nicht der Realität entgegengesetzt ist, sondern diese Realität konstruiert. Was trennt die Wirklichkeit vom Reellen? 49 Interpretation steht zu Konstruktion wie Symptome zu Phantasie und dies verweist darauf, dass Symptome interpretiert, grundlegende Phantasien (re)konstruiert werden (vgl. Žižek 1999: 68).

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Schenken wir Žižeks Ausführungen Glauben, dann ist es jene Lücke, welche das Schöne vom Ekelerregenden separiert, genau jener Raum (Lücke), der die Wirklichkeit vom Realen trennt. Was die Wirklichkeit also konstruiert, ist jenes Medium an Idealisierung, welches das Subjekt benötigt, um den so genannten Horror des Realen überhaupt zu ertragen. Der Horror des Realen bezeichnet jenen Moment, in dem das Subjekt das wahre Gesicht seines Gegenübers erkennt. Als Beispiel für den Horror des Realen gilt die Vorstellung, dass ein begehrter Mensch, nachdem man das erste Mal mit ihm gesprochen hat, die gesetzten Erwartungen überhaupt nicht erfüllt; eben das radikale Gegenteil von dem ist, was man geglaubt hat in ihm/ihr zu erkennen. Durch eine direkte Konfrontation wird das Gegenüber oftmals entzaubert bzw. es entzaubert sich selbst. Ein anderes Beispiel wäre die Liebe zu einem Cyborg. Der Moment, in dem das Subjekt erkennt, dass er/sie eine Maschine liebt, würde genau jenen Moment markieren, in dem der Horror zu Tage tritt. Žižek versucht beständig zu zeigen, wie die Phantasie der Wirklichkeit dient, indem sie diese mehr oder weniger stützt. Zerfällt das phantasmatische System, so erleidet das Subjekt einen Wirklichkeitsverlust. Das Subjekt beginnt die Wirklichkeit als ein »irreales, albtraumartiges Universum ohne ontologische Begründung wahrzunehmen« (Žižek 1999: 76). Bei diesem Universum handelt es sich nicht um Phantasie, sondern um den letzten Rest von dem, was von der Wirklichkeit übrig bleibt.

Cyberspace und Psychoanalyse – Die diversen Medienwelten Ein- und Ausschluss sind allgemeine existenzielle Koordinaten des Raumes, auch des Cyberspace. Die Dichotomien Innen und Außen, das Eigene und das Fremde sind markante Konstanten. Will der Mensch nicht überrollt werden und lediglich reaktiv seine Grenzen bewahren, dann ist es eine Möglichkeit, neue Räume zu erschließen, in welchen er möglicherweise die Richtung umkehren und die traditionelle symbolische Ordnung umgehen kann. Die Subkultur der Otaku nutzt hierfür selbstredend den Cyberspace. Dieser neue Raum, der Freiheit und Abenteuer verspricht, wird kolonialisiert. Eigene Grenzen werden geschaffen, Orientierung kann gegeben werden, und der Menschen blickt dadurch durchaus hoffnungsvoll in die Zukunft (vgl. Rötzer 1997: 370). Das große Ideal, welches hinter der Cyberspace-Ideologie steckt, ist die Verkleinerung und die Homogenisierung der Gemeinschaften innerhalb dieses Raumes. Bei den Interpretationen über den Habitus der Otaku-Generation im Cyberspace stellt sich folgendes Problem: Die Argumentation-

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en über diesen speziellen phantasmatischen Raum, stammen (vielfach) von Personen, die selbst von diesem phantasmatischen Raum ausgeschlossen sind. Für die Betrachter gibt es nichts zu sehen und insofern nichts zu interpretieren. Der Otaku hingegen ist in seinem phantasmatischen Raum gefangen. Oder frei nach Žižek (1997: 81): Der phantasmatische Raum ist für ein nicht geblendetes Subjekt nicht erreichbar. Dies ist ein (meist ignoriertes) methodisches Problem. Der phantasmatische Raum – Exkurs Als aktuelles Beispiel – für eine Passage, welche in einen phantasmatischen Raum führt – sei das Sternentor aus der TV-Serie Stargate angeführt. Nachdem man in die sieben Symbole eindringt, beginnt der Ring als ein Sternentor zu fungieren, und man kann seine aktuelle raumzeitliche Dimension verlassen und in eine andere raum-zeitliche Dimension wechseln. Aber es ist nicht nur das Loch in einem Ring, das den Wechsel in der raum-zeitlichen Dimension ermöglicht. Žižek weist darauf hin, dass die phantasmatische Kapazität des Rahmens erst durch eine topologische Drehung funktioniert. Dabei handelt es sich um eine Drehung in sich selbst, die sich am besten durch das Heranziehen einer Theaterbühne zeigt. Bei einer Theaterbühne hat man vom Zuschauerplatz aus das Gefühl, im phantasmatischen Raum gefangen zu sein. Steht man jedoch hinter der Bühne, ist man von diesem Raum ausgeschlossen. Dieser Rahmen stellt das zentrale Dispositiv dar, welches es dem Subjekt ermöglicht, auf den »Schauplatz des Anderen zu blicken« und in einem Interface50 erkennt es die »letzte Materialisation« eines solchen Rahmens. Die Otaku-Generation hat einen solchen Rahmen gefunden – greift auf ein Interface zurück –, durch den hindurch sie mit dem virtuellen Universum kommuniziert. Einem Universum, das nirgends in der Realität gefunden werden kann und somit für den Betrachter – demjenigen ohne Schirm – befremdlich anmutet.

Cyberspace – Das Ende des Ödipus Die Vorstellung über den Cyberspace51 brachte verschiedene Standpunkte hervor. In diesem Kapitel werden jene Positionen aufgegriffen, denen 50 Als Interface wird die Schnittstelle zwischen einem System und seiner Umwelt oder zwischen zwei Systemen verstanden (vgl. Diemers 2002). Für Sloterdijk ist es der charakteristischste neue Ort in der innovierten Medienwelt. Es bezeichnet nicht mehr »den Begegnungsraum zwischen Gesichtern [...], sondern den Kontaktpunkt zwischen Gesicht und Nicht-Gesicht oder zwischen zwei Nicht-Gesichtern« (Sloterdijk 2000: 193). 51 Der Begriff Cyberspace hat viele Beschreibungen erfahren. Einen Ausgangspunkt lieferte die Cyberpunk-Literatur und hier im Besonderen William Gibson. »Cyberspace. Eine konsensuale Halluzination, die täglich von Milliarden

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Žižek eine zentrale Rolle zuspricht.52 Vor dem Hintergrund einer psychoanalytischen Interpretation wird argumentiert, dass durch die Interaktionen, die eine Person im Cyberspace erlebt, das Ende des Ödipus eingetreten ist. Im Cyberspace wird der Modus der Subjektivierung, also jener Vorgang, den die Psychoanalyse als Ödipuskomplex und dessen Auflösung bezeichnet, außer Kraft gesetzt. Wie dies jedoch wahrgenommen wird, hängt von den verschiedenen theoretischen Standpunkten ab. Die Theoretiker des ersten Standpunktes (etwa Virilio und Baudrillard) gehen davon aus, dass die Individuen ihre kritisch/reflexive Einstellung im Cyberspace verlieren. Der Computer avanciert zu einem mütterlichen Ding, welches den Menschen mehr oder weniger schluckt. Das Subjekt regrediere zu einer »Haltung inzestuöser Verschmelzung« (Žižek 1999b: 228). Ein Beispiel hierfür sind Personen, die obsessiv einem Computerspiel verfallen und in Folge dessen, nicht mehr zwischen dem Realen und dem Imaginären unterscheiden können. Mit der Zeit würden diese dazu tendieren, ihre realen gesellschaftlichen Interventionen als ein Cyberspacespiel zu empfinden. In diesem Zusammenhang sind zwei Begriffe zentral: Erscheinung und Simulakrum. Eine Erscheinung ist eine übersinnliche Energie, die ausgestrahlt wird (Gott in einer Pflanze oder einem Gesichtsausdruck). Im Gegensatz zur Erscheinung fehlt dem Simulakrum diese Energie. Es lässt sich zwar nicht vom Wirklichen unterscheiden, doch findet sich beim Simulakrum keine transzendentale Dimension. Hierauf beruht auch das grundlegende Problem von Cyberspace und virtueller Realität. Die virtuelle Realität bedrohe eben nicht die sich in den Simulakren auflösende Realität an sich. Sie bedroht die Erscheinung selbst. Nach Lacan ist das Simulakrum imaginär, da es die von Benutzern erfahren wird, in jeder Nation von Kindern, denen mathematische Konzepte beigebracht werden ... Eine grafische Repräsentation von Daten, die aus den Speicherzellen aller Computer des menschlichen Systems abstrahiert werden. Undenkbare Komplexität. Linien aus Licht, die sich in den Nicht-Ort des Gehirns erstrecken, Cluster und Konstellationen von Daten. Wie die Lichter einer Stadt« (Gibson zit. n. Diemers 2002: 25). Ausgehend von der literarischen Definition Gibsons wurden viele Versuche unternommen, Cyberspace zu definieren. Wenn in dieser Studie der Begriff Cyberspace verwendet wird, so orientiert sich dieser an Gibson. Die totale Immersion und die vollständige Simulation der Sinne wie sie bei Gibson auftaucht, ist ein Aspekt, der vor dem Hintergrund des Otakismus bedeutsam wird. Eine vollständige Integration des Cyberspace in das alltägliche Leben ist für Otakus selbstverständlich, ebenso wie ein Leben ohne Virtualität unmöglich ist. Zusammenfassend verweist der Begriff des Cyberspace auf einen Cluster von verschiedenen Technologien und betont, in Anlehnung an Bruce Sterling, den Aspekt der Simulation einer Umgebung in denen der Mensch interagieren kann. 52 Der Rückgriff auf die von Žižek angeführten Konzepte ist natürlich problematisch insofern, als dadurch eine massive Verknappung der Cyberspace-Debatte stattfindet. Ich halte dennoch an den Konzepten fest, da dadurch die Argumentation von Žižek intersubjektiviert werden soll. Dennoch ist mir bewusst, dass die Kritik an Žižeks Ausführungen vor allem auf Basis der mangelnden Aktualität seiner Argumente stattzufinden hat.

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direkte Faszination durch Bilder bezeichnet. Dem Gegenüber steht die Erscheinung, welche symbolisch ist »und damit die Ordnung der symbolischen Fiktionen bezeichnet« (Žižek 1999b: 229). Entscheidend ist die Weise des Verbunden-Seins der drei Dimensionen des Realen, des Symbolischen und des Imaginären. Nämlich in einer Art und Weise, dass der Abstand zwischen zwei von ihnen durch den jeweils dritten aufrechterhalten wird. Löst sich jedoch die Dimension der symbolischen Erscheinung auf, so lassen sich das Imaginäre und das Reale zusehends weniger voneinander unterscheiden. Der Verlust des Symbolischen lässt die Unterscheidbarkeit zwischen Imaginär und Real zerbröckeln. Was aber bedeutet dieser Verlust konkret? Für Lacan ist das Symbolische eine Gabe. Das Kind empfängt es zuerst von der Mutter und diese wird dadurch zum ersten Repräsentanten des Anderen. Des Weiteren gäbe es ohne das Symbolische weder Wahrheit noch Lüge. Der Andere ist auch der Ort der Wahrheit (vgl. Widmer 1997: 45) und einher mit dem Verlust des Symbolischen wird die Wahrheit ausgelöscht.53 Diejenigen Theoretiker, die für den zweiten Standpunkt einstehen, heben das befreiende Potenzial des Cyberspace hervor. Im Cyberspace würde, so Sherry Turkle oder Sandy Stone, eine Person sich Zugang zur Domäne sich wandelnder multipler sexueller und sozialer Identitäten verschaffen und sich dadurch, zumindest potenziell, aus der Umklammerung durch das patriarchalische Gesetz befreien (vgl. Žižek 1999b: 230). Im Cyberspace ist der Mensch gezwungen, sich jeder festgelegten symbolischen Identität zu entsagen. Diese Position löst das cartesianische Cogito als einzigartige Denksubstanz auf. Für Theoretiker des zweiten Standpunktes sind Autoren, welche an der ersten Position festhalten, insofern unfähig, als sie keine Alternative zum Ödipus zu denken vermögen. Michel Foucault zeigte, dass sich die juristische ge- und verbietende Matrix der Macht, welche der ödipalen Funktionsweise der Sexualität zu Grunde liegt, auf dem Rückzug befindet. Der Mensch gewann an Freiheit und innerhalb des Cyberspace hat er nun zumindest die Aussicht zwischen verschiedenen sozio-symbolischen sexuellen Identitäten hin- und herzuwechseln und sich als ein eigenes ästhetisches Œeuvre zu konstituieren. Somit existiert eine Perspektive zur ästhetischen Selbstschöpfung, und der Mensch ist von seinen letzten biologischen Fesseln befreit. Dies ist die Fähigkeit des Menschen, sein Selbst eigenständig zu entwerfen und sich im Strom sich wandelnder Identitäten treiben zu lassen. Sherry Turkle unterstreicht in ihrem Buch Leben im Netz die Vorteile, welche der

53 Der Schlüssel zu den Simulakren beruht auf der Reduzierung der symbolischen Wirksamkeit. Pornografie zeigt alles (also den wirklichen Sex) Simulakrum. Die Verführung besteht aus einem Spiel der Erscheinungen und Andeutungen. Dadurch wird etwas Erhabenes, Übersinnliches evoziert Erscheinung.

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Anonymität inhärent sind54. Gerade diese Anonymität verleiht eine Freiheit, die es dem Individuum (etwa einem Nutzer des MUD55) erlaubt, »unerforschte Aspekte seines Selbst zum Ausdruck zu bringen, mit seiner Identität zu spielen und neue Identitäten auszuprobieren« (Turkle 1999: 14). Als dritter Standpunkt existiert jene Interpretation, nach welcher ein Konnex zwischen Cyberspace und dem Ende des Ödipus nicht existiere. Diese Position betont genau das Gegenteil, nämlich die Kontinuität des ödipalen Modus der Subjektivierung im Cyberspace. Im Cyberspace werde dabei die fundamentale ödipale Struktur einer intervenierenden Dritten Ordnung aufrechterhalten. Diese intervenierende dritte Ordnung nimmt die Funktion einer Vermittlungsinstanz ein und als solche lässt sie das Begehren des Menschen nicht erlöschen. Zugleich agiert sie jedoch als Agent des Verbots, welcher die vollständige Befriedigung verhindert. Jedes erreichbare Objekt wird somit zu einem Ersatz für das wahre, das unmögliche Objekt. Der Raum des Cyberspace beruht eben nicht lediglich auf dem elementaren Dispositiv des symbolischen Gesetzes, welches die Menschen selbst installieren. Dieses symbolische Gesetz wird auch für die Alltagserfahrungen »(er-)fassbar«. Die Bedingungen des alltäglichen Surfens oder die Beteiligung an virtuellen Gemeinschaften sind 54 »Zum Beispiel bietet der Computer Hackern etwas, wonach sich viele von uns sehnen. Die Hysterie mit ihren Ursachen in der sexuellen Unterdrückung war die Neurose zu Freuds Zeiten. Heute leiden wir nicht weniger, aber anders. In unserer Furcht, allein zu sein, verbunden mit der Angst vor Intimität, erleben wir ein weitverbreitetes Gefühl der Leere, der Abgetrenntheit, der Unwirklichkeit des Selbst. Und da bietet der Computer, der Begleiter ohne Gefühle, einen Kompromiss. Man kann Einzelgänger sein, ohne je allein zu bleiben. Man kann kommunizieren, ohne sich verwundbar zu machen« (Turkle 1986: 380). 55 Die Abkürzung MUD steht für Multi-User-Domain. Das MUD wird als eine virtuelle Welt, welche nur über ein Netzwerk zugänglich ist und in der die Teilnehmer eine beliebige Identität annehmen können, beschrieben (vgl. Diemers 2002: 69). Für Sherry Turkle sind MUDs nicht nur Orte, an denen das Selbst eine multiple Identität entfaltet und dadurch die Sprache erschaffen wird. Für sie sind es auch »Sphären, in denen Menschen und Maschinen in eine neue Beziehung zueinander eintreten, gar miteinander verwechselt werden können« (Turkle 1999: 22). MUD steht also als Sammelbegriff für im Internet gespielte Spiele. Im Gegensatz zu anderen Computerspielen steht der Aspekt der Reziprozität im Vordergrund. Als Beispiel ist Counter-Strike zu nennen. Di eses Spiel war lange Zeit das meist gespielte MUD im Internet. »MUDs sind also eine neue Art von virtuellem Gesellschaftsspiel und eine neue Form von Gemeinschaft. Zudem sind textgestützte MUDs eine neue Form von kollektiv geschriebener Literatur. MUD-Spieler sind gleichzeitig MUD-Autoren, also Schöpfer und Konsumenten von Medieninhalten in einem. In dieser Hinsicht hat das Mitspielen in einem MUD sehr viel Ähnlichkeit mit dem Drehbuchschreiben, der darstellenden Kunst, dem Straßentheater, dem Improvisationstheater, ja sogar der Commedia dell’arte« (ebd.: 13). MUDs sind insofern noch viel mehr, als dass die Mitspieler auch Schöpfer ihrer Identität sind. Durch soziale Interaktion entwerfen sie also ein neues Selbst. »MUDs sind Welten anonymer sozialer Interaktion, in denen man eine Rolle spielen kann, die dem wahren Selbst so nah oder so fern ist, wie man es möchte« (ebd.).

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Beispiele hierfür. Dabei besteht konsequent eine Kluft zwischen dem Subjekt des Aussagens (das anonyme X, welches etwas tut oder spricht) und dem Subjekt der Aussage (die symbolische Identität, welche ein Individuum im Cyberspace annimmt bzw. die sich erfinden lässt). Die Identität im Cyberspace wird nie von einem Signifikanten markiert, der ich selbst bin, und dieser Umstand betrifft ebenso den CyberspacePartner. Man kann sich also nie sicher sein, ob dieser tatsächlich so ist, wie er/sie sich beschreibt. Ob sich hinter der screen persona eine oder gar mehrere wirkliche Personen verbergen und ob diese wirkliche Person nicht mehrere Bildschirmidentitäten besitzt und manipuliert? Oder ob das Individuum es einfach mit einer digitalisierten Entität zu tun hat, die für keine reale Person steht? Insofern bleibt der Cyberspace-Partner immer ein Rätsel »jenseits der Mauer der Sprache und verweigert die Antwort auf die Frage des che vuoi?« (Žižek 1999b: 233). Unbestritten, der Computer verändert(e) den Alltag der Menschen. Wie aber affiziert er die alltägliche hermeneutische Erfahrung des Menschen? Die Erfahrung basiert nach Žižek auf drei Unterscheidungssträngen bzw. Grenzen und alle drei werden gegenwärtig durch Medientechnologien, also auch den Computer, bedroht. Die Grenzen finden statt zwischen 1. 2. 3.

wahrem Leben und seiner mechanischen Simulation, objektiver Realität und der falschen illusorischen Wahrnehmung dieser, den fließenden Affekten, Gefühlen, Haltungen etc. und dem zurückbleibenden harten Kern des Selbst;

ad 1. Die bedrohte Grenze zwischen wahrem Leben und seiner mechanischen Simulation ist eigentlich nichts Neues.56 Ein Beispiel für die angesprochene Bedrohung findet sich im Feld der Techno-Biologie, da diese den Unterschied zwischen der natürlichen Lebensrealität und der artifiziell generierten Realität unterminiert. Die alltägliche hermeneutische Erfahrung wird unterwandert und zwar dadurch, dass die Technologie nicht mehr länger die Natur imitiert bzw. simuliert, sondern den zu Grunde liegenden Mechanismus ans Licht bringt, der diese generiert. Die natürliche

56 Thematisiert wird sie etwa im Diskurs der Kybernetik, der Prothesentheorie und der Extropianer. Extropianer werden gemeinhin als Transhumanisten bezeichnet. Die Vision von der digitalen Evolution des Lebens ist Kern ihrer Philosophie. Die Aufgabe von Göttern in religiösen Systemen übertragen Extropianer der Technik.

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Realität wird also zu etwas Simuliertem und das einzige Reale ist die tiefer liegende Struktur der DNA.57 ad 2. Eine bedrohte Grenze zwischen objektiver Realität und der falschen illusorischen Wahrnehmung dieser beruht darauf, dass die virtuelle Realität den Unterschied zwischen dem Reellen und dem Anschein unterwandert. Der angesprochene Realitätsverlust ereignet sich jedoch keineswegs nur in der computergenerierten virtual reality »sondern auch, auf elementarer Ebenen, mit dem Wachsen des Hyperrealismus der Bilder, mit denen uns die Medien bombardieren – mehr und mehr erkennen wir nur Farbe und Silhouette, nicht länger Tiefe und Volumen« (Žižek 1997: 95).58 ad 3. Was ist nun unter der bedrohten Grenze zwischen den fließenden Affekten, Gefühlen, Haltungen etc. und dem zurückbleibenden harten Kern des Selbst zu verstehen? Die gängigen theoretischen Annahmen über den Cyberspace basieren darauf, dass im Cyberspace das dezentrierte Subjekt offensichtlich wieder belebt werde. Durch das Spiel lerne das Subjekt, die konkurrierenden Agenten des Selbst in ein kollektives Bewusstsein zusammenzuführen und vom pathologischen Trauma zu lösen. »In virtuellen Räumen spielen, ermöglicht es mir, neue Aspekte von mir zu entdecken,59 einen Reichtum der wechselnden Identitäten, von Masken ohne reale Person dahinter und somit die ideologischen Produktionsmechanismen die immanente Gewalt und Arbitrarität dieser Produktion/Konstruktion zu erfahren« (Žižek 1997: 96).

57 Vgl. des Weiteren den Abschnitt Technologien des Lebens. In: Castells (2000: 59ff). 58 Žižek lehnt sich an Paul Virilios Schrift Die Eroberung des Körpers an. »Ohne visuelle Grenzen kein oder beinahe kein geistiges Vorstellungsvermögen mehr, ohne eine gewisse Blindheit keine dauerhafte Erscheinung« (Virilio zitiert nach Žižek 1999: 95). Zu erwähnen sind in diesem Kontext auch Lacans Ausführungen zum Blickregime (vgl. hierzu vor allem Silverman). Beim Blickregime wird ein besonderer Umstand thematisiert. Lacan ging davon aus, dass ohne »einen blinden Fleck im Feld der Anschauung, ohne diesen schwer definierbaren Punkt, von dem aus das Objekt den Blick erwidert« (ebd.), kann ein Subjekt nicht länger etwas sehen, »das heißt, das Feld der Anschauung wird auf eine flache Oberfläche reduziert und die Realität selbst als visuelle Halluzination wahrgenommen« (ebd.). 59 Bei den neuen Aspekten seiner Selbst denkt man wohl zuerst an die Rollenspiele. Für die Otaku-Generation gilt, dass sie diese neuen Aspekte ihrer Selbst (zumindest teilweise) wohl bereits gefunden hat, und es nunmehr darum geht, diese neuen Aspekte in ihre Lebenssituation zu verankern.

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Obwohl verschiedene Theoretiker im Diskurs des Cyberspace ein dezentriertes Subjekt60 erkennen, welches nun die Möglichkeit hat, verschiedene Facetten seiner Persönlichkeit zu entdecken und zusammenzuführen, konstatiert Žižek ein zentrales Manko: Nämlich den Verlust der Oberfläche. Durch die Konfrontation mit virtuellen Realitäten und Technologien trete ein Verlust der Oberfläche ein, welcher das Innen vom Außen separiert und dies gefährdet die elementarste Wahrnehmung des eigenen Körpers in Beziehung zu seiner Umgebung. In Aussicht steht also, dass der Mensch seine Begründung in der konkreten Lebenswelt zunehmend verlieren wird. Sprich: Das grundlegende Koordinatensystem, welches seine »(Selbst-)Erfahrung« determiniere (zum Beispiel die Oberfläche, die das Innen vom Außen trennt) ginge verloren. Der Mensch sei entgleist und folge seinen Trieben exzessiv, weit über »natürliche« (instinktive) Befriedigung hinaus. Und eben dieser »Exzess des Triebs muss durch eine ›zweite Natur‹ (vom Menschen hervorgebrachte Institutionen und Strukturen) ›veredelt‹ werden« (Žižek 1997: 98). Das Individuum ist nie mit reinen Bedürfnissen konfrontiert, sondern die Bedürfnisse sind stets durch kulturelle Prozesse vermittelt. Die Funktion, die der Arbeit der Kultur zukomme, ist, die verlorene Stütze der natürlichen Bedürfnisse zu reinstallieren. Also eine zweite Natur zu rekreieren als Wiedergutmachung für den verlorenen Unterhalt der ersten Natur.

Nähe versus Distanz Gegenüber Bildschirmhelden halten wir auf der einen Seite die Distanz aufrecht, da der Mensch weiß, dass er nicht die Stärke, Schönheit seines Helden besitzt. Dennoch genießt man die Zeit, in der er sein Selbst vergisst und sich sprichwörtlich vom Alltag befreit. Der Bildschirmheld hat aber noch eine zweite Seite. Er ist mehr »Ichselbst als meine Alltagspersönlichkeit (mein offizielles Selbst-Bild) insoweit er sichtbare Aspekte meines Ichs wiedergibt, von denen ich nicht wagen würde, sie im realen Leben zuzugeben« (Žižek 1997: 101).61 Die Seiten Distanz zu einem Helden und das Selbst einer Person sind unentwirrbar ineinander ver-

60 Über das so genannte dezentralisierte Subjekt schreibt Sherry Turkle: »Der Computer setzt da an, wo die Psychoanalyse aufgehört hat. Er greift die Vorstellung von einem dezentralisierten Selbst auf und macht sie konkreter, indem er ein Modell vom Geist als einer Maschine mit Mehrprozessorensystem entwirft« (Turkle 1986: 383). 61 Auf diesen Umstand stößt man durchaus in verschiedenen Beiträgen über den Otakismus (etwa Bense 2000). Die Otaku-Generation glaubt mehr an die Figur im Netz als an sich selbst. Dort sind sie mehr sie selbst als sie es in der reellen Welt je sein können. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich Menschen mehr und mehr Zeit mit dem virtuellen Ich beschäftigen. Es bietet schlicht mehr Perspektiven (scheinbar).

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schlungen und insofern erlaubt das Ausleben eines Phantasieszenarios in der virtuellen Realität dem Menschen, die Sackgasse der Dialektik des Begehrens und seiner inhärenten Zurückweisung zu umgehen.62 Der entscheidende Punkt ist, dass in einer Situation der virtuellen Realität der Mensch etwas tatsächlich tun und ausleben kann, ohne die Handlung wirklich zu vollziehen.63 Dadurch kann die Besorgnis, die im realen Leben damit verbunden ist, vermieden werden. Das Handeln unterliegt einem Wissen, dass dieses Handeln nicht wirklich geschieht. Dadurch suspendieren sich die Hemmungen und die Scham. Im realen Leben ist der Mensch, Turkle folgend, mit zwei Prozeduren konfrontiert: Mit dem Ausagieren und dem Durcharbeiten von bestimmten Situationen. Man könne der eskapistischen Logik folgen und die Schwierigkeiten, die im realen Leben auftauchen, in der virtuellen Realität ausagieren. Oder der Mensch kann die virtuelle Realität dazu benutzen, der Inkonsistenz sowie der Multiplizität der Komponenten seiner subjektiven Identifikation64 bewusst zu werden und diese auch durchzuarbeiten. Greift der Mensch auf die zweite Variante zurück, dann funktioniert das Interface entsprechend des Psychoanalytikers. Dem Gegenüber steht das ELIZA-Programm von Joseph Weizenbaum. ELIZA war so angelegt, dass es sich selbst als Psychotherapeut vorstellte. Weizenbaum glaubte, dass die leicht erkennbaren Beschränkungen von ELIZA die Benutzer davon abhalten würden, sich ganz auf das Programm einzulassen. Dem war jedoch nicht so. »Selbst User, die wussten und verstanden, dass ELIZA nicht wissen und nicht verstehen konnte, wollten sich dem Programm anvertrauen« (Turkle 62 »Wenn ein Mann eine Frau mit flirtenden Versprechungen über seine sexuellen Vorzüge, die er ihr zuteil werden lassen will, bombardiert, ist die beste Antwort für sie ›Halt den Mund oder Du wirst es wirklich tun müssen!‹« (Žižek 1999: 102). 63 Vgl. hierzu weiters Turkle (1986: 380). 64 Zum besseren Verständnis ist auf die Unterscheidung zwischen ProjektionsIdentifikation und symbolischer Identifikation hinzuweisen. Die symbolische Identifikation bestehe in der Annahme, dass eine Maske existiert, die realer und unverbindlicher ist als das wahre Gesicht, welches sich dahinter verbirgt. Dies basiert auf der Idee, dass die menschliche Simulation, die Simulation der Simulation selbst ist. Der Unterschied zwischen imaginärer und symbolischer Täuschung besteht schlicht darin, dass sich in der imaginären Täuschung das Subjekt ein falsches Bild seiner selbst macht. In der symbolischen Täuschung wird ein wahres Bild präsentiert, jedoch mit der Hoffnung, dass es als Lüge aufgefasst werde. In Situationen der virtuellen Realität stößt das Individuum sowohl auf die imaginäre als auch auf die symbolische Täuschung. Eine imaginäre Täuschung findet zum Beispiel dann statt, wenn ein Mensch in der virtuellen Realität eine Rolle einnimmt, die er im normalen Leben nicht fähig ist einzunehmen (zum Beispiel kann eine introvertierte, schüchterne Person in der virtuellen Realität die Rolle eines Machos, also seines Gegenparts einnehmen). Bei der symbolischen Täuschung wird mittels der Gestalt eines Spieles die Wahrheit über das Subjekt eröffnet. Etwa kann durch das Einnehmen der Rolle einer aggressiven Person die eigene Aggressivität auf diese übertragen werden.

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PHANTASIE – PHANTASMA: DIE NIE ABGESCHLOSSENE INNENWELTSCHÖPFUNG

1999: 165). Aus dem regen Interesse der Menschen, sich mit ELIZA zu unterhalten, folgerte Weizenbaum, dass diese den Kontakt zu dem verloren haben, was letztlich das spezifisch Menschliche ausmacht. Diese Annahme sieht Turkle nicht bestätigt. Sie argumentiert, dass die Menschen ELIZA viel eher mit einem Tagebuch oder einem Spiegel vergleichen. Die Suspension der symbolischen Regeln, welche den Alltag regulieren, ermöglichen verdrängte Inhalte zu zeigen bzw. diese zu externalisieren. Dazu wäre der Mensch anders nicht in der Lage. Die Akzeptanz des Inhalts der virtuellen Realität basiert stark auf dessen offensichtlicher Nichtexistenz. Dabei stößt man auf eine Akzeptanz durch die offensichtliche Verleugnung des Inhalts. Diese Verleugnung taucht zum Beispiel in der Rechtfertigung für die so genannten Ballerspiele auf. In diesen ist es unrelevant, ob im Spiel Menschen getötet werden oder nicht, denn das Töten ist nicht real. Dasselbe Argument greifen die Produzenten und eine Vielzahl von Medienpädagogen auf. Hier wird in weiterer Folge verkündet, dass die Konsumenten wissen, dass es sich lediglich um ein Spiel handle. Wagt man ein Experiment und transformiert Verhältnisse des Cyberspace auf das gesellschaftliche Leben, so stoßen wir auf dieselbe Ambiguität. Auf der einen Seite steht der Wunsch nach der Erschaffung eines transparenten politischen Systems. Auf der anderen Seite »folgt aus der Verwendung von Computern und VR als Werkzeuge, um eine Gemeinschaft wieder herzustellen, die Errichtung einer Gemeinschaft in der Maschine, reduziert Individuen auf isolierte Monaden, jedes für sich allein, vor einem Computer, völlig unsicher, ob die Person, mit der sie oder er über den Schirm kommuniziert, eine ›reale‹ Person, eine falsche Maske, ein Agent, der eine Anzahl realer Personen kombiniert, oder ein computerisiertes Programm ist ... Nochmals – die Ambiguität ist irreduzibel« (Žižek 1999: 104).

Tatsächlich taucht jedoch die Frage auf, ob eine virtuelle Gemeinschaft, eine wirkliche Gemeinschaft ist. »Ja und nein. Sie sind Gemeinschaften, aber keine physischen, und sie folgen nicht denselben Mustern von Kommunikation und Interaktion wie physische Gemeinschaften. Aber sie sind nicht ›unwirklich‹, sie funktionieren vielmehr auf einer anderen Wirklichkeitsebene. Sie sind interpersonelle Sozialnetzwerke, die zumeist auf schwachen Verbindungen beruhen, hochgradig diversifiziert und spezialisiert sind, es aber immer noch schaffen, durch die Dynamik anhaltender Interaktion Gegenseitigkeit und Unterstützung hervorzubringen. In der Formulierung von Wellman sind sie nicht Imitate anderer Lebensformen, sondern haben ihre eigene Dynamik: Das Netz ist das Netz« (Castells 2001: 410).

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Zwischenbetrachtung Beim Versuch, den Cyberspace als Bereitstellung eines lebensechten, realistischen Lebensraumes darzustellen, konzentrieren sich dekonstruktivistische Cyberspace-Theoretikerinnen (wie Turkle oder Stone) auf die Frage, wie der Mensch im Cyberspace dezentralisiert wird. Sie nähern sich dieser Frage über die Beziehungen zwischen den Multiple User Domains (MUD) und dem Posttraumatischen Multiple Personality Disorder (MPD). Es existieren vier Variationen des Verhältnisses zwischen dem Selbst und seinem Körper. Diese attackieren die »moralisch-legale Norm von einer Person in seinem Körper« (Žižek 1999: 106f). x Viele Personen in einer Einzelperson (Pathologie des MPD). Diese Version ist pathologisch, da keinerlei klare Hierarchie zwischen der Pluralität einer Person existiert. Sprich: Nicht eine Einzelperson garantiert die Einheit des Subjekts. x Viele Personen außerhalb eines Einzelkörpers (MUD im Cyberspace). Diese »Personen referieren auf den Körper, der außerhalb des Körpers, im Cyberspace in der Realität, existiert, mit der (ideologischen) Voraussetzung, dass diese Körper eine wahre Person hinter den multiplen Masken (screen personae) in der VR beherbergt« (Žižek 1999: 107). x Viele Körper in einer Einzelperson. Hier stößt man wieder auf eine pathologische Tendenz. Diese Variation ist insofern pathologisch, als sich viele Körper mit einer kollektiven Person verbinden und so die Vorstellung, ein Körper entspreche einer Person, zerstört wird.65 x Viele Körper außerhalb einer Einzelperson – diese Variation thematisiert das gängige Verhalten gegenüber Institutionen. Anders: Menschen sagen sich, diese Institution will das, obwohl sie genau wissen, dass diese Institution keine Person mit eigenem Willen ist, sondern eine symbolische Fiktion. Die Grenze zwischen pathologisch und normal sollte nicht vorschnell dekonstruiert werden. Warum? Der Unterschied zwischen dem an MPD66 leidenden Menschen, und jenem, der im MUD spiele, ist nicht in dem Umstand zu suchen, dass etwa in MUD ein letzter Rest des Menschen in der Realität verankert bleibt. Im Gegenteil: Der Mensch, der an MPD leidet, ist viel eher zu fest in der wahren Realität verankert. Diesem Menschen fehlt das Fehlen selbst, also 65 Das Axiom, ein Körper, ein Selbst, wird zum Beispiel bei Aliens oder in der Situation der Hypnose zerstört. 66 Zur Erinnerung: MPD steht für Posttraumatischen Multiple Personality Disorder.

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PHANTASIE – PHANTASMA: DIE NIE ABGESCHLOSSENE INNENWELTSCHÖPFUNG »die Leere, die für die konstitutive Dimension der Subjektivität zählt. Das bedeutet, die am Schirm veräußerten ›multiplen Selbste‹ sind ›was ich sein möchte‹, die Art, in der ich mich selbst sehen möchte, Figurationen meines Ideal-Ich; als solche sind sie wie die Schalen der Zwiebel: mit nichts in ihrer Mitte, und das Subjekt ist dieses ›Nichts‹ selbst« (ebd.: 108).

Žižek betrachtet das Subjekt als leeres Band, welches den Wechsel, den Sprung, von einer Identifikation zur nächsten ermöglicht. Das Gleiten bzw. Wechseln von einer Identifikation in eine andere erfordert die Lücke zwischen der Identifikation als solcher und dem gebarrten Subjekt ($67). Wenn sich ein Subjekt dem Cyberspace hingibt, kann es seine körperlichen Erfahrungen zwar einerseits intensivieren, andererseits jedoch bietet es für diejenigen, welche die Maschine programmiert bzw. manipuliert haben, die Möglichkeit, den Körper des Individuum, also dessen virtuellen Körper, zu stehlen und das Individuum an dessen Kontrolle zu hindern. Dann aber ist das Verhältnis nicht länger eines von seinem Körper als seinem eigenen.68 Ähnliches findet sich bei Virilios Begriff der Ambiguität der Mediatisierung. Zusammenfassend ist hierzu festge67 $ steht für sujet barré. Das Subjekt (von der Sprache durchzogen, symbolisch kastriert), das Sub-jektum (Unterworfene) der Sprache. $ bezeichnet eine Leerstelle, eine Diskontinuität im Realen (Widmer 1997: 53), etwas, das nicht existiert und das sich nur im Gebrauch der Sprache nachträglich setzen kann. Um zur Existenz zu gelangen, muss es sich den Signifikanten unterwerfen und dadurch auch deren Mangel auf sich nehmen. $ kann sich nur vom Anderen aus bestimmen. Es ist nicht, sondern es wird. Widmer (1997: 54 und 182) schreibt, dass alle drei Register, auf die Lacan besonderen Wert legte, sich im Subjekt sammeln. Im Realen sei es abwesend und unmöglich, im Symbolischen sei es werdend und möglich, und im Imaginären schließlich sei es anwesend und wirklich. Das Subjekt $ suche im Begehren die Einheit seiner selbst. Eine Einheit, die es durch den Gebrauch der Sprache verloren hat. Finden kann das Subjekt diese Einheit jedoch nicht. Was es findet, ist die Leere im Realen – durch (er)fassen des Objekts a ($ ҏa). Das Subjekt wird bei Lacan, im Gegensatz zur abendländischen Denktradition, auf den Kopf gestellt: Nicht das Subjekt erkennt die Welt und konstruiert daraus die Wahrheit (und schreibt sie in ein Wissen nieder), sondern die Wahrheit existiert immer schon (im Realen zwar, aber doch niedergeschrieben in der Welt der Signifikanten), und sie, die Signifikanten, konstruieren aus sich heraus das Subjekt – wenn es die Signifikanten setzt (vgl. http://www.t0.or.at/~kdobl/diss/lacuwiss.htm, Nov. 2003). 68 Darauf haben schon Flusser und vor ihm Moles hingewiesen, dass wir hinter die Apparate, welche die Bilder erzeugen, blicken müssen, ansonsten, so Flusser, werden wir zu Analphabeten. Problematiken ortet er im Besonderen bei der Dekodierung von technischen Bildern. Bei ihnen ist, NICHT wie bei traditionellen Bildern, eine offensichtliche Unterbrechung zwischen Bild und Bedeutung durch einen Apparat/Operator ersichtlich. Die Kodierung der technischen Bilder findet in einem verschlossenen Raum statt und daher muss jede Kritik des technischen Bildes darauf ausgerichtet sein, das Innere dieses Raumes zu erhellen. Solange Menschen nicht über diese Kritikfähigkeit verfügen, bleiben sie nach Flusser eben Analphabeten – zumindest was das technische Bild betrifft (vgl. Flusser 1999: 13ff).

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stellt, dass das Subjekt von seinem direkten Recht zur Entscheidungsfähigkeit entfernt wird bzw. wurde. »Wenn der Körper mediatisiert ist (gefangen in einem Netzwerk elektronischer Medien), ist er zugleich der Bedrohung radikaler ›Proletarisierung‹ ausgesetzt: Das Subjekt wird potenziell zu einem reinen $ reduziert, da auch meine eigene Erfahrung durch den maschinischen Anderen gestohlen, manipuliert und reguliert werden kann« (Žižek 1999: 110).

