Oskar Pfisters analytische Seelsorge: Theorie und Praxis des ersten Pastoralpsychologen, dargestellt an zwei Fallstudien [Reprint 2020 ed.] 9783110883442, 9783110132359

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Oskar Pfisters analytische Seelsorge: Theorie und Praxis des ersten Pastoralpsychologen, dargestellt an zwei Fallstudien [Reprint 2020 ed.]
 9783110883442, 9783110132359

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Eckart Nase Oskar Pfisters analytische Seelsorge

w DE

G

Arbeiten zur Praktischen Theologie Herausgegeben von Karl-Heinrich Bieritz und Christian Grethlein

Band 3

Walter de Gruyter • Berlin • New York

1993

Eckart Nase

Oskar Pfisters analytische Seelsorge Theorie und Praxis des ersten Pastoralpsychologen, dargestellt an zwei Fallstudien

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1993

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Nase, Eckart: Oskar Pfisters analytische Seelsorge : Theorie und Praxis des ersten Pastoralpsychologen, dargestellt an zwei Fallstudien / Eckart Nase. — Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1993 (Arbeiten zur praktischen Theologie ; Bd. 3) Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-11-013235-4 NE: G T

© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz und Bauer, Berlin

Vorbemerkungen "... Ein merkwürdiger Mann, der mich eines Tages besuchte, ein wahrer Diener Gottes, dessen Begriff und Existenz mir recht unwahrscheinlich waren". (Freud 1909)1

I Oskar Pfister lebte von 1873 bis 1956, fest gegründet im 19. Jahrhundert und doch nicht dort abzustellen. Denn wer 1908 zu Sigmund Freud und der noch jungen Psychoanalyse stoßen konnte, der gehört nicht ins 19. Jahrhundert und schon gar nicht, wenn er evangelischer Theologe und Gemeindepfarrer in Zürich war und blieb. Der Briefwechsel mit Freud, 1963 veröffentlicht, hielt wenigstens seinen Namen halbwegs wach, wenn auch nur als Briefempfänger. Ansonsten wurde Pfister mitsamt seinem Lebenswerk bis in die 60er Jahre hinein fast lückenlos verdrängt. Dabei war er ein Pionier der psychoanalytischen Bewegung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Und er war der erste Pastoralpsychologe. Er hat die analytische Seelsorge erfunden, und "wäre dieser Versuch, die seelsorgerliche Praxis zu verbessern, nicht zu schnell in Vergessenheit geraten, sondern kritisch erörtert und ausführlich diskutiert worden, so hätte sich die deutschsprachige evangelische Seelsorge manche Umwege ersparen können".2 Inzwischen hatte die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie ihr 20jähriges Jubiläum (1992). Die Geschichte der Pfister-Rezeption, wenn es sich um mehr als nur symptomatische Vergessenheit handelt, ist eine Geschichte der Mißverständnisse und Unterstellungen, der vorschnellen Etikettierungen und verlegenen Anmerkungen, kurz eine Geschichte kollektiver Verdrängung. Noch 1965 schreibt ein Theologe (und Pastoralpsychologe!), Pfister habe schließlich den kirchlichen Dienst aufgegeben und sich ganz der Psychotherapie gewidmet. Diese glatte Falschinformation wird in den folgenden Jahren noch mindestens zweimal unbesehen abgeschrieben, das erste Mal 1970 sogar in einem

1

An Pfister, Briefwechsel 20 f.

2

Wintzer 1978, XXVIII. Vgl. auch Stollberg 1978, 60 f.

VIII

Vorbemerkungen

Standardwerk zur christlichen Seelsorge.3 Auch darum wird im vorliegenden Buch viel zitiert. Das Pfistersche Original soll möglichst plastisch erscheinen. Das Verschreiben ist eine klassische Fehlleistung, also Indiz eines vorbewußten oder unbewußten Konflikts bzw. einer entsprechenden affektiven Abwehr. In der einschlägigen Literatur ist Oskar Pfisters Name signifikant häufig falsch geschrieben, hartnäckig durch Jahrzehnte hindurch, bei Freund und Feind, bei Theologen und Psychoanalytikern. Relativ harmlos ist noch "Oscar", ernster schon ein anderer Vorname, zur Auswahl Otto, Oswald, Emst und Hermann.4 Das Hauptärgernis war und blieb, daß dieser Mann einfach nicht einzuordnen war in die gängigen Schemata, Schulen und Entwicklungslinien. Irgendwie stand er immer quer und dazwischen. Pathologisierung und Ethisierung des Christentums!, so riefen die Theologen, Verharmlosung und theologische Vereinnahmung der Psychoanalyse!, so die Psychoanalytiker. Nur bei den Pädagogen hatte er im zweiten und dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts einen gewissen begrenzten Erfolg. Erst seit zwei Jahrzehnten, beginnend mit dem Züricher Symposium zu Pfisters 100. Geburtstag im Februar 1973, sind einige Aufsätze und Artikel erschienen, die Einzelthemen seines Lebenswerks aufzugreifen und ihm auch ein Stück weit gerecht werden.5 Es ist aber wenig Zusammenhängendes daraus geworden. Ironischerweise hat der Zeitpunkt der vorliegenden Veröffentlichung wiederum etwas Unzeitgemäßes. Denn heute, im Zeichen des Wassermanns und einer umfassenden Remythisierung gegen Ende des Jahrhunderts und

3 Harsch 1965, 180 f.; Wulf 1970,127; Arnd Hollweg in: Die innere Mission 1972, H. 9/10, 408. 4 Oscar: Durchgängig in Freud: Briefe (nicht Freud selbst!); Scharfenberg 1959, 14, 120; P. Winkler 1973; Wintzer 1978, XXVII; Hans Küng: Freud und die Zukunft der Religion, München 1987, 5. Otto: Jb. d. Psychoanalyse VI, Bem 1969, Register. Oswald: J. Koepcke: Lou Andreas-Salomé, Frankfurt 1987, Register. Ernst: Walter Hoch: Evangelische Seelsorge, Berlin 1937, 163. Hermann: Heije Faber: Klinische Semester für Theologen, Bem 1965, 88. C. Pfister: Erich Karl Knabe: Psychiatrie und Seelsorge, Schwerin 1929, 43. 3

Themaheft "Oskar Pfister, Pfarrer und Analytiker", Wege zum Menschen 23, 1973, H. 11/12. Ferner z.B. Bonhoeffer 1974, Nase 1979, Brown 1981, Metelmann 1985. Erst nach Fertigstellung der Druckvorlage entdeckte ich einen Hinweis auf den Aufsatz von Pier Cesare Bori: Oskar Pfister, "pasteur ä Zürich" et analyste laique. Revue internat. hist. psychanal. 3, 1990, 129-143.

Vorbemerkungen

IX

Jahrtausends, will man von Sigmund Freud so gar viel nicht mehr wissen. Wenn schon postmoderne Tiefenpsychologie, dann lieber C.G. Jung und das, was die sog. Humanistische Psychologie an vereinzelten Konzepten aus der Tiefenpsychologie herausgegriffen und auf den Markt der Möglichkeiten gebracht hat. Kritisch-emanzipatorisches Pathos, das Freud und Pfister immerhin verbindet, will nicht so recht in die erlebnisorientierte neue Unverbindlichkeit und kaum larvierte fin de siöcle-Stimmung unserer Jahre passen. Da erscheint die Gegenmelodie um so interessanter und notwendiger, zumal in den so unterschiedlichen Tonarten Pfisters und Freuds.

II Meine Geschichte mit Oskar Pfister begann mit dem Freud-Briefwechsel, wie denn die Beziehung zwischen Freud und Pfister ein durchgängiges Interpretament in dieser Arbeit ist. An vielen Stellen wird ihr Dialog aufgenommen und gleichsam ein Stück fortgeführt. Das Buch fiel mir Ende der 60er Jahre in einer Tübinger Buchhandlung in die Hände. Es war die hohe Zeit der Studentenbewegung und der APO. Wir Theologiestudenten wußten von Thomas Müntzer ebenso viel wie von Martin Luther und arbeiteten uns mit heißem Herzen durch die psychologische Religionskritik und die soziologische Kirchenkritik hindurch. Da war es schon faszinierend, neben Marx und Freud, W. Reich und H. Marcuse diesen Mann zu lesen, der Freuds religionskritische Schrift Die Zukunft einer Illusion (1927) mit seiner Illusion einer Zukunft konterkarierte (1928).

Das Feuer der Religionskritik, so behauptete er, vernichtet nur die infantile, neurotische Religion und das mit Recht. Jede reife, erwachsene Frömmigkeit muß da hindurch. Am Ende steht sie geläutert und gefestigt da, denn der Kern des christlichen Glaubens, die Liebe Gottes in Jesus Christus, ist unzerstörbar. Freilich, als gelebter Glaube braucht auch er immer wieder kritische Läuterung, also auch psychoanalytische Kritik. Sollten also (christliche) Liebe und (psychoanalytische) Libido doch nicht zwei antagonistischen Welten angehören? Diese Frage forderte mich heraus. Die Beschäftigung mit Oskar Pfister blieb über längere Zeit eng mit meinem persönlichen und beruflichen Werdegang verknüpft. Wer war dieser merk-würdige Mann? Der Zugang zu ihm und seinem Lebenswerk erwies sich, entgegen dem ersten Anschein, als durchaus schwierig. Entweder

X

Vorbemerkungen

erschien alles zu schlicht und einfach, um wahr sein zu können, oder aber die Sache wurde verwirrend vielschichtig. Auf hilfreiche Sekundärliteratur konnte ich nur sehr vereinzelt zurückgreifen. Zudem fehlte das biographisch-bibliographische Unterfutter. Dies sollte eigentlich eine Tübinger medizingeschichtliche Dissertation liefern. Dagmar Scheible, die damalige Doktorandin, veröffentlichte 1973 immerhin den Grundstock der Pfisterschen Bibliographie, brach dann aber ab. So blieb ich auch hier auf eigene Nachforschungen angewiesen. Ihre Ergebnisse sind an verschiedenen Stellen und auf verschiedene Weise in diese Arbeit mit eingeflossen. In den 70er Jahren konnte ich in Zürich einen Einblick nehmen in Oskar Pfisters Lebens- und Arbeitsumwelt, sein weitverzweigtes literarisches Werk und seinen Nachlaß. An diese eindrücklichen Tage und Stunden bei seiner Witwe Martha Pfister-Urner (t 1989) sowie in der Zentralbibliothek Zürich und in der Bibliothek der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse denke ich noch heute mit großer Dankbarkeit zurück. Was ich damals aber zum Verständnis Pfisters erarbeitete, waren im Ergebnis doch nur Vorarbeiten, manches auch Neben- oder Irrwege. Daß ich nicht aufgab, wie so manche Pfister-Arbeiter und -Arbeiterinnen in diesen Jahren, war vor allem zwei Faktoren zu verdanken: a) Ich eignete mir die Narzißmustheorie der neueren Psychoanalyse an. Sie erwies sich als unentbehrliche Verstehenshilfe. Freilich trug sie auch dazu bei, die psychoanalytisch-theoretische Seite dieser Arbeit zu komplizieren. b) Ich konzentrierte mich auf zwei größere Fallgeschichten aus Pfisters Veröffentlichungen. 6 D.h. ich suchte zu verstehen, was er gemacht hatte und wie er es gemacht hatte, und dann und dazu erst, wie er es selbst verstand. Nur so war mir der Zugang möglich. Wenn ich Pfisters Berichte darstelle und interpretiere, bin ich in der Rolle eines Supervisors. Doch statt eines lebendigen Gegenübers habe ich lediglich diese Veröffentlichungen

6

Insgesamt lassen sich in der Pfisterschen Literatur etwa 250 Klienten unterscheiden. Rund 15 Fallberichte sind breit dargestellt. Die Begründung für die Auswahl von "Dietrich", einem 19jährigen Mann (1909), und "Frau A.", einer 50jährigen Frau (1918), findet sich jeweils am Beginn meiner Darstellung.

Vorbemerkungen

XI

von vor 75 bzw. 85 Jahren. Der Zeitabstand und die fehlende Wechselseitigkeit können natürlich nur teilweise kompensiert werden. Das geschieht durch historische, biographische und psychoanalytisch-theoretische Bezüge. Dieser Supervisionsstil, unerläßlich für tiefenpsychologisch orientierte Arbeit, bringt methodische und auch stilistische Probleme mit sich, nicht allein, aber am deutlichsten im Mittelteil über die Praxis der analytischen Seelsorge. Da wird manchmal scheinbar unvermittelt zwischen den verschiedenen Ebenen der Darstellung hin und her gesprungen. Da wird manches ein zweites Mal herangezogen, um es in einem anderen Fokus neu zu beleuchten. Da wird manchmal einfach weiter-assoziiert, um dann über bloße Verknüpfungen hinaus tieferes Verstehen zu befördern. Da ist nicht immer sofort klar, wer gerade spricht, der Klient, der Berater oder der Interpret, der ihre gemeinsame Arbeit von heute her zu verstehen sucht: Pfisters Klientin Frau A. (Kap. 9 f.) hat einen Traum. Sie erzählt ihn in der Beratungsstunde. Pfister sammelt ihre Einfälle dazu, dann deutet er den Traum. Dies wird veröffentlicht, womöglich in Auswahl, und wiederum im Zusammenhang interpretiert und kommentiert. Als forschender Leser finde ich diese Sequenz 80 Jahre später vor und mache etwas daraus, was sich dann in den vorliegenden Studien findet... Im Blick auf solche mehrfache Brechung wird dem Leser also einiges abverlangt, freilich auch überraschende Einblicke ermöglicht. In dieser Arbeit sind die historische und die systematische, die psychoanalytische und die theologische Dimension vielfach miteinander verzahnt. Das ist im übrigen eine typische Mitgift praktisch-theologischer, zumal pastoralpsychologischer Studien. Und es fängt bei Pfister selbst an, wie schon ein Blick auf seine wahrhaft multidimensionale literarische Produktion zeigt. Da steht der Philosoph neben dem Theologen, der Pädagoge neben dem Seelsorger, der Psychoanalytiker neben dem Prediger. Da geht Historisch-Kritisches in Erbaulich-Blumiges über und AnalytischAufklärerisches in Persönlich-Polemisches. Hier war kein gegliedertes Gedankengebäude zu interpretieren, sondern allererst ein gewisser Zusammenhang von Gedanken als Denkweise zu finden, nachzuvollziehen und dann samt dem Umfeld irgendwie systematisiert darzustellen. Das erforderte Raum. Der Umfang dieses Buches ist stattlich. Zu seinem Darbietungsstil trägt neben den genannten spezifischen Bedingungen natürlich auch meine

XII

Vorbemerkungen

persönliche Eigenart bei. Somit erhalten wir zuletzt ein tief gestaffeltes Bedingungsgefüge: Pfisters Eigenart, meine Eigenart, psychoanalytischer Supervisionsstil, Zeitverschiebung, Defizite im Forschungs-Umfeld. Diesen methodischen und inhaltlichen Besonderheiten trägt die äußere Darbietungsweise des Buches Rechnung. Als erster Einstieg kann die biobibliographische Skizze dienen (S. 566 ff.). Differenziertere Lektüre wird durch folgende Hilfen gefördert: exkursartige Abschnitte, große Exkurse, eingerückte Zitate, Hervorhebungen durch Kursivdruck, viele Querverweise, fortlaufende Kapitel- und Abschnittszählung auf jeder rechten Seite. Die reichlichen kleingedruckten Abschnitte und Anmerkungen empfehlen sich zur selektiven Nutzung. Die Anmerkungen wollen mitunter nicht nur Nachweis und Beleg liefern, sondern auch illustrieren, diskutieren, polemisieren, paraphrasieren, assoziieren ... Zum Trost erinnere ich an manche historischen und philologischen Arbeiten; schließlich will die vorliegende auch etwas von Historie und Philologie der Seele enthalten.

m Dieses Buch ist die erheblich überarbeitete Fassung meiner Dissertation gleichen Titels, die 1990 von der Theologischen Fakultät der ChristianAlbrechts-Universität Kiel angenommen wurde. Den beiden Referenten, den Professoren Joachim Scharfenberg und Reiner Preul, danke ich für fachkundigen Rat und Unterstützung in diesem Prozeß. Joachim Scharfenberg, mein pastoralpsychologischer Lehrer, hat die Entstehungsphasen dieser Arbeit über Jahre hinweg kritisch-ermunternd begleitet. Unsere Zusammenarbeit und Freundschaft seit Ende der 60er Jahre hatte in der "Pfisterei" einen ihrer Kristallisationspunkte. Der Universität Kiel danke ich für die Verleihung des Fakultätspreises 1990. Den Professoren Christian Grethlein und Karl-Heinrich Bieritz als Herausgebern der "Arbeiten zur Praktischen Theologie" sei für die Aufnahme der meinigen in diese Reihe gedankt. Die Nordelbische Evangelisch-

Vorbemerkungen

XIII

Lutherische Kirche gewährte in großzügiger Weise einen Druckkostenzuschuß. Ihre ebenso klar konturierte wie weit gelebte lutherische Prägung läßt Raum und Möglichkeiten für pastoralpsychologisch orientierte Arbeit. Wichtige, auch über das Technische hinausgehende Unterstützung bei der Herstellung des Manuskripts und der Druckvorlage erhielt ich von Ralf Schröder und Ingrid Behrends. Ihnen danke ich in herzlicher Freundschaft. Anke Senff ließ sich bei der Produktion der Druckvorlage in ihrem Schreibbüro nicht aus der Ruhe bringen. In meinen Papieren und Entwürfen zu dieser Arbeit finden sich gelegentlich bunte Kinderzeichnungen und kleine Herzen - passagère Illustrationen eines Arbeitsprozesses neben Familie und Beruf. "Papas Buch" hat meine Kinder und mich um viele gemeinsame Stunden gebracht. Das ist jetzt vorbei. Gewidmet ist dieses Buch aber meiner Frau Martina. Ohne ihre Liebe, in Geduld und Ungeduld, hätte mein Pfister-Projekt diese Gestalt nicht gewinnen können.

Osterrönfeld/Rendsburg, im März 1993

Eckart Nase

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkungen

VII

Erster Teil Voraussetzungen der Analytischen Seelsorge 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

2.

2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8. 2.9.

Der Ansatzpunkt: Identitätsprobleme des Pastoral Psychologen Das Rollenproblem: Zwischen Pastor und Psychotherapeut Das Methodenproblem: Zwischen theologisch-kirchlichen Normen und humanwissenschaftlichem Pluralismus Das fundamental-theologische Problem: Zwischen Theologie und Humanwissenschaft Das Propriumsproblem: Zwischen Abkapselung und Fremdbestimmung Der Hintergrund: Praktische Theologie und pastorale Seelsorge auf der Suche nach Wirklichkeit Am Beginn einer neuen Epoche Verwissenschaftlichung als Programm Empirische Erforschung des kirchlich-religiösen Lebens (religiöse Volkskunde und religiöse Psychologie) Praktische Theologie als Bewegung des liberalen Neuprotestantismus Die Tiefenpsychologie in der Praktischen Theologie (Niebergall, Baumgarten) Seelsorge als Fluchtpunkt der Pastoraltheologie Die Lückentheorie Tendenzen und Probleme der zeitgenössischen Seelsorge Oskar Pfisters Pastoralpsychologie vor dem Hintergrund der Pastoraltheologie am Ende ihrer Epoche

1 3 7 12 17

27 27 29 32 43 48 58 66 70 80

Inhaltsverzeichnis

3. 3.1.

3.2. 3.3.

3.4.

4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6.

5. 5.1. 5.2. 5.3.

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen Das philosophische Vorspiel: Erfahrung und Erkenntnis, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft Schleiermacher und Hegel, Schweizer und Biedermann Der Wissenschaftler und das Reich Gottes oder Anthropologische und religiöse Vermittlung der Wissenschaft "Leben" und "Liebe". Unwissenschaftlicher Exkurs zur Hermeneutik Pfisters

XV 85

85 98

103 111

Biographische Voraussetzungen Der Vater oder Historische Wahrheit und praktische Hilfeleistung Die Krise 1911/12 Pfister in der psychoanalytischen Bewegung: Auseinandersetzungen und Heimatrecht Exkurs: "Weltliche Seelsorge". Die Frage der Laienanalyse in der Diskussion zwischen Pfister und Freud Mutter Kirche und Vater Freud Der Sohn oder Narzißtische Religion als Synthese

121

Methodische Voraussetzungen Die psychoanalytische Theorie um 1910 (ein Schlaglicht) Zur Technik der Psychoanalyse damals Zur Methodik der Fallstudien

167

121 129 135 144 151 160

167 170 176

Zweiter Teil Die Praxis der analytischen Seelsorge 6. 6.1.

Der Einstieg: Zugang zum unbewußten Konflikt Die Defizite der seelsorgerlichen Praxis und ihre Überwindung

185 185

XVI

6.2. 6.3. 6.4.

Inhaltsverzeichnis

Das Unbewußte und das Vorbewußte Das Unbewußte und der Konflikt (wider C.G. Jung) Das Unbewußte und der verdrängte Trieb (zur paradigmatischen Bedeutung der ersten beiden Fälle analytischer Seelsorge)

189 195

Der Fall Dietrich: Sexualität und Narzißmus "Dora" und "Dietrich" - eine erste Annäherung Dietrichs Vorgeschichte Die erste Sitzung Der weitere Verlauf Neurosentheorie und gesellschaftliche Wirklichkeit Freud, Pfister und die bürgerliche Sexualmoral Exkurs: Freud und Dora oder Die sexuelle Problematik in der Adoleszens Exkurs: Narzißmus und Sexualität oder Religiöse Sublimierung neu gesehen Exkurs: Narzißmus und Regression oder Religiöse Symbolik neu gesehen

208 208 217 220 232 236 242

270 270 276

8.4. 8.5. 8.6. 8.7. 8.8.

Die Methodik im Falle Dietrich Symptomorientierte, positive Deutungen Ödipaler und narzißtischer Schlüssel Narzißtische Sublimierung als Symbolisierung: Madonna, Dornröschen, Jesus Narzißtische Zufuhr Übertragung und Widerstand Die schwierige Aggression Die einladende Grundhaltung Exkurs: Menschlicher und göttlicher Mittler

9. 9.1. 9.2. 9.3. 9.4. 9.5.

Triebkonflikte und Narzißmus im Fall der Frau A. Der Anlaß und das "Angebot" Aktuelle und historische Szene Der narzißtische Konflikt Die narzißtisch-idealisierende Übertragung Die narzißtisch-sublimierte Befriedigung

333 333 337 343 348 353

7. 7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5. 7.6. 7.7. 7.8. 7.9.

8. 8.1. 8.2. 8.3.

199

248 254 263

283 294 300 303 312 322

Inhaltsverzeichnis

9.6. 9.7. 10. 10.1. 10.2. 10.3. 10.4. 10.5.

XVII

Exkurs: Höhenflüge und Neubeginn. Regression und Progression in Traum und Therapie Exkurs: Der freundliche Analytiker

361 367

Der Umgang mit den christlichen Symbolen in der analytischen Seelsorge (Frau A.) Das Bekehrungserlebnis Der Mann mit den ausgebreiteten Armen Der Christustraum Der Orgeltraum und sein Nachspiel Schluß: Frau A.s Weg

372 373 379 384 396 401

Dritter Teil Konsequenzen der analytischen Seelsorge (Wahrheit und Liebe) 11. 11.1. 11.2. 11.3. 11.4. 11.5.

12. 12.1. 12.2. 12.3. 12.4.

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse als Praxistheorien Lebendige Wissenschaft Psychoanalytische Methode: Wider die herkömmliche Psychologie und Religionspsychologie Freies Christentum: Wider die Zwänge in Theologie und Kirche Liebe gegen Angst und Zwang Idealismus gegen Konservativismus (Angstbildung und Angstlösung in Religion und Gesellschaft) Das ethische Problem in der Seelsorge Wider eine abstrakt-formale Ethik Integration der Triebnatur in die Gesamtpersönlichkeit Exkurs: Neurose als sittlicher Konflikt oder Schwierigkeiten einer synthetischen Theoriebildung Exkurs: Vorbewußte Idealproduktion oder Weitere theoretische Schwierigkeiten

405 405 413 421 429

436 445 445 449 452 459

XVIII

Inhaltsverzeichnis

12.5. 12.6.

Das Bündnis mit dem Ich Die Ordnung der Liebe

465 470

13.

Die Erziehung des Wunsches als Ziel der Seelsorge

478

13.1. 13.2.

Das Leben als Kunstwerk Die Bedeutung von Idealisierung und Symbolisierung zur Läuterung der Phantasie

478

13.3.

Die analytische Religionspsychologie als Protest gegen falsche Aufklärung Die Liebe als Kriterium zur Einordnung von Verdrängung und als Sozialleistung

497

13.4.

14. 14.1.

Erlösung durch Wahrheit und Liebe Das Erlösungsprinzip I: Analyse und Synthese,

518

Methode und Weltanschauung Exkurs: Pfister und Freud im Spiegel ihrer

518

14.2.

485

510

Meta-Physik

525

14.4.

Das Erlösungsprinzip II: Die Einbindung der analytischen Seelsorge in die pastorale Praxis Fazit I: Wahrheit und Liebe um des Menschen willen

534 544

14.5.

Fazit II: Wahrheit und Liebe um Jesu willen

550

14.3.

Abbildungen

557

Bio-bibliographische Skizze Gesamtbibliographie Oskar Pfister

566 575

Arbeitsbibliographie Namensregister (in Auswahl)

596 615

ERSTER TEIL VORAUSSETZUNGEN DER ANALYTISCHEN SEELSORGE

Kapitel 1 Der Ansatzpunkt: Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen Die Rückfrage nach Oskar Pfister geschieht aus der Blickrichtung und dem Interesse heutiger Pastoralpsychologie. Sie kann sich, wie diese Arbeit zu zeigen versucht, in eine "Geschichte" stellen. Die historische Rückfrage soll dazu beitragen, daß sich die Pastoralpsychologie ihrer Eigenart vergewissert und ihren eigenen Standpunkt klärt. Dies erscheint auch deshalb notwendig, weil die Pastoralpsychologie als bedeutende Bewegung in Theologie und Kirche noch jung ist.1 Mitte der 60er Jahre faßt sie, von den USA und in geringerem Maße von den Niederlanden herkommend, in den deutschsprachigen Ländern Fuß. Dieser Beginn ist vor allem verknüpft mit der Clinical Pastoral Education (CPE)2 als Methode in der pastoralen Aus- und Fortbildung. Die schnelle Ausbreitung der neuen Richtung führte 1972 zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP).

1

Was früher gelegentlich Pastoralpsychologie genannt wurde, gehört in den Bereich der unmittelbar technischen Hilfsdisziplinen für die pastorale Arbeit, nach Art der "Für"Literatur, z.B. S. Hiltner: Freud for the Pastor (1955) oder J.S. Boneil: Psychologie für Pfarrer und Gemeinde (deutsch 1959). Hier entstehen seit einiger Zeit neue Wortblüten wie Pastoralpsychatrie, Pastoraltherapie und Pastoral-Anthropologie. Daß zu letzterer 1975 ein interkonfessionelles "Praktisches Wörterbuch" erschien, zeigt die tendenzielle Ausweitung auf ein breites Spektrum der Humanwissenschaften. 1949 verstand der katholische Ordenspriester Willibald Demal seine "Praktische Pastoralpsychologie" noch als Hilfswissenschaft der Pastoraltheologie, also in unmittelbarem Dienst der praktischen Seelsorge (Demal 1949, 1). Eine eigene, altehrwürdige Tradition, zumal im katholischen Bereich, hat unter diesen Hilfsdisziplinen nur die sog. Pastoralmedizin. - Bereits 1909 spricht Pfister von der Notwendigkeit, eine neue Pastoralpsychologie zu entwickeln. (Dietrich 188, Anm. 1; vgl. AS 131, Anm. 11). Die Problemstellung einer Pastoralpsychologie im Sinne Pfisters taucht zuerst in A.D. Müllers Grundriß der Praktischen Theologie auf (1950, 289). 2

Früher Clinical Pastoral Training (CPT), jetzt eingedeutscht als Klinische Seelsorgeausbildung (KSA). Im Kem handelt es sich um gewöhnlich 6- oder 12wöchige Kurse, die die Arbeit in einem seelsorgerlichen Praxisfeld, zumeist dem Krankenhaus, verbinden mit intensiver Gruppenarbeit und regelmäßiger Einzelsupervision. Zur Information vgl. Becher 1972.

2

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

Der vielfältigen pastoralpsychologischen Arbeit, vor allem in Seelsorge und Beratung sowie in der Aus- und Fortbildung, steht bisher relativ wenig Bemühung zur Seite, die theoretischen Grundlagen der Pastoralpsychologie zu klären. Wenn sie stattfindet, macht eine solche Grundlagendiskussion deutlich, daß das Hauptproblem heutiger Pastoralpsychologie sich als Identitätsproblem beschreiben läßt.3 Für den zeitgenössischen Pastoralpsychologen stellt sich die Frage nach seiner Identität unter vier Aspekten: 1)

als Frage nach seiner Rolle zwischen Psychologie und Theologie bzw. zwischen Psychotherapeut und Gemeindepastor;

2)

als Frage nach den Methoden seiner Arbeit und ihrer theologischkirchlichen Legitimität, als Frage also nach den verschiedenen humanwissenschaftlichen Ansätzen und den verschiedenen Richtungen innerhalb der Psychologie und Psychotherapie, wie sie sich in den Sektionen der DGfP widerspiegeln;

3)

als Frage nach seinenfundamental-theologischen Grundlagen (theoretische Theologie);

4)

als Frage nach dem Proprium seiner praktischen Arbeit, sei es nun ein theologisches, kirchliches oder pastorales Proprium (praktische Theologie).

3 Im Anschluß an Thomas Luckmann bezeichnet Scharfenberg (1978, 125) es als Dilemma heutiger Seelsorge, zwischen Identitätsverlust und Relevanzverlust hin- und herzupendeln. Zum Identitätsproblem in der pastoralpsychologischen Ausbildung vgl. auch kollektiv fördeblick 1976, bes. 149f. 4

Bisher (1992): Tiefenpsychologie, Klinische Seelsorgeausbildung, Gruppendynamik/ Sozialpsychologie, Kommunikations- und Verhaltenspsychologie. Eine kürzlich gegründete fünfte Sektion dient als Sammelbecken für den weiten Bereich der Humanistischen Psychologie. - Zur Information über die pastoralpsychologische Aus- und Fortbildung s. Scharfenberg 1979 a, Becher 1976 (vgl. 221 ff. die Ausbildungsrichtlinien der einzelnen Sektionen). Der Reader von Riess (1974) enthält grundsätzliche Beiträge zum Gespräch zwischen Theologie und Psychologie sowie durchgeführte Beispiele für den pastoralpsychologischen Zugang zu klassischen Themen der Theologie. Repräsentativ für die amerikanische Pastoralpsychologie ist in dieser Hinsicht S. Hiltner (vgl. 1977). - Angesichts kirchenpolitischer Unruhe gab die DGfP bereits 1978 eine dezidiert theologisch argumentierende Stellungnahme "Zur Situation der Pastoralpsychologie in der Bundesrepublik Deutschland" heraus, abgedruckt u.a. in der Zeitschrift "Wege zum Menschen" (30, 1978, 424 ff.), die auch das Organ der Gesellschaft ist.

1.1. Das Rollenproblem

1.

3

Das Rollenproblem: Zwischen Pastor und Psychotherapeut

Die erste Phase des pastoralpsychologischen Aufschwungs in den 60er Jahren bestand in der BRD zu einem wichtigen Teil aus der Rezeption und Aufarbeitung der Tiefenpsychologie, insbesondere der bisher vernachlässigten Psychoanalyse. Das neue Interesse an Freud verdankte sich nicht zuletzt der Studentenbewegung und der von ihr forcierten Gesellschaftskritik. Die überraschenden theoretischen und praktischen Erfahrungen mit dieser geradezu neuentdeckten Humanwissenschaft ließen ein Problembewußtsein bezüglich der beruflichen Identität zunächst noch wenig aufkommen. Zudem waren viele der Interessenten noch selbst in der Ausbildung. Für die meisten war die Psychoanalyse primär ein Instrument der theologischen Religionskritik und der persönlichen Emanzipation. Drängend wurde das Identitätsproblem als Rollenproblem erst mit dem Entschluß zur pastoralpsychologischen Ausbildung im tiefenpsychologischen Zweig. Diese Ausbildung wurde als Zusatzausbildung konzipiert, d.h. zusätzlich zum (inzwischen ausgeübten) Pastorenberuf. Mehr und mehr kam den Neulingen die Tatsache zu Bewußtsein, daß die Ausbilder so gut wie alle rite ausgebildete und praktizierende Psychoanalytiker waren, sei es im Hauptberuf, sei es im Zweitberuf. Dies erschien in dem früheren Stadium, als es galt, das Neue kennenzulernen, ganz unproblematisch, ja es war reizvoll und lernfördernd. Doch je mehr sich das Lernen jetzt auf die pastoralpsychologische Berufspraxis ausrichtete, d.h. je mehr Pastoren Pastoralpsychologen wurden, umso deutlicher trat das Problem hervor, daß die Identifikationsprozesse in der pastoralpsychologischen Ausbildung fast ausschließlich im Gegenüber zu Psychoanalytikern abliefen. Dieses Problem reicht bis in die Gegenwart hinein, mit abnehmender Tendenz in den 80er Jahren. In den zentralen Ausbildungseinheiten Eigenanalyse, Einzel- und Gruppensupervision (Balintgruppen) sowie Theorie (Religionspsychologie, Neurosenlehre usw.) ist die Berufsrolle des Psychoanalytikers stets präsent. Natürlich ist von vornherein klar, daß das pastoralpsychologische Ausbildungsziel nicht einfach die Befähigung zur Psychotherapie sein kann. Doch auf welches Berufsziel hin soll ausgebildet werden? Woran kann die Ausbildung sich orientieren, wenn es die spezielle Professionalisierung der Vätergeneration nicht mehr sein kann und ein klares Berufsbild "Pastoralpsychologe" nicht existiert?

4

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

Die Vätergeneration hat ihre eigenen Identitätsprobleme. Ihre Lösung ist in der Regel der Versuch einer halbwegs integrierten Doppelrolle. Ihre Vertreter stehen auf zwei Beinen, von denen meistens eins eher das Spielbein, das andere eher das Standbein ist. Sie sind Theologen und Psychologen, Theologen und Gruppendynamiker usw.5 Sie haben den entsprechenden Rückhalt in den großen Berufsgesellschaften der Psychotherapeuten, Psychologen, Gruppenspezialisten. Und die meisten von ihnen gehören zu den Gründungsmitgliedern der DGfP. Man darf ja nicht vergessen, daß ein wichtiger Anstoß zur Gründung einer eigenen pastoralpsychologischen Gesellschaft die Tatsache war, daß die Verhandlungen mit den maßgeblichen psychotherapeutischen Gesellschaften hinsichtlich der Ausbildung von Theologen scheiterten. Sie zeigten sich an einer eigenständigen Mitgliedschaft und Mitarbeit von Theologen nicht interessiert und verschärften (außer dem C.G. Jung-Institut in Zürich) die Bedingung, Bewerber müßten sich als Mediziner oder Psychologen qualifizieren. Inzwischen, so scheint mir, sieht man unter Pastoralpsychologen eher die Chance, die Ausbildung immer mehr in die eigenen Hände zu nehmen und auf ein neues Berufsbild auszurichten, den pastoralpsychologisch spezialisierten Pastor. Das Stichwort Pastor macht ein weiteres Mal den Unterschied zur Vätergeneration deutlich. Pastor meint gewöhnlich Gemeindepastor. Dagegen sind die pastoralpsychologischen Ausbilder, sofern sie Theologen sind, in übergemeindlichen Arbeitsfeldern tätig: Universität, Predigerseminar bzw. Vikarsausbildung, Beratungsstelle, Krankenhaus usw. Irgendwann in den nächsten Jahren sind diese Stellen mit den nachrückenden Pastoralpsychologen nicht mehr zu besetzen, und es erhebt sich mit neuer Dringlichkeit die Frage nach der Berufsrolle des Pastoralpsychologen in den Bezügen der Ortsgemeinde.

5 Am wenigsten virulent ist das Problem der Doppelidentitat bei den KSA-Vertretern, da die KSA am ehesten ein kircheneigenes Kind ist. Es ist sozusagen im Schoß der seelsorgerlichen Praxis selbst geboren worden, nämlich aus einer Verknüpfung von bestimmten persönlichen Erlebnissen (psychischer Zusammenbruch) und beruflicher Erfahrung des amerikanischen Klinikpastors Anton T. Boisen in den 20er Jahren. Vgl. dazu Stollberg 1969, 163 ff.