Für die Koordination der beiden Netzwerke ist der große Andere zuständig. Die Fähigkeit des Cyberspace, das Bewusstsein in einen Computer herunterzuladen, befreit letztlich die Menschen von ihrem Körper – oder aber es befreit ebenso die Maschinen von den Menschen. Das Spiegelbild des Subjekts wird in der Maschine in Gestalt eines Platzhalters externalisiert, der Körper des Subjekts wird im realen Leben auf einen feinen exkrementellen Rest reduziert. Dies bedeutet, dass der Mensch niemals vollständig im Cyberspace aufgehen kann, weil ein letzter verbleibender Rest ihn stets an das reale Leben bindet.68 Die symbolische Realität war stets virtuell, und im Cyberspace potenziert sich die für die Ordnung des Symbolischen konstitutive Lücke. Als Beispiel kann die kastrierende Wirkung der Kastrationsangst erwähnt werden. Die Theorie, das Subjekt habe Angst vor der Kastration, funktioniert nur dann, wenn angenommen wird, dass diese Angst bereits eine kastrierende Wirkung hat. Frederic Jameson weist darauf hin, dass eine der Antinomien der Postmoderne diejenige zwischen Konstruktivismus und Essentialismus darstellt. Der Konstruktivismus beherberge die Bedrohung durch die universelle Virtualisierung, nach der alles nur mehr konstruiert werde. Der Essentialismus beherberge die verzweifelte Suche nach einer stabilen Fundierung. Einer Fundierung, deren mehrheitliche Ausdrucksformen sich nur marginal von religiösen oder ethischen Fundamentalismen unterscheiden. Dennoch kehren sie eher zur Natur im heutigen Verständnis eines ökologischen Ansatzes zurück. Auf die Spannungen zwischen der fundamentalen Ökologie, dem Essentialismus, und dem New-Age-Technospiritualismus, dem Konstruktivismus, wird im Folgenden kurz eingegangen. Die fundamentale Ökologie unterstützt eine Rückkehr zur spontanen Naturerfahrung, indem versucht wird, der technologischen Beherrschung 68 Anhand der Otaku-Generation äußert sich dies etwa in dem als sehr erbärmlich beschriebenen Rest des reellen Lebens. Meist scheint dieser Rest dem Otaku dazu zu dienen, Geld für sein Überleben zu erwirtschaften. Dieser Körper, zu dem das Individuum gezwungen wird zurückzukehren, hat nichts mit dem konstituierten Körper der völligen Selbsterfahrung gemein, sondern ist tatsächlich der formlose Rest, der Schrecken des Realen.

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zu entkommen. Der angeführte New-Age-Technospiritualismus setzt seine Hoffnung auf eine spirituelle Wende, welche durch eine komplette technologische Reproduktion der Realität herbeigeführt wird. Es existiert also die Vorstellung, dass in Zukunft der Mensch in der Lage sein wird, durch eine Versenkung in die virtuelle Realität, sich von dem Band, welches ihn an seinen Körper fesselt, zu befreien. Stattdessen wird er in der Lage sein, von einem virtuellen Körper zum nächsten zu schweben und sich in verschiedene Entitäten zu verwandeln. Der Verlust der Realität innerhalb des Cyberspace wird nicht durch einen Mangel an wahrer Gegenwart innerhalb des Cyberspace konstituiert, sondern genau durch das Gegenteil. Die exzessive Fülle, die einer Tilgung der Dimension symbolischer Ordnung entspricht, ist für den Verlust verantwortlich. Vor diesem Hintergrund wird der Glaube, dass das Problem des Cyberspace darin besteht, dass die Realität virtualisiert wird, als unkorrekt betrachtet. Die Spektralität des Cyberspace ist zu gering, und das Entscheidende, was aufgehoben wird, ist die Beschränktheit einer Situation und somit tritt eine unüberschaubare Fülle ein. Auch wenn nicht explizit der Begriff Medienrealität Erwähnung findet, stoßen wir an dieser Stelle auf diese. Eine Chat-Bekanntschaft kann, sobald sie über den Chat hinausgeht und zu einem Treffen führt, ihre spektrale Qualität verlieren. Ein erstes Treffen (von Chat-Bekanntschaften) bezeichnet den Weg vom »SpektralRealen zur Realität«. Im virtuellen Raum des Cyberspace stößt der Mensch auf eine reibungsfreie Flut von Bildern und Informationen und nicht nur das Materielle wird überwunden und dadurch reibungsfrei, sondern auch traumatische soziale Antagonismen, Machtverhältnisse etc. Die erwähnte Lücke, also jener Bereich der unbeantwortet bleibt, ist zentral, da das symbolische Universum zusammenbricht, wenn der Mensch Wissen über diese Lücke erlangt. Die symbolische Autorität ist virtuell und funktioniert wie eine Bedrohung, die lieber nicht auf die Probe gestellt werden sollte, »man kann nie sicher sein, ob der eigene Vater (auf dessen symbolische Autorität man sich verlässt) wirklich mächtig ist oder nur ein Angeber. Symbolische Macht ist somit tatsächlich nur als virtuelle, als Versprechen oder Befürchtung voll beweiskräftig« (Žižek 1999: 137).

Die symbolische Ordnung ist seit jeher schon virtuell, und dies ist nicht zuletzt die Basis ihres Funktionierens. Zwischen Realität und virtueller Realität besteht eine Lücke und wenn das Subjekt diese Lücke zu schließen versucht, oder dies sogar gelingt, dann könnte dies zur absoluten Erleuchtung führen, da die verdrängten Inhalte zu Tage treten können. Ebenso wäre jedoch die Katastrophe möglich. Ein Herr ist ur-

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sprünglich notwendig, damit eine Instanz dem Subjekt mitteilt, was es eigentlich will. Insofern entsteht der Herr auf Basis der Konfusion des Subjekts, da dieses nicht weiß, was es will. »Was passiert, wenn das Subjekt selbst beständig mit der Aufforderung bombardiert wird, ein Zeichen davon zu geben, was es will?« (ebd.: 130). Eben genau das Gegenteil von dem, was man erwarten würde, denn wenn es niemanden gibt, der einer Person mitteilt, was sie wirklich will, also die gesamte Last der Entscheidung auf den Schultern dieser Person liegt, so wird dieses Subjekt vollkommen vom großen Anderen dominiert und es verschwindet sogar die Wahlmöglichkeit. Eine Wahlmöglichkeit, die durch ihren bloßen Anschein ersetzt wird.

Das menschliche Bewusstsein als Interface Žižek sieht in einem Interface einen Phantasie-Schirm und definiert diesen wie folgt: »Vielleicht ist die elementarste Definition des Mechanismus: eine Maschine, die einen Effekt produziert im genauen Sinne eines magischen Sinneffektes, eines Ereignisses, welches eine Lücke zwischen sich und der rohen körperlichen Materialität beinhaltet – der Mechanismus ist dasjenige, was das Auftauchen der Illusion erklärt. Der entscheidende Punkt dabei besteht in der Einsicht, dass der Mechanismus die Illusion zwischen der körperlichen Ursache und ihrem Oberflächen-Effekt offensichtlich macht« (Žižek 1997: 87).

Wie kann ein unkörperliches Ereignis aus körperlichen Ursachen entstehen? Den Schlüssel für den Status von virtueller Realität bietet die Differenz zwischen Imitation und Simulation. Die virtuelle Realität imitiert nicht die Realität, sondern simuliert sie vermittels der Generierung ihres Anscheins. Im Gegensatz dazu denaturalisiert die Simulation rückwirkend die Realität, das heißt, dass etwas nicht Existentes simuliert wird. Die Differenz zwischen Natur und ihrer Reproduktion existiert also letztlich nicht, und dies bedeutet nichts anderes, als dass die simulierte Schirm-Realität und die reelle Realität hervorgebrachte Effekte sind. »Die Wette der VR besteht darin, dass das Universum der Bedeutung, der Narrativierung nicht die letzte Referenz, der unhintergehbare Horizont ist, da sie sich auf reine Kalkulation bezieht« (Žižek 1997: 89)70. Insofern 70 »Wenn wir direkt in VR versunken sind, verlieren wir den Kontakt mit der Realität, das heißt, Elektrowellen umgehen die Interaktion externer Körper und attackierten direkt unsere Sinne, »der Augapfel eines Auges ist es, der den Körper des Menschen vollständig umschließt« (Virilio zitiert nach Žižek 1999: 97).

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ist das lacansche Reale »die reine virtuelle, nicht wirklich existierende Ordnung der subjektlosen Kalkulation, welche nichtsdestoweniger jede Realität reguliert, materielle und/oder imaginäre« (ebd.: 90). Oder wie Lacan es nennt: Ein Nichts, das eben doch nicht nichts ist, eine zusammenhaltende Kraft (vgl. Widmer 1997: 50). Die Bestrebung Slavoj Žižeks liegt nun darin, das Bewusstsein des Menschen als ein Interface zu betrachten, als einen Rahmen, durch den dieser das Universum wahrnimmt. Genau aus diesem Grund wird die Idee des Interface aufgegriffen. Žižeks Argumentation folgend, ist ein Interface als Bewusstsein des Menschen vorstellbar, und der Mensch ist gut beraten, weder die einfache Referenz zu einer externen Realität, als auch die gegensätzliche Haltung, dass es keine externe Realität gibt, zu vermeiden. Ignoriert er dies, so läuft er Gefahr, zur Illusion zu gelangen, es existiere eine erfüllte Realität außerhalb des virtuellen Universums. Zwei Mythen über den Cyberspace, so Žižek, sind relevant und beide basieren auf der Annahme, dass sich der Mensch heute in der Mitte des Wandels von der Epoche des Modernismus zu der postmodernen Epoche der Disseminierung befindet. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei zentrale Grundaussagen71 treffen: x Heutzutage ist eine Rückkehr zum pensée sauvage, zum konkreten, sinnlichen Denken erkennbar. So kann etwa ein Essay im Cyberspace Fragmente von Musik bzw. Sounds mit Texten, Bildern, Videoclips etc. konfrontieren. Diese Konfrontation von konkreten Elementen produziert die abstrakte(n) Bedeutung(en). x Heutzutage ist eine Bewegung weg von der modernistischen Kultur der Berechnung hin zur postmodernistischen Kultur der Simulation erkennbar. Um dies zu erklären, wird der Begriff der Transparenz herangezogen. Eine transparente Technologie bedeutet im modernistischen Sinn, dass der Benutzer die Arbeit mehr oder weniger begreift. Also dass die Maschine und deren Funktionieren begreifbar werden. Der Schirm des Interface soll also gewährleisten, dass ein Benutzer direkten Zugang hinter den Schirm erhält. Im postmodernistischen Sinne bedeutet Transparenz genau das Gegenteil. Hier wird der Interface-Schirm dazu verwendet, die

71 Nach Zielinski handelt sich hierbei um diverse Medienwelten. »Sie [die diversen Medienwelten, Anm. M.M.] sind zu finden zwischen dem Einen und dem Anderen, der Technik und ihren Nutzern, verschiedenen Orten und Zeiten. Dazwischen prozessieren sie, modellieren, standardisieren, symbolisieren, transformieren und strukturieren, erweitern, kombinieren und verknüpfen sie, letztlich mit Zeichenmaterial, das wiederum der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich gemacht wird: mit Zahlen, Bildern, Texten, Klängen, Inszenierungen Choreographien. Medienwelten sind Erscheinungen der Relationalen« (Zielinski 2002: 48).

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Arbeit der Maschine zu verschleiern. Menschen werden dadurch zu Analphabeten. Der virtuelle Raum der kybernetischen Medien ist, wie Peter Sloterdijk (2000: 67) erkannte, das modernistische Außen, welches in keiner Weise mehr unter den Formen des göttlichen Interieurs vorgestellt werden kann. Stattdessen wird es als technologische Exteriorität gangbar gemacht.72 Der Preis, den eine Gesellschaft für die »Illusion der Kontinuität« bezahlt, ist jener eines Benutzers, welcher sich an opake Technologien gewohnt hat. Hinter dem Schirm befindet sich also die digitale Maschinerie73, die durch ihre totale Undurchschaubarkeit besticht. Darauf weist übrigens auch Vilém Flusser hin, wenn er davon spricht, dass der Mensch ein Funktionär des Apparates geworden ist. In den beiden Mythen zum Cyberspace steckt jedoch ein zentraler Irrtum. Der Mensch habe es zwar mit einer Rückkehr zu prämodernem Denken oder nichttransparenten Lebenswelten zu tun, bedenke dabei jedoch nicht, dass diese neue Lebenswelt schon einen Hintergrund des wissenschaftlichen digitalen Universums voraussetzt. INTER-FACE bedeutet, dass nie eine »Face-to-Face-Beziehung« auftaucht. Eine digitale Maschinerie ist dazwischengeschaltet, und diese Maschinerie steht für den lacanschen großen Anderen. Der große Andere bezeichnet die anonyme symbolische Ordnung (etwa in Form von Werten), und diese Ordnung hat die Struktur eines Labyrinths. In diesem Zusammenhang wird gar von einem Cybererhabenen gesprochen. Die mögliche Existenz von Viren, welche im Stande sind, das Cyber-Universum zu zerstören, weist den Menschen auf die Inkonsistenz und Verwundbarkeit dieses Universums hin. Garantien für ein konsistentes Funktionieren gibt es nicht. Lacan sagt: Es gibt keinen Anderen im Anderen. In diesem Sinne funktioniert das Cyberspace symbolisch und bleibt deshalb ödipal. Soll das freie Zirkulieren gewährleistet bleiben, muss das Individuum ein fundamentales Verbot bzw. eine fundamentale Entfremdung akzeptieren. Entfremdung deshalb, da der Mensch im Cyberspace von einem Signifikanten repräsentiert wird. Und dieser Signifikant fungiert als sein Platzhalter. Im Cyberspace ist zwar alles möglich, doch ist diese Freiheit ge72 Peter Sloterdijk spricht von einem Außen, dem von vorneherein kein Innen entspricht. 73 »Der kybernetischen freilich ging die philosophische Virtualität voraus, die mit der platonischen Exposition der Ideenwelt gestiftet worden war; schon die klassische Metaphysik hatte das vulgäre Raumdenken in die Krise gestürzt, weil Platon über die Sinnenwelt jene virtuelle Sonne aufgehen ließ, die das Gute heißt und von der alles, was am dreidimensional Sinnlichen wirklich ist, erst Sein empfängt. Der aktuelle virtual space-Publizist kommt gerade rechtzeitig, um sich an den 2400 Jahr-Feiern der Entdeckung des Virtuellen zu beteiligen« (Sloterdijk 2000: 67).

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koppelt an den Preis der Annahme einer fundamentalen Unmöglichkeit. Eine Unmöglichkeit deshalb, da die »Vermittlung durch das Interface jenen ›by-pass‹, der mich (als Subjekt des Aussagens) für immer von meinem symbolischen Platzhalter trennt« (Žižek 1999b: 234), unvermeidlich ist. Doch der so genannte Ödipus-online funktioniert nicht wie der eigentliche Ödipus. Lacan unterscheidet strikt zwischen x dem Ödipusmythos (Vatermord/Inzest) und x der darunter liegenden rein formalen Struktur des symbolischen Verbots, welches den Preis für den Eintritt in die symbolische Ordnung darstellt. Geht es nach Lacan, so ist das Wesentliche am väterlichen Verbot nicht sein Inhalt. »Das Nein des Vaters ist vielmehr einfach ein Platzhalter, eine imaginäre Verkörperung des rein formalen Sachverhalts, dass die jouissance demjenigen, der spricht, als einen Sprechenden verwehrt ist« (Žižek 1999b: 234). Das Individuum verfängt sich genau in jenem Moment in der Unmöglichkeit seiner vollständigen Befriedigung, in dem ein individuelles Bedürfnis als eine symbolische Forderung an den Anderen formuliert ist. Im Cyberspace fehlt das kleine Stück des paternalen Realen, welches das Verbot aufrechterhält. Daher ist man eher mit der rein formalen Struktur des symbolischen Verbots konfrontiert. Die Psychose ist durch den Zusammenbruch der symbolischen Vermittlung gekennzeichnet, ebenso das Cyberspace. Woher aber stammt das Bedürfnis nach dem narrativen Supplement zu der formalen Struktur? Warum kann die formale Struktur nicht für sich allein herrschen? Warum kann das Individuum nicht einfach in die symbolische Ordnung eintreten und den Verlust akzeptieren, der mit diesem Verlust einher geht? Ist die wesentliche Aufgabe des symbolischen Verbots nicht eben das Unmögliche zu stabilisieren? Es ist paradox, etwas zu verbieten, das sowieso nicht möglich ist. Aber das Verbot hält die Illusion aufrecht, das Genießen doch zu erreichen. Diese Logik fordert also eine Initialisierung des Gesetzes durch die Phantasie, um die inhärente Unmöglichkeit zu verschleiern. Dabei handelt es sich um den Glauben, dass eine volle Befriedigung möglich ist, wenn nicht das Verbot existieren würde, welches den Menschen von außen auferlegt worden ist. Die Funktion der paternalen Figur liegt folglich darin, den Menschen von dem »enervierenden toten Punkt des Begehrens zu erlösen und die Hoffnung aufrechtzuerhalten. Doch genau diese beschwichtigende Funktion fehlt dem Ödipus online und daher fehlt auch die alles ist möglich und allgegenwärtige Frustration und Ausweglosigkeit, die die Erfahrung des Cyberspace seitens des Subjekts charakterisiert« (Žižek 1999b: 237f).

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM

Der große Andere existiert nicht (mehr) Die oben beschriebenen drei theoretischen Positionen zum Cyberspace lassen sich als Psychose, Perversion und Hysterie klassifizieren. Standpunkt I steht für die universalisierte Psychose, Standpunkt II für die befreiende Perspektive der globalisierten multiplen Perversion und Standpunkt III für das rätselhafte Andere, das das Subjekt hysterisiert. Welche Position ist nun die Richtige? Žižek bietet eine IV. Version an: Die Perversion, deren Definition enger gefasst ist als die von Standpunkt II. Standpunkt I und III sind in seiner Interpretation defizitär. Die Argumente, die in Standpunkt I auftauchen, sind insofern zu heftig, als sie den Bruch des Cyberspace mit dem Ödipus betonen. Die Argumente, die in Standpunkt II formuliert werden, sind insofern zu energielos, als sie die Verbindung (Cyberspace und Ödipus) überbewerten und eine Fortsetzung mit anderen Mitteln betonen. Dennoch ist Standpunkt II, also jener, der die Perversion vertritt, für Žižek der Richtige, da dieser versucht, ein richtiges Maß zu finden, um die Drohung der libidinösen Auflösung im Zaum zu halten und somit das Unmögliche zu stabilisieren. Perversion im vorliegenden Sinne thematisiert ein Zwischenglied. Die Perversion ist hierbei zwischen Psychose und Neurose, zwischen der Ausschließung des Gesetzes durch einen Psychotiker und der Integration des Neurotikers in ein Gesetz angesiedelt. Das perverse Szenarium inszeniert, so eine gängige Auffassung, die Leugnung der Kastration. »Der Perverse inszeniert ein Universum, in dem der Mensch jede Katastrophe überleben kann, als sei er eine Comicfigur, ein Universum, in dem die Sexualität der Erwachsenen auf ein kindisches Spiel reduziert ist, in dem man nicht sterben muss oder gezwungen wird, sich für eines der beiden Geschlechter zu entscheiden. Als solches ist das Universum des Perversen das Universum der reinen symbolischen Ordnung, des Signifikanten, der seinen Lauf nimmt, unbehindert vom Realen der menschlichen Endlichkeit« (Žižek 1999b: 238f).

Lacan glaubte zu erkennen, dass der herkömmliche Begriff der Perversion den einzigartigen Kurzschluss zwischen Gesetz und jouissance, der die innerste Struktur der Perversion kennzeichnet, übersieht. Daraus resultierte auch die Forderung nach einem enger gefassten Begriff der Perversion. Der Perverse erhebt im Gegensatz zum Neurotiker das Genießen des großen Anderen zur Instanz des Gesetzes. Das Ziel des Perversen besteht darin, das Gesetz schlichtweg zu etablieren. Auf keinen Fall will er dieses unterminieren. Der große Andere bleibt aber im Verborgenen, ist nicht materialisierbar. Das symbolische Gesetz verhindert

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für normale Menschen den Zugang zum (inzestuösen) Objekt. Somit wird das Begehren erst danach erzeugt. Im Gegensatz dazu erzeugt für den Perversen das Objekt selbst das Gesetz. So lokalisiert zum Beispiel der Masochist »das Genießen in eben jener Instanz des Gesetzes, die ihm den Zugang zum Genießen verwehrt« (Žižek 1999b: 240). Ein inauguriertes Verbot macht den Genuss also überhaupt erst möglich. Würde das Verbot nicht existieren, so würde ebenso kein Genießen existieren. Das Spezifische am Universum des Perversen liegt also darin, dass er im Gesetz nicht eine Verbotsinstanz erkennt, welche sein Begehren reguliert. Für ihn ist das Objekt des Begehrens das Gesetz selbst. Im Gesetz erkennt er das Ideal, nach dem er sich sehnt. Das Individuum möchte vom Gesetz hundertprozentig anerkannt und selbstverständlich in seinen Mechanismus integriert werden. Das Paradox liegt darin, dass der Perverse sich nach der Herrschaft des Gesetzes sehnt. Er, der es liebt zu überschreiten, sehnt sich nach der Regulation, supplementiert des Weiteren also ebenso ein unzureichend etabliertes Gesetz. Somit zeugt die Regulierung von einer Absenz bzw. einer Suspendierung des Gesetzes. Die Phantasie inszeniert das unmögliche Sein des Menschen, welches durch den Eintritt des Menschen in die symbolische Ordnung verloren ging. Die fundamentale Phantasie ist dabei passiv, da sie das Individuum auf den Status eines Objekts reduziert. Ein Objekt, auf welches in weiterer Folge andere einwirken. Der Zugang zum Sein kann für einen Menschen offenbar nur durch die Erfahrung äußerster Schmerzen erfolgen. »La douleur d’exister« meint demnach, dass ein Individuum nur insoweit existiert, als es in der Lage ist, Schmerz zu empfinden. Es empfiehlt sich, so Žižek, das kantsche Verbot des direkten Zugangs zum noumenalen Bereich umzuformulieren. Nicht das noumenale Reale solle unzugänglich bleiben, sondern die fundamentale Phantasie selbst. Kommt das Subjekt dem phantasmatischen Kern zu nahe, verliere es die Konsistenz seiner Existenz. Die herkömmliche Auffassung betreffend der (Selbst)Erfahrung geht davon aus, dass ein Mensch zum Subjekt reift, wenn sich in ihm der Glauben manifestiert, dass unabhängig davon, welcher geheimnisvolle Mechanismus seine Handlungen, Wahrnehmungen und Gedanken beherrscht, niemand ihm das nehmen kann, was er sieht oder empfindet. Davon wendet sich Lacan ab. Der entscheidende Punkt bei ihm ist, dass der Psychoanalytiker dem Subjekt die Empfindung der »(Selbst-)Erfahrung« nehmen kann. Das Ziel der Psychoanalyse besteht demnach darin, dem Subjekt seine fundamentale Phantasie zu rauben, die das Universum seiner »(Selbst-)Erfahrung« reguliert. Die Phantasie in ihrer elementarsten Form ist dem Menschen unzugänglich. Die Unzugänglichkeit macht das Subjekt leer ($).

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM »Wir gelangen so zu einer Beziehung, die die geläufige Idee des Subjekts, das sich und seine inneren Zustände unmittelbar selbst erfährt, völlig unterläuft, zu einer unmöglichen Beziehung zwischen dem leeren, nicht-phänomenalen Subjekt und den Phänomenen, die dem Subjekt unzugänglich bleiben« (Žižek 1999b: 245).

Die Konklusion daraus lautet, dass ein phantasmatischer Kern in einem Menschen existiert, und dieser Kern ist die objektiv subjektive Fundamentalphantasie, also ein Kern, der bewussten Erfahrungen unzugänglich bleibt.

Interpretationen Der Unterschied zwischen Neurotikern und Perversen ist nach Žižek folgender: x Der Neurotiker ist von der jouissance des Anderen traumatisiert (ein obsessiver Neurotiker arbeitet traumatisiert daran, den Anderen am Genießen zu hindern). x Der Perverse ist selbst Objekt-Instrument der jouissance des Anderen. Er opfert seine jouissance, um sie im Anderen zu generieren. x Der Obsession verfallene Mensche ist dauernd in Bewegung, da er die Ruhelosigkeit nicht erträgt. Perversion liegt nun zwischen Neurose und Psychose, im Zwischenbereich der psychologischen Verwerfung des Gesetzes und der neurotischen Integration im Gesetz. Das Universum des Perversen ist ähnlich jenem der Cartoons, in denen auch der Held jede Katastrophe überleben kann; in der die Erwachsenensexualität auf ein Kinderspiel reduziert wird und man auch nicht gezwungen ist, zu sterben oder eines der beiden Geschlechter zu wählen. Das Universum des Perversen ist das reine Universum der symbolischen Ordnung, wo das Spiel der Signifikanten seinen Lauf nimmt, unbelastet von wirklichen menschlichen Endlichkeiten. Der Perverse erhöht seinen genießerischen Anteil an der Agentur des Gesetzes. Er etabliert das Gesetz (z.B. Domina/Held/Puppe). Er zieht sein Genießen aus der Installation. Kurzum: Geht es nach diesen Ausführungen, so kann die Analyse mit der Feststellung enden: Ja, Otakus sind pervers und zwar in einem unermesslichen Umfang. Doch dies ist eine gänzlich falsche Interpretation. Die phantasmatische Szene und die symbolische Ordnung ist strikt korrelativ. Es existiert keine symbolische Ordnung ohne »phantasma-

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tischen Raum, keine ideale Ordnung des logos ohne die pseudomaterielle virtuelle andere Szene, wo die phantasmatischen Szenen auftauchen können« (Žižek 1997: 86). Der Kulturphilosoph meint damit, dass jede phantasmatische Szene, um überhaupt zu existieren bzw. ins Leben gerufen zu werden, einer symbolischen Ordnung bedarf. Der Unterschied zu einer reellen Szene ist, dass in dieser die symbolische Ordnung durch den lacanschen großen Anderen74 eingeführt wird. In der phantasmatischen Szene ist es das Subjekt selbst, welches diese Ordnung installiert. Und genau aus diesem Grund ist die Phantasie der Perversion nahe: beide installieren das Gesetz – die Regeln. Die zeitgenössische Erfahrung der Unvorhersehbarkeit mit den Unwägbarkeiten des menschlichen Alltags zu verwechseln, ist schlichtweg ein Irrtum. Der Mensch ist gegenwärtig mit der Nichtexistenz des großen Anderen konfrontiert. Die Otaku-Generation mag den traditionellen großen Anderen durchaus in Frage stellen. Ein von diesem unabhängiges Operieren ist jedoch nicht möglich. Eingangs wurde die Frage gestellt, ob die Otaku-Generation pervers ist. Žižek würde mit einem uneingeschränkten »ja« antworten, jedoch nicht ohne hinzuzufügen, dass dies nicht automatisch negativ zu beurteilen ist. Die Otaku-Generation installiert ein Gesetz. Insofern existiert für die Otaku-Generation ein großer Anderer, aber eben nicht in der klassischen Form. Der Otaku hat sich dieses Anderen entledigt. Wenn auch nicht dauerhaft oder bedingungslos. Aber sicher temporär. Nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Natur selbst würde das Individuum als ein instabiles System erfahren. Das, was jeder einzelne Mensch als seine Natur wahrnimmt, mag auf einem soliden Fundament errichtet sein, dennoch: Verschiedene Faktoren penetrieren die Natur und bringen es aus seiner Balance. Der Haken dabei: Die Art und Weise, wie sich ein Individuum selbst sieht, also die Phantasie, die es mit den ultimativen Koordinaten seines Wesens und Seins versorgt, ist dadurch definiert, wie sich jedes Subjekt auf sich selbst bezieht. Kurz: Wie sich das Subjekt selbst wählt im Verhältnis zu seiner Umgebung, also auch dem, was mit Natur bezeichnet wird. Insofern ist etwa die Angst, dass eine Entschlüsselung des Genoms dazu führe, dass die Subjektivität des Menschen beherrscht und manipuliert werden könne, 74 In einer Filmanalyse von Matrix beschreibt Žižek eben genau die Matrix als den großen Anderen. Der große Andere ist der- oder dasjenige, was mir den Blick auf die Realität verstellt. »What, then is the Matrix? Simply the Lacanian ›big Other‹, the virtual symbolic order, the network that structures reality for us. This dimension of the ›big Other‹ is that of the constitutive alienation of the subject in the symbolic order: the big Other pulls the strings, the subject doesn’t speak, he ›is spoken‹ by the symbolic structure. In short, this ›big Other‹ is the name for the social Substance, for all that on account of which the subject never fully dominates the effect of his acts, i.e. on account of which the final outcome of his activity is always something else with regard to what he aimed at or anticipated« (Žižek 1999c).

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absurd. Es ist eben nicht das Außen des Mediums, das ein Individuum zum Otakismus treibt. Die Frage ist, ob nicht vielmehr die fundamentale Phantasie für die Otaku-Werdung verantwortlich zeichnet und ob die Medienfiguren nicht ausschließlich der Materialisation dienen. Prinzipiell lehnen Menschen die symbolische Identität eines Anderen ab, was sich etwa in der Angst vor dem Geklont-Werden niederschlägt. Otakus scheinen diese symbolische Identität geradezu herbei zu sehnen, zumindest dann, wenn Otakismus negativ definiert wird. Otakismus ist geprägt durch die Suche nach dem wahren Selbst. Dies ist jedoch nicht möglich, weil es der bewussten Erfahrung nicht zugänglich ist. Otakus wollen das freudsche Subjekt des Unbewussten oder die Fundamentalphantasie festmachen. Vor diesem Hintergrund stößt man auf das Argument, dass eine Person sich als ICH nur konstituiert, indem es also erkennt und dabei dem eigenen virtuellen Doppelgänger begegnet, mit dem es sich auf eine ambige Hassliebe-Beziehung einlassen75 kann. Kein ICH ohne einen Doppelgänger-Klon. »Doch die Unheimlichkeit des Doppelgängers beruht auf der Tatsache, dass das Subjekt (im Gegensatz zum ›ICH‹ des Selbst) an sich ›durchgestrichen‹ und leer ist, dass es ein einzigartiger Punkt der Selbst-Beziehung ist, der keinen Doppelgänger, keinen objektiven Kontrapunkt hat« (Žižek 1999b: 249f).

Das Grauen, seinem Doppelgänger zu begegnen, entspricht dem Grauen vor der Aussicht, den objektiven Kontrapunkt zu begegnen. Die Begegnung mit dem Doppelgänger ist vergleichbar mit der ultimativen Erfahrung des Terrors, da es etwas ist, das den Kern der Identität eines Menschen zerstört. Der Mensch hat also Angst, dass ihm sein »che vuoi?« entrissen wird. Er hat nicht Angst vor einer körperlichen Verdopplung, sondern vor der Verdopplung seiner einzigartigen Seele. Stimmt also der Cyberspace nicht mit dem perversen Universum überein, da es ein Universum ohne Schließung darstellt? Ein Universum, welches unbeschwert von der Trägheit des Realen existiert und nur durch die sich selbst auferlegten Regeln beschränkt ist? In einem CyberspaceUniversum werden ständig dieselben Gesten und Szenen wiederholt, und dieses Handeln ist ähnlich einem perversen Ritual ohne finale Schließung. Was aber hat es mit der Schließung auf sich? Das Fehlen eines Schlusses und Schließungspunktes fungiert als eine Art Leugnung und diese Leugnung schützt den Menschen vor dem Trauma seiner Endlichkeit. Der Mensch kann also die Tatsache ignorieren, dass die (seine) Geschichte einmal enden wird. Im Cyberspace existiert kein irreversibler 75 »Ich liebe ihn, weil er ist wie ich, und ich hasse ihn aus demselben Grund, weil er meinen Platz einzunehmen droht« (Žižek 1999b: 249).

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Punkt, und zwar deshalb, da es in diesem multiplen Universum beständig neue Wege zu erkunden gibt, alternative Wirklichkeiten, die in Anspruch genommen werden können, sobald der Mensch an einem toten Punkt angelangt ist. Der Mensch ist im Cyberspace mit zwei Alternativen konfrontiert: Zum einen mit dem »Modus des geistesgestörten Über-IchWiederholungszwangs«, das sich im untoten, perversen Universum der Zeichentrickfilme, »in denen niemand stirbt und das Spiel unendlich weitergeht« (Žižek 1999b: 255) ausdrückt und zum anderen in der Frage, ob sich der Mensch auch anders verhalten kann. Demnach basieren Cyberspace-Erzählungen auf zwei Grundmustern: x einem linearen, eingleisigen, labyrinthischen Abenteuer; x dem postmodernen Hypertext, der von der Rhizom-Fiktion unterminiert wird; Bei Ersterem ginge es um eine Rekonstruktion der Situation aus verschiedenen Blickwinkeln, bei Zweiterem um einen rhizomartigen Hypertext. Den entscheidenden Unterschied zu erkennen, falle ebenfalls nicht schwer. Die Rekonstruktion der Situation basiert auf dem »Trauma des unmöglichen Realen, das sich für immer der Symbolisierung widersetzt« (Žižek 1999b: 257). Die zweite Sichtweise auf das Cyberspace-Universum stellt den agierenden Menschen als einen Akteur dar, welcher in der Lage eines geringen Gottes ist. Als solcher kann er auf verschiedene bzw. unendliche Eingriffsmöglichkeiten in seinem Repertoire zurückgreifen. Innerhalb des Cyberspace kann ein Mensch, welcher auf den Tod zusteuert, durch ein Umschreiben der Geschichte gerettet werden: NegEntropie. Das Cyberspace-Universum entspricht einem neuen künstlerischen Medium, welches dem Menschen ermöglicht, das Leben nicht mehr als eine lineare, zentrierte Erzählung zu betrachten, sondern als ein vielgestaltiges Strömen. Dabei ist die Wahrnehmung der Wirklichkeit jedoch mit einem Paradoxon konfrontiert. Es prallen die linearen narrativen Erzähl-Formen der Literatur und des Kinos mit den offenen HypertextSituationen aufeinander. Für letztere Position ist die Frage zentral, was womöglich alles hätte passieren können, und diese zweite Form verlangt nach eben diesem neuen künstlerischen Medium. Die These, dass der Cyberspace-Hypertext dieses neue künstlerische Medium darstelle, »in dem unser heutiges Lebensgefühl sein ›natürliches‹, angemesseneres objektives Korrelat findet, so dass wir wiederum erst mit dem Cyberspace-Hypertext wirklich begreifen« (Žižek 1999b: 261), geht daraus hervor. Innerhalb des Cyberspace ist es dem Menschen möglich, seine intimsten Phantasien in all ihrer Inkonsistenz zu externalisieren. Dabei ist

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der Mensch eingeladen, die radikale Erfahrung zu riskieren. Aber eben nicht nur im Cyberspace. Ein treffendes Beispiel wäre wiederum die Puppenliebe. Was also für den Cyberspace gilt, findet auch in reellen Situationen des Alltags Anwendung. Die radikale Erfahrung besteht darin, dem anderen Schauplatz zu begegnen. Jenem Schauplatz, welcher den ausgeschlossenen Kern des Wesens eines Menschen inszeniert. Gerade darin wäre ein bzw. der Antrieb für den Otakismus zu suchen. Nicht etwa in der Spiel- bzw. Schaulust, die in ihrer ultimativen Form eine schizophrene Tendenz aufweist. Das Cyberspace-Universum macht den Menschen nicht zu Sklaven der (bzw. spezifischer) Phantasie/n. Vielmehr ermöglicht das Cyberspace, dass der Mensch Phantasien auf spielerische Art behandelt und somit eine gewisse Distanz zu ihnen einnimmt. Lacan bezeichnete dies als das Durchqueren der Phantasie. Die Essenz liegt darin, dass, wenn jede Variante der Situation durchgespielt worden ist, die zu Grunde liegende Phantasie an die Oberfläche tritt. Sobald jedoch ihre Energie das Muster der Geschichte gesättigt hat, verliert die Phantasie ihre Spannung. Dieser Aspekt der Sättigung würde auch erklären, warum Otakus ihre Leidenschaft auch verändern. Das Verlieren der Spannung der fundamentalen Phantasie verweist auf den Umstand, dass die Phantasie durchquert worden ist. Logischerweise ist die fundamentale Phantasie eine retroaktive Konstruktion, die im Bewusstsein nie präsent war und später verdrängt worden ist. Slavoj Žižek versuchte zu zeigen, wie ein rein virtuelles, nichtwirkliches Universum des Cyberspace an dem Realen rühren kann. Das Reale ist hierbei nicht das rohe vorsymbolische Reale der Natur an sich, sondern der gespenstische harte Kern der psychischen Realität selbst. »Wenn Lacan das Reale mit dem gleichsetzt, was Freud die psychische Realität nennt, ist diese psychische Realität nicht einfach das innere psychische Leben der Träume, Wünsche usw. im Gegensatz zur wahrgenommenen äußeren Realität, sondern der harte Kern der bereits erwähnten ursprünglichen leidenschaftlichen Bindungen (Judith Butler), die genau in dem Sinne real sind, dass sie der Symbolisierung und/oder dialektischen Vermittlung widerstehen« (Žižek 1999b: 266).

Das Reale, welches sich durch die Existenz des Cyberspace konstituiert, ist die geleugnete phantasmatische Bindung; eine traumatische Szene, die nicht nur im wirklichen Leben nie stattfand, sondern nicht einmal bewusst phantasiert wurde. Ist nun das digitale Universum des Cyberspace das ideale Medium, in welchem sich reine Erscheinungen konstruieren lassen? Reine Erscheinungen, die nichts an sich sind, aber dennoch reine Voraussetzungen bilden und die Koordinaten für die gesamte Erfahrung

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des Individuums bereitstellen. Möglicherweise hat es den Anschein, dass das unmögliche Reale dem virtuellen Bereich der symbolischen Fiktionen entgegensetzt werden muss. Dieser Annahme steht jedoch jene gegenüber, die danach fragt, ob das Reale nicht der traumatische Kern des immer Selben ist, gegen dessen Bedrohung die Menschen Zuflucht in der Vielzahl virtueller symbolischer Universen suchen. Die Lehre insistiert darauf, dass das Reale auch das genaue Gegenteil eines solchen nichtvirtuellen harten Kerns ist. Eine reine virtuelle Entität, die keine positive ontologische Konsistenz besitzt. Ihre Konturen sind in den absenten Ursachen der Verzerrungen bzw. Verschiebungen des symbolischen Raumes erkennbar. Das Cyberspace-Universum schafft die Voraussetzungen für das in Szene-Setzen von Phantasien. Der Mensch kann diese jedoch nicht akzeptieren und zwar deshalb, da sie radikal entsubjektiviert sind. Und möglicherweise basiert die negative Konnotation des Otakismus genau in dem entsubjektivierten Gegenstand der Begierde. Es scheint als sei eine neue Suche nach dem Subjekt76 in Gang gesetzt. Bleibt die Frage, die es zu beantworten gilt, ob dieses Subjekt in Medien(figuren) verortet sein kann und wenn ja, warum es sich offensichtlich nur dem Otaku zeigt. Dieser von Žižek inspirierten Interpretation muss jedoch widersprochen werden. Peter Sloterdijk folgend lässt sich Žižek von einer psychologischen Fata-Morgana blenden. »Nur in einer spiegelgesättigten Kultur konnte der Anschein sich durchsetzen, der Blick ins eigene Spiegelbild realisiere bei jedem Individuum ein Urverhältnis des Selbstbezugs. Und nur bei einer Bevölkerung, die klassenübergreifend als Spiegelbesitzer definiert war, konnten Freud und seine Nachfolger ihre Pseudo-Evidenzen über den so genannten Narzissmus und die angeblich optisch vermittelte primäre Auto-Erotik des Menschen populär machen. Auch Lacans tragisch hybrides Theorem von Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion kann seine Abhängigkeit von der kosmetischen oder egotechnischen Haushaltsausstattung des 19. Jahrhunderts nicht überwinden – sehr zum Schaden derer, die sich von dieser psychologischen Fata Morgana blenden ließen«77 (Sloterdijk 2000: 201).

Das narzisstische Missgeschick stellt für Sloterdijk einen Unfall der beginnenden Selbstreflexion dar78. Der Einzelne im individualistischen 76 Vgl. Bal 2002 bzw. Groys 2004. 77 Sloterdijks Argumente stützen sich auf die Annahme, dass der Mythos von Narkissos gerade nicht als Indiz für eine naturwüchsige Beziehung des Menschen zum eigenen Gesicht im Spiegelbild zu lesen sei, sondern als Hinweis auf die beunruhigende Ungewohnheit der beginnenden fazialen Reflexion. 78 Im frühesten psychischen Leben kann es nichts geben, was als primärer Narzissmus beschreibbar sei. Im Gegenteil: Zwischen dem Primären und dem Narzisstischen besteht ein Verhältnis strikter Ausschließung. »Die verworrenen Narzissmus-Konzepte der Psychoanalyse sind vor allem ein Ausdruck ihrer

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Regime werde zu einem punktuellen Subjekt, welches unter die Herrschaft des Spiegels, sprich der reflektierenden selbstergänzenden Funktion geraten ist. Der Mensch organisiere in zunehmendem Maß sein Leben unter dem Schein, er könne ohne realen Anderen »beide Parts im Spiel der bipolaren Beziehungssphäre« (ebd.: 207) ausführen. Und genau dieser Schein verdichtet sich zu einem Zustand, dass sich der Mensch endgültig für das substantiell Erste und seine Beziehungen zu anderen als für das zufällig Zweite halten würde. Insofern ist es nur ein kurzer Weg vom Erkenne dich selbst zum Ergänze dich selbst. Die Konklusion Sloterdijks ist, dass der Mensch den Schein, sich in einem geschlossenen Blickfeld zu sehen, genießen kann und zwar deshalb, weil er den und die anderen aus seinem inneren Raum ausgewiesen und »durch technische Selbstergänzungsmittel – die Medien in ihrer modernen Funktion – ersetzt« (2000: 209) habe. Und genau durch diesen Mechanismus werde die Welt in ein Innen und ein Außen zerlegt, und diese beiden Pole unterscheiden sich wie ein Ich und Nicht-Ich. Zudem ermöglicht erst dieser Mechanismus das Entstehen einer strukturell modernen Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die von Individuen bevölkert ist, von denen die meisten in einer Realfiktion leben würden. Diese Fiktion bestehe in dem Glauben an das Phantasma, dass eine Intimsphäre existiere, welche lediglich einen Bewohner, eben den Einzelnen selbst, erhalte. Vor dem Hintergrund einer Interpretation über die Rolle des Cyberspace kommt hinzu, dass nicht vergessen werden darf, dass einschneidende Auswirkungen der elektronischen Medien und des Zeitvertreibs im Cyberspace auf den Menschen im Allgemeinen und das menschliche Nervensystem im Speziellen unwahrscheinlich sind.79 André Leroi-Gourgrundbegrifflichen Fehlanlage und ihrer Irreführung durch das Objekt – wie das Imagokonzept. Die wirklichen Sujets der fötalen und perinatalen Primärwelt sind Medien eines prä-optischen Universums, in dem Spiegelkonzepte und deren libidinöse Besetzung nichts zu suchen haben. Die frühesten ›Autoerotismen‹ des Kindes sind eo ipso in Resonanzspielen und nicht in Spiegelungen begründet. Gereifte Subjekthaftigkeit besteht darum nicht in der angeblichen Wende zum Objekt, sondern in der Fähigkeit, innere und äußere Handlungen auf höheren Medienebenen zu meistern; das schließt beim erwachsenen Subjekt die libidinöse Genitalresonanz mit Liebespartnern ein – was den wohltemperierten Abschied von den ältesten Medien und ihrer Aufhebung in die späteren zur Voraussetzung hat. Eine medientheoretische reformulierte Theorie der Sexualität hätte dies zu zeigen« (Sloterdijk 2000: 326f). 79 Die vieldiskutierten negativen Auswirkungen der Kommunikation über das Internet scheinen sich auch etwas im Bereich der Mythen zu bewegen. »Was die Auswirkungen der Kommunikation über das Internet für die physische Intimität und Sozialibilität angeht, so meinen Wellman und seine Arbeitsgruppe, die Befürchtungen über eine Verarmung des sozialen Lebens seien fehl am Platze. Sie verweisen auf die Tatsache, dass es kein Nullsummenspiel gibt und dass in Wirklichkeit in einigen der von ihnen untersuchten Netzwerke mehr Internet zu mehr Verbindungen, einschließlich physischen Verbindungen führt. Hier scheinen die Gurus wiederum der Sozialibilität im Internet eine

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han wies darauf hin, dass wir bei zukünftigen Entwicklungen des Menschen in anderen Zeitdimensionen operieren müssen. Nicht Jahre, sondern tausende von Jahren sind hierbei anzusetzen. »Vorläufig würde ich aber immer noch auf die historische Wahrheit wetten, dass totale Medienhegemonie immer neue – und das heißt oft (relativ) alte – Orientierungen hervorgebracht haben. Mag das Fernsehen auch noch so dominant sein und, quantitativ, an Dominanz gewinnen; mag es in einzelnen Gattungen irgendwelche Innovationen, ebenso affektiv Packendes wie kognitiv Forderndes hervorgebracht haben: Abnutzugs-, Ausfalls- und Alterungserscheinungen sind wohl gerade bei diesem Medium nicht von der Hand zu weisen, wenn man es als engagierendes, nicht nur als eine Art zapping-taugliches Hintergrunds- oder Übergangsmedium zwischen Film und flexibel-komplexeren visuellen Möglichkeiten traktieren möchte. Die Diagnose, das Fernsehen sei trotz einiger Gebrauchswerte eher ein Nullmedium (Hans Magnus Enzensberger), scheint mit seiner Programminflation plausibel geworden zu sein. Was vorläufig freilich Computer betrifft, so äußert sich einer der führenden Experten eher entnervt über ihre Stupidität und plädiert in einer vielleicht nicht intendierten ironischen Wendung für die Vermenschlichung (was immer das heißen mag) des Computers statt für die Computerisierung des Menschen« (Pfeiffer 1999: 31).

Aber nicht nur die Auswirkungen der elektronischen Medien und des Zeitvertreibs im Cyberspace auf das menschliche Nervensystem sind unwahrscheinlich, auch die Annahme, traditionelle Kulturen verschwinden durch die elektronischen Medien, ist unrichtig. Frei nach Manuel Castells (2001: 423) ist diesbezüglich festzuhalten, dass elektronische Medien traditionelle Kulturen nicht hinter sich lassen, sondern diese absorbieren.80 Zeit der psychoanalytischen Theorie den Rücken zu kehren. Sloterdijk argumentiert, ohne sich explizit dem Platonismus zuzuordnen, dass das Leben eine Form-Sache sei, und diese These verbindet er mit dem Ausdruck Sphäre. Seine These suggeriert, dass Leben, Sphärenbildung und Denken lediglich verschiedene Ausdrücke für dasselbe seien und er weist mythische Vorstellung entgegenzusetzen, nämlich die von einer eng geknüpften, auf Gemeinschaft beruhenden Gesellschaft. Jedoch »belegt die gegenwärtige Forschung, dass Nordamerikaner gewöhnlich mehr als tausend zwischenmenschliche Verbindungen haben. Nur ein halbes Dutzend davon sind intim und nicht mehr als fünfzig sind wirklich stark. Aber zusammengenommen sind die übrigen rund 950 Verbindungen einer Person wichtige Quellen der Information, der Unterstützung, der Geselligkeit und des Gefühls der Zugehörigkeit. Das Internet begünstigt die Ausweitung und Intensität dieser Hunderte von schwachen Verbindungen, die eine grundlegende Schicht sozialer Interaktion für Menschen schaffen, die in einer technologisch entwickelten Welt leben« (Castells 2001: 410). 80 Castells zeigt dies am Beispiel der japanischen Erfindung des karaoke.

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darauf hin, dass nichts dem philosophischen Denken mehr geschadet habe wie diejenige kärgliche Motivreduktion jener Theorien, die sich auf psychoanalytische Muster beriefen. Warum? Der Mensch übertrage nicht so sehr »unbelehrbare Affekte auf fremde Personen als frühe Raumerfahrungen auf neue Orte und primäre Bewegungen auf ferne Schauplätze. Die Grenzen meines Übertragungsvermögens sind die Grenzen meiner Welt« (Sloterdijk 2000: 14). Die Auseinandersetzung mit Lacan mag durchaus faszinierend sein, ebenso oft ist sie deprimierend. Sein theoretisches Konzept zehrt noch heute von der Aufstellung der universalen Mathemata des Realen, Symbolischen und des Imaginären81, die jeweils isoliert betrachtet werden. Doch welchen Gewinn zieht man daraus? Die Kritik an Lacan82 und den Strukturalisten weist darauf hin, dass diese die Komplexität dessen, »was auf dem Spiel steht, verdinglicht und reduziert« (Guattari 1993: 60) haben. Guattari meint die Kristallisierung real-virtueller Universen, welche von einer Vielzahl »imaginärer Territorien her angeordnet und auf den verschiedensten Wegen semiotisiert werden« (ebd.). Komplexitäten des Alltags, des Traums, der Leidenschaften oder der ästhetischen Erfahrung haben eben nicht alle dieselbe ontologische Färbung, sie werden nicht passiv erlitten, »nicht mechanisch artikuliert oder dialektisch mit anderen Instanzen trianguliert«. Sobald bestimmte Grenzen der auto-poietischen Dichte überschritten sind, beginnen diese auf eigene Rechnung zu arbeiten, »indem sie Brennpunkte partieller Subjektivierung bilden« (ebd.). Abschließend sei noch ein Diktum McLuhans (1992: 49) angeführt. Der kanadische Medienwissenschafter kritisierte die Anwendung der psychologischen Forschung auf das gesellschaftliche Leben und die sozialen Probleme. Sobald dies dennoch geschieht, »werden wir zu Reaktionären«. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Methode der Psychoanalyse in irgendeiner Form reale Gültigkeit besitzt. »Ebenso zweifellos aber besteht diese Gültigkeit nicht darin, lediglich einen Schleier beiseite zu ziehen, hinter welchem unsere ursprünglich unbewussten Motive unverändert bestehen bleiben« (Wiener 2002: 35). Schleier zu heben oder (sieben) neue zu installieren – die Psychoanalyse ist nicht der einzige Zweig der Medizin (ebd.). Antiquierte psychologische Untersuchungen haben auf die Frage, wo ein Subjekt sich aufhalte, Antworten gegeben, die den physikalischen als auch den zivilen Augenschein Lügen strafen. »Nur die Körper von Toten sind ohne Mehrdeutigkeit zu lokalisieren« (ebd.: 83). Und nicht zu vergessen: Die (bewegten) Bilder sind lebendiger geworden als ein Großteil ihrer Betrachter – und diesen Bildern gilt der folgende Abschnitt.

81 Vgl. hierzu den Film von Elisabeth Rudinesko und Elisabeth Kapnist (2001). 82 Zur Kritik an der Psychoanalyse siehe Ellrich (2003) bzw. Turkle (1986: 383ff).

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A B S C H N I T T III Flussers Telematik: Vom Utopischen ins Machbare Das ist das Merkmal des Fortschritts: Alles wird strukturell komplexer, um funktionell einfacher zu werden. Vilém Flusser Keine Emanzipation ohne die der Gesellschaft. Theodor W. Adorno Das Telematische [...] kann nicht mehr aufhören. Dietmar Kamper

Vilém Flusser hat in verschiedenen Passagen seiner Texte auf die Entstehung einer neuen Gesellschaftsform, der telematischen Gesellschaft, hingewiesen und diese diskutiert. Gewagter ausgedrückt kann man davon ausgehen, dass Flusser die Otaku-Generation, die durchaus eine Lebensform in der telematischen Gesellschaft darstellt bzw. darstellen kann, vorwegnahm.1 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei erwähnt, dass die Annahme, Vilém Flusser habe den Otakismus prognostiziert, einfach nachzuweisen2 ist. Neben Flusser sind noch andere Theoretiker zu 1

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So schreibt Florian Rötzer (1993: 142): »Vilém Flusser ist hierzulande als Philosoph bekannt geworden, der den Umbruch angedeutet hat, den die neuen Technologien und insbesondere der Computer mit sich bringen« Flusser wollte nicht die Risiken, sondern das Abenteuerliche der neuen Medienkultur hervorheben. Aber nicht nur das Abenteuerliche, sondern auch die Chancen eines neuen Zeitalters, in welches sich der Mensch Zug um Zug hineinbewegt (vgl. ebd.: 147). »Wir können den gewaltigen Umbruch, der auf dieses Umschalten [von bewegten tönenden Bildern aus Filmen und Fernsehen in vernetzte synthetische Computerbilder, Anm. M.M.] folgen wird, bereits jetzt an den vorwiegend jungen Menschen beobachten, die vor den Terminals hocken und an den Bildern, die sie dabei dialogisch erzeugen. Diese am Horizont der Jahrtausendwende auftauchende neue Generation von Bildermachern und Bilderverbrauchern hat – auf ihrer Flucht nach vorne aus der Bilderflut – das Entsetzen der Verantwortungslosigkeit, Vermassung, Verblödung und Entfremdung tatsächlich überwunden. Sie ist dabei, eine neue Gesellschaftsstruktur und damit auch Realitätsstruktur zu schaffen. Und die neuen, synthetischen Bilder, in denen abstraktes Denken ansichtig und hörbar wird und die im Verlauf des neuen kreativen Dialogs hergestellt werden, sind nicht nur ästhetisch, son-

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nennen, welche die veränderten Bedingungen der Gesellschaft erkannten: etwa Marshall McLuhan. Dieser argumentierte bereits 1968 in einem berühmt gewordenen Interview für den Playboy, dass in Tokio, Paris und New York die Jugend, ohne dass sie sich dessen bewusst sei, ihre Identitätssuche als Straßentheater aufführe. Bei diesem ginge es nicht um Ziele, sondern um Rollen, und die Jungendlichen bemühen sich dabei bewusst um eine Identität, die konkrete Ziele vermeide (vgl. McLuhan 2001: 199). Flusser als auch McLuhan gelten in zweierlei Hinsicht als Apokalyptiker der Medientheorie. Zum Ersten sahen sie in den von den neuen Medien hervorgebrachten technischen Revolutionen radikale Wirklichkeitsveränderungen und zum Zweiten haben sie dies pathetisch an die Wand gemalt. »Vor allem McLuhan bezieht dieses Pathos aus der These, dass die Medien, die doch nur als »Mittel« eingesetzt werden, tatsächlich viel mächtiger sind als bloße Mittel. Die Medien tragen dazu bei, das zu präsentieren, was sie präsentieren sollen – ein Sollen, das vom Wollen der Medienherren, der Zwecksetzer, der Informationsquellen ausgeht. Tatsächlich jedoch [...] präsentieren die Medien zuvörderst immer sich selber [...]. Daher die ›Notwendigkeit‹ solcher Medienenthüller wie McLuhan oder Flusser – die dazu beigetragen haben, den Medien eine geradezu spektakuläre Präsenz zu bescheren« (Seitter 2002: 45).3

Unter Rückgriff auf Vilém Flusser wird im folgenden Abschnitt die spektakuläre Präsenz thematisiert werden. Medien sind demnach nicht Ursache, sondern Ausdruck der gegenwärtigen Kulturveränderung (Hartmann 1999c4). Vilém Flusser stellte den Menschen sowie die Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und sah im Übergang zu einer telematischen Gesellschaft eben keine kulturapokalypische Tendenz.5 Vielmehr verortet er in diesem

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dern auch ontologisch und epistemologisch weder mit guten alten noch mit den gegenwärtigen uns umspülenden Bildern vergleichbar« (Flusser 1999: 75). Dieses Argument zeigt die Nähe der seitterschen Argumentation zur Mediologie von Régis Debray. Vgl. hierzu Abschnitt IV dieser Untersuchung. Vgl. hierzu http://netzgestalten.de/Frank.Hartmann/Eco.htm, Juli 2003. »Vilém Flusser kam aus Prag, der Stadt, in der noch heute der Alchemisten mit einer besonderen Gasse gedacht wird. Die Nazis vertrieben ihn von dort, zunächst nach England, dann nach Brasilien, von wo es ihn wieder zurück nach Europa trieb. Für Flusser stand es außer Zweifel, dass das magische Denken mit seinen waghalsigen experimentellen Ansätzen selbstverständlich zum Ursprung der modernen Naturwissenschaften gehört. In seinen Vorträgen sprang er häufig hin und her zwischen der Wirklichkeit des Faktischen und derjenigen produktiver Spekulation, entwarf die Identität eines Denkens in der heftigen Spannung zwischen curiositas und necessitas, der Neugierde und der Notwendigkeit, wie Porta die beiden wichtigsten Antriebsmotive für die Handlung des Forschers benannte. Flusser verkörperte eine solche Identität in

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Übergang die Herausforderung, diesen als »technisch/soziales Projekt einer kollektiven Herstellung von Autonomie zu gestalten« (Hartmann 2000:97). Flusser war auch nicht an einer Theorie im herkömmlichen Sinne interessiert. Sein »Denken versuchte vielmehr, in diejenigen Bereiche vorzustoßen, die ihm verschlossen und dunkel bleiben, die das Geheimnis und das Absurde und so auch das Offene herausstellen, jene Bereiche also, in denen Neues entstehen kann und das Abenteuer möglich wird« (Rötzer 1993: 142).

Indem Vilém Flusser hervorhebt, dass der Mensch das Geworfensein in die technische Welt annehmen und diese nach seinen Möglichkeiten gestalten soll, plädiert er für Konkretion und Synthese (vgl. Fohler 2003: 182). Wodurch ist die Methode Vilém Flussers weiter charakterisiert? Zuerst einmal fällt sein spezifischer Umgang mit Begriffen und Phänomenen auf. Er nimmt diese, befragt sie, verändert dadurch herkömmliche Bedeutungen und gibt (ihnen) nicht zuletzt Sinn. Flusser nimmt Begriffe und Phänomene6 ernst. Dieser phänomenologische Ansatz zeichnete ihn, so Rötzer (193: 147), besonders aus, da er mit diesem versuchte, jede Technik als Ausdrucksform bzw. als Erfindung einer menschlichen Geste zu beschreiben, die einzeln oder auch zusammen ein Weltbild konstituieren. Flusser selbst sagte hierzu, er nehme die Phänomene beim Wort, und dabei stellt sich das Gerede über diese meist als Metapher heraus. »Erst wenn ich [Flusser, Anm. M.M.] die Aufrichtigkeit beim Wort nehme, also bei ihr sehe, wie die Gedärme hängen, erst dann kann ich mir ein Urteil der Aufrichtigkeit im übertragenen Sinn erlauben« (Flusser

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charismatischer Weise. Nicht zuletzt damit begeisterte er die Mediendebatte der 1980er, die nach Strukturalismus, Marxismus und Lacanismus begierig auf neue Anregungen war. Die großen abstrakten Texte langweilten Künstler und diejenigen, die mit den neuesten Medien die Welt verändern wollten, da sie in ihnen wenig Beziehung zu ihrer eigenen Transformationsarbeit entdecken konnten. Flusser hingegen vermochte leidenschaftlich dazu zu motivieren, die historisch ihm möglich erscheinende Verschiebung vom Subjekt zum Projekt gedanklich und in medialer Praxis auszuprobieren, mit allen ihren Widersprüchen und Paradoxien. Für den etablierten Teil der akademischen Welt bleibt sein sprunghaftes Denken zwischen den Disziplinen bis heute nicht akzeptabel« (Zielinski 2002: 121). Insofern handelt es sich um eine Fortsetzung des phänomenologischen Ansatzes. Vgl. Hartmann 1999b: http://www.netzgestalten.de/Frank.Hartmann /RechnerMedium.htm, Juli 2003). Florian Rötzer (1993) nennt Flussers Methode eine existentialistische Phänomenologie die zugleich Anthropologie sei. Zur Phänomenologie sagt Bachelard, dass deren Situation gegenüber der psychoanalytischen Untersuchung vielleicht schärfer umrissen erscheinen mag, »wenn wir, von den dichterischen Bildern aus, eine Sphäre reiner Sublimierung entdecken, einer Sublimierung, die nichts sublimiert, die befreit ist vom Ballast der Leidenschaft, befreit vom Schub der Wünsche« (Bachelard 1999: 19).

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1998: 186f). Dieser Zugang will vermeiden, überhastet auf die Frage Warum einzusteigen. Die Intelligenz wirft sich fortwährend und blindlings auf das Warum und man müsse sie »zum vorhandenen Objekt zurückführen, nicht zu dem Objekt, so wie wir es uns denken, sondern wie es sich selbst zeigt« (Pfeiffer 1999: 247). Genau diese Forderung ist in der Methode Vilém Flussers verankert. Hinsichtlich der Methodologie Flussers fällt des Weiteren auf, dass er seine Thesen kaum kontextualisiert. Er setzt diese also nicht in Beziehung zu bereits existierenden Theorien aus dem akademischen Kontext. So sind Parallelen zu Günter Anders oder auch McLuhan erkennbar, sie jedoch zu rekonstruieren, wäre fruchtlos. Flusser behält die klassischen Fragestellungen der Philosophie bei und fragt, wie der Mensch unter den Bedingungen des digitalen Scheins die erkenntnistheoretischen Fragen wieder aufnehmen kann. Diese Fragen, welche die Philosophie stets intensiv beschäftigt haben, fragen danach, ob es Gewissheit geben kann oder etwas, das eben nicht trügt? (vgl. Hartmann 2000: 285) Warum trügt der digitale Schein eigentlich? Vilém Flusser fragt, ob es etwas geben kann, das eben nicht trügt und das ist für ihn die entscheidende Frage, »die erkenntnistheoretische Frage, vor die uns die alternativen Welten stellen« (Flusser 1991: 148).7 Wenn man von alternativen Welten spricht, dann muss eben dieser Frage nachgegangen werden und keiner anderen. Aber woher rührt das Misstrauen gegenüber den alternativen Welten? Folgt man der flusserschen Argumentation, dann gründet dieses Misstrauen darauf, dass der Mensch selbst diese Welten entworfen hat. Alternative Welten wurden dem Menschen also nicht gegeben, sind keine Gegebenheiten, sprich Daten, sondern eben Hergestelltes, sprich Fakten. Der Mensch misstraut diesen Welten, da er allem Künstlerischen bzw. aller Kunst misstraut. Die Kunst mag zwar schön sein, aber sie ist für den 7

Bezug nehmend auf diese Ausführungen schreibt Flusser: »Das Umkodieren bringt die bereits erwähnte erkenntnistheoretische Frage mit sich, ob es etwas gibt, das nicht trügt. Darauf gab Descartes bekanntlich etwa folgende Antwort: Was nicht trügt, ist das disziplinierte, klare und deutliche arithmetische Denken. Es ist klar und deutlich, weil es in Zahlen kodifiziert und weil jede einzelne Zahl von jeder anderen durch einen Intervall getrennt ist. Diszipliniert ist solch ein Denken, weil die Regeln des Zahlenkodes, etwa das Addieren und Subtrahieren, exakt befolgt werden müssen. Der eigentliche Grund für die Aufgabe des Buchstabendenkens zugunsten des Zahlendenkens besteht also darin, dass jenes nicht klar, deutlich und diszipliniert genug ist, um zur Erkenntnis führen zu können. Die denkende Sache – res cogitans – hat arithmetisch zu sein, um die Welt erkennen zu können (Flusser 1991: 150). Diese Ausführungen lassen sich mit Hartmann weiter präzisieren, der anmerkt, dass die Philosophie von Descartes das abstrakte Denken als absolutes Wahrheitsinstrument einsetzt, eben auf der Grundlage was klar und deutlich erkannt werden kann. Dabei wird die problematisch gewordene Vermittlung zwischen dem Ich und der Welt neu erstellt. An die Stelle der göttlichen Offenbarung tritt die mathematische Beweisführung (vgl. Hartmann 2000: 48. Besonders Kap. 2).

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Menschen Lüge, und dies wird mit dem Begriff Schein bezeichnet (vgl. ebd. 147). Die Philosophie operiert wesentlich unter den Bedingungen des Bilderverbots, und (die) Bilder stellen die traditionelle Metapher für den trügerischen Schein dar. Kurzum: Sie verstellen den Blick auf das wirkliche Sein. »Der philosophische Diskurs der abendländischen Tradition ist linear gebaut, aus Buchstaben auf Zeilen« (Hartmann 2000: 285). Aber gegenwärtig haben wir es nicht mehr mit Bildern im herkömmlichen Sinne zu tun, sondern mit den technischen Bildern. Darzulegen sind die Fundamente, auf denen technische Bilder bzw. Technobilder sowie ein ganzes Universum von technischen Bildern basieren. Zu klären sind also die Umstände, welche zum Entstehen des Universums der technischen Bilder geführt haben oder, frei nach Flusser, welche Umstände dieses emportauchen ließen. Woraus sind sie nun emporgetaucht? Dies zu erhellen, ist eine der Aufgaben des folgenden Abschnitts. Das Konkrete ist zu verlassen, um die neue Einbildungskraft zu ergründen und das Emportauchen des technischen Universums zu verstehen. Flusser hat dem Paradigmenwechsel von »alphabetisierten zum komputierenden Denken« (Hartmann 2000: 281) erfasst und zeigt in seinen (nichtkulturpessimistischen) Analysen8, in welchen Sackgassen sich die Untersuchungen wieder finden, wenn sie weiterhin undifferenziert und unreflektiert an vortelematischen Fragestellungen festhalten. Gegenwärtig ist der Mensch mit einem spezifischen Phänomen konfrontiert: Die Welt besteht aus Technobildern, insofern lebt der Mensch in einer kodifizierten Welt. Bei der Entzifferung der Technobilder taucht nun die Problematik auf, dass der Mensch zwar glaubt, die Technobilder lesen zu können, in Wirklichkeit aber ihre programmierte Struktur nicht erkennen kann. Das Leben in einer kodifizierten Welt führt zu einer Entfremdung des Menschen von der Welt; einer Entfremdung, die letztlich auf fehlende Autonomie zurückzuführen ist. »Die Entdeckung der Medienwirklichkeit bedeutet Herstellung von Autonomie« (Hartmann 1999: 112). Auf der Herstellung der Autonomie basiert nicht zuletzt die positive Utopie.9 Der Kern der flusserschen Hypothese besteht nun darin, dass »mit der Öffnung des Informationsraumes (Cyberspace) die Existenz von Medienwirklichkeit als jene andere Wirklichkeit manifestiert 8

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Obwohl Flusser, wie übrigens auch McLuhan, dem Fernsehen und der beginnenden Telematik sehr kritisch gegenüberstand, verfiel er nicht in einen Kulturpessimismus (vgl. Hartmann 1999b: http://www.netzgestalten.de/Frank. Hartmann/RechnerMedium.htm, Juli 2003). Die Utopie ist nötig, da man sonst wohl nicht auf mannigfaltige Möglichkeiten wird stoßen können. Gemeint sind Möglichkeiten, die nicht nur die aus dem Produkt gewordene Realität fokussieren. Will man diesen tatsächlich nachspüren, dann muss die Option »durchbrennen zu können, im Schwärmen uferlos zu werden« offen gehalten werden. Natürlich bedarf es auch der Option des Kritisierens. Das, was zu kritisieren ist, gilt es zu kritisieren (vgl. Zielinski 2002: 40).

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worden ist, mit der sich die menschliche Existenz neu definiert« (Hartmann 2000: 289). Definiert sich die menschliche Existenz neu, dann wird diese die Gesellschaftsstruktur beeinflussen. Die Beschreibungen über den Otakismus lassen den Schluss zu, dass Otakus gelernt haben, in einer kodifizierten Welt bzw. in einem technischen Universum zu leben. Was aber ist unter einer kodifizierten Welt zu verstehen? Und was ist mit den Technobildern gemeint? Was bedeutet Freiheit in der kodifizierten Welt? Hat die kodifizierte Welt etwas mit der Telematik bzw. ist Telematik tatsächlich als das Zusammenwachsen von Telekommunikation und Informatik zu verstehen? All das sind Fragen, die im Zuge der Ausführungen zu Flusser beantwortet werden sollen. Bei der Analyse der Gesellschaftsstruktur(en) beschränkte sich Vilém Flusser keineswegs auf eine Analyse von Vergangenem. Im Gegenteil: Er wagte den Blick in die Zukunft. Seine Ausführungen zur telematischen Gesellschaft, der er durchaus kritisch gegenübersteht (Hartmann 1999c), resultieren aus einer solchen Reflexion. Information ist ein zentrales Element der telematischen Gesellschaft. Dennoch sind Informationsgesellschaft und telematische Gesellschaft nicht synonym zu verwenden. Beim Versuch den Begriff Informationsgesellschaft zu klären, treten definitorische Probleme hervor. Flusser (1999) thematisiert zwei differente Zugänge. Ersterer, und hierbei handelt es sich um die herkömmliche Sichtweise, geht davon aus, dass unter Informationsgesellschaft jene soziale Struktur verstanden wird, in welcher das »Herstellen, Verarbeiten und Verteilen von Informationen eine zentrale Stellung« einnimmt. Beim zweiten Zugang wird Informationsgesellschaft als eine Daseinsform (Flusser) betrachtet, in welcher sich das »existenzielle Interesse auf den Informationsaustausch mit anderen konzentriert« (ebd.: 143). Auf diesem zweiten Ansatz wird der Fokus liegen, da dieser das Individuum ins Zentrum rückt. In traditionellen Analysen sind wir daran gewöhnt, nach dem Verhältnis zwischen dem Menschen und der Gesellschaft zu fragen, und diesen Untersuchungen ist eine spezifische Problematik inhärent: die Existenz von zwei entgegengesetzten Polen. Auf der einen Seite steht der Mensch, auf der anderen Seite die Gesellschaft, und diese beiden Einheiten können auf unterschiedliche Art und Weise miteinander in Beziehung treten.10 Vilém Flusser weist nun darauf hin, dass in diesem Zugang ein verborgener Fehler steckt. Für ihn 10 Daraus entstehen Fragen, wie: ›Ist diese Form der Gesellschaft gut für die Menschen?‹ und umgekehrt, ›Ist der Mensch gut für diese Gesellschaft?‹ (vgl. Flusser 1999: 144). Allgemein zu Gesellschaft konstatiert Peter Sloterdijk (2000: 172), dass das, was wir mit dem unglücklichen modernistischen Ausdruck Gesellschaft bezeichnen, aus evolutionärer Sicht ein Mantel-System aus entbehrlichen Personen sei. Später wurde diese unter den Namen Väter bekannt. Seine Funktion sei es, die unentbehrliche wie empfindliche KernSphäre des Mutter-und-Kinder-Feldes zu schützen.

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gibt es keine Gesellschaft ohne Menschen und keine Menschen außerhalb einer Form von Gesellschaft und insofern ist es nicht zulässig, die Begriffe Mensch und Gesellschaft voneinander losgelöst zu betrachten. Weder der Mensch, noch die Gesellschaft sind das Konkrete, sondern »das Beziehungsfeld, das Netz der intersubjektiven Relationen« (ebd.: 144) sind das Konkrete. Wenn dieser Gedanke nicht zurückgewiesen wird, dann müssen zahlreiche traditionelle Kategorien umgedacht werden. Es wird etwa die Frage nach dem Unter- und Überbau der Gesellschaft11 hinfällig, denn der Unterbau manifestiert sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Aus diesen gehen die Individuen wie auch die Gesellschaft hervor. Und genau diese Einsicht, dass die Kommunikation die Infrastruktur der Gesellschaft ist, bildet die Grundlage der flusserschen Auffassung von Informationsgesellschaft. Anders formuliert: Es sind die verbindenden Fäden des einen mit dem anderen, die unser konkretes Dasein ausmachen. Gesellschaft meint die Strategie, dank welcher sich Menschen durch den Austausch von Informationen zu verwirklichen hoffen. Doch dies klingt völlig utopisch, denn ein gegenseitiges Verwirklichen mit und in anderen setzt eine Offenheit zwischen den einzelnen Partnern voraus. Flusser spricht von einer Hingabe des einen an den anderen. Und speziell am Beispiel der Otaku-Generation sehen wir, dass exakt das Gegenteil vorherrscht, nämlich eine Tendenz zur Selbstbehauptung und nicht eine zur »Selbstvergessenheit, die Tendenz zur Abkapselung von anderen im eigenen Selbst und nicht jene zur Anerkennung des anderen« (Flusser 1999: 145). Das Errichten einer Informationsgesellschaft wäre sogar ein hoffnungsloses, utopisches Unterfangen, gäbe es nicht jene technische Entwicklung, die als Telematik12 bezeichnet wird. Flusser deutet Telematik als ein selbstbewegtes Näherrücken von

11 Gemeint ist, ob die Wirtschaft, die Religion, die Klasse, die Volkszugehörigkeit, die Infrastruktur oder Superstruktur der Gesellschaft darstellen. 12 Im Jahre 1978 wurde ein Bericht von Simon Nora und Alain Minc an den französischen Präsidenten Giscard d’Estaing übergeben. Der Bericht ist als ein Echo auf die beunruhigende Diagnose zum Weltzustand zu lesen. »Die Betrachtungen über die Informatik und die Gesellschaft verstärken die Überzeugung, dass das Gleichgewicht der modernen Zivilisationen auf einer schwierigen Alchemie beruht: Die Dosierung zwischen einer immer stärkeren Ausübung hoheitlicher Staatsgewalt, die besser kaserniert gehörte, und einer wachsenden Überfülle der Zivilgesellschaft. Die Informatik wird, auf Gedeih und Verderb, zum Hauptingredienz dieser Dosierung« (Nora/Minc zitiert nach Mattelart 2003: 96). Die beiden Berichterstatter prägten in ihrem Bericht den Neologismus Telematik und wollten dadurch die Verschmelzung von Telekommunikation und Informatik bezeichnen. Nora und Minc konstatieren in ihrem Beitrag, dass die vernetzte Gesellschaft langfristig eine elitäre wie auch eine demokratische Machtverteilung in Frage stellen würde. Die neue Weise der weltweiten Regulierung der Gesellschaft zu deren Erreichung die Informationsgesellschaft beiträgt, würde den Verlust des sozialen Konsenses bremsen und würde helfen, dass die Bürger die sozialen Spielregeln neu entdecken.

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Entferntem.13 Sie ist jene Technik, dank welcher Menschen näher aneinander rücken, »ohne dabei irgendwelche Anstrengungen machen zu müssen« (ebd.). Die Telematik ist also eine Technik, durch welche die Voraussetzung für eine Informationsgesellschaft durch Apparate herstellt wird. Sie schafft die Offenheit des einen zum anderen und bringt die Anerkennung des einen im anderen automatisch zuwege, und zwar durch die Apparate, die wir heute alle kennen: Telefone, Computerterminals mit reversiblen Kabeln oder Faxe. Zusammengefasst ist Telematik also jene Technik, »welche das Errichten einer Gesellschaft zum Verwirklichen des einen im anderen aus dem Utopischen ins Machbare überträgt; die Informationsgesellschaft im hier gemeinten Sinn in absehbarer Zukunft ermöglicht« (ebd.: 145f). Vor dieser Sichtweise ermöglicht die Telematik die Informationsgesellschaft überhaupt erst. Zwei mit der Telematik verbundene Schwierigkeiten scheinen bisher übergangen. Der Aspekt des Selbst und jener der Nähe. Das Selbst (inklusive seiner Synonyme wie Identität, Individualität etc.) weist bei Flusser auf etwas Virtuelles hin. Telematik ist eine Technik, die das Selbst abschafft und zu Gunsten eines Du herstellt. Daraus ergibt sich die Konklusion, dass die Informationsgesellschaft eine Strategie zum Abschaffen einer Ideologie von einem Selbst darstellt. Und diese Anthropologie, die besagt, dass wir Knoten von Beziehungen sind, die sich erst im Verhältnis zu anderen verwirklichen (ein Verwirklichen, welches übrigens auch in Lacans Spiegelstadium und seinem Konzept des »che vuoi?« auftaucht), stellt die Frage nach der Nähe sehr spezifisch. Nähe ist nicht mehr eine Funktion räumlicher und zeitlicher Entfernung, »sondern Funktion der Zahl und Intensität der Beziehungen« (ebd.: 146), die einen Menschen mit dem anderen verbinden. Anders formuliert: Eine räumliche und zeitliche Distanz ist für die Definition und Verwendung von Nähe nicht relevant. Es ist unerheblich, wie groß die Entfernung bzw. die zeitliche Differenz ist. Ins Zentrum rückt die Stärke der Verbindung. Je stärker die Verbindung zu einer Person, desto näher steht diese mir. »Je näher eine Beziehung, desto verwandter« (Flusser 1998: 81). Somit findet eine Neuorientierung von Nähe statt, und es ist bzw. wird möglich, von Verwandtschaftsgrad zu sprechen.14 Aus der Reflexion der Begriffe Selbst und Nähe resultiert eine spezifische Definition von Ethik. Räumlichzeitlich von einander entfernte Menschen rücken existentiell zusammen 13 Die Vorsilbe ›tele-‹ weist auf das Näherbringen von Entferntem, die Nachsilbe ›-matik‹ auf das Wort Automat, welches Selbstbewegung bedeutet, hin. 14 Diese Sichtweise von Nähe bereichert die Diskussion über die Otaku-Generation. Nähe im traditionellen Sinn ist für Otakus unrelevant. Zwischen ihren Beziehungen kann eine größere räumliche Distanz entstehen, und dennoch sind sie den Personen am anderen Ende näher. Die Behauptung, Otakus würden Nähe im flusserschen Sinn betrachten, ist absolut zulässig, da sich die Nähe einer Beziehung nicht über die räumliche Distanz definieren lässt.

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(bzw. können zusammenrücken), um einander gegenseitig zu realisieren. Die Ansätze einer telematischen Gesellschaft (System der Vernetzung) bilden zwar nur kleine, relativ unbedeutende Inseln innerhalb des gigantischen existierenden Systems der Bündelung wie sie in Massenmedien existieren. Bei diesen strahlen »Sender bündelartig Informationen an zu jeder Antwort unfähige, also verantwortungslose und unmündige Empfänger« (Flusser 1999: 147) aus. Sowohl das System der Bündelung also auch jenes der Vernetzung gelten als Symptome für die Kommunikationsrevolution – und gegenwärtig sind wir die Zeugen dieser. Es verwundert also nicht, wenn der Mensch über sich selbst und seine Lebenswelt erschrickt, denn die telematische Gesellschaft, wie sie Flusser voraussagt, ist nicht »was auf uns zukommt, sondern was uns besorgt macht, weil es aus uns emportaucht. Nicht um Zukunftsmusik, sondern um Kritik an der Gegenwart geht es« (Flusser 2000d: 174). Die Kommunikationsrevolution besteht also grundsätzlich in einer Umsteuerung des Datenstromes15. Dabei wird der öffentliche Raum vermieden, ja, er wird unnötig – und hierfür ist die Otaku-Generation wohl ein treffendes Beispiel. Wichtig ist für Flusser die Erkenntnis, dass zwei verschiedene Schaltpläne gezeitigt wurden: der Bündelschaltplan und der Netzschaltplan. Ersterer führt zu einer gleichgeschalteten, totalitären Massengesellschaft. Zweiterer führt zur Informationsgesellschaft. Für Flusser steht außer Frage, das wenn tatsächlich die Bündelung überwiegen sollte, wir einer »verantwortungslosen, verkitschenden und brutalisierten Lebensform« (Flusser 1999: 148) entgegengehen.16 Menschen haben sich unter Rücksichtnahme auf ihre Kompetenz und Stellung für die Möglichkeit der Informationsgesellschaft einzusetzen. In der Schrift Für eine Philosophie der Photografie fordert Flusser, dass die Kategorien unserer Kulturkritik umgedacht werden müssen. Er kommt zum Schluss, dass bei 15 Flusser verwendet nicht den Begriff Datenstrom, sondern Informationsstrom. 16 Dieses Argument ist mit einem Beispiel von Kommunikationsformen zu veranschaulichen. Gemeint ist konkret das Gegensatzpaar Diskurs und Dialog. Eine diskursive Kommunikationsform charakterisiert sich dadurch, dass Menschen Informationen bewahren wollen. Hierfür verteilen sie ihre Informationen so, dass diese der entropischen Wirkung der Natur besser widerstehen. Eine dialogische Kommunikationsform versucht, Informationen zu erzeugen. Hierfür tauschen Menschen Informationen in der Hoffnung aus, dass aus diesem Tausch sich eine neue Information synthetisiert. Die Klage, dass ein Mensch nicht kommunizieren könne, begründet sich nicht darin, dass Menschen tatsächlich unter einem Mangel an Kommunikation leiden. »Nie zuvor in der Geschichte hat die Kommunikation so gut, so intensiv und so extensiv funktioniert wie heute. Was die Leute meinen, ist die Schwierigkeit, echte Dialoge herzustellen, das heißt, Informationen im Hinblick auf neue zu tauschen. Und diese Schwierigkeit ist gerade auf das gegenwärtig so perfekte Funktionieren der Kommunikation zurückzuführen, nämlich auf die Allgegenwart hervorragender Diskurse, welche jeden Dialog zugleich unmöglich und unnötig machen« (Flusser 2000a: 16f). Massengesellschaft und Informationsgesellschaft im Sinne Flussers verhalten sich also wie Diskurs und Dialog.

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Kulturanalysen die Kategorie Information an Stelle von Arbeit angewendet werden muss (vgl. Flusser 2000c: 24). In einer telematischen Gesellschaft wird es also unumgänglich sein, die Kategorien der Analysen zu überdenken. Abschließend zu dieser Einleitung sei noch einmal festgehalten, dass die Frage nicht lautet, was die Lektüre flusserscher Texte für die Analyse des Phänomens Otakismus bringt, denn das würde lediglich zu einer Kontextualisierung seiner Konzepte führen. Kontextualisierung wird an manchen Stellen durchaus stattfinden, jedoch nicht mit der Absicht, das Phänomen Otakismus flussertauglich zu machen. Flusser hat mit seinen Ausführungen Entwicklungen vorweggenommen, die lange Zeit wohl als zu apokalyptisch galten, um tatsächlich ernst genommen zu werden. Wenn Seitter (2002) von einer apokalyptischen Medientheorie spricht, so setzt sich dieses Kapitel folgende zentrale Aufgabe(n). Neben einer ausführlichen Klärung von flusserschen Konzepten wird aufgezeigt, dass diese apokalyptische Medientheorie durchaus einen wertvollen Beitrag für die Debatte um das Phänomen Otakismus leisten kann. Die gegenwärtig realen Komponenten der Utopie werden eingekreist und in den Diskurs eingebracht. Um den Begriff des technischen Universums zu erläutern, bedarf es primär einer Klärung der spezifischen flusserschen Terminologie zu dieser Thematik. Diese Klärung ist der Inhalt des Abschnitts über das technische Universum. Nachdem die Umstände dieses technischen Universums geklärt sind, wird die telematische Gesellschaft besprochen, um davon ausgehend zur Menschwerdung vorzudringen. Eine Menschwerdung, die jenen Prozess darstellt, dank dessen Menschen immer unabhängiger von der Lebenswelt werden, sie beständig weitere Fäden zerreißen, dank derer sie mit der Lebenswelt verbunden sind. Sie tragen also weniger Lebensinformationen (genetisch vererbte Informationen), werden leerer, sind weniger da (vgl. Flusser 1998: 266). Des Weiteren wird in diesem Abschnitt der Frage nachgegangen, ob die Informationsgesellschaft eine Bedingung für das Entstehen der OtakuGeneration darstellt. Die Annahme, dass bei einem Ernstnehmen der flusserschen Überlegungen zur telematischen Gesellschaft die Lebensweise der Otaku-Generation weniger überrascht hätte, scheint plausibel und ist zu bejahen.