1.1. Das Rollenproblem

5

Am Horizont steht die Gefahr der Identitätsdiffusion (Erikson 6 ). Was tue ich und wer bin ich, wenn ich dies tue und jenes auch? Die Lösung kann nicht in einer schlichten Aufteilung liegen: mein Büro hat eben zwei Türen, an einer steht "Pastor", an der anderen "Psychologe" oder gar "Pastoralpsychologe". Ob die Türen nun zum gleichen Zimmer oder zu verschiedenen führen - das ständige Oszillieren zwischen den Rollen erscheint mir weniger als Ausdruck der Ichstärke, eher als eine dauernde Überforderung, jedenfalls für Menschen, denen solche schizoide Aufspaltung oder undeutliche Vermischung nicht gerade psychisch entgegenkommt. Es entsteht also die Aufgabe, eine neue, einheitlichere Rolle zu entwickeln. Damit ist in erster Linie die soziale Dimension des Identitätsproblems gemeint. Rollen leben von der immer neuen Zuschreibung, die in der Rollenerwartung zum Ausdruck kommt. Auf den Gemeindepastor übertragen heißt das, er trägt das Schild "Pastor" in der Sicht und in der (berechtigten!) Erwartung der Gemeindemitglieder mit sich herum, besser, es wird ihm gleichsam immer neu angeheftet durch Erwartungen, die heute ziemlich genau beschrieben werden können. 7 Die Rolle "Psychologe" wird dem Pastor nicht zugeschrieben. Sie wird sogar häufig alternativ gesehen, ganz zu schweigen von der Rolle "Pastoralpsychologe", die auf der Gemeindeebene unbekannt ist. Hier entsteht die Aufgabe, die neuen Positionen, die die jeweiligen Rollenträger einnehmen, klarer zu entwickeln, differenzierter zu beschreiben (z.B. durch das Merkmal "beraterische Kompetenz") und natürlich organisatorisch zu ermöglichen (Personal- und Stellenpolitik). 8

6 So auch Scharfenberg 1976, 40. Erikson hat "Identität gegen Identitätsdiffusion" als die psychische Krise der Adoleszens herausgearbeitet (vgl. z.B. 1966, 106 ff.). Ich nehme mir die Freiheit, auch die Adoleszens der Pastoralpsychologie auf diese Weise besser zu verstehen. Seit einigen Jahren bevorzugt Erikson den Begriff Identitätsverwirrung (identity confusion), um deutlicher zum Ausdruck zu bringen, daß "an eine Aufspaltung der SelbstBilder gedacht [ist], an einen Verlust der Mitte und an eine Auflösung und Ausstreuung" (1970, 220). 7

Vgl. z.B. Dahm 1971, Wurzbacher et al. 1960, bes. 44 ff. Diesem Buch liegt eine empirische Untersuchung des Soziologischen Seminars der Universität Kiel über den schleswig-holsteinischen Landpastor zugrunde, ausgewertet unter berufssoziologischen Aspekten. 8 Ein Beispiel: Beratende Seelsorge in einem Kirchenkreis, entweder mit der Zielgruppe Pastoren und kirchliche Mitarbeiter oder ohne spezielle Zielgruppe. Daneben bestimmte Fortbildungsveranstaltungen, etwa Balintgruppen, und eine begrenzte pastorale Tätigkeit auf der Gemeindeebene. - Die mannigfachen Probleme solcher kombinierten Positionen zu bedenken, ist selbst eine pastoralpsychologische Aufgabe.

6

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

Doch vorerst sind wir noch auf die Arbeit an der Rolle des Pastoralpsychologen selbst gewiesen. Diese Arbeit kann am besten als Vermittlungsarbeit beschreiben werden, Vermittlung nicht nur zwischen pastoraler und psychotherapeutischer Berufsrolle, sondern auch zwischen Theologie und Psychoanalyse. Denn neben der sozialen Dimension hat das Identitätsproblem ja eine kognitive und, gleichsam auf der Innenseite, eine psychische Dimension. So kann die Vermittlungsarbeit nicht bloß Ausgleich und Kompromiß zum Ziel haben; solche Regelungen blieben äußerlich. Auf die Dauer muß sie eine neue Synthese hervorbringen, in der die Spannung von These und Antithese im Hegeischen Sinne aufgehoben ist. Gelingt diese Vermittlung nicht, so bleibt der Pastoralpsychologe der Zukunft ein Pastor, der auch noch Psychotherapeut ist.9 Eine solche Doppelrolle muß zu unfruchtbaren und unerträglichen Spannungen führen, vor allem im Selbstwert- und Identitätsgefühl. Dann erscheint es nur zu verständlich, den gordischen Knoten mit einem Schlag durchzuhauen, indem man sich für eine Seite entscheidet: entweder dazu, alle Psychologie fahren zu lassen und 'wirklich' Pastor zu sein (mit aller Gefahr der Überidentifizierung mit dieser Rolle, also mangelnder Rollendistanz), oder aber dazu, 'wirklich' Psychologe oder Psychotherapeut zu werden (mit allen Gefahren der Anti-Identifizierung). Doch die hohe Zeit solcher Alternativzwänge, wie sie in den letzten Jahren in manchen Fällen schmerzlich durchlebt wurden, scheint vorbei zu sein. Die Gründe für diese Entwicklung liegen nach meiner Meinung nicht nur in der religiösen und kirchenpolitischen Entwicklung der letzten Jahre, sondern auch in der Weiterentwicklung der Pastoralpsychologie selbst. Vor allem in der pastoralpsychologischen Theorie ist ein gutes Stück Vermittlungsarbeit bereits geleistet. Zu nennen ist in erster Linie die Aufarbeitung der psychoanalytischen Religionskritik, die die erste Generation so vehement in Angriff genommen hatte. Ob es jemals so etwas wie eine pastoralpsychologische Basistheorie geben wird, ist für mich eine offene Frage. Doch wird es immer eine spezifisch pastoralpsychologische Aneignung und Integration psychologischer und theologischer Theorieelemente geben. Schon jetzt kristallisieren sich Begriffe und Problembereiche heraus, um die die

9 Schon innerhalb der Psychotherapie kennt man das Problem eines "spezifischen Kurztherapie-Mangelgefühls" (Beck 1974, 50) im Gegensatz zu den Erfahrungen mit der "großen Psychotherapie".

1.2. Das Methodenproblem

7

pastoralpsychologische Theoriebildung kreist: Konflikt und Emanzipation, Annahme und Liebe, Trennung und Trauer, Phantasie und Symbol, Selbst und Identität. Dagegen steckt die Vermittlungsarbeit als Aufgabe der pastoralpsychologischen Praxis noch in den Anfängen. Sie ist, aus den angeführten Gründen, der zweiten und dritten Generation übergeben. Doch auch hier bildet sich, wie in der Theorie, immer deutlicher eine eigene Ausprägung und ein eigener Stil der Arbeit heraus. Diesen Stil 'darzustellen' und weiterzuentwickeln im Zusammenhang einer persönlich erarbeiteten und angeeigneten Synthese von Theologie und Psychologie, bleibt die Aufgabe der Pastoralpsychologie in den kommenden Jahren. Sie erstreckt sich auf das gesamte pastorale Berufsfeld und Berufsbild. Als spezifische und besonders typische pastoralpsychologische Arbeitsfelder sind bisher zu nennen: Neue Formen der Gruppenarbeit, zumal im Interesse eines neuen Zugangs zu biblischen Texten, sowie die beiden zentralen Bereiche der pastoralen Beratung (analog zur Fokaltherapie) und der pastoralen Supervision (analog zur klinischen Supervision).10

2.

Das Methodenproblem: Zwischen theologisch-kirchlichen Normen und humanwissenschaftlichem Pluralismus

Die Pastoralpsychologie ist ein pluralistisches Gebilde. Die verschiedenen Ansätze und Richtungen verbindet untereinander einzig das Interesse, das Wissen vom Menschen, seinem Verhalten und Erleben, wie es in den modernen Humanwissenschaften, zumal in der Psychologie, vorliegt, für Theologie und kirchliche Praxis fruchtbar zu machen. Von daher ist es ganz natürlich, daß die Sektionen der DGfP verschiedene Richtungen der heutigen Psychologie widerspiegeln.

10

Zum Thema Selbst- und Gruppenerfahrung mit der Bibel s. bes. Barth/Schramm 1977. Den tiefenpsychologischen Zugang zu biblischen Texten dokumentieren die beiden Sammelbände von Yorick Spiegel 1972 und 1978. Zur pastoralen Beratung zusammenfassend Riess 1974 a. Zur Supervision: Neben den Supervisionsmodellen der KSA ist das Modell von F. Haarsma (1974, bes. 617) am deutlichsten auf die allmähliche Entwicklung einer "pastoralen Berufsperson" gerichtet, also auf die pastorale Berufsidentität. Der Ausdruck stammt von H. Andriessen, wie Haarsma katholischer Pastoralpsychologe in Holland, in dessen umfangreichem Werk über Supervision ein großer Abschnitt der spezifisch pastoralen Supervision gewidmet ist. Allgemein zur Supervision in der kirchlichen Praxis s. das gleichbenannte Themaheft von WzM, H. 7/1977.

8

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

Für den wissenschaftskritischen Pastoralpsychologen ist klar, daß er mit der Assimilierung und Integration humanwissenschaftlicher Ansätze nicht bloß Methoden im Sinne wertneutraler Techniken übernimmt. Zum einen lassen sich Methode, Technik und Theorie nicht einfach voneinander trennen. So steckt z.B. hinter der psychoanalytischen Technik der freien Assoziation die gesamte Theorie über das Unbewußte und die Verdrängung. Das gleiche gilt für die psychoanalytische Neurosenlehre, die darum nicht als eine Art klinisch-praktisches Destillat für sich benutzt werden kann. Dies ist jedoch im Kern der Ansatz des Modells "Hilfswissenschaft", wie es die Debatte über das Verhältnis von Seelsorge und Psychotherapie seit den 20er Jahren wesentlich geprägt hat:11 Bestimmte Elemente aus Psychologie und Psychotherapie werden von ihrem theoretischen Zusammenhang isoliert, womöglich von angeblich achristlichen, weltanschaulichen Implikationen gereinigt, um dann als scheinbar neutrales, effizientes Hilfsmittel zur allgemeinen Menschenkenntnis (Psychologie) bzw. zur Kenntnis des psychisch kranken Menschen (Psychotherapie) eingesetzt zu werden. Das eindruckvollste und folgenreichste Beispiel dafür bleibt wohl Eduard Thurneysen, auch wenn sein Werk in der letzten Zeit von manchen differenzierter gesehen wird. "Größte Wachsamkeit" empfiehlt er dem Seelsorger "zwar nicht wegen der Tiefenpsychologie als solcher, aber wegen der dabei mitlaufenden Weltanschauung ... Nicht die psychologischen Forschungsergebnisse Freuds sind in Frage zu stellen, wohl aber diese Weltanschauung, die dahintersteht, und die ihr entsprechende Anthropologie, wonach der Mensch letztlich seelisch nur nach seinen Triebabläufen befragt und von daher verstanden wird." Gemeint ist natürlich in erster Linie die "merkwürdige Prävalenz der Sexualität in der Trieblehre der Freudschen Schule". 12 Will bzw. kann man das nicht verstehen, sondern nur als "naturalistische Denkweise" etikettieren und wegstreichen, so bleibt von der (damaligen) Psychoanalyse nicht allzu viel übrig. Es ist schon merkwürdig, daß sich, wenn auch auf differenziertere Weise, ähnlich kritische Worte über Freuds Weltanschauung auch bei Pflster finden; sie werden uns in dieser Arbeit des öfteren begegnen. Das hindert Thurneysen aber nicht, ihn mit Freud durchaus in einen Topf zu werfen, indem er behauptet, er sei "seinem psychoanalytischen Meister weithin auch weltanschaulich gefolgt". 13 In Wirklichkeit ist es etwas anderes als jene "Weltanschauung", das Pfister mit Freud verbindet und beide Thurneysen gegenüberstehen läßt. Wie dieser selbst andeutet, scheint es mit der Bewertung von "Ethik" zusammenzuhängen (auch wenn Freud gelegentlich abschätzig über sie sprach), also mit dem Stellenwert des Handelns und Erlebens für das wissenschaftliche und eben auch

11

Vgl. Scharfenberg 1974, 339-341, Läpple/Scharfenberg 1977, 4f.

12

Thurneysen 1950, 18f.

13

Ders. 1948, 178.

1.2. Das Methodenproblem

9

theologische Verständnis des Menschen. Im Hintergrund lauert natürlich das Problem der natürlichen Theologie bzw. die Angst vor ihr.14 Ist die Tiefenpsychologie erst einmal theologisch isoliert und partiell vereinnahmt, kann sie als "Vorhofsarbeit" angesehen werden.15 Damit ist unterstellt, das 'Eigentliche' folge erst im Innern des Tempels, nämlich in der theologisch qualifizierten Verkündigung, Beichte, Absolution o.a. nach - anstatt seine Spuren dort aufzusuchen, wo das gemeine Volk, nämlich der Mensch sich gewöhnlich aufhält, eben im Vorhof, im Vorfeld seines wahren Wesens. In das Bild vom Tempel und seinem Allerheiligsten paßt bruchlos die Kemthese Thurneysens: Der "innerste personale Kern des Menschen ... ist dem Zugriff der psychologischen Erkenntnis entzogen, er ist allein dem Verständnis des Glaubens zugänglich".16 In dieser theologischen Argumentationsfigur herrscht immer der Jargon der Eigentlichkeit vor. Er soll verdecken, daß es eigentlich um ausklammern, fernhalten, sich entziehen geht. Auf seinem Weg von "Rechtfertigung und Seelsorge" (1928) bis zur "Seelsorge im Vollzug" (1968) hat Thurneysen gewiß manche empirische Perspektive hinzugewonnen, vergleichbar vielleicht der Wendung des späten Karl Barth zur "Menschlichkeit Gottes" (über die er mit seinem Wunschgegner Schleiermacher im Himmel weiter disputieren will17). Und doch scheint mir die theologisch-hermeneutische Problematik der Ausgangsposition damit nicht gemildert, sondern eher noch verschärft zu sein. Sie läßt sich, trotz einer gewissen Distanzierung beider Theologen von ihrem Mitstreiter Emil Brunner, doch mit dessen Diktum vom Beginn der 20er Jahre kennzeichnen, beim Glauben gehe es gerade um "das prinzipielle und radikale Ignorieren aller inneren Prozesse".18 Dem Bedürfnis nach sauberer Aufteilung und Abgrenzung entspricht häufig die Einordnung der Psychologie als "ganz einfach ein Stück Naturwissenschaft",19 So käme sie am wenigsten mit der Theologie ins Gemenge. Sich als Geisteswissenschaftler dafür auch noch auf Freud zu berufen, erscheint allzu wohlfeil, solange man nicht dessen Überzeugung hinzunimmt, strenggenommen gebe es gar keine Geisteswissenschaft, sondern nur Psychologie, "reine und angewandte, und Naturkunde". Diesem erneuten Exklusivanspruch muß man sich erst einmal stellen, möglichst in intensiver Verstehensarbeit, sonst schließt man leicht einen nicht nur faulen, sondern falschen Frieden.

14

Eine mutige Verteidigung der natürlichen Theologie im Zusammenhang des Problems Theologie und Humanwissenschaften unternimmt Neidhart (1977, bes. 62 f.). - Zur Auseinandersetzung Pfisters mit Thurneysen s. Kap. 14.5. 15

So bei Fichtner 1931. Die Tendenz ist klassisch ausgeprägt bei Thurneysen 1948, 174 ff. bzw. 193 ff., vgl. auch Uhsadel 1952, 32 ff. bzw. 38 ff. - Sogar Pfister kann einmal von der Analyse als (negativer) Vorarbeit sprechen (NZ 67). Das ist aber erstens mißverständlich und zweitens ganz anders gemeint, nämlich als Ermöglichungsgrund der positiven Arbeit [14.1]. 16

Thurneysen 1950, 5; auf S. 19 ist es das "eigentliche Geheimnis" der menschlichen Person. 17

Barth 1968, 310.

18

Brunner: Erlebnis, Erkenntnis und Glaube, 1923, 35, zit. nach Scharfenberg 1974, 340, Anm. 2. 19

Thurneysen 1950, 3, von mir hervorgehoben. Das folg. Freud-Zitat GW XV 194.

10

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

Solche positivistisch-technizistischen Tendenzen führen zu einer theorieund theologielosen Beliebigkeit in Bezug auf die Palette der Humanwissenschaften und vertragen sich bis heute nicht schlecht gerade mit solchen theologischen Positionen 'von oben', die dem emanzipatorischen Pathos bestimmter Humanwissenschaften, etwa der Psychoanalyse, ganz fremd gegenüberstehen. Wenn man so will, entspricht der Neutralisierung der Psychoanalyse im Hilfswissenschaften-Modell auf deren Seite das Reduktions-Modell der "angewandten Psychoanalyse", in dem alle Bereiche der Wissenschaft und des menschlichen Lebens, natürlich auch die Religion, umstandslos dem gleichen Verstehenszugang unterworfen wurden [14.1]. Nun läßt sich zum anderen nicht leugnen, daß bereits in den humanwissenschaftlichen Methoden und Techniken selbst ein bestimmtes Menschenbild enthalten ist, eine latente Anthropologie (Hans Kunz)20. Im Falle der "freien Assoziation" ist es in der Tat das Bild eines sich aus unbewußten Zwängen herausarbeitenden, zu größerer Freiheit bestimmten Menschen. Bei gewissen Techniken der Verhaltenstherapie, z.B. der Aufstellung von sogenannten Verhaltensprogrammen, ist es das Bild eines auf Kontrolle und autoritative Lenkung angewiesenen und zum größeren Glück hinzuführenden Menschen. Für beide Beispiele gilt, daß die anthropologischen Implikate in der Theorie der Technik nicht auftauchen und auch im weiteren theoretischen Rahmen kaum je befriedigend reflektiert werden. Hier tut sich ein weiteres Arbeitsfeld für eine Pastoralpsychologie auf, die ihre Rezeption der Humanwissenschaften theologisch verantwortet und sich darum auch wissenschafts- und ideologiekritisch verhält. Gerade wenn Theologie auf diese Weise auch zur Psychologiekritik würde21 - der vielbeschworene Dialog zwischen Theologie und Humanwissenschaften, hier wird er Ereignis! -, gälte es um so mehr, das eigene Erkenntnisinteresse und die Traditions- und Wertbestimmtheit der heranzuziehenden theologischen Kriterien transparent zu machen. Technik, Methode und Theorie können auch im psychologisch-psychotherapeutischen Feld nicht einfach auseinanderdividiert werden. Das ist ja

20 21

Dazu Kunz 1956, vgl. auch Scharfenberg 1972, 111 ff.

Als herausragendes Beispiel vgl. Eilert Herms' (1978) Interpretation der Realitätsauffassung Freuds im Zusammmenhang einer "theo-logischen Realitätsauffassung"; der Ausdruck bezeichnet die im christlichen Glauben implizierte Auffassung von welthafter Realität, nämlich daß sie verfaßt ist als Gottes Schöpfung (ebd. 191).

1.2. Das Methodenproblem

11

nichts anderes als eine Konsequenz aus dem allgemein anerkannten Grundsatz, daß Theorie und Praxis in einem dialektischen Wechselverhältnis stehen. Spezifiziert man diesen Grundsatz, indem man die Praxis als Entstehungszusammenhang der Theoriebildung betrachtet, und bezieht ihn auf die Psychoanalyse als Partnerwissenschaft, so verschärft sich die folgende Frage: Was wird aus der Psychoanalyse und wie funktioniert sie, wenn sie sozusagen aus ihrem originalen 'Rahmen', der psychoanalytischen Zweiersituation, herausgenommen wird und mit anderen Symbolwelten und soziokulturellen Strukturen (als Praxisfeldern) in nähere Beziehung tritt? Was bedeutet es für die Psychoanalyse, wenn die Kirchengemeinde und ihre Lebenswelt zum 'setting' und die Theologie zum 'frame of reference' werden? Wie wirken die Erfahrungen in diesen Arbeitsfeldern auf die Theorie zurück? Entstehen neue Akzente, neue Konzepte, neue Hypothesen? Und umgekehrt, von der Theologie aus gesehen: Was bedeutet es für den Pastoralpsychologen, eine solche hochspezialisierte und hochdifferenzierte Wissenschaft wie die Psychoanalyse seiner Arbeit, seinem Denken, seiner ganzen Person (Eigenanalyse) zu assimilieren? Wie wirkt die Begegnung mit der Psychoanalyse sich konkret auf die Arbeit des Pastoralpsychologen aus? Verändert sich seine pastorale Praxis, setzt er neue Schwerpunkte? Wie wirkt die gegebenenfalls veränderte Praxis auf sein theologisches Denken zurück? Oder kann es hier vielleicht gar keine Rückwirkung geben, weil ohnehin nur solche Theologen Pastoralpsychologen werden, deren Theologie von vornherein eine den Humanwissenschaften analoge bzw. für sie offene Struktur besitzt? Könnten z.B. die Antithesen der Bergpredigt oder der Weg Jesu zum Kreuz ebenso als ein Beitrag zur "allgemeinen Interpretation" im Sinne von Jürgen Habermas22 aufgefaßt werden wie der Ödipus-Mythos als psychoanalytische Zentralgeschichte? Wäre es möglich, daß solche Denkmodelle zu Bausteinen einer pastoralpsychologischen Theorie würden? Dann wäre das Neue, Dritte der Pastoralpsychologie in der Tat nicht bloß der Versuch, eine eher additiv geprägte Personalunion von Theologie und Tiefenpsychologie nachträglich zu rechtfertigen. In gelingender Vermittlungsarbeit wird man nicht unreflektiert, aber doch unbefangen auch biblisch argumentieren und

22 Die allgemeine Interpretation "hat die Form einer Erzählung, weil sie Subjekten dazu dienen soll, die eigene Lebensgeschichte in narrativer Form zu rekonstruieren; aber sie kann nur Folie für viele solcher Erzählungen sein ..." (Habermas 1968, 321).

12

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

den faktischen Pluralismus bereits der biblischen Glaubenszeugnisse hervorheben. Man wird sich auf die Vorläufer pastoralpsychologischer Arbeitsweisen in der Christentumsgeschichte beziehen und auf beiseite gedrängte religiöse Traditionen wie z.B. Mystik und Meditation hinweisen.

3.

Das fundamental-theologische Problem: Zwischen Theologie und Humanwissenschaft

Spätestens seit im 19. Jahrhundert Säkularisation und Historismus im Gefühl und im Denken allgemein wurden23, kann verantwortliche Theologie nicht mehr naiv kurzschließen zu den Quellen unseres christlichen Glaubens. Umso dringlicher ist es ihre Aufgabe, den Glauben verstehen zu helfen. Auf der Suche nach einem hermeneutischen Schlüssel für die Symbole des Glaubens damals und heute wird sie auf die Anthropologie zurückgreifen müssen, die auf ihre Weise die conditio humana zum Thema hat, zwar nicht zusammengepreßt in einem Formelsatz anthropologischer Konstanten, aber doch gesehen von einer Reihe typischer Grundkonflikte her, wie sie aus den Grundbedingungen menschlicher Existenz und Sozialisation entstehen.24

23

Ich will aber keineswegs einer landläufigen Säkularisierungstheologie das Wort reden, im Sinne "ungedeckter historischer Hypothesen über die Nachchristlichkeit des zeitgenössischen Alltagslebens" (Preul 1979, 80, Anm. 41). 24 Für das 19. Jahrhundert vgl. das Dreierschema Kap. 2.8. - Um das weite Feld der menschlichen Konfliktmöglichkeiten überschaubar zu strukturieren, unterscheidet Scharfenberg drei Grundarten (Scharfenberg/Kämpfer 1980, 170 ff., 171): a) die stets gleichen Gntndambivalenzen, Regression - Progression, Autonomie Partizipation, Realität - Phantasie (dazu vgl. Herms 1979), so etwas wie Kants transzendentale Erkenntniskategorien, nur für die Psychologie; b) die von Mensch zu Mensch verschiedenen Grundsirukturen, als Charakterstrukturen in Anlehnung an die klassischen Neuroseformen, wie sie an bestimmten, lebensgeschichtlich frühen Knotenpunkten der menschlichen Entwicklung entstehen und bei jedem Menschen eine eigentümliche Brechung und Mischung erfahren; c) die lebens- und weltgeschichtlich wandelbaren Grundkonflikte, als innerpsychische (z.B. Trennung, Identifizierung) und als Außenwelt-Konflikte (Natur-, Macht-, Familienkonflikte usw.). Diese Grundkonflikte - mit diesem Begriff möchte ich die drei Arten zusammenfassen - sind alle symbolisch vermittelt. Um sie als anthropologische Grundlage einer Theorie des religiösen Symbols zu erweisen, erläutert Scharfenberg sie in erhellender, z.T. narrativer, meditativer und liturgischer Weise (vgl. auch 276 ff.) anhand von bestimmten Glaubensausprägungen und religiösen, zumal biblischen Symbolen, Szenen, Geschichten. Dabei ist die

1.3. Das fundamental-theologische Problem

13

Diese Bedingungen beginnen mit dem neunmonatigen Wachstum im Mutterleib, mit dem Heraustreten des "sekundären Nesthockers" in die Welt in all seiner Hilflosigkeit und Angewiesenheit, mit den spezifischen Interaktionen in der Mutter-Kind-Dyade usw. Der Mensch ist das Wesen, das symbolisiert. Er bringt seine Grundkonflikte symbolisch zum Ausdruck, er erkrankt an ihrer nicht möglichen oder mißlungenen Symbolisierung ("privatisierte" Symbolik25). Jedenfalls sind Konfliktausdruck und Konfliktlösung immer sprachlich-symbolisch vermittelt. Die biologisch-gesellschaftliche Verschränkung der Konfliktdeterminanten bringt es mit sich, daß die Symbole samt ihrer Bedeutung geschichtlich wandelbar sind, also auch die Symbole des Glaubens. So hat in einer vaterlosen Gesellschaft das Symbol Gott-Vater eine andere Funktion als in einer patriarchalischen Gesellschaft.26 Eine Theologie, die sich in diesem Sinne als kritische Symbolkunde versteht, wird von vornherein offen sein für die Humanwissenschaften, die den Menschen als Konfliktwesen und als Symbolwesen beschreiben, wie verschieden die Parameter auch sein mögen, unter denen das geschieht: Triebkonflikte, Beziehungskonflikte, soziale Konflikte usw. Hier ist in erster Linie an Sozialpsychologie und Tiefenpsychologie zu denken, an diese auch wegen der unbewußten Dynamik vieler menschlicher Konflikte. Der besondere Beitrag der Theologie zu einer konfliktorientierten Anthropologie liegt in der Untersuchung der religiösen Symbole als Konfliktausdruck, Konfliktbearbeitung und als Lösungsangebote damals (Bibel, Dogma, Kirchengeschichte) und heute (religiöse Symbole in Gesellschaft und Kirche).27

Arbeitshypothese leitend, daß die Grundambivalenzen im religiösen Symbol "aufgehoben", die Grundstrukturen ausgedrückt und die Grundkonflikte bearbeitet werden können. - Für die Ambivalenz oder den Konflikt als Grunddatum menschlicher Selbsterfahrung verweist Scharfenberg (1978, 133) auch auf Rom. 7. 25

Habermas 1968, 274; Lorenzer 1970, bes. 93 ff., 92: "pseudokommunikative Privatsprache". 26 Das gibt Anlaß zu Büchern wie dem des holländischen Pastoralpsychologen Heije Faber: Gott in vaterloser Gesellschaft (München 1972). 27

Das dialektische Wechselspiel von Konfliktausdruck und seiner Bearbeitung oder Lösung ließe sich mit Paul Tillichs (theologischer) Methode der Korrelation vergleichen. Indem sie "die Inhalte des christlichen Glaubens durch existentielles Fragen und theologisches Antworten in wechselseitiger Abhängigkeit" erklärt, kann sie "nicht umhin, die menschliche Existenz und Existenz überhaupt in einer Weise zu sehen, daß die christlichen Symbole ihm [sc. dem philosophischen Theologen] sinnvoll und verstandlich

14

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

Im Blick auf die Aufgaben der Pastoralpsychologie ist dabei nicht nur der "garstige Graben" zu überbrücken, sondern auch der Gegensatz von öffentlichen religiösen Symbolen, gewöhnlich kirchlich-tradierten, und den Symbolen neurotisch verzerrter Privatreligionen, die in der Seelsorge begegnen. Für beide ist ein gemeinsamer hermeneutischer Schlüssel zu fordern und zu entwickeln, wie er ansatzweise im Konzept der Grundkonflikte vorliegt. Sonst laufen beide Kommunikationsprozesse weiter aneinander vorbei, da in der Regel "die Deutung der öffentlichen Symbole der Kirche von der Dogmatik wahrgenommen wird, die der privatisierten Symbole von der Psychologie".28 Eine theologische Theorie der Seelsorge, die diese Aufspaltung überwinden will, wird sich als Pastoralpsychologie und als Religionspsychologie verstehen und entfalten müssen. Daher fordert Scharfenberg mit Recht: "Jede wirkungskräftige Seelsorge muß in der Lage sein, sowohl die ihr anvertrauten Menschen, an die sie sich gewiesen weiß, wie die Quellen, auf die sie sich bezieht, mit demselben hermeneutischen Schlüssel zu lesen." Eine Theologie, die diesen Zusammenhang fundamental ernst nähme, spielte einen wichtigen Part im Orchester der Humanwissenschaften. Der Austausch untereinander würde wesentlich durch die Benutzung des gemeinsamen hermeneutischen Schlüssels gefördert, der im Bezug auf die menschlichen Grundkonflikte besteht, wie sie sich im Laufe der Entwicklung in phasentypischer und gesellschaftsspezifischer Weise ausformen. Die Offenheit für und die Interrelation mit den Humanwissenschaften ist auch aus einem weiteren Grund konstitutiv für eine pastoralpsychologisch verantwortete Theologie. Als eine Theologie 'von unten' sucht sie ja im Bereich unserer (mit)menschlichen Wirklichkeit nach den Fingerzeigen Gottes. Der Geist ist der Bürge dafür, daß das Handeln Gottes, seine Geschichte mit den Menschen weitergeht. Neben der Bibel als Ursprungsdokument des Glaubens stehen die "living human documents" (A.T. Boisen). Doch ohne den Bezug auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens (Hebr. 12,2), stünde solcher Glaube in der Gefahr eines ungeschichtlichen und unrealistischen Schwärmertums. Jesus ist hier weder als historische Gestalt gemeint, obgleich das "Daß des Gekommenseins" (Bultmann)

erscheinen" (Tillich 1956,74/78). Dazu bedarf es aber eines gemeinsamen hermeneutischen Schlüssels für die Deutung der Existenz und der tradierten Symbole. 28

Scharfenberg 1976, 43. Das folg. Zitat ders. 1978, 131.

1.3. Das fundamental-theologische Problem

15

unverzichtbar ist, noch als dogmatische Formel, obgleich er wirklich der Christus ist, sondern als Urbild und Maß unseres Glaubens und unserer Menschlichkeit, als ein 'Objekt' unserer Identifikationen und unserer Idealisierungen. Eine Theologie, die die Realität ernst nimmt, angefangen bei der alltäglichen Lebenswelt, geht als empirische Theologie29 aus von individuellen und kollektiven religiösen Erfahrungen bzw. deren dokumentarischen Niederschlägen. Als empirisch-kritische Theologie sucht sie diese Erfahrungen zu verstehen und aufzuarbeiten nach den Kriterien, die sie in Kooperation mit der allgemeinen Anthropologie erstellt hat. Als emanzipatorische Theologie wird sie ihr emanzipatorisches Erkenntnisinteresse30 vor der religiösen und theologischen Tradition verantworten, gegebenenfalls in ihr verankern und für die Gegenwart transparent machen. Als praktische Theologie - seit den Franziskanern und Luther wird die Theologie als scientia eminens practica gesehen31 - ist sie an besserem Verstehen der biblisch-christlichen Überlieferung zugunsten des gegenwärtigen christlichen Lebens in seinen konkreten Vollzügen interessiert. Dieses Erkenntnisinteresse ist ein praktisches, weil explicatio und applicatio nicht zu trennen, sondern im hermeneutischen Zirkel von tradiertem Sinnverstehen und aktuellem Vor- bzw. Selbstverständnis zusammengeschlossen sind.32

29 Nach Stollberg (1969, 172, Anm. 63) findet sich dieser Terminus zum ersten 1936 bei dem Theologen und Religionspsychologen Werner Gruehn und im gleichen in genauer inhaltlicher Entsprechung, doch offensichtlich unabhängig von Gruehn bei Boisen, dem schon erwähnten Gründervater der amerikanischen Seelsorgebewegung. Hauptwerk ist "The Exploration of the Inner World" (1936). Vgl. Kap. 11, Anm. 2.

Mal Jahr A.T. Sein

30 Jürgen Habermas (1968 a, 159) versteht es als das Interesse an der (selbstreflexiven) Lösung des Subjekts aus der Macht hypostasierter Gewalten. Freilich, im Zeitalter des Wassermanns hat solches Interesse (vorübergehend) wenig Konjunktur. Ebenso ergeht es der Verkündigung der christlichen Freiheit, die eher als Zumutung empfunden wird. 31

Nicht für die Praktische Theologie als Disziplin, wohl aber für den Praxisbezug aller theologischen Disziplinen kann Gerhard Sauters Satz gelten (1974, 129): "Praxis ist theologisch nicht gleichbedeutend mit empirischer Tatsächlichkeit, sondern mit der Erfahrung und Erkenntnis der Gegenwart Gottes in der Welt." 32 "Die Welt des tradierten Sinnes erschließt sich dem Interpreten nur in dem Maße, als sich dabei zugleich dessen eigene Welt aufklärt. Der Verstehende stellt eine Kommunikation zwischen beiden Welten her, er erfaßt den sachlichen Gehalt des Tradierten, indem er die Tradition auf sich und seine Situation anwendet" (Habermas 1968 a, 158). Dem entspricht natürlich der theologische Ausgangspunkt der existentialen Interpretation: "Ein Reden von Gott" kann nur möglich sein "als ein Reden von uns" (Bultmann 1925/1964, 33). Nur wird

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Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

Ihr gegenüber steht eine Theologie 'von oben', die von einem Standpunkt außerhalb oder jenseits unserer menschlichen Wirklichkeit ausgeht.33 Das beste Beispiel dafür ist immer noch die sogenannte dialektische Theologie Karl Barths und seiner Schüler: Gott offenbart sich im Wort in unsere Wirklichkeit hinein und sprengt sie damit auf. Aber "Gott bleibt Gott", der ganze Vorgang muß also notwendigerweise unanschaulich bleiben. Deus dixit, doch 'anschaulich' ist nur der Prediger des Wortes, der diesen Vorgang beschwört und damit, ob er will oder nicht, ein Stück weit Gottes Stelle einnimmt. Eine solche Theologie bzw. eine solche Predigt muß deduktiv vorgehen, im Gegensatz zum induktiven Ansatz der empirischen Theologie. Ich meine, auf deduktive Weise kann die Inkarnation Gottes in ihrer Dialektik von Verborgensein und Offenbarwerden nicht wirklich ernst genommen werden. Auf die seelsorgerische Situation bezogen, wird eine Theologie von oben dazu neigen, die Situation unter eine Norm oder unter einen Auftrag von außerhalb, eben 'von oben' zu stellen, gewöhnlich Verkündigung bzw. Sündenvergebung. Norm oder Auftrag sollen in die Situation eingebracht werden, d.h. sie ist tendenziell nicht partnerschaftlich, sondern autoritär strukturiert und im ganzen fremdbestimmt. Gewissermaßen soll Gott erst nachträglich hinzukommen. Das ist in der konkreten seelsorgerlichen Situation natürlich nicht leicht zu verwirklichen und dem Gegenüber

aus der Weite der menschlichen Selbstinterpretation und des Wissens über sich selbst die (Heideggersche) Existentialphilosophie als allein maßgeblich herausgegriffen. Damit ist das praktische Erkenntnisinteresse der Existentialtheologie und der ihr folgenden Hermeneutik eingeschränkt auf weltlose, ungreifbare, völlig verinnertlichte Bewegungen im menschlichen Selbstverständnis, eben die "eschatologische Existenz" des Christen. Demgegenüber folgert Habermas (ebd., im Anschluß an Gadamers "Wahrheit und Methode") aus dem hermeneutischen Zirkel von Tradition und Situation, "daß die hermeneutische Forschung die Wirklichkeit unter dem leitenden Interesse an der Erhaltung und der Erweiterung der Intersubjektivität möglicher Verständigung erschließt. Sinn-verstehen richtet sich seiner Struktur nach auf möglichen Konsensus von Handelnden im Rahmen eines tradierten Selbstverständnisses." Dies bezeichnet Habermas als das praktische Erkenntnisinteresse der historisch-hermeneutischen Wissenschaften. Es steht dem technischen Erkenntnisinteresse der empirisch-analytischen Wissenschaften (nämlich an der technischen Verfügung über vergegenständlichte Prozesse) ebenso gegenüber wie dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse der kritischen Wissenschaften (z.B. der Psychoanalyse) und der Philosophie (z.B. der Ideologiekritik). Zum Ganzen vgl. Habermas 1968 a, 155 ff., 1968 passim (bes. 352 f., Anm. 117). 33 Für das Recht dieser zugegeben etwas groben Unterscheidung zum Verständnis der neueren Theologie seit dem 19. Jahrhundert tritt zuletzt P. Cornehl ein (1981, 36 f.).

1.4. Das Propriumsproblem

17

einsichtig zu machen. Die dezidierte Unvermitteltheit, mit der es dann doch geschieht, hat die hier in Rede stehende Schule geradezu zum Konstitutivum rechter Theologie erhoben. Erinnert sei nur an die Rede von Gott als dem ganz Anderen, vom unendlichen qualitativen Abstand zwischen Gott und Mensch u.ä. "Nur wenn man den theologischen Fehler begeht, Gott erst einmal aus menschlichen Lebensvollzügen und menschlicher Situation herauszudefinieren, entsteht das übliche Vermittlungsproblem, weil dann jedenfalls theoretisch uneinsichtig bleiben muß, wie Gott jemals wieder in die Situation hineinzubekommen ist."34 Die fundamentaltheologischen Grundlagen einer empirischen Theologie sind bisher nur in Ansätzen entwickelt.35 Der Pastoralpsychologe als Theologe bleibt aber auf sie angewiesen, nicht zuletzt auch deshalb, weil er sich nicht in die - wohlfeile oder verteufelte - Ecke eines Spezialisten für Psycho-Technik oder religiöse Encountergruppen abschieben lassen will.

4.