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Ein Plädoyer für die Utopie – Das technische Universum Der Versuch in die Zukunft zu blicken, birgt die Gefahr in sich, als Utopie bezeichnet zu werden. Der offensichtliche Nachteil daran ist, dass dies als ein Hirngespinst abgewertet wird und sich somit jeder weiteren Reflexion entzieht. Utopie ist jedoch nicht möglich, da sie einen inneren Widersprung in sich birgt. Es kann kein Glück ohne Leiden geben. »Wären alle Schmerzen gestillt, alle Leiden betäubt, dann wäre zwar die Wirtschaft überholt und wir könnten ihr den Rücken kehren, um zu philosophieren. Doch hätten wir in einem solchen Fall nichts mehr, worüber wir philosophieren könnten« (Flusser 2000d: 158). Auch wenn die Utopie demnach nicht möglich ist, ist sie als Motivationsenergie für das Verfassen dieses Kapitels geeignet. Flusser spricht von einer positiven Utopie. Diese positive Utopie findet sich in den Ausführungen zur telematischen Gesellschaft, und sie ist Wert, reflektiert zu werden, da in ihr ein demokratisierender Effekt liegt. Auch wenn Utopien nicht immer stichhaltig sind, ist die Frage zu stellen: Was wäre der gegenwärtigen Gesellschaft verborgen geblieben, hätte es nicht die Utopie gegeben? Ein zentraler Aspekt, den Flusser (ebd.: 8) in seinen Ausführungen zu einer zukünftigen Gesellschaftsform formuliert, findet sich in dem Argument, dass sich eine derartige Gesellschaft an keinem Ort und in keiner Zeit mehr befindet. Diese Gesellschaftsform verlagert ihre Existenz in eingebildete Flächen, die sowohl Geografie als auch Geschichte verschlingen. Anders formuliert: Die Gesellschaft beginnt zunehmend, in technischen Bildern zu existieren. Ausgehend von den drei charakteristischen Kodes17, Vor-Alphabet, Alphabet und Nach-Alphabet18 erarbeitet Flusser die These, dass der in gegenwärtigen Gesellschaften lebende Mensch den Glauben an die überkommenen Bedeutungen und Konventionen, die hinter der linear kodifizierten Welt stehen, verloren habe. Der Mensch kann nicht mehr glauben, dass ein Dasein im Fortschritt noch Sinn macht. Deshalb springt er aus den Texten heraus, läuft dabei jedoch Gefahr, ins Nichts, in die Bedeutungslosigkeit, zu springen. Die Technobilder, sprich neuartige Kodes, unterstützen ihn dabei. Technobilder sind Produkte von Apparaten und geben den Texten neue Bedeutungen. Der Mensch berücksichtigt jedoch nicht, dass wenn es den Technobildern tatsächlich gelingt, Texte zu bedeuten, er diese Bedeutung nicht erleben kann. Somit kann er an das, was er selbst mitprogrammiert hat, nicht mehr glauben. Was aber ist es, 17 Vgl. hierzu das Kapitel 2 der Kommunikologie. 18 So ist etwa der Kode der Technobilder ein nachalphabethischer. Er hätte ohne das Alphabet nicht erfunden werden können (vgl. Flusser 2000a²: 103).

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woran der Mensch nicht mehr glauben kann? An wissenschaftliche Wahrheiten, an die Güte von Technik oder kurz an die Geschichte? »Wir können also relativ leicht aus der Welt alphabetisch gedruckter Texte herausspringen und in die Welt der Fotografien, der Filme, der Fernsehschirme und roten Ampeln hineinspringen, aber die Welt, in die wir da hineinspringen, kann für uns keine Bedeutung haben, weil wir sie von unserem früheren Programm her programmieren müssen. Wir können nicht mehr in der Geschichte dasein, aber ein Dasein außerhalb der Geschichte ist uns vollständig unzugänglich, obwohl wir es täglich selbst programmieren« (Flusser 2000a: 100).

Im Verlaufe der Neuzeit ist das numerische Denken sehr kontinuierlich in die Dinge vorgedrungen. Doch es ist dabei auf keinen Grund gestoßen und somit sind die Dinge in Nebelschwaden aufgelöst worden (vgl. Flusser 1998: 11). Ein Dickicht von Problemen türmt sich zwischen dem Menschen und der heranrückenden Zukunft. Eines dieser Probleme besteht in der Klärung der Frage, was denn technische Bilder überhaupt sind. Was sind technische Bilder? Sie sind von Apparaten erzeugte Bilder und können auch nur von diesen hergestellt werden, aber hinzuzufügen ist, dass sie einer anderen, abstrakteren Bewusstseinsebene entspringen. Einer Bewusstseinsebene, auf welcher sich der Mensch in Urzeiten befand und die als prähistorische Ebene bezeichnet wird. Der Mensch nahm Abstand von dieser Ebene, um sie zu überblicken und zu imaginieren (vgl. Flusser 2000d: 182). Außer Frage steht, dass es dem Menschen nicht mehr freisteht, die »Dominanz der technischen Bilder über die zukünftige Gesellschaft in Frage zu stellen« (ebd.: 8). Zwei durchaus fantastische Gesellschaftsformen, die sich aus zwei divergierenden Grundtendenzen der gegenwärtigen technischen Bilder ergeben, sind zu erwähnen. Eine Tendenz, die eine negative Utopie darstellt, weist in Richtung einer zentral programmierten, totalitären Gesellschaft von Bildempfängern und Bildfunktionären. Die zweite, die nach Flusser eine positive Utopie darstellt, führt zu einer dialogisierenden telematischen Gesellschaft von Bilderzeugern und Bildsammlern. Die negative Utopie sieht man etwa auch darin bestätigt, dass Leroi-Gourhan von einer Verarmung auf Grund des Verschwindens der persönlichen Vorstellungsvarianten spricht. Die Massen seien zu bloßen Aufnahmeorganen geworden, so der Paläontologe (vgl. 1988: 267). Man kann die negative Utopie auch mit Adorno bekräftigen; Die private Existenz sehnt sich danach, der menschenwürdigen Existenz ähnlich zu sehen, zugleich verrate sie diese jedoch, indem sie die Ähnlichkeit der allgemeinen Verwirklichung entzieht und eben aus dieser Verwobenheit gibt es keinen Aus-

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weg (vgl. Adorno 2001: 33). In der telematischen Gesellschaft existieren nun keine Zweifel an der Dominanz der technischen Bilder. Wozu dient jedoch die Rede vom Universum der technischen Bilder?

Die Kulturrevolution – Das Emportauchen in die nachgeschichtliche Nulldimensionalität Das Universum der technischen Bilder bezeichnet jenes Universum, in welchem die technischen Bilder die Funktion von linearen Texten übernehmen und sich in der konkreten Form von Fotos, Videos, Fernsehschirmen und Computerterminals materialisieren. Aber vor allem ist es durch Buntheit charakterisiert. Die Buntheit unserer Szene ist eine »Manifestation einer neuen Art. Der Welt und dem Leben darin einen Sinn zu geben. Die Buntheit unserer Wände, Konserven und Socken ist die Folge einer neuen Art, die Welt zu kodifizieren – als einer neuen Art zu denken, zu fühlen und zu wollen. Aus dieser Sicht ist es überflüssig, betonen zu wollen, dass die Buntheit der Socken nicht nur ein ästhetisches Phänomen ist, sondern dass es sich dabei um ein Symptom für eine grundlegende Kulturevolution handelt« (Flusser 1999: 264).

Da die Struktur der Datenträger und Informationsspeicher für den Menschen einen entscheidenden Einfluss auf seine Lebensweise ausübt, handelt es sich um eine Kulturrevolution. Die Struktur der Datenträger und Informationsspeicher ist insofern relevant, als dass der Mensch nicht wie die Tiere, von genetisch ererbten Informationen lebt, sondern auch auf Basis von erworbenen Informationen. Anders ausgedrückt: Die harten Dinge der Umwelt werden von weichen Dingen verdrängt werden. Die Struktur der Datenträger und Informationsspeicher verändert sich. Das so genannte Konkrete, welches sich in Dingen zeigte und woran sich Menschen bisher an-halten konnten, verschwindet zusehends. Somit gewinnt das Leben eine neue Färbung. Nicht mehr Dingliches, sondern das Informative an den Dingen ist das Interessante. Eine Verschiebung von Ding auf Information findet statt. Die Umwelt wird also immer nebelhafter und das politische, ökonomische und soziale Konkrete ist vom Ding zur Information gewandert (vgl. Flusser 1999: 185ff). Deutlicher wird vor diesem Hintergrund die Feststellung, dass sich die Bedeutung der menschlichen Fähigkeit des Abstrahierens grundlegend verändert hat. Abstraktion19 ursprünglich eingesetzt, um von einem konkreten Umstand 19 »Abstrahieren heißt im etymologischen Sinne etwas im Denken isolieren, einen Teil betrachten, indem man ihn aus dem Ganzen herauslöst. Dem

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einen Abstand einzunehmen, muss gegenwärtig als Fähigkeit eingesetzt werden, um aus Undingen die Sachen zu abstrahieren. Die Forderung, zu den Sachen zurückzukehren, bedeutet schlicht, Kodes aufzudecken, um sich selbst und natürlich auch die anderen von diesen zu emanzipieren. »Zurückgehen auf die ›Sachen selbst‹ heißt zurückgehen auf diese aller Erkenntnis vorausliegende Welt, von der alle Erkenntnis spricht und bezüglich deren alle Bestimmung der Wissenschaft notwendig abstrakt, signitiv, sekundär bleibt, so wie Geographie gegenüber der Landschaft, in der wir allererst lernten, was dergleichen wie Wald, Wiese und Fluss überhaupt ist« (MerleauPonty 1965: 5).

Wenn die Texte von Bildern verdrängt werden, dann erlebt, erkennt und wertet der Mensch die Welt und sich selbst anders als vorher: »nicht mehr eindimensional, linear, prozessual, historisch, sondern zweidimensional, als Fläche, als Kontext, als Szene« (Flusser 2000d: 9). Dies ist zudem zu ergänzen, weil der Mensch in weiterer Folge auch anders handelt, da er in Beziehungsfelder eingebettet ist. Die Abstraktion birgt aber ein Problem in sich, denn wenn die Dinge einmal abstrakt geworden sind, dann werden »auch die Sinne sehr bald stumpf« (Debray 1999: 30). Wenn von technischen Bildern die Rede ist, dann ist primär zentral, dass technische Bilder anders geartet sind als traditionelle Bilder. Allgemein ist dabei festzuhalten, dass ähnlich der Figur des Christus auch das hergestellte Bild ein Paradox ist. Ein Paradox insofern als es eine »physisch überbordende Realität, die gereinigt, transportiert, aufbewahrt und geschützt wird« (Debray 1999: 81), darstellt. Traditionelle Bilder sind eine Reduktion der konkreten, »vierdimensionalen Verhältnisse auf zwei Dimensionen« (Flusser 2000a: 111). Technische Bilder hingegen beruhen auf Texten, sind aus Texten hervorgegangen und bezeichnen keine eigentlichen Flächen, sondern aus Punktelementen zusammengesetzte Mosaike. Demnach sind sie nicht vorgeschichtlich, weil eben nicht zweidimensional, sondern non-linear, weil nulldimensional. Flusser stellt sich der Annahme entgegen, dass der Mensch in eine vorgeschichtliche Zweidimensionalität zurückkehrt, seiner Meinung nach taucht der Mensch in eine nachgeschichtliche Nulldimensionalität ein (vgl. ebd. 2000d: 10). Gegenwärtig tragen nicht mehr Zeilen, sondern eben (neuartige) Flächen die Botschaften, dank derer der Mensch die Welt erlebt, erkennt und wertet. Unsere Plakate, Zeitschriften, Häuserfassaden und Socken sind entsprechen die ersten Formen der prähistorischen Kunst aufs Genaueste; sie greifen zunächst die expressiven Details heraus, den Phallus, die Vulva, den Kopf von Bison oder Pferd, und stellen sie zusammen, um so eine mythologische Ganzheit in Symbole umzusetzen und ein Mythogramm zu schaffen« (Leroi-Gourhan 1988: 458).

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mittlerweile die Träger »jener Informationen, die uns programmieren« (Flusser 2000a: 173). Das Technobild soll als Ansatz zum Aufrollen der gegenwärtigen Krise dienen. Und wenn eine Krise erwähnt wird, dann kennzeichnet sich diese durch den Zusammenbruch der eindimensionalen und dem Aufkommen von zweidimensionalen Kodes. Technische Bilder rekodieren das Abgebildete und rekombinieren die einzelnen Momente anschließend wieder. Die technischen Bilder unterscheiden sich von den traditionellen Bildern dadurch, dass sie, wie bereits erwähnt, eben nicht von Menschen, sondern von Apparaten produziert sind, und dass ihr jeweiliger Kode für den Menschen nicht direkt erkennbar ist. »Technobilder haben etwa einen maschinenlesbaren Source-Code, woraus der Apparat erst eine für das menschliche Wahrnehmungsvermögen rezipierbare Form generiert« (Hartmann 2000: 290f). Bei technischen Bildern handelt es sich, wie erwähnt, also um Bilder, die von Apparaten erzeugt werden. Diese Apparate wiederum sind Produkte von wissenschaftlichen Texten. Daher sind technische Bilder indirekte Erzeugnisse wissenschaftlicher Texte. Technische Bilder sind Komputationen von Begriffen und entstehen durch eine eigentümliche Einbildungskraft. Traditionelle Bilder sind Anschauungen von Gegenständen und entstehen durch Imagination. Beide entstehen jedoch erst, nachdem das Vertrauen zu Regeln verloren gegangen ist. Einbildung ist dabei etwas ganz anderes als Imagination. Wenn von technischen Bildern die Rede ist, dann steht nicht Imagination, sondern eine neue Einbildungskraft im Zentrum. Traditionelle Bilder

Technische Bilder

• Abstraktionen ersten Grades • vorgeschichtlich • bedeuten Phänomene • sind Spiegel

• Abstraktionen dritten Grades • nachgeschichtlich • bedeuten Texte • sind Projektionen

Technische Bilder müssen eigentlich gar nicht entziffert werden, da sich ihre Bedeutung automatisch auf ihrer Oberfläche abbildet. Was technische Bilder zeigen, scheint nicht Symbol, sondern Symptom zu sein. Und dieser »scheinbar unsymbolische, objektive Charakter der technischen Bilder führt den Betrachter dazu, sie nicht als Bilder, sondern als Fenster anzusehen« (Flusser 2000c: 14). Ein unkritisches Vertrauen, welches der Mensch den technischen Bildern entgegenbringt, ist zu verorten. Gefährlich wird diese Kritiklosigkeit besonders in Bereichen, in denen diese daran sind, Texte zu verdrängen. Die neue Problematik, mit welcher der Menschen konfrontiert wird, ist, dass er bei den technischen Bildern nicht mehr außerhalb steht (wie etwa noch beim Lesen eines Textes). Bei den technischen Bildern befindet sich der Mensch mitten unter diesen, 157

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sieht sich, so wie er vom Sender gesehen wird (vgl. Flusser 2000a: 68). Technische Bilder sind sehr wohl symbolisch, ja, sie stellen noch weit abstraktere Symbolkomplexe dar als traditionelle Bilder. Doch die Objektivität der technischen Bilder ist eine Täuschung. Die technischen Bilder sind Metakodes von Texten, die nicht die Welt, sondern Texte bedeuten. Die Imagination, welche die technischen Bilder herstellt, ist die Fähigkeit, Begriffe aus Texten in Bilder umzukodieren; und wenn der Mensch diese betrachtet, sieht er neuartig verschlüsselte Begriffe von der Welt dort draußen. Dabei ist nicht zu vergessen, dass der Mensch seit dem Verlassen der Bäume vor zwei Millionen Jahren versucht, sich Begriffe von allem und jedem zu machen, worauf seine Hände in seiner Lebenswelt stoßen. Doch, wonach soll er noch tasten? Bilder erfüllen keineswegs mehr nur die Funktion, die Welt vorstellbar zu machen, im Gegenteil, sie verstellen sie. Menschen hören auf, die Bilder zu entziffern und projizieren sie stattdessen unentziffert in die Welt. Dadurch wird die Welt selbst bildartig. Eine Umkehr der Bildfunktion ist erkennbar bzw. wurde vollzogen. Es geht um ein Vergessen. Der Mensch war es, der die Bilder erzeugte, um sich mit ihrer Hilfe in der Welt zu orientieren. Nun kann der Mensch die eigenen Bilder nicht mehr entziffern und lebt von nun ab in Funktion seiner eigenen Bilder, = Idolatrie.20 Die Imagination ist jedoch in Halluzination umgeschlagen. Das Schreiben hat eine neue Fähigkeit ins Leben gerufen: das begriffliche Denken. Gemeint ist damit, das Herstellen von Texten und deren Entzifferung. Doch für das Funktionieren des begrifflichen Denkens war wichtig, dass das imaginäre Denken »krebsartig zu wuchern drohte. Der Sprung aus dem Bild in die Zeile funktioniert besser für jene, die eher an zu reicher als zu armer Imagination leiden« (Flusser 2000a: 128). Begriffliches Denken ist jedoch abstrakter als imaginatives, denn es abstrahiert aus den Phänomenen alle Dimensionen mit Ausnahme der Geraden. Der Mensch entfernte sich also mit der Erfindung der Schrift von der Welt. »Die neue alphabetische Ordnung ermöglichte nun zwar den rationalen Diskurs, sie trennt jedoch die schriftliche Kommunikation vom audiovisuellen System der Symbole und Wahrnehmungen, das so entscheidend wichtig ist für einen voll entwickelten Ausdruck des menschlichen Verstandes. Die implizite und explizite Festlegung einer sozialen Hierarchie zwischen schriftlicher

20 Karl Ludwig Pfeiffer führt an, dass bereits 1957 der Rechtsanwalt Owen Barfield Idolatrie »als die Verdrehung von Bildern und Repräsentation auf die falsche Weise und aus falschen Gründen« definierte. »Barfield«, so Pfeiffer weiter, »denunzierte die Idolatrie als den Drang, den Sinngehalt – oder auch gegenteilig: den sinnlichen Gehalt – von der ganzen Repräsentation zu abstrahieren und um seiner selbst willen gewinnen zu wollen« (Pfeiffer 1999: 252).

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FLUSSERS TELEMATIK: VOM UTOPISCHEN INS MACHBARE Schriftkultur und audiovisueller Kultur, die Grund der menschlichen Praxis auf den schriftlichen Diskurs, hatte ihren Preis. Es war die Verdrängung der Welt der Töne und Bilder in die Hintertreppenexistenz der Künste, die sich mit dem privaten Bereich der Gefühle und mit der öffentlichen Welt der Liturgie befassten. Natürlich hat die audiovisuelle Kultur im 20. Jahrhundert historisch Rache genommen, indem sie zuerst mit Film und Radio und dann mit dem Fernsehen den Einfluss der schriftlichen Kommunikation auf die Herzen und Seelen der meisten Menschen verschüttete. Und diese Spannung zwischen der edlen alphabethischen Kommunikation und der sinnlichen, nicht reflektierenden Kommunikation ist ja auch der Grund für die Frustration vieler Intellektueller über den Einfluss des Fernsehens, und sie beherrscht noch immer die gesellschaftliche Kritik an den Massenmedien. Eine Transformation ähnlichen historischen Ausmaßes findet 2.700 Jahre später statt, nämlich die Integration verschiedener Kommunikationsweisen in ein interaktives Netzwerk. Mit anderen Worten: Die Herausbildung eines Hypertextes und einer Meta-Sprache, die erstmals in der Geschichte die schriftlichen, oralen und audiovisuellen Spielarten der menschlichen Kommunikation in dasselbe System integrieren. Der menschliche Verstand vereinigt seine Dimension in einer neuen Interaktion zwischen den beiden Gehirnhälften, Maschinen und sozialen Kontexten« (Castells 2001: 375f).

Der Argumentation Flussers folgend, bedeuten Texte nicht die Welt, sie bedeuten die Bilder, die sie zerreißen. »Alle Texte meinen Bilder, und ohne Bilder gibt es keine Texte; oder: Texte sind Beschreibungen, Erklärungen, Auflösungen von Bildern« (Flusser 2000a: 128). Das Entziffern der Texte bedeutet das Entdecken der bedeuteten Bilder. Texte haben die Absicht, Bilder zu erklären und somit sind Texte ein Metakode der Bilder. Texte wurden also erfunden, um Bilder zu beschreiben. Insofern sind sie in Funktion von Bildern entstanden. Obwohl die Texte zwar die Bilder erklären, schlicht um sie wegzuerklären, illustrieren die Bilder die Texte, um sie vorstellbar zu machen. »Das begriffliche Denken analysiert zwar das magische, um es aus dem Weg zu räumen, aber das magische Denken schiebt sich ins begriffliche, um ihm Bedeutung zu verleihen« (Flusser 2000c: 11). Bei diesem beschriebenen Prozess verstärken sich begriffliches und imaginäres Denken gegenseitig. Die Bilder werden begrifflicher, die Texte imaginärer. Vilém Flusser zieht den Schluss, dass Texte zwar als Metakodes von Bildern fungieren können, umgekehrt liegen ihnen jedoch Bilder als Metakodes zu Grunde. Werden die Texte aber unvorstellbar und bildlich unfassbar, so lebt der Mensch in Funktion seiner Texte. Man spricht von Textolatrie21 und diese ist nicht minder 21 Auch Régis Debray gibt einen Hinweis auf die Textolatrie, wenn er die Frage stellt, ob die Semiologen, um sich selbst zu verstehen, eines Tages gezwun-

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halluzinatorisch als die Idolatrie. Sie erreichte im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt und Flusser spricht in diesem Zusammenhang gar von einem Ende der Geschichte. Warum? Wenn die Texte zunehmend unverständlicher werden, gibt es nichts mehr zu entziffern und somit auch keine Geschichte mehr. Texten ist die Tendenz inhärent, dass sie sich von den gemeinten Bildern emanzipieren und begrifflicher bzw. unvorstellbarer werden. »Da aber Texte eben Bilder bedeuten und Begriffe Vorstellungen, werden die Texte immer bedeutungsloser« (Flusser 2000a: 154). Diesen Punkt glaubte man durch die technischen Bilder zu überwinden, da durch diese die Welt wieder vorstellbar werden sollte. Doch auch die technischen Bilder führten in ein (zumindest vorläufiges) Dilemma. Ein Dilemma insofern, als bei der Dekodierung von technischen Bildern die Problematik auftaut, dass bei diesen, nicht wie bei traditionellen Bildern, eine offensichtliche Unterbrechung zwischen Bild und Bedeutung durch einen Apparat/Operator ersichtlich ist. Die Kodierung der technischen Bilder findet in einem verschlossenen Raum statt (Black Box22), und daher muss jede Kritik des technischen Bildes darauf ausgerichtet sein, das Innere dieses Raumes zu erhellen.23 Solange Menschen nicht über diese Kritikfähigkeit verfügen, bleiben sie Analphabeten (zumindest was das technische Bild betrifft). Kurzum: Technische Bilder sind Bilder, also Flächen, die alles in Sachverhalte übersetzen. Sie wirken magisch, sprich: Sie sind undurchsichtig insofern, als man nicht versteht, wie sie hergestellt wurden und wie man dennoch von ihnen programmiert wird. Und technische Bilder verleiten ihre Empfänger zur Projektion. Technische Bilder sind mosaikartige Raffungen von Punktelementen, also ein komputiertes Universum, in welchem Punktelemente zu scheinbaren Bildern eingebildet werden. Dieses seit einigen Jahren entstehende Universum, dieses dimensionslose eingebildete Universum der technischen Bilder soll den Umstand begreiflich, vorstellbar und fassbar machen. Nun ist dem Menschen aber nicht bewusst, dass die Technobilder »weder unserer Imagination noch unsere Konzeption im traditionellen Sinn, sondern eine andere und bislang unbekannte Entzifferungsweise herausfordern« (Flusser 2000a: 177): die Technoimagination: Eine unbekannte Entzifferungsweise die dem Menschen nicht bewusst ist. Insofern halten die rundgefunkten Programme nicht nur den Menschen als Individuum, sondern auch die Gesellschaft zusammen und gen sein werden, von den Sprachzeichen auf die Bildzeichen zurückzugehen (vgl. Debray 1999: 18). 22 Vgl. zu Black Box Manfé (2004). 23 Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die medientheoretische Frage nicht jene ist, ob und wie ein Medium als Black box vermittelt. »Sie richtet sich vielmehr auf ihre Prozesse und Funktion selbst, auf die Mediatisierungen« (Hartmann 2003: 95).

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zwar indem sie ihn massifizieren. Der Mensch ist aufgefordert, sich die Fähigkeit der Technoimagination anzueignen, die Fähigkeit, sich bewusst Bilder von Begriffen zu machen und diese in weiterer Folge zu entziffern, schlicht zu lernen, die Technobilder zu entziffern. Aber wozu das Gerede um technische und traditionelle Bilder? Und vor allem: Worin liegt der Erkenntniswert für die vorliegende Analyse der Otaku-Generation? Will man der neuen, durch technische Bilder hervorgerufenen Lebensform gerecht werden, dann müssen wir versuchen, so Flusser, bis »zu den Wurzeln unseres In-der-Welt-Seins zu tauchen« (ebd. 2000d: 12). Volker Grassmuck bezeichnet den Otakismus als eine neue Lebensform. Diese neue Lebensform charakterisiert sich einerseits durch spezifische Handlungsweisen, andererseits durch veränderte mediale Bedingungen. Diese veränderten medialen Bedingungen stehen in Verbindung mit einer zunehmenden Erhöhung des Abstraktionsgrades. Flusser hat hierzu ein Modell entwickelt, dass nicht dazu gedacht ist, eine Kulturgeschichte zu charakterisieren, aber welches herangezogen wird, um die Schritte nachzuzeichnen, die vom konkreten Erleben der Umwelt ins Universum der technischen Bilder führten. Technische Bilder sind mittlerweile allgegenwärtig (auch wenn sie nicht als solche erkannt werden). Eine Lebensform im Universum der technischen Bilder – eine positive Utopie, weil demokratisch – schlägt sich möglicherweise im Otakismus nieder. Die Betonung liegt auf »möglicherweise«, denn es ist keineswegs gesagt, dass dem tatsächlich so ist. Die Frage lautet also nicht, ob die Otaku-Generation im Universum der technischen Bilder lebt, denn dies wäre eine banale und rasch zu bejahende Frage. Vielmehr gilt es, diese Lebensform zu entzaubern, und die Bedingungen aufzuzeigen, die zu einer telematischen Gesellschaft im Sinne Flussers führen können.

Das Bilder-Machen / Vom Imaginieren zum Einbilden / Von der Vorgeschichte zur Nachgeschichte Im Zusammenhang mit traditionellen Bildern taucht der – im vorangegangenen Abschnitt schon eingeführte – Begriff der Imagination auf. Was bezeichnet dieser Begriff explizit? Unter Imagination ist die spezifische Fähigkeit des Menschen zu verstehen, Flächen aus dieser Raumzeit zu abstrahieren und wieder zurückzuprojizieren. Imagination bildet die Voraussetzung für die Herstellung und Entzifferung von Bildern. Imagination heißt nicht, eine Sachlage, so wie sie sich darstellt, zu sehen, sondern vielmehr »wie sie sein kann, wie sie sein soll und was man tun kann, damit sie werde, wie sie sein soll« (Flusser 2000a: 111). Daher

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kann Imagination nicht als die Fähigkeit definiert werden, die Ähnlichkeiten erzeugt und entschlüsselt. Vielmehr ist unter Imagination die Fähigkeit zu verstehen, welche die Verhältnisse zwischen den Gegenständen vorstellbar macht und zwar als Verhältnis zwischen Symbolen auf Flächen. Der Paläontologe André Leroi-Gourhan wählt einen anderen Zugang. Die Imagination ist seiner Ansicht nach eine fundamentale Fähigkeit der Intelligenz und er ergänzt, dass etwa eine Gesellschaft, in der die Fähigkeit zur Imagination, der Schöpfung von Symbolen, nachlässt, dass diese Gesellschaft ihre Handlungsfähigkeit verliert (vgl. LeroiGourhan 1988: 267). Von der Anschauung Bilder zeigen Sachen gilt es sich zu lösen. Bilder zeigen eben nicht Sachen, sondern Sachverhalte. Die Bilder sollen den Handlungen als Vorbilder dienen, projizieren, antizipieren, entwerfen also. Und gerade weil Bilder Sachverhalte zeigen, ist es der Hand erlaubt, weiter und tiefer als vorher in die Umstände zu fassen. Diejenigen, die traditionelle Bilder hervorbringen, sind mit zwei Problemen konfrontiert. Ihre Anschauungen sind subjektiv und flüchtig und müssen daher zugänglich (publiziert) gemacht werden. Die Bildermacher handeln und neuartig daran ist, etwa an den Anschauungen an Höhlenwänden, dass nicht Gegenstände, sondern Flächen, die Gegenstände vorstellen sollen, plötzlich ins Zentrum rücken. Die Bildermacher handeln also. »Sie fassten nach Symbolen, und es ging um eine symbolische Handlung; um eine Geste, bei der sich die Hände gewissermaßen vom Umstand abwenden, um sich ins Innere des Subjekts zu wenden, in welchen nun, derartig aufgewühlt, eine neue Bewusstseinsebene emportaucht: die imaginative. Und aus diesem imaginativen Bewusstsein ist das Universum der traditionellen Bilder, der symbolischen Sachverhalte entstanden, jenes Universum, das von nun an als Vorbild für das Behandeln der Umwelt [...] diente« (Flusser 2000d: 17).

Warum handelt es sich hierbei um traditionelle Bilder? Will der Mensch Kodes, die zu Sachverhalten geordneten Symbole, entschlüsseln, dann muss sich jedes Bild innerhalb einer Gesellschaft auf einen hergebrachten Kode stützen. Würde ein Bild nicht Glied einer Bilderkette sein, stünde es natürlich nicht in der Tradition und wäre somit nicht entzifferbar. Das Entziffern gelingt jedoch nicht immer, da die Anschauungen subjektiv sind. Somit schleichen sich bei jedem neuen Bild neue Symbole in den Kode ein. Dadurch wird ein Gesellschaftskode verändert und die Gesellschaft informiert. Und genau in diesem Umstand liegt die Gewalt der Imagination. Die Imagination erlaubt der durch Bilder informierten Gesellschaft, beständig neue Erfahrungen und Erlebnisse zu haben und somit fortlaufend zu neuen Wertungen und Handlungen zu gelangen.

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Das Universum der traditionellen Bilder ist, wie bereits erwähnt, ein vorgeschichtliches Universum. Es gibt Mythen weiter; ist also ein magisches Universum.24 Es ist ein Universum der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Der magische Charakter der Bilder ist bei der Entzifferung der Bilder zu berücksichtigen. Bilder sind Vermittlungen zwischen Welt und den Menschen. »Der Mensch ›ek-sistiert‹25, das heißt, die Welt ist ihm unmittelbar nicht zugänglich, so dass Bilder sie ihm vorstellbar machen sollen. Doch sobald sie dies tun, stellen sie sich zwischen die Welt und den Menschen« (Flusser 2000c: 9).26 Die Bedeutung der technischen Bilder ist anderswo zu suchen als die Bedeutung der traditionellen Bilder. Warum? Will man im Zusammenhang mit technischen Bildern zu informativen Situationen gelangen, muss man das Komputieren von Punktelementen zuerst programmieren, diese im Anschluss wieder deprogrammieren und sie danach ballen. Es geht also darum, aus Punktelementen zweidimensionale Bilder zu machen. Von der Nulldimensionalität in die so genannte Bidimensionalität empor zu tauchen. Dies mündet in der Konklusion, dass die Geste des Einbildners nur scheinbare Bilder erzeugt. Derjenige, der einbildet, erzeugt rasterartige Flächen, die voller Intervalle sind. Der Einbildner muss sich mit scheinbaren Flächen, mit einem so genannten Tromp-l’œil begnügen. Technische Bilder saugen alles in sich auf und bilden ein Gedächtnis der Gesellschaft (Staudamm-Metapher). Nichts widersteht der Sogkraft der technischen Bilder. Das Universum der technischen Bilder, so wie es beginnt, sich um den Menschen herum abzuzeichnen, »stellt sich als Fülle der Zeiten dar, in der alle Handlungen und Leiden unablässig kreisen« und dabei ist das technische Bild eine »blindlings konkretisierte Möglichkeit, ein blindlings sichtbar gewordenes Unsichtbares« (Flusser 2000c: 19). Die technischen Bilder (nachgeschichtlich) sehen den traditionellen 24 Flusser nennt die dem Bild eigene Raumzeit Magie. Es ist die Welt, in der sich alles wiederholt. Die durch das Scanning rekonstruierte Zeit ist für Flusser die ewige Wiederkehr des Gleichen (vgl. Flusser 2000c: 8). Insofern ist die Bedeutung der Bilder eine MAGISCHE und eben dieser magische Charakter der Bilder muss bei der Entzifferung berücksichtigt werden. Und noch eine Präzisierung: Bezogen auf die technischen Bilder ist die Frage wichtig, um welche Art von Magie es sich bei diesen handelt. Flusser ortet einen Unterschied zwischen der Faszination eines Höhlenbildes und einem Bild des Fernsehers. Die alte Magie ist vorgeschichtlich, die neue nachgeschichtlich. Die vorgeschichtliche Magie ist Ritualisierung (Mythos). Mythen werden mündlich weitergegeben, und ihr Autor steht jenseits des Kommunikationsprozesses (Gott). Die gegenwärtige Magie kann Programm genannt werden. Programme werden schriftlich weitergegeben, deren Autoren stehen innerhalb des Kommunikationsprozesses. 25 Eksistere stammt aus dem neunorwegischen (vgl. Kluge 2002: 265). Eksistieren meint außerhalb stehen (vgl. Flusser 2000a: 76). 26 Erinnert sei an die Ausführungen zur Phantasie von Slavoj Žižek. In diesen kommt der Phantasie die Funktion zu, zwischen der Welt und dem Menschen zu vermitteln. Auch die Phantasie verstellt den Blick.

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Bildern (vorgeschichtlich) ähnlich, doch sie stehen auf einer gänzlich anderen Bewusstseinsebene. Imagination ist etwas ganz anderes als Einbildung. Die Einbildung ist etwas radikal Neues. Noch einmal zur Verdeutlichung: »Soweit sie überhaupt den Namen Bild verdienen, deuten die neuen synthetischen Bilder auf die Gegenseite der hergebrachten: Die alten Bilder be-bedeuten die Dingwelt und/oder das Subjekt dieser Dingwelt, die neuen be-deuten Gleichungen, Kalkulationen. Die alten sind Ab-bilder von etwas, die neuen Projektionen, Vor-bilder für etwas, das es nicht gibt, aber geben könnte« (Flusser 1998: 25).

Traditionelle Bilder sind Fiktionen oder Simulationen von Dingen, sie sind einer abstrahierenden, zurücktretenden Imagination zu verdanken. Die technischen Bilder sind Konkretitionen von Möglichkeiten, und sie sind einer konkretisierenden projizierenden Einbildungskraft zu verdanken. Der gegenwärtige Mensch denkt nicht imaginativ magisch, sondern einbildend entwerfend. Der Mensch muss sich eingestehen, dass durch die fortschreitende Spezialisierung eine prekäre Situation entstanden ist. Eine Art totale Entpolitisierung, die deshalb entsteht, da die Fähigkeit zur Technoimagination nicht ausgeprägt genug ist. Die vom Menschen selbst erzeugten Technokodes haben zu einer Vermassung geführt, und nun gilt es, die Kodes zum Gegenstand von Untersuchungen zu machen. Dieses Problem thematisierte auch Gaston Bachelard. Er argumentierte, dass die Bilder eben keine ruhigen Ideen sind und schon gar nicht sind sie endgültige Ideen. Die Einbildungskraft imaginiert unaufhörlich und bereichert sich dabei mit neuen Bildern (vgl. Bachelard 1999: 25). Sowohl Flusser als auch Bachelard weisen also auf das Entstehen von neuen Bildern bzw. auf die Bilderflut hin. Bilder, von denen Kamper sagt: »Die Menschen leben heute nicht in der Welt. Sie leben nicht einmal in der Sprache. Sie leben vielmehr in ihren Bildern, in den Bildern, die sie sich von der Welt, von sich selbst und von den anderen Menschen gemacht haben, die man ihnen von der Welt, von sich selbst und von den anderen Menschen gemacht hat. Und sie leben eher schlecht als recht in dieser imaginären Immanenz. Sie sterben daran« (Kamper 1994: 7).

Abschließend ist noch auf die Funktion von Imagination hinzuweisen, diese lässt sich verfolgen. Zuerst werden Bilder entworfen, um die Welt erkennbar zu machen. Dem Entwerfen von Landkarten folgt also das Erleben der Welt als Bild. Es werden die Kategorien des Bildes gespiegelt und darin manifestiert sich jener Punkt, in der die Welt entsetzlich wird.

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Entsetzlich wird hier in seiner etymologischen Bedeutung verwendet, die ein Wegsetzen vom gerechten Sitz bedeutet. Und genau ab diesem Zeitpunkt müssen die Bilder dem Menschen dazu dienen, dem Entsetzlichen zu entgegnen. Die Bilder müssen als magisches Werkzeug dienen und solange sie dies tun, ist der Weg der Imagination nicht abgeschlossen. »Erst wenn die Bilder beginnen, auch diese magische (ethische) Dimension zu verlieren, wenn sie opak für die Welt werden und nur als Bilder ›angebetet‹ werden, ist die Funktion der Imagination abgeschlossen« (Flusser 2000a: 123). Ein wichtiger, wenn auch schwer einzukreisender Aspekt tritt zum Vorschein. Wenn nämlich die Bilder ihre magische Dimension verlieren, dann schließen sich die Öffnungen des Raumes. Eine in Bildern kodifizierte Welt ist entstanden, in welchem der Mensch von der Welt der Erlebnisse abgeschlossen ist. Die Welt wird bzw. wurde phantastisch. Imagination ist ins Phantastische umgeschlagen. Und in dieser Situation wurde die Erfindung der linearen Schrift logischerweise als Erlösung empfunden.

Gesten der Einbildung – Kalkulieren und Komputieren Imaginieren und Kalkulieren fallen im Komputieren tatsächlich zusammen. Frank Hartmann

Das Engagement des Einbildners besteht darin, die durch »Abstraktion aller Leitfäden in Punktelementen zerfallene Welt« (Flusser 2000d: 40) zu ballen, damit diese wieder erleb-, erkenn- und behandelbar wird. Einbilden bedeutet jene Fähigkeit, mittels welcher das durch Abstraktion in Punktelemente zerfallene Universum zu verlassen ist, um ins Konkrete zurückzuschreiten. Die Einbildungskraft, welche die »Werte der Wirklichkeit« (Bachelard 1999: 30) vermehre, existiert erst seit dem Emportauchen der technischen Bilder, und der Mensch weiß erst seit der Existenz von Foto, Film, Video und Computer-Bildschirmen, was Einbilden überhaupt bedeutet. Der Begriff der Einbildung basiert auf zwei unterschiedlichen Fähigkeiten: das Kalkulieren und das Komputieren. Wenn die technischen Bilder, Film, Foto, etc. für die Existenz der Einbildungskraft verantwortlich zeichnen, so stellt sich die Frage, wie die Geste des Kalkulierens und die des Komputierens involviert sind. Was heißt nun kalkulieren? Diese Frage kann am Beispiel des Verfassens eines Textes erläutert werden. Beim Schreiben eines Textes verbringt man ein wahres Wunder. Man zerstückelt seine Gedanken in Wörter, die Wörter in Buch165

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staben und wählt dann die diesen Buchstaben entsprechenden Tasten. Kalkulation bezeichnet demnach das Abstrahieren mit dem Resultat einer in Punktelemente zerfallenen Welt. Und dem angesprochenen Wunder verdanken die technischen Bilder nun ihr Entstehen. Das Wunder besteht in der Komputation der vorangegangenen Kalkulation, also dem Ballen der Punktelemente. Ohne dieses Wunder würde der Mensch die Welt, in der er lebt, schlicht nicht mehr erleben. Will der Mensch in der kodifizierten Welt Freiheit erlangen, so ist diese Freiheit an seine Fähigkeit des Kalkulierens und der Komputation gebunden: Freiheit ist zu handeln, damit die Welt so wird wie sie sein soll. In der flusserschen Reflexion ist dieser Begriff eng an die Möglichkeiten der Technik gebunden. Es ist die Aufgabe der neuen Technik, »alle Arbeit, alles Tun und Leiden, alle Operationen auf Maschinen abzuschieben« (Flusser 1998: 151), denn nicht die Wirklichkeit, sondern die Möglichkeit ist das Feld der Freiheit.27 Die Absicht der Technik äußert sich nicht mehr in der Weltund Menschveränderung, sondern eben in der Sinngebung und daraus resultiert die Krise, welche sich in dem Argument materialisiert, dass (gegenwärtig) ein Umstellen vom Subjekt zum Projekt vonstatten geht. Es handelt sich um eine Krise der Technik. Eine neue Existenzform ist im Entstehen. Noch ein Wort zur Technik. Unter Technik ist die Einstellung des Subjekts gegen Objekte zu verstehen: »der Versuch, Werte (Sollen) zu objektivieren und Objekte (Sein) zu verwerten und dadurch die Trennung zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, die Existenz aus ihrer Unterwürfigkeit zu befreien« (ebd.: 138). Flusser benennt vier Gesten, die den Menschen aus seiner Lebenswelt befreien. x die Handlung x die Imagination x das begriffliche Denken x das komputierende Tasten »Der Mensch wird Subjekt der Welt dank der Hand, er wird Überblicker (Aufseher) der Welt dank dem Auge, er wird Beherrscher der Welt dank dem Finger und Sinngeber der Welt dank den Fingerspitzen« (Flusser 2000d: 34). Die gegenwärtige Kulturrevolution kann als ein Übertragen der Existenz auf die Fingerspitzen angesehen werden. Vom Subjekt zum Projekt. Der interessante Aspekt bei der Subjektwerdung ist die Erkennt27 Flusser schreibt: »Man muss versuchen, den Freiheitsbegriff, der ja weit weniger alt ist als man annimmt, an der Wurzel zu fassen (›Frei‹ heißt ursprünglich ›freundlich‹, und ›liber‹ ursprünglich ›schenkend‹.) Was wir ›Freiheit‹ nennen, hieß früher am ehesten ›Sünde‹ (ein Wort, das ›das Sein‹ bedeutet)« (Flusser 1998: 151).

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nis, dass es eben nicht selbstverständlich ist, dass das Individuum überhaupt ein Subjekt ist. Zuerst waren die Existenzen, danach folgten Subjekte von und unter Objekten. Flusser argumentiert hier vor folgendem Hintergrund: Der Vormensch richtete sich zwar auf und bekam dadurch die Hände frei, doch er musste erkennen, dass zwar nun die Hände frei waren, jedoch nicht zum Spielen, sondern er musste sie zum Arbeiten verwenden. Der Mensch wurde also unaufrichtig. Er sah sich gezwungen, Wurzeln auszugraben, zu jagen oder Werkzeuge herzustellen. Die Hände waren nicht mehr frei, um nach allem im Raum zu greifen (vgl. ebd. 1998: 193). Der Mensch lebt in einer eingebildeten Welt der technischen Bilder, und er erlebt, erkennt, wertet und handelt immer häufiger in Funktion dieser Bilder. Obwohl Flusser zahlreiche Indikatoren für die Richtigkeit dieser selbstmörderischen Sicht auf die westliche Gesellschaft zu erkennen glaubt, ist er weiterhin der Ansicht, dass diese Sicht am Wesentlichen vorbeigeht. Die neue Einbildungskraft, über die der Mensch zu verfügen beginnt, sprießt aus seiner Fähigkeit, das schwirrende Nichts um den Menschen herum zu kalkulieren und zu komputieren. Flusser fordert nicht, dass der Mensch das Einbilden aufgebe. Für ihn ist sie die Antwort auf das glühende Nichts. Es geht nicht um das Zerreißen der menschlichen Schleier, sondern um ein dichteres Weben. Die Programmierer werden (idealtypischerweise) aus dem Zentrum an den Horizont verdrängt. Die Spaltung der Gesellschaft in wenige Programmierer – wobei die so genannten Technokraten, Medienoperatoren oder Meinungsbilder als Programmierer bezeichnet werden – und viele Programmierte mag zwar dramatisch erscheinen, verfehlt jedoch den Kern der gegenwärtigen Problematik (vgl. Flusser 1991: 151). Nicht die Programmierer sind für das Verhalten der Gesellschaft verantwortlich. Und mit dieser Konklusion hat man »einen großen Teil der gegenwärtigen Kulturkritik über den Haufen geworfen« (ebd. 2000d: 32). Mit dem Zurücktreten des Denkens von der Linearität in die Nulldimensionalität tritt der Mensch von sich selbst zurück und wird sich selbst gegenüber kritisch. Der Eindruck ist entstanden, als hätte er dabei die Grenzen selbst kodifiziert und sie in weiterer Folge projiziert, um sie danach mittels Offenbarung und Entdeckung wieder zurückzuholen. Die Folgen dieses erwähnten Abstandes äußern sich darin, dass das Subjekt in allen seinen Parametern zum Objekt wird. Das Zurücktreten des Denkens aus der Linie in den Punkt, also von geschichtlich zu nachgeschichtlich, ist nicht nur eine Bewegung des Kalkulierens, sondern genauso eine Bewegung des Komputierens, also des Synthetisierens von Welten und Menschen.

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM »Es ist zwar richtig, dass mit dem Einsetzen des numerischen Denkens ein Schritt zum Zersetzen der Dinge und des Menschen zu ›nichts‹ getan wird. Aber ebenso richtig ist, dass damit das Feld für das Projizieren alternativer Welten und Menschen frei wird« (Flusser 1998: 17).

Alles um den Menschen herum, sprich Umwelt, Gesellschaft, Bewusstsein, und alles im Menschen, Werte, Bedeutungen, Entscheidungen, sind dabei zu zerfallen, doch es gibt viele Symptome, die darauf schließen lassen, dass ein Projizieren von Alternativen bereits begonnen hat. Eine neue post-humanistische, post-moderne Anthropologie befindet sich im Entstehen. Eine derartige Anthropologie, die auch Neg-Anthropologie genannt wird, ist keineswegs eine neue theoretische philosophische Sicht, als vielmehr eine Praxis. Eine Praxis, welche am Beispiel der Fotografie exemplifiziert werden kann.28 Der Mensch kann sich also an nichts mehr festhalten, weder an den Dingen noch an sich selbst. Aus dieser beängstigenden Situation (ein sprichwörtlicher Glaubensverlust ist eingetreten) heraus entstand ein vernetzter Dialog29, der zum Projizieren führte. Da sich die Protagonisten des vernetzten Dialogs nicht mehr identifizieren können, begannen sie sich als »Knotenpunkte eines dialogischen Netzes und dieses intersubjektive Netz als ein Relationsfeld hinzunehmen« (Flusser 1998: 26). Der 28 Für Flusser ist die Fotografie eine folgenschwere Erfindung, weil sie die Praxis der Neg-Anthropologie imposant vor Augen führt. Mit der Fotografie wird die Trennung zwischen Subjekt und Objekt (Körper und Geist) überwunden und zwar deshalb, da der Geist zum Objekt technischer Manipulation und daher auch simulierbar wird. Objektivierbar bedeutet in diesem Zusammenhang also vom Menschen auf andere Objekte übertragbar. Wichtig ist, dass nicht mehr der Fotograf, sondern der Programmierer des Apparats als der eigentliche Erzeuger des Fotos verstanden wird. Es ist also nicht mehr das Wahrnehmen selbst, sondern das Projizieren des Wahrnehmens der kreative Akt. Kurzum: Beim Fotografieren handelt es sich um ein Simulieren der Prozesse, das zum Wahrnehmen der Dingwelt führt. Daraus resultiert, dass die Unterscheidung zwischen Bild und Ding, zwischen der Fiktion und der Realität immer unoperationaler wird. Insbesondere deshalb, da sich die Realität selbst als Komputation herausstellt. Fotografieren selbst ist eine Technik und dies bedeutet, dass sie selbst auf wissenschaftliche Theorien, etwa der Optik, Chemie etc. basiert. Abschließend sei festgehalten, dass Fotografieren auch alle Ideologien der Neuzeit verlassen hat und zwar dadurch, dass sie alle Standpunkte als gleichwertig betrachtet. Das Irgendetwas, das fotografiert wird, hängt vom Standpunkt des Fotografierens ab. Der Apparat wechselt seinen Standpunkt (vgl. Flusser 1998: 19ff). Und genau in diesem Wechseln bzw. Springen von Standpunkt zu Standpunkt zeigt sich das Weichen der diskursiven Epistemologie zu Gunsten der springenden phänomenologischen. Zur diskursiven Epistemologie vgl. Hartmann 2000 Kap. 13. 29 Der Dialog ist für Flusser eine Methode, verschiedene vorhandene Informationen zu neuen zu synthetisieren. Es existieren nur zwei Dialogstrukturen, welche die menschliche Kommunikation entscheidend strukturieren: Kreisdialoge (die Struktur eines runden Tisches) und Netzdialoge (Beispiele hierfür sind Gerede, Geschwätz, Verbreitung von Gerüchten) (vgl. Flusser 2000a: 29ff).

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FLUSSERS TELEMATIK: VOM UTOPISCHEN INS MACHBARE

oben erwähnte Glaubensverlust ist vor allem als ein Verlust des Glaubens an Orientierungspunkten zu sehen. Nulldimensionalität hat ihren Preis.

Dem Absurden einen Sinn geben Ein Umkehren der Bedeutungsvektoren ist erkennbar und diese äußert sich etwa darin, dass alle Zeiger, alle Zeichen oder auch Verkehrssignale (von nun an) exzentrisch vom Menschen wegzeigen. Nichts mehr zeigt auf den Menschen zu, sie sind es, die (von nun an) Bedeutungen auf die Welt projizieren. Technische Bilder stellen derartige Projektionen dar. »Gleichgültig, ob es sich um Fotos, um Filme, um Videos oder um Computerbilder handelt, sie haben die gleiche Bedeutung: dem Absurden einen Sinn zu geben« (ebd. 2000d: 52). Mit einem Blick in das Forschungsfeld der Paläontologie ist das eben Dargelegte zu präzisieren. Warum haben sich Menschen aufgerichtet? Folgt man André Leroi-Gourhan, dann um die Hände frei zu bekommen. Dies ist übrigens wesentlich zentraler für die Entwicklung des Menschen als das Gehirnvolumen des Menschen30. Der französische Paläontologe argumentiert in seiner Untersuchung Hand und Wort. Zur Evolutionstheorie von Technik, Sprache und Kunst, dass die zerebrale Sicht der Evolution ungenau sei. Dem gegenüber liegen genügend Belege vor, dass »die Fortschritte in der Anpassung des Bewegungsapparates eher dem Gehirn genutzt haben, als dass sie von diesem hervorgerufen worden wären« (Leroi-Gourhan 1988: 43). Er folgert, dass die Hand die Sprache freisetze. Die Entwicklung des Gehirns spielt nach der Menschwerdung31 eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Gesellschaften. Heute richten wir uns nicht (mehr) auf, um mit den Händen in die Welt einzugreifen, diese Zeiten sind vorbei, auch geht es nicht um ein Freisetzen der Sprache, es geht darum, Bedeutungsvektoren zu projizieren, es geht darum Kodes herzustellen, »also nicht mehr um zu handeln, sondern um zu symbolisieren; nicht mehr, um Gegenstände zu informieren, sondern um 30 Sloterdijk nimmt eine etwas veränderte Position ein. Für ihn ist die Gesichtsöffnung das entscheidende Moment: »Durch die Gesichstöffnung wurde der Mensch – mehr noch als durch die Zerebralisierung und die Erschaffung der Hand – zum weltoffenen oder, was hier mehr bedeutet, zu dem Mitmensch offenen Tier« (Sloterdijk 2000: 168). 31 Komprimiert stellt sich für Flusser das Bild der Menschheitsentwicklung etwa wie folgt dar: Zuerst trat der Mensch von der Lebenswelt zurück, um sich diese einzubilden. Später trat er von der Einbildung zurück, um sie zu beschreiben. Dann trat er von der linearen Schrift zurück, um sie zu analysieren. Und schließlich projiziert er aus der Analyse dank einer neuen Einbildungskraft synthetische Bilder (vgl. Hartmann 2000: 289). Gegenwärtig projiziert der Mensch also synthetische Bilder. Die Menschwerdung vollzieht sich also vom Subjekt zum Projekt.

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»reine Informationen« zu entwerfen« (Flusser 2000d: 53). Wenn sich nun die Bedeutungsvektoren umkehren, dann ist die Verwirrung wohl (vor)programmiert. Warum? Bisher – gemeint ist die Zeit, in der die Vektoren von der Welt auf uns zeigten – fragte der Mensch, was denn das Symbol bedeute. Nun aber weiß er, dass technische Bilder nicht etwas darstellen, sondern etwas projizieren. Und zwar von innen nach außen, und draußen ist es erst, nachdem es entworfen wurde. Die technischen Bilder sind nicht vom Bedeuteten32 (signifié), sondern vom Bedeutenden (signifiant) her zu entziffern. Will man also ein technisches Bild entziffern, dann muss das Programm aus ihnen herausgelesen, nicht aber das Gezeigte entziffert werden. Nicht nur die Bedeutungsvektoren haben sich umgekehrt, auch eine Umkehrung der semantischen Kategorien hat stattgefunden. Technobilder fordern im Menschen eine andere Entzifferungsweise heraus. Flusser nennt diese die Technoimagination (vgl. Flusser 2000a: 177). Unter Technoimagination versteht man die Fähigkeit des Menschen, sich bewusst Bilder von Begriffen zu machen und diese Bilder in weiterer Folge auch entziffern zu können. Geht man der Bedeutung von traditionellen und technischen Bildern nach, so sind hierfür unterschiedliche Fragestellungen anzuwenden. Dem Was der traditionellen Bilder steht das Wozu der technischen Bilder gegenüber. Traditionelle Bilder sind Spiegel, welche die aus der Welt an den Menschen herankommenden Bedeutungsvektoren auffangen. Diese Bedeutungsvektoren werden umkodiert und auf einer Oberfläche reflektiert. Insofern ist es richtig zu fragen, Was sie bedeuten. Technische Bilder hingegen sind Projektionen und die Frage nach dem was kann nicht mehr angewendet werden. Die technischen Bilder fangen bedeutungslose Zeichen auf. Diese bedeutungslosen Zeichen werden kodiert, um ihnen dadurch Bedeutung zu geben. Bei technischen Bildern müssen wir fragen, wozu sie das, was sie zeigen, bedeuten. Will man technische Bilder kritisieren, so muss dies von ihrem Programm aus geschehen. Die ihnen inne wohnende Bedeutung ist schlicht ihr Sinn; Bedeutung und Sinn treten gemeinsam auf. Bei technischen Bildern fallen die semantische und die pragmatische Dimension zusammen. Daher erfordert eine Kritik der technischen Bilder neue Kriterien. Die Kriterien der traditionellen Bilder einzusetzen, ist, aus den beschriebenen Umständen, nicht zulässig. Traditionelle Bilder haben ein Etwas bedeutet, technische Bilder setzen an Stelle des Etwas die Richtung ein. Technische Bilder bedeuten also »Modelle (Vorschriften) für das Erleben, Erkennen, Werten und Verhalten einer Gesellschaft« (Flusser 2000d: 54).

32 Zum Unterschied zwischen signifié und signifiant siehe vor allem Ferdinand de Saussure 1967: 76ff.

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Die Staudamm-Metapher Wie bereits erwähnt sind technische Bilder, im Gegensatz zu traditionellen Bildern, keine Spiegel, sondern Projektionen. Es ist eine Gesellschaftsform entstanden, in der sich die Menschen nicht mehr um Probleme, sondern um technische Bilder formieren. Der Hinweis, dass eine neue Gesellschaftsstruktur neuer soziologischer Kriterien bzw. eines neuen Ansatzes bedarf, mag banal erscheinen, ist jedoch eine zentrale Forderung. Bei klassischen soziologischen Analysen steht der Mensch im Mittelpunkt, unter den veränderten Bedingungen ist diese Herangehensweise nicht mehr zulässig: Nicht mehr der Mensch, sondern die technischen Bilder stehen im Zentrum. Wie oben erwähnt, ist der Mensch mit einer Krise der Technik konfrontiert. Eine künftige Soziologie müsse den Menschen vom Zentrum an den Horizont ihres Blickfeldes verschieben. Dies äußert sich zum Beispiel darin, dass der Mensch seinen Privatraum nicht mehr verlässt und sich wie einst in der Öffentlichkeit informiert. Deshalb, da er sich besser in seinem Privatraum informiert und der öffentliche Raum, in dem er sich als Mensch noch begeben kann, zusehends verschwindet. Das zentrale Problem einer jeden (zukünftigen) Kulturkritik liegt in der Beziehung zwischen technischem Bild und dem Menschen und von dieser Position aus sind alle weiteren Probleme aufzugreifen (vgl. Flusser 2000d: 57f). Kultur und Zivilisation sind als konkret, das Individuum als abstrakt auszuweisen. Technische Bilder verfügen über Feedback-Kanäle. Solche Kanäle sind zum Beispiel Demoskopie, politische Wahlen oder die Marktforschung. Dank dieser Feedback-Kanäle können sich laut Flusser technische Bilder verändern. Sie werden sprichwörtlich besser und werden immer mehr so, wie es sich die Empfänger wünschen. Das heißt: »Die Bilder werden immer mehr so, wie sie die Empfänger haben wollen, damit die Empfänger immer mehr so werden wie sie die Bilder haben wollen. Das ist, [...] der Verkehr zwischen Bild und Menschen« (Flusser 2000d: 60). Dank des Feedbacks entstand bzw. entsteht ein automatisch verstärkter Konsens zwischen Bild und Mensch. Dieser Konsensus verwandelt alle Menschen in Empfänger, unabhängig davon, ob sie ursprünglich dafür bereit gewesen sind oder nicht. Dieser angesprochene Konsens bildet den Kern der von technischen Bildern beherrschten Gesellschaft. Wie aber ist darauf zu reagieren? Es ist nötig, das Wissen zu befragen, denn das Festhalten an Objekten und ihren Subjekten ist aussichtslos geworden. Die bisherige Grundlage unseres Wissens basierte auf einer (unerklärlichen) Übereinstimung des Denkens mit etwas Bedachtem und Flusser wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das epistemologische Problem die Methode war, durch welche es zu solchen Übereinstimm-

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ungen überhaupt kommen konnte (vgl. ebd. 1998: 32). Das Gebäude unseres Wissens ist unaufrichtig, da es auf einem Kontext von Theorien fußt, innerhalb derer sich die Hypothesen gegenseitig stützen. Passen Hypothesen nicht ins Konzept, so sucht man kurzerhand nach anderen (neuen) und verabsäumt, nicht durch Experimente das Phänomen der Hypothese zu fügen. Diejenigen irren, die glauben, sie können sich auf das Wissen oder gar die Wissenschaft stützen. Technische Bilder sind keine Fenster, vielmehr sind sie Staudämme der Geschichte. Was versteht man unter einer Staudamm-Metapher? Traditionelle Bilder fließen in die technischen Bilder ein und werden dort ewig reproduziert. Die traditionellen Bilder kreisen in den technischen und »wissenschaftliche Texte fließen in sie ein und werden dort aus Zeilen in Sachverhalte umkodiert und gewinnen magischen Charakter [...]. Und die billigen Texte, diese Flut von Zeitungsartikeln, Flugblättern, Romanen usw. fließen in sie ein, und die ihnen innewohnende Magie und Ideologie verwandelt sich in programmierte Magie der technischen Bilder [...]. So saugen die technischen Bilder alle Geschichten in sich auf und bilden ein ewig sich drehendes Gedächtnis der Gesellschaft« (Flusser 2000c: 18).

Die Linearität der Geschichte richtet sich also der Zirkularität der technischen Bilder entgegen. Die Geschichte rollt, um sich in Bildern zu drehen. Nachgeschichte.33 Aus der Geschichte ist ein Schauspiel geworden und die Quellen, welche die Geschichte nähren, beginnen zu versiegen. Die Staudamm-Metapher zeigt, dass das Universum der Geschichte für Bilder lediglich ein Feld von Möglichkeit ist, die es ins Bild setzen kann. Sie zeigt, dass technische Bilder historische Ereignisse in beliebig oft wiederholbare Projektionen übersetzen können. Die technischen Bilder sind selbst apokalyptisch und der Verkehr zwischen Bild und Mensch führt zu einem Verlust des Geschichtsbewusstseins. Der angesprochene Verkehr zwischen Bild und Mensch ist das Zentralproblem einer Gesellschaft, die von technischen Bildern beherrscht wird. Ausgehend vom Verkehr zwischen Bild und Mensch, diesem Punkt, der entweder Diskurs oder Dialog sein kann, ist es nach Flusser (2000d) möglich, die emportauchende Informationsgesellschaft umzustrukturieren und auch menschenwürdig zu gestalten.

33 Der Kern dessen, was Nachgeschichte genannt wird, ist wahrscheinlich die Erkenntnis, »dass die ganze Geschichte mit jener Drehung und Windung des gefallenen Subjekts (also eigentlich mit jedem von uns) immer wieder neu ansetzt« (Flusser 1998: 243).

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Die Gesellschaftsstruktur im Universum der technischen Bilder Die Menschen verkriechen sich in ihre Winkel. Technische Bilder werden ausgestrahlt und erreichen die Empfänger in ihren Winkeln. An der Spitze jedes Strahls sitzt ein Empfänger. Und genau dieser Umstand zeichnet verantwortlich, dass die auf diese Weise zerstreute Gesellschaft keinen amorphen Sandhaufen darstellt. Die Empfänger verteilen sich nach »der Struktur, der von den Zentren ausgehenden Strahlen« (Flusser 2000d: 68), und es sind die Medien, die, logischerweise ausgehend von den Zentren, diese Bündel bilden. Diese Gesellschaftsstruktur, übrigens eine fascistische34 Gesellschaft, taucht erst seit wenigen Jahrzehnten auf. Man sei bislang jedoch nicht sonderlich an dem Emportauchen der neuen Gesellschaft interessiert gewesen und beschäftige sich lieber mit dem Zerfall der alten Struktur. Bezeichnenderweise wird zwar vom Verfall einer Gesellschaft, siehe Otakismus, jedoch nicht von dem Emportauchen einer neuen Gesellschaft gesprochen. Warum aber sind die zerfallenen Gesellschaften interessanter als die neuen? Sie sind von Gewohnheiten geheiligt. Die Absicht einer Kulturkritik ist unter anderem, die Würde und Freiheit der Menschen zu wahren und diese zu mehren. Um dem nachzukommen, ist man gefordert, sich dabei auf die neuen Formen zu konzentrieren. Die neue Gesellschaftsform zeigt sich zum Beispiel in der Existenz von Zeitungsabonnenten. Diejenigen, welche die neue Gesellschaftsform emportauchen lassen, die Erfinder der technischen Bilder35, sind die gegenwärtigen Revolutionäre. Der Glaube, Technik sei politisch neutral, führt zu einem Verkennen der gegenwärtigen Kulturrevolution. Die Rede von der Revolution meint im vorliegenden Zusammenhang jene, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg ereignete und »in deren Mitte wir leben, von deren Ablauf die Zukunft abhängt. Gemeint ist die Revolution in den Kodes, mit denen sich Mitglieder einer Kultur untereinander verständigen, um der Welt und dem Leben darin einen Sinn zugeben« (Flusser 2000a: 264).

Die angesprochene Revolution ist auf die technische Entwicklung der Kommunikationsmedien zurückzuführen und wird auch als der Einbruch von technoimaginären Kodes in die gegenwärtige Kultursituation be34 Bündel heißt auf lateinisch ›fasces‹. Die Gesellschaft ist also ›fascistisch‹ aber nicht aus ideologischen, sondern aus technischen Gründen. Vgl. hierzu auch Flusser 1998: 80. 35 Etwa Nièpce, Lumière oder die zahl- und namenlosen Erfinder der Computertechnik und Programmierer, Fotografen, Filmer, Videoleute etc. (vgl. Flusser 2000d: 70ff).

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zeichnet. Dadurch gewinne die Behauptung, dass Massenmedien die menschlichen Szenen beherrschen, eine konkrete Bedeutung. Oder mit Régis Debrays Worten: Es wurde für alle heute ein Zugang zum Bild geschaffen, ähnlich einst dem Buch und so wie einst die europäische Graphosphäre die Schrift demokratisierte, habe die amerikanische Videosphäre das Bild demokratisiert. »Aber seine de facto Kontrolle durch Studios und transatlantische Regieplätze hat die Karte der Hoheitsgebiete verändert und die territorialen Zugehörigkeiten neu gestaltet« (Debray 1999: 99). Eine neue Gesellschaftsform taucht empor, wie bereits gesagt, der Mensch ist mit einer technischen, nicht mit einer ideologischen Revolution konfrontiert. Die Protagonisten dieser Gesellschaftsform überwinden Entfernungen zu niedrigen Kosten und die Protagonisten bewegen sich innerhalb einer Gesellschaftsform, die in der Regel asynchroner Natur ist. »Sie kombinieren die schnellen Verbreitungsmöglichkeiten der Massenmedien mit der durchgängigen Präsenz persönlicher Kommunikation, und sie ermöglichen Mitgliedschaften in vielen Teilgemeinschaften. Übrigens existieren sie nicht in Isolation von anderen Formen der Soziabilität. Sie verstärken die Tendenz zur Privatisierung der Soziabilität – also zum Umbau der Sozialnetzwerke um die Einzelperson herum, zur Entwicklung personeller Gemeinschaften in physischer Form ebenso wie on-line. Cyberlinks geben Menschen die Gelegenheit zu persönlichen Kontakten, die sonst ein begrenzteres gesellschaftliches Leben hätten, weil ihre Familien- und Freundschaftsbindungen zunehmend räumlich verstreut sind« (Castells 2001: 410).

Massenmedien beherrschen die menschliche Szene. Dieser Pessimismus ist berechtigt, wenn man den gegenwärtigen Schaltplan als Grundlage nimmt, da es sich dabei um einen Schaltplan handelt, der von diskursiven Strahlenbündel der Medien geprägt ist. Aber es gibt Anzeichen, dass dieser Schaltplan nicht ewig Bestand haben wird, da die neue Gesellschaftsform dynamisch ist. Es besteht die Möglichkeit, dass die diskursiven Strahlenbündel unter Zuhilfenahme der dialogischen Fäden (z.B. Videokonferenz) zu einem Netzgewebe verknüpft werden und sich dadurch eine demokratische Struktur bildet. Der Umbau des Schaltplanes findet selbst dialogisch statt. Aber die Technik ist eine zu ernste Sache, um Technikern überlassen werden zu können. Mit anderen Worten: »Der revolutionäre Umbau des gegenwärtigen Schaltplans der technischen Bilder in einen dialogischen, demokratischen setzt voraus, dass diesbezüglich ein allgemeiner Konsensus besteht. Die Leute müssen es wollen« (Flusser 2000d: 72).

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Aber genau dieser angesprochene Konsens ist noch nicht erkennbar. Es besteht gegenwärtig lediglich ein Konsens zwischen den Bildern und ihren Bündelausstrahlungen einerseits und den Empfängern der Bilder andererseits. Insofern ist Debray zuzustimmen, wenn dieser argumentiert, dass nicht die Bilder, sondern die Sprache faschistisch ist (Debray 1999). Menschen wollen von den Bildern zerstreut werden. Der Konsensus zwischen Bild und Mensch beruht auf zwei Umständen: Einerseits auf dem Unwillen des Menschen, sich zu sammeln, und andererseits auf der Absicht der Bilder, die Menschen zu zerstreuen. Anzeichen einer Veränderung des Schaltplans sind zwar zu erkennen, der Wechsel von einer totalitären hin zur demokratischen Struktur ist »(vor-)programmiert«, aber dennoch: Probleme sind vakant. Die gegenwärtigen Revolutionäre sind an dem »allgemeinen Konsens zum Glück hin« (ebd.: 73) nämlich nicht interessiert, ja lehnen diesen gar ab. Sie, die Revolutionäre, sind Störenfriede und wissen, dass es technisch nicht schwierig wäre, die angesprochenen dialogischen Fäden zu ziehen, doch sie wissen ebenso, dass die Umsetzung solange nicht funktionieren wird, solange nicht der politische Wille besteht, diese Fäden für den Umbau der Gesellschaft zu verwenden. Insofern sind sie gegen den gegenwärtig vorherrschenden Feedback-Konsensus engagiert. Der Einbildungskraft der Revolutionäre schwebt eine Gesellschaftsstruktur vor, in der Menschen miteinander durch Bilder hindurch dialogisieren, um dadurch immer neue Informationen zu erzeugen. Wenn Menschen durch Bilder dialogisieren, steht nicht mehr der Verkehr zwischen Mensch und Bild, sondern zwischen Mensch und Mensch durch Bilder im Mittelpunkt. Das wäre der Moment, in dem die Medien ihren Namen verdienen würden. »Nicht Dekadenz ist die Gegenwart, sondern Emergenz einer neuen Gesellschaftsform« (ebd.: 76). Flusser fehlt es nicht an Optimismus, und er scheint diesen auch zu vertreten, wenn er in der gegenwärtigen Gesellschaftsform ein Übergangsstadium zu der emportauchenden Kultur erkennt. Für ihn gibt es gegenwärtig zahlreiche Symptome, die den Schluss zulassen, dass der Mensch beginne, aus einer subjektiven zu einer projektiven Einstellung zu gelangen. Er richtet sich auf, beginnt sich zu entwerfen. Will man dieses Übergangsstadium analysieren, müssen die grundsätzlichen Ebenen analysiert werden, auf denen diese Kulturrevolution abläuft. Nach Flusser handelt es sich dabei eindeutig um die Kommunikationsebene. Denn alle Kommunikation hat die Absicht, der Welt einen Sinn zu geben. Darin liegt der Grund, warum der Mensch begonnen hat, die Welt zu kodifizieren. Der Mensch will/wollte eine Ordnung herstellen, innerhalb derer es ihm möglich war zu kommunizieren. Das heißt, dass er die Sinnlosigkeit der Welt und den Tod leugnen

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will/muss und alle Kodes (Kunst, Politik, Wissenschaft) haben nach Flusser nur eine Absicht: das Unleugbare zu leugnen.

Das Befragen der Generalisten Das Paradox der heutigen Kulturkritik ist der Verlust des Gegenstandes der Kritik, denn wenn man die gegenwärtige Gesellschaft analysiert, dann kann konstatiert werden, dass es nichts und niemand zu kritisieren gibt. Kulturkritiker sind also damit konfrontiert, dass sie nicht ein Etwas, sondern das Wie bekämpfen bzw. kritisieren müssen. »Nicht Menschen und Dinge, sondern Sachverhalte« (Flusser 2000d: 77). Da im Zentrum unserer Gesellschaft nicht Menschen, sondern Sender stehen, begannen die Kulturkritiker die Sender zu analysieren. Was sie vorfanden war, dass es immer schneller werdende Apparate und Funktionäre36 gibt. Allgemein wird Apparat als ein »Werkzeug zur Erzeugung von Technobildern« (ebd. 2000a: 150) definiert – technische Bilder werden von Apparaten erzeugt. Der Fotoapparat ist ein Prototyp, der für die Gegenwart und Zukunft so bestimmend gewordenen Apparate. Spezifischer ausgedrückt: Es existieren zwei unterschiedliche Zugänge zur Definition von Apparaten. Einerseits etymologisch, andererseits ontologisch. Etymo36 Zur Klärung: Flusser geht davon aus, dass der Unterschied zwischen erster und zweiter Industriellen Revolution darin liege, dass die erste in einer technischen Simulation von Muskeln – etwa Arme und Beine – und die zweite in einer technischen Revolution der Nerven besteht. Die erste Revolution hatte also demnach die Arbeit zum Inhalt. Gemeint ist hierbei das Verhältnis zwischen Mensch und Welt und das Verhältnis zwischen Mensch und Werkzeug. Die Folgen, die sich daraus ergaben, sind das Proletariat und der Funktionär, also Menschen, die in Funktion von Werkzeugen leben und bei denen sich das traditionelle Verhältnis zwischen Mensch und Ding umdreht. Zur zweiten Revolution ist anzumerken, dass sie die Kommunikation verwandelt hat. Gemeint ist das zwischenmenschliche Verhältnis. Zentral hierbei: Nicht der offene Informationsfluss und Informationszugang ist das Wichtige. Nein, wichtig ist zu erkennen, dass sich die Kodes, derer sich die Menschen zwecks Verständigung bedienen und die dem Leben einen Sinn geben, wandeln (vgl. Flusser 2000²a: 235f). Flusser hat in seinen Vorlesungen zur Kommunikologie ausgeführt, dass die zweite Industrielle Revolution, welche die Elektrizitäts-, die Speicher- und Übertragungsmedien einsetzt, erst nach dem zweiten Weltkrieg ihre Effekte zeitigt. »War die erste Industrielle Revolution mit den mechanischen Maschinen die technische Simulation menschlicher Muskelkraft, so besteht die zweite in der technischen Simulation der menschlichen Sinnesnerven (McLuhan: Ausweitung des Zentralnervensystems). Dadurch veränderte sich zunächst die Arbeit, als Prozess der Dekontextualisierung von Mensch und Welt (Gellner), sie erforderte eine neue Anthropologie. Sodann veränderte sich die Kommunikation, das Verhältnis zwischen den Menschen. Der technischen entspricht aber noch keine soziale Innovation, es gibt ein kommunikationstheoretisches Vakuum, und deshalb fordert Flusser entsprechend zur Technologie eine diese ergänzende Kommunikologie (vgl. Hartmann 1999b).

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logisch leitet sich das Wort Apparat vom lateinischen Verb apparare ab, und kann mit vorbereiten übersetzt werden. Die Unterscheidung Apparat und Präparat wird herangezogen, um eine weitere Begriffsklarheit zu erreichen. Nach dieser Unterscheidung »wäre ›Apparat‹ eine Sache, die in Bereitschaft auf etwas lauert, und ›Präparat‹ eine Sache, die in Bereitschaft geduldig auf etwas wartet. Der Fotoapparat lauert aufs Fotografieren. Dieses Auf-dem-Sprung-Sein der Apparate, diese ihre Raubtierhaftigkeit ist beim etymologischen Definitionsversuch des Begriffs ›Apparat‹ festzuhalten« (Flusser 2000c: 20).

Ontologisch betrachtet, sind Apparate hergestellte Sachen und die Gesamtheit dieser Sachen kann Kultur genannt werden. Apparate sind Teil einer Kultur und diese Kultur ist an ihnen erkennbar. Allgemein ist zu den Apparaten festzuhalten, dass sie informieren, sie technische Organe simulieren, Menschen in Funktion von Apparaten funktionieren und hinter den Apparaten Absichten und Interessen verborgen sind. Doch dies alles ist nicht das Entscheidende, da die Apparate, obwohl sie Resultate der Industrie sind und aus dieser stammen, sie dennoch aus diesem Industriekomplex hinausweisen und zwar in Richtung einer nachindustriellen Gesellschaft. Neue Kategorien müssen gefunden werden, um den Apparaten an den Leib rücken zu können und sie definieren zu können. Apparate leisten keine Arbeit im Sinne der Werkzeuge und Maschinen. »Ihre Absicht ist nicht, die Welt zu verändern, sondern die Bedeutung der Welt zu verändern. Ihre Absicht ist symbolisch« (Flusser 2000c: 24). Zum Beispiel arbeitet der Fotograf nicht, sondern erzeugt, behandelt und speichert Symbole. Diese Arbeit wurde einst von Malern durchgeführt, gegenwärtig sind es die Apparate, die diese Tätigkeiten übernehmen. »Dadurch werden die derart erzeugten Informationsgegenstände immer wirksamer und weitreichender, und sie können alle Arbeit im alten Sinn programmieren und kontrollieren. Und daher sind gegenwärtig die meisten Menschen an und in arbeitsprogrammierenden und arbeitskontrollierenden Apparaten beschäftigt« (Flusser 2000c: 24).

Bei (gegenwärtigen) Kulturanalysen ist die Kategorie Information an Stelle von Arbeit anzuwenden. Exkurs zu Funktionär Im Zusammenhang mit dem Fotografen taucht der Begriff des Funktionärs auf. Anders als etwa der vom Werkzeug umgebene Handwerker oder der an der Maschine stehende Arbeiter, ist der Fotograf mit seinem

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Apparat verflochten – er ist drinnen. Er versucht sein Inneres zu ergründen. Der Fotograf spielt also nicht mit, sondern gegen sein Spielzeug (Flusser vergleicht das Fotografieren mit einem Schachspiel). Den Apparaten wohnt eine neuartige Funktion inne und aus dieser geht der Begriff des Funktionärs hervor. Für den Fotografen ist gerade die Schwärze seiner Box das Motiv zum Fotografieren. Die Black Box ergibt sich daraus, dass kein Fotograf in der Lage ist, einen richtig programmierten Fotoapparat zur Gänze zu durchschauen. Obwohl der Fotograf mit dem Input und dem Output seines Apparates vertraut ist, weiß er nicht, was im Inneren vor sich geht. »Eben dies ist für alles apparatische Funktionieren charakteristisch: Der Funktionär beherrscht den Apparat dank der Kontrolle seiner Außenseiten (des Input und Output) und wird von ihm beherrscht dank der Undurchsichtigkeit seines Inneren« (Flusser 2000c: 26). Eine Undurchsichtigkeit, die von Seiten des Bildes bisher mehrmals erwähnt wurde. Die Programme der Apparate bestehen aus Symbolen. Funktionieren heißt demnach, mit Symbolen zu spielen und diese kombinieren. Im Fotoapparat – dem ersten Apparat, in dem es darum ging, Punktelemente des Denkens zu integrieren – gibt es zwei ineinander verschlungene Programme: Eines bewegt den Apparat zum automatischen Bildermachen, ein anderes erlaubt dem Fotografen zu spielen. Hinter diesen Programmen stehen noch weitere Programme (etwa jenes der Fotoindustrie, welches den Fotoapparat programmiert hat oder jenes des Industrieparks, welcher die Fotoindustrie programmiert hat usw.). Die Programmhierarchie ist jedoch nach oben hin offen, da jedes Programm ein Metaprogramm erfordert. Nicht wer den Apparat besitzt, ist wichtig, sondern wer ihn programmiert (hat). Es macht daher wenig Sinn, einen Apparat wie einen Gegenstand besitzen zu wollen. Es ist nicht der Gegenstand, der zum Spielen befähigt, sondern die Regeln des Spiels. »Nicht wer den harten Gegenstand besitzt, verfügt über einen Wert, sondern wer sein weiches Programm kontrolliert. Das weiche Symbol, nicht der harte Gegenstand, ist wertvoll: Umwertung aller Werte« (ebd.: 29). Die Macht ist somit vom Besitzer des Gegenstandes auf den Programmierer übergegangen.37 Das Spielen mit Symbolen ist ein Machtspiel geworden. So hat zum Beispiel der Fotograf Macht über den Betrachter. »Diese Umkehrung von Macht vom Dinglichen auf das Symbolische ist das eigentliche Kennzeichnende dessen, was wir ›Informationsgesellschaft‹ und ›nachindustriellen Imperialismus‹ nennen. Siehe Japan38: Es besitzt weder

37 Übrigens ein interessanter Umstand, dessen sich etwa auch die Medienpädagogische Forschung annehmen sollte. 38 Vgl. Mattelart (2003), im Besonderen Kapitel V Politik im Wandel.

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FLUSSERS TELEMATIK: VOM UTOPISCHEN INS MACHBARE Rohstoffe noch Energie – seine Macht beruht auf Programmierung, ›Data Processing‹, Informationen, Symbolen« (Flusser 2000c: 29).

Ein Apparat ist also ein komplexes Spielzeug, so komplex, dass die damit Spielenden es nicht durchblicken können. Das Spiel des Apparats besteht aus Kombinationen der in seinem Programm enthaltenen Symbole. Dieses Programm wurde von einem Metaprogramm eingetragen und das Spielresultat sind weitere Programme. Vollautomatische Apparate können auf menschliche Interventionen verzichten, viele Apparate erfordern jedoch den Menschen als Spieler und Funktionär. Apparate mechanisieren das Denken insofern, als dass sie das Denken im Sinne eines Kombinationsspiels mit zahlenmäßigen Symbolen simulieren, sodass künftige Menschen immer weniger kompetent werden und immer mehr den Black Boxes überlassen müssen. Die wissenschaftlichen Black Boxes leisten diese Art von Denken mittlerweile besser als der Mensch selbst. Warum? Weil sie mit den zahlenähnlichen Symbolen besser (schneller und fehlerfreier) spielen, als dies den Menschen möglich ist. Falsch ist, Funktionäre als Machthaber zu begreifen. Sie sind sogar apparateblind und wenn man die Apparatesituation einsehen will, dann müssen Generalisten befragt werden. Die peinliche Feststellung lautet also, dass die Gesellschaftszentren, die Sender, Wattebäusche sind, »in welche Apparate und Funktionäre laut Vorschrift Vorschriften kalkulieren und komputieren« (ebd. 2000d: 80). Die ursprüngliche Absicht der Apparate hat sich gewandelt. Mag es einst darum gegangen sein, einer so genannten neuen Freiheit zu dienen, so ist dies heute kein primäres Ziel mehr. Das Verhältnis Mensch/Apparat wandelte sich zu Apparat/Mensch. Der Mensch funktioniert also in Funktion seiner Apparate. Es geht nicht mehr darum, die Welt nach der Absicht des Menschen umzuformen, sondern darum, den Apparaten die beabsichtigte Form vorzuschreiben. Aber mittlerweile hat sich ein Problem eingeschlichen. Die Apparate steigern stetig ihre Geschwindigkeit, werden immer schneller und entschlüpfen somit auch der Kontrolle.39 Die Programme emanzipieren sich von menschlicher Absicht, sie werden autonom, rollen weiter, bis sich schließlich alle Zufälle verwirklicht haben, und zwar auch jene, die der Mensch ursprünglich verhüten wollte. Das wirkliche Problem liege im Verhältnis des Menschen zu seinem neuen materiellen Fundament. Dieses erscheine 39 So ist etwa die digitale Realität mittlerweile eine Welt, in der »Mediatisierungen durch Softwareagenten im Netz autonom erledigt werden und in der neue semantische Ontologien entstehen, weniger symbolische Darstellungen als konstruierte Strukturen der Wirklichkeit, die nicht derer Abbildung zum Zweck haben, sondern Probleme des automatisierten Datenmanagements und Datenaustausches durch Vereinheitlichung auf abstrakte Ebenen lösen sollen« (Hartmann 2003: 143f). Zur Technologie der SoftwareAgenten siehe Rieder (2004).