Das Propriumsproblem: Zwischen Abkapselung und Fremdbestimmung

Die Propriumsfrage lebt von dem Bedürfnis nach Abgrenzung, Unterscheidung, Legitimation. So begegnet sie zum einen als Frage nach dem Proprium von Seelsorge und Beratung im Raum der Kirche gegenüber den vielfältigen entsprechenden Aktivitäten außerhalb der Kirche. Zum anderen begegnet sie als Frage nach dem Proprium pastoraler Seelsorge und Beratung gegenüber der entsprechenden Arbeit anderer Berufsgruppen, etwa

34

R. Preul 1979, 80. Diese Kritik trifft m.E. auch noch solche um Vermittlung bemühten Ansätze wie Gerhard Ebelings Hermeneutik des "Wortgeschehens". Die Brücke bleibt zu abstrakt, zu schmal für die Breite der conditio humana. - Im Blick auf die theologische Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert sprechen Marsch (1970, 38 ff., 109 ff.) und Dahm (1971, 131 ff.) vom differenztheologischen Ansatz. 35

Vgl. bes. A. Hollweg 1970, der die amerikanische Sozialpsychologie und Gruppendynamik aufarbeitet und intensiv auf die erkenntnistheoretische Grundproblematik eingeht (galileische vs. aristotelische Perspektive nach Kurt Lewin), und vor allem Eilert Herms' (1977) tiefgreifende Untersuchung über den "Radical Empiricism" des amerikanischen Religionspsychologen William James. Ferner, zugespitzt auf die praktische Theologie als Handlungswissenschaft, Y. Spiegel 1974, zugespitzt auf die pastorale Beratung als Vollzug theologischer Anthropologie E. Herms 1977 a, als Bewältigung von Lebenssituationen R. Preul 1979.

18

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

Diplompsychologen im kirchlichen Dienst. Beide Fragerichtungen haben häufig genug ihren Sitz im Leben in der kirchenpolitischen Praxis, z.B. wenn eine theologische Legitimation für kirchliche Beratungsstellen geliefert werden muß. In der aktuellen kirchenpolitischen Szene besteht also die Gefahr, daß die Beantwortung der Propriumsfrage und die theologische Argumentation an dieser Stelle einseitig ideologisch ausfällt.36 Ich meine dennoch, daß beide Propriumsfragen, die kirchliche und die pastorale, zuletzt theologische Fragen sind und darum auch als solche bearbeitet werden müssen. Im Alltag volkskirchlicher Kommunikation spiegelt sich das Problem des unterscheidend Christlichen so wider, wie die offenbar unvermeidliche Propriumsfrage häufig gestellt wird, nämlich gerade am Schluß: "Wo ist denn hier eigentlich das Theologische?" fragt man drängend und vorwurfsvoll oder eher erstaunt, vielleicht gar erleichtert. Doch irgendwie erscheint es weithin, nicht nur unter Theologen, immer noch als ehernes Gesetz, nach dem (als mehr oder weniger bedeutsam zugestandenen) Menschlichen müsse das Eigentliche wenigstens zum Schluß doch noch von oben kommen anstatt es im Menschlichen selbst zu suchen, aus ihm und seinen symbolischen Vermittlungen selbst heraus zu verstehen. Diese Richtung ist es, in der sich das Problem von Proprium und Vermittlung für eine Theologie von unten stellt. Sie begreift die Religion als Tiefendimension der menschlichen Wirklichkeit (Tillich), die ihren Ausdruck in immer neu zu interpretierenden und zu transzendierenden Symbolen findet. So verändern sich Sinn und Funktion der Propriumsfrage je nach der theologischen Grundposition, von der aus sie gestellt wird. Eine Theologie, die von dem Eingehen Gottes in alle Dimensionen unserer menschlichen Wirklichkeit ausgeht, wird nicht so stark das Bedürfnis haben, ein kirchliches oder pastorales Proprium hervorzuheben wie eine eher exklusive Offenbarungstheologie. Letztere dividiert die Welt und den Menschen tendenziell in zwei Teile auseinander, einen natürlichen, sündigen, unerlösten und einen übernatürlichen, gerechten, erlösten. Die Kriterien für diese Unterscheidung sind nach Meinung dieser theologischen Position im Prinzip

36

Als Gegenbeispiel vgl. das Votum von Mitarbeitern an den Berliner kirchlichen Beratungsstellen: Evangelische Beratung als seelsorgerlich-diakonischer Auftrag der Kirche (E.-A. Cram et al. 1977). Der Gefahr ideologischer Schlagworttheologie entgeht es weitgehend dadurch, daß es die praktische Arbeit selbst hinstellt, die Anmeldungen einer Woche, den Arbeitstag eines Beraters etc. Das spricht für sich.

1.4. Das Propriumsproblem

19

bekannt. Obwohl, ja vielleicht gerade weil das Heilswerk natürlich Gott allein vorbehalten bleiben soll, kommt es häufig zu einem theologisch zwar nicht zugestandenen, aber doch faktischen, in seinen Auswirkungen oft kruden Dualismus: Offenbarung und Geschichte, Kirche und Welt, Glaube und Erfahrung, Seelsorge und Psychotherapie. In den weiteren Bereich dieser eher dichotomischen oder additiven Und-Theologien gehören auch die Verdopplungsphänomene der sogenannten Genitiv-Theologien. Inkarnatorische Theologie37 geht vom 1. Artikel des Glaubensbekenntnisses aus. Die Schöpfung ist in unserem Erleben nicht eindeutig gut; sie bleibt ambivalent wie die Vaterimago des Kindes. Eindeutig gut ist sie nur als Grund unserer Hoffnung (Rom. 8,19ff.) und als Ziel der Verheißung (l.Kor. 13,12). Diese Ambivalenz muß um so stärker hervorgehoben werden, als eine Theologie von unten sonst in die Gefahr eines unterschiedslosen und darum abstrakten Pantheismus gerät. Der wiederum neigt dazu, urplötzlich in konkretistischen Aktionismus umzuschlagen, hat er nur einmal den eschatologischen Vorbehalt, die Realität der Ambivalenz, ausgesetzt. Dann schlägt Mystik in Terror um, negative Theologie in positive Politik, das Streben nach psychischer Integration in die 'beglückende' Unterwerfung unter eine totalitäre Heilslehre bzw. deren Führergestalt - dafür gibt es in Religion wie Psychotherapie genügend Beispiele. Dann wird die Inkarnation als einfache Umkehrung verstanden: Gott ist Mensch geworden, also soll der Mensch Gott sein oder Gott werden, "auf daß sich das irdische Leben schwenke in den Himmel" (Thomas Müntzer). Auf welche Weise und für wen das geschieht, weiß man dann plötzlich ganz genau. Doch diese konkretistische Konsequenz scheint nur der Spezialfall einer vulgarisierten mystisch-pantheistischen Theologie zu sein, die Gott mit der Wirklichkeit gleichsetzt, statt ihn in der Wirklichkeit am Werke zu sehen. "Gottes Sein ist im Werden" heißt doch: Gottes Reich ist im Werden, universal in Kosmos und Welt und individuell in jedem einzelnen Menschen. Doch wohlgemerkt in einem Prozeß, dessen Dialektik nicht nur eine zeitliche,

37

Neben H.-J. Thilo schlägt auch Josef Goldbrunner (1974) Inkarnation als Prinzip der Pastoraltheologie vor.

20

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

s o n d e r n auch e i n e e x i s t e n z i e l l e ist: "Christianus e n i m non e s t in f a c t o , s e d in fieri ... Igitur, qui Christianus est, n o n est Christianus" (Luther). 3 8 Jetzt k o m m t die zentrale Stellung d e s 2 . Artikels

zum Zuge, denn gerade

für e i n e T h e o l o g i e v o n unten ist e s w i c h t i g , daß d i e s e r b e s t i m m t e M e n s c h , J e s u s v o n Nazareth, der M e n s c h G o t t e s ist. D e r W e g Jesu k a n n

zwar

v e r s c h i e d e n , aber nicht b e l i e b i g interpretiert werden. A l l e christliche Praxis, a u c h d i e S e e l s o r g e , kann nur c h r i s t u s g e m ä ß e Praxis sein. S i e v e r w a n d e l t s i c h s e i n e m B i l d e an, der auf e i g e n t ü m l i c h e W e i s e z u g l e i c h Person u n d N i c h t P e r s o n ist. D i e s e s B i l d ist seit Ostern d a v o n b e s t i m m t , daß G o t t e s H e i l i m G e k r e u z i g t e n erscheint. D a m i t steht aller W e l t v o r A u g e n , q u o d res est 3 9 - i m m e r n o c h . D a s K r e u z ist "die bis z u m erfüllenden E s c h a t o n

hin

b l e i b e n d e Signatur seiner Herrschaft in der Welt". D a v o n ist d i e christusförmige

Praxis

bestimmt,

auch

die

seelsorgerliche:

schmerzliche

Selbst-

erkenntnis, T r e n n u n g s - und Trauerarbeit, d o c h gerade darin getragen v o n d e m e i n e n g r o ß e n Ja G o t t e s , das uns, uns v o r a u s l i e g e n d , erst M e n s c h e n sein läßt. 4 0 D a r u m k ö n n e n wir, über d i e B e j a h u n g in der V e r n e i n u n g hinaus, d a n n a u c h v o n V e r m i t t l u n g s - und Versöhnungsarbeit sprechen.

38

WA 38, 568, 37-39 (1538). - Ich ziehe das Denkmodell der Dialektik dem der Paradoxie o.ä. vor, weil der Ambivalenzkonflikt als so etwas wie die Grundform der menschlichen Konflikte (vgl. Anm. 24 sowie Scharfenberg 1976, 43) offenbar dialektisch strukturiert ist. So stehen z.B. Progression und Regression weder einfach gegeneinander noch in einem paradoxen Miteinander (Gleichzeitigkeit). Vielmehr können wir in einer in bestimmter Weise begrenzten und kontrollierten Regression selbst ein progressives Moment erblicken; es handelt sich also um etwas Drittes: progressive Regression, Regression im Dienste der Progression o.ä. (zu Regression - Progression bei Pfister vgl. Kap. 9.6). Eine solche dialektische Struktur ließe sich auch etwa für die Grundambivalenz von Phantasie und Realität oder für die klassische Gefühlsambivalenz von Liebe und Haß zeigen. 39 W A 1, 354; aus der 21. von Luthers Heidelberger Thesen. Das folg. Zitat Moltmann 1964, 143. 40

Das christologische Geheimnis unserer Menschlichkeit hat Karl Rahner einmal so ausgedrückt: "Wer sein Menschsein annimmt, der hat den Menschensohn angenommen, weil in ihm Gott den Menschen angenommen hat" (zit. n. Steffen 1973, 38). - Die Rechtfertigungslehre, einst formuliert im Horizont von Schuld und Gewissen, ist heute akzentual verschoben in den Horizont von Sinn, Selbstwert und Identität. Darum sprechen wir eher von Liebe und Annahme als von Gnade und Vergebung, wenn man so will: amor praeveniens, amor gratis data. Diese Problematik ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten breit diskutiert worden; ich kann das hier nicht aufnehmen. Ich meine aber, wir sollten diese Entwicklung im Zusammenhang gesellschaftlicher und epochaler Veränderungen als Kcapöi; unserer Zeit (im Sinne Tillichs) verstehen lernen.

1.4. Das Propriumsproblem

21

Doch auch so bleibt die christliche Lebenspraxis in vielem widersprüchlich, unfertig, unkenntlich, in ihr Gegenteil verwickelt. Der Geist (3. Artikel) tröstet und hilft zu Geduld (vgl. Rom. 8,25f.), aber auch dazu, die Geister zu prüfen und zu unterscheiden, wenn auch der Zirkel des Glaubens bestehen bleibt: "Der Herr ist der Geist" (2. Kor. 3,17). Paulus fährt allerdings fort: "Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit". Damit ist vielleicht doch ein Kriterium gegeben (vgl. Gal. 5,1). Freilich kann die libertas christiana - anschaulich im Bilde Jesu als Mensch der Freiheit und der Liebe - nicht von vornherein als kirchliches oder pastorales Proprium veranschlagt werden. Wo immer die christliche Freiheit aufleuchtet, wo immer die christliche Liebe gelebt wird, da ist der Geist des Herrn. Warum nicht auch im Rahmen kirchlicher und pastoraler Seelsorgearbeit? Warum nicht zuweilen gerade hier? Der Seelsorge in der kirchlichen Lebenswelt, zumal der pastoralen Seelsorge kann doch nur an Freiheit und Liebe gelegen sein, jetzt verstanden als die herrliche Freiheit der Kinder Gottes und als die Liebe, die in Christus erschienen ist. Wir können auch von der autonomen Mündigkeit sprechen, die recht verstanden eine theonome ist, und von der Beziehungsfähigkeit, die zur christlichen Liebe gehört. So können wir uns dem Proprium nähern, indem wir es nicht exklusiv, sondern gleichsam intentional verstehen: Christliche Seelsorge klammert die Tiefendimension der Wirklichkeit nicht aus, auch nicht in den von der vermarkteten Alltagspsychologie beanspruchten human relations. Sie ist in besonderer Weise offen für die Frage nach dem, was uns unbedingt angeht, wie Tillich die Glaubensfrage formuliert.41 Sie ist sensibel für die Frage nach dem Sinn, auch dem Sinn des Leidens, und nach dem Grund unserer Angst unter den Bedingungen der Existenz (Tillich). Sie hält die Frage nach dem Heil offen, nach dem Ziel unserer Wünsche und unseres Wissens, nach dem Grund unserer Hoffnung. Sie geht ein auf die Suche nach 'Werten' und 'Idealen', nach normativer Orientierung. Sie bleibt dem Zusammenhang zwischen Konflikt und Symbol auf der Spur und fragt dabei nach der Bedeutung der christlichen Symbole. Dies alles hat Dietrich Stollberg, nur ausdrücklicher an der lutherischen Rechtfertigungslehre orientiert, mit "Kontext der Kirche" gemeint, als er die Propriumsfrage einmal mit der etwas mißverständlichen und allzu bündigen Formel beantwortete: "Seelsorge

41

Tillich 1956, 156 f.; 1961, 9 ff. u.ö.

22

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

ist Psychotherapie im kirchlichen Kontext." 42 Das Verdienst dieser These ist es zunächst, pragmatisch auf die Psychotherapie als die der Seelsorge zuzuordnende Praxistheorie hinzuweisen, ebenso auf die soziologischen und sozialpsychologischen Rahmenbedingungen der kirchlichen Seelsorge, bis hin zu der enormen, historisch und symbolisch aufgeladenen Bedeutung der pastoralen Rolle. Doch "Kontext" meint eben weitaus mehr - ich möchte am liebsten von intentionaler Christlichkeit sprechen -, so wie auf der anderen Seite "Psychotherapie" nicht einfach als fertiges Bündel von Methoden und Techniken übernommen werden kann, sondern natürlich paitora/psychologisch rezipiert und theologisch interpretiert werden muß. 43 Nur durch solche inhaltliche Vermittlungsarbeit kann der pastoralpsychologische Seelsorger seine Identität gewinnen. In der s e e l s o r g e r l i c h e n Praxis kann d i e Christlichkeit e i n f a c h

implizit

' g e s c h e h e n ' , in der Art der B e z i e h u n g , d i e sich z w i s c h e n d e m S e e l s o r g e r u n d d e m K l i e n t e n herstellt. D i e Orientierungsmarken dieser B e z i e h u n g sind w i e d e r u m Freiheit u n d L i e b e . E t w a s d a v o n kann auch explizit

w e r d e n in

verbaler s y m b o l i s c h e r K o m m u n i k a t i o n und in s y m b o l i s c h e r H a n d l u n g , in e i n m a l i g e r s z e n i s c h e r V e r d i c h t u n g oder in e i n e m Ritual. 4 4 Ich

meine,

alle

seelsorgerliche

Arbeit ruht auf

zwei

Säulen,

der

D y n a m i k der interpersonalen B e z i e h u n g und der r e l i g i ö s e n S y m b o l i k . S i e v e r h a l t e n sich zueinander w i e Standbein und Spielbein. W e n n d i e Arbeit in

42

Stollberg 1972, 33; vgl. ebd. 63 und ders. 1978, 29. Zur Kritik vgl. Scharfenberg 1976, 39. - Stollberg (bes. 1978, 36) hat sich immer wieder sehr engagiert, wenn auch für mich selten überzeugend, bemüht, die Seelsorgetheorie in den Zusammenhang der Schöpfungslehre und der Rechtfertigungslehre zu stellen. So gehört für ihn das generelle Proprium der Seelsorge in die Dimension der Schöpfung (Gesetz), das spezifische Proprium in die Dimension der Erlösung (Evangelium). 43 Je weniger dies geschieht, desto eher wird die religiöse Thematik in der Psychotherapie selbst verhandelt. Das ist deutlich an den psychotherapeutischen Konzeptionen und Diskussionen der 50er Jahre abzulesen, einer Zeit, in der die herrschende Theologie einschließlich der Theologie der Seelsorge bestrebt war, sich mit ihrem opus proprium von der Psychotherapie als opus alienum, als weltlichem Geschäft abzugrenzen. Als repräsentativ für die Psychotherapie dieser Jahre vgl. den Sammelband von Arie Sborowitz (1960), ferner die materialreiche Untersuchung von Peter Lüssi (1979, viele Fallbeispiele ab 181 ff.). 44

Der Einfachheit halber zitiere ich Scharfenbergs kürzeste Symboldefinition (1978, 133): "Unter Symbol sei ... ein mehrgliedriger, mehrdeutiger Ausdruck von Konflikterfahrungen verstanden, der sich in Gestalt von symbolhaften Vorstellungen, Symbolhandlungen, Symbolgestalten und Symbolgeschichten niederschlagen kann." Von den wichtigsten Bestimmungen des Symbolbegriffs (vgl. dazu bes. Scharfenberg/Kämpfer 1980) seien ergänzend genannt: Anschaulichkeit, hohe affektive Besetzung, öffentliche Kommunizierbarkeit, (häufige) Un- bzw. Vorbewußtheit wichtiger Bedeutungsebenen. - Nach der obigen Definition fährt Scharfenberg fort: "Unter diesem Aspekt erscheint ohne Zweifel die christliche Überlieferung als das wirkungsmächtigste Symbolsystem unserer geschichtlichen Erfahrung."

1.4. Das Propriumsproblem

23

und mit der Beziehung die conditio sine qua non, also das Standbein jeder Seelsorge ist, so kann der Umgang mit den christlichen Symbolen immer mehr zu ihrem Spielbein werden. Neben Beziehung und Symbol ist der dritte Hauptfaktor im dynamischen Kraftfeld der Seelsorge natürlich der Konflikt (des Klienten), der ja auch auf irgendeine Weise zum Anlaß des Seelsorgegesprächs wird. So geschieht die seelsorgerliche Arbeit im Spannungsfeld von Konflikt, Beziehung und Symbol. Über die menschlichen Grundkonflikte, über die Genese und Dynamik der interpersonalen Beziehung (Übertragung etc.) und über die Symbolisierung als spezifischen Ausdruck innerer Erfahrungen (wenn auch hier, zumal bei den religiösen Symbolen, der Weiterführung am bedürftigsten) stellt die Psychologie, insbesondere die Psychoanalyse, einen großen Schatz an Erfahrungswissen und an Theoriemodellen bereit. Daß es in Beratung und Seelsorge um ein "Problem" geht, also um einen irgendwie mitgebrachten Konflikt, scheint der Allgemeinheit selbstverständlicher zu sein, als daß die Arbeit daran im Medium von Beziehung und Symbol stattfindet. In meiner Sicht kann die Seelsorge in diesem dynamischen Dreieck zureichend beschrieben werden. Der Faktor Konflikt scheint mir jedoch auf einer anderen Ebene zu liegen als die beiden übrigen. Es ist zunächst der (intrapsychische, interpersonale, soziale) Konflikt des Klienten. Er bringt ihn mit, und sei es in der Maske eines "ganz anderen" aktuellen Problems. Damit liegt er gewissermaßen der seelsorgerlichen Situation zugrunde, konstituiert ihr Spannungsfeld deutlicher, als dies beispielsweise durch persönliche Eigenheiten des Seelsorgers geschieht. Der Konflikt ist gleichsam eher Materie als Form und bestimmt so die anderen beiden Faktoren wesentlich. Aber natürlich sind alle drei im Kraftfeld der Seelsorge aufs engste miteinander verschränkt. 45 Um nur die, wie gesagt, bestimmendste Richtung zu nennen: Der Konflikt wird sich in bestimmter Weise in der Art und Dynamik der Beziehung widerspiegeln (auch dann, wenn es sich nicht um einen typischen Beziehungskonflikt handelt), und er wird seinen Ausdruck in Symbolen finden, in verbaler und szenischer Symbolisierung.

Von evangelikaler und, mit etwas anderen Motiven, auch von neoorthodoxer Seite (H. Tacke46) wird die Rezeption des psychologischen Wissens und die Arbeit mit der Beziehung (Psychodynamik), besonders mit GruppenBeziehungen (Gruppendynamik), als Psychotechnik diffamiert. Dagegen wird antithetisch das "Evangelium" gesetzt, das als Botschaft in die seelsorgerliche Situation eingebracht wird, in autoritativer Einweg-Kommunikation und

45 46

Viele Beispiele dafür bei Argelander 1973, bes. 51, 91.

Tacke 1975. Zur Kritik vgl. Neidhart 1977 a, 323 ff. - Pfister würde Tackes Motto "Glaubenshilfe als Lebenshilfe" (Titel) begrüßen, aber viel deutlicher korrelativ-wechselseitig verstehen. Bei Tacke läuft es letzten Endes doch auf eine einseitig-abhängige Verhältnisbestimmung hinaus, vgl. z.B. 32.

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

24

inhaltlich meist im Sinne eines bestimmten Kanons im Kanon. Dieser Kanon hat eine kognitiv-normative Schlagseite in Richtung Weisung und Gebot47, funktional gesehen sogar dann, wenn inhaltlich gerade der Zuspruch der Vergebung vermittelt werden soll. "Psychotechnik" darf allenfalls als Hilfsmethode den Weg dazu bereiten helfen. Am besten aber verzichtet man ganz auf sie und ersetzt sie durch eine "biblische Seelsorge", wie sie schon seit längerem aus Amerika erfolgreiche Schützenhilfe erhält (Jay E. Adams). Hier gewinnt der Seelsorger seine gesamte Kompetenz48 vorgeblich allein aus der Bibel: Technik, Methode, Theorie. Gerade die ausschließliche Orientierung dieser Seelsorge am Verhalten und an der Verhaltensänderung, gewöhnlich mit Hilfe von biblischen "Ermahnungen" und "Weisungen"49, weist aber darauf hin, daß sie viel manipulativer und 'technischer' ist als die von ihr verworfene psychotechnische Seelsorge. Uneingestanden, häufig wohl gänzlich bewußtlos, benutzt die sogenannte biblische Seelsorge die Bibel im Sinne einer bestimmten psychologischen Richtung, nämlich eines massiven Behaviourismus, mit der ihm entsprechenden Methode der Verhaltensmodifikation (Verhaltenstherapie).50 Ich meine, nur in der konkreten Arbeit mit Fallbeispielen läßt sich ein Gegengewicht bilden gegen die naive und zugleich polemisch verwandte

47 Entsprechend hat auch die Pastoralpsychologie eine Art Kanon herausgebildet. Er hat, grob vereinfacht, eine affektiv-interaktionelle Schlagseite in Richtung (helfender) Beziehung. Es handelt sich meist um synoptische Geschichten über Jesu Hinwendung zu den Kranken und zu den Zöllnern und Sündern, als klassische Texte etwa die Heilung des Gelähmten Mk. 2,lff. (schon für Pfister ein locus classicus! vgl. Kap. 14.3) oder die Begegnung mit der Ehebrecherin und den Schriftgelehrten Joh. 8,53 ff. Dem stehen auf evangelikaler Seite die zehn Gebote, die Spruch Weisheit, Jesu Bußruf und seine Gerichtsworte gegenüber. Vgl. Nase 1978, 393. 48

J.E. Adams' erstes großes Erfolgsbuch erschien 1970 in den USA mit dem Titel "Competent to Counsel", deutsch als "Befreiende Seelsorge" in 4. Auflage 1977 (Gießen/ Basel). In einem ganz anderen Sinne spricht Pfister schon 1918 von der notwendigen "Kompetenz" des pastoralen Seelsorgers, nämlich zur analytischen Bearbeitung seelischer Konflikte (NZ 6). 49

Die neutestamentlichen Zentralstellen für vou9ecrta bestimmen Adams' gesamtes Schriftverständnis: l.Kor. 10,11; Eph. 6,4; Titus 3,10. Der autoritäre Zug paßt gut zu unserer außengelenkten Mediengesellschaft. Auch wenn heute eher erlebnisorientierte Therapieangebote im gesellschaftlichen Trend liegen, den autoritären Zug können sie nicht leugnen (Schulhäupter, Gurus etc.). 50 Vgl. Abschn. 2. Zum Nachweis im einzelnen vgl. Darstellung und Kritik bei Neidhart 1977 a, 319 ff., Scharfenberg 1978, 126 ff.

1.4. Das Propriumsproblem

25

Entgegensetzung von Evangelium und Psychotechnik.51 So läßt sich am besten das Mit- und Ineinander von Methode und Person, von Technik und Glaube zeigen. Genau besehen schließen die pastoralpsychologischen Methoden die Person des Seelsorgers nicht aus, sondern ein. Gerade darin besteht ja die Methode, nämlich daß dieser Einbezug der Person mit ihrer Eigenart - und dazu gehört wesentlich ihr Glaube und Unglaube - nicht unbewußt und unreflektiert geschieht, sondern so bewußt und reflektiert, wie es möglich ist. So kann in der Arbeit mit einem seelsorgerlichen Gesprächsprotokoll oder im freien Gespräch einer Fallbesprechungsgruppe deutlich werden: Der Seelsorger (bzw. die Seelsorgerin) geht auf versteckt signalisierte Gefühle des Klienten ein. Oder: der Seelsorger stellt seine Wahrnehmung ein auf symbolisch-szenisch mehr oder weniger verhüllte unbewußte und vorbewußte Prozesse. Beides hat Methode und kann bis zu einem bestimmten Grad gelernt und geübt werden. Und doch ist der Seelsorger zugleich als Person und als Glaubender im Spiel, je nach der Situation auch als Pastor oder Theologe. Die Art und Weise dieses Im-Spiel-Seins kann verschieden beschrieben werden und wird auch in verschiedenen pastoralpsychologischen Arbeitsfeldern verschieden gesehen. In dem einen Seelsorgegespräch ist es vielleicht die Art der Beziehung, die sich herstellt, der Versuch, den Klienten so anzunehmen, wie er ist, auch mit seinen abgelehnten negativen Impulsen. In dem anderen Gespräch ist der Glaube des Seelsorgers vielleicht so im Spiel, daß er nicht vor Konflikten ausweicht, weder beim Klienten selbst noch in der Beziehung zu ihm, sondern im Gegenteil die Konflikte gerade herausarbeitet und gegebenenfalls aushält. Dazu gehören Vertrauen und Glaubens-Mut.

31

Zu dieser These im einzelnen Nase 1978. - Die Figur dieser Kritik hat eine lange Tradition. 1914 sah sie so aus: Nicht die Methode, sondern die (christliche) Persönlichkeit des Seelsorgers schafft den Erfolg. Diese These des Psychotherapeuten J.H. Schultz (der später das autogene Training entwickelte!) wird in den 20er Jahren von dem Theologen F. Delekat so modifiziert, daß er die Tiefgründigkeit und Wirksamkeit der Methode anerkennt, sie aber gerade darum am liebsten nur von verantwortlichen christlichen Psychoanalytikern ausüben lassen will [Kap. 8, Anm. 91]! Gegen die angeführte These von Schultz in der Theol. Literaturzeitung 1914 hält Pfister am gleichen Ort sein "einfaches" Gegenargument (Bibl. Nr. 54, Sp. 382): Derselbe Seelsorger hat einfach viel mehr Erfolg, nachdem er die psychoanalytische Technik erlernt und durch Supervision und Lektüre vertieft hat. Das ist ja seine eigene Erfahrung.

26

Identitätsprobleme des Pastoralpsychologen

Vielleicht ist der Glaube auch so im Spiel, daß der Seelsorger biblische Symbole oder Geschichten in das Gespräch einbringt bzw. heraus-arbeitet als Konfliktausdruck, als Identifikations- oder Bearbeitungsangebot. Dabei sollte die biblische Überlieferung "mit der seelsorgerlichen Situation so zusammengeschlossen werden, daß ein gemeinsamer hermeneutischer Schlüssel für beide Verstehensvorgänge benutzt werden kann" 52 Die Relevanz der Bibel erweist sich so aus der seelsorgerlichen Situation heraus, nicht in sie hinein. Hinzu kommt die Erfahrung, daß biblische Texte meist über ihre reflektierte situative Bedeutung hinaus eine starke Eigendynamik entfalten. Mag auch das Proprium manchmal in der expliziten religiösen Symbolisierung greifbarer erscheinen als in Konflikt und Beziehung, so gilt es doch für das Verständnis der ganzen seelsorgerlichen Situation. Als christliches läßt sich das kirchliche und pastorale Proprium der Seelsorge strenggenommen nur in einer Interpretation aus der Perspektive des Glaubens 'festhalten'. Coram deo werden Seelsorger und Klient wie auch ihre Beziehung je in ihrer Einzigartigkeit und ihrem unendlichen Wert gesehen. Zuletzt ist das Proprium der christlichen Seelsorge dann nicht weniger als die situationsspezifische Auslegung der Erfahrung und Wahrheit des Glaubens, daß jeder einzelne unmittelbar ist zu Gott und gerade darin verbunden mit dem anderen.

52

Scharfenberg 1978, 133.

Kapitel 2 Der Hindergrund: Praktische Theologie und pastorale Seelsorge auf der Suche nach Wirklichkeit 1.

Am Beginn einer neuen Epoche "Wenn die eigentümliche Signatur, welche der Bewegung unseres Volksgeistes durch die Epochenjahre der letzten Zeitenwende aufgeprägt ist, unbestritten darin liegt, daß der behaglichen Doppelheit des realen und idealen Lebens in der dahinter liegenden Stufe, welche das letztere als ein Gebiet ungestörten geistigen Genusses seinen Besitzern überließ, ein Ende gemacht ist; daß die gewaltige, oft unbarmherzige Realität auf allen Punkten hereinbricht, und entweder von der Idealität erfaßt und durchdrungen sein will, oder sie zu zertreten droht, so ist es naturgemäß, daß die kräftigste Gegenäußerung auf kirchlichem Gebiete sich da zur Geltung bringen muß, wo die Durchdringung der Wirklichkeit mit der Idee die eigentliche Lebensfrage der wissenschaftlichen Aufgabe ist: in der praktischen Theologie."

So schrieb Paul Kleinen 1880 in dem programmatischen Aufsatz "Zur praktischen Theologie" in den 'Theologischen Studien und Kritiken'. Wirklichkeit hieß das Stichwort der neuen Epoche. Die "wuchtenden Realitäten"1, die man jetzt allenthalben andrängen sah, waren einmal die Konsequenzen aus den politischen Ereignissen von 1870/71, nicht zuletzt viele neue kirchliche "Verfassungsbauten".2 Staat und Kirche traten weiter auseinander (Zivilehe!), wenn auch allmählich und regional wie konfessionell unterschiedlich.3 Vor allem aber waren es die geistigen und sozialen Umwälzungen der Zeit, die Erschließung der Natur durch die Naturwissenschaften und die sich daran anschließende Technik, die zu einem Siegeszug der "großen Industrie" (Marx) ohnegleichen führten und damit zu Veränderungen der Lebensbedingungen und Lebenswelten breiter Massen.

1 Kleinert 1880, 276, das vorige Zitat 274 f. - Es ist die Zeit, in der die "Realien" des Lebens in der Realschule gelernt werden können. 2

Ebd. - Für die eigene pastorale Praxis weist Alexander Schweizer (1875, VI) auf die überall in Fluß geratenen "Pastoralordnungen" hin, die es in der "Pastoraltheorie" zu berücksichtigen gilt. Ähnlich Riggenbach 1898, 8 f. 3

Vgl. z.B. Schweizer (1875, III f.), der in dieser Entwicklung bessere Chancen für die Seelsorge als "pfarramtliche Pflege des inneren Lebens der Gemeindeglieder" sieht (ebd. V).

28

Praktische Theologie und Wirklichkeit

Die Praktische Theologie antwortete auf diese Herausforderungen damit, daß sie nicht mehr deduktiv von einer "Idee" ausgehen wollte, auch nicht von der Idee des "Kirchendienstes", um daraus ein "System" zu bilden. So waren die großen spekulativen Gesamtentwürfe der Praktischen Theologie bislang in der Regel vorgegangen. Stattdessen sollte nun induktiv bei der Wirklichkeit selbst begonnen werden. Die Praktische Theologie forderte also eine deskriptive und empirisch-kritische Methodik.4 Dies klingt bereits bei Kleinert an, wenn er die Praktische Theologie als angewandte Ethik im Gegenüber zur reinen Ethik bestimmt, "die es allenthalben mit dem christlichen Ideal zu tun hat." Die Ethik soll angewandt werden "auf das Subjekt der empirische Kirchengestalt", näher bestimmt als die Gemeinde, und zwar die konkrete, reale Einzelgemeinde.5 Und dazu muß die Gemeinde in ihrer Bedingungs- und Erscheinungsvielfalt wissenschaftlich zureichend erfaßt und beschrieben werden. So reagierte die Praktische Theologie auf das Bewußtsein einer Epochenschwelle mit einer Verwissenschaftlichung des Faches. Man wollte auch nicht bei der Darstellung der Vorgeschichte und Geschichte des Faches bzw. seiner "Prinzipien" stehen bleiben, gleichsam bei der historischen Vermittlung zwischen Idee und Wirklichkeit, sondern wirklich zum "Leben" selbst, zur "Praxis", zu den "Tatsachen" vordringen.6 Zugleich sollte so die Praktische Theologie endlich den ihr gebührenden Platz im Kanon der wissenschaftlich-theologischen Disziplinen erhalten, stand sie doch als "Pastoraltheologie" immer im wissenschaftlichen Abseits. Mit diesem Programm waren hohe Ansprüche verbunden. 1879 gründeten H. Bassermann und R. Ehlers die "Zeitschrift für Praktische Theologie". Ihre Geschichte zeigt sehr schön die Vielfalt und die Chancen, aber auch die Problematik und die Grenzen des neuen Aufschwungs. Wolfgang Steck hat die drei Abschnitte in der Geschichte der Zeitschrift als drei exemplarische Modelle der Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Wahrnehmung kirchlicher Praxis bezeichnet: "die Verwissenschaftlichung des kirchlichen und theologischen Bewußtseins, die empirische Analyse kirchlicher Praxis und die Entfaltung einer zugleich theologischen

4

Vgl. Birnbaum 1963, 121.

5

Kleinert 1880, 285, 291.

6

Vgl. Birnbaum 1963, 165 f.

2.2. Verwissenschaftlichung als Programm

29

wie kirchenpolitischen Position".7 Es erscheint mir einleuchtend, die folgende Darstellung in lockerer Weise nach diesen zugleich chronologischen wie sachlichen Abschnitten zu gliedern [Abschnitte 2 bis 4].

2.

Verwissenschaftlichung als Programm

Die erste Phase bis zur Jahrhundertwende ist vor allem vom Bestreben nach wissenschaftlicher Solidität und Reputation des Faches bestimmt. Als Teildisziplin der theologischen Wissenschaft soll die Praktische Theologie eine Brücke zum kirchlich-religiösen Leben hinüber bilden, etwa durch "positive", hilfreiche Arbeit in der Theologie. Denn der weitgehende Sieg der historischen über die dogmatische Methode (Troeltsch) bestimmt und erregt die damalige Theologie ja sehr stark. Doch die praktisch-theologische "Mittlerrolle zum gegenwärtigen Leben"8 bleibt weitgehend noch Programm. Denn um "das Ganze des in der Gegenwart pulsierenden kirchlichen Lebens" wirklich wissenschaftlich wahrzunehmen, darf die Praktische Theologie sowohl "die ganzen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nicht ignorieren, ebensowenig wie die tieferen Verhältnisse in der menschlichen Seele überhaupt" und in der Volksseele.9 So präzisiert Bassermann 1896 in einer akademischen Rede die praktisch-theologische Aufgabe und fordert damit eigentlich nicht weniger als die Rezeption fast der gesamten Humanwissenschaften, schwerpunktmäßig der Sozialwissenschaften im weiteren Sinne und der Psychologie. So von der Fülle der "ihr von überall her zufließenden Materialien" fast erdrückt und von der Anforderung, sie mit den ihr von der übrigen Theologie dargebotenen Materialien "fleißig zusammenzuarbeiten", schier überfordert, verblieb ein Gutteil der praktisch-theologischen Arbeit bei Programmen, Vorschlägen und "Grundlegungen". Nach Birnbaum sind ab 1890 etwa sechzig Prozent aller Äußerungen zum Gesamtproblem der praktischen Theologie Rektoratsreden; er schließt daraus auf ein apologetisches Bedürfnis.10 Andererseits ist Bomemanns Urteil typisch für die vielen

7

Steck 1981, 18.

8

Vgl. Birnbaum 1963, 128 f.

9

Bassermann 1896, 41/ 1972, 196.

10

Birnbaum 1963, 121, vgl. 122 ff., 137.