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ihm schlicht als ein Bestandteil seines Umwelt-Dekors, welches er folglich aus seinem eigenen Bewusstsein ausblende und zu Gunsten eines immateriellen Imagos vollständig vergesse, von dem er sich leiten lasse und dessen immanente Plausibilität wichtiger sei als sein Wahrheitsgehalt (vgl. Moles 1991: 169).

Die vertane Chance Will man einen diskursiven40 in einen dialogischen Schaltplan umbauen, so existiert hierfür eine Technik: die Telematik41. Gegenwärtig sind wir jedoch mit dem Problem konfrontiert, dass die Konvergenz von Bildern und Telekommunikationsmethoden derart neu ist, dass der Mensch sie noch nicht als ein kulturelles, sondern als ein technisches Phänomen42 erlebt. Und insofern verwundert es nicht, wenn das Sprechen der Menschen bei »Dingen wie Glasfasern, Kabeln, Satelliten, numerischen Übertragungen und Computersprachen« (Flusser 2000d: 87) eine Form annimmt, als seien ihre Ausführungen nicht angebracht, sondern lediglich das Wort des Technikers. Bei der Betrachtung von Bild und Telekommunikation technische Vorkenntnisse vorauszusetzen, ist ein Missverständnis. Nein, will man den existentiellen und kulturellen Impakt der Telematik erfassen, dann muss man diese Voraussetzungen sogar ausklammern. Die Problematik, die vielmehr auftaucht, ist jene, dass der Mensch nicht sofort einsieht, dass die Telematik »in ihrer gegenwärtig technisch noch unterentwickelten Form bereits erlaubt, alle gegenwärtigen diskursiven, aber auch dialogischen Gesellschaftsstrukturen über den Haufen zu werfen« (ebd.: 88). Noch immer wird versucht, die dialogische Funktion den imperativen Diskursen der Sender unterzuordnen. Die dialogischen 40 Eine diskursive Kommunikationsform charakterisiert sich dadurch, dass Menschen Informationen bewahren wollen, ist also Informations-distributierend. Eine dialogische Kommunikationsform versucht Informationen zu erzeugen, ist also Informations-synthetisierend. 41 Hingewiesen sei, dass Telematik im Sinne Flussers sich von der herkömmlichen Verwendungsweise (etwa jener Michael Latzers) völlig unterscheidet. Latzer verwendet Telematik, um die Konvergenz von Telekommunikation und Computertechnik auf mehreren Ebenen zu beschreiben. Telematik ist eine Vorstufe der Mediamatik, die das Kommunikationssystem des 21. Jahrhunderts (nach Latzer) darstellt. Wenn Latzer die Telematik als Vorstufe zur Mediamatik betrachtet, so ist die Telematik eine wichtiger Schritt zu diesem Kommunikationssystem des 21. Jahrhunderts, und es ist ein Schritt, der sich vor allem auf einer technischen Ebene vollzieht. Für Flusser ist Telematik nichts, was dazwischen liegt. Am Ende steht für ihn der telematische Mensch. Ein Mensch, der sich aufgerichtet hat, die Freiheit erlangt hat. 42 Wie Frank Hartmann in seiner jüngsten Publikation Mediologie zeigt, verlief sich der Fachdiskurs immer wieder in Sackgassen. Eine derartige Sackgasse bestand darin, dass Medien als technische Hardware automatisiert wurden (etwa im deutschen medientheoretischen Diskurs (vgl. Hartmann 2003).

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Netze sollen die diskursiven Strahlenbündel stützen, und das macht es schwierig, die revolutionäre Virtualität der Telematik überhaupt zu erkennen. Dabei wird ignoriert, dass die Telematik in ihrer gegenwärtigen Form es technisch bereits erlaubt, Dinge, wie Zeitungen, Bücher, Briefe, Geschäfte, Ämter, Fabriken, Theater, Kinos, Konzertsäle, Ausstellungen, aber auch solche Dinge, wie die Post, das Radio, Fernsehen oder Geld und andere mehr, überflüssig zu machen. Vom Standpunkt der Kommunikation ist jede Gesellschaft ein Zusammenspiel von Diskursen und Dialogen. Sie ist ein Gewebe mit der Funktion, Information zu erzeugen und weiterzuleiten, damit diese Informationen in weiterer Folge in Gedächtnissen gespeichert werden. Was aber ist ein Diskurs bzw. Dialog bei Flusser. Diskurs bezeichnet jene Methode, dank welcher die Informationen weitergegeben werden, Dialog jene, dank welcher Informationen hergestellt werden. Drei Typen der Klassifizierung von Gesellschaft gilt es zu unterscheiden: x Ideale Gesellschaft – Diskurs und Dialog halten sich die Waage. Einerseits speisen die Dialoge die Diskurse, und andererseits provozieren die Diskurse Dialoge. x Dialogische Gesellschaft – hierbei existiert eine Vielzahl von dialogischen Kreisen, die eine stetig wachsende Menge von Informationen, zum Beispiel wissenschaftliche, künstlerische oder politische Informationen erzeugen. Nun verfügen aber diese elitären Kreise über keine Kanäle, über welche diese Informationen diskursiv weitergegeben werden können. Somit droht die Spaltung der Gesellschaft in eine informierte Elite und eine uninformierte Gesellschaft; die Gesellschaft droht auseinander zu brechen. x Diskursive Gesellschaft – hierfür bietet das späte Mittelalter ein Beispiel. Die Diskurse der Kirche beherrschten die Gesellschaft. Doch mangels Dialogen drohten die Quellen der Informationen zu versiegen. Dies hat zur Konsequenz, dass die Gesellschaft in Entropie43 verfällt (vgl. Flusser 2000d: 91).44 Der Versuch, eines dieser eben genannten Modelle auf die europäische Gegenwart anzuwenden, mündet in dem Ergebnis, dass in der Gegenwart 43 »Gemäß dem zweiten Hauptsatz [der Thermodynamik, Anm. M.M.] ist es möglich, eine bestimmte Größe zu definieren, die mit der Zeit stets zunimmt oder zumindest nicht abnimmt, und diese nennen wir die Entropie« (Wiener 2002: 155). Wiener argumentiert, dass Entropie und Information sich nur durch das Vorzeichen voneinander unterscheiden würden, Information messe Ordnung, Entropie Unordnung. Wiener kommt zu dem Schluss, dass es möglich sei, Ordnung vom Aspekt der Nachricht her zu begreifen, doch nach Dotzler ist der Status von Wieners Vermutung bis dato ungeklärt. 44 Die Massenmedien, die auch als die vierte Gewalt dargestellt werden, sind ein weiteres Beispiel der diskursiven Gesellschaft.

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mittelalterlich-katholische Züge erkennbar sind. Warum? Nun, noch immer dominieren zentral ausgestrahlte Diskurse. Insofern droht die Gesellschaft in Entropie zu verfallen. Der Mensch aber kommuniziert, um der Entropie zu entkommen; neg-entropie als Antrieb zur Kommunikation.45 Flusser schreibt hierzu: »Die menschliche Kommunikation ist unnatürlich, ja widernatürlich, weil sie beabsichtigt, erworbene Informationen zu speichern. Sie ist negativ-entropisch« (Flusser 2000a: 12). Der Mensch versucht seine Einsamkeit durch dialogische Erkenntnis des Anderen zu überwinden, und die Kernfrage der menschlichen Kommunikation kreist um den Prozess, der die Übertragung von Informationen von einer Generation zur folgenden erlaubt. Kurzum: Die Spezies Mensch widerspricht dem Mendelschen Gesetz, welches besagt, dass erworbene Informationen nicht von Organismus auf Organismus übertragen werden können. Der Mensch speichert Informationen in einem kulturellen Gedächtnis und zu diesem haben die folgenden Generationen Zutritt. Flusser weist auf eine vertane Chance hin, welche darin besteht, die telematische Struktur gegen die diskursive Gesellschaftsstruktur zu verwenden. Alle Gadgets der Telematik funktionieren als Stütze der sie programmierenden Sender und zwar nicht auf Basis ihrer Bauart, sondern »weil ihre Benutzer programmiert sind, sie so und nicht anders zu gebrauchen« (ebd. 2000d: 92) Paradox daran ist, dass ihre technische Bauart ein dialogisches Funktionieren ermöglichen würde. Die Benutzer der Gadgets – etwa Videospiele, Videofilme, Kassetten etc. – sind dazu programmiert, sich zu zerstreuen. Das Nichterkennen der Möglichkeiten der Telematik ist das Kernproblem, dessen sich die unspektakulären Revolutionäre annehmen. Sie bauen darauf, dass der gegenwärtige Konsensus gebrochen werden kann und zwar durch die Bauart der telematischen Vorrichtungen. Sind nun aber Otakus solche unspektakulären Revolutionäre? Wohl eher nicht. Einige unter ihnen mögen Revolutionäre sein, aber die dialogische Gesellschaftsstruktur im Sinne Vilém Flussers ist nicht erkennbar. Zu dominant sind die diskursiven Strukturen und zu sehr wird Freiheit darin gesehen, Apparate zu besitzen und mit dem Vorhandenen zu spielen, anstatt gegen das Vorhandene zu spielen. Es reicht also nicht aus, wenn Menschen weniger in Funktion ihrer Apparate leben. Meist bleiben sie Funktionäre des Meta-Programms. Das Kernproblem scheint also im dominierenden Meta-Programm zu liegen. Zum letzten Programm eines Apparates hält Flusser fest, dass es das letzte Programm eines letzten Apparates nicht geben kann, schlicht aus dem Grund, da jedes Programm 45 Ähnliches konstatiert auch Régis Debray, wenn er schreibt, dass mit der Sorge um die Vergänglichkeit auch die Dokumentationswut gewachsen sei (vgl. Debray 1999: 21). Siehe des Weiteren Debray 2001 sowie Les cahiers de médiologie °11.

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ein Meta-Programm erfordert, von dem es programmiert wurde. Daher ist die Programmhierarchie nach oben hin offen. Würden die Menschen im Sinne der positiven Utopie ihre Haltung zur Telematik ändern, sprich sich nicht mehr zerstreuen, sondern sich ihrer Gespräche bedienen, »dann verändern die technischen Bilder plötzlich ihren Charakter. Sie werden dann plötzlich zu Oberflächen, auf denen Informationen hergestellt werden und durch die hindurch die Menschen miteinander dialogisieren. Sie spielen dann plötzlich jene meditative Rolle, die früher lineare Texte bei Korrespondenzen gespielt haben« (Flusser 2000d: 93).

Die zukünftige Gesellschaft wäre dann immateriell. Alle Menschen wären miteinander vernetzt und zwar in einer Art und Weise, dass alle gegenwärtig verfügbaren Informationen in immer neuen Feldern aufgefangen würden und man sie dadurch in die Komputationen aufnehmen könnte. Eine Stadt wäre dann kein geografischer Ort mehr, sondern würde den ganzen Erdball umfassen. In diesem Stadtmodell erkennt Flusser (1998: 53ff) eine Umstülpung der platonischen Utopie. Die Absicht eines derartig projizierten Raumes besteht schlicht darin, in der Theorie nicht mehr Entdecken von Wahrheit, sondern das Projizieren von Bedeutung zu erkennen: Sinngebung. Für die Übergangsperiode zwischen der Zivilisation der Gegenwart und der Zukunft gilt, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen in zwei Netze zerfallen werden: Eines wird theoretisch, eines weiterhin politisch und wirtschaftlich. Doch mit dem Fortschreiten der Zeit wird das Erste dominieren und das Zweite aufsaugen. Betrachtet man das gegenwärtige dumme Herumspielen mit den telematischen Gadgets, zeigt sich, worin die meisten Kulturkritiker irren. Sie würden versuchen, die ausstrahlenden Zentren zu kritisieren, um sie danach zu ändern oder abzuschaffen. Und genau hier liegt das Problem. Das revolutionäre Engagement hat nicht in den Zentren, sondern in den dummen telematischen Gadgets anzusetzen. Diese sind zu ändern, »und zwar ihrer eigenen Technik gemäß zu ändern, und falls dies gelingt, fallen die Zentren von selbst zusammen. Man hat eben nicht mehr mit historischen, sondern mit kybernetischen Kategorien zu kritisieren« (ebd. 2000d: 94). Flusser weist beständig darauf hin, dass die Welt für den Menschen ihren historischen Charakter verliere und dass die Art, wie die technoimaginären Kodes erfasst werden, eben neu ist und somit noch nicht richtig verstanden wird. Die Welt wird zusehends unbegreiflich (vgl. Flusser 2000a: 268). Es ist also nicht erforderlich, auf das Telematische zu verzichten. Dietmar Kamper (1996) hat zudem gezeigt, dass das Wegdenken des Telematischen auch nicht funktioniert. Warum?

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Das Telematische ist für ihn selbst der Innbegriff einer Vernichtung, und zwar der Vernichtung des Körpers durch Abbildung. »Das Telematische ist der Inbegriff eines Denkens des Immateriellen, d.h. einer Entrealisierung durch Symbolisierung einer Dematerialisierung durch Repräsentation. Und genau das funktioniert nicht als Zerstörung der Dinge, sondern als Aufhebung derselben in eine Abstraktion, durch die Bildform des Stoffes. Alles Denken hat daran teil und muss sich selbst widersprechen, um der Falle, die es darstellt, zu entgehen. Das mag nur nach mehreren Anläufen gelingen und auch nur durch eine gewisse Virtuosität der Sprache in der Spur der sich selbst löschenden Schrift. Die Leere des verschwundenen Menschen – so Foucault – ist die Ortschaft, in der es endlich möglich wird, mit dem Denken anzufangen, und zwar durch seine eigene Unmöglichkeit hindurch« (Kamper 1996: 224).

Aus dieser Reflexion zum Telematischen ergibt sich für Kamper die Forderung nach einer Anthropologie der Medien. Anthropologie der Medien bedeutet für ihn einen zeitlichen Ursprung des Überzeitigen bzw. einen sterblichen Anlass für das Unsterbliche zu markieren; bedeutet des Weiteren eine Genealogie des Prozesses zu behaupten, der von selbst jedoch alle Genesis abtue und sich als ungewordene Ewigkeit behaupte.

Creatio ex nihilo Ist man bestrebt, eine dialogische Gesellschaft zu schaffen, so liegt das zentrale Problem im Erzeugen von Informationen. Informationen sind unvorhersehbare und unwahrscheinliche Situationen und es ist zu fragen, wie diese Informationen zu Stande kommen. Informationen tauchen eben nicht aus dem Nichts auf, sie sind keine Wunder, haben keinen göttlichen Schöpfer und somit ist nicht eine Gesellschaft von Göttern, sondern eine von Spielern zu besprechen. Die Informationserzeugung kann man auch entmystifizieren. Geschieht dies, dann zeigt sich die Welt als ein möglicher Zufallsentwurf. Zudem wird deutlich, dass sich die Informationen in der Welt, wie auch die Informationen selbst, aus einer Synthese von vorangegangenen Informationen ergeben. Wir haben es hier also mit der endlosen Spirale der Geschichte zu tun, wie sie Régis Debray in seinem Buch Jenseits der Bilder (siehe Kap. 5: 149f) erläutert und welche im tertium non datur46 kulminiert. Aber wenn Information aus vorangegangenen Synthesen entsteht, so muss es auch den entgegengesetzten Vorgang, die Zersetzung bzw. den Zerfall geben und dieser Informations46 Vergleiche hierzu auch Frank Hartmann (2003) und Régis Debray (1999).

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zerfall ist für Flusser grundlegender als die Informationserzeugung. Warum? Weil Information aus unwahrscheinlichen und Informationszerfall aus wahrscheinlichen Zufällen entsteht (vgl. Flusser 2000d: 95f). Menschen sind im vorliegenden Zusammenhang nicht als Schöpfer von Informationen, sondern als Spieler mit vorangegangen Informationen zu betrachten. Das Spiel, von dem hier die Rede ist, besteht in dem Erzeugen von Informationen. Dabei ist jede einzelne Information als ein Zugang zu einem Spiel zu sehen und alle (zukünftigen) Menschen werden daran partizipieren können. Kurzum: Im Unterschied zur Welt stellen die Menschen Informationen absichtlich her. Anders ausgedrückt: Die Natur würfelt unmethodisch, nach blindem Zufall, der Mensch würfelt nach der Methode des Dialogs. Die Fäden des zwischenmenschlichen Beziehungsfeldes sind permanent neu zu weben und weiterzuspinnen. Die entstehenden Knoten verschieben sich nicht nur, sondern ent- und verknoten sich weiter. Dabei ist davon auszugehen, dass die meisten Menschen nicht mehr Objekte, sondern Symbole manipulieren. Dialoge sind dann gelenkte Würfelspiele und bei diesen können entweder mehrere Menschen oder auch einzelne partizipieren. Im letzteren Fall spricht man von einem inneren Dialog. Hierbei würfelt eine Einzelperson mit den gespeicherten Informationen. Wie steht dies nun mit der telematischen Gesellschaft in Verbindung? Es besteht insofern eine Verbindung zwischen dem inneren Dialog und der telematischen Gesellschaft, als dass die telematische Gesellschaft idealtypischerweise versucht, ein Netz von inneren Dialogen herzustellen, welche als »ein innerer Dialog der ganzen Gesellschaft angesehen werden könnte« (Flusser 2000d: 98). Sprich die telematische Gesellschaft als ein kosmisches Übergehirn47. Im menschlichen Gehirn erkennt Flusser zum großen Teil ein Kulturerzeugnis. Der Mensch hat immer größere Schwierigkeiten, zwischen ererbten und erworbenen Informationen zu unterscheiden. Die Organisation des Gehirns kann sich in zweierlei Richtungen verändern: Zum Ersten verändert sich das Gehirn unter dem Einfluss herankommender Informationen, zum Zweiten verkümmert das Gehirn, wenn diese Informationen ausbleiben. Das Gehirn ist zwar ein ererbtes Organ, doch kann es nur in einer kulturellen Situation funktionieren, und der Geist mag ein Kulturphänomen sein, aber er kann nicht ohne Gehirn existieren. Wir sind hier mit dem medientheoretischen Ich konfrontiert, welches einen 47 Bei Teilhard de Chardin nimmt die Noosphäre jene Phase der geistigen Evolution ein, in der der Mensch auf den Punkt Omega zusteuert. Das Omega ist das geheimnisvolle Zentrum des menschlichen Zentrums (vgl. de Chardin 1999: 276). Das theologische Konzept von Teilhard wurde unter anderem von Marshall McLuhan enttheologisiert. McLuhan spricht von einer kosmischen Membran, die sich durch die elektrische Erweiterung der menschlichen Sinne rund um den Globus gelegt hat (vgl. Böhmisch 2004: 3).

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Knotenpunkt bildet. Ein Knotenpunkt, der in einem Netz von dialogisch strömenden Informationen und einem Lager für durchgegangene Informationen verortet ist48 und an welchem nun die unvorhergesehenen, unwahrscheinlichen Komputationen stattfinden. Die neuen Informationen entstehen und werden als beabsichtigt und frei entschieden empfunden, »weil jedes ›Ich‹ ein einzigartiger Knotenpunkt ist und sich von allen übrigen Knotenpunkten im Netz durch seine Stellung und die in ihm gelagerten Informationen unterscheidet« (Flusser 2000d: 100). Anders ausgedrückt: Das Ich ist eine »Art Spitze eines sich im Kollektiv auflösenden und von dort aus sich kristallisierenden Eisberges« (ebd. 1998: 13) und entsteht aus einem offensichtlichen Nichts. Aus den phänomenologischen Untersuchungen wissen wir, dass das Erkennen ein konkretes Phänomen ist, aus welchem erst nachträglich das Subjekt sowie das Objekt des Erkennens extrapoliert wird. Die Lebenswelt ist ein Beziehungsfeld und dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass das Ich eines Subjekts sich erst über einen anderen Du-Sagenden definieren lässt (vgl. ebd. 1998: 14). Wenn nun das Ich als ein Knotenpunkt in einem dialogischen Netz betrachtet wird, dann kommt man nicht umhin, die Gesellschaft als ein aus individuellen Gehirnen zusammengesetztes Übergehirn zu sehen. Sie ist eine »offene Vernetzung von Kompetenzen« (ebd.: 73). Und die telematische Gesellschaft unterscheidet sich dann von allen vorangegangenen Gesellschaftsformen nur dadurch, dass bei ihr der Zerebralnetzcharakter der Gesellschaft bewusst wird und man somit darangehen kann, diese Netzstruktur bewusst zu manipulieren. Die telematische Gesellschaft ist die erste, die in der Erzeugung von Informationen die eigentliche Funktion der Gesellschaft erkennt und diese Erzeugung daher auch methodisch vorantreiben kann. Sie ist die erste selbstbewusste und daher auch freie Gesellschaft. Um es noch drastischer auszudrücken: Sie ist die Alternative zur inkompetenten einsamen Vermassung. In einer telematischen Gesellschaft ist das dialogische Spiel eine methodische Suche nach neuen Informationen, und genau diese Suche nennt Flusser Freiheit. Die Richtung der Suche wird von dem Gegenüber Absicht genannt. Die negativ entropische Tendenz des Menschen wurde bereits mehrmals aufgezeigt. In der telematischen Gesellschaft nun ist der Mensch tatsächlich das erste Mal ein Mensch, »nämlich ein Spieler mit Informationen; und die telematische Gesellschaft, diese ›Informationsgesellschaft‹ im wahren Sinn des Wortes, die erste tatsächlich freie Gesellschaft« (Flusser 2000d: 103).49 48 Dies gilt übrigens sowohl für die ererbten, als auch in einem größeren Maß für die erworbenen Informationen. 49 Der Otaku im klassischen Sinn ist ein Informationssammler und weniger ein Informationserzeuger. Der Otaku führt jedoch einen inneren Dialog, ist aber dennoch der diskursiven Struktur verhaftet; von der Freiheit der telema-

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Informationserzeugung basiert auf dem Spielen mit vorhandenen Informationen und der sich dahinter verbergende schöpferische Akt macht die Freiheit aus. Freiheit durch inneren Dialog. Wo aber liegt gegenwärtig das Problem mit den inneren Dialogen? Schlicht, dass sie zu langsam sind. Äußere Dialoge sind in der Lage, rasch(er) mittels Komputation Informationen herzustellen. In der telematischen Gesellschaft werden Informationen nicht mehr von einigen wenigen großen Männern hergestellt. Das Schaffen öffnet sich und in der telematischen Gesellschaft kehrt der Begriff zu seiner eigentlichen Bedeutung zurück. In der telematischen Gesellschaft werden Menschen am »kreativen Prozess beteiligt sein, ihre Intuitionen und Inspirationen an den Apparaten verkörperten Theorien heuristisch prüfen und dabei Informationen erzeugen, von deren Reichtum wir vorläufig keine Ahnung haben« (Flusser 2000d: 113). Die Mechanismen der Black-box kommen zu tragen. Diese, so der französische Philosoph Michel Serres, unterbrechen mit Unwissen eine Folge von Erkenntnissen oder schlagen gar eine Lücke in den hellen, klaren Raum. »Wir verstehen etwas bis zu einer bestimmten Schwelle und dann wieder von einer bestimmten Grenze ab, aber was zwischen der Schwelle und der Grenze liegt, wissen wir nicht und begreifen wir nicht, die Veränderung, die zwischen der Schwelle und der Grenze erfolgt, bleibt für uns im Dunkeln. In beliebig vielen Dimensionen empfängt die Black-box, und sie sendet etwas, aber welche Transformationen da in ihren Wänden stattfinden, wissen wir nicht« (Serres 1999: 184).

Der künftige, auf seiner Tastatur spielende Mensch wird vom »Rausch dieses Schaffens unvergänglicher, aber immer neu zu synthetisierender Informationen ergriffen werden« (Flusser 2000d: 113). Aber wie charakterisiert sich der künftige Mensch? Wird er gar ein dem Menschen aus science fiction Filmen bekanntes Wesen mit einem überdimensionalen Kopf etc. sein? Hierzu ein neuerlicher Blick auf die Erkenntnisse von André Leroi-Gourhan. Der Paläontologe widmet sich im Abschnitt Der Mensch der Zukunft der eben gestellten Frage und für ihn ist klar, dass man keinen sehr großen Spielraum annehmen darf, wenn die Menschen

tischen Gesellschaft träumt er (möglicherweise), doch er scheint zu wenig zu erkennen, dass diese Freiheit einen Preis hat: Information. Das Paradox des Otakismus liegt im Festhalten der Information, ein Festhalten, dass ihn zum Eremiten werden lässt, der in der Regel keinen Blick auf seine Informationen zulässt. Kein Museum, sondern ein privater Schauraum; ein Verfall in die Entropie. Flusser würde den Otaku wohl als einen Teil einer dummen Gesellschaft bezeichnen.

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in dem uns heute bekannten Sinne Menschen bleiben sollen, also wie sie mental und physiologisch in unserer Vorstellung existieren. »Als man sich am Ende des 19. Jahrhunderts Gedanken machte, wie der zukünftige Mensch aussehen könnte, ließ man sich von Bild des Fötus inspirieren, und stellte sich unsere Zeitgenossen am Ende des 20. Jahrhunderts als Individuen mit gewaltigem Gehirn, winzigem Gesicht und kleinem Körper vor. Dieses Bild ist falsch, denn es gibt keinen Grund für die Annahme, das Hirnvolumen könne sich in weniger als mehreren zehntausend Jahren beträchtlich vergrößern. Wir sind erst 30.000 Jahre alt, und es bedarf noch weit größerer Zeiträume, wenn sich die Mechanismen der Artentwicklung deutlich bemerkbar machen sollen. Immerhin könnte man durch Verfahren einer künstlichen Selektion zu einer Steigerung des relativen Gehirngewichts kommen, wenn dem Gewicht überhaupt eine Bedeutung zukommt. Unberücksichtigt bliebe bei all diesen Spekulationen freilich, dass eine bedeutsame Veränderung kaum eintreten dürfte, solange nicht die Hand, das Gebiss und folglich auch der aufrechte Gang verloren gehen. Eine zahnlose Menschheit, die in liegender Stellung lebte, und das, was ihr vom vorderen Glied geblieben ist, dazu benützt, auf Knöpfe zu drücken, ist nicht völlig unvorstellbar, und manche Zukunftsromane, die sämtliche mögliche Formeln durchspielen, haben die Gestalten des ›Marsmenschen‹ oder des ›Venusmenschen‹ geschaffen, welche diesem Entwicklungsideal recht nahe kommen. Aber kann man behaupten, dass man es hier noch mit Menschen zu tun hat? In der Paläontologie gibt es durchaus Beispiele für Arten, die ein endgültiges Gleichgewicht erreicht haben. Die einen gelangen an diesen Punkt, indem sie, wie die Haie, eine unveränderliche Stabilität gewannen, die anderen, indem sie endgültig verschwanden. Die Zukunftschancen des Menschen scheinen eher der zweiteren Kategorie anzugehören, und wenn es sich um ein beliebiges Säugetier handelt, musste die Prognose ganz zweifellos entschieden pessimistisch ausfallen. Wir mögen uns immerhin mit dem Gedanken trösten, dass der Mensch dem allgemeinen Fluss der Entwicklung der Arten unterworfen bleibt und dass seine Auslöschung folglich vielleicht noch einige zehntausend Jahre auf sich warten lassen wird, auch wäre es vorstellbar, dass er die genetischen Gesetze in einem bewussten Eingriff dazu benützte, den Gang seiner Evolution zumindest für einige Zeit aufzuhalten. In jedem Falle ist nichts in Sicht, was ihn in die Lage versetzen könnte, sich zu befreien, ohne zugleich einen Artwechsel durchzumachen« (Leroi-Gourhan 1988: 167f).

Der zukünftige Mensch wird beim »Schaffensprozess zum Selbstvergessen mitgerissen werden. [...] Der künftige Mensch wird sich selbst im Spiel finden, er wird sich selbst darin konkretisieren. Das ›Ich‹ [...] wird sich im schöpferischen Spiel überhaupt erst realisieren« (Flusser 2000d:

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114). Konkret bespricht Flusser ein Gehirnmännchen. Hierbei handelt es sich um den Versuch, in einem Bild darzustellen, wie das Gehirn den Körper des Menschen wahrnimmt. Die Figur, die dabei entsteht, mutet insofern grotesk an, als die Größe der Zunge, des Penis und des rechten Daumens überproportional groß ausfallen. Der Rest des Körpers dient lediglich dazu, diese Organe zu stützen. Der Körper des zukünftigen Gehirnmännchens mag dem der jetzigen Menschen ähnlich sein, aber es sind einige grundlegende Veränderungen denkbar. So ist anzunehmen, dass die Zunge merklich kleiner ausfällt, da in Hinkunft weniger gesprochen werden wird. Der Daumen wird in Relation zum gegenwärtigen Daumen ebenso kleiner, schlicht aus dem Grund, da der Daumen aus Mangel an Manipulationsmöglichkeiten50 an materiellen Gütern verkümmern wird. Der augenscheinlichste Unterschied zwischen dem zukünftigen und dem gegenwärtigen Menschen manifestiert sich in einer Veränderung betreffend die Fingerspitzen. Diese avancieren zu den wichtigsten Organen des Körpers. Der gesamte Körper des zukünftigen Menschen wird als Stütze für die Fingerspitzen dienen51 und die Ähnlichkeit des zukünftigen mit den gegenwärtigen Menschen ist der zentrale Grund, warum es gegenwärtig nicht gelingt, diesen zukünftigen Menschen als neuen Menschen zu erkennen (vgl. ebd. 1998: 182 bzw. 98f). Die Unterwerfung des Körpers stellt eine wichtige Methode zur Emanzipation des Subjekts dar. Wenn der Mensch beständig mehr Objekte manipuliert, gerät er logischerweise in eine tiefer greifende Abhängigkeit zu diesen. Aus dieser Sackgasse kann er nur entkommen, wenn er den unterworfenen Körper selbst manipuliert. »Das eigentliche Ziel aller Körperentwürfe ist, den Körper so zu gestalten, dass man sich seiner bedienen kann, statt ihm, und durch ihn den Objekten, unterworfen zu sein. Sollte dies gelingen, wäre man nicht mehr Subjekt und könnte aufrecht und aufrichtig leben« (ebd. 1998: 98). Nicht der Körper ist das Wesentliche, sondern das Entwerfen und Gestalten dieses. Die Hand löste einen programmierten Prozess in den automatischen Maschinen aus. Dieser hat nicht nur das Werkzeug, die Geste und die Motorik exteriorisiert, sondern ebenso das Gedächtnis. Zudem wurde das menschliche Verhalten usurpiert, also unrechtmäßig angeeignet (vgl. Leroi-Gourhan 1988: 302). Was unterscheidet die natürliche (Natur) von der künstlichen (Kultur) Informationserzeugung? Werden die Informationskategorien von einer Meta-Ebene aus betrachtet, so ist kein Unterschied erkennbar, da beide ihre Existenz (ihr Entstehen) einer Synthese von vorangegangenen Infor50 Flussers Argumente bezüglich der fehlenden Manipulationsmöglichkeiten können auch am Beispiel von Modernisierungsschritten in traditionellen Unternehmen bekräftigt werden. Erwähnt sei hier die Automation von Arbeitsschritten. Die Schere wird beiseite gelegt, die Fingerspitzen greifen ein. 51 Vgl. hierzu die Ausführungen zum Tastsinn von Leroi-Gourhans (1988: 367f).

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mationen verdanken. »Was der Mensch mit strategischem Spiel erreicht, erreicht die Natur mit Würfelspiel auch, nur dauert es dort länger« (Flusser 2000d: 115). Würfelspiel – aber wie? Die Natur weist die Tendenz auf, in sich zusammenzubrechen, Entropie. Im Gegensatz dazu steht die strategische Informationserzeugung. Sie kämpft gegen den Zerfall, will sich dem Tod entziehen. Informationen werden demnach hergestellt, um dem Vergessen zu entgehen, Neg-Entropie, also Freiheit. Das ist das zentrale Problem der absichtlichen Informationserzeugung – das Nichtvergessenwerden, das Gedächtnis. In der Telematik, so die positive Utopie, werden alle erzeugten Informationen in unvergänglichen Gedächtnissen gelagert. Mit den Worten Michel Serres gesprochen: »Wir verlieren das Gedächtnis, weil wir zahlreiche Gedächtnisse konstruieren« (Serres 2002: 201). Die eigentliche Absicht, die hinter der Telematik steckt, ist, den Menschen unsterblich zu machen. Und die positive Utopie setzt sich in dem Gedanken fort, dass die telematische Gesellschaft die Antwort auf den unvermeidlichen Verfall der Kultur darstelle und eine technische Antwort sei. Ein weiterer faszinierender Aspekt der Telematik liegt darin, dass es ihr möglich ist, Informationen ohne materielle Unterlagen herzustellen und zu lagern. Durch diese Fähigkeit löst die Telematik das Abfallproblem52 und zwar dadurch, dass sie sich erlaubt, alle materiellen Unterlagen für Informationen zurückzuweisen. Jedoch hat die positive Utopie eine Schattenseite. Man wird gezwungen sein, die Flut von hereinströmenden Informationen zu verwalten und insofern muss das Lager Kultur gigantisch ausgebaut werden. Wie wird ein derartiger Umbau aussehen? Erste Konturen lassen sich nachzeichnen und weisen darauf hin, dass (a) immer hochwertige künstliche Gedächtnisse erzeugt werden, (b) dem Vergessen eine neue und systematisch manipulierbare Bedeutung verliehen wird, und der Begriff dem Lernen ebenbürtig wird; eine notwendige Informationsstrategie und (c) redundante Informationen in speziellen Gedächtnissen ausgelöscht werden. Doch dieses Szenario liegt, wie auch Leroi-Gourhan anmerkt, noch weit vor uns. Dieser Punkt verlangt ein Denken in einer anderen Zeitdimension. Nicht Jahrzehnte, Jahrtausende gilt es anzulegen. Es wird also noch eine Zeit dauern, ehe die Rohstoff- und Energiequellen versiegen und lediglich Informationsquellen unerschöpflich quillen. 52 Der Mensch, so Flusser, habe im Glauben, dauerhafte Informationsunterlagen herzustellen, immer mehr Abfall produziert und um nun dem Abfall Herr zu werden, schuf er so genannte Abfallwissenschaften (Ökologie, Archäologie, Tiefenpsychologie oder Etymologie). Diese Abfallwissenschaften sollten ›Halbvergessenes ins Gedächtnis zurückholen‹. Mit dieser Strategie glaubte der Mensch, den Abfall zu kontrollieren.

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Alle wie auch immer gearteten Informationen sind in elektromagnetische Felder zu übersetzen und erst wenn dies geleistet ist, werden die Informationen in »unvergänglichen Gedächtnissen lagerbar werden, um dort immer wieder reproduziert und umgewandelt zu werden. Erst dann werden die Informationen nicht nur vor dem Vergessen bewahrt sein, sondern auch zu immer neuen Informationen führen« (Flusser 2000d: 121). Das ist, nach Flusser, die Absicht der Telematik. Zu beobachten ist dieser Vorgang etwa im Bereich der Fotografie; die Bilder sind von Druckerschwärze oder Silberpapier befreit. Das ist die gegenwärtige technische Revolution: Eine Übersetzung der Chemie in die Elektronik. Die Strategie, um die Absicht ins Werk zu setzen, blieb bisher unbeantwortet. Der Schlüssel für die Umsetzung liegt in der Freiheit. Freiheit besteht für Flusser in der Unterscheidung zwischen redundanten und den tatsächlichen Informationen. Frei sind jedoch nur jene, die für diese Unterscheidung kompetent sind. Kompetent sein, ist nur in einem bedingten Maße in seiner umgangssprachlichen Verwendung als das Zuständige oder die Urteilsfähigkeit interpretierbar. Für Flusser ist Kompetenz die Summe aller möglichen Verbindungen (Komputationen) von Elementen nach Regeln. Die Summe der Elemente wird Repertoire53, die Summe der Regeln Struktur genannt. Kompetenz ist nun die Funktion eines gegebenen Repertoires auf einer gegebenen Struktur. Die Kompetenz vergrößert sich, wenn sich das Repertoire oder die Struktur vergrößert. Die menschliche Kompetenz vergrößert sich, wenn sich sein Repertoire vergrößert und eben in der Vergrößerung der Kompetenz liegt die Aufgabe der Telematik. Aber die Telematik wird nicht nur den Menschen kompetenter machen, auch die künstlichen Intelligenzen werden davon profitieren und hierin liegt eine Problematik. »Künstliche und menschliche Intelligenzen werden zu einer Einheit verschmelzen, so wie dies heute schon embryonal beim Fotografen und Fotoapparat der Fall ist. Die Menschen werden umso freier, je kompetenter die Computer sind, mit denen sie sich koppeln« (Flusser 2000d: 124). Aber diese Verschmelzung schürt – bei vielen Menschen – die Angst vor einer von Maschinen dominierten Welt. Der Mensch aber, so Leroi-Gourhan, brauche sich nicht davor zu fürchten, dass er von mit menschlichen Gehirnen ausgestatteten Maschinen ersetzt werde. Die Gefahren liegen vielmehr im Inneren der »im engeren Sinne zoologischen Art« und nicht bei der Exteriorisierung der Organe. »Das Bild von Robotern, die den Menschen durch einen Wald von Röhren verfolgen, hat nur dann Sinn, wenn die Automaten von einem anderen

53 Vgl. zum Begriff Repertoire und Struktur Abraham Moles (1977). Flusser bezeichnet in Die Schrift. Hat schreiben Zukunft? übrigens Moles als den Erfinder der Nachgeschichte.

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OTAKISMUS – SUBKULTUR UND NEUE LEBENSFORM Menschen gesteuert wären. Zu befürchten ist allenfalls, dass homo sapiens sich in tausend Jahren, wenn seine Exteriorisierung abgeschlossen sein wird, durch jenen veralteten osteo-muskulären Apparat behindert fühlen könnte, den er aus der Altsteinzeit ererbt hat« (Leroi-Gourhan 1988: 311f).

Resümee – Die verborgenen Leiden der Idioten Was bedeutet dies nun vor dem Hintergrund des Otakismus? Ein Phänomen, in dem die Kopplung – wenn man den Erzählungen glaubt – bereits stattfindet. Werden diese Menschen kompetenter? Kann man tatsächlich bereits von Telematik sprechen oder ist es nur ein erster Windhauch, der in die Ebenen gelangt, ehe der Sturm sich ausbreitet? Eher haben wir es mit einem lauen Lüftchen zu tun. Die Black-box im Sinne Serres ist noch zu wenig erhellt, als dass eine neue Gesellschaftsform sich etablieren könnte. Eine neue Lebensform (Grassmuck), ja, eine neue Gesellschaftsform (Flusser), nein. Das Repertoire der Otakus mag sich vergrößern, doch die Struktur scheint sich nur unwesentlich zu bewegen. Die Ursachen liegen in der dominierenden Lebensstruktur, dem Neoliberalismus, der sich nicht so rasch zurückdrängen lässt. Frei nach LeroiGourhan müssen wir wohl in anderen Zeitkategorien denken. Die Telematik wird kommen – in einigen Jahrtausenden. Vor dem eben beschriebenen Hintergrund konstruierte Flusser ein Gesellschaftsbild, in dem er behauptet, dass die Gesellschaft einem dialogischen Netz gleiche. Durch die Fäden dieses Netzes laufen von Knoten zu Knoten die Informationen. »Die Knoten des Netzes sind menschliche und künstliche Gedächtnisse, Intelligenzen, in denen die durch die Fäden übertragenen Informationen zusammenlaufen, um dort gelagert, zu neuen Informationen komputiert und schließlich durch Fäden in Richtung anderer Knoten weitergesandt zu werden« (Flusser 2000d: 126).

Logischerweise wächst die Summe der Informationen immer weiter an. Somit steht das telematische Netz der Natur gegenüber. Dort werden, vor dem Hintergrund der Entropie, die Informationen immer kleiner: ein Indiz für einen widernatürlichen Charakter. Die Knoten im telematischen Netz, nicht die künstlichen, sondern die menschlichen Gedächtnisse, stellen jene Orte dar, die im herkömmlichen Sinne das Ich bezeichnen. Auf die Informationen in einem vortelematischen Gedächtnis, sprich das individuelle Gehirn, trifft, da natürlichen Ursprungs, auch der zweite thermo-

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dynamische Hauptsatz zu und somit mündet dieses Gedächtnis in der Entropie. Das Ich zerfällt, wenn es nicht an ein dialogisches Netz angeschlossen ist, oder um es mit Flusser auszudrücken, das Ich muss vergessen und vergessen werden. Das Ich, sprich der Mensch, muss vergessen und vergessen werden; der Punkt ist erreicht, an dem das Unbehagen unerträglich geworden ist. Muss aber nicht sein, da das menschliche Gedächtnis so gebaut ist, dass es sich gegen das Vergessen und Vergessenwerden stemmt; positive Utopie, ohne Utopie zu sein. Es existiert nicht nur eine programmierte Entscheidung, sondern auch eine Entscheidung programmiert zu entscheiden. In einer telematischen Gesellschaft kann der Mensch von der Entscheidungsfindung befreit werden, er kann sich auf das Kritisieren beschränken. Die Automatisierung von Erzeugung erlaubt zuerst einmal, alle Menschen zu Kritikern zu machen. Wenn aber alle Menschen zu Kritikern werden, so werden sie auch Selbstkritiker. Gerade anhand dieser Situation wird der Unterschied zwischen vortelematischer und telematischer Gesellschaft ersichtlich. Die Kanäle, auf denen einst Zensoren saßen, sind reversibel geworden. Niemand entscheidet, was durchzulassen bzw. welche Information zu unterdrücken ist. Gatekeeper good bye. Der Mensch wird in der telematischen Gesellschaft als Hersteller und Kritiker von Informationen zwar von Apparaten schrittweise ersetzt werden, aber dennoch, er wird das Recht behalten, Nein zu sagen. Und genau darin besteht die Freiheit, nämlich in einem Nein, das Einhalt bietet bzw. bieten kann. Und dieses Nein hat ein Teil der Otaku-Subkultur (Eng) artikuliert. Sie beginnt ihre eigenen Lebensentwürfe zu gestalten und zu projizieren. In der otakuesken Subkultur sind auch die Absichten der Telematik erkennbar. Natürlich sind es Ansätze und noch keine perfekten Entwürfe. Die Telematik ist insofern eine Technik der Freiheit, als dass sie dem Menschen ermöglicht, sich von allen Bedingungen zu emanzipieren. Der Mensch muss keine Entscheidung mehr treffen, kann jedoch die Telematik selbst verneinen, darin liegt weiterhin seine Entscheidungsfreiheit. »Mit dieser Offenheit können wir uns getrost auf das telematische Abenteuer einlassen. Denn wenn wir auch nicht Konsuln und Zensoren sein werden, Tribunen werden wir bleiben« (Flusser 2000d: 134). Die bisherigen Ausführungen haben zu zeigen versucht, dass in einem Universum der technischen Bilder Autor bzw. Autorität keine wichtigen Komponenten mehr sind. Sie, die Automation der Erzeugung, Vervielfältigung, Verteilung sowie die Entscheidung müssen nicht mehr von Autoren oder Autoritäten getroffen werden. Wenn aber Autoritäten verschwinden, wer regiert bzw. herrscht dann in einer telematischen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund einer etymologischen Betrachtungswie-

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se mündet eine Analyse von Herrschen, Regieren, Macht und dergleichen in einem gemeinsamen Bedeutungskern, welcher letztlich ein Engagement gegen das Chaos des Zerfalls und für die Information beschreibt. Die telematische Gesellschaft wird kybernetisch regiert werden und kybernetisch54 wird als automatische Lenkung bzw. Steuerung von komplexen Systemen definiert, um in weiterer Konsequenz die entstehenden unwahrscheinlichen Zufälle auszubeuten und danach Informationen herzustellen. In einer telematischen Gesellschaft existiert eine Struktur, in der ein menschliches Gehirn jeweils für das andere funktioniert. In der telematischen Gesellschaft herrscht das Funktionieren. Anhand der OtakuSubkultur ist dieses Argument exemplifizierbar. Otakus vernetzen sich mit Otakus desselben Interessensgebietes, wählen oftmals eine dialogische Kommunikationsform und synthetisieren Informationen. Die Apparate in der telematischen Gesellschaft schrumpfen und obwohl sie als ein Zentralprodukt unserer Gesellschaft gelten, werden sie immer kleiner und so wird das »emportauchende, telematische Supergehirn« enorm sein, »weil es ein Mosaik sein wird, das aus lauter winzigen Steinchen zusammengesetzt ist« (Flusser 2000d: 145).55 Aber woher rührt das Desinteresse am Großen und die Faszination am Winzigen? Gegenwärtig besteht eben ein großes Interesse am Kalkulieren und Komputieren von winzigen Elementen, um neue Informationen herzustellen. Daher wird von einer Umkehrung des Interessensvektors gesprochen. Der Körper, sowie alles daraus Abstrahierte, ist an den Horizont des menschlichen Interesses gerückt. Der Mensch kalkuliert und komputiert die Punkte unter Zuhilfenahme von Apparaten zu Bildern und genau dies ist es, was mit neuer Einbildungskraft benannt wird. Eine neue Einbildungskraft, aus der das Universum der technischen Bilder hervortaucht und aus welcher der Mensch schließlich synthetische Bilder projiziert (vgl. Hartmann 2000: 289). Es ist kein Zufall, dass die telematische Revolution in Japan derartig schnell Fuß fasst bzw. gefasst hat. Ein Japan, das Roland Barthes als

54 Norbert Wiener schreibt, dass Kybernetik als Begriff geprägt wurde, der einen neuen Wissenschaftsbereich definieren sollte. »Unter einer einzigen Überschrift vereinigt er die Erforschung dessen, was im Zusammenhang mit dem Menschen manchmal etwas vage als Denken beschrieben wird und was auf technischem Gebiet als Steuerung und Kommunikation bekannt ist. Mit anderen Worten unternimmt die Kybernetik den Versuch, gemeinsame Elemente in der Funktionsweise automatischer Maschinen und des menschlichen Nervensystems aufzufinden und eine Theorie zu entwickeln, die den gesamten Bereich von Steuerung und Kommunikation in Maschinen und lebenden Organismen aufdeckt« (Wiener 2002: 15). 55 Übrigens ist dies eine Tendenz, die auch in den österreichischen Universitäten en vogue ist. Nur mit dem Unterschied, dass kein Superhirn zu entstehen vermag.

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Reich der Zeichen56 beschreibt und von dem er sagt, es habe ihn »mit vielfachen Blitzen erleuchtet: Besser noch: Japan hat ihn in die Situation der Schrift versetzt« (Barthes 1981: 15). Diese Situation ist nach Barthes jene, in der eine Zerrüttung der Person eintrete, eine Umwälzung der alten Lektüre, eine Erschütterung des Sinns, welcher zerrissen und bis zur unersetzlichen Leere erschöpft werde, ohne dass dabei jedoch das Objekt aufhöre begehrenswert und bedeutsam zu sein. Das Subjekt ist durch das Satori57 ins Wanken gebracht. »Nicht mit jüdisch-christlicher Verachtung der Leiblichkeit, eher mit konfuzianischer Miniaturisierung ist die sich anbahnende Verneinung der Körper zu vergleichen« (Flusser 2000d: 152). Eine Verneinung der Körper, die auf der funktionellen Armut unseres Organismus gründet und dessen sich der Mensch bewusster wird bzw. wurde. Dies manifestiert sich durch das Vorhandensein von Werkzeugen. Aber die Unzufriedenheit reicht viel weiter, und der menschliche Organismus ist nicht mehr adäquat für ein Überleben. Der Mensch ist gezwungen, alternative Körper zu entwerfen. In welchen Bereichen des menschlichen Organismus aber liegen die Möglichkeiten alternative Körper zu entwerfen. Vor allem im Bereich des Zentralnervensystems. Die Untersuchungen von Leroi-Gourhan zeigten, dass das Gehirn die letzte Errungenschaft des Menschen darstellt. Worauf es ankommt, ist der Nervenapparat (vgl. Leroi-Gourhan 1988: 299). Der Mensch steht mittlerweile auf dem Weg zur Zerebralisierung58, und die Größe von Körpern bildet dabei kein Spielargument. Wenn nun alternative Körper entworfen werden, so soll es sich um Körper handeln, die das Zentralnervensystem 56 Karl-Ludwig Pfeiffer schreibt: »Roland Barthes Buch L’empire des signes ist (gewiss auch zu Recht) viel kritisiert, in seiner Weise aber kaum wieder erreicht worden. Der Titel suggeriert allzu thesenhaft die visuelle, semantisch neutrale oder gar leere Qualität japanischer Zeichen. Dabei unternimmt es Barthes in der Hauptsache eher, die Differenzen und Oppositionen, die den Westen umtreiben, in Bewegung zu versetzen. Er will den Osten nicht als das Andere, sondern als andere Inszenierung unserer – anthropologischen – Undurchsichtigkeit beschreiben. Jenseits der Ansprüche von Aufklärung und Selbst-Aufklärung soll im imaginären Entwurf eines ›peuple fictif‹ das Kontur gewinnen, was er ›notre propre obscurité, ›la copcité de notre narcissime‹ nennt« (Pfeiffer 1999: 297). Weiter unten schreibt Pfeiffer: »Barthes’ Prosa führt anschaulich vor, wie sich Beobachtung und imaginäre, ja, mythologisierende Projektion aneinander reiben und unvermeidlich überlagern. Die Mythologie regt sich im souveränen Nominalismus, mit dem die Sprache (oder die mythopoetische Vision des Bildes) Namen und Geschehen mit dramatischen und anderen Werten anfüllt« (Pfeiffer 1999: 539). 57 Roland Barthes bezieht das Satori auf die Schrift. Satori bezeichnet ein ZenErlebnis. Der Satori ist ein »mehr oder weniger starkes (durchaus nicht erhabenes) Erdbeben, das die Erkenntnis, das Subjekt ins Wanken bringt: Er bewirkt eine Leere in der Sprache. Und eine solche Leere konstituiert auch die Schrift; von dieser Leere gehen die Züge aus, in denen der Zen in völliger Sinnbefreiung die Gärten, Gesten, Häuser, Blumengebinde, Gesichter und die Gewalt schreibt« (Barthes 1981: 16). 58 Vgl. hierzu auch Sloterdijk 2000: 166f.

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unterstützen und zwar bei seinem Engagement für die Informationsvergrößerung. »Das Nervensystem als eigenständige Struktur nimmt wahr, um Daten zu Informationen zu prozessieren, diese zu speichern und weiterzugeben. Insofern der Körper dem Nervensystem dient, zielt er letztlich darauf ab, die Summe der Informationen in der Welt zu vergrößern« (Flusser 1998: 94f). Die Forderung, die erkennbar wird, lautet, ins Zufallsspiel der Evolution absichtlich einzugreifen. Damit kann die bereits existierende Umdrehung der Beziehung Nervensystem – restlicher Körper vollendet werden und somit wird auch die Menschwerdung näher an die Vollendung geführt. Der Einwand lautet, dass das Entwerfen eines alternativen Zentralnervensystems (Körpers) unmöglich sei. Doch es zeigt sich gegenwärtig, dass dies offensichtlich sehr wohl möglich ist. Die beständige Weiterentwicklung der Computer und die Möglichkeiten der Kopplung mit anderen Nervensystemen ist ein Indiz hierfür und auf diese hat bereits Flusser hingewiesen. Wenn von der neuen Einbildungskraft die Rede ist, so hat diese neue Einbildungskraft von der Entwicklung des Computers profitiert. Der Computer ist insofern ein wichtiges Instrumentarium, als aus diesem alternative Welten entstehen. Was aber machen eigentlich diejenigen, die vor dem Computer sitzen? Sie verwirklichen Möglichkeiten. Sie raffen Punkte nach exakt formulierten Programmen und was sie dabei verwirklichen, ist sowohl ein Außen als auch ein Innen. Indem diese Menschen alternative Welten verwirklichen, verwirklichen sie sich selbst. Insofern sind Computer Apparate zum Verwirklichen von »innermenschlichen, zwischenmenschlichen und außermenschlichen Möglichkeiten« (Flusser 1991: 155ff) und dies dank eines exakt kalkulatorischen Denkens. Otakus greifen diese Möglichkeiten auf. Der telematische Mensch wird die Körper verneinen, wie auch »die Volumina, die Objekte, die Dinge« (Flusser 2000d: 152). Aber nicht nur der telematische Mensch, sondern alle Menschen, auch jene, die das Spiel mit den Informationen ablehnen, werden sich dem Sog der Telematisierung nicht entziehen können. Der Spieltaumel wird alle mitreißen und die Konturen der objektiven Welt werden zusehends verschwimmen. Warum? Weil die technischen Bilder psychedelisch sind. Ein Verweis auf Régis Debray scheint hilfreich. Dieser argumentiert, dass es die Bilder seien, die faschistisch sind. Bleibt noch die Frage zu beantworten, welche Konsequenz sich aus dem Verneinen alles Objektiven, Dinglichen und Körperlichen ergibt? Es ist dies die Verneinung aller Ontologie, aller Epistemologie und aller Ethik zu Gunsten der reinen Ästhetik. Die platonische Utopie ging davon aus, dass der Mensch aus dem Himmel (topos uranikos) gefallen und ein in die Welt der Erscheinung (phainomena) gefallenes Wesen ist. Beim Sturz in die Welt ist der Mensch dabei durch den Fluss des Vergessens (lethe) gefallen und hat

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dabei alle Erinnerung vergessen. Der Mensch kommt als ein von Ideen abgetrenntes Wesen (idiotes) in die Welt. Doch es gibt Methoden, dank derer sich der Mensch an die vergessenen Ideen erinnern kann. Eine zentrale Rolle spielen dabei die drei Lebensformen Wirtschaft, Politik und Philosophie. Das wirtschaftliche Leben (zoon oikonomikon) erzeugt irdische Werke, welche publiziert und politisiert werden, um den Wert festzustellen. Doch daraus ergibt sich lediglich eine verzerrte Meinung. Insofern ist das politische Leben ein Leben der falschen Meinungen. Will der Mensch dem Irrtum entgehen, kann er dies nur durch Kritisieren. Bios philosophikos, ein Leben in der Liebe zur Weisheit. Die drei Lebensformen Wirtschaft, Politik und Philosophie bilden eine Stufenleiter. Wirtschaft stützt dabei die Politik, Politik ihrerseits stützt die Philosophie. Interessant dabei ist, dass die Wirtschaft (die Idioten, die Sklaven) dabei den Unterbau der Gesellschaft bildet. Die Politik in Form der Künstler und Publizisten bildet die Mittelstufe, und die Philosophie (also die Theoretiker und die Lenker) bildet die Könige der Gesellschaft. »Der Zweck der Republik (politeia) ist, einen Raum für Philosophie, für das Wiedererinnern und Ent-vergessen der Ideen (aletheia = Ent-vergessen = Wahrheit) und damit für den Rückweg in die himmlische Heimat zu öffnen« (Flusser 2000d: 155). Dieses Argument, welches der Philosophie ihren angestammten Platz zuweisen will, thematisiert auch Adorno. Dieser schreibt in § 42 der Minima Moralia, dass die Verdrängung der Philosophie durch die Wirtschaft zu einer Trennung von Reflexion und Spekulation geführt habe und immerhin Hegel hat diese zwei Komponenten als jene Einheiten bezeichnet, die das Leben ausmachen. Dies führte dazu, dass die Reflexion verschwand und das leere Nachbeten Fuß fasste59. Die Spekulation ihrerseits gliederte sich in den Wissenschaftsbetrieb ein wurde selbst Objekt der Wissenschaft. Spekulation wurde zur Tatsache (vgl. Adorno 2001: 117ff). Die Wirtschaft besetzt das Gebiet des Sterbens, die Politik das Feld des so genannten Nicht-sterben-Wollens und die Philosophie jenes Gebiet, welches wir als das Unsterblichwerden bezeichnen. Doch zurück zu den idiotes. Dieser Begriff gewinnt vor dem Hintergrund der technischen Bilder wesentlich klarere Züge. Erinnert sei daran, dass die technischen Bilder als die ersten (bereits geleisteten) Projektionen gelten. Diese Bilder sind gut zu kommunizieren, was jedoch impliziert, dass sie schlecht informieren. Durch die technischen Bilder vulgarisiert sich das ästhetische und ethische Niveau der Empfänger und das Resultat sind intellektuelle sowie ästhetische und moralische Idioten. Idiot 59 Michel Serres schreibt, dass sich das Subjekt durch das vergessene Wissen definiert. Er argumentiert, dass der Mensch auf Grund seines Verlustes denkt und erfindet. Unkultur des Zitierens bei Serres (vgl. Serres 1999: 460), leeres Nachbeten bei Adorno.

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hat also seinen ursprünglichen Sinn von Privatmensch zurückerobert. Der einzelne Mensch konzentriert sich verstärkt auf sich selbst, wird unfähiger, die Folgen seiner Gesten auf andere zu erkennen. Und da der Mensch erkennen wird, dass es kein solides Ich geben wird, auf welches er sich verlassen kann, wird der Verfall des »Politischen zu einer amorphen Vermassung führen« (Flusser 1998: 38). Die Idioten im ursprünglichen Sinne sind also jene Personen, die die Räume der realen Virtualität besetzen.60 Wenn vom Leiden der Idioten gesprochen wird, so basiert diese Überlegung auf der flusserschen Ökonomiedefinition. Die Ökonomie ist als die Methode definiert, das Leiden der Menschen zu lindern (Durst stillen) und ihr Sterben zu verzögern. Das wirtschaftliche Leben ist in seiner absurden und sinnlosen Geschlossenheit von allen Ideen abgeschlossen. Kurzum: Der wirtschaftliche Kreislauf ist idiotisch. Deshalb ist der Sieg der Konsumenten über die Politiker und Theoretiker als Herstellung einer idiotischen Gesellschaft zu betrachten. Das Paradox in der platonischen Utopie ist eines, welches grundsätzlich jeder Utopie inhärent ist. Kein Glück ist möglich ohne ein Leiden, und insofern ist Utopie unmöglich. Die telematische Gesellschaft wird sich für die Leidenden (Körper) interessieren. Sie wird sie umprogrammieren, um sie in weiterer Folge vergessen zu können. Die Quelle der Kreativität in der telematischen Gesellschaft ist Mitleid. Es ist das Anerkennen des Leidens im Anderen als wieder erkennen des eigenen Leidens. Das negative entropische Engagement lässt sich wie folgt formulieren: »Ich bin sterblich, du bist sterblich, wir sind unsterblich« (Flusser 2000d: 162). Eine zentrale Frage ist noch ausgeklammert geblieben. Wie ist der telematische Mensch charakterisiert? Die Muße, so Flusser, wird das Ziel des Lebens werden. Gegenwärtig ist die Tendenz feststellbar, dass dank der Automation der Müßiggang nicht aller Laster Anfang, sondern ganz im Gegenteil, zur Belohnung aller Tugend avanciert. Das ganze wirtschaftliche Getriebe ist zerplatzt. Steigende Arbeitslosigkeit sowie mehr Freizeit sind zentrale Indikatoren hierfür. Die Muße nimmt überhand und dieses Überhand-Nehmen bildet eine Antithese zum Business und zu den bürgerlichen Werten. Der Umstand, dass der Mensch zwecklose, antiöko60 Sloterdijk schreibt, dass Dostojewskij die Figur des Idioten als eine Figur des Menschen angelegt habe, die den »vollkommen schönen Menschen und sein unumgängliches Scheitern an der Menschhässlichkeit« darstelle. Ein Erlöser im idiotischen System sei schlichtweg ein Niemand, welcher keinen hohen Mandanten hinter sich habe. Das idiotische Subjekt ist offenbar jenes, welches sich verhalten könne, als sei es nicht so sehr es selbst als eben vielmehr der Doppelgänger seiner selbst und »potentiell der intime Ergänzer jedes begegnenden Anderen«. In der Gegenwart des Idioten werde harmlose Gutmütigkeit zur verwandelnden Intensität; seine Mission scheine zu sein, keine Botschaft zu besitzen, sondern eine Nähe zu stiften, in welcher sich konturierte Subjekte eingrenzen und neu fassen können (vgl. Sloterdijk 2000: 283ff).

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nomische, kurzum unnütze Gesten erkennt und diese utilitaristisch interpretiert, lässt ihn vergessen, dass gerade das Unnütze an der Kultur, wie »das Feierliche, Theoretische daran, die Kunst und die theoretischen Wissenschaft, den Kern bildet« (ebd.: 168). In der telematischen Gesellschaft ist dieses Unnütze, dieses Müßige erlaubt. Die Muße erlaubt dem Menschen, sich (zwecklos, müßig, feierlich) durch Bilder hindurch im Anderen zu erkennen. Der zukünftige Mensch wird problemlos leben. Er wird nicht mehr gegen Widerstände und Gegenstände stoßen, sondern in der absoluten, reinen Einbildung leben. Virtuelle Realität und reale Virtualität fallen zusammen. Der Mensch wird müßig und feierlich leben. Er wird erkennen, dass Arbeit zwar die Wirklichkeit und das Selbst erfahrbar mache, aber dass dabei das Konkrete verloren geht (vgl. ebd. 1998: 156). Die Telematik erlaubt ein dialogisches Programmieren der bilderzeugenden Apparate und darunter ist zu verstehen, dass nicht mehr zentrale Sender, sondern all jene Bilderzeuger, die vor einem Terminal sitzen, dem Apparat ihr eigenes Programm vorschreiben werden. Des Weiteren werden sich all diese Programme aufeinander abstimmen und sich gegenseitig korrigieren und füttern: open source, ein ständiges dialogisches Programmieren aller Apparate findet statt. Das lässt natürlich auch den Funktionär in einem veränderten Lichte erscheinen. Der Funktionär wird nicht mehr nur noch programmiert entscheiden, sondern er wird programmierend entscheiden. In der Telematik steckt, so Flusser, die Möglichkeit, (unter Umständen) zum eigentlichen Menschsein zurückzufinden und im Sinne Neuraths könnte man es wohl bewusste Lebensgestaltung (vgl. Hartmann 2002: 44) nennen. In der Vorhersage der Telematik wird nicht das beschrieben, was auf uns zukommt, sondern das, was den Menschen besorgt macht, da es aus ihm emportaucht. Daher geht es in seinen Ausführungen auch um Kritik an der Gegenwart. Und genau aus diesem Grund sind die Ausführungen von Flusser für die vorliegende Arbeit durchaus essenziell. Barral und Beineix irren. In ihrer Kritik des Otakismus erkennen sie nicht, dass sie ihre Kritik mit vortelematischen Argumenten vortragen und daraus resultiert das Problem des Otakismus. Der Irrtum besteht also darin, gegenwärtige Kulturkritik vor einem antiquierten Standpunkt aus zu betreiben. Und genau darin liegt der große Verdienst Flussers. Er erachtet vortelematische Fragestellungen in diesem Kontext als zwecklos und zeigt(e), dass gegenwärtige Kulturkritik von einem veränderten Standpunkt aus vorgetragen werden muss. Insofern versucht er mittels des phänomenologischen Zugangs die Verhältnisse zurecht zu rücken. Worin liegt nun die Relevanz des Universums der technischen Bilder für die vorliegende Analyse? Flussers Ausführungen führen in das Gebiet einer künftigen, elektronische Bilder synthetisierenden Gesellschaft, und

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er prophezeit eine abenteuerliche Gesellschaft, die sich von unserer eigenen radikal unterscheiden wird. Ist die Otaku-Generation ein Vorbote dieser Gesellschaftsform? Nein! Bei der Otaku-Generation sind wir nicht mit einer telematischen Gesellschaft im Sinne Flussers konfrontiert. Eher handelt es sich um die Fortführung der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur unter (obsessiver) Einbeziehung von (neuen) Medien. Es ist dies noch keine Revolution an sich, maximal eine Krise. Eine Besonderheit der Otaku-Generation ist der (mittlerweile mehrmals genannte) obsessive Medienumgang. Das Revolutionäre liegt nun eben nicht darin, diese unterschiedlichen Medien wie auch immer zu verwenden – etwa mit ihnen zu spielen. Das Revolutionäre liegt daran, dass sich in ihren Oberflächen die Gesellschaftsform einschreibt. Aber: Beim Otakismus stoßen wir (nicht immer aber doch häufig) auf eine negative Utopie. In der künftigen Gesellschaft werden die aktuellen wissenschaftlichen, künstlerischen und politischen Kategorien nur mehr schwer wieder zuerkennen sein, und der springende Punkt ist nun, dass diese Gesellschaftsform nicht mehr in einer fernen Zukunft liegt, sondern dass sich der Mensch auf dem Sprung dorthin befindet. Flusser war sich dessen bewusst, dass er sich in den Bereich einer Utopie begibt und er wusste, dass Utopie Bodenlosigkeit bedeutet. Zahlreiche Aspekte dieser neuen Gesellschafts- und Lebensform sind (a) in unserer Umgebung und (b) an uns selbst ersichtlich. »Wir leben in einer emportauchenden Utopie, die gleichsam vom Grund her in unsere Umwelt und in unsere Poren eindringt« (ebd. 2000d: 7). Er hält sich also an den gegenwärtigen, emportauchenden Bildern fest und kritisiert diese. Anders: Flusser kritisiert die Gegenwart.

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A B S C H N I T T IV Den Raum denken – Information als Lebensform Wir müssen lernen, den Raum zu denken. Marc Augé Information ist eine Aktivität, eine Lebensform, eine Beziehung Frank Hartmann

Dem französischen Philosoph Jean Baudrillard (1983) ist nicht zuzustimmen, wenn er von der Invasion und Zerstörung privater und öffentlicher Räume durch die Obszönität unserer Kommunikationsgesellschaft spricht. Einer Gesellschaft, in der die trennenden Mauern niedergerissen werden, welche die Konsumgesellschaft erfolgreich rund um jeden von uns und zwischen uns und der Hochkultur errichtet hatte. Dabei ignoriert Baudrillard das positive Potenzial, das etwa Vilém Flusser erkannte. Selbstverständlich ist innerhalb unserer Kommunikationsgesellschaft die Konsumation ein zentraler Faktor geworden und diese Konsumation ist auch durch die Möglichkeiten der Kommunikationsgesellschaft geschaffen worden.1 Der Konsum ist zur ersten Bürgerpflicht avanciert und dabei ist der Mensch selbst zu einer Ware geworden. Er wird daran gemessen, wie er sich kleidet, wie sein Körper aussieht oder auch welche Diskurse er führt. Der Mensch muss sich selbst imagemäßig in dieser Gesellschaft etablieren, und zwar um zu überleben. Der Konsum stellt hierfür eine Überlebensstrategie dar, einen Beweis dafür, dass das Individuum als Gesellschaftsmitglied überhaupt akzeptabel ist (vgl. Groys 2003: 76). »Obszönität beginnt genau dann, wenn es kein Spektakel, keine Bühne mehr gibt, wenn alles transparent und unmittelbar sichtbar wird, wenn alles dem harschen und unerbittlichen Licht der Information und Kommunikation ausgesetzt ist. [...] Wir leben in der Ekstase der Kommunikation« (Baudrillard 1983, zitiert nach Guilbaut 1997: 13).

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Siehe hierzu auch Stiegler (2004).

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Ist die Obszönität tatsächlich in den existierenden Bedingungen der Informations- und Kommunikationsgesellschaft zu suchen und zu finden? Wohl nicht. Der entfremdete Mensch, das alte Symbol der Konsumkultur, der instabil in seiner verzweifelten Unruhe existiert, wird in der Pseudokommunikation der Kommunikationsgesellschaft befriedet. Er wird jedoch nicht nur befriedet, sondern generiert in ihr auch seine Identität. Wie Baudrillard sagt: »Er2 ist nur ein purer Screen, eine ständig wechselnde Zentrale für all die Netzwerke der Beeinflussung« (Baudrillard 1983, zitiert nach Guilbaut 1997: 14). Gegenwärtig ist die Suche nach Identität zur primären Quelle gesellschaftlicher Sinnstiftung avanciert. Einleitend zu dieser Studie wurde darauf hingewiesen, dass, sobald die Kommunikation zwischen den einzelnen Individuen und ihrer sozialen Gruppen zusammenbricht, sich diese voneinander entfremden, sich als fremd betrachten oder gar eine Bedrohung in ihrem Gegenüber erkennen. In Japan stigmatisierte man – nicht zuletzt aufgrund der Berichterstattung über dieses Phänomen – den Otaku vielfach zur Bedrohung für das existierende gesellschaftliche System. Fortschrittliche industrielle Gesellschaften haben eine Generation von Jugendlichen hervorgebracht, die das Erwachsenwerden ablehnt. Das eingangs angeführte Argument, dass es für die Menschen dieser Generation symptomatisch sei, dass sie weniger in der Lage sind, sich ihrer Existenz zu stellen, ist in dieser Pauschalität jedoch absolut zurückzuweisen. Wenn die Suche nach Identität als primäre Quelle gesellschaftlicher Sinnstiftung bezeichnet wird, so darf der Bereich, innerhalb dessen diese Identitätsfindung stattfindet, nicht außer Acht gelassen werden. Die Rede ist vom Raum. Dieser Begriff steht in enger Verbindung mit der Identität eines Individuums. Über den Raum identifizieren sich Menschen; und spätestens seit Marc Augé diesen Begriff in einer Etymologie des Alltags thematisierte, ist der Raum ein wichtiges Element in der Betrachtung von gegenwärtigen »(Gesellschafts-)Analysen«.3 Trefflich hat sich der Automobilkonzern Renault zum Raum geäußert. In einem Text zur Vermarktung des Renault Espace heißt es: »Eines Tages bildet sich das Bedürfnis nach Raum […] Erst überrascht es uns. Dann lässt es uns nicht mehr los. Der unwiderstehliche Wunsch, einen Raum ganz für uns zu haben. Einen beweglichen Raum, der uns mit sich fort nimmt. Alles wäre zur Hand, wir bräuchten nichts zu entbehren« (Augé 1994: 10).

Das Streben nach Räumen, in denen man nur der Dinge zu harren braucht, das Aufsuchen von Orten, die etwas vom Charme der unge2 3

Der schizophrene Mencsh der KOmmunikations- und Informationsgesellschaft. Zur Revitalisierung der Raumdebatte siehe etwa Maresch/Weber 2002.

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nutzten Flächen aufweisen, in denen sich das Subjekt verlieren kann, Orten und Räumen, an und in denen man die flüchtige Möglichkeit von Abenteuern spürt. Aber was passiert, wenn sie zu finden sind, diese Orte des Abenteuers des Lebens, was, wenn das le vide den Menschen überkommt, und er zum Statisten seiner selbst wird? Was, wenn der Mensch die Zufluchtsorte, die den Wert einer Muschel4 (Bachelard) besitzen, verliert? Ist er dann nicht gezwungen, diesen Ort, diesen Raum selbst zu schaffen? Liegt hier der Ursprung des Otakismus? Die Geborgenheit innerhalb eines größeren Raumes (Gesellschaft) ist für Menschen vielfach zerstört. Einher mit dieser Zerstörung geht eine Pulverisierung des alten wohnlichen, immunisierten Kosmos an sich. All jene, die noch immer nach außen und oben schauen wollen, geraten in eine Menschenleere und Erdferne, für die keine relevante Grenze existiert. Auch im materiell Kleinsten haben sich Komplexitäten enthüllt, in denen der Mensch der Ausgeschlossene bzw. der Entfernte(ste) ist (vgl. Sloterdijk 2000: 28). Genau darum ist die Erkundung nach dem Wo sinnvoller denn je. Schlicht aus dem Grund, da sie sich auf den Ort richtet, den Menschen erzeugen, um diesen zu besitzen und in ihm zu existieren als jene, die sie (tatsächlich) sind. Bereits Marshall McLuhan argumentierte, dass nachdem der alphabetische Mensch die analytische Technik des Zerlegens internalisiert hatte, blieb er »kosmischen Vorbildern bei weitem nicht mehr so zugänglich, wie der Primitive. Er zieht Absonderung und abgeteilte Räume dem offenen Kosmos vor« (McLuhan 1992, 147).5 Peter Sloterdijk spricht weder von Ort noch von Raum, sondern von Sphäre. Sphäre ist jedoch kein Synonym für den Begriff Raum; die Herstellung einer Verbindung ist dennoch zulässig. Die Sloterdijksche Sphäre bezeichnet ein innenhaftes, erschlossenes, geteiltes Rundes, welches Menschen bewohnen, »sofern es ihnen gelingt, Menschen zu werden« (Sloterdijk 2000: 28). Wohnen bedeutet daher Sphären bilden und in Sphären leben bedeutet, jene Dimension zu erzeugen, in welcher Menschen enthalten sein können. Die Sphäre ist eine »immunsystemisch wirksame Raumschöpfung für exstatische Wesen, an denen das Außen arbeitet« 4

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Bachelard schreibt: »Diese Zufluchtsorte haben den Wert einer Muschel. Und wenn man in den Labyrinthen des Schlafes bis ans Ende geht, wenn man zu den Regionen des Tiefschlafs hinabtaucht, kennt man vielleicht Zustände einer vormenschlichen Ruhe. Das Vormenschliche berührt sich hier mit dem Unvordenklichen« (Bachelard 1999: 36). McLuhan setzt fort: »Er ist immer weniger geneigt, seinen Körper als Modell des Universums gelten zu lassen oder sein Haus – oder auch ein anderes in diese Richtung gehendes Kommunikationsmittel – als kultische Ausweitung seines Körpers zu betrachten. Menschen, die sich einmal die visuelle Dynamik des phonetischen Alphabets zu eigen gemacht haben, beginnen sich von der fixen Idee des Primitiven zu lösen, nach der kosmische Ordnung und Riten in den Körperorganen und ihren gesellschaftlichen Ausweitungen wiederkehren« (McLuhan 1992: 147).

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(ebd.). Der Mensch befindet sich in einem Außen, welches Innenwelten trägt.6 Die Otaku-Generation entzieht sich der Analyse nicht zuletzt deshalb, weil sie einen Wechsel von einem einsehbaren Ort hin zu einem verborgenen Raum vollzogen hat. Das Ausleuchten der Räume ist also gefordert. Die Rede ist hierbei von einem beweglichen Raum, der die Präsenz einer Person gestattet und dessen Schließung und Öffnung in der Macht eben dieser Person liegt. Die Medien sind zentraler Bestandteil von Räumen. Sie sind Teil einer Organisationslogik von Kultur und Gesellschaft. Verfehlt ist, Medien als neutrale Vermittler zu sehen. Schon gar nicht reproduzieren sie eine Wirklichkeit, vielmehr produzieren sie ihre eigene Wirklichkeit. Insofern verändern die Medien die menschliche Wahrnehmung von der Welt, und lassen den Menschen darüber hinaus auch wahrnehmen, was gar nicht in der Welt ist (vgl. Hartmann 2003, 24). In den neuen Räumen sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass imaginierte Werte hinzukommen, und »diese Werte sind bald die dominierenden Werte« (Bachelard 1999: 25).7 Das Dominant-Werden der imaginierten Werte ist durchaus ein Charakteristikum des Otakismus. Neue Kommunikationssysteme transformieren die fundamentalen Dimensionen des menschlichen Lebens, also Raum und Zeit, radikal. Für 6

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Sloterdijk versucht mit der Sphärologie den Nachweis zu erbringen, dass das Sein-in-Sphären für den Menschen ein Grundverhältnis bildet. Dieses Grundverhältnis wird von Anfang an durch die Nicht-Innenwelt angetastet und muss sich ständig gegen die Provokationen des Außen behaupten, wiederherstellen und steigern. Menschen sind ausschließlich und von Grund auf Geschöpfe ihres Interieurs sowie der Arbeiten an der Immanenzform, welche ihnen selbstverständlich unabdingbar zugehört. Der Mensch gedeihe nur im Treibhaus seiner autogenen Atmosphäre. Das In-der-Welt-Sein ersetzt Sloterdijk mit dem In-Sphäre-Sein. »Wenn Menschen da sind, so fürs erste in Räumen, die für sie aufgegangen sind, weil sie ihnen durch Einwohnung in ihnen Form, Inhalt, Ausdehnung und relativer Dauer gegeben haben. Da Sphären aber das ursprüngliche Produkt des menschlichen Zusammenseins bilden [...], sind diese atmosphärisch-symbolischen Orte der Menschen von ihrer fortwährenden Erneuerung abhängig; Sphären sind Klimaanlagen, an deren Errichtung und Einstellung nicht mitzuwirken, für real Zusammenlebende nicht in Frage kommt. [...], in der Tat, die Menschen machen ihr eigenes Klima, aber sie machen es nicht aus freien Stücken, sondern unter vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen« (Sloterdijk 2000: 47f). Die Sphärentheorie mag der Sache nach wohl als Psychologie der inneren Raumbildung beginnen, sie verharrt jedoch nicht dort und bildet sich weiter zu einer allgemeinen Theorie der autogenen Gefäße. Sloterdijk will mit seinem, wie er es nennt, Rechenschaftsbericht dem Formbegriff eine höchstrangige Stellung in einer anthropologisch und kulturtheoretischen Analyse zuweisen (vgl. ebd.: 78). »Der von der Einbildungskraft erfasste Raum kann nicht der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt. Und er wird nicht nur in seinem realen Dasein erlebt, sondern mit allen Parteinahmen der Einbildungskraft. Im Besonderen ist er fast immer anziehend. Er konzentriert das Sein im Innern der Grenzen, die es beschützen« (Bachelard 1999: 25).

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den menschlichen Körper sind im äußeren Raum lediglich die Koordinaten des Beobachters von Belang. Bezogen auf ein menschliches Wesen stellt sich die Ortsfrage jedoch von Grund auf anders, da die primäre Produktivität der Menschenwesen darin bestehe, an ihrer »Einquartierung in eigensinnigen, surrealen Raumverhältnissen zu arbeiten« (Sloterdijk 2000: 83). Vor dem Hintergrund des Otakismus wird ein zentraler Kritikpunkt von Gaston Bachelard (1999: 31) zunehmend relevant. Der Mensch kennt eher und vor allem früher das Universum (besser) als sein (eigenes) Haus. Gaston Bachelard folgend, ist der Mensch aufgefordert, den Versuch zu wagen, die wirklichen Werte des bewohnten Raumes greifbar zu machen; eines Raumes, in dem das Nicht-Ich und das Ich beschützt werden. Wenn ein Mensch sein eigenes Haus nicht kennt, findet eine Entfremdung par excellence statt. Wenn der Wert des bewohnten Raumes überhaupt zu bestimmen ist, so bilden die Medien (des mediatisierten Menschen) einen konstituierender Faktor und somit einen zentralen Baustein der individuellen Raumkonstruktion. Aber Medien, alte wie neue, sind nicht nur als zentrale Inhalte der Raumkonstitution zu betrachten, gerade die Neuen Medien erfordern vor allem auch ein neues Denken (vgl. Hartmann 2003: 146). Medien verändern nicht unsere Wahrnehmung von der Welt, sondern dass diese auch die Wahrnehmung des Menschen mehr oder weniger überlisten. Sie lassen den Menschen Dinge wahrnehmen, die gar nicht in der Welt sind. »Die Sinneswahrnehmungen richten sich nicht länger auf etwas, das im traditionellen ontologischen Sinn in der Welt ist, sondern auf eine Medienwirklichkeit, wie sie von Apparat und Wahrnehmungsorgan gemeinsam produziert wird« (Hartmann 2003: 24).

Diese Veränderung in der Wahrnehmung thematisiert jenen Umstand, der aus seiner traditionellen, vortelematischen Sicht den Otakismus fremdartig erscheinen lässt. Worüber wundert man sich? Offensichtlich darüber, dass die neue Medienrealität eben ein selbstverständlicher Teil des menschlichen Alltags wurde. Viele Menschen verwehren sich dagegen, zwischen virtuell und nicht-virtuell zu unterscheiden und dies ist durchaus eine Realitätsauffassung. Medienrealität nicht als Realität zu akzeptieren, macht überhaupt keinen Sinn. Medienrealität eben nicht als Realität wahrzunehmen, ist ein Standpunkt, welchen tatsächlich nur mehr Vortelematiker einnehmen. Menschliches Denken findet nicht unabhängig von ihren Medien statt, ebenso wenig wie die Sinneswahrnehmungen dies tun. Die Konfrontation des Menschen mit neuen Medienwirklichkeiten führt nicht nur zu einer veränderten Wahrnehmung, sondern eben auch zu veränderten Sozialbeziehungen (vgl. ebd.: 37). Und diese verän-

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derten Sozialbeziehungen zeigen sich doch sehr deutlich in den verschiedenen Lebensweisen des Otaku. Eine gegenwärtige Kulturanalyse richtet ihre Aufmerksamkeit auf »das Verhältnis von symbolischen Welten, physikalischen Wirklichkeiten und den vielschichtigen Prozessen der Übertragung und Übermittlung« (Hartmann 2003: 17). Dietmar Kamper (1995, 24) ist zuzustimmen, wenn er argumentiert, dass ungelöste Probleme deshalb nicht gelöst werden können, da sie selbst aus der Problemlösung hervorgehen. Sie bedürfen erst ihrer Wahrnehmung. Hat wissenschaftliche Erkenntnis im Bereich der Kultur- und Geisteswissenschaft gar zu sehr auf eine medientheoretische Auseinandersetzung verzichtet. Ja, diese medientheoretische Auseinandersetzung überhaupt nicht erkannt, sie ignoriert? Handelt es sich hierbei um eine unverschämte Kränkung bisher geleisteter Forschungstätigkeit? Auf Kränkungen nicht produktiv zu reagieren, führt nach Kamper zu einem totalen Zwang. Dieser totale Zwang ist vielen Studien inhärent.8 In den vergangen Jahren hat sich ein Bruch abgezeichnet und mittlerweile ist unübersehbar, dass eine kulturalistische Reorientierung der Geisteswissenschaften stattfindet bzw. bereits stattgefunden hat. Dies äußert sich dadurch, dass Fragen des Informations- und Wissensmanagements in den Bereich der Grundlagenforschung vordringen. Markant sind auch die Folgen für die Kulturwissenschaften selbst. Innerhalb dieser hat ein zunehmendes Interesse an den Medien und an Kommunikation immerhin zum Bruch mit den linguistischen Paradigmen und ihrer methodischen Fixierung auf Sprache und Textualität geführt: (vgl. Hartmann 2003: 89). Medien greifen nicht von außen auf Kultur zu. So hat zum Beispiel der Buchdruck einen Beitrag zur Bildung größerer, nationaler Kommunikationssysteme geleistet. Zugleich hat er aber die Aufmerksamkeit vom Gespräch von Angesicht zu Angesicht weggelenkt (vgl. Giesecke 1999: 195). Medien sind also eine »Kommunikationen ordnende Macht« (Hartmann 2003: 91), die selbst schon Kultur ist. Ordnen Medien die Kommunikationen des Otaku? Ja, sie ordnen sie. Viel zu lang wurden jedoch die technischen Medien für die kulturellen Artefakte verantwortlich gemacht und dabei geriet die strukturierende Kraft von »Software und Interfaces, oder die Logik von Datenbanken, der Suchmaschinen und der programmierten Agenten« (ebd.) etwas aus dem Blickfeld. Einher mit den elektronischen Technologien und einer vernetzten Struktur änderten sich im Besonderen die Kommunikationsverhältnisse grundlegend. Was bedeutet die kulturalistische Reorientierung der Geisteswissenschaften für den medientheoretischen Ansatz? Es »gilt die sym8

»Nicht zufällig wird die Öffentlichkeit immer öfter auf wissenschaftliche Fälschungen aufmerksam (nach pessimistischen Schätzungen sind drei Viertel aller publizierten Fürschungsergbnisse manipuliert)« (Sloterdijk 2004, 439).