30

Praktische Theologie und Wirklichkeit

kritischen Stimmen von der pastoralen Praxis her: "Die praktische Theologie ist zur unpraktischen Theologie geworden."11 So wurde der Trend zur Verwissenschaftlichung von beiden Seiten her in Frage gestellt. 1890 erscheinen noch einmal zwei große Lehrbücher der praktischen Theologie, nach Birnbaum die dicksten des Jahrhunderts, nämlich die von E.C. Achelis und von A. Krauß.12 Der liberale Krauß kommt Schleiermachers Konzept der praktischen Theologie als Synthese von wissenschaftlicher Reflexion und praktischem Erfahrungswissen sehr nahe; er kann sich freilich gegenüber Achelis nicht durchsetzen. 13 Dessen Riesenwerk erscheint 1911, in seinem letzten Lebensjahr, in dritter Auflage, nunmehr auf drei Bände mit über 1.500 Seiten angeschwollen, und beherrscht den Markt bis zum großen Einschnitt nach dem 1. Weltkrieg. Es ist randvoll gefüllt mit historischem Material, mit einer Unmenge von theologischen Bezügen und kirchenkundlichen Informationen und nicht zuletzt mit praktischen Winken für das PfaiTamt, das Ganze gegliedert nach einer krausen und zum Teil gezwungenen Systematik. Dieser Charakter des Werkes kommt in dem gerafften "Grundriß" der Praktischen Theologie von 1893, 1912 in sechster Auflage erschienen, gleichsam verdichtet zum Ausdruck; er wirkt auf mich wie eine Art Heussi für praktische Theologen. Immerhin ist damit aber das neue historische wie sachliche Problembewußtsein und die erstarkte Position der praktischen Theologie insgesamt dokumentiert. Mit vielen praktischen Hinweisen sind denn doch Elemente der Pastoraltheologie bzw. der prudentia pastoralis in das Werk aufgenommen. Dem Zug der Zeit folgend, schätzt Achelis diese ansonsten so ein wie bisher die Apokryphen, nämlich als "vulgo Rumpelkammer, in der alles untergebracht werden kann, was zwar nicht den Disziplinen der Praktischen

11 Bornemann 1886, 85. So auch Blau (1912, III), der im übrigen meint, die praktische Theologie im eigentlichsten Sinne des Wortes sei immer erst die Frucht der pastoraltheologischen Praxis. Ähnlich urteilt Bülck (1921, 81) über den akademisch-wissenschaftlichen Betrieb der Praktischen Theologie bei Lüdemann und Kawerau, den Vorgängern Otto Baumgartens in Kiel: "Diese praktische Theologie war eigentlich ein Widerspruch in sich selbst: weder war sie trotz aller Bemühungen eine einheitliche Wissenschaft, noch war sie praktisch. Sie wollte der Wissenschaft und der Praxis Genüge tun, genügte aber in Wahrheit beiden nicht". Vgl. auch Büchseis (1907, 40 f.) bewegte Klage über die theologische Ausbildung im allgemeinen und die praktische Theologie im besonderen. 12 Birnbaum 1963, 106. Danach erschienen beide am selben Tag im selben Verlag in Freiburg. Der zweite Band des Werkes von Krauß wurde nach dessen Tod 1893 von H. Holtzmann herausgegeben. Einen Auszug daraus veröffentlichte Friedrich Niebergall 1904 als "Pastoraltheorie". 13

Vgl. Steck 1974, 44 f.; Birnbaum 1963, 118.

2.2. Verwissenschaftlichung als Programm

31

Theologie gleich zu achten, aber doch nützlich und gut und zu lesen ist".14 Die selbstbewußte Abdrängung der Pastoraltheologie rächt sich aber auf dem Fuße. Bissig führt Birnbaum (aus einem ganz anderen Interesse) an, wie Achelis' Theorie von der Heiligkeit der Kirche schließlich über die Homiletik mit dem Ratschlag an den Prediger endet, "taglich mit chlorsaurem Kali zu gurgeln, bei Heiserkeit Zucker, Brotrinde oder Ei auszuprobieren, mein Präservativmittel ist stark verdünnter Essig oder ein Schluck sauren Weins". 15 Offensichtlich erfordert der Bezug auf den traditionellen Pfarrberuf kategorisch eine Form der Weitergabe von Erfahrungswissen und beruflicher Weisheit, die sich einfach von selber durchsetzt. "Die Wissenschaft ist nicht die einzige Form der Strukturierung von Wissen". 16

So besitzt Achelis' Werk zwar einen enormen Nutzungswert für die universitäre und kirchliche Praxis, dafür aber so gut wie keinerlei Bedeutungswert für den Fortschritt der praktisch-theologischen Wissenschaft.17 Denn weder steht es noch in der Reihe der großen spekulativ-systematischen Gesamtentwürfe der praktischen Theologie, noch führt es die neue empirische Wendung der praktischen Theologie irgendwie eigenständig und kritisch weiter. Achelis fährt einfach den gegebenen Stoff in eine einzige große Scheuer ein. Es sind aber noch ganz andere Stoffmassen, die auf die praktische Theologie im neueren Verständnis zukommen und sowohl deskriptiv wie kritisch aufgearbeitet werden müssen, nämlich die "gesamten Lebensverhältnisse und Interessen, teils Produkt, teils mitwirkende Ursache sozialer und ökonomischer Situationen" der Menschen. Darum ist "der Seelsorger unserer Tage" besorgt, wie Otto Baumgarten in seiner gleichnamigen Schrift von 1891 ausführt.18 Birnbaum beklagt die Tatsache, daß nach Achelis (1890) fast drei Jahrzehnte keine einzige große schöpferisch neue Darstellung des Gesamtproblems der praktischen Theologie erschienen sei und meint, "der Disziplin [sei] im Ganzen in der eisigen Luft der neuen akademischen Ära der Atem

14

Achelis III, 2 f.

15

Birnbaum 1963, 117; vgl. auch Achelis' Grundriß von 1912, 188.

16

Steck 1974, 29. Zur Pastoraltheologie s. Abschn. 6.

17

Die Begriffe Nutzungs- und Bedeutungswert stammen von dem Soziologen Fr. Tenbruck, vgl. dazu Steck 1981, 13, 15. 18

Baumgarten 1891, 19 (= Wintzer 42). Er zitiert damit aus einem vertraulichen Schreiben, das für die Mitarbeit an der Schriftenreihe "Evangelisch-soziale Zeitfragen" werben sollte (ebd. = Wintzer 41). Daß diese epochalen Forderungen gerade im Zusammenhang mit der kirchlich-pastoralen Aufgabe der Seelsorge erhoben werden, darin liegt die relative Berechtigung von Hans-Otto Wölbers These (1963,79), der Inbegriff der Seelsorge diene im Grunde immer wieder dazu, "das Defizit des kirchlichen Wirkens zu kennzeichnen und zu beheben".

32

Praktische Theologie und Wirklichkeit

ausgegangen". Dieses herbe Urteil ist nur aus seiner einseitigen Hochschätzung von Gesamtdarstellungen unter einer leitenden Idee zu verstehen; wertvolle Arbeiten in den Einzelfächern erkennt auch er an.19 Und gerade um Einzeluntersuchungen geht es ja den praktisch-theologischen Reformern, nur müssen sie mit der neuen empirischen Methodik erst einmal zurechtkommen. Empirisch-kritisch können wir sie darum allenfalls aus Gründen der Korrelation mit der historisch-kritischen Methode nennen.

3.

Empirische Erforschung des kirchlich-religiösen Lebens (religiöse Volkskunde und religiöse Psychologie)

Damit stehen wir am Beginn der zweiten Phase der "Zeitschrift für Praktische Theologie", in deren Entwicklung wir ja die Geschichte der praktischen Theologie widergespiegelt sehen wollen. Im Jahre 1901 übernimmt der Kieler Otto Baumgarten ihre Redaktion. Im ersten Artikel der "Monatsschrift für die kirchliche Praxis", wie sie jetzt heißt, beschreibt Paul Drews die religiöse Volkskunde als eine Aufgabe der praktischen Theologie. Was Bassermann, Baumgarten und andere bisher mehr gefordert als verwirklicht haben, soll nun in Angriff genommen werden, nämlich die wissenschaftliche Erforschung "des gegenwärtigen religiösen Lebens innerhalb und außerhalb der Landeskirchen", um dem künftigen Diener der Kirche "zur Kenntnis und zum Verständnis der wirklichen, konkreten religiösen und sittlichen Volkszustände (zu) verhelfen".20 Damit wird die praktische Theologie, wie Steck schreibt, primär "nicht mehr aus ihrem Zusammenhang mit der theologischen Wissenschaft begründet, sondern aus einer neuen Forschungsdisziplin". Die neue Forschung fußt auf einer umfassenden zeitgenössischen Kirchenkunde, geht aber dann darüber hinaus. "Der Bauer ist anders fromm als der Fabrikarbeiter, der Theologie anders als der Mediziner", schreibt

19 20

Birnbaum 1963, 121; vgl. 163 ff.

Drews 1901, 1/2 (= Wintzer 54/55). Mit dem ersten Satzteil zitiert Drews den Prospekt der Monatsschrift. - Das folg. Zitat Steck 1981, 17.

2.3. Religiöse Volkskunde und religiöse Psychologie

33

Drews.21 Darum muß die religiöse Volkskunde die verschiedenen Frömmigkeitsformen der gesellschaftlichen Gruppen im Zusammenhang ihrer verschiedenen Lebenswelten zu beschreiben und zu verstehen suchen.22 Die dazu verwandten Kategorien und Kriterien liegen auf verschiedenen Ebenen und gehen manchmal auch durcheinander: Beruf, Bildungsgrad, Stand, Klasse; am häufigsten geht man von dem groben Raster Land-KleinstadtGroßstadt aus.23 Doch gelingt es der neuen Forschung durchaus, viel soziale bzw. kirchlich-religiöse Realität einzufangen. So ist z.B. der "Atheismus" des gebildeten Bürgertums eben ein anderer als der Atheismus in der bewußt sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Die quasi-religiösen Rituale der letzteren treten zumal bei Trauerfeiern in scharfe Konkurrenz zu den hergebrachten kirchlichen Formen - ein großes Problem für viele Pastoren.24 Endlich wird es jetzt auch als Problem gesehen, daß der Pastor selbst einer bestimmten Schicht angehört, nicht nur in seiner Berufsstellung, sondern meist auch aufgrund seines Herkommens.25 Und selbst wenn er von 'unten' kommt - im "heiligen evangelischen Reich deutscher Nation"26 waren Offizier und Pfarrer die klassischen Aufstiegsberufe -, er leidet unter dem "Odium des gesamten Standes", wie Baumgarten bereits 1891 beklagt. Er gilt als der "Kapitalistenpastor", bestenfalls als "Bourgeoispastor", der als vaterländisch gesinnter Prediger und als moralisch verläßlicher Lehrer, eben

21

Drews 1901, 2 (= Wintzer 55). - Der Begriff Kirchenkunde stammt von Claus Harms 1835, vgl. dazu Drews, ebd. 8 (= Wintzer 60). Drews gibt ab 1902 eine Monographiensammlung "Evangelische Kirchenkunde" heraus. Schleiermacher spricht von "kirchlicher Statistik" (KD §§ 95 u. 232 ff.) und hält fest, "daß es eigentlich in der Kirche, wie sie ganz Gemeinschaft ist, nichts zu erkennen gibt, was nicht ein Teil ihres gesellschaftlichen Zustandes wäre" (§ 195). 22

Auch Pfister leistet dazu direkte Beiträge, z.B. mit seinem Artikel "Zwölf Fragen nach bäuerlicher Frömmigkeit und Sittlichkeit, beantwortet von einem Zürcher Bauern", 1905/06 niedergeschrieben, 1911 veröffentlicht. 23 Vgl. Niebergall II, 365 f. Bechtolsheimer (1926, 3) führt Differenzierungen wie Industrie-Dorf u.ä. ein. 24

Als typisches Beispiel vgl. die Fallskizze über "die rote Schleife" bei Bechtolsheimer, ebd. 98 ff. 25

"Die Mehrzahl der Geistlichen, hervorgegangen aus einer anderen Volksschicht und hindurchgegangen durch die gelehrte Bildung, blieb ... dem Volke fremd und das Volk ihr. Klagen darüber wurden aus dem Pfarrstand selbst laut" (Drews 1913, Sp. 1746). 26

So Adolf Stoecker nach der Kaiserproklamation 1871 (vgl. Dahm 1971, 24 ff.).

34

Praktische Theologie und Wirklichkeit

als Angehöriger der gebildeten Stände von diesen (zuweilen höchst ambivalent) geschätzt und benutzt wird.27 Der Pastor und Seelsorger soll aber für alle dasein. Wie Burger bereits 1884 feststellt, "leidet kein Teil des geistlichen Amtes so sehr wie die Seelsorge durch die moderne Entwicklung der sozialen Verhältnisse". Die einheitliche Sozialstruktur vieler Gemeinden löst sich auf, und in den rapide wachsenden Großstädten findet sich mancher Seelsorger plötzlich in einem Gemeindebezirk mit bis zu 20.000 Seelen wieder. Da kann die Landgemeinde mit tausend Seelen nur zu leicht als erstrebenswerte Idylle erscheinen28, überschaubar und sozial meist einheitlich strukturiert. Die Meinung, der Landgeistliche könne mehr und besser wirken, zieht sich durch das ganze 19. Jahrhundert; auch Schleiermacher teilte sie.29 Dabei wird jedoch weder berücksichtigt, wie unkirchlich man auf dem 'platten Lande' häufig war, noch wird die Problematik des enormen sozialen Abstandes zwischen Pastor und Gemeindegliedern gebührend einbezogen. Diese Probleme gehen aber aus C. Büchseis weitverbreiteten "Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen" von 186130 ebenso deutlich hervor

27

Baumgarten 1891, 45, vgl. 49 f.; ders. 1931, 43. Er fügt hinzu, freilich werde die bessere Gesellschaft dem Stand immer wieder seine Herkunft abspüren ... (1891, 47). Vgl. dazu auch Wulf 1970, 23 f. - Das folg. Zitat Burger 1884, 33. 28

Zahlenangaben nach Dahm 1971, 29. H. Büchsei (in Blau 1912, 259) spricht für Hamburg von rd. 15.000, Jacobi (1929, 19) für das Berlin der 20er Jahre von 10.000 und mehr Seelen auf einen Pastor. - Pflster warnt vor dem Pfarrhausidyll als "jenem häßlichen Lockvogel", der mitunter die ungeeignetsten Leute zum Studium der Theologie reize (Bibl. Nr. 22, 127). Einen Eindruck vermittelt die lyrische Beschreibung der pfarrherrlichen Stube in Mörikes 'Altem Turmhahn'. 29

Vgl. Wintzer XXIII (Schleiermacher: Die practische Theologie ..., Berlin 1850,439). Karl Burger (1884, 33) meint, dem Landpfarrer sei es noch möglich, "alle Familien kennenzulernen, allen Einzelnen, die es bedürfen, persönlich näher zu treten, alle auf fürbittendem Herzen zu tragen, allen das Christentum selbst vorzuleben in seinem und seines Hauses Wandel". Bei Achelis (1912, 253) finden wir die Kurzformel: "Günstig für die Seelsorge ist die Gemeinde, in welcher Ackerbau und Gartenkultur vorherrscht, ungünstig ist Fabrikbevölkerung ..." Noch Trillhaas (1958, 79) spricht von der Dorfgemeinde als dem Prototyp der christlichen Gemeinde. Die Dorfkirchenbewegung zu Beginn des Jahrhunderts brachte sogar eine eigene Zeitschrift heraus. 30

Büchsei 1907. In seinem ersten Amtsjahr erschienen zu seiner ersten Predigt im Filialdorf ganze vier Gemeindeglieder. Auf dem Rückritt erzählte der alte Küster, "daß er oft mit dem Pastor zurückgekehrt sei, ohne den Gottesdienst abzuhalten, weil keiner gekommen sei ... Das ganze Dorf schien zu schlafen ..." (5 f./4).

2.3. Religiöse Volkskunde und religiöse Psychologie

35

wie etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Karl Hesselbachers "Die Seelsorge auf dem Dorfe" von 1908. Letztere Arbeit versteht sich als Beitrag zur religiösen Volkskunde31, die die genannten Probleme endlich anpacken will. Um das "Material" dafür zu erhalten, bedarf es der aktiven Mitarbeit der Amtsbrüder in den Gemeinden, worum Drews sie denn auch in bewegten Worten bittet. Für den Erfolg dieses Vorhabens spricht eine Fülle von empirischen Arbeiten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts32, in der "Monatsschrift für die kirchliche Praxis", auch in der "Monatsschrift für Pastoraltheologie" und weiteren Zeitschriften und Schriftenreihen, namentlich in der von Friedrich Niebergall herausgegebenen "Praktisch-theologischen Handbibliothek". In ihrem Rahmen gehören die genannte Arbeit von Hesselbacher und ihr Gegenstück, Heinrich Bechtolsheimers "Die Seelsorge in der Industriegemeinde" von 1907, zu den markantesten Beiträgen zur religiösen Volkskunde.33 Beim Überblick über diese Literatur wird deutlich, daß sie gerade die seelsorgerliche Kompetenz des Pastors verbessern will. Doch im Zentrum der Seelsorge im engeren Sinne, also der cura specialis gegenüber der cura generalis oder, mit Alexander Schweizer, der freien gegenüber der gebundenen Seelsorge, steht der pastorale Zugang zum einzelnen. Hier handelt es sich um die "mannigfaltigen Einzelfälle" als Aufgabe der Seelsorge "vornehmlich an denen, die in ihrem inneren Leben sich gehemmt sehen".34 Demgegenüber läuft bei den Bemühungen im Umkreis der religiösen Volkskunde so gut wie alles auf eine neue Konzeption der Gemeinde hinaus. Diese Linie zieht sich durch, von Emil Sulzes Konzept der Seelsorgegemeinden bis zu Friedrich Niebergalls Praktischer Theologie als "Lehre von

31

Vgl. Hesselbacher 1920, V f.

32

Drews 1901, 6 (= Wintzer 58). Vgl. seine Literaturzusammenstellung (1913, Sp. 1751 f.) 33

Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1904 ff. Bd. 5: Bechtolsheimer 1907, 2. erw. Aufl. 1926; Bd. 7: Hesselbacher 1908, 3. verb. Aufl. 1920. 34

Schweizer 1875, §§ 70/67. - Alexander Schweizer, Schüler Schleiermachers, war einer der Lehrer Otto Baumgartens, ebenso wie der Hegel-Schüler A.E. Biedermann, über den Pfister promovierte. Vgl. Baumgarten 1929, 57 ff.; 1931, 2. Zu Pfisters Anknüpfung an die beiden Züricher Biedermann und Schweizer s. Kap. 3.2.

36

Praktische Theologie und Wirklichkeit

der kirchlichen Gemeindeerziehung".35 Die Erforschung der Gemeindewirklichkeit soll zwar letztlich dem besseren Verständnis des einzelnen Gemeindegliedes dienen, doch eben durch die Kenntnis seiner sozialen Lebenswelt. Die Konflikte seines inneren Lebens, die natürlich innig mit der äußeren Lebenssituation zusammenhängen, kommen dabei nur relativ selten und ansatzweise in den Blick. Doch nicht als Problematik von innen und außen wurde dieses Defizit damals diskutiert, denn das wäre ja schon die psychologische Fragestellung, sondern als Problem, wie sich individuelle und soziale Seelsorge zueinander verhalten. Baumgarten sieht sich 1913 geradezu genötigt, seinen sozial orientieren "Seelsorger unserer Tage" dafür zu verteidigen, daß er "sein Absehen nicht mehr bloß auf die einzelnen richten kann, da diese unlösbar in den geschichüichen Prozeß des sozialen und wirtschaftlichen Lebens des Volkes verwickelt sind". Er fährt fort, den modernen Seelsorger führe vor allem "die Arbeit an den sozialen Nöten zu einer sozialen Auffassung des religiösen Lebens und zu dem Wunsch, die feiernde wie die in der Liebe tätige Gemeinde zu einer sozialen Macht zu machen. Die Gefahr dieser Auffassung der Seelsorge, im starken Eingehen auf die Spannungen des sozialen und Klassenwesens das Seelsorgertum für alle und die Hauptsorge um die Einzelseele und ihr ewiges Heil zu vernachlässigen ..., darf nicht irre machen an der gottgefügten Erweiterung des Horizonts der Seelsorge von der Einzelseele auf den ganzen Umkreis von Beziehungen, in deren Netz sie lebt und deren Zwang nur die wenigsten sich entziehen können."36 Diese Konzeption Baumgartens bedeutet nach seinem Selbstverständnis eine Weiterführung der poimenischen Tradition, aus der er herkommt und die die "Beziehung auf den Einzelnen" stark betonte.37 Dieser usprüngliche Akzent tritt in den 20er Jahren wieder stark hervor. In den Feuem des großen Weltkrieges hatte Baumgarten ein Stück Kreuzestheologie

35

Untertitel von Niebergall 1918/19. - Nicht nur Niebergall und Baumgarten sind dem Reformkonzept des Dresdner Pfarrers Sülze verpflichtet (Die evangelische Gemeinde, 1891). Angesichts massiver Veränderungen der volkskirchlichen Situation vor 100 Jahren wie heute erscheint es mir nicht überholt. Ich kann hier nicht darauf eingehen, vgl. die Zusammenfassung Wintzers (XXIII). Zur Rezeption und Relativierung Sulzes vgl. Baumgarten 1891, passim, bes. 46 ff.; ders. 1931, 3, 177 ff.; Köstlin 1895, XXII; Niebergall I, passim; II, 431; Bülck 1934, 131 f. 36

Baumgarten 1913, Sp. 537 f. Parallele Formulierungen auch noch 1931,59 (= Wintzer

46 f.). 37

Ders., 1931, 2. Das Folg. ebd. 192 f.

2.3. Religiöse Volkskunde und religiöse Psychologie

37

neu gewonnen. Von daher beantwortet er die Frage nun vorsichtiger, was die Seelsorge von der religiösen Volkskunde gewinnt. Gegen Ende der Weimarer Republik meint er, was früher christlich gebotener sozialer Realismus war, könnte jetzt, wo die Massen zum Hakenkreuz oder zu Hammer und Sichel drängen, geradezu "Massenanbetung" sein. Er hält diese Sichtweise keineswegs für eine "Verzeichnung seitens eines höchst anspruchsvollen Aristokraten der inneren Bildung". Entspricht es nicht vielmehr der Lebenssicht Jesu wie dem protestantischen Prinzip, daß es "auf die Überzeugung ankommt, die unter Kampf und Widerspruch tief in der eigenen Seele reift? Diese Religiosität ist ja nicht Sache eines Volkes, eines Durchschnitts, sondern derer, die Gottes Geist besonders nimmt von der Menge weg". In diesen Worten spiegeln sich nicht zuletzt Baumgartens theologischer Wandlungsprozeß und die Erfahrungen mit seinem öffentlichen und sozialen Engagement im vergangenen Jahrzehnt wider. Doch auch allgemein drängt sich ja die skeptische Frage auf: "Wird sich überhaupt eine Volksfrömmigkeit auf die Dauer erhalten im Sinne einer von der persönlichen Religiosität der einzelnen unterschiedenen, auf die Vorstufen zurückreichenden Gemeindereligion?" Wie dem auch sei, in der Seelsorge soll primär dem einzelnen geholfen werden, "sich zu dem Gott hindurch[zu]finden, den er tief im Herzen trägt." Gemeint ist ein Prozeß der Selbstfindung im Selbstverlust. Dazu gehört jetzt, nach dem 1. Weltkrieg, auch ein "Bruch" mit natürlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen - immerhin ein Begriff, der im Zentrum von Thurneysens Auffassung des seelsorgerlichen Gesprächs steht. Doch Baumgarten zielt eben nicht auf eine agressiv-autoritäre Interaktion, sondern auf die Trennungs- und Trauerarbeit, die unerläßlich ist auf dem Weg zu sich selbst und zu Gott. Zwar bleiben Selbstachtung und Selbstgefühl im Christentum berechtigte Empfindungen 38 , aber doch in einer durch Gottes zuvorkommende Liebe geläuterten Weise. Wir werden sehen, daß Pfisters seelsorgerlicher Umgang mit Dietrich und vor allem mit Frau A. auf einem ähnlichen theologischen Hintergrund erfolgt. "Aber mit diesem weitgehenden christlichen Personalismus wird der richtige Seelsorger doch den Sozialismus eines tiefen Mitgefühls mit der Verwobenheit des Einzelnen in die Not und Verworrenheit seiner Umwelt, seines Stammes, seiner Klasse in sich pflegen". 39 So verhilft die religiöse Volkskunde zu einer "pessimistischen und doch positiven Auffassung von der Bedeutung der gesellschaftlichen Kultur." Mit diesem dialektischen Abschluß wendet Baumgarten sich ebenso gegen die Kulturseligkeit seiner Epoche wie gegen den persönlichen Heilsegoismus des 'Nur selig!'.

Bereits 1901 konzipiert Paul Drews die religiöse Psychologie40 als wesentliche Ergänzung der religiösen Volkskunde. Dabei geht er von einem Problem aus, das die sozialen Beziehungen in der Gemeinde immer stärker

38

Vgl. ebd. 263.

39

Ebd. 193, auch das Folg.

40

Das Adjektiv bezeichnet natürlich nicht die Art, sondern den Gegenstands- und Anwendungsbereich, vergleichbar der Bedeutung von "praktische Theologie". - Gelegentlich wird auch von religiöser Psychotherapie gesprochen, etwa bei Emst Jahn (1930, Sp. 997). Gemeint ist das, was in dem alten Begriff Pastoralmedizin enthalten und im neueren Verständnis von Seelsorge aufgegangen ist, nämlich die "christliche Seelenpflege am körperlich und seelisch kranken Menschen" (ebd. Sp. 998).

Praktische Theologie und Wirklichkeit

38 belastet:

"Wie die verschiedenen Volkskreise, so haben auch die ver-

schiedenen Individualitäten ihre besondere Art, fromm zu sein (...), der, der mehr Gemüt und Phantasie hat, anders als der mehr rational Gerichtete" usw. Nach diesem individuellen Gesichtspunkt muß ein Pfarrer es begreifen, "daß das eine Glied seiner Gemeinde mehr orthodox, das andere mehr pietistisch, das dritte mehr rationalistisch geartet ist", und namentlich als Seelsorger Verständnis dafür haben, "wie in den einzelnen Individuen das Glaubensleben sich eigenartig entfaltet und ausgestaltet". 41

Kurz,

die

religiöse

Psychologie soll dem Pastor dabei helfen, mit dem faktischen religiösen Pluralismus, mit den verschiedenen Frömmigkeitstypen verständnisvoll und auf eine

gemeindefördernde

Weise

umzugehen.

Darum

soll

sie

eine

praktische Psychologie sein. 42 (Niebergall wird später auch eine "praktische Auslegung" der biblischen Schriften vorlegen, Baumgarten eine "praktische Sittenlehre". 4 3 ) Die praktische Psychologie soll eine Art Typenlehre für den

41

Drews 1901, 7/2 (= Wintzer 59/55).

Hierzu zitiert Baumgarten (1896, 17, vgl. 1931,266) aus den Promotionsthesen Prof. Wredes von 1891 (!). Sie fordern eine praktische Psychologie, "welche die mannigfaltige Mischung der religiös-sittlichen Typen und die gesetzmäßigen Zusammenhänge der wichtigsten Faktoren beschreibend zu lebendiger Anschauung bringt" (= These 26). In Baumgartens 'Seelsorger unsrer Tage' von 1891 ist von Psychologie noch kaum die Rede, sondern nur davon, "in die Pastoraltheologie zwei Fächer aufzunehmen: Grundzüge der Soziologie und Pädagogik" (31). An die Stelle der Pädagogik tritt später meistens die (religiöse) Psychologie, ein deutlicher Hinweis auf den pädagogischen Zug darin, wie er bei Niebergall so deutlich wird. 42

43 Baumgarten 1921; Niebergall 1909 (NT), 3. Aufl. 1923; 1912 ff. (AT). In Niebergalls 'Praktisch-theologischer Handbibliothek' erschienen "praktische" Ausführungen theologischer Grundthemen wie Christologie, Eschatologie usw. - Nur die "praktische Glaubenslehre", die Bülck im Ausblick seiner "Geschichte des Studiums der Praktischen Theologie an der Universität Kiel" zusätzlich nennt (1921, 85), wurde nicht ganz so geschlossen ausgeführt. Die praktische Dogmatik, deren Aufgabe Niebergall in der Kaftan-Festgabe von 1920 zusammenfassend dargestellt, ist in seiner Praktischen Theologie immerhin auf 80 Seiten ausgeführt (I, 313 ff.). Später hat er sie in kürzester Form zusammengefaßt, indem er von der Kritik an einer leeren, phraseologischen Wort-Theologie ausgeht (1928,1 ff.). Niebergall hat den Anspruch, alle theologischen Arbeitszweige praktisch-theologisch zu erfassen und zu bearbeiten und zwar von einer zentralen (theologisch begründeten!) pädagogischen Intention her. Das hat Sandberger (1972) überzeugend herausgearbeitet; zur Konzeption der "praktischen Dogmatik" und "praktischen Exegese" vgl. 131 ff. u. 137 ff. Eine Parallele bei Pfister sehe ich in seinen Ansätzen zu einer religionspsychologisch fundierten Dogmatik, die er leider nicht weiter ausgeführt hat [8.8]. In einem weiteren Sinne in die praktische Intention von Niebergall und Baumgarten reiht sich auch Pfisters Bemerkung über die "praktische Analyse" ein: sie suche die Wahrheit nicht um ihrer selbst, sondern um des

2.3. Religiöse Volkskunde und religiöse Psychologie

39

Pastor sein, also eine eher pädagogisch ausgerichtete Pastoralpsychologie, in die viel aus dem reichen Erfahrungsschatz der älteren Pastoralklugheit und Pastoraltheologie einfließt.44 Der Wissenschaftsanspruch dieser religiösen Psychologie ist geringer als der der religiösen Volkskunde, ihr Bezug auf die Partnerwissenschaft Psychologie lockerer als der Bezug der religiösen Volkskunde auf die zeitgenössische Soziologie, Ethnologie usw. Für die religiöse Psychologie gab es auch nicht allzuviel aufzuarbeiten. Die Klage über die Fruchtlosigkeit der akademischen Psychologie ist vor allem bei den im pädagogisch-seelsorgerlichen Feld arbeitenden Praktikern ganz allgemein. Sie haben es ja nicht mit irgendwelchen Mosaikteilen des Menschen zu tun, sondern stehen in bestimmten Interaktionen mit 'ganzen' Menschen. Diese scheinen aber in der Universitätspsychologie nicht vorzukommen.45 Die zeitgenössische Religionspsychologie erschöfpte sich damals noch weitgehend in eher religionsphilosophisch argumentierenden Grundlegungen und Programmschriften 46 ,

Menschen willen (WuS 131). Pfisters im ganzen doch exzentrische Position innerhalb der psychoanalytischen Bewegung ist der randständigen Position der Praktischen Theologie innerhalb des damaligen akademisch-theologischen Betriebes in manchem vergleichbar. 44

Vgl. Baumgarten 1931, 1-3.

45

Im Anschluß an Avenarius' Wort von der "Mosaikpsychologie" spricht der katholische Seelsorger H. Swoboda von "anatomischer Psychologie" und fährt fort: "Die Psychologie verschafft uns derzeit keine Menschenkenntnis. Wer hierfür nicht mit der nötigen Gabe der Intuition von Natur ausgestattet ist, sucht vergeblich nach einer analytischen Methode, nach analytischen Ergebnissen, welche ihm den durchdringenden Blick ersetzen" (Studien zur Grundlegung der Psychologie, Leipzig 1905, 18 f., zit. n. Börner 1912, 25). - Dieser H. Swoboda ist allem Anschein nach mit jenem Mann gleichen Namens identisch, der im Jahre 1900 bei Freud eine Analyse machte und dann 1904/05 in der Auseinandersetzung zwischen Fließ und Freud um die Priorität der Entdeckung der menschlichen Bisexualität eine wichtige Rolle spielte (nach Jones 1,367-70). Natürlich stand er ganz auf Freuds Seite. Fließ irrte sich nicht nur darin, daß er Swoboda für einen Schüler statt für einen Patienten Freuds hielt, sondern wohl auch darin, daß er ihn allein als Psychologen ansah. 1909 jedenfalls war er katholischer Geistlicher. Sein in diesem Jahr erschienenes Buch "Großstadtseelsorge" will zwar eine pastoraltheologische Studie sein (Untertitel), ist aber eher der katholischen Kirchenkunde zuzuordnen. 46

Typisch der Titel eines Buches von Hermann Faber: Das Wesen der Religionspsychologie und ihre Bedeutung für die Dogmatik. Eine prinzipielle Untersuchung zur systematischen Theologie (Tübingen 1913). In seinem Aufsatz von 1922 braucht Pfister einen ganzen Absatz, um alle Schriften dieser Art aufzulisten (Religionspsychologie 369). Die empirische Wendung in der Religionspsychologie hatte zwar schon in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts mit Stanley Hall begonnen, dem amerikanischen Psychologen und Pädagogen. (Er wurde für die Pioniere der Psychoanalyse wichtig, vgl. 4.2; noch Anfang

40

Praktische Theologie und Wirklichkeit

hat aber auch in den 20er Jahren, als sie endlich inhaltliche Untersuchungen vorlegte, niemals eine solche Resonanz in Theologie und Kirche gefunden wie die religiöse Volkskunde. Bis heute ist sie im Grunde eine akademische Angelegenheit geblieben, was nicht zuletzt an ihrem eigentümlichen exakt-wissenschaftlichen Anspruch liegt.47 Außer als Hobby für einige wenige Pastoren hatte sie darum kaum Nutzungswert für die pastorale Praxis, was Pfister immer wieder gegen sie und für die "lebensnähere" und ergiebigere tiefenpsychologische Religionspsychologie anführt [11.2] Darüber hinaus hat der tiefenpsychologische Ansatz aber auch einen hohen Bedeutungswert für den wissenschaftlichen Fortschritt, weil er, ausgehend von der Annahme eines unbewußten, konfliktuösen Geschehens, ein dynamisches Verständnis der Religion entwickelte. Weil sie diesen Neuansatz und noch mehr seine Konkretionen (Trieblehre!) beharrlich ignorierte oder ausklammerte, hat sich die akademische Religionspsychologie bis heute wissenschaftlich kaum weiterentwickelt.

Zur religiösen Psychologie gibt es nur sehr wenige eigens veröffentlichte Arbeiten. Meistens wird sie in den Veröffentlichungen im Umkreis der religiösen Volkskunde thematisiert, der es ja auch um die Seelsorge geht, nämlich, mit Bechtolsheimers Worten, in ihrem weitesten Umfange, der ungefähr mit "Pastoration" gleichzusetzen sei. Wenn er dann fortfährt, er

der 20er Jahre hatte Pfister einen freundlichen Briefwechsel mit ihm.) Doch die Religionspsychologen taten sich außerordentlich schwer, zu der Sache selber vorzudringen. Ein aufwendiger und zugleich fast beliebig anmutender Methodismus entsprach häufig banalen Ergebnissen. M.E. hat sich daran bis heute wenig geändert, und darum ist auch Pfisters Kritik aktuell geblieben (vgl. 11.2). Als Zusammenfassung vom skandinavischen Raum her, in dem die religionspsychologische Tradition am lebendigsten geblieben ist, vgl. Källstad 1978. Zur heutigen Kritik der klassischen Religionspsychologie aus psychoanalytischer und pastoralpsychologischer Sicht s. Müller-Pozzi 1975, 49 ff., Scharfenberg 1976, 34-38. Den Übergang von der klassischen zur Religionspychologie nach Freud markiert Scharfenberg 1975. 47 Vgl. vor allem das voluminöse Werk von Karl Girgensohn: Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens. Eine religionspsychologische Untersuchung auf experimenteller Grundlage (1921). Die zweite revidierte Auflage (Gütersloh 1930) ist von seinem Schüler Werner Gruehn herausgegeben und durch einen Nachtrag erweitert: Forschungsmethoden und Ergebnisse der exakten empirischen Religionspsychologie seit 1921 (703 ff., zur "Exaktheit" vgl. bes. 724 f.). Bei aller Dankbarkeit für den Hinweis der Psychoanalyse auf die Bedeutung der unbewußten Dynamik "im allgemeinen" beharrt auch Girgensohn selbst auf dem Exaktheitsanspruch, vgl. bes. 23 f. In dieser Gestalt hat das Buch über 900 Seiten! Der Umfang erklärt sich vor allem durch den Abdruck endloser Protokollabschnitte, deren Fülle interpretativ in keiner Weise eingeholt wird. Ein Berg hat eine Maus geboren, urteilt Pfister 1922 bündig (Religionspsychologie 400). - Die Tendenz, Psychologie statt Geschichte zum Prinzip der Dogmatik zu machen (G. Vorbrodt 1904, nach Scharfenberg 1976, 36), wird augenfällig, wenn Girgensohn seinen Grundriß der Dogmatik von 1924 mit einem Kapitel über Religionspsychologie beginnt. Pfister teilt diese Tendenz, allerdings ist seine Psychologie, die Psychoanalyse, selbst eine geschichtliche und damit der Religion und dem Seelenleben gleichermaßen angemessen (vgl. Religionspsychologie 397).

2.3. Religiöse Volkskunde und religiöse Psychologie

41

gehe von der Wirklichkeit aus und fuße auf "empisch-psychologischer Grundlage",48 ist damit eigentlich nur sein Vorhaben ausgedrückt, im Zusammenhang mit der sozialen auch die psychische Wirklichkeit der Menschen in seiner Industriegemeinde zu sehen. Seine lebendigen Geschichten und Fallskizzen zeigen dann möglichst unvoreingenommene, verständige Kontakte in verschiedenen pastoralen Situationen.49 Von psychologischer Theorie findet sich keine Spur, während "die Lage in den deutschen Industriegemeinden" historisch-soziologisch und landeskundlich nicht ohne wissenschaftlichen Anspruch dargestellt wird.50 Eine der wenigen selbständigen Arbeiten zur religiösen Psychologie ist Otto Baumgartens Aufsatzreihe "Beiträge zu einer psychologischen Seelsorge".51 Sehen wir näher hin, so handelt es sich um eine Darstellung des seelsorgebedürftigen Menschen nach der traditionellen Einteilung: der sündige, der leidende und der irrende Mensch [vgl. Abschn. 8], Es ist aber bezeichnenderweise Zukunftsmusik, wenn Baumgarten hofft, "die weitere Ausbildung der Religionspsychologie mit ihrer Feststellung der auf verschiedenen Dispositionen beruhenden Mannigfaltigkeit religiöser Erfahrung und Bedürftigkeit [werde] hier vor der hochgefährlichen Uniformierung bewahren". Er selbst hält sich zwar an die vorgegebene Einteilung, verfährt aber in diesem Rahmen durchaus nicht nach den Schematismen der zeitgenössischen Religionspsychologie. Vielmehr zeichnet er vor uns das Bild einer nicht-autoritären, nicht-moralisierenden freien Seelsorge mit viel Willen zu Verständnis und Einfühlung und viel intuitiv 'richtiger' Psychologie. Kurz, Baumgarten hat eine gute Alltagspsychologie im Rücken, doch eben gesättigt mit pastoraler Weisheit und Erfahrung und

48

Bechtolsheimer 1926, 5, vgl. 1 f.