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bolischen Produktionen einer Kultur in Bezug zu ihren aktuellen Organisations-, Archivierungs- und Zirkulationsformen zu setzen. Damit ist Medialität angesprochen, die Übertragung und nicht das Medium« (Hartmann 2003: 92). Die Studien und Aussagen zum Otakismus rücken jedoch mit einer hartnäckigen Konsequenz beständig die Medien ins Zentrum. Warum nicht die Medialität? Eine medientheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften ist für die Analyse des Phänomens Otakismus nicht nur wünschenswert, sie ist notwendig. Gerade das Beispiel des Otakismus zeigt sehr deutlich, zu welchen Interpretationen die subtile (universitäre) Diktatur der Forschungsmethoden führen kann. Doch diese Methoden reißen oftmals mehr Probleme auf, als sie zu lösen im Stande sind, und wie bereits erwähnt, hat Kamper darauf hingewiesen, dass Probleme, die selbst dem Lösen von Problemen entspringen, zuerst der Wahrnehmung bedürfen. Zu Erkennen sind die Probleme, welche die bisherige Interpretation des Otakismus hervorgebracht hat. Gemeint ist etwa eine Pathologisierung des Medienkonsums. Kurzum: totalisierende Theorien (Deleuze) münden in eine Sackgasse, aus der herauszukommen mit großen Schwierigkeiten verbunden ist. Am Beispiel des Otakismus ist sehr deutlich die enge Verflechtung von Mensch und Technik, von den »bewussten und von technischen Anteilen der Kommunikationsprozesse« (Hartmann 2003: 93) ersichtlich, und es ist der Verdacht legitim, dass Medien eben »nichts vermitteln, an dessen Konstruktion sie nicht selbst schon beteiligt gewesen« (ebd.: 94) sind. Der Platz des Mediums ist neu zu definieren, ihm ist eine fruchtbringendere Position zuzuweisen. Gemeint ist konkret eine Position, welche die Interdependenz von Technik und Kultur berücksichtigt, ja, diese an die Position des konkreten Medienbegriffs setzt. Die Forderung ist unmissverständlich: Die eng definierten Medienbegriffe haben nur dasjenige hervorgebracht, was sie suchen: die Probleme. »Weder der Mensch noch eine bestimmte Technologie kann als das definitive Medium gelten. Medien sind schlicht Koppelungen, deren Funktionieren nicht vom individuellen Willen, sondern von bestimmten Konventionen und vorhandenen Kanälen abhängt« (Hartmann 2003: 95).

Daraus leitet sich auch eine neue medientheoretische Frage ab. Nicht mehr ob und wie Medien als Black box zwischen einem Individuum und der Welt vermitteln, sondern die Prozesse und ihre Funktionen selbst rücken ins Zentrum. Im Zentrum stehen also die Mediatisierungen. Angesichts der zunehmenden Mediatisierungen des Daseins – dies ist wohl eine der zentralen Feststellungen der Einleitung – geht es vor allem um

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die Beschreibung von Medieneffekten, die Analyse neuer Narrative, die Spekulation über den Fortgang der Technikkultur sowie um die Vielfalt der Prozesse des Übersetzens und Transformierens.

Dem dauernden Reden über die Medien ist der Rücken zu kehren. Man muss sich der »Realität einer vernetzten Gesellschaft und ihrem digitalen Schein unter Bedingungen der Medienkonvergenz kritisch annähern« (Hartmann 2003: 98). Das Phänomen Otakismus ist nicht mit der traditionellen Begrifflichkeit der Medien- bzw. Kommunikationswissenschaft zu analysieren. Dieses Phänomen bedarf einerseits eines komplexen Analyseverfahrens und andererseits nicht zuletzt eines Befreiungsschlages von begrifflichen Ausschließlichkeiten (Hartmann).9 Die Studie müsste nun wieder an ihren Ausgangspunkt zurückkehren. Die Beiträge von Barral und Beineix haben den Otakismus auch in Europa negativ konnotiert. Sie leisten einen Beitrag, den vorliegenden Untersuchungsgegenstand in einer negativen Art und Weise zu pervertieren. Möglicherweise sind einige Elemente der Otaku-Kultur pervers, auch im klassisch negativen Sinne und sind somit sicherlich verwerflich. Doch die japanische Kultur hat mehr zu bieten als den Otakismus und die japanische Kultur bringt auch mehr hervor als den Otakismus. Um eine Aussage über den Otaku treffen zu können, muss der Standpunkt, von dem aus der Gegenstand betrachtet wird, gewechselt werden. All das Gerede, das auf Einzelfallanalysen basiert, ist wenig wert. Es fehlt der ausgeschlossene Dritte, es fehlt zum Beispiel ein Blick auf die Transformationsleistungen innerhalb einer Kultur mittels Medien. Verschiedene Analysegegenstände bedürfen einer von Fall zu Fall vorzunehmenden Erstellung einer verifizierbaren Korrelation zwischen »symbolischen Aktivitäten einer Gruppe von Menschen (Religion, Ideologie, Literatur, Kunst, etc.), deren Organisationsformen und deren Modi, Spuren zu erfassen, zu archivieren und zirkulieren zu lassen« (Hartmann 2003: 99). Gegenwärtig ist neues Verständnis für Bedeutungsfragen in der Informationsgesellschaft gefragt. Aussagen über Phänomene zu treffen, ohne die individuelle Mediasphäre zu thematisieren, ist anmaßend. Nicht nur den Otakus tut man unrecht, wenn man ohne Rücksicht auf ihre Mediasphäre in ein Sprechen über sie verfällt. Nicht der Gegenstand verfällt, auch die Sprache über den Gegenstand verfällt. Insofern ist diese ganze Studie nicht mehr als eine Prolegomena zum Otakismus; eine Prolegomena, die

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Eine solche Konkretisierungsleistung würde etwa die Mediologie leisten, indem begriffliche Ausschließlichkeiten ersetzt und ergänzt werden, also von Kommunikation durch Mediatisierung, von Botschaft durch Schaltung, von Transport durch Transformation.

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das Bild ins Zentrum rückte. Ein Bild als Bezugspunkt in der Mediasphäre, von dessen Existenz aus die Analyse beginnen kann.

Beantwortung der Hypothese Die vorliegende Studie geht von der These aus, dass die in der Einleitung angeführten konstituierenden Faktoren zwar relevant sind, jedoch wird zur Diskussion gestellt, ob diese Faktoren derartig allmächtig sind, um sie dermaßen dominant in der Debatte um den Otakismus zu positionieren. Diese Faktoren scheinen den Diskurs10 zu dominieren. Der Diskurs des Otakismus sollte um den Aspekt des Bildes erweitert werden. Vor dem Hintergrund der Reflexion zu Phantasie und den Ausführungen Vilém Flussers zeigte sich, dass das Bild ein permanent wiederkehrender Faktor in der Diskussion ist. Daher wurde es als Knotenpunkt aufgegriffen. Ausgehend von den Schnittstellen wurde versucht, zu einem möglichen Erkenntnisgewinn für die Studie und die Beantwortung der Forschungsfrage zu gelangen. Die These, dass die Bilder den Otaku hervorgebracht haben, ist in der vorliegenden Verallgemeinerung nicht zu bejahen. Bilder haben den Otaku nicht hervorgebracht. Bilder, im Sinne von In-Erscheinung-Treten, wie etwa bei Grassi, oder traditionelle und technische Bilder, wie bei Vilém Flusser, sind kleine Bausteine, die aufzugreifen sind, denn ihr Ignorieren würde zu einer massiven Verknappung der Interpretation führen. Dies zeigt sich sehr deutlich in den Einschätzungen von Étienne Barral, Jean-Jacques Beineix oder auch von Eva und Georg Bense. Otakismus ist eben nicht über halluzinatorische 10 Beim Funktionieren einer Gruppe handelt es sich auch um das Funktionieren eines Diskurses. Michel Foucault beschreibt in seiner Antrittsvorlesung das ihn plagende Gefühl eines Diskurseintritts. Er benennt eine existierende, möglicherweise erschreckende Ordnung. Eine Ordnung, die das Sprechen zu reglementieren sucht. »Das Begehren sagt: »Ich selbst möchte nicht in jene gefährliche Ordnung des Diskurses eintreten müssen; ich möchte nichts zu tun haben mit dem, was es Einschneidendes und Entscheidendes in ihm gibt; ich möchte, dass er um mich herum eine ruhige, tiefe und unendlich offene Transparenz bilde, in der die anderen meinem Erwarten antworten und aus der die Wahrheiten eine nach der anderen hervorgehen; ich möchte nur in ihm und von ihm wie ein glückliches Findelkind getragen werden.« Und die Institution antwortet: »Du brauchst vor dem Anfangen keine Angst zu haben; wir alle sind da, um dir zu zeigen, dass der Diskurs in der Ordnung der Gesetze steht; dass man seit jeher über seinem Auftreten wacht; dass ihm ein Platz bereitet ist, der ihn ehrt, aber entwaffnet; und dass seine Macht, falls er welche hat, von uns und nur von uns stammt« (Foucault 1991: 10). Foucault setzt voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird. Dies geschieht durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.

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Wunscherfüllung erklärbar. Selbstverständlich schließt dies nicht aus, dass diese Sichtweise eine konstitutive Säule für das Phänomen sein mag, aber eben nur eine Säule von unterschiedlichen. Genauso wenig ist Otakismus über das Argument einer Fluchtbewegung in eine virtuelle Realität zu erklären, auch wenn hierbei der Phantasie die Funktion zukommt, Realität zu konstruieren. Die gewählten psychoanalytischen Konzepte, mittels derer ein Einblick in die Innenwelt der Otakus geleistet werden sollte, haben dazu geführt, das Außen zu dominant werden zu lassen. Der Zugang zur Interpretation des Otakismus über die Erklärung des Phänomens als eine Subkultur und als eine neue Lebensform ist für die vorliegende Studie ergiebiger, da hierbei die Stigmatisierung der Otakus als schizophren nicht mehr im Vordergrund steht. Dadurch wird die Pathologisierung des Medienkonsums vermieden. Die Konnotation des Begriffs Otaku ist gekoppelt an die Taten eines Kindermörders und daher verwundert es auch nicht, wenn die Interpretationen des Phänomens Otakismus eine sehr negative Färbung erfahren. In der Einleitung sind einige der Gesten des Otakismus dargestellt. Dabei tauchen beständig Rückgriffe auf Erkenntnisse der Psychoanalyse auf. Doch sind diese Rückgriffe ausreichend, um den Analysegegenstand zu erhellen? Nein, Medienphänomene einseitig zu psychologisieren, greift mit Sicherheit zu kurz. Durch die Beschreibung einiger Gesten des Otaku-Phänomens vor dem Hintergrund einer mehr oder weniger populär gestalteten Szeneanalyse wird deutlich, wie rasch Medienkonsum psychologisiert wird. Dieses Ver-Psychologisieren führt in der Regel zu einem spontanen Rückgriff auf Ursache-Wirkungsmodelle. Noch rascher taucht diese Reaktion dann auf, wenn der Mediengebrauch einen obsessiven Charakter hat. Doch wohin führt diese Form von Psychologisierung? Ergibt der Versuch einer Einordnung von Medienkonsum in ein existierendes psychologisches Schema, bei welchem es sich mehr oder weniger um ein Krankheitsbild handelt, überhaupt Sinn? Führt diese Form der Analyse, ich meine das vorschnelle Psychologisieren, nicht dazu, dass wir eine Art Massenepidemie heraufbeschwören? Eine Epidemie, die insofern erschreckt, als sie unweigerlich dazu führt, dass Menschen von einer Infektionsangst ergriffen werden, die erst recht einer psychologischen Betreuung bedarf? Anders formuliert: Müssen wir uns nicht von der Psychologie verabschieden, da sie wohl nur eins hervorruft: Massenhysterie. Es wurde gezeigt, dass Otakismus im wörtlichen Sinne an der Peripherie angesiedelt ist. Dort wurde das Phänomen aufgegriffen und versucht, die Verhältnisse zu Gunsten des Otakismus neu zu mischen.

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Die Phantasie gilt als die Voraussetzung allen künstlerischen Schaffens. Ohne die Phantasietätigkeit ist Otakismus, aus einer psychologisierenden Perspektive betrachtet, nicht vorstellbar. Die zentrale Erkenntnis des Kapitels um Phantasie zeigt, dass Phantasie eben nicht nur mit Einbildungskraft, Vorstellungsvermögen etc. zu erklären ist. Phantasie ist auch ein Modus, welcher den Menschen dabei unterstützt, Realität zu erzeugen. Neue Medienrealitäten sind eben auch Realitäten und dabei ist es hinderlich, von einer virtuellen Welt oder Fiktionswelt zu sprechen. Die Triebkräfte der Phantasie sind ihre Wunscherfüllung und die Phantasie stellt, zumindest der žižekschen Interpretation folgend, eine Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit dar. Otakismus vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit Phantasie zu diskutieren, hat gezeigt, dass Phantasie eben nicht gleich Phantasie ist und eine Interpretation zugunsten der halluzinatorischen Wunscherfüllung viel zu kurz greift und nicht zeitgemäß ist. Die Grenze der Auseinandersetzung mit Phantasie ist jedoch in dem Moment erreicht, wo man erkennt, dass die Phantasie selbst eine ursprüngliche Lüge ist, welche die fundamentale Unmöglichkeit eben maskiert. Wenn dies die bzw. eine der Rollen der Phantasie ist, worin liegt dann noch der Sinn sich mit ihr zu konfrontieren? Die Auseinandersetzung mit Phantasie zeigte, dass sie als Konzept vorgeschoben wird, um etwas einer Klärung zuzuführen. Es wird jedoch nicht ein Phänomen erklärt, sondern, und hierfür ist auch die vorliegende Studie ein Beispiel, die Theorie des Begehrens von Lacan legitimiert. Und genau davon gilt es sich zu befreien. Nicht von Lacan, Freud oder Žižek, nein, von der Instrumentalisierung eines Konzeptes. Durch die Beschreibung des Phänomens Otaku vor dem Hintergrund einer populär gestalteten Szenenanalyse (Barral, Beineix, Bense) wurde deutlich, wie rasch der individuelle Medienkonsum psychologisiert wird. Doch wohin führt diese Form von Psychologisierung? Ergibt der Versuch einer Einordnung von Medienkonsum in ein existierendes psychologisches Schema, bei welchem es sich schließlich um ein Krankheitsbild handelt, überhaupt Sinn? Wie gesagt, diese Form der Analyse führt zu einer Art Massenepidemie. Selbstverständlich muss sich in Studien zu Medienphänomen niemand von der Psychologie verabschieden. Dieser ist durchaus ihr berechtigter Platz einzuräumen. Medienphänomene ausschließlich über Konzepte der Psychologie zu erklären, ist jedoch wenig erhellend. Auf die Psychoanalyse wurde in dieser Studie nicht zurückgegriffen, um vorzuschlagen, Otakismus zu therapieren. Vielmehr liegt die Therapie in dem Anerkennen, dass die Technologien der Informationsgesellschaft neben dem Bereich Wissen und Bildung vor allem auch den Bereich Kultur verändert haben. Eine primäre Veränderung zeigt sich in

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den Alternativen zur Lebensgestaltung. Der mediatisierte Mensch involviert selbstredend Medien in seine Alltagsbewältigung. Wenn von der Otaku-Generation die Rede ist, so ist der Betrachter (wahrscheinlich) mit einem ihm nicht alltäglichen Medienkonsum konfrontiert. Gerade die Interpretationen vor dem Hintergrund der Szenenanalyse zeigen jedoch sehr deutlich die Sackgasse auf, in die man gerät, wenn antiquierten Werten blinde Aktualität eingehaucht wird. Wie kommt die Otaku-Generation dazu, sich in Zeiten, in denen sich der Neoliberalismus ungehindert ausbreitet, vorschreiben zu lassen, was für sie gut und schlecht ist. Die Protagonisten der Otaku-Subkultur nutzen die Virtualität, um dadurch einen Raum zu erschließen, innerhalb dessen sie eine neue Realität entwerfen können und innerhalb dessen sie sich bewegen können. Natürlich tauchen dabei auch Probleme auf. So wird die Existenz des Cyberspace unter anderem auch dafür herangezogen, um über seine Existenz die absolute Freiheit des Menschen zu propagieren; ein durchaus hehrer Wunsch, denn einher mit diesem Argument geht eine Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und somit auch eine Privatisierung dieser Bereiche, welche die Betroffenen mit neuen Grenzen konfrontiert (vgl. Groys 2003; Rötzer 1997). Aber ist die Existenz dieser Grenze eine Bedrohung? Sie ist beides. Bedrohung ist sie, da durch die Kommerzialisierung eine Homogenisierung eintritt und dies einen Verlust an Individualität mit sich bringt bzw. mitbringen kann. Befreiung ist sie, da das Wissen um die Existenz dieser Grenze auch die Möglichkeit eröffnet, diese innerhalb einer dialogischen Struktur zu überwinden. Und, idealtypisch betrachtet, hat die Existenz des Cyberspace genau diese Möglichkeit eben auch geschaffen. Daher sind technik- und kulturskeptizistische Zwischenrufe durchaus problematisch, da sie letztlich einen Gedanken verfolgen: Zurück zur Schriftkultur. Dabei vergisst man allzu leichtfertig, dass diese Kultur in dieser Form nicht mehr zeitgemäß ist. Aktuelle mediale Bedingungen werden zum Beispiel in diesen Forderungen nicht berücksichtigt. Hierin liegt sicher auch das Potenzial einer zukünftigen mediologischen Analyse11 des Otakismus. Die Otaku-Generation strebt nach Individualität und zwar im Besonderen nach einem individuellen Lebensstil, der sich von den traditionellen Zwängen löst. Dabei übersehen Otakus vielfach, dass sie dennoch von einem großen Anderen dominiert werden und weiterhin innerhalb einer symbolischen Ordnung gefangen bleiben. Die Individualität der Otaku-Generation ist oft nicht gegeben, da es eine Individualität darstellt, die der große Andere verantwortet. Denn Otakus handeln nicht. Sie leben durch die Erfahrung anderer. Dem Menschen auf der einen Seite steht die 11 Ich weise eindringlich darauf hin, dass ich diese Studie nicht als eine mediologische Analyse betrachte. In keiner Weise.

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Gesellschaft auf der anderen gegenüber. Und diese beiden Poole können auf unterschiedliche Weise miteinander in Beziehung treten. Der Mensch greift also auf artifizielle technologische Einrichtungen zurück, um zwischen sich selbst und seiner natürlichen Umgebung einen virtuellen Raum, sprich eine zweite Natur, herzustellen. Eine zweite Natur, die auch bei Leroi-Gourhan (1988) zu finden ist und auf welche die Entwicklungen der Neuen Medien ebenso Einfluss nahmen. Die Medien, die neuen wie die alten, sie arbeiten mit an der Bildung der zweiten Natur des Menschen (vgl. Kamper 1995a: 87) und die kulturellen Ausdruckformen sind dabei nicht statisch. Auch für räumlich-zeitlich von einander entfernte Menschen ist es kein Problem mehr, existentiell zusammen zu rücken, um sich gegenseitig zu realisieren. Ein einfaches Mittel, auf welches hierbei oftmals zurückgegriffen wird, sind die Rollenspiele. Interpretationen zur Otaku-Generation basieren all zu oft auf vorgeschichtlichen Argumenten. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Otaku-Subkultur im Bereich der Nachgeschichte verortet ist und auch vor diesem Hintergrund eine Analyse anzusetzen hat. Nicht um den Verfall einer Gesellschaft geht es, sondern um das Emportauchen einer neuen Gesellschaft. Die Protagonisten dieser neuen Gesellschaft haben (zum Teil) auf die veränderten Bedingungen innerhalb einer Kultur reagiert und viele dieser Aspekte involviert. Wenn ein Mensch in der kodifizierten Welt Freiheit erlangen will, so ist diese Freiheit, wie Flusser (vgl. 2000d: 63) zeigte, an seine Fähigkeit des Kalkulierens und der Komputation gebunden: Freiheit ist dann so zu handeln, damit die Welt wird, wie sie für eine Person sein soll. Obwohl es den Anschein haben mag, dass die Otaku-Kultur ein Stück Freiheit bereits erlangt habe, kann dem nur bedingt zugestimmt werden. Der Otaku tritt zwar nicht eine Flucht an, aber er wurde eben doch dazu programmiert, Otaku zu sein bzw. zu werden. Der Otakismus ignoriert das dialogische Funktionieren, um sich weiterhin in einer diskursiven Gesellschaftsstruktur gefangen zu halten. Bezeichnenderweise merkt Flusser an, dass, wenn die Leute erkennen würden, was die telematischen Vorrichtungen alles leisten können, sie zu gewaltigen Instrumenten gegen die diskursive Gesellschaftsstruktur werden würden. Diese Ausführungen unterstreichen, dass die positive Utopie nach wie vor Utopie geblieben ist. Bereits Marshall McLuhan12 wies auf das Prinzip der Betäubung in der Technik der Elektrizität hin. Wird das Zentralnervensystem des Menschen erweitert oder exponiert, dann muss es betäubt werden. Anderenfalls geht der Mensch dabei zugrunde. McLuhans Konklusion 12 Marshall McLuhan, der von Manuel Castells als der große Visionär der 1960erJahre bezeichnet wird, der trotz seiner hemmungslosen Übertreibungen das Denken über Kommunikation revolutioniert und viele Tendenzen vorhergesehen habe (vgl. Castells 2001: 377).

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lautete, dass das Zeitalter der Angst und der elektrischen Medien auch das Zeitalter des Unbewussten und der Apathie sei. Doch es handelt sich auch um das Zeitalter, in welchem sich die Menschen des Unbewussten tatsächlich bewusst werden. Mit dem systematisch betäubten Zentralnervensystem werde die Aufgabe des bewussten Erfassens und Ordnens auf das physische Leben der Menschen übertragen, so, dass der Mensch zum ersten Mal die Technik als eine Ausweitung seines natürlichen Körpers bewusst erlebe (vgl. McLuhan 1992: 64). Gerade Vilém Flusser und auch Marshall McLuhan erkannten die Möglichkeiten der Medientheorie sowie jener der Kulturtheorie und integrierten diese in ihre Reflexionen. In Abschnitt II werden einige der psychologisierenden Elemente aufgegriffen. Den Gegenstand von seinen psychoanalytischen Krusten zu befreien, ist – wenn auch der zentrale – nicht der einzige Aspekt in diesem Abschnitt. Es zeigt sich, dass die Interpretation des OtakismusPhänomens vor einem psychoanalytischen Hintergrund nicht ausreicht, es bedarf zusätzlicher Präzisierungen, um eine Kritik des Otakismus formulieren und begründen zu können. Medien nehmen eine – um nicht zu sagen die – zentrale Rolle bei der Konstituierung des Otakismus ein. Insofern ist dieser zwar nicht ausschließlich, aber eben doch medientheoretisch zu reflektieren. Die These, dass in der gegenwärtigen und zukünftigen Forschung eine Medien- und Kulturanthropologie re-definiert und aufgewertet werden muss, ist nicht neu, scheint aber in vielen Bereichen verkannt zu sein. In diesem Abschnitt wird gezeigt, dass die psychoanalytische Medientheorie unzählige Anknüpfungspunkte für eine medientheoretische Betrachtung von Medien/Kultur/Phänomenen liefert. An manchen Stellen vieler psychoanalytischer Schriften rücken medientheoretische Problematiken ins Zentrum. Konkret taucht die Auseinandersetzung mit dem Bild auf. Dennoch: Ein Ende der Affirmation für die Interpretation von jeglichen Medien-Phänomenen mittels psychoanalytischer Muster ist erforderlich. Das Denken der Neuzeit ist dadurch charakterisiert, dass die Humanwelt in jedem Jahrhundert, jedem Jahrzehnt, jedem Jahr und jedem Tag lernen musste, immer neue Wahrheiten über »ein nicht auf den Menschen bezügliches Außen hinzunehmen und zu integrieren« (Sloterdijk 2000: 21). Es wurde gezeigt, dass, wenn es um eine Einsicht in die Innenwelt geht, die äußere Betrachtung an sich bereits ein Fehler ist (vgl. ebd.: 327). Der Psychoanalytiker ist zu sehr damit beschäftigt, das Knäuel seiner Interpretationen zu entwirren. »Durch die Fatalität seiner Methode intellektualisiert der Psychoanalytiker das Bild. Er begreift das Bild tiefer als der Psychologe« (Bachelard 1999: 14). Die Fatalität der Methode meint konkret, dass der Versuch, durch ein minutiöses Beschreiben die Zufluchtswerte

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des Menschen aufzuspüren, nicht gelingen kann. Diese Zufluchtswerte seien so tief im Unbewussten verwurzelt, dass noch eher ein einfacher Ausruf sie findet als die nicht endende Beschreibung. Nachdem das Bild in Abschnitt II eingekreist wurde, ist das Bild im Abschnitt III endgültig das Thema und mit dem Bild tauchte in dieser Studie ein Name auf: Vilém Flusser, Philosoph und Medientheoretiker. Ausgehend von Flussers Texten zum Bild wurde versucht, wichtige Elemente seines theoretischen Konzeptes aufzuzeigen und vor dem Hintergrund des Otakismus zu debattieren. Otakismus lehrt einiges zu Flusser und vice versa. Flussers Texte selbst sind nicht nur thematisch hilfreich, sondern öffnen die Debatte hin zu weiteren, für die Analyse wichtigen Fragen. Doch der eigentliche Beweggrund, sich nahe an den flusserschen Texten zu bewegen, ist, dass Vilém Flusser die Medieninhalte (hier ist durchaus eine Verbindung zu McLuhan vorhanden) nicht in den Vordergrund rückte. Er lieferte einen wichtigen Beitrag zu einem Verständnis zur telematischen Gesellschaft und des telematischen Menschen. Leroi-Gourhan, gelegentlich McLuhan, Frank Hartmann, Régis Debray, Gaston Bachelard und Peter Sloterdijk bilden wichtige Ergänzungen und unter Rückgriff auf ihre Schriften wurden wichtige theoretische Bausteine in die Studie aufgenommen. In Abschnitt IV, dem Schlusskapitel dieser Untersuchung, wird gezeigt, dass verschiedene Revitalisierungen und Ergänzungen erforderlich sind. Etwa der Debatte um den Raum. So wird etwa gezeigt, dass Augés Forderung des Verlassens der traditionellen Ethnologie relevant ist. Um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht die Ethnologie ist zu verlassen, denn diese bietet ein sehr großes Anregungspotenzial.13 Der Raum ist in der gegenwärtigen Auseinandersetzung nicht zu ignorieren. Ein Verdienst der existenzialistischen Moderne war es, zu zeigen, dass es für Menschen weniger wichtig war zu wissen, wer sie denn sind, als vielmehr, wo sie denn sind. Versiegelt die Banalität die Intelligenz, interessieren sich Menschen auch nicht für ihren Ort. Er scheint gegeben. Stattdessen fixieren sie ihre Vorstellungen an Irrlichtern: Irrlichter, die den Menschen als Namen, Identitäten und Geschäfte vorschweben würden (vgl. Sloterdijk 2000: 27). Nun, mittlerweile interessiert der Ort (wieder). Oder anders gesagt: Er ist nicht außer Acht zu lassen. Ort, 13 »Da sich die Ethnologen – zumindest am Beginn ihrer Feldforschung – einem Gegenstands- und Forschungsbereich gegenübersehen, der sich durch eine konstitutive Fremd- und Andersartigkeit auszeichnet, sind sie von vornherein dazu gezwungen, ihrer – möglicherweise als krisenhaft erlebten – Erfahrung oder Irritation, der Be- und Entfremdung als notwendige Durchgangsstufe des ethnographischen Forschungsprozesses anzuerkennen« (Wichens 1997, 117).

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Raum, Zeit14 – wichtige Begriffe, die im Zusammenhang mit Otakismus nach ihrer theoretischen Position innerhalb der Debatte verlangen. Abschließend ist festgehalten, dass das vorliegende Projekt anhand der Otaku-Generation zu zeigen versuchte, dass gegenwärtige Forschung zu Medien-Phänomenen nicht auf Medientheorie verzichten kann – sie mündet dann in einer neuen Kulturanthropologie. Frank Hartmann ist zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass sich Geistes- und Kulturwissenschaften vermehrt mit kommunikationstheoretischen Fragen auseinandersetzen müssen. Ein neuer Meta-Diskurs zur »neuen Mediensituation und zu den Bedingungen der Möglichkeit einer Informationsoder Wissensgesellschaft« (Hartmann 2000: 18) ist gefragt.

Fazit Das Phänomen des Otakismus ins Zentrum dieser Studie zu stellen, war ursprünglich mit der Idee verbunden, die subtilen Mechanismen, die den Otakismus entstehen haben lassen, aufzuzeigen und die »psychologische Struktur«, die möglicherweise hinter dem Otakismus steckt, wenn schon nicht zu entwirren, dann doch mittels Konzepten der Psychoanalyse zu erhellen. Bei Fortschreiten der Untersuchung wandelte sich jedoch meine Sichtweise und meine Erkenntnis über das Phänomen des Otakismus ganz entschieden: Am Beginn der Recherche präsentierte sich der Forschungsgegenstand als eine schizophrene Gruppe von obsessiven Mediennutzern. Der obsessive Medienkonsum wurde dabei ausschließlich negativ interpretiert; allein der Terminus schizophren deutet ja schon auf die Pathologisierung des Phänomens hin. Ein affirmatives Aufgreifen dieser Argumente führte eingangs zu einem »Ver-Psychologisieren« dieses Medienphänomens. Den Otakismus als Medienphänomen zu betrachten, bildet eine Sichtweise, die sich bis zum Ende hält, die jedoch ergänzt wird. Otakismus hat sich im Besonderen auch als eine Subkultur mit eigenständiger, individueller Lebensform präsentiert, die eben Medien im Zentrum ihres Alltags positioniert. Warum sind Otakus eine Gruppe von Menschen mit schizophrenen Tendenzen? In der negativen Sichtweise leben Otakus in einer Parallelwelt. Dieses virtuelle Universum konstruieren sie selbst und beschreiten eine Art Flucht dorthin. Verlassen wird dieses Universum nur, um die Grundbedürfnisse eines Menschen, Essen und Schlafen, zu erfüllen. Natürlich bedarf es einer Tätigkeit, um sich das Otaku-Dasein auch leisten zu können. 14 Vgl. Castells (2001), Kap. 6 und 7.

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Daher betätigen sich Otakus in Gelegenheitsjobs oder arbeiten in einem Bereich, der in enger Verbindung zu ihrer Medienleidenschaft steht. Konkret kann dies etwa das Pre-Testen von Computerspielen, das Zeichnen von Comics oder das Verfassen von redaktionellen Beiträgen im Bereich ihrer Medienleidenschaft sein. Warum ist Otakismus ein Medienphänomen? Otakismus ist ein Medienphänomen im doppelten Sinne. Otakus sind Menschen, die ihr Leben um Medien bzw. ein konkretes Medium herum organisieren und dabei durchaus obsessiv vorgehen. Wenn nun argumentiert wird, dass Otakismus ein Medienphänomen im doppelten Sinne sei, so deshalb, da einerseits die Medien eine wichtige Rolle in deren Leben spielen und andererseits den Medien eine zentrale konstituierende Rolle in ihrer Interpretation zukommt. Erinnert sei daran, dass der Begriff zuerst in der Literatur auftauchte, dort aufgegriffen wurde, um schließlich eine Person zu bezeichnen, die in Japan durch einen vierfachen Kindermord für Aufsehen sorgte. Die negative Konnotation basiert also primär auf den Medienberichten, die Otakus mit einem Serienmörder in Verbindung brachten. Otakuesker Medienkonsum wurde dermaßen stigmatisiert, dass niemand es mehr wagte, sich selbst als Otaku zu bezeichnen. Warum ist Otakismus eine Subkultur bzw. eine eigenständige, individuelle Lebensform? In einem sehr stark in seinen Traditionen verhafteten Land wie Japan tauchen plötzlich Menschen auf, welche die traditionellen Werte massiv in Frage stellen und diese nicht mehr als die ihren betrachten. Diese Gruppe bildet eine eigenständige kleine Kultur, eine Art Interessengemeinschaft, in denen Medien eine konstituierende Rolle zukommt. Die Medien ermöglichen es, den Raum zu bilden, innerhalb dessen das Leben stattfinden kann. Plötzlich hebt sich die Dichotomie real versus nicht real auf und eine Medienrealität wird als Realität anerkannt. Wo ist der Unterschied zwischen der Realität der reellen Welt und der Realität der virtuellen Realität? Diese Menschen bilden sich ihre eigene Umwelt, avancieren selbst zu Umweltingenieuren. Sie sind keine schizophrenen Monster, die zu Hause hocken und sich verbrecherische Taten ausdenken. Es sind Menschen die Medien heranziehen, um ein Strukturierungsinstrumentarium in der Hand zu halten, auf welches sie sich verlassen können. Die Existenz von Medien führte unumgänglich zur Implementierung in den individuellen Alltag und gestattet, eine individuelle Lebensform auszuwählen.

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Wie steht Phantasie mit Otakimus in Verbindung? Phantasie bildet ein Band, welches die drei Sichtweisen auf Otakismus verbindet. Die Konstruktion eines virtuellen Universums bedarf der Phantasie, um dort seine Wünsche zu explizieren. Das Leben in einem virtuellen Universum bedarf der Phantasie, um dieses Universum reell werden zu lassen. Halluzinatorische Wunscherfüllung (Freud) und Konstruktion von Realität (Žižek) beginnen sich zu ergänzen. Otakismus basiert wohl auf beiden Elementen, aber elementar ist eben die Akzeptanz der Medienrealität als Realität, die nicht mehr oder weniger wertvoll ist als die traditionelle Realität. Warum wurde das Bild in der Studie zentral positioniert? Das Bild bildete den Anknüpfungspunkt zur Erhellung der Phantasie und auch zur Erhellung der telematischen Gesellschaft. Es diente als Knotenpunkt, in dem die Fäden zusammenlaufen, ohne dort ein statisches Dasein zu fristen. Das Bild tauchte als traditionelles und als technisches Bild auf. Seine Thematisierung zeigte, dass der Mensch in seinem Mediengebrauch auf veränderte Bedingungen stößt, ja, sogar neue Fähigkeiten wie die Technoimagination werden eingefordert, um in der Welt nicht lediglich in Funktion seiner Apparate bzw. Medien zu leben. Mit dem Bild wurde vor allem auch ein gemeinsames Element von Psychologie und Medientheorie benannt, dessen Thematisierung zeigte, dass ein diktatorisches Festhalten an diesen Theorien kontraproduktiv ist, da diese Studien in einer totalisierenden Sackgasse münden, aus der herauszukommen nur mehr schwer gelingt. Die Verstricktheit in der psychoanalytischen Argumentation um die Theorie des Begehrens, die in dieser Studie aufgezeigt wird, ist ein Indiz hierfür. Was sind die Lehren um den Diskurs des Otaku? Mittlerweile sollte deutlich geworden sein, dass das durch die Stigmatisierung des Otakismus entstandene Bild in Einzelfällen sicher zutreffend ist. Der daraus hervorgehenden pauschalen Einschätzung des Phänomens ist jedoch nicht zuzustimmen. Otakismus ist eine Subkultur, die auf dem Weg ist, sich ihren Platz innerhalb einer jeden mediatisierten Kultur zu sichern und dabei wohl das Präfix sub ablegt. Die Mediatisierung des Menschen und der Gesellschaft lassen sich nicht aufhalten. Der Mensch manifestiert sich eben auch in seinen individuellen Medien und in seinem individuellen Mediengebrauch. Das heißt aber auch, dass das Neue der zeitgenössischen Gesellschaft nicht mit alten Maßstäben zu messen ist. Der Medientheorie ist innerhalb der Kultur- und Geisteswissenschaft eine adäquate Position zuzuweisen und ihre traditionellen Konzepte sind in dem Kontext anzuwenden, in dem sie entwickelt worden

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DEN RAUM DENKEN – INFORMATION ALS LEBENSFORM

sind. Gegenwärtig existieren Parameter, die viele der antiquierten Konzepte schlichtweg nicht kennen (weil sie diese gar nicht kennen konnten). Wenn ich nun von Faszination für den Otakismus spreche, so gilt dies nicht für den dort anzutreffenden Medienumgang und nicht für den Voyeurismus einzelner Otakus, sondern die Faszination besteht lediglich vor dem Hintergrund, dass diese Menschen ihre Medien in den Alltag etwas tiefer verankert haben als man dies gegenwärtig akzeptieren kann. Faszination entstand auch, da die Pathologisierung nicht haltbar war, eine Therapie für Otakus wohl den Rahmen des Möglichen sprengen würde. Eben, weil Otakismus nicht (nur) negativ konnotiert ist, konnte Faszination entstehen. Die Faszination, von der ich spreche, lag darin, den Gegenstand von seinen Krusten zu befreien und die Dynamik zu beobachten, die innerhalb dieser Studie entstand. Wahrscheinlich wird der Otaku verschwinden – dann, wenn wir erkennen, dass dieser in uns steckt.

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Die Neuerscheinungen dieser Reihe:

F. T. Meyer Filme über sich selbst Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film

Stephan Trinkaus Blank Spaces Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur

August 2005, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-359-3

Juni 2005, 350 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-343-7

Georg Mein, Franziska Schößler (Hg.) Tauschprozesse Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen

Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.) Was ist der Mensch, was Geschichte? Annäherungen an eine kulturwissenschaftliche Anthropologie

Juli 2005, 306 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-283-X

Michael Manfé Otakismus Mediale Subkultur und neue Lebensform – eine Spurensuche Juli 2005, 238 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-313-5

Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.) HyperKult II Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien Juni 2005, 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-274-0

Mai 2005, 380 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-266-X

Christa Brüstle, Nadia Ghattas, Clemens Risi, Sabine Schouten (Hg.) Aus dem Takt Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur September 2005, ca. 330 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-292-9

Holger Schulze Heuristik Theorie der intentionalen Werkgenese. Sechs Theorie Erzählungen zwischen Popkultur, Privatwirtschaft und dem, was einmal Kunst genannt wurde Mai 2005, 208 Seiten, kart., ca. 10 Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-326-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Uta Atzpodien Szenisches Verhandeln Brasilianisches Theater der Gegenwart Mai 2005, 382 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-338-0

Kay Sulk »Not grace, then, but at least the body« J.M. Coetzees Schriften 1990-1999 Mai 2005, 204 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-344-5

Kai Lehmann, Michael Schetsche (Hg.) Die Google-Gesellschaft Vom digitalen Wandel des Wissens Mai 2005, 410 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-305-4

Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards Mai 2005, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-342-9

Karl-Josef Pazzini, Susanne Gottlob (Hg.) Einführungen in die Psychoanalyse I Einfühlen, Unbewußtes, Symptom, Hysterie, Sexualität, Übertragung, Perversion April 2005, 160 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 3-89942-348-8

Eckhardt Köhn Erfahrung des Machens Zur Frühgeschichte der modernen Poetik von Lessing bis Poe März 2005, 296 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-299-6

Andrea Allerkamp Anruf, Adresse, Appell Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur März 2005, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-331-3

Kulturwissenschaftliches Institut (Hg.) Jahrbuch 2004 März 2005, 288 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 3-89942-303-8

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Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Wahn – Wissen – Institution Undisziplinierbare Näherungen (unter Mitarbeit von Jeannie Moser) Februar 2005, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-284-8

Birgit Bräuchler Cyberidentities at War Der Molukkenkonflikt im Internet Januar 2005, 402 Seiten, kart., 28,90 €, ISBN: 3-89942-287-2

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