49

Zum Beispiel: "Der junge Geistliche rückte nicht sofort mit plumpen Bekehrungsversuchen heraus, schimpfte auch nicht über die gottlose Sozialdemokratie und überschüttete den Mann, der hustend in seinem Bette lag, auch nicht mit Bibelsprüchen. Auch sagte er ihm nicht, wie es mitunter von unverständigen Diakonissen ganz unberufener Weise geschieht, daß seine Tage gezählt seien, sondern trat ihm menschlich nahe, wie ein Freund dem Freunde" (Bechtolsheimer 1926, 99). 50

Ebd. 7-96. Vgl. 95 f. den Bezug auf zeitgenössische Sozialpsychologen wie Willy Hellpach und Eugen Rosenstock. 51

Baumgarten 1906/07. Damit setzt er den Aufsatz "Grundzüge einer psychologischen Seelsorge am sündigen Menschen" fort, der bereits 1896 in der "Zeitschrift für Praktische Theologie" erschien. Eine Kurzfassung der gesamten Darstellung findet sich in Baumgartens RGG-Artikel von 1913, Sp. 544 ff. Daraus das folg. Zitat (544).

Praktische Theologie und Wirklichkeit

42

geleitet von einem nicht nur gesunden, sondern in jeder Hinsicht durchgebildeten Verstand. Theologisch bringt sich in dem Entwurf unverkennbar das Menschenbild des liberalen Kulturprotestantismus zur Geltung und bestimmt ihn ungleich stärker als irgendwelche religionspsychologischen Entwürfe. Wenn überhaupt etwas darin den wissenschaftlichen Anspruch psychologischer Theorie stellen könnte, kommt es über die deskriptiv-phänomenologische Ebene nicht hinaus; wir finden keine erklärungskräftigen Theoriemodelle. Irgendwie erscheint fast alles richtig, aber warum? So lesen wir: "Die Menschheit ist nun einmal so angelegt, daß fast alle, mehr als sie es sich gestehen, weniger durch Gründe und Einsichten als durch Suggestion seitens mehr oder weniger frei gewählter Autoritäten bestimmt werden. Und die Suggestionskraft der geistlichen Autoritäten ist naturgemäß die größte ...". Die Fortsetzung zeigt, daß in Baumgartens Psychologie höchst moderne Züge stecken: "Es ist aber eigentümlich, daß die Suggestion fast noch größer ist beim Zuhören als beim Zureden. Da wirkt die befreiende, versichernde Wirkung der Teilnahme, die das Vertrauen der möglichen Abhilfe weckt, und des Glaubens an das bessere Ich, das sich der Autorität gegenüber hervorwagt. Recht zuhören können und den Edelmenschen [sc. das bessere Ich] zur mutigen Selbstmitteilung reizen, ist ein hohes Talent der Seelsorge". 52 Freie, unbefangene Aufmerksamkeit, "mehr intuitiv als diskursiv", ist das Hauptmittel der seelsorgerlichen Diagnose, Identifikation und Einfühlung, die Begabung des "Sichversetzens in andere", die wichtigste Voraussetzung der Therapie. Das seelsorgerliche Gespräch im Mittelpunkt, die Unaufdringlichkeit des Seelsorgers, Zuhören, Einfühlen, reichere anthropologische Empirie" - diese Aufzählung, die sich fortsetzen ließe, zeigt einen Grundkonsens heutiger Seelsorgetheorie an! Die "elastische Geistesgegenwart" in der Seelsorge kommt für Baumgarten aus dem "Mitgefühl Christi". 54 Dieser häufig wiederkehrende Begriff weist uns auf die christologische Vermitteltheit der Gabe der Einfühlung hin, "der Takt des Herzens, der, sich selbst vergessend, dem Zug und Gang des andern Herzens folgt". Für Intuition und Einfühlung tut der Umgang mit Müttern mehr als mit Theologen. Daß er die vorrationale mütterliche Sphäre konstitutiv mit einbezieht, verbindet Baumgarten mit Pflster. Beide berufen sich gem auf Pestalozzi als pädagogischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund. 55 Psychologischer Realismus als Korrektiv theologischen Denkens begegnet uns bei

52 Ders. 1913, Sp. 552, zit. nach der redigierten Fassung in 1931, 280. Das folg. Zitat ebd. Sp. 551. 53 Ebd. Sp. 549; 1931, 119, 175 f. Diese "modernen" Merkmale hat Uwe Baumgarten, geb. Gärtner, 1979 in seiner Kieler Examensarbeit über Baumgartens Poimenik überzeugend herausgearbeitet. - Das neu erwachte Interesse an Baumgarten dokumentiert ein 1986 von Wolfgang Steck herausgegebener Sammelband. Darin vgl. bes. J. Scharfenberg: Otto Baumgarten und die Seelsorge heute, 129 ff. 1988 erschien die umfassende Monographie (Kieler Dissertation) Hasko v. Bassis über Baumgarten. 54 55

Ebd. Sp. 551 f., parr. 1931, 279, auch für das Folg.

Für Pfister vgl. das Motto zu dem Büchlein "Religionspädagogisches Neuland" (1909), zu seinem Umgang mit dem Mütterlichen Kap. 4.5 und 14.5.

2.4. Liberaler Neuprotestantismus

43

Baumgarten des öfteren, etwa so: "Die alle natürliche und soziale Leidenschaft erdrückende grund- und bodenlose Gnaden- und Liebespredigt versündigt sich an der Kraft ehrlicher Selbst- und Ehr- und Rechtsbehauptung". 56 Solche Sätze kommen aus seiner Sorge über die neurotisierenden Wirkungen eines falschen christlichen Altruismus und einer "Selbstverabscheuung als Sünder". Diese und ähnliche Äußerungen in Baumgartens Werk weisen uns darauf hin, daß er den Narzißmus als menschliche Grundgegebenheit berücksichtigt und nicht von vornherein zum Antipoden der christlichen Botschaft erklärt.

Insgesamt gesehen handelt es sich also um eine praktische Pastoralpsychologie ohne (psychologische) Theorie.57 Wie noch zu zeigen ist, trifft dies auch für andere fortschrittliche Seelsorge zu, die mit Hilfe der Psychologie dem wirklichen Leben näherkommen will. Ich meine, Oskar Pfisters Theorie und Praxis der analytischen Seelsorge trifft genau in die Leerstelle, die mit der Konzeption der religiösen Psychologie bezeichnet, aber nicht ausgefüllt ist. 1909 veröffentlicht er in Baumgartens Zeitschrift seinen ersten großen Fallbericht über 'Dietrich'; wir werden ihn noch kennenlernen.

4.

Praktische Theologie als Bewegung des liberalen Neuprotestantismus

Jetzt befinden wir uns bereits in der dritten Phase der Zeitschrift Baumgartens. Seit 1907 heißt sie nun "Evangelische Freiheit" und versteht sich als Organ der liberalen Richtung in Kirche und Theologie. Trotz des ihr zugeordneten Kreises der "Freunde evangelischer Freiheit" und Baumgartens regelmäßiger "Kirchlicher Chronik" wird die Zeitschrift kein rein "kirchenpolitisches Publikationsmedium", wie Steck meint58, sondern bringt weiter eine Fülle von praktisch-theologischen Arbeiten, die im wissen-

56

Baumgarten 1913, Sp. 548, auch das folg. Zitat.

57

Die "praktische Psychologie" soll sich vor allem an den Biographien großer Menschen orientieren (ebd.). 58 Steck 1981, 18. - Diesem Typus kommt "Die christliche Welt" näher, die allerdings auf der neuprotestantischen Seite ein wesentlich breiteres Sprektrum umfaßt. Sie erscheint bereits 1886; einer ihrer Begründer war Paul Drews. Um sie herum hat sich seit 1892 ebenfalls ein Freundeskreis gebildet. Zur Geschichte der 'Christlichen Welt' im Zusammenhang des freien Protestantismus und zur Biographie ihres spiritus rector Martin Rade vgl. Joh. Rathje 1952. - Dem Typus des Organs einer kirchlich-theologischen Richtung entspricht auf der liberalen Seite am ehesten das 'Protestantenblatt' bzw. das 'Schweizerische Protestantenblatt', in dem Pf ister gelegentlich veröffentlichte.

44

Praktische Theologie und Wirklichkeit

schaftlichen Anspruchsniveau teilweise durchaus Pfisters Fallstudie über 'Dietrich' gleichkommen. Die bewußte Ansiedlung der Zeitschrift auf der liberalen Seite des kirchlich-theologischen Spektrums war nur konsequent. Darin kommt die immer deutlicher werdende Tatsache zum Ausdruck, daß der neue praktisch-theologische Zugriff auf die Wirklichkeit des sozialen und religiösen Lebens sich eigentlich nur mit einer Theologie 'von unten' verträgt, die bei der religiösen Erfahrung und ihren geschichtlichen und lebensweltlichen Bedingungsfaktoren ansetzt.59 Eine solche Theologie hat nur Platz - das gilt auch für eine fundamental-theologische Einordnung und Begründung heutiger Pastoralpsychologie [1.3] - innerhalb der Traditionslinie neuprotestantisch-liberaler Theologie. Ihr gegenüber steht bis heute die klassisch-kerygmatische Theologie, die 'von oben', vom Worte Gottes her ansetzt. Entweder hat sie eher den Akzent konfessioneller Orthodoxie oder sie steht in der Nachfolge der dialektischen Theologie. Diese beiden Ansätze sind, wie Peter Cornehl jüngst mit Recht herausgestellt hat, "die beiden großen theologischen Bezugssysteme neuzeitlicher Theologie".60 Die religiöse Volkskunde kann die "persönliche Erfahrung" nicht ersetzen, aber dazu will sie ja gerade "anleiten, erziehen, daß der Geistliche fähig wird, Erfahrung zu sammeln; das Auge will sie einschärfen für das konkrete Leben; den Sinn ausrüsten, menschliche Art im Reiche der Religion zu verstehen".61 Diese Zielangabe Drews' in dem erwähnten Programmartikel von 1901 unterstreicht unsere Einordnung bei einer Theologie von unten. Diese hat notwendig ein positives, integratives Verhältnis zu den

39

Mit dieser Frage hat sich vor allem Niebergall gründlich auseinandergesetzt, für den Praktische Theologie und Dogmatik eng zusammengehören. Seine Grundthese entspricht sachlich der hier vertretenen. Vgl. Niebergall I, 9 f.; Sandberger 1972, 134. 60

Cornehl 1981, 36, im Orig. gesp. - Allerdings behalten die treffenden Argumente des Kielers Hermann Mulert gegen die Anwendung von Zweiparteienschemata wie links-rechts, liberal-positiv usw. auf die wissenschaftlich-theologische Arbeit ihr volles Recht (1931, 125 ff.). Es ist auch richtig, daß kirchlicher bzw. kirchenpolitischer Liberalismus ein wesentlich klarerer Begriff ist als theologischer Liberalismus oder liberale Theologie (ebd. 123). Daran können auch die eingehenden Klärungsversuche von Ulrich Neuenschwarider (1953, 2 ff.) wenig ändern. Doch ist unser Schema ja mit einer zwar grobschlächtigen, aber dennoch inhaltlich-theologisch nachvollziehbaren Alternative verbunden, darum wird es von der Kritik kaum getroffen. 61

Drews 1901, 6 (= Wintzer 59).

2.4. Liberaler Neuprotestantismus

45

Humanwissenschaften als wissenschaftlichen Partnern62, darum kommt die genannte fundamental-theologische Alternative auch in der heutigen Diskussion über das Verhältnis von Theologie und Humanwissenschaften besonders plastisch heraus. Der zeitgenössische Drang zur Empirie, zur Erfahrung, zum Leben, zur Wirklichkeit bringt nicht nur neue wissenschaftliche Forschungen mit sich, sondern auch den gesteigerten Wunsch nach persönlicher religiöser Erfahrung. Man will endlich zu der gelebten Frömmigkeit selbst vordringen, im Erleben und im Verstehen. Hinter dem wissenschaftlichen Wahrheitspathos der neuprotestantischen Kreise steht in der Regel die tiefe Überzeugung, daß freie Glaubenswissenschaft und freier Glaube sich nicht behindern oder gar ausschließen, sondern sich gegenseitig fördern und steigern. Die dafür günstigen Bedingungen gilt es zu schaffen, in der Gemeinde bzw. im Pfarramt, aber auch schon in der theologischen Ausbildung. In diesem Zusammenhang führe ich ausnahmsweise schon einmal ein Votum Pflsters an, weil es mir sehr typisch erscheint für die neuprotestantisch-liberale Reformbewegung vor dem 1. Weltkrieg. Ebensogut könnte ich Baumgarten oder andere zitieren. In seinem Aufsatz "Die Reform unserer Ausbildung zum Pfarrer" von 190763 sieht Pfister die Gründe für die seinerzeit so unbefriedigenden Zustände "nicht allein darin, daß die theoretische und praktische Theologie ihr Gebäude zu fern vom Getriebe des wirklichen Lebens und vom Rauschen des göttlichen Geistes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufstellen, auch nicht nur darin, daß die theoretische Theologie zu wenig praktisch, die praktische zu wenig theoretisch ist, obschon diese Vorwürfe einen zutreffenden Kern enthalten. Einen

62 Pfister weist darauf hin, daß die von ihm zu ihrem Studium (um 1895) befragten Pfarrer allesamt lauter nichttheologische Disziplinen darin vermißten (Reform 35). 63

Bibl. Nr. 22. - Viele der ins einzelne gehenden Vorschläge Pflsters zur Studienreform, aber auch zur zweiten Phase der theologischen Ausbildung, sind bis heute aktuell geblieben. Manche erscheinen uns wohl immer noch als zu radikal, etwa der Vorschlag, wegen des "Examenselends" die Noten "einfach kurzerhand abzuschaffen" zugunsten eines schlichten Ja oder Nein (134). Noch 40 Jahre später hat Pfister sich kritisch mit den herkömmlichen Examina auseinandergesetzt, jetzt natürlich verstärkt mit Hilfe einer tiefenpsychologisch fundierten Prüfungspsychologie (vgl. Bibl. Nr. 230 u. 232). - Pfisters religionspädagogische Vorschläge aus seiner voranalytischen Zeit kommen aus dem Geist der Reformpädagogik. Er knüpft bewußt an Baumgartens "Neue Bahnen. Der Unterricht in der christlichen Religion im Geiste der modernen Theologie" an (1903). In seiner Schrift von 1909 "Religionspädagogisches Neuland. Eine Untersuchung über das Erlebnis- und Arbeitsprinzip im Religionsunterricht" will er den herkömmlichen Schulbetrieb umgestalten in Richtung der Selbstbetätigung des Einzelnen, des freien religiösen Erlebens und der individuellen Glaubenstat (Neuland 12 f.). Vgl. die interessante Rezension von Karl Barth, Christi. Welt 25, 1911,405 f.

46

Praktische Theologie und Wirklichkeit

Grundschaden glaube ich auch darin zu erkennen, daß beide Abteilungen das Zentrum, den lebendigen Glauben, die konkrete Frömmigkeit von sich abwälzen." Diese, "der lebendige Christus, der heilige Geist" wird von dem vorherrschenden Biblizismus, Historismus und Dogmatismus erdrückt. 64 Freilich, nicht Frömmigkeit hat das Studium hervorzurufen, sondern "zunächst Wissenschaft mitzuteilen". Aber der akademische Betrieb soll so verändert werden, d a ß er nicht mehr so viel "religiöse Beanlagung" verbirgt, geht es zuletzt doch um die Ausbildung zum Pfarrer, "d.h. zum religiös lebendig empfindenden Menschen". Pfister fordert ein Mit- und Ineinander von wissenschaftlicher und religiöser Bildung. Gerade die praktische Theologie sollte "statt an das Schulwissen an die wissenschaftlich mehr oder weniger geläuterte unmittelbare Frömmigkeit oder Lebenserfahrung anknüpfen", denn "offenbar geschieht der Wissenchaftlichkeit einer Untersuchung dadurch nicht der geringste Abbruch, daß die Aufforderung zur Themastellung von einem praktischen Lebensbedürfnis ausging". Das besondere Interesse an dem Ausbildungsziel Pfarrer, dem lebendigsten Beruf der Welt, beeinträchtigt keineswegs die Wissenschaftlichkeit der Theologie als Glied der universitas literarum. In der universitären Lebenswelt soll aber wissenschaftliche Erkenntnis ebenso wie Selbsterkenntnis im Zusammenhang mit lebendigem religiösem Empfinden möglich sein. Darum soll der Dreh- und Angelpunkt des Theologiestudiums die "religiöse Persönlichkeit" sein, und zwar die Persönlichkeit, die der Student selbst ist, die, die ihm in seinen theologischen Lehrern begegnet 65 , und die, deren allseitige Erforschung Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie ist. Dies alles wird zusammengehalten von dem "besonderen Interesse" an der professionellen "religiösen Persönlichkeit", die der Student als Pfarrer sein wird. 66 Seine theologischen Studienfächer müssen sich also in summa "um das konkrete christliche Glaubensleben einerseits, um die lebendige Volks- und Einzelseele andererseits gruppieren", und zwar "bis tief in die Strömungen des Unterbewußtseins" hinein!

Die mit einer Theologie von unten verbundene Aufwärtsrichtung war in weiten Kreisen des Kulturprotestantismus eng assoziiert mit dem allgemeinen ökonomisch-politischen Aufschwung seit 1871 und dem daraus abgeleiteten immanenten Fortschrittsglauben. Entsprechend viel "Kulturseligkeit" (Baumgarten67) verschwand in den Strudeln des 1. Weltkrieges und in der anschließenden allgemeinen "Kulturkrise", die natürlich nicht auf die

64

Reform 85/86. Setzen wir zu Dogmatismus noch Systemorientierung und Deduktionsmethode hinzu, dann haben wir alle zeitgenössischen Gravamina gegenüber der "unpraktischen" Praktischen Theologie beisammen (vgl. Bülck 1921, 83). - Die folg. Zitate Reform 32, 86 f., 90, 124, 126, 131-133. 65 Auch wenn gilt: "Jede erbauliche Tendenz ist von der akademischen Vorlesung völlig fernzuhalten" (ebd. 131). Die folg. Zitate ebd. 132, 125. 66

Schon Ludwig Hüffell faßt seine Praktische Theologie (1821) als Wissenschaft vom religiösen Beruf auf, eben weil die Praxis des Pfarrberufs "die Realität des Religiösen" ist (zit. n. Steck 1979, 229). 67

Baumgarten 1931, 192. Zu seinem nicht ungebrochenen, aber doch bleibenden Vertrauen auf die Wirkungskraft des "christlich-humanen Geistes" auch in der säkularisiertesten Kultur vgl. ebd. 92-94.

2.4. Liberaler Neuprotestantismus

47

Kriegsverlierer Deutschland und Österreich beschränkt blieb. Die Wirklichkeit, auch die kirchlich-religiöse Wirklichkeit, der die neue praktische Theologie68 auf die Spur kommen wollte, erwies sich jetzt als viel widersprüchlicher und widerständiger als vorher. Mit der Volkskirche veränderte sich die Funktion der Volkskunde, "denn ungesucht haben sich uns jeweilen die Schattenseiten stärker dargestellt als die Lichtseiten". Der selbstverständliche Optimismus, der sie früher dazu drängte, das religiöse Leben in seinem Entwicklungs- und Veränderungspotential aufzuspüren, war weitgehend gebrochen. Das Humanuni als Christianum hatte gewissermaßen versagt. 1920 stellte Baumgarten die "Evangelische Freiheit" ein, 1920 kam Karl Barths Römerbriefkommentar heraus. "Krisis" war die neue Losung, und viele der theologischen Debatten und Kämpfe der folgenden Jahre waren im Ergebnis Rückzugsgefechte der neuprotestantischen Theologie, die jetzt die 'alte' geworden war. Freilich, es war ein stolzer und selbstbewußter Rückzug, aber eben doch ein Zurück. Nicht bei allen kulturprotestantischen Theologen führte der Krieg zu einem solchen persönlichen und theologischen Lernprozeß wie bei Otto Baumgarten.69 Mit der Prosperität der zwanziger Jahre kam zwar noch einmal ein gewisser Aufschwung, doch er brach, wie bekannt, schnell wieder zusammen. Mit dem Faschismus war dann die Kontuniutät der neuen praktischen Theologie seit etwa 1880 endgültig gebrochen. So hat Niebergall schon recht, wenn er Baumgartens "Protestantische Seelsorge" von 1931 fast wie einen Schwanengesang "im Geiste der nun langsam verklingenden modernen Theologie" darstellt: "Über dem Ganzen liegt der Hauch des heute so verfemten Kulturprotestantismus, der sich in dem allseitigen Interesse für Zeit und Welt und in einer kultivierten Sprache zum Ausdruck bringt. Vielleicht erscheint das Buch zwanzig Jahre zu spät."70 Doch trotz des

68

Zur Berechtigung dieses Sprachgebrauchs vgl. Niebergalls Vorwort zu "Die neuen Wege kirchlicher Arbeit" (1928). - Das folg. Zitat Baumgarten 1931, 192. 69 Vgl. Pres sei 1967, 68 f. u. bes. 194 ff., 289 ff. Zu Niebergall vgl. die den zweiten Band seiner Praktischen Theologie abschließenden Worte über die Buße (1919, 511). 70 Niebergall 1932, Sp. 216 (= Wintzer 52). Die Merkmale dieser "modernen, freien Theologie" sind identisch mit denen der von mir so genannten neuen Praktischen Theologie. Niebergall findet sie in Baumgartens Buch alle wieder, nämlich "die Schätzung des persönlichen Einflusses auf Persönlichkeiten, die wissenschaftliche, kritische Grundhaltung, der Realismus der Rel. Volkskunde, der ausgeprägte soziale Sinn, das Priestertum der

48

Praktische Theologie und Wirklichkeit

etwas wehmütigen Blickes zurück, die "moderne" praktisch-theologische Arbeit hat in den 20er Jahren doch noch viel Kontinuität besessen. Es gab solide Weiterarbeit im Kleinen, es fehlte auch nicht an Versuchen, etwa von Baumgarten, die veränderten Bedingungen praktisch-theologischer Forschung auch theologisch zu bedenken. Doch insgesamt herrschte eher der Chrarakter abschließender Zusammenfassungen vor, so hielten es jedenfalls die beiden Altmeister: Niebergall ließ seine zweibändige 'Praktische Theologie' 1918/19 erscheinen, wie eine nach dem großen Sturm und ihm zum Trotz einzubringende Ernte.71 Und Baumgarten legte mit seiner 'Protestantischen Seelsorge' eine Summa vor, deren Anlage nach seiner Aussage bis ins vorige Jahrhundert zurückreicht.72 5.

Die Tiefenpsychologie in der Praktischen Theologie (Niebergall, Baumgarten)

1932, im Jahre seines Todes, sieht Niebergall zwei große, allerdings völlig konträre Bewegungen an der Reihe, sich zur Aufgabe der Seelsorge zu äußern: einmal die Dialektische Theologie, "wenn sie überhaupt Verständnis für dieses außer der Predigt liegende Menschenwerk hat", zum anderen die Tiefenpsychologie.73 Niebergalls Perspektive war trügerisch, denn die Dialektische Theologie hatte keinerlei Verständnis und ganz andere Sorgen, die Tiefenpsychologie mußte nur wenige Monate später untertauchen und fand sich dann in der völlig veränderten Situation der 40er und 50er Jahre kaum selbst wieder.

Gläubigen in der Seelsorgergemeinde" (ebd.). 71 Birnbaum (1963, 182-184) wertet sie als die zwar eigengeartete, aber doch beste Zusammenfassung des Ertrages der praktisch-theologischen Epoche seit 1880. - Neben Niebergall sieht Birnbaum vor allem in Martin Schians "Grundriß" von 1922 (3. Aufl. 1934) und in Walter Bülcks (des Nachfolgers Baumgartens in Kiel) kleiner "Einführung" von 1934 (2. Aufl. 1949) das "Auslaufen der Vorkriegslinien" (ebd. 179 ff.). Ebenfalls außerhalb der Wort-Gottes-Theologie bemühen sich die Neuentwürfe von Pfennigsdorf, v.d. Goltz und Fendt um eigene theologische Methoden in der praktischen Theologie. Ich kann hier ebensowenig darauf eingehen wie auf Alfred Dedo Müllers Neuansatz in den 30er Jahren. 72 Baumgarten 1931, 273. - Darin sind auch alle früheren Arbeiten Baumgartens zur Seelsorge eingearbeitet, teils wörtlich übernommen, teils stilistisch und inhaltlich erheblich modifiziert. Eine detaillierte Untersuchung des Textbestandes der 'Protestantischen Seelsorge' bietet Gärtner (jetzt Baumgarten) 1979, 2 f. 73

Niebergall 1932, Sp. 216 (= Wintzer 53).

2.5. Die Tiefenpsychologie bei Niebergall und Baumgarten

49

Niebergalls sarkastische Bemerkung über die Dialektische Theologie mag einen mild resignativen Beigeschmack haben. Aber so sanft waren die Auen der Praktischen Theologie denn doch nicht, wie Karl Barth es meinte und weswegen er keinesfalls dorthin abgedrängt zu werden wünschte. Birnbaum schließt sich umstandslos Barths Perspektive an, wenn er Niebergalls Fassung der praktisch-theologischen Aufgaben als eine zarte Welt bezeichnet. 74 Schadenfroh stellt er sich vor, wie der ungefähr gleichzeitige Donnerschlag des 'so und nur so, so aber auch wirklich' da hineinfuhr - so, als hätte er selbst mit dem allen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die liberalen Stellungnahmen aus dieser Zeit hält Birnbaum für hilflos, etwa die entsprechenden Artikel in der 2. Auflage der RGG. Doch das ist einäugig. Es gab viel scharfe und zupackende Kritik an den Dialektikern auch von neuprotestantischer Seite. Hier ist etwa der auch religionspsychologisch ausgewiesene Hermann Faber zu nennen. Noch in seinem RGG-Artikel von 1930 spießt er die mangelnde Dialektik im Kampf der sog. dialektischen Theologie gegen den sog. Psychologismus der praktischen Theologie auf. 75 Im.B. Schairer spricht vom unheilvollen Barthschen Panlogismus. Das Erleben und Fühlen werde die menschliche Seele sich aber nicht austreiben lassen. "Und wenn man ihr nicht sagt, was und wie, so wird sie absolut sicher auf die tollsten Irrwege kommen." Allerdings ist Schairer auch ein Beispiel dafür, daß die Erforschung der Tiefen der Seele ohne aufklärerisches Erkenntnisinteresse leicht in gefährlichen Irrationalismus umschlagen kann. Schairer geriet später an die germanische Volksseele und wurde Deutscher Christ. Nüchterner spricht Werner Gruehn von einer antiwissenschaftlichen Bewegung im Anschluß an Karl Barth. "Sobald wir die Seelsorge nicht einfach Gott überlassen, diese schwerste Aufgabe nicht einfach von uns abwälzen, sondern in irgendeiner Weise in ihren Dienst treten, uns auf seelsorgerische Wege und Mittel besinnen, begeben wir uns sofort in das Gebiet der seelischen Tatsachenwissenschaften ... Auch das Tiefste hat kein anderes irdisches Gewand als das der schlichten seelischen Vorgänge". 76 Der kultur- und religionskritische Impuls der Psychoanalyse hätte zumindest die frühe Dialektische Theologie irgendwie mit ihr in Berührung bringen können. Doch war die Barriere gegenüber Freud offensichtlich unüberwindbarer als die gegenüber Marx (und Lenin, wie beim jungen Karl Barth!). Außerdem können wir wirklich nicht annehmen, daß die Rezeption der Psychoanalyse bei den dialektischen Theologen sachgemäßer geschah als bei so liberalen wie Niebergall und Baumgarten. Schon bei diesen finden wir kaum eine Spur eigenständiger Freud-Lektüre, sondern zumeist einseitige und verkürzende Aufbereitungen sekundärer und tertiärer Art. Mit Pfister als Quelle waren sie also immer noch am besten bedient. Es leuchtet ein, daß der originäre religions- und kulturkritische Ansatz Freuds auf diese Weise gar nicht erst zu den potentiell dafür aufgeschlossenen Theologen durchdringen konnte. Betr. Baumgarten vertritt Gärtner mit überzeugenden Gründen die These, er habe Freuds Religionskritik schlicht nicht gekannt.77

74

Birnbaum 1963, 183, vgl. 192.

75

Faber 1930, Sp. 1404; in Sp. 1401 ist er in der Tat zu vorsichtig! Zum Folg. s. Schairer 1927, 222 f. 76 Gruehn 1927, 25; vgl. 38, Anm. 21. "Schlicht" meint hier wohl nicht unkompliziert, sondern menschlich-allzumenschlich. 77

Gärtner (jetzt Baumgarten) 1979, 63.

Praktische Theologie und Wirklichkeit

50

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die beiden Bewegungen. Von der "Verkündigung" her hatte die Dialektische Theologie die Predigt gewissermaßen gesamttheologisch vereinnahmt. Eine eigene praktische Theologie brauchte sie nicht zu entwickeln. 78 Denn ebenso wie die Predigt sind die verbleibenden klassischen Gegenstände der praktischen Theologie wie Unterricht und Seelsorge nur Anwendungsbereiche der einen Aufgabe von Kirche und Theologie: der ("unmöglichen") Verkündigung des göttlichen Wortes im menschlichen Sein und Leben. Dies gilt auch für Eduard Thurneysens Seelsorgelehre, deren Ansatz er zum ersten Mal im dem 1928 in "Zwischen den Zeiten" veröffentlichten Aufsatz "Rechtfertigung und Seelsorge" darstellt.79 Wenn darin wie sonst in der Theologie der Krisis Psychologie bzw. Psychologismus als der Grundirrtum der bisherigen Theologie und als der Gipfel ihres eigenmächtigen Menschenwerkes erscheinen, so weist das ja auch darauf hin, wie weit es mit der Psychologie in der Theologie, zumal in der praktischen Theologie doch schon gekommen war. Dies geschah freilich, wie wir sahen, selten einmal mit Hilfe fest umrissener Theorien und bestimmter Methoden. "Psychologie" steht eher für das (theologisch begründete!) Interesse, menschliche Art im Reiche der

78

Erst 1963 erschien der Bd. III des Werkes "Theologie als kirchliche Wissenschaft" des Systematikers Hermann Dient. Diese "Die Kirche und ihre Praxis" betitelte Gesamtdarstellung der Praktischen Theologie zeichnet sich dadurch aus, daß die Seelsorge als pastorale Aufgabe darin nicht vorkommt. Die wenigen Bemerkungen über die Seelsorge als praedicatio specialissima (254) sind in dem Kapitel über die Absolution versteckt (232 ff.). 79

Thumeysen 1928 (= Wintzer 73 ff.). In dem erwähnten Ausblick scheint Niebergall (1932) die Schrift nicht als praktisch-theologische Äußerung zur Aufgabe der Seelsorge zu bewerten ... - Wie sehr noch in den 60er Jahren die Sicht dieser Zeit von der Empfindung eines Bruches bestimmt ist, zeigt Rösslers Urteil über die zeitlich ungefähr parallelen Seelsorgekonzeptionen von Blau, Schian, Baumgarten und Fichtner, nämlich, "daß sie ohne Echo geblieben sind, daß sie keine weitere Aufnahme fanden und also nur als Nachhall einer vergangenen Epoche anzusehen sind" (1962, 17). Denn bei aller sonstigen Verschiedenheit teilen sie sämtlich "den von Thumeysen im Ansatz abgelehnten Weg, von der menschlichen Seele, von den menschlichen Fragen und Umständen auszugehen" (ebd. 20). Letzteres ist natürlich richtig, aber Rösslers Urteil über die Wirkung dieser Ansätze ist historisch anfechtbar und schon deshalb schief, weil es eigentlich erst der Bruch durch den Faschismus war, der zum 'Sieg' der Dialektischen Theologie führte, ihren Ansatz 'von oben' als theologisch einzig möglichen gleichsam legitimierte und noch weit über 1945 hinaus besiegelte. Dies führte zu der von mir so genannten Lückentheorie (Abschn. 7).

2.5. Die Tiefenpsychologie bei Niebergall und Baumgarten

51

Religion zu verstehen, wie wir es von Drews hörten.80 Und das geht nun einmal nicht ohne Erfahrungswissenschaft, neben der Soziologie vor allem die Psychologie, die in ihrem weitesten Verständnis als die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben bezeichnet werden kann.81 Innerhalb dieses breiten Spektrums ist die Tiefenpsychologie ein sehr spezifischer und doch allgemeine Geltung beanspruchender Versuch, die "menschliche Art" zu verstehen, einschließlich der Religion. Sehen wir bis über die Jahrhundertmitte hinaus, so hatte die Tiefenpsychologie vom Beginn der 20er bis zum Beginn der 30er Jahre die Zeit ihrer größten öffentlichen Wirksamkeit und Resonanz. Dies gilt auch für Oskar Pfisters Analytische Seelsorge, sein so betiteltes Buch erschien 1927. In diesen Jahren kann er sie in einer Fülle von Veröffentlichungen, auch Neuauflagen und Übersetzungen, auf ausgedehnten Reisen in Europa und Amerika sowie in zahlreichen Vorträgen und Fortbildungsveranstaltungen im kirchlichen wie pädagogischen Bereich ein Stück weit aus ihrem Schattendasein herausholen und damit die psychologische Unterströmung der praktischen Theologie82 in tiefenpsychologischer Richtung verstärken. Es ist die Tiefenpsychologie Freudscher Prägung, für die er wirbt, und zwar sowohl als Erweiterung unserer anthropologischen Erkenntnisse (einschließlich der religionspsychologischen) wie auch und vor allem als spezifische Methode in der speziellen Seelsorge, in der es um den Umgang mit religiös-sittlichen Konflikten einzelner geht. Der Neuansatz bezieht sich also ebenso auf die (anthropologischen) Bedingungen wie auf die traditionell so genannten Mittel der Seelsorge. Auf beiden Ebenen will Pfister helfen, einen "neuen Zugang zum alten Evangelium" zu bahnen83, weil der alte Zugang so häufig durch

80 Drews 1901, 6 (= Wintzer 59). Seinen 1913, ein Jahr nach seinem frühen Tod, erschienenen RGG-Artikel über die religiöse Volkskunde beschließt Drews mit den Worten: Daß der Geist der religiösen Volkskunde "der Geist dessen ist, der kam, um zu suchen und selig zu machen, wer kann das bezweifeln?" (Bd. V, Sp. 1753). 81

Vgl. Drever/Fröhlich 1968, 10 f.

82

Damit wäre eine Erkenntnis Schleiermachers auf modifizierte Weise realisiert: "Da es auf dem kirchlichen Gebiet kein anderes Objekt des Einwirkens gibt als die Gemüter: so fallen alle Regeln der praktischen Theologie unter die Form der Seelenleitung" (Kurze Darstellung, 1. Aufl. 1810, III, § 10 = Scholz 101, zu 2. Aufl. 1830, § 263). 83

So der Titel des 1918 erschienenen Vorläufers der 'Analytischen Seelsorge' von 1927. 1930 erscheint die "Psychologische Seelsorge" des analytischen Psychotherapeuten Hans March. - Als "HauptVertreter der Psychoanalyse unter den Theologen" erhält Pfister in der 2. Auflage der RGG sogar einen eigenen Kurzartikel (Bd. IV, Sp. 1155). In der 3. Auflage

52

Praktische Theologie und Wirklichkeit

neurotische Religiosität, unverstandene Konflikte und falsch plaziertes Leiden blockiert ist. 1931 beschließt die sächsische Landessynode positiv über eine psychoanalytische Ausbildung für Pfarrer, und noch 1933 findet sich im 'Deutschen Pfarrerblatt' ein Artikel über die "Bedeutung der Psychoanalyse für den Seelsorger". 84 Anspruchsvoller schreibt E. Ott 1931 in der 'Theologischen Rundschau' über "Trieb und Geist in der psychotherapeutischen Literatur" sowie über "Das Unbewußte nach der Tiefenpsychologie". Wie verbreitet das allgemeinere Konzept einer beratenden Seelsorge schon war, zeigen die Ausführungen über Seelsorge in der für die Altpreußische Union aufgestellten Lebensordnung von 1931, etwa: "Jedes Gemeindeglied wird den Rat des Seelsorgers in persönlichen Nöten in Anspruch nehmen, ihm den Weg in die Familie bahnen und ihn beizeiten an die Krankenbetten rufen." 85 Diesen Ansatz kritisiert H. Nordmann 1932 in der "Monatsschrift für Pastoraltheologie" als "beratende Seelsorge" und stellt ihm das Konzept einer "verkündenden Seelsorge" aus biblisch-reformatorischer Tradition gegenüber. Freilich ist hier mit Beratung am ehesten Ratschlag gemeint, also das, was den heutigen pastoralpsychologischen Ansatz beratender Seelsorge am allerwenigsten kennzeichnet. 36 Dennoch bleibt die signifikante Parallele, daß der Pastor für kompetent "in persönlichen Nöten" gehalten wird. Trotz seiner eigentlich irreführenden wörtlichen Bedeutung ist Beratung in den vergangenen Jahrzehnten zum unverzichtbaren Terminus technicus für ein breites, aber doch spezifisch eingegrenztes Feld der Lebens- und Konflikthilfe geworden. Die Verwendung des Begriffs ist heute in Theologie und Kirche allgemein üblich geworden und dies nicht bloß im Sinne von "geistlicher Beratung", die die Fragen des irdischen Lebens zunächst in geistliche verwandelt, "um sie dann geistlich zu beurteilen" - so Wolfgang Trillhaas noch 1958.87 Die Bezeichnung einer bestimmten pastoralen Aufgabe als Beratung kündigt sich sporadisch bereits in der neuprotestantisch-liberalen Theologie an. In seiner Schrift "Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte" will Ernst Troeltsch den heutigen (1902) Geistlichen und Theologen den Rücken stärken "für ihren ewig unentbehrlichen und

ist er natürlich wieder verschwunden. 84

D. Mehlhose 1933. - Die sächsische Synode beschließt, "für die evangelischen Seelsorger Sonderkurse über psychoanalytische Wissenschaft einzurichten, Dozenten für Seelsorgekunde an die theologischen Fakultäten zu berufen und die Kandidaten beim ersten und zweiten theologischen Examen in Psychoanalyse und anderen Gebieten der Seelenkunde zu prüfen" (nach Cremerius 1981, 286). Dagegen polemisiert noch im Mai 1933 ein F. Maraun in der illustren Öffentlichkeit der Berliner Börsenzeitung: Wider die Psychoanalyse. Psychoanalyse und Christentum, in: Kritische Gänge, Literaturblatt der Berliner BörsenZeitung, Nr. 20 vom 14.05.1933; abgedruckt in Cremerius 1981, 285-288. Vgl. auch Läpple/Scharfenberg 1977, 3 f. 85

Zit. n. Nordmann 1932, 241.

86

Vgl. z.B. Thilos gleichnamiges Buch (1972).

87

Trillhaas 1958, 99 ff., 103.

2.5. Die Tiefenpsychologie bei Niebergall und Baumgarten

53

herrlichen Beruf der religiösen und ethischen Verkündigung, Beratung und Erziehung". Und Otto Baumgarten betont 1913, "daß der beste Maßstab pastoraler Tüchtigkeit in dem Grade der Inanspruchnahme für spezielle Seelsorge, für Beratung und äußere und innere Stärkung zu finden ist". 88

Aber bei allem theologischen Denken und Forschen 'von unten', die Psychoanalyse kam in so anstößiger und provokativer Weise von dort her, daß sie auch im Bereich der neuen praktischen Theologie nur sehr vorsichtig und zögernd aufgenommen wurde. Doch immerhin war ihre auch hier mindestens ambivalente Rezeption nicht von der besserwisserischen oder moralisch entrüsteten Arroganz, wie sie in den 20er Jahren in Theologie und sonstiger Wissenschaft überwog. Es muß festgehalten werden, daß Niebergall und Baumgarten die neue Wissenschaft weder abwiesen noch eilfertigverwässernd in ihr eigenes Denken integrierten, sondern Raum für sie offenließen. Sie spürten wohl mehr (Baumgarten) oder weniger (Niebergall) das wirklich Neue an der Psychoanalyse, und dies auch in der relativ milden, wenig provokaüven Fassung Pfisters, in der sie sie zumeist, wenn nicht ausschließlich zur Kenntnis nahmen.89 Doch beide haben sich nicht auf eine tiefere Begegnung und Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse eingelassen. Die Gründe dafür liegen nicht in der Pfisterschen Version; die hätte es ihnen eher erleichtert. Abgesehen vom Lebensalter der beiden Männer - eine volle Generation vor Pfister - liegen die Gründe bei ihnen auf

88 89

Baumgarten 1913, Sp. 541 = 1931, 176; Troeltsch 1969, 93.

Vgl. vor allem Niebergall II, 1919, 392-394; Baumgarten 1931, 273-277. Auf Pfister weist nicht nur der direkte Rückbezug hin, sondern auch manche spezifische Wortwahl in beiden Abschnitten. Niebergall schreibt sogar noch 1928 (80 f.) das Wort Psychoanalyse ohne das o, dies ist Pfisters gewöhnliche Schreibweise. Im übrigen beziehen sich beide Theologen auch Ende der 20er Jahre noch fast ausschließlich auf den Fall Dietrich und die anschließende Kontroverse mit Fr.W. Foerster, erschienen 1909/10 in Baumgartens 'Evangelischer Freiheit'. Unsere Kapitel 7 und 8 sind somit auch ein indirekter Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse in der deutschen evangelischen Theologie. Baumgarten verweist immerhin auf Pfisters "Analytische Seelsorge" von 1927. Betr. Tiefenpsychologie fußt Niebergall neben Pfisters frühem Aufsatz ausschließlich auf G. Diettrich (statt falschem "Dittrich", II, 393), einem Arzt und Theologen. Dieser wiederum bezieht seine Kenntnisse aus einigen Schriften Pfisters sowie W. Stekels (statt falschem "Steckel", I, 191, II, 393) und J. Marcinowskis (vgl. Diettrich 1915/16). Über eine gewisse Hilfestellung der Psychoanalyse hinaus liegt ihm an einer pneumatischen Seelenführung, so der Titel einer Schrift von 1931. Der psychagogische Zug paßt gut zu dem pädagogischen Charakter der Theologie Niebergalls. - Diese Quellenlage ist gewiß keine Basis für eine Kritik an der der Psychoanalyse möglicherweise impliziten Anthropologie (vgl. Sandberger 1972, 251).

54

Praktische Theologie und Wirklichkeit

eine Weise verschieden, die charakteristisch ist für ihre je eigene wissenschaftliche Existenz. Niebergalls Praktische Theologie ist von einem pädagogischen Eros erfüllt, der auch seinen durchgängig psychologisch-verstehenden Denkansatz in eine pädagogische, also 'synthetische', aufbauende Richtung zieht. Ihm geht es weniger darum, Störungen und Hemmungen der Entwicklung zu verstehen und zu bearbeiten, also um Pathologie und Therapie, als vielmehr darum, die Entwicklung zutreffend zu erfassen und das vom 'Ideal' her gesehen Richtige darin zu befördern. Dieser synthetische Zug bedeutet zugleich Prophylaxe, denn eine gute Erziehung verhindert spätere Pathologie, genauer, sie hilft dazu, die notwendigen Krisen und Konflikte ohne größere Schäden zu überstehen. Praktische Wissenschaft zielt auf die Erkenntnis, "auf welchem Weg die Wirklichkeit im Sinn des Ideals zu gestalten sei"90. Darum stellt Sandberger Niebergalls praktischtheologisches Gesamtwerk als Erziehungslehre dar und gibt der Untersuchung den Titel "Pädagogische Theologie" (1972). Nach dem Urteil sogar Birnbaums war diese große evangelische Erzieherpersönlichkeit schlechthin führend darin, die praktische Theologie psychologisch auszubauen und für die pastorale Arbeit fruchtbar zu machen. Das Kritik und Reflexion leitende "Ideal" Niebergalls beruhe auf einer Art durch Geschichte und Psychologie geschulter Intuition, die man bei ihm als kryptopneumatisches Element bezeichnen könne." M.a.W. es gibt ein kritisches Prinzip, wenn auch eher im finalen als im kausalen Sinne. Bei Niebergall bestimmen theologische Kriterien die Auswahl und Rezeption psychologischer Konzepte.' 2 Freilich benutzt er seine Kriterien kaum im Sinne analytischer Schärfe, sondern eher im Sinne synthetischer Konstruktion in Richtung des Ideals. Die "idealistische" Kritik am Positivismus bei gleichzeitig entschlossen empirischer Orientierung, das verbindet Niebergall mit Pfister. Auch seinen hermeneutischen Grundbegriffen Phantasie und (voluntaristisch verstandenes) Unterbewußtes begegnen wir bei Pfister wieder, ebenso der Persönlichkeit als zentralem Konzept. Doch Niebergalls Begriff des Unbewußten ist nicht eigentlich mit Hypothesen über bestimmte innere Konflikte verknüpft, darum bleibt er vage.93 Was er als psychologische "Gesetzmäßigkeiten" beschreibt, ist hauptsächlich Alltagspsychologie, nahe am natürlichen Empfinden, von dem er auch ausdrücklich ausgehen will. So fehlt ihm die kritische Kraft, Hemmungen des Ideals analytisch zu erklären. Demgegenüber sieht Pfister das Ideal der Liebe durch die Angst gehemmt, oft genug durch unbewußte Fixierungen und Verwicklungen, die mit Hilfe psychoanalytischer Konzepte zu erforschen und aufzulösen sind.

Viel stärker als Niebergall ist Pfister auf die Pathologie und Therapie der Entwicklungssiörw/jgen konzentriert. Dazu braucht er eine konsistente

90

Niebergall II, 1919, 1; vgl. I, 1918, 6-9.

91

Birnbaum 1963, 182-184.

92

So auch Sandberger 1972, 50.

93

Vgl. ebd. 47 f., zum Ganzen 45 ff., 59 ff.

2.5. Die Tiefenpsychologie bei Niebergall und Baumgarten

55

Entwicklungstheorie bzw. Entwicklungspsychologie, während Niebergall mit einer eher intuitiven, vor- bzw. nachwissenschaftlich argumentierenden Psychologie auskommt, um das im Handeln immer schon vorhandene "Gefühl für das Richtige" systematisch zu klären und zu vertiefen und so zwar nicht ohne theoretischen Anspruch, aber doch "möglichst unmittelbar durch die Theorie der Praxis zu dienen".94 Das zweite wesentliche Unterscheidungsmerkmal liegt darin, daß Niebergall primär nicht die Entwicklung des einzelnen meint, sondern die eines Kollektivs, der christlichen Gemeinde als Ortsgemeinde. Sie schließt zwar die einzelnen irgendwie ein, aber zur "Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung" legen sich doch zunächst andere Verstehenszugänge nahe als die von der Psychoanalyse bereitgestellten. Auf der eher praktischen Ebene kommt Niebergall später immerhin zu einer deutlich positiven Stellungnahme: Für die Diagnose sollte jeder Seelsorger mit der neuen Kunst vertraut sein, um dann, analog dem Verhältnis von Arzt und Facharzt, womöglich an den Psychoanalytiker als geeigneten Therapeuten zu überweisen. Darüberhinaus mag sich der eine oder andere Seelsorger auch psychoanalytisch ausbilden lassen; dies ist jedenfalls besser als Kurpfuscherei.95 Bei Baumgarten ist die Offenheit für die neue Wissenschaft größer, die Ambivalenz in der Beurteilung ihrer Zukunftsbedeutung geringer. Seine Stellungnahme fällt insgesamt persönlicher aus und damit auch seine Begründung dafür, daß er diese wohl bereits "reifen Früchte der Seelenforschung" nicht mehr in seine Handreichung für Seelsorger einarbeitet.96 Niebergall meint, "vielen mag eine neue Welt aufgehen" über den neuen Erkenntnissen, aber eigentlich sei die ganze Lehre und Praxis nicht neu, wenn sie auch heute erst allgemein zur Geltung komme.97 Demgegenüber

94

Niebergall II, 1/2. "... Denn man handelt nicht schlechter, wenn man weiß, warum man etwas tut, als wenn man es nicht weiß" (ebd. 2) - eine vortreffliche Begründung aller psychologischen Arbeit, die sich sogar noch steigern läßt: Man handelt in der Regel sogar besser! 95

Ders. 1928, 80 f.

96

Baumgarten 1931, 274.

97

Niebergall II, 1919, 393. Viele menschliche Leiden "kommen von den Nerven her; aber deren traurige Verfassung ist wieder oft durch die Verdrängung von Trieben bedingt, die nun einmal wie der Geltungs- und der Geschlechtstrieb zu den stärksten seelischen Mächten gehören" (ebd.). Darum muß der Seelsorger schon etwas davon wissen ...

56

Praktische Theologie und Wirklichkeit

bekennt Baumgarten immerhin, auch er habe schließlich seine Augen öffnen müssen "für das unheimliche Gebiet der Triebregungen, ihrer Verdrängungen und Sublimierungen". Doch bei all seiner Bereitschaft und Offenheit für solche Forschung sei es ihm leider nicht möglich gewesen, "in den letzten Jahren mich so einläßlich mit der neuen Wissenschaft zu beschäftigen, wie sie es von allen denen fordert, die mitreden wollen". Baumgarten sieht also durchaus die hohen theoretischen und praktischen Ansprüche der neuen Richtung, bis hin zur eigenen analytischen Tätigkeit und zur Eigenanalyse (unter Berufung auf Pfister). Wegen seiner "tiefen Verstricktheit in das öffentliche Leben" sieht er sich an all dem gehindert; hier appelliert er geradezu an das Verständnis des Lesers, der seine politischen Aktivitäten in den 20er Jahren kennt.98 Als tiefere Wurzel seiner "Behinderung" erscheint ihm der hochgradige Zweifel, ob seine Beobachtungs- und Phantasiebegabung für "so diffizile Vorgänge" wie die psychoanalytische Arbeit ausreichen würde." Dies als "prinzipielles Bedenken" positiv gewendet und auf den "Durchschnitt der Pfarrer" verallgemeinert, veranlaßt Baumgarten zu der skeptischen Vermutung: "Man kann ja doch nicht ein ganzes Volk zu klarbewußten Seelenpflegern des nachwachsenden Geschlechts erziehen, auch bei den durchgebildetsten Methoden der Volksbildung nicht." Er bleibt aber bei der auch von Pfister immer wieder erhobenen Minimalforderung, unsere Seelsorger müßten "dies Grenzgebiet der Seelsorge so weit beherrschen, daß sie die Neurosen bei Kindern und Erwachsenen rechtzeitig erkennen und nicht durch Beichte, seelsorgerliche Bearbeitung und Ausschelten ihres sündigen Herzens sie noch tiefer in seelische Nöte hineinführen". Und bei aller Skepsis bezüglich Pfisters Bild von Jesus als dem vorbildlichen Seelsorger teilt Baumgarten doch die christologische Perspektive von dessen analytischer Seelsorge. Er zeigt sich davon überzeugt, "daß zu voller Ausbildung evangelischer Seelsorger der Einblick in das Wesen und die Grenzen der Psychoanalyse und Psychotherapie und das Erfülltsein von dem Mitgefühl Christi gehört, der gerade den von unbewußten, dämonischen Mächten fehlgeleiteten, verknechteten Seelen Helfer und Heiland war". Wie offen für ihn die ganze Sache bleibt, zeigt sich auch darin, daß er

98

Baumgarten 1931, 273-275. Seine politische Arbeit beschreibt er ausführlich in seiner Autobiographie "Meine Lebensgeschichte" (1929). 99

Ebd. 275, die folg. Zitate 275-277.

2.5. Die Tiefenpsychologie bei Niebergall und Baumgarten

57

im folgenden "die übrigen, die älteren Mittel" seelsorgerlicher Diagnose und Therapie zusammenstellt, inhaltlich ganz so wie schon 1913, nur damals noch ohne diese Einschränkung.100 Doch sogar schon 1913 finden wir nach dem bündigen Diktum "Geisteskrankheit ist Gehirnkrankheit, ihre Heilung Sache des Arztes, nicht des Seelsorgers" mit dem Einschub "doch Psychoanalyse!" eine verheißungsvolle Möglichkeit angedeutet: daß nämlich die "Übermittlung des Gnadentrostes" nicht bloß "Pflicht der Erhaltung in der Gemeinschaft Christi auch während des Krankseins" ist, sondern unter bestimmten, eben von der Psychoanalyse entdeckten bzw. hergestellten Bedingungen auch Heilmittel der Krankheit sein kann. Immerhin sieht Baumgarten also schon damals mit der Psychoanalyse die mögliche Wiedergewinnung einer zentralen Dimension christlicher Seelsorge verbunden. 101 So ist die analytische Seelsorge nicht ohne manche innere und äußere Verbindungslinie zur "Evangelischen Freiheit". Als Nebenlinie der neuen Praktischen Theologie auf der Suche nach Wirklichkeit hatte sie keine Chance, zur Hauptlinie zu werden. Die Frage, ob sie ohne den Faschismus ebensowenig eine gehabt hätte, erscheint müßig. Mit dem Hinweis auf diese Zusammenhänge schließt sich der Kreis unserer Darstellung, die den Tendenzen der neuen Praktischen Theologie gewidmet war, wie sie sich nach der Entwicklung ihrer wichtigsten Zeitschrift in drei Abschnitten unterscheiden lassen. Der mit Stecks Worten "eigenen vierten Möglichkeit der Vermittlung von theologischer Theorie und kirchlicher Praxis"102, der Pastoraltheologie nämlich, wenden wir uns jetzt zu.

100

Ebd. 277 ff., so gut wie identisch mit 1913, Sp. 550 ff.

101

Baumgarten 1913, Sp. 550. Vgl. Sp. 549: "Wie die Psychotherapie beweist, sind wir vielleicht zu weit gegangen im Verzicht auf direkte Einwirkung der Seelsorge auf leibliche und Seelenstörungen". 102 Steck 1981, 18, von mir hervorgehoben. Zu Begriff und Geschichte der Pastoraltheologie als Gattung praktischer Theologie vgl. die Übersicht bei Gerhard Rau 1970, 13 ff., 27 ff.

58 6.

Praktische Theologie und Wirklichkeit

Seelsorge als Fluchtpunkt der Pastoraltheologie

1904 wird die "Monatsschrift für Pastoraltheologie" gegründet. "Unter Mitwirkung von namhaften Männern der Wissenschaft und der Praxis" und mit dem Ziel der "Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens" setzt sie die pastoraltheologische Tradition des 19. Jahrhunderts fort. Deren praktische Bedeutung, ihr kirchlich-pastoraler Nutzungswert ist kaum hoch genug einzuschätzen. Und vielfach muß sie die Wirklichkeit nicht programmatisch suchen, sondern konnte selbstverständlich aus ihr schöpfen, wenn dies auch aus Gründen der Praxisunmittelbarkeit nicht ohne Kurzschlüsse geschah. Doch bei allem praktischen Nutzungswert läßt sich auch in der Pastoraltheologie, parallel zur Verwissenschaftlichung der praktischen Theologie, eine "Tendenz zur wissenschaftlichen Strukturierung und Systematisierung der pastoralen Lebenswelt" nachweisen.103 Schon im 19. Jahrhundert handelt es sich zumeist um Parallelstücke zu den Topoi der universitären Praktischen Theologie, doch zugeschnitten auf das Bedürfnis einer "irgendwie geordneten Amtsanweisung für künftige Pastoren".104 Bereits G.J. Plancks "Das erste Amtsjahr des Pfarrers von S. in Auszügen aus seinem Tagebuche" will eine "Pastoraltheologie in Form einer Geschichte" sein (1823). Auch im opus palmare dieser Gattung, in Büchseis "Erinnerungen" (1861), sind die Erfahrungen des amtlichen Lebens in der Form von "Beiträgen zur praktischen Theologie" geordnet.105 Und am Beginn unseres Jahrhunderts faßt August Hardeland seine "Gedanken und Erwägungen aus dem Amt für das Amt" unter dem Obertitel Pastoraltheologie zusammen. In erstaunlicher Kontinuität - sie hängt wohl mit der trotz aller Umbrüche

103

Ebd. 26.

104

Baumgarten 1931, 1. Das "irgendwie" hat denn auch zu dem hartnäckigen Urteil geführt, die Praktische oder Pastoral-Theologie sei ein Gerede de omnibus et quibusdam aliis. - Die Parallele zur Universitätstheologie stellt bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Baseler Bernhard Riggenbach in seinen "Vorlesungen über Pastoraltheologie" heraus (1898, 5 f.). 105

Büchsei 1907, III. Vgl. Hardeland 1907, 6. - 1905 schreibt Joh. Haase in seinem Buch "Der praktische Geistliche in seinem Werden und Wirken" vierzehn "zwanglose Briefe" (Untertitel). Sie begleiteten den Leser vom Gymnasiasten, der den geistlichen Beruf wählt, bis zum pensionierten Pastor, der an seinen Tod und sein Begräbnis denkt.

2.6. Seelsorge und Pastoraltheologie

59

relativen Kontinuität des traditionellen Pfarramtes zusammen106 - erstreckt sich das Bedürfnis nach solcher Literatur über mehr als ein Jahrhundert, von den großen Pastoraltheologien eines Harms, Löhe oder Palmer noch ganz zu schweigen. Der didaktische Ort solcher praktischer Theorie des Pfarrerberufes ist nicht die Universität, sondern das Predigerseminar, der Pastorenkonvent, die Pastorenfortbildung. Die zweilinige Entwicklung der praktisch-kirchlichen Theorie seit Schleiermacher ist bei Steck erschöpfend dargestellt.107 Nach ihrem oben erläuterten Charakter kann es uns nicht mehr erstaunen, daß sich in bestimmten Bereichen der neuprotestantisch-liberalen Theologie diese beiden Linien stark annähern und gelegentlich auch berühren. Noch vor oder besser in allem wissenschaftlichen Bemühen geht es ihr ja um Wirklichkeit und Leben. Das bessere Verstehen soll dem besseren Handeln des kirchlichchristlichen Praktikers dienen. So knüpft Otto Baumgarten ausdrücklich an Claus Harms' Pastoraltheologie an. Bülck meint sogar, tatsächlich sei das, was Baumgarten wolle, "nichts anderes als die alte Pastoral, vertieft und auf wissenschaftliche Höhe erhoben durch die moderne religionsgeschichtliche und -psychologische Betrachtungsweise ... Seine Art, die praktische Theologie zu betreiben, ist die konsequente Weiterbildung und Fortentwicklung der Harmsschen Patoraltheologie".108 Die Berufswirklichkeit, die die ältere Pastoralklugheit auf ihre Weise beschreibt, wird nun als soziale und

106 Auch Steck (1974,40) weist auf die große Kontinuität des traditionellen pastoraltheologischen Materials hin, wenn es auch in unterschiedlich konzipierten pastoraltheologischen Berufstheorien zusammengestellt wird. - Von heute her gesehen ist die Kontinuität des traditionellen Pfarrberufs schon seit längerem in Frage gestellt. Damit und weniger mit dem Ende der liberalen Theologie, wie Steck meint (ebd. 21), scheint mir die relative Bedeutungslosigkeit der Tradition der unwissenschaftlichen Pastoraltheologie heute am ehesten zusammenzuhängen. Freilich ließe sich für beide Entwicklungen eine gemeinsame Wurzel finden. 107 108

Ebd. 29, vgl. 56.

Bülck 1921, 85. Vgl. Baumgarten 1931, 1 , 1 6 9 f., ähnlich auch 1913, Sp. 1722 f. Zu Claus Harms' bedeutender Resonanz im Bereich der Kieler Praktischen Theologie, zumal unter den Theologiestudenten, vgl. Bülck 1921, 68 ff. Das Resümee seiner "Geschichte des Studiums der praktischen Theologie an der Universität Kiel", veröfffentlicht 1921 aus seinem Pastorat in Kellinghusen heraus, lautet: "Die Feststellung, daß das System der praktischen Theologie ein vorübergehender Irrweg eines Strebens nach falscher Wissenschaftlichkeit gewesen ist und die praktische Theologie weiter zu bauen hat auf den gesunden Grundsätzen der zu Unrecht verworfenen alten Pastoral, ist uns das wertvollste Ergebnis unserer Untersuchungen" (ebd. 85, vgl. auch 74).

60

Praktische Theologie und Wirklichkeit

psychische Wirklichkeit nicht nur der pastoralen, sondern der gemeindlichen Lebenswelt neu strukturiert.109 Und dabei ist, wie Baumgarten betont, "weit weniger gelegen an dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit als an der Gewissensschärfung im Sinne der Palmerschen Pastoralmoral, dieser aber nun nicht bloß als einer kasuistischen Standesmoral, sondern unter dem einheitlichen Gesichtspunkt des Seelsorgebegriffs." In diesen Worten Baumgartens kommt eine Tendenz zum Vorschein, die schon die Pastoraltheologie des 19. Jahrhunderts mitbestimmt. Es ist die große Nähe von "Pastoral" und Seelsorge,u0 Beschäftigt sich die Pastoraltheologie auch mit allen möglichen Problemen der pastoralen Berufswelt, so steht der seelsorgerliche Charakter dieses Berufes doch im Vordergrund vieler einschlägiger Werke. Zunächst als Merkmal des spezifischen sozialen Lebenszusammenhanges, der den Pfarrerberuf ausmacht: der Pfarrer ist Seelsorger und zwar in all seinem Leben und Wirken. Paul Blau schreibt 1912: "Seelsorge ist für mich das Herz, ja der oberste Gesichtspunkt aller Pastoralarbeit; wenn der Pastor ist, was er sein soll, ist er immer und überall Seelsorger." Wenn Blau der Seelsorge gegenüber der "Vielgeschäftigkeit äußerer Amtsverrichtungen" ihre zentrale Stellung im geistlichen Amt zurückgeben will111, dann klingt darin schon an, daß die Seelsorge auch immer deutlicher als ein bestimmtes, relativ abgegrenztes Tätigkeitsfeld des Pastors verstanden wird: die "eigenthümliche Seelenpflege des evangelischen Hirtenamtes" (Nitzsch), die individuelle Pastoration, die freie Seelsorge 109 Ähnlich Drews 1901,6 (= Wintzer 58). Zum Ausdruck Pastoralklugheit vgl. Schleiermacher: KD § 308, Zusatz. - Das folg. Zitat Baumgarten 1931, 2. 110

So ausdrücklich Alexander Schweizer 1875, 9 (§ 4), vgl. 3 (§ 1). Ebenso ein halbes Jahrhundert später Paul Blau: Pfarramt und Seelsorge, 1927. 111

Blau 1912, IV. - In Alexander Vinets Pastoraltheologie (1896) ist mit Seelsorge der ganze Lebenszusammenhang des Pfarrers bezeichnet: "Der Diener am Evangelium ist der Christ von Amts wegen, der symbolische Mensch, und zwar in allen Momenten seiner Erscheinung" (I, 129 f., zit. n. Steck 1974, 49). Auch H.A. Köstlin will versuchen (1895, VII), "die Aufgaben der Kirche und des Amtes unter dem Gesichtspunkt der Seelsorge zusammenzufassen, im Lichte dieser Hauptaufgabe, die denn doch Kem und Stem aller kirchlichen Tätigkeit bildet, zu betrachten und mit derselben als dem Mittelpunkt in lebendige Beziehungen zu setzen". Daß dies damals weitgehend konsensfähig war, zeigen ähnliche Formulierungen in dem verbreiteten Lehrbuch von Achelis (III, 1911, 1, vgl. 8; auch Achelis 1906, 132 f.).

2.6. Seelsorge und Pastoraltheologie

61

(Schweizer), letztlich die cura specialis gegenüber der cura generalis, um so eher freilich, als letztere als pastoraler Lebenshorizont überhaupt gesehen wird. So übertrifft schon in Burks "Evangelischer Pastoral-Theologie in Beispielen" von 1839 der Abschnitt über das Seelsorgeamt dem Umfange nach alle anderen Abschnitte. 112 Bei Claus Harms, wohl dem Vater der klassischen Pastoraltheologie, ist das Buch über den Pastor empirisch-direkter aus den eigenen Erfahrungen heraus geschrieben als die Bücher über den Prediger und Katecheten und über den Priester.113 Welch breiten Raum in der Arbeit des Pastors, über seine sozialen und administrativen Funktionen hinaus, der im engeren Sinne pädagogisch-seelsorgerliche Bereich einnimmt, zeigt ein Blick in Harms' eigene "Lebensbeschreibung": An einem einzigen Tage notiert er einmal acht seelsorgerliche Beratungssituationen "allein in Ehesachen"! 114 Aber auch und gerade in der weniger bekannten pastoraltheologischen Literatur nimmt die Seelsorge, jetzt auch im engeren Sinne der speziellen Seelsorge, einen immer breiteren Raum ein.115 Hermann Dalton etwa fügt seinem nach pastoraltheologischem Muster aufgebauten, erfahrungsgesättigten Arbeitsbericht "Aus dem Leben einer evangelischen Gemeinde" nach einigen Jahren einen zweiten Teil hinzu, den er "Aus dem Tagebuche eines evangelischen Seelsorgers" nennt (1907). Die beiden Teile verhalten sich zueinander wie generelle und spezielle Seelsorge, wie die Seelsorge als Kennzeichen der gesamten Pastoralen Berufstätigkeit und als besondere Arbeit mit dem einzelnen Gemeindeglied. 116 Diese Auffassung der Seelsorge ist damals ziemlich allgemeiner Konsensus; neu und auffällig ist nur, daß den seelsorgerlichen Einzelkontakten ein eigener Band vorbehalten ist, neun ausführlich und spannend erzählte Fallgeschichten! In gewisser Weise gipfelt dieser Trend in Paul Blaus Sammelband "Praktische Seelsorge in Einzelbildern aus ihrer Arbeit" (1912). Freilich befinden wir uns damit schon nicht mehr auf dem Boden der klassischen Pastoraltheologie, die immer den Anspruch

112

M.J.C.F. Burk II, 1839, 151-546. Bd. I erschien 1838. Es handelt sich um eine Art Schatzkästlein der seelsorgerlichen Praxis, dessen empirische Fülle trotz manchmal altertümelnder und moralisierender Darstellungsweise beeindruckend ist. 113

Vgl. Steck 1974, 37 f. Auch in Christian Palmers Pastoraltheologie liegt das Hauptgewicht auf dem "Pastor", ähnlich in den bei Schweizer aufgeführten pastoraltheologischen Journalen und Sammlungen (1875, 7, § 3). 114

Abgedruckt bei Wintzer 23, Anm. 2. Die Tatsache, daß es fast ausnahmslos um Probleme Verlobter geht, spricht für sich. 115

Vgl. etwa Riggenbach 1898, 194 ff. Einen Grund dafür sieht Schweizer (1875, IV) in der stärkeren Entlastung der Kirche bzw. des Pastors von staatlichen Aufgaben: "Mag die seelsorgerliche Pastoralthätigkeit, so wie sie an das Gerichtswesen und die öffentliche Administration des Landes sich anschließt, zurücktreten; nur um so mehr muß die freie und specielle Seelsorge als Ersatz dafür Bedürniß werden." 116

Vgl. Dalton 1907, VII.

62

Praktische Theologie und Wirklichkeit

stellte, "den Lebenshorizont des Pfarrers im ganzen darzustellen".117 Aber Blaus Buch weist eben darauf hin, welcher Problemdruck gerade in diesem bestimmten pastoralen Arbeitsbereich herrschte. Und später ist es wiederum Blau, immerhin Generalsuperintendent von Posen, der dieses bestimmte Tätigkeitsfeld sehr klar rückbindet an das Pfarramt im ganzen. Die Seelsorge ist seine Seele, aber auch eines ihrer selbständigen Gebiete." 8 Würde es im wesentlichen bei der Seele bleiben, so käme die konkrete Tätigkeit zu kurz. Würde andererseits nur das Tätigkeitsfeld beschrieben, wo bleiben der Seelsorger selbst und sein pastoraler "Lebenshorizont"? Blau nimmt die wichtigsten Elemente der pastoraltheologischen Tradition auf, wenn er in seinem Buch "Pfarramt und Seelsorge" die Bedeutung der Persönlichkeit für die pastorale Seelsorge ins Zentrum stellt, um dann abschließend in breiter Form über den "Pfarrer und seine Seele" zu handeln. 119 Nicht nur von der pastoralen Praxis, sondern auch von der praktisch-theologischen Wissenschaft her zeigt sich der Trend zur Verselbständigung und Ausweitung der Seelsorge, am deutlichsten in Alexander Schweizers "Pastoraltheorie oder die Lehre von der Seelsorge des evangelischen Pfarrers" (1875). Freilich umfaßt Seelsorge weit mehr als bloß die freie, spezielle Seelsorge an einzelnen oder kleinen Gruppen. Als "unbestimmteres Ergänzungsgebiet" neben Homiletik, Liturgik und Katechetik120 deckt sie die pastorale Praxis von der Führung der Kirchenbücher bis zum persönlichen Lebenswandel ab, also doch wieder einen Großteil der klassischen pastoraltheologischen Gegenstände. Das gleiche gilt für die nach Schweizer erste gesonderte Seelsorgelehre, die H.A. Köstlin im Rahmen einer Sammlung praktisch-theologischer Lehrbücher 1895 veröffentliche, nicht zufällig vom didaktischen Ort Predigerseminar her.121 Auch hier bleibt also die Erkenntnis erhalten, daß die Persönlichkeit des Pastors, seine privaten und beruflichen Lebensumstände aufs engste mit seinem seelsorgerlichen Wirken zusammenhängen, ja daß das "Christliche" durch das "Persönliche" des Seelsorgers und seines Gesprächspartners vermittelt ist - eine Traditionslinie, in die Pfister sich schon früh und geradezu programmatisch hineinstellt. Allerdings rangiert die "seelsorgerliche Persönlichkeit" bei Köstlin erst als drittes Organ der Seelsorge nach dem Wort Gottes und der Gemeinde. 122 Die Seelsorger haben die Aufgabe der "Zudienung des Heilswortes", der "berufsmäßigen Versorgung der Gesamtheit und der Einzelnen mit dem Heilswort ..., als Träger des Heilswortes ..., als

117

Steck 1974, 51. - Zur weiteren und engeren Bedeutung von Pastoraltheologie vgl. Schweizer 1875, 1 f. (§ 1); Trillhaas 1958, 9. 118

Paul Blau: Pfarramt und Seelsorge, 1927, 11 ff., 23 ff. Das Buch sollte eine theoretische Grundlegung sein für die aufgrund der veränderten Verhältnisse notwendige völlige Umarbeitung der 'Praktischen Seelsorge' von 1912 (vgl. 1927,9), die dann 1929/30 in drei Bänden bzw. 1930 als "Gemeinde und Seelsorge" in zwei Bänden erschien. - Sogar in einem kirchenleitenden Amt wie dem seinen hält Blau (1927, 138 f.) trotz Bürokratie und Vorgesetztenverhältnis einen seelsorgerlichen Dienst an den Amtsbrüdern für möglich! 119

Ebd. 67 ff., 114 ff.

120

Schweizer 1875, 1 (§ 1).

121

Friedberg in Hessen, vgl. Köstlin 1895, V (Widmung). Eine zweite Auflage erschien

1907. 122

Köstlin 1895, 176 ff., vgl. 128 ff. - Zu Pfister vgl. vor allem seinen Aufsatz zur theologischen Studienreform [Abschn. 4], bes. 37, 133.

2.6. Seelsorge und Pastoraltheologie

63

Mandatare der Gemeinde nur, sofern und soweit dieselbe Trägerin des Heilswortes ist". Neben dieser biblisch- und systematisch-theologischen Verankerung der Seelsorge bleibt aber bei Köstlin der Blick auf ihr konkretes Arbeitsfeld nicht verstellt. Wort und Gemeinde sind nicht nur Theologumena, sondern bezeichnen auch bestimmte Interaktionen in einem bestimmten, durch verschiedene Gruppen und Individuen strukturierten sozialen Feld. 123

Was bei Köstlin noch einigermaßen integriert ist, strebt in der Folgezeit immer mehr auseinander. Die eine Linie, die theologische Begründung und Zielbestimmung der Seelsorge - mit der Nebenlinie einer strengen Amtstheologie, etwa in H. Cremers Pastoraltheologie von 1904 geht schließlich in der Wort-Gottes-Theologie auf. Die andere Linie, die Darstellung der konkreten seelsorgerlichen Praxisfelder und Arbeitsbedingungen, der "Klientel" des Pastors, wird von der religiösen Volkskunde und Psychologie aufgenommen. Was dabei zu kurz kommt, ist natürlich die Persönlichkeit des Seelsorgers selbst, seine eigene Frömmigkeit und Weltanschauung, seine mannigfache Verwobenheit in die pastoralen Arbeitsfelder und der große Erfahrungsschatz, der daraus entsteht. In den zum Teil recht persönlichen und lebendigen Erfahrungsberichten in Blaus Sammelband sowie in seiner späteren Monographie scheinen diese Dimensionen noch am ehesten mit enthalten. Im akademischen Bereich gilt dies entsprechend für Niebergalls und Baumgartens Beiträge.124 W o bleiben ansonsten die Interessen der pastoraltheologischen Tradition? Dies sind, nach Stecks Zusammenfassung, das seelsorgerliche Interesse: Seelsorge für den Seelsorger, das rein praktische Interesse: Ratschläge für den "pastoralen Kleinhandel" (Palmer), für alle möglichen beruflich-persönlichen Situationen, und das Interesse an der inneren Seite des Pfarrerberufs: das eigene Leben, die eigene Persönlichkeit als Medium des Berufs: PastoralEthik. 125 Die Pastoralethik wurde früher meist Pastoral-Moral genannt, im Gegensatz zur bloß praktischen, ja kasuistischen Pastoralklugheit. Im entsprechenden Teil seiner Pastoraltheorie schreibt A. Schweizer: "Im Einswerden der Person mit Beruf und Amt liegt die tiefste Quelle pastoraler Kräftigung." 126 Man könnte das erste und das dritte Interesse als das einmal eher religiös, einmal eher ethisch ausgerichtete Interesse an der pastoralen Berufsseelsorge bezeichnen. Heute gibt es, nicht nur im katholischen Bereich, Beratungsstellen speziell für kirchliche Berufe.

123

Ebd. 145, vgl. 291 f.

124

Baumgarten hält 1910 in Tübingen eine öffentliche Vorlesung über "die persönlichen Erfordernisse des geistlichen Berufs" (Einzelveröffentlichung). Niebergall veröffentlicht 1907 ein Buch "Mut und Trost für's geistliche Amt". 125

Vgl. Steck 1974, 32 ff. Ferner Christian Palmer: Evangelische Pastoraltheologie, 1860, 3, zit. n. Steck 1974, 33. 126

Schweizer 1875, 222, § 90.

64

Praktische Theologie und Wirklichkeit

Die zweite, rein praktische Intention der Pastoraltheologie verselbständigt sich allmählich zur Pfarramtskunde. So erscheint 1905 die "Evangelische Pfarramtskunde. Handbuch für die Amtsführung" von A. Wächtler mit dem Schwerpunkt auf organisatorischen und kirchenrechtlichen Fragen, um nicht "auf das Gebiet der Pastoraltheologie sich zu verlieren". 127 Es ist eine Art angewandte Kirchenkunde, konzentriert auf die pastoralen Aufgaben. Neben religiöser Volkskunde und Psychologie gehört die Förderung der Kirchenkunde zu den wichtigsten Bestrebungen der neuen Praktischen Theologie. Nach August Hardeland (1907) erscheint m.W. keine so benannte Pastoraltheologie mehr. 128 Inhaltlich damit gleichgestellt sind am ehesten noch Johannes Haases "Der praktische Geistliche in seinem Werden und Wirken" von 1905 und Hermann Bezzels "Der Dienst des Pfarrers. Mahnungen und Betrachtungen" von 1916.129 In dem zweiten Titel klingt schon an, wohin die pastoraltheologischen Intentionen, zumal die seelsorgerlicherbauliche, sich künftig verlagern: in die Literatur zum Pfarrdienst, die sogenannten Pfarrerspiegel, die Seelsorge für den Seelsorger bieten wollen. Diese Schwerpunktverlagerung spricht für eine verstärkt auch persönlich empfundene Infragestellung des pastoralen Berufsbildes. Titel und Auflagen dieser jetzt reichlich fließenden Literatur sind bezeichnend genug. 130

So spiegeln sich in der Pastoraltheologie auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts praktische Arbeit und Selbstverständnis des Pastors relativ unmittelbar wider. Insgesamt bietet die pastoraltheologische Tradition auch jenseits kleinlicher, absurder oder pfäffischer Kasuistik [Abschn. 8c] ein breites Feld pastoraler Empirie: Beispiele, Szenen, Geschichten, Situationen,

127

Wächtler 1905, IV. Zur Kirchenkunde s.o. Abschn. 3.

128

Der Begriff rutscht gelegentlich in den Untertitel, so bei Niebergall 1928 und sogar noch bei Trillhaas 1950 (vgl. dazu 9 f.). Erst in den letzten Jahren wird wieder deutlicher von Pastoraltheologie gesprochen, ja sogar von ihrer Wiederkehr (Steck 1981). - Die "Monatsschrift für Pastoraltheologie" blieb damals bei ihrem Titel, bis sie sich 1970 in "Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft" umbenannte. Seit 1981, ihrem 70. Jahrgang, ist sie zur "Pastoraltheologie" zurückgekehrt, hat allerdings die zwischenzeitliche Neuerung im Untertitel beibehalten. Vgl. dazu das programmatische Heft 1/1981, darin auch Stecks Aufsatz. 129 3. Aufl. 1926. Der zweite Teil des Büchleins besteht in "Betrachtungen über das Hohe Priesterliche Gebet Joh. 17". 130

Etwa: Hermann Kutter: Wir Pfarrer, 1907; Friedrich Rittelmeyer: Der Pfarrer. Erlebtes und Erstrebtes, 2. Aufl. 1911; D. Vorwerk: Kann auch ein Pfarrer selig werden? Ernste Gedanken für Seelsorger und alle, die an deren Seelen arbeiten, 5. Aufl. 1912! Martin Schian: Der evangelische Pfarrer, wie er sein soll, 1920; Hermann Werdermann: Wir Pastoren. Eine Gegenwartskritik und ein Zukunftsideal, 1919; ders.: Seelsorge an Seelsorgern, 1921; G.Hilbert: Seelsorge an Seelsorgern, ebenfalls 1921! Georg Schuh: Vom evangelischen Pfarrer, 1925; Wilhelm Laible: Der Pfarrer und sein schönes Amt, 1927; Heinrich Niemöller: Pastorenspiegel, 1927; Friedrich Niebergall: Pfarrerspiegel, 1930; Erich Schick: Seelsorge an der eigenen Seele, 2. Aufl. 1934, seitdem immer wieder aufgelegt. Weitere Literatur bei Werdermann (1925, 148 f.), einem Schüler von Paul Drews (ebd. 5).

2.6. Seelsorge und Pastoraltheologie

65

manchmal bis hin zum Protokollstil. Hier finden wir eine Fülle empirischen Materials gerade auch der pastoralen Seelsorge, genau das, was der durchschnittlichen Poimenik weitgehend fehlt und wozu die neue Praktische Theologie, religiöse Volkskunde und Psychologie, am meisten in der Beschreibung der Bedindungsfaktoren leisten. Doch diese Empirie ist überwiegend naiv, intuitiv, günstigenfalls voller Berufs- und Lebensweisheit, jedenfalls aber vortheoretisch und darum mit begrenzten Verstehens- und Tradierungsmöglichkeiten. Wissenschaftliches Verstehen und Tradieren ist jedoch für den pastoralen Beruf erforderlich, wenn auch "Religion als Beruf' die Professionalisierung in bestimmter Weise relativiert und eingrenzt. Auch als Seelsorger braucht der Pastor ein Stück professionelle Kompetenz. Es ist ja erstaunlich, daß gerade in dieser Richtung bis heute fast ungebrochen hohe Erwartungen an den Pastor gestellt werden, wie erst jüngst die großen kirchlichen Umfragen gezeigt haben. Auch die Telefonseelsorge ist in weiten Kreisen so bekannt und hochgeschätzt, daß zum Beispiel eine religiös-kirchlich ungebundene studentische Initiativgruppe ihr Sorgentelefon "Studentische Telefonseelsorge" nennt (so in Hamburg seit fast 15 Jahren). Die Hochschätzung von "Seelsorge" reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück; seit damals ist die Bezeichnung Seelsorger immer volkstümlicher geworden.131 Im 19. Jahrhundert zeigt sich, wie wir gesehen haben, immer deutlicher der Trend, die verschiedenen pastoralen Tätigkeiten unter dem Aspekt der Seelsorge zu betrachten und zusammenzufassen. Der hohe Stellenwert der Seelsorge hält sich durch bis zu ihrer Integration in die neue Praktische Theologie, denken wir nur an Baumgartens "Seelsorger unserer Tage" und an die Schilderungen der religiösen Volkskunde.132 Zu Beginn unseres Jahrhunderts bleiben offensichtlich Kreise des nichtkirchlichen Bildungsbürgertums immerhin noch auf "Seelsorge" ansprechbar. So veröffentlicht Wilhelm Börner 1912 seine dezidiert antikirchlichen, von der humanistischen und idealistischen Tradition

131 132

Vgl. Wächtler 1905, 90.

Hesselbacher will in den Skizzen seiner 'Seelsorge auf dem Dorfe' "möglichst genaue Schilderungen seelsorgerlicher Gespräche mit Landleuten" geben (1920, VI). Bechtolsheimer schreibt in der Ginleitung zu seiner 'Seelsorge in der Industriegemeinde': "Den Begriff 'Seelsorge' fasse ich hier in seinem weitesten Umfange, indem ich darunter die ganze Arbeit verstehe, die auf die Seele des Menschen im christlichen Geiste und Sinne einwirken will. Seelsorge deckt sich hier also mit Pastoration" (1926, 5).

66

Praktische Theologie und Wirklichkeit

inspirierten Betrachtungen über die neue, für den einzelnen wie für die Gesamtheit notwendige seelische und ethische Kultur unter dem programmatischen Titel "Weltliche Seelsorge".133 In der pastoraltheologischen Tradition hatte die Behandlung der pastoralen Seelsorge ihr bestes Zuhause. Anders als die relativ ungebrochene Kontinuität von "Seelsorge" ist die Kontinuität dieser Tradition mit dem Vordringen der Wort-Gottes-Theologie und mit dem Faschismus massiv und auf lange Zeit unterbrochen worden. Dieses Schicksal teilt die Pastoraltheologie im übrigen mit der zuletzt mit ihr verwandten neuprotestantischliberalen Theologie im allgemeinen und ihrer praktisch-theologischen Akzentuierung bei Männern wie Niebergall und Baumgarten im besonderen. Gerade deswegen gilt es heute ausdrücklich festzuhalten: Es gibt eine empirische Tradition in der Seelsorgeliteratur. An sie kann die heutige Pastoralpsychologie in mancher Hinsicht wieder anknüpfen. Und es erscheint nicht zufällig, daß sie beinahe eher als "Seelsorgebewegung" bekannt (und bei manchen berüchtigt) ist denn als PastoralpsycWog/e, ein Name, der seinen Anschluß an die Pastorali/ieo/og/e nicht verleugnen kann. Die Wiederanknüpfung geschieht sachgemäß; denn was beide Bewegungen in erster Linie verbindet, ist das Interesse an der pastoralen Seelsorge.

7.

Die Lückentheorie

"Eine wissenschaftsgeschichtliche Gesamtdarstellung der neuzeitlichen Seelsorgetheorie und Seelsorgepraxis seit Schleiermacher liegt bisher nicht vor", so stellt Friedrich Wintzer zu Beginn seiner vorzüglich zusammengestellten

133

Vgl. zum Ziel Börner 1912, 68. Ein ähnliches Anliegen scheint zu vertreten Reich: Religion und Seelsorge, Wittenberg 1910 (nach Blau 1927, 11 f.). - Börner wählt den Titel seiner Schrift trotz einer auch von ihm zugestandenen "Unzahl lästiger Assoziationen" in nichtkirchlichen Kreisen, etwa die Erinnerung an Kirche überhaupt, an kirchlichen Paternalismus und Missionierungseifer (vgl. ebd. 7). Gegenüber Vereinnahmungstendenzen tritt er für das allgemeine Recht der Seelsorge ein, weil die cura animarum "einem allgemein-menschlichem Bedürfnis entspringt, so alt wie die Menschheit selbst" (ebd. 8) Interessanterweise hielt "der Wiener Schriftsteller" Wilhelm Börner im Oktober/November 1912 Abendvorträge über Freuds Sexualtheorie (vgl. die Notiz in der Intem. Ztschr. f. Psychoanalyse 1, 1913, 101 f.). Es gab also in Freuds Umkreis einen zumindest terminologischen Vorläufer für den Ausdruck "weltliche Seelsorge", auf den Freud und Pfister sich einigen konnten. Vgl. GW XIV 293, Br. 136 f., zum Ganzen Kap. 4.4.

2.7. Die Lückentheorie

67

und kommentierten Quellensammlung mit Recht fest. 134 Angesichts der Fülle und Breite zumindest der vorliegenden Seehorgekonzeptionen ist dies eine erstaunliche Tatsache. Liegt da nicht die Vermutung nahe, daß eine ganze Epoche der Seelsorge über lange Zeit einer Art kollektivem Vergessen anheimgefallen ist? Wie hätte sonst, meist wohl in Verbindung mit einer Dosis positioneller Blindheit, jene seltsame Lückentheorie entstehen können, nach der ungefähr von der Jahrhundertwende bis in die 20er und 30er Jahre die Kontinuität der Seelsorgeliteratur auf signifikante Weise unterbrochen ist?135 Diese Theorie erscheint verständlicher, wenn wir in ihr einen Nachklang jener Ignoranz sehen, mit der Thurneysen und Asmussen ihre poimenischen Vorgänger und Zeitgenossen bedachten. Eine Auseinandersetzung etwa mit Sülze, Drews, Baumgarten, Niebergall oder gar Pfister fand nicht statt. (Über letzteren verliert Thurneysen noch 1946 nicht mehr als einen Satz, vgl. Kap. 14.5.) Von daher gesehen allerdings erscheint die Rede von einem "Bruch" in der Seelsorgediskussion auf fatale Weise berechtigt, wie ja schon von Niebergall 1932 angedeutet. Wir sahen bereits, daß dieser Bruch äußerlich markiert wird durch Thurneysens Aufsatz "Rechtfertigung

134

Wintzer 1978, IX - Die Arbeiten von Rössler (1962) und Offele (1966) sind gegenwartsbezogen, und das heißt für beide bezeichnenderweise, daß sie mit Thurneysen und Asmussen einsetzen. Nur mit der Darstellung der religionspsychologisch ausgerichteten Seelsorgekonzeption Werner Gruehns reicht Offele (1966, 216 ff.) auch einmal, von Thurneysen abgesehen, in die Mitte der 20er Jahre zurück. 135 Z.B. Wölber 1963, 80 f.; Wulf 1970, 24; Birnbaum 1963, 121, 135. - Symptomatisch auch, wie sich Werner Schütz in seinem Grundriß der Seelsorge von 1977 mit dieser Zeit befaßt oder besser: nicht befaßt. In der einleitenden geschichtlichen Darstellung der Seelsorge seit der Reformation lesen wir den schönen und richtigen Satz über das 19. Jahrhundert, es stehe uns heute "nicht mehr so fern ... wie jener Generation am Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich von ihren Vätern in einem radikalen und leidenschaftlichen Bruch losgesagt hat" (57). Doch dieser Satz faßt ein poimenisches 19. Jahrhundert zusammen, das mit Alexander Schweizer (1875) und Theodosius Harnack (1878) endet und direkt von der Deus-dixit-Theologie der 20er Jahre unseres Jahrhunderts abgelöst wird. Noch auf der gleichen Seite fährt Schütz mit Asmussens (1934) und Thurneysens (1946) Seelsorgelehren fort. Dazwischen liegt mehr als ein halbes Jahrhundert ohne Seelsorge! Groteskerweise fällt die Entstehung und Entwicklung der Tiefenpsychologie, die von Schütz als die "Entdeckung des Unbewußten" breit abgehandelt wird (86 ff.), genau in diese Zeit. Hier scheint es sich wirklich nicht um Blauäugigkeit, sondern um die Folgen eines kollektiven Verdrängungsprozesses zu handeln. Daß auch Pfister in dessen Sog verschwunden ist, kann uns nicht mehr überraschen.

68

Praktische Theologie und Wirklichkeit

und Seelsorge" von 1928136, wenn auch sein Ansatz erst in den 30er Jahren voll zum Zuge kam. Doch nur aus einer gleichsam nachträglichen Siegerperspektive heraus können auch heute noch solche Urteile entstehen wie das von Hans Wulf: Er preist Thurneysens Arktikel als Versuch, die seit dreißig Jahren verlorene Seelsorge wieder zu retten, die ihm bis dahin so herabgesunken schien, "daß sie keinen Anreiz zur theologischen Behandlung mehr bot".137 Noch in der Gliederung von Wintzers Quellensammlung klingt etwas von dieser einseitigen Perspektive nach, wenn er den mit Thurneysens Aufsatz beginnenden Zeitabschnitt der Seelsorge als den einer "Konzentration auf theologische Grundfragen" bezeichnet - ein wenig so, als seien die vorangehenden und z.T. noch gleichzeitigen Seelsorgekonzeptionen irgendwie weniger theologisch begründet. Dabei waren sie bloß mit einem anderen theologischen Ansatz verbunden, nämlich einer Theologie von unten, die aus einer anderen "religiösen Selbstbegründung" resultierte.138 Von einer "Lücke" in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts kann überhaupt keine Rede sein. Im Gegenteil, in dieser Zeit gab es sowohl in der praktisch-theologischen Grundsatzdiskussion wie in der Seelsorgeliteratur besonders viel fruchtbare und spannungsreiche Bewegung.139 Erstaunlich genug, daß dies auch in den letzten zwei Jahrzehnten der empirischen Neuorientierung der Praktischen Theologie und des Aufkommens der Pastoralpsychologie so wenig zur Kenntnis genommen wurde. Fast erscheint es so, als hätte zunächst die Ebene der pastoralen Praxis aus ihrer Vereinnahmung durch die Wort- und Verkündigungstheologie zurückerobert werden müssen, um sich erst dann der eigenen Geschichte zuwenden zu können. Denn Ansätze dazu finden sich erst in alleijüngster Zeit.140 Die Rückbesinnung auf die Kontinuität in der Diskontinuität (Faschismus, 2. Weltkrieg!) ist heute auch deshalb besonders notwendig, um nicht

136 S o auch pointiert Rössler 1962, 17, 20 f. Thumeysen wurde in der Folgezeit zum "Stimmführer" der neueren Seelsorgelehre (ebd. 11). Zur relativen Berechtigung der Rede vom Bruch vgl. Wintzer 1978, XXIX. 137

Wulf 1970, 24. Vgl. Wintzer 1978, XXVIII ff.

138

Dieser Begriff bei Wintzer 1978, XIII. Das vorhergehende Zitat ebd. XXVIII.

139

Mit Steck (1981, 15) für den ersten und mit Wintzer (1978, IX) für den zweiten Teil des Urteils. 140

So auch Steck 1979, 219 sowie 1981, 14.

2.7. Die Lückentheorie

69

in der Fixierung auf den Widerpart Dialektische Theologie deren eigene unhistorische Perspektive doch noch unbemerkt zu übernehmen. In den 20er Jahren neigte die Theologie der Krisis dazu, das 19. Jahrhundert pauschal zu verwerfen, am häufigsten und bequemsten so, daß einfach Schleiermacher als Inbegriff der ganzen theologischen Fehlentwicklung hingestellt und abgefertigt wurde (Emil Brunner!). Auf die Seelsorge bezogen geht Thumeysen noch hinter Schleiermacher zurück zum Pietismus, dessen Auffassung eines fortschreitenden Heiligungsprozesses nach der einmaligen Rechtfertigung ("Bekehrung") das 7tpö)xov ye'Oöoq der allgemeinen Seelsorgelehre bis ins 20. Jahrhundert geblieben sei.141 Solche Kahlschläge durch die Geschichte sind bis in die jüngste Poimenik hinein noch nicht in befriedigender Weise wieder aufgeforstet worden. Die Überwindung der Periode der sauberen Abgrenzung von Theologie und Humanwissenschaften bzw., auf unser Problem bezogen, von Seelsorge und Psychotherapie seit den 60er Jahren muß auch die Abgrenzung von der eigenen Geschichte aufheben! Ich meine jene "eigentümliche Distanz gegenüber den Gestaltungsformen und -kräften früherer Seelsorge", jene "Abwendung von der Wissenschafts- und Problemgeschichte der Seelsorge seit Schleiermacher", die Wintzer mit Recht auch noch für die Zeit bis in die 70er Jahre hinein konstatiert.142 Einen Beitrag zu der erst in den letzten Jahren begonnenen Rückeroberung der Geschichte will auch die vorliegende Arbeit leisten.

141 Vgl. Thurneysen 1928, 201 f. Rössler (1962, 12, Anm. 5) urteilt zu Recht, damit werde Thurneysen weder dem Pietismus noch vor allem der überkommenen Poimenik gerecht - noch der neueren, wie ich ergänzen möchte! Als Schleiermacher-Verriß machte damals Emil Brunners 1924 erschienenes Buch "Die Mystik und das Wort" Furore. Schon bald jedoch wünschten und begannen neben anderen auch Thurneysen (zuletzt in seinem zweiten, praxisfreundlicheren Seelsorgebuch von 1968) und vor allem Barth selbst eine vorsichtige Revision der Prügelknaben-Funktion des 19. Jahrhunderts. Vgl. Barth 1947 (1932/33), VI, 7 (Brunner-Kritik). 142 Wintzer 1978, XIII. Er geht so weit, darin "eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen Thurneysens und Asmussens Seelsorgelehren und der partiell schablonenhaften und vordergründigen Kritik an diesen Seelsorgedarstellungen" zu sehen (ebd.). Diese Übereinstimmung erscheint etwas weniger erstaunlich, wenn wir sie, wie oben angedeutet, als Fixierung auf den Gegner zu verstehen suchen. - Zur Periode der pointierten Abgrenzung von Seelsorge und Psychotherapie vgl. Läpple/Scharfenberg 1977, 4 f.

70 8.

Praktische Theologie und Wirklichkeit

Tendenzen und Probleme der zeitgenössischen Seelsorge

Im Blick auf die trotz aller Lebensfülle bestehenden Sackgassen und im VorBlick auf Pfisters analytische Neukonzeption seien die typischen Probleme der damaligen Seelsorge in einigen Punkten zusammengefaßt (a-e). u3 a) Die Seelsorge steht im Spannungsfeld von Amt und Gemeinde. Die eher amtstheologisch orientierten Autoren heben naturgemäß die überragende Bedeutung der cura animarum generalis in Verkündigung und Unterricht hervor. Das reicht bis zur Ablehnung von seelsorgerlichen Einzelbegegnungen, zumal bei Hausbesuchen, weil dadurch die Autorität und die 8ö^a des Amtes gefährdet werde. Folgerichtig gilt dann die Beichte als einzige der Kirche und dem geistlichen Amt gemäße Form der cura specialis.144 Aber auch die vermittelnden und die eher gemeindetheologisch ausgerichteten Autoren neigen in der Regel dazu, die "außeramtlich brüderlich und freiwillig geübte Seelsorge" der amtlichen unterzuordnen (Burger) und sie nur als notwendigen Umweg zurück zu den göttlichen Heilsmitteln Wort und Sakrament zu betrachten. Auch da, wo das Amt nicht als eines der Kirche, sondern als eines der Gemeinde verstanden wird, der professionelle Seelsorger also als "Mandatar" der Gemeinde wirken soll145, bestehen große Schwierigkeiten, Rolle und Möglichkeiten des Pastors in der Einzelseelsorge klar herauszuarbeiten. Zu verwirrend erscheinen die betreffenden Arbeitsfelder, zu gewagt die mögliche Verwicklung des Pastors in die persönlichen Lebensverhältnisse seiner Gemeindeglieder.

143 Dabei ist die wichtigste Literatur einschließlich der pastoraltheologischen im Überblick berücksichtigt. Im übrigen können wir E.C. Achelis' Seelsorge-Artikel in der "Realenzyklopädie" von 1906 sowie Paul Blaus Bücher von 1912 und 1927 als einigermaßen repräsentativ für den durchschnittlichen Stand von Theorie und Praxis der Seelsorge ansehen. Beide Autoren verkörpern, je auf ihre Weise und in ihrer Zeit, einen in manchem fortschrittlichen, in manchem mild-konservativen oder rechtsliberalen, jedenfalls in vielem klugen Vermittlungswillen jenseits positioneller Starre. Treffende Beispiele dafür bei Blau 1927, 16 f., 81 f. 144 145

Z.B. Steinmeyer 1878, 92 f. Das folg. Zitat Bürger 1884, 34.

So Achelis 1906, 133, 136. Ähnlich Köstlin [Abschn. 6], vgl. auch Schweizer 1875, 1, sowie Riggenbach 1898, 1, 7.

2.8. Tendenzen und Probleme der zeitgenössischen Seelsorge

71

Berührungsängste erscheinen oft als das eigentliche Problem hinter den mannigfachen und diffizilen Erörterungen über die rechte Unterscheidung von cura generalis und specialis.1''6 Die Berühungsangst ist die Kehrseite des forcierten Selbstbewußtseins, das dem Seelsorger als Amtsträger bzw. Sittenwächter angeraten wird. Steinmeyer meint sogar, beim Hausbesuch falle allzu leicht der Eliasmantel von der Schulter des Pastors herab und nur der frater christianus bleibe zurück. Was hier befürchtet wird, nämlich als einfacher Bruder in Christo gleichsam nackt und schutzlos dazustehen, kann heute, 100 Jahre später, geradezu als Proprium der christlichen Seelsorge herausgearbeitet werden. Nach H C. Piper stellen sich der Hausbesuch und der Besuch im Krankenhaus anders als die klassischen Pastoralen Situationen offen und wenig strukturiert dar. Diese Situationen sind der "Sitz im Leben" der Seelsorge, wenn denn ihr Kern und Wesen sich umschreiben läßt als ein "Suchen und Aufsuchen des Menschen dort, wo er ist". In ihrer Ohn-macht und Schwachheit rückt die Seelsorge in die Nähe jener dtoGSveia, in der Paulus Gottes Kraft sich vollenden sieht (2. Kor. 12,9).147 In diesen Zusammenhang gehört auch die vieldiskutierte Frage, welche Bedeutung die Person des Seelsorgers habe bzw. haben dürfe. Steinmeyer meint entrüstet, die zahlreichen Fälle, wo die "Person als solche" seelsorgerliche Erfolge errungen habe, seien in der "Unterhaltungsliteratur der Pastoral" teils erfunden, teils verzerrt dargestellt worden. 148 Selbst bei dem so progressiv-vermittelnden Blau finden wir ein halbes Jahrhundert später noch einen Nachklang dieser symptomatischen Blindheit. Zwar schreibt er sehr realistisch: "Vielleicht täuschen wir uns oft genug in der Annahme, daß man uns suche um des Heils der Seele willen ... In Wahrheit sind es sehr sinnliche, natürliche Interessen, die die Menschen zu uns ziehen". Er sieht darin jedoch weniger eine Chance als eine Gefahr für den Seelsorger. Mit Verständnis erzählt er von einem bekannten Seelsorger (es war wohl Chr.E. Luthardt 149 ), daß er nie einer Konfirmandin die Hand gegeben habe. "Er wollte in diese rein pneumatische Beziehung nichts Natürliches hineingemengt haben." Noch Schütz meint - und zeigt damit mindestens seine Inkompetenz -, der Seelsorger sollte "sorgsam" darauf achten, keine Übertragungen aufkommen zu lassen und sie notfalls abzubauen. Wie nicht anders zu erwarten, sind es also die Verwicklungen und Abhängigkeiten durch das weibliche Geschlecht, die in der poimenischen Tradition am meisten gefürchtet werden. Hier schärft Palmer das 6. Gebot überstreng ein150, und Riggenbach meint, beim seelsorgerlichen Verkehr mit den weiblichen Gemeindegenossen sei "größte Zurückhaltung" zu beachten. G. Kittel sah sich noch 1920 genötigt, ein Büchlein über "Seelsorge an jungen Mädchen" zu schreiben. Sowohl der fatale Moralismus als auch die Hilflosigkeit in Sachen Beziehung schreien geradezu nach einem Neuanfang in der Seelsorge. Pfisters analytische Seelsorge bietet beides (und erklärt auch deren Zusammenhang): ein handfestes Beziehungskonzept, nämlich Übertragung-Gegenübertragung, und eine neue Sicht der menschlichen Sexualität. Dennoch hält Scharfenberg noch 1960 eine "konsequente Ritualisierung des Beichtaktes" vom pastoralpsychologischen Ansatz her für geboten. Die feste Form und das

14i

Vgl. z.B. Blau 1927, 23 ff. Das Folg. Steinmeyer 1878, 90 f.

147

Piper 1982, bes. 295 f.; 1985, 115 ff., bes. 118.

148

Steinmeyer 1878, 90. Die folg. Zitate Blau 1927, 76; Schütz 1977, 157.

149

Vgl. Riggenbach 1898, 259.

150

Nach Werdermann 1925, 107. Das folg. Zitat Riggenbach 1898, 254.

72

Praktische Theologie und Wirklichkeit

objektive Angebot sollen wohl Schutz bieten vor zu viel Verwicklung in Beziehungsdynamik.151 Diesen Schutz bietet die lutherische Amtstheologie als solche. Steinmeyer (1878) vertritt sie im Extrem. Wir können aber auch an Vilmar und Cremer denken. Für das Luthertum kennzeichnend ist die Verklammerung von Beichte und Kirchenzucht. Ein seelsorgerliches Vertrauensverhältnis kann so kaum entstehen. Anders als im Luthertum war der regelmäßige Hausbesuch in der reformierten Tradition von Anfang an verankert. Allerdings gehörte er als Aufsicht und Kontrolle zu den Funktionen der Gemeindeleitung. Der Hausbesuch diente der Kirchenzucht, die vornehmlich als Sittenzucht verstanden wurde. 152 Erst dem Pietismus gelang es, Kirchenzucht und Seelsorge wirklich voneinander zu trennen und damit die pastorale Seelsorge im eigentlichen Sinne gewaltig zu fördern. Freilich blieb an ihr, auch am seelsorgerlichen Hausbesuch ("Agressiv will der Hausbesuch seyn", so Steinmeyer 153 ), noch lange ein Beigeschmack von moralischer und geistlicher Kontrolle haften. Auf diesem Hintergrund ist auch Baumgartens wiederholte Wendung gegen das "Nachgehen" und "Sichaufdrängen" zu verstehen. Die reformierte Tradition in der Poimenik bleibt aber dabei, es müsse sich mehr um den einzelnen, um die Familien und um das soziale Umfeld gekümmert werden.154 Doch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts übernimmt der bürgerliche Staat immer mehr von diesen Aufgaben, administrativ, kontrollierend, sozial-fürsorgerisch. Die handlungssteuernden ethischen Normen sind jetzt deutlich nach innen gewandert (innengeleitete Gesellschaft nach Riesman). Da die innere Kontrolle gut funktioniert - allerdings mit der Kehrseite, daß die neurotischen Erkrankungen erheblich zunehmen -, ist relativ wenig äußere, administrative Kontrolle nötig. Gegenüber der traditionsgeleiteten Gesellschaft haben Pastor und Kirche natürlich enorm an Relevanz verloren, sie bleiben jedoch als äußere Moral-Instanz neben dem Staat erhalten. Als Kirchenmann und Seelsorger ist Pfister gewissermaßen für beide Norm-Instanzen zuständig, die äußere und die innere [12.6], Seine analytische Seelsorge will nicht nur bei der Lösung der unvermeidlichen inneren Konflikte helfen, sondern durchaus auch ein freies, weniger repressives Moralverständnis in Kirche und Gesellschaft fördern, das im Evangelium von der Liebe Gottes in Jesus Christus wurzelt.

Gewöhnlich geht man also von einem geregelten Autoritätsgefälle vom Pastor zum Pastoranden aus, so daß Seelsorge als freies Gespräch im Rahmen eines persönlichen Vertrauensverhältnisses die große Ausnahme bleiben muß. Und wo dies ausdrücklich zur Regel erhoben werden soll, nämlich in der Traditionslinie, die von Schleiermachers Ideal der "freien Geselligkeit" ausgeht155, fehlen doch theoretische Konzepte sowohl zur 151

Scharfenberg 1960, 86 f. Zur Beichte s. auch Abschn. 9.

152

Vgl. Achelis 1906, 135.

153

Steinmeyer 1878, 91, vgl. 84 ff. Zum Folg. s. Baumgarten 1913, 538, 549, 552; 1931,43, 175 f. 154 155

Vgl. Riggenbach 1898, 51 ff., Wölber 1963, 77 f.

Schleiermacher zielt auf so etwas wie eine freundschaftliche, brüderlich-schwesterliche Wechselseitigkeit, eine gemeinsame Integrationsbemühung in die Gemeinde, in der jeder auch sein eigener Priester bzw. Seelsorger sein kann, vgl. Phil. 2, 12 f. Dazu Burger 1884, 31; Riggenbach 1898, 141 f.; Achelis 1906, 136; Baumgarten 1913, Sp. 538; Schian

2.8. Tendenzen und Probleme der zeitgenössischen Seelsorge

73

Interaktion in der seelsorgerlichen Beziehung als auch zu den inneren Konflikten des Menschen. Dies gilt trotz mancher weitgehender Bemühungen um soziale, gesellschaftliche und ahnungsweise auch psychosomatische Zusammenhänge. So gerät die Seelsorge im Spannungsfeld von Freiheit und Dirigismus immer wieder eher zur Seelen-Führung als zur Seel-Sorge - wenn es gut geht! Belehrung, Weisung, kurz die pädagogisch-normative Intention liegen dem Amtsinhaber allemal näher als Zuhören, Verstehen, kurz die ärztlichtherapeutische Intention.156 b) Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein begnügt sich die Einzelseelsorge zur Strukturierung ihres Feldes mit dem traditionellen Dreierschema von Sünde,

Krankheit

und Irrtum.

Es ist das einzige Theorem, das in der

Seelsorgeliteratur dauerhaft und breit gestreut ist.157 Eine Synopse der inhaltlich wenig bedeutsamen Varianten sieht so aus:

1921, 283-285; aus heutiger Sicht Ochel 1989, bes. 212 f., 222. 156 Daran können auch die Autoren wenig ändern, die die Seelsorge eher in Analogie zur Medizin als zur Pädagogik sehen, angefangen bei der Terminologie: Prophylaktik Diagnostik - Therapeutik u.ä. Damit nehmen etwa Achelis (1906, 137 f.) und Baumgarten (1913, Sp. 550 f.) einen Traditionsstrang auf, der bei Nitzsch schon einmal voll entfaltet war. 157

Vgl. z.B. Nitzsch (nach Pfister: NZ 9); Schweizer 1875, 77 (§ 35), 174 (§ 70); Riggenbach 1898, 195; Achelis 1906, 138; Blau 1927, 40; Baumgarten 1931, 211 ff. - Zu weiteren Differenzierungen vgl. z.B. Achelis 1906, 141 ff.

74

Praktische Theologie und Wirklichkeit

Problemfeld

Sünde

Krankheit

Irrtum

Zustand (des Pastoranden)

böse, sündig

leidend, unglücklich

zweifelnd, irrend

Tätigkeit

Mahnen, Strafen

Trösten

Belehren

Ernst

Trost

Wahrheit

Tätigkeitsbestimmung/ Kategorie

Pädagogik

Parakletik

Didaktik

Antropologische Kategorie

Wille/Ethik

Gefühl/ Ästhetik

Verstand/ Wissenschaft

Gabe

inkl. seelsorgerliche Mittel

Als erstes Orientierungsraster im breiten Feld der Seelsorge mag dieses grobe Schema hilfreich sein. Doch darüber hinaus schränkt es das Verständnis der Phänomenfülle ein, auch wenn man die mannigfachen Interrelationen mit einbezieht. Sein Grundfehler jedoch besteht in seiner rein deskriptiven und pragmatischen Abzweckung. Damit ist der Blick auf mögliche Ursachen verstellt. Eine Differenzierung dieses Rasters geschieht wirksam nur im Blick auf den Zustand des Pastoranden (2. Rubrik). Er wird je länger, je mehr auch in seiner Lebenssituation und in seinem sozialen Umfeld gesehen. Am weitesten fortgeschritten ist hier Blau in seinen "Einzelbildern" von 1912; darin sollen die verschiedenen Lebenssituationen, also die vielfältigen Arbeitsfelder der Seelsorge in ihrer Eigenart dargestellt werden. Über die elementaren Kriterien wie Geschlecht, Lebensalter und Beruf hinaus soll die komplexe soziale Wirklichkeit der Adressaten unverstellt in den Blick kommen. Gelingt dies auch in den einzelnen Beiträgen einmal besser, einmal schlechter, so wird man doch selten den Eindruck los, daß hier lediglich ein fortschrittlicher Umweg gegangen wird. Dann dient die ganze Mühe nur dazu, den hergebrachten seelsorgerlichen "Mitteln" (3. Rubrik), meist in der Form von Bibelwort oder Gebet, besser und effektiver das Feld zu bereiten. Denn immer wieder wird gerade von den gesprächsbereiten Seelsorgern als das Hauptproblem herausgestellt, wie denn die Brücke vom allgemeinen zum

2.8. Tendenzen und Probleme der zeitgenössischen Seelsorge

75

geistlichen, zum "eigentlich seelsorgerlichen" Gespräch zu schlagen sei. Und die Antwort lautet (wenn nicht einfach technische Kniffe empfohlen werden), man müsse eben vorher das Vertrauen der Leute gewinnen.158 Wo diese Methode einer aufgefrischten Volksmission weniger ausgeprägt ist, scheitert die ehrlich angestrebte Neuordnung der Seelsorge zuletzt doch daran, daß man die Nöte des Klienten nach ihrer psychischen Seite nicht versteht und damit auch der Dynamik der seelsorgerlichen Situation mehr oder weniger hilflos ausgeliefert ist. So führt viel guter Wille doch zu wenig effektiver Hilfeleistung, und das geben einige Autoren auch ganz offen zu.159 c) Seelsorgerliche Praxisberichte, Fallberichte gar, finden wir selten. Die gewöhnlichen Zugänge zu den Problemen der Seelsorge bleiben biblische, historische und systematische Erörterungen. Daran gemessen hat sogar die Kasuistik alten Stils viel seelsorgerliche Wirklichkeit eingefangen. Die Kasuistik wird seit Schleiermacher auf breiter Front relativiert oder ganz abgelehnt. Es handelt sich zumeist um moraltheologische und juristische Formulierungen im Stile des Wenn-dann, die alle nur denkbaren "Fälle" und Probleme im voraus erfassen und normativ

158

Exemplarisch Büttner 1905, 106. Noch 1960 (88) spricht Scharfenberg von der schwierigen Aufgabe, die übertragungsbedingte Bindung an den Seelsorger in eine Bindung an Gott, an Christus und an die Gemeinde als Leib Christi zu verwandeln. Er empfiehlt dazu meditative Übungen. - Es ist bezeichnend, wie Achelis (1906, 142) über "Erfolge" in der Militärseelsorge spricht. Im wesentlichen handelt es sich um nachgeholte Amtshandlungen wie Taufen, Konfirmationen und kirchliche Trauungen! 159

Betr. Methodisierung, Erfolgsorientierung und Effizienzstreben stellt Schmidt-Rost skeptische Anfragen an die neuere Seelsorgebewegung. Seine poimenischen Studien sind neuerdings in seiner Habilitationsschrift zusammengefaßt (1988). Die beiden schönen Aufsätze von 1977 und 1979 bestechen durch das interessante historische Material. Auch seine These, in der Seelsorgeausbildung als Erfahrungskontrolle zunächst vom Berufsalltag des Pastors auszugehen, leuchtet ein (1977, 447 f.). Doch einfach die Aktivitäten des Seelsorgers nach den unterschiedlichen Adressatengruppen zu sortieren und entsprechend spezifizierte Ratschläge zu geben, wie in Blaus Sammelband von 1912, das reicht in der Tat nicht aus. Was fehlt, ist eine Theorie, um nicht den zweiten Schritt, Verhaltenstraining, vor dem ersten, Verstehen des Beobachtungsmaterials, zu tun, wie es regelmäßig in der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie nach Rogers geschieht (ebd. 448 f.). Über den Nutzungswert der von Schmidt-Rost empfohlenen psychologischen Handlungstheorie kann man natürlich streiten. Die Psychoanalyse jedenfalls bietet beides, eine umfassende Theorie mit Erklärungsanspruch und eine Technik, aus der auch die seelsorgerliche Gesprächsführung viel für ihr Praxisfeld lernen kann.

76

Praktische Theologie und Wirklichkeit

lösen wollen. 160 Die wohlfeile Kritik an den Auswüchsen der Kasuistik übergeht freilich die Gefahr, den empirischen Bezug ganz zu verlieren, wie es in der späten Pastoraltheologie und dann in der Poimenik oft genug geschah und zwar zugunsten steiler theologischer Ideologie (im Sinne von Realitätsverzerrung). Schon Niebergall ist hier realistischer und fordert eine Art evangelische Kasuistik, denn "aus lauter Angst vor katholischer Gesetzlichkeit und aus Begeisterung für das souveräne Gewissen sind wir zu sehr abgekommen von der Hilfe, die wir irrenden und suchenden Menschenseelen schuldig sind". Und sogar Trillhaas weist 1958 darauf hin, wie notwendig die Unterscheidung zwischen schlechter Kasuistik und der Befassung mit gedachten oder wirklichen Fällen in der Poimenik ist.161 Thurneysen polemisiert zwar heftig gegen das Besprechen menschlicher Probleme als Fälle, kommt aber gelegentlich selbst dem Stil der alten Kasuistik nahe: "Denken wir etwa an ein Tischgespräch, das sich entspinnt in einer Gesellschaft zwischen uns und einem Kenner Goethe'scher Weisheit und Weltsicht..."

Wo tatsächlich einmal aus der Praxis berichtet wird, handelt es sich zumeist darum, bestimmte Thesen des Autors mit Beispielen zu illustrieren, mit erlebten, erfundenen oder Fremdbeispielen. Auch, wo der Anspruch höher ist, zum Beispiel in den Berichten aus der seelsorgerlichen Sprechstunde, führen diese gewöhnlich nur bis an die Schwelle der seelsorgerlichen Situation selbst.162 Wir erfahren wohl einiges über das vorliegende konkrete Problem und die Meinung des Seelsorgers dazu, so gut

160

Herder nannte die Kasuistik eine Krämertheologie (n. Riggenbach 1898, 61). Zur weiteren Kritik vgl. z.B. Schweizer 1875, 4 f. (§ 2); Riggenbach 1898, 2; A. Krauß 1904, 15 (zit. bei Steck 1974, 46); Baumgarten 1931, 2. In ihrer Hochzeit brachte die Kasuistik solche Blüten hervor wie die Schrift eines Kähler: "Versuch consequenter Beantwortung, ob es sich für einen Prediger gezieme, Maurer zu werden" (Leipzig 1815, nach Schweizer 1875, 5) oder die eines Anonymus: "Ratgeber für Prediger, welche eine schwache Brust und Stimme haben". Jean Paul persifliert diese Art von Pastoralklugheit im "Hesperus", indem er einen Prediger in dem damals sehr beliebten Handbuch der Pastoraltheologie von Oemler nachschlagen läßt, wie sich ein Prediger zu benehmen habe, dessen Sohn gehängt werden soll (n. Riggenbach 1898, 2, 60). 161 Trillhaas 1958,10,106; Niebergall 1928, 82. Das Folg. Thurneysen 1948, 87, 109. In Thurneysens Poimenik von 1946 finden wir lediglich kurze Fremdbeispiele, typische Situationen sowie einige längere Briefstellen (z.B. 1948, 223 f., 270 f., 301). Das Nachfolgewerk von 1968 bringt wesentlich mehr Beispiele, darunter auch selbsterlebte, die teilweise als Fallschilderungen angesehen werden können (vgl. 25 f., 3 4 , 4 2 , 6 3 f., 71 f., 77 f., 79 f., 95 f., 99, 109 f., 111, 112/120, 124-126, 156 f., 178 f., 180, 183, 239). Wie Thurneysen hier mit seelsorgerlicher Empirie umgeht, ist denn doch sehr verschieden von der Art, wie er als junger Mann in seinem Blumhardt-Büchlein über den "Fall" der Gottliebin Dittus jeden verstehenden oder erklärenden Zugang rigoros abkanzelte (1926,21). 162

Vgl. z.B. Blau 1912, 325 ff. Auch bei den in Abschn. 6 erwähnten Beispielen von Claus Harms wüßten wir ja zu gerne, wie sie sich denn abgespielt haben. Das gleiche gilt für das einzige von Riggenbach (1898,261, Anm.) angeführte Beispiel sowie für die auf die Großstadt-Seelsorge bezogene Liste bei Jacobi (1929, 145 f.).

2.8. Tendenzen und Probleme der zeitgenössischen Seelsorge

77

wie nichts jedoch über die Interaktion zwischen Seelsorger und Klient, in deren Mittelpunkt in der Regel ja das Gespräch steht. Dieses Defizit gilt auch für die Abschnitte über die "seelsorgerliche Einzelbesprechung", die in der zeitgenössischen Literatur immer häufiger zu finden sind. In Adolf Schlatters Zusammenstellung "Aus meiner Sprechstunde" (1938) fungieren die Ratsuchenden im wesentlichen als Frager und Stichwortlieferanten. Sollten diese Szenen auch nur halbwegs authentisch sein, dann wäre Seelsorge für Schlatter einseitige Belehrung in der professoralen Sprechstunde und eben nicht "brüderlicher Verkehr untereinander". Wenn die Szene "Der Seelsorger" mit den Worten endet "Und nun reden Sie; ich werde hören und, so gut ich kann, antworten", dann können wir uns wohl das Antworten, nicht aber das Zuhören so recht vorstellen.163 Das 1929 in Berlin anonym erschienene "Tagebuch eines Großstadtpfarrers" von Jacobi erlebte mindestens sieben Auflagen. Es spiegelt viel pastorale und kirchliche wie auch soziale und politische Realität wider und ist prall gefüllt mit kirchenpolitischen und weltanschaulichen Kämpfen. Doch die seelsorgerlichen Erfahrungen bleiben weitgehend verkürzt auf Wort-Gottes-Verkündigung, mit mehr oder weniger erhellendem Bezug auf Luther, Kierkegaard, Blumhardt, Barth und Thurneysen. Ansonsten erhalten wir nur vage Hinweise auf "viel Seelsorge" oder auf einen "Seelsorgetag".164

Wo tatsächlich einmal die seelsorgerliche Interaktion selbst geschildert wird, etwa bei dem Züricher Ludwig Köhler, geschieht dies ohne jeden theoretischen Bezugsrahmen. 165 Entsprechend der Darstellung ist auch der konkrete Vollzug der Seelsorge praktisch allein bestimmt von der charismatischen Persönlichkeit, der ungewöhnlichen Intuition und der lebenserfahrenen Weisheit des jeweiligen Seelsorgers. Dies und die Tatsache, daß wir überhaupt einmal über die Mauer schauen können, machen solche Fallberichte dann doch sehr wertvoll. Wir können unsererseits neue Verstehenszugänge an ihnen erproben. d) Die Seelsorge ist nicht unbeträchtlich von Rat- und Hilflosigkeit bestimmt, schwankend zwischen der Scylla Ideologie und der Charybdis Irrelevanz. Darauf wirft Hesselbacher 1908 ein Schlaglicht mit seiner Klage,

163

Schlatter 1938, 31.

164

Jacobi 1929, 100 f., vgl. auch 95. Ein Besuch bei einer Schwerkranken wird immerhin kurz geschildert (13). 165 Das sieht Köhler auch selbst (vgl. 1945, 99). Dennoch sind seine Fallberichte, z.T. spannende Geschichten, ungewöhnlich interessant. Er verfügt über einen überaus reichen Schatz eigener seelsorgerlicher Erfahrung (ebd. VII), dazu über große Klugheit und Weisheit. Wir finden viele wörtliche Wiedergaben, vor allem in den drei ausführlichen Seelsorgeberichten (93 ff.). Selbstverständlich steht das Gespräch im Mittelpunkt der Seelsorge (143 ff.), bestimmt von Redenlassen und Zuhören (148).

78

Praktische Theologie und Wirklichkeit

bei Krankenbesuchen blieben die Gespräche entweder in allgemeinem Geschwätz stecken oder aber er predige die Kranken an.166 Doch auch der Seelsorger, dem es einmal gelingt, das weite Feld dazwischen zu betreten, stößt gewöhnlich bald auf die Grenzen seiner Verstehensmöglichkeiten.167 Geisteskrankheiten und "Nervenschäden" werden als besonders schwierig empfunden; die Klage über Nichtverstehen und Hilflosigkeit ist hier ganz allgemein. Krankheit überhaupt wird gern zum "düsteren Geheimnis" erklärt. Der beste Umgang mit dem Leiden besteht darin, es zunächst einmal generell als Sündenstrafe zu verstehen.168 Psychosen und Neurosen werden natürlich noch nicht unterschieden; so wird auch die Gefahrdung mancher Kranker und die Funktion der seelsorgerlichen Aktivitäten oftmals falsch eingeschätzt.169 In Bezug auf ethische Normen, zumal im erotisch-sexuellen Bereich, ist der pastorale Seelsorger selbstverständlich der berufene Repräsentant der bürgerlichen Normen und Moralvorstellungen. So manche Berührungsängste

166

Hesselbacher 1920, VII, ähnlich schon Steinmeyer 1878, 154.

167

Vgl. z.B. Büchsei 1886, 34 f.; Blau 1912, 331, 333; Köhler 1945, 99. Diese Seelsorger sind frei genug, Nichtverstehen und Scheitern auch als solches zu benennen. 168 169

Bes. massiv bei Büttner 1905, 92 f., 180 ff.

Vgl. z.B. Büttner (ebd. 97 ff.), der sich zumal gegenüber den religiös ausagierten Zwangsneurosen und der damit verbundenen Suizidgefahr hilflos zeigt. Er empfiehlt eine "gründliche Beichte" (99) - und die kann hier ja wirklich befreiend und befriedend wirken. Freilich bleibt sie in ihrer psychodynamischen Funktion unverstanden. - Aus seiner Sprechstunde berichtet Blau (1912, 333) kurz von dem Besuch einer Frau, die später in Schwermut versank. Es handelt sich um einen massiven Versündigungswahn, wahrscheinlich das Symptom einer schweren Zwangsneurose mit depressiven Zügen oder sogar eines Borderline-Falles. Blau schließt mit dem Wunsch, Gott möge sich der armen Seele am Tage des Gerichts erbarmen. - Das massivste Beispiel in dieser Richtung fand ich bei Dalton (zu ihm vgl. die Anmerkungen zu Lou Andreas-Salomés Lebensrückblick, 1974,222 f.). In aller Ausführlichkeit erzählt er (1905, 41 ff.) die Geschichte einer Frau, die, ledig geblieben, ihren kranken Vater monatelang bis zum Ende pflegte und danach seelisch erkrankte. Er versteht den Fall als dämonische Besessenheit und begleitet die Frau als Pastor bis zu ihrem Tod in einer Anstalt. Ihre Geschichte ist eine geradezu verblüffende Prallele (Dalton findet sie der Tochter des Ödipus ähnlich! S. 43) zu der der Anna 0., nur eben mit tödlichem Ausgang. Ich meine jenen berühmten Fall der "Frl. Anna O.", mit dessen Veröffentlichung als erster von Freuds und Breuers Studien über Hysterie (1895) die Geschichte der Psychoanalyse recht eigentlich beginnt. Text in: Freud/Breuer 1895/1975, 20 ff.; dazu GW I 76 ff., XIII 407 ff., vgl. Jones I, 266-269.

2.8. Tendenzen und Probleme der zeitgenössischen Seelsorge

79

in seelsorgerlichen Situationen finden in der Verklemmtheit des durchschnittlichen Seelsorgers ihren zureichenden Grund.170 Probleme auf der Ebene von Schuldigefühlen) und Gewissensnöten werden vom Seelsorger gewöhnlich nur aufgenommen, um möglichst umstandslos zum avisierten Ziel der Sündenvergebung bzw. der Beichte zu kommen. In vielen Situationen, in denen nun wirklich andere Probleme drängen, verhält sich der durchschnittliche Seelsorger nach dem gleichen Schema.171 Es ist ihm kaum möglich, sich aus seiner Befangenheit in theologisch-kirchlichen Doktrinen zu lösen. So wird eine oft formelhaft geronnene Rechtfertigungslehre an passend erscheinender Stelle des Gesprächs einfach wiederholt.172 e) Es gelingt selten, biblische Worte bzw. Symbole in die Dynamik des seelsorgerlichen Gesprächs einzupassen, weil weder die Gesprächsdynamik noch die psychologische Eigendynamik der biblischen Bezüge gesehen werden kann. So wird das Bibelwort häufig mechanisch gebraucht. Nach Art eines Versatzstückes wird es an der "passenden" Stelle des Gesprächs laut, in der Regel am Schluß. Der tiefere Grund ist natürlich der, daß über Alltagspsychologie und Intuition hinaus ein religionspsychologischer Ansatzpunkt dafür fehlt, die individuelle, private, womöglich unbewußte Bedeutung biblisch-religiöser Symbole von ihrer allgemeinen, öffentlichen und womöglich theologisch kodifizierten Bedeutung zu unterscheiden. Stattdessen wird Allgemeines auf Individuelles bloß appliziert. So muß auch die in der fortschrittlichen Poimenik auf Schritt und Tritt erhobene Forderung, der Seelsorger solle 170

Auch der mild-liberale Achelis (1906,141), wiewohl er auf Versäumnisse der Kirche seit alter Zeit verweist, sieht in der "jungen Welt" vom 15. bis 25. Lebensjahr ein "Kreuz für alle Seelsorger": "Es sind die Jahre, in denen das sinnliche Triebleben übermächtig sich regt, das Elternhaus hat die bestimmende Macht zum Teil eingebüßt, die einheimische Jugend ist mit heimatlosen Elementen durchsetzt, und nicht nur die Jugend des Arbeiterstandes ist den Verführungen der Halbwelt und [!] der sozialistischen Agitation fast schutzlos preisgegeben." 171 Als Spitzenbeispiel vgl. das rund 100 Jahre alte Seelsorge-Verbatim des greisen Postboten Kohrsmeyer, das Schmidt-Rost ans Licht gezogen hat (1979, 288, Anm. 4). 172

Vor allem Baumgarten kritisiert energisch den damals üblichen Verwendungszusammenhang der Rechtfertigungslehre [Abschn. 4]. Er schreibt auch sonst gegen den Strich, etwa gegen die geläufige seelsorgerliche Maxime vom Leiden als Sündenstrafe. Statt moralisch zu (ver-)urteilen, soll der Seelsorger und praktische Sittenlehrer lieber ein Gefühl für "tragische Schicksale" entwickeln und solidarisch "mitleiden" (1921, 34).

80

Praktische Theologie und Wirklichkeit

"individualisieren"173, zuletzt merkwürdig leer verhallen. Uneingeschränkt gilt dies allerdings nur für die psychologische Ebene in der Seelsorge. Auf der sozialen Ebene gibt es ja schon verheißungsvolle Anfänge einer Individualisierung, die den Einzelfall in seinen spezifischen sozialen Determinaten berücksichtigen will [Abschn. 3]. Unerfüllt bleibt bislang das Desiderat, das Pfister einmal so formuliert: Die Theologie möge sich nach der kollektiven nun der individuellen Heilsgeschichte der einzelnen Gläubigen zuwenden, und zwar mit geeigneten Verstehensmitteln.174 Der Seelsorge seiner Tage konnte trotz mancher Aufgeschlossenheit gegenüber den neuen Realitäten in ihren Arbeitsfeldern die Integration traditionellen, geistlicher und neuer, weltlicher Konzepte (noch) nicht gelingen.

9.

Oskar Pfisters Pastoralpsychologie vor dem Hintergrund der Pastoraltheologie am Ende ihrer Epoche

Vor diesem näheren und weiteren Hintergrund erscheint es mir am angemessensten, Oskar Pfister, den ersten Pastoralpsychologen, im weiteren Umkreis der Pastoraltheologie anzusiedeln. Diese zweite Verortung neben seinem Platz in der praktisch-theologischen Leerstelle der religiösen Psychologie [Abschn. 3] geschieht weniger, um dieser unzeitgemäßen Geburt denn doch nachträglich ein weitläufiges Heimatrecht bei seinen pastoralen Zeitgenossen zu geben. Das Unzeitgemäße, nach vorwärts und rückwärts Verschobene des Pfarrers Pfister wird die vorliegende Arbeit ohnehin überdeutlich bestimmen. Vielmehr gehört Pfister hierher, weil er praktizierender Pastoraltheologe ist. Er hat sich mehrfach gegen den didaktischen Ort Universität und für Wirkungsmöglichkeiten wie das Lehrerseminar und vor allem die Pfarrerfortbildung entschieden. Der primäre Sitz im Leben von Praxis und Theorie seiner analytischen Seelsorge ist sein Züricher Gemeindepfarramt. Mit der Psychoanalyse hat Pfister sich darüber theoretisch und praktisch (Eigenanalyse!) ein bestimmtes Modell zueigen gemacht, wie Wissenschaft und Praxis bzw. Forschung und Heilung zusammenhängen. Damit ist

173

Z.B. Riggenbach 1898, 141 f.

174

Unterlassungssünden (1903), 132. Vgl. Kap. 11.2.

2.9. Pfisters Pastoralpsychologie

81

zugleich die Beziehung von Persönlichkeit und Beruf, nach Steck das eigentliche theoretische Problem der Pastoraltheologie175, berührt und auf bestimmte Weise gestaltet. Die praktische Berufstheorie des Pfarrers, die Pfister von daher entwickelt, geht zwar von bestimmten Problemen in der einzelseelsorgerlichen Arbeit aus, will aber zuletzt die gesamte pastorale Praxis erfassen und verändern [14.3]. Ihre Mitte versteht Pfister als Seelsorge, reflektiert und praktiziert als analytische Seelsorge. Von dieser Mitte her stellt er die Frage nach dem bestimmend Pastoralen, ja dem bestimmend Christlichen dieses Berufes. Zu einer pastoralen Berufstheorie aus dieser Perspektive gehört eine biblische und kirchengeschichtliche Fundierung ebenso selbstverständlich wie der Ansatz einer (religions)psychologisch orientierten Glaubens- und Sittenlehre - eine bestimmte Variante also der "praktischen" Psychologie, Exegese, Dogmatik, Ethik usw., die wir bereits im Kreis der neuen Praktischen Theologie ausgemacht haben [Abschn. 3]. Die praktische Intention bedeutete ja auch hier nicht schlichte Vereinfachung, sondern den Ausgang von unten, von den möglichst gewissenhaft zu erfassenden Nöten und Konflikten des gegenwärtigen Menschen und, nicht zu vergessen, des Pastors mit seinen konkreten Aufgaben. So hat auch Pfister sich immer wieder bemüht, den Nutzungswert seines analytischen Ansatzes - lange spricht er nur von der "psychoanalytischen Methode" - für den pastoralen Alltag aufzuzeigen. Dies geschah allerdings unter Zeitgenossen, die über den Bedeutungswert der Psychoanalyse zumeist völlig im unklaren waren. Heute erleben wir in vielem die umgekehrte Situation. Obwohl nicht an der Universität tätig, bietet Pfister in der Tat ein gutes Stück von jenem "Netz wissenschaftlicher Grundlinien", das Paul Blau von der Universität erwartet, damit die Praxis dann ihre Bilder hineinzeichnen kann.176 Soweit Blau damit eine angemessene Verarbeitung der Fundgrube seelsorgerlicher Erfahrungen erhofft, die sein Sammelband in der Tat ist, so mußte er enttäuscht werden, noch mehr wohl von der experimentellen Psychologie als von der praktischen Theologie. Es wirkt denn auch recht kläglich, was er 1927 über die neuere Psychologie und Religionspsychologie

175

Steck 1974, 34, vgl. 54 ff. Analog dazu ist das Theorie-Praxis-Problem das konstitutive theoretische Problem der Praktischen Theologie, vgl. Klostermann/Zerfaß 1974, 65 ff. m

Blau 1912, III, vgl. IV f.

82

Praktische Theologie und Wirklichkeit

als Hilfe für den Seelsorger zu sagen hat177, auch wenn er unverdrossen an der Notwendigkeit einer psychologischen Vermittlung der pastoralen Arbeit festhält. Indes, seine diesbezüglichen Bemerkungen sind pauschal und wenig motivierend. So mag uns seine eigene Klage nicht verwundern, hinsichtlich des Studiums der Psychologie und erst recht der Religionspsychologie fehle es bei dem Durchschnitt der Pastorenschaft "oft genug am elementarsten!" In diesem Defizit in Verbindung mit mangelnder Selbsterkenntnis sieht Blau eine der Ursachen für "ein Stück Tragik im Leben und Wirken manchen Pfarrers". Gemeint ist das auch von Pfister so beklagte Vorbeireden an der Gemeinde und an einzelnen Gemeindegliedern und, sagen wir es ruhig einmal so, die bei allem Aufwand und gutem Willen häufig so wenig effektive Hilfeleistung des Seelsorgers.178 Erstaunlich genug, daß schon ein halbes Jahrhundert früher gerade der erzkonservative Steinmeyer bemerkt, "daß die specielle Seelsorge zu irgend einer Zeit in einer wirklichen Blüthe gestanden, daß sich unter ihren Händen ein reger Fluß und Rückfluß der geistigen Kräfte vermittelt hätte, davon berichten die

177

Ders. 1927,22 f., auch die folg. Zitate. Die wichtigste inhaltliche Bemerkung bezieht sich auf das Schuldproblem - interessant nicht zuletzt in dem Fragehorizont, was von der psychoanalytischen Theorie inzwischen ins allgemeinere Wissen abgesunken ist: Oftmals wird, "was uns auf den ersten Blick als Schuld erscheint, bei näherer Prüfung sich als pathologisch zu beurteilende Krankheitserscheinung herausstellen, andererseits aber auch hinter manchem, was sich als Krankheit gebärdet, Schuld sich verbergen" (ebd., 101 f.). Das Schuldproblem ist es auch, bei dem sogar Hermann Diem (1963, 250) einmal beiläufig von tiefenpsychologischen Erkenntnissen spricht. Es bleibt die einzige Stelle. 178

"Seelsorge ist Hilfe an der Seele; die Erweisung wirklicher, echter Hilfe. Zunächst nichts weiter. Sie ist Hilfe in der Weise, wie sie uns der größte Helfer und Heiland geboten hat". Diesem Ansatz des Theologen und Religionspsychologen Werner Gruehn (1927, 6) würde Pfister sofort beistimmen, gerade auch in seiner christologischen Zuspitzung. Über die Art und Weise allerdings, wie diese seelsorgerliche Hilfe am besten geschehen kann, hat er immer wieder gestritten, auch mit Werner Gruehn (vgl. Bibl. Nr. 167). Auch im Blick auf Baumgartens "schöne Ausführungen" über die Seelsorge in seinem RGG-Artikel von 1913 meint Pfister, der reichliche Besitz der dort gepriesenen Charismata genüge bei weitem nicht. "Auch mit Hilfe des Neuen Testamentes, der Kirchengeschichte und Glaubenslehre, des Zuspruches und Gebetes dringen wir nicht durch, und wenn wir ein wenig menschenkundig sind, so merken wir, daß wir an unseren Pastoranden vorbeireden" - solange der Zugang zu ihren unbewußten Konflikten nicht erschlossen ist (NZ 12, von mir hervorgehoben).

2.9. Pfisters Pastoralpsychologie

83

Blätter der Geschichte uns nichts".179 Für das 18. Jahrhundert mag dieses Urteil durch Steinmeyers kritische Einstellung zum Pietismus getrübt sein, für das 19. Jahrhundert trifft es gewiß zu. Schon ein Blick in des ehrlichen Büchseis "Erinnerungen" kann uns die im argen liegenden kirchlichen Zustände, zumal auf dem Lande vergegenwärtigen. Sie waren wohl für nichts ungünstiger als für die Seelsorge. 180 Bis in die Seelsorgeliteratur des beginnenden 20. Jahrhunderts zieht sich die Klage durch, diese Arbeit sei ja so schwierig oder jedenfalls so schwierig geworden, so daß der Pastor gelegentlich aufgefordert werden muß, sich gegenüber den Anforderungen der Seelsorge zu "wappnen".181 Diese Vorsicht scheint bei manchen nicht zu seelsorgerlicher Geduld geführt zu haben, sondern schlicht dazu, es möglichst zu seelsorgerlichen Gesprächen außerhalb amtshandlungsmäßiger Einkleidung gar nicht erst kommen zu lassen. Das hinderte sie nicht, über praktische Seelsorge zu schreiben, eine Absurdität, die auch heute noch zu beobachten ist. Aber auch die Autoren, die auf einem Fundus seelsorgerlicher Praxis aufbauen können, lassen gelegentlich Zwischentöne hören, die auf Rat- und Hilflosigkeit, auf "rätselhaftes" Nichtverstehen, auf zweifelhafte Erfolge oder gar auf Mißerfolge in der Seelsorge hindeuten. Von vielen wird die Beichte als rettender Ausweg empfohlen. Zumal gegen das wachsende Selbstbewußtsein und die Konkurrenz der Psychotherapie in den 20er und dann noch einmal in den 50er Jahren rufen die praktischen Theologen fast einhellig nach der Stärkung von Einzelbeichte und Absolution. Die Begeisterung für dieses Heil(s)mittel, das die Kirche ja immer schon besessen habe, ist freilich verdächtig, und in der Tat handelt es sich hier um einen klassischen Fall ideologischer Verzerrung der Realität. Es war eine reine Geister- bzw. Literaturschlacht, die hier geschlagen wurde, denn die Einzelbeichte als ritueller Beichtakt kam in der seelsorgerlichen Praxis so gut wie überhaupt nicht vor. Sie war einfach nur theologisch dekretiert worden. So fungierte sie als willkommenes Versatzstück in der theologischen Publizistik. Ein typisches Beispiel ist der verdienstvolle und aufgeschlossene Apologetiker Carl Schweitzer. Zunächst versucht er durchaus, die "zweckfreie Analyse" positiv zu würdigen, um sie sodann in den Dienst der evangelischen

179 Steinmeyer 1878, 1 f., vgl. 7 ff. (Pietismus). Auch Riggenbach klagt darüber, daß so viele Pfarrer die spezielle Seelsorge vernachlässigen (1898, 141). Büchsei sieht in Berlin kaum etwas davon (1886, 135). 180 181

Büchsei 1907, z.B. 43, 57 [Abschn. 3],

So Wächtler 1905, 91, vgl. 96: "Mancher treue Seelsorger kämpft oft vergeblich gegen den Druck, der ihn lähmt, und gegen die innere Leere, die ihn ratlos macht". Enorme Schwierigkeiten deuten auch Blau (1912, IV) und Gruehn (1927, 25, 71) an. Vgl. Abschn. 8 d.

84

Praktische Theologie und Wirklichkeit

Beichte treten zu lassen. Denn "die Katharsis der Absolution läßt sich durch keine ärztliche Analyse ersetzen".182 Bis in die 60er Jahre bleibt diese Argumentationsfigur praktisch unverändert. Erst dann wird Ernüchterung möglich, Enthüllung noch später. Im Rückblick auf die 50er Jahre können zwei prominente Pastoralpsychologen nur von verunglückten Beispielen ritueller Einzelbeichte berichten. Das Beichtbegehren war jeweils funktionalisiert im Kontext einer schweren Neurose, einer Psychose und eines Suizidversuchs.183

Pfister konnte schon damals auf erfolgreiche seelsorgerliche Hilfeleistung verweisen, dauerhaft auch über die typische Anfangsphase einer neuen Bewegung hinaus. "Rätsel" können plötzlich gelöst, "Dunkelheiten" erhellt, als besonders schwierig empfundene seelsorgerliche Probleme nunmehr bearbeitet oder doch in ihrem Hintergrund verstanden werden. So tut sich immer deutlicher eine neue, vielversprechende Perspektive für Praxis und Theorie des Pfarrerberufes auf, damit am Ende auch für die theologische Wissenschaft, so wenig Pfister in dieser Vermittlungsaufgabe auch im ganzen erfolgreich sein konnte. 1949, wenige Jahre vor seinem Tod, zieht er Bilanz, auf eine für ihn überaus typische Weise: "Mein Wunsch, die seelsorgerliche Analyse zum Gemeingut aller Pfarrer zu machen, schlug fast ganz fehl. Die Theologen beschäftigen sich lieber mit Dogmengepäck und Kirchenrechtsfragen als mit der lebendigen Menschenseele! Es ist ein Jammer, wie schrecklich in der Seelsorge gepfuscht wird. Ei nun, es ist Gottes Sache. Ich glaube nicht, daß mein Lebenswerk nur aus Schlägen ins Wasser bestand.'" 84

182 C. Schweitzer, 1928, 173; vgl. auch seine Rezension von Pfisters 'Analytischer Seelsorge' (1928 a). Ähnlich Buntzel 1926. 183

Scharfenberg 1972, 22; Piper 1982, 294, bei ihm sind es die beiden einzigen Fälle eines Beichtritus in seiner bisherigen Amtszeit! 184

An H.W. Kienast, 15.08.1949, abgedr. bei Kienast 1973, 494.

Kapitel 3 Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen 1.

Das philosophische Vorspiel: Erfahrung und Erkenntnis, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft

Pfisters Denken hat einen radikal empirischen Zug. Das Ausgangsdatum der Denkbemühung und damit aller Theoriebildung ist die individuelle Erfahrung.1 Nur darf man eben die Erfahrungsinhalte nicht naiv als gegeben bzw. der Wirklichkeit entsprechend hinnehmen, sondern muß zunächst einmal kritisch die Bedingungen möglicher Erkenntnis reflektieren. Das ist die Aufgabe von Logik und Erkenntnistheorie, die damit zur unerläßlichen Voraussetzung sowohl der Einzelwissenschaften wie der Philosophie (im weiteren Sinne von Metaphysik und Ethik) werden. Die Einzelwissenschaften wenden sich den verschiedenen Gegenstandsbereichen bzw. Erfahrungsinhalten zu. Alle Wissenschaft will beschreiben, erklären und verstehen. Bei den Gegenständen der traditionellen Geisteswissenschaften stellt sich darüber hinaus die Frage nach der Wahrheit und Gültigkeit der Forschungsergebnisse mit besonderer Dringlichkeit. Pfister verwahrt sich strikt dagegen, diese Normfrage der außerwissenschaftlichen Beliebigkeit zu überlassen oder gar naiv hingenommenen Erlebnissen religiöser Gewißheit. Vielmehr schließt sich die Frage nach der Wahrheit des Denkens ("Metaphysik") und des Handelns ("Ethik") kontinuierlich an die

1

Vgl. Willensfreiheit 261. - Pfisters Buch über die Willensfreiheit ist hervorgegangen aus der Antwort auf ein Preisausschreiben der Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion, veranstaltet 1897 und noch einmal im Jahre 1900. Weil sie Pfisters damalige Interessen beleuchtet, sei die dreigeteilte Preisfrage wörtlich zitiert (ebd. IV f.): "Kann man sich für die Theorie des Indeterminismus (Kants transzendentale Willensfreiheit) mit Recht auf Tatsachen des Seeelenlebens berufen? Ist diese Theorie aufrecht zu halten gegenüber den neueren wissenschaftlichen Untersuchungen über die Regelmäßigkeit in den menschlichen Willenstaten, den Zusammenhang zwischen physiologischen und psychologischen Erscheinungen usw.? Welche Bedeutung hat sie für Religion und Sittlichkeit?" Der Preis wurde zu gleichen Teilen dem Deterministen Pfister und dem Indeterministen Adolf Bolliger zuerkannt, einem Baseler Theologieprofessor und Lehrer Pfisters (s.u.). - Bereits 1898 erschien eine "sozialpsychologische Untersuchung" des später berühmten Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster über "Willensfreiheit und sittliche Verantwortlichkeit". Hier erklärt der spätere Gegner Pfisters die Forderung der sittlichen Verantwortlichkeit als vereinbar mit dem Determinismus (50).

86

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

erfahrungswissenschaftliche Fragestellung an. Beide sind zunächst nichts anderes als eine kritische Bearbeitung des Erfahrungswissens, des wissenschaftlichen wie des alltäglichen.2 Diese Notwendigkeit gilt auch für die Naturwissenschaften, weshalb Pfister später eine "Metaphysik der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" fordert. Im Fortgang allerdings will die Philosophie zu den höchsten Ideen und Normen durchdringen, nur ohne den Sprung in ein Jenseits der Erfahrung. Gegen den philosophischen und technologischen Dualismus verteidigt Pfister die eine Wirklichkeit, aber gegen den Psychologismus und naturwissenschaftlichen Positivismus die "objektive" Realität der geistigen Welt, vermittelt im Medium der subjektiven Erfahrung. Die erste Argumentationsrichtung findet sich vor allem, wenn Pfister den Theologen Recht und Notwendigkeit der Psychologie darlegt; die zweite, wenn er später gegenüber den Psychoanalytikern über die Religionskritik hinaus Recht und Notwendigkeit (und Schönheit!) der Religion herausstellt. Nun war das Recht eines eigenständigen Bereiches der Geisteswissenschaften um die Jahrhundertwende nicht mehr so unbestritten wie noch im deutschen Idealismus. Der siegreiche Aufstieg der Naturwissenschaften hatte im Denken weiter Kreise Materialismus und Mechanismus zur Folge: Welt und Mensch als große Maschinen. Für Pfister war das schlechte und falsche Metaphysik. Die traditionellen Geisteswissenschaften zogen sich mehr und mehr auf die Relativität der Geschichte, oft bloß die Geschichte ihrer eigenen Disziplinen, zurück und schlugen sich mit den Problemen des Historismus herum. Die Welt wurde zur Geschichte und damit weitgehend auch die Wissenschaften, die die großen Fragen nach Sinn und Ziel der Weltentwicklung bisher behandelt hatten: Theologie und Philosophie. Auf der anderen Seite entstand allmählich eine neue Wissenschaft, die Psychologie, die die Frage nach dem einzelnen und seinem Weltverhältnis übernahm. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts läßt sich gut beobachten, wie ein Großteil der traditionellen philosophischen Fragestellungen allmählich in psychologische übergeht, vor allem aus Erkenntnistheorie3 und Ethik. Die Psychologie reflektierte nicht bloß die Bedingungen möglicher (gültiger) Erfahrung, sondern zunehmend auch die Bedingungen

2 Ebd. 224. Der wohl wichtigste philosophische Lehrer Pfisters war Richard Avenarius, der Begründer des Empiriokritizismus (vgl. ebd. VIII). - Das folg. Zitat PsaW 36. 3

Vgl. z.B. Hönigswald 1966, 180, 183, 188 f.

3.1. Das philosophische Vorspiel

87

wirklicher (empirischer) Erfahrung. So wurde der Umfang dessen, was man mit Psychologie bezeichnete, immer weiter; bei Wilhelm Wundt etwa erstreckte er sich von der Sinnespsychologie bis zur Herleitung der Gottesidee. Wer Psychologie trieb, befand sich auch insofern am Nerv der Zeit, als die "Persönlichkeit" (bzw. die Idee der Persönlichkeit) zur entscheidenden Bastion der Geisteswissenschaften gegenüber dem Zugriff der Naturwissenschaften wurde. Als junger Theologe hat Pfister sich intensiv und kompetent an den philosophisch-psychologischen Diskussionen seiner Zeit beteiligt, ein Vorspiel der späteren Auseinandersetzungen um die Psychoanalyse. Dabei schälten sich, wie wir jetzt zusammenfassen können, für ihn zwei zentrale Interessen heraus: Zum einen gilt es, das Recht der Wissenschaft gegenüber dem Alltagsbewußtsein und vor allem gegenüber religiösen und weltanschaulichen Nischen zu wahren: Determinismus als Voraussetzung moderner Wissenschaft (a). Zum anderen liegt Pfister an der Behauptung einer eigenständigen psychischen und geistigen Wirklichkeit als Innenseite der physischen und materiellen ("psychophysischer Parallelismus"): Nur durch ein nicht-naturwissenschaftliches Kausalitätsverständnis läßt sich der Psychologie ein eigener Gegenstandsbereich erhalten (b). ad a) Pfister geht es um das Recht der Wissenschaft, "welche mit der Annahme durchgängiger Gesetzlichkeit steht und fällt", wie er schon 1904 in seinem Buch über die Willensfreiheit feststellt. Es tritt für einen konsequenten Determinismus ein, und dieser ist "die logische Voraussetzung der Psychologie". 4 Das Alltagsbewußtsein neigt dazu, eine irrationale "Fügung" oder einen "blinden Zufall" anzunehmen: Der Ball hätte "ebensogut" ins Netz gehen können statt an den Pfosten ... Solche spontanen Reaktionen sind verständlich und legitim. Gravierender als im Alltag wird solches Denken aber in der Wissenschaft. Friedrich Wilhelm Foerster z.B. verwendet dieses Argument 1909 wörtlich gegen die psychoanalytische Basishypothese vom verstehbaren Sinn der Symptome und Fehlleistungen. Pfister wirft ihm in

4 Eine Lanze zur Verteidigung des Determinismus (1904), 78; Willensfreiheit 156. Vgl. später: Anwendungen der Psychoanalyse (1912), 57: Die Psychologie wie alle Wissenschaft steht und fällt mit dem Prinzip der natürlichen Erklärung.

88

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

seiner Erwiderung einen unwissenschaftlichen Kausalbegriff vor und verweist auf seine früheren philosophischen Studien.5 "Wie soll ich denn noch forschen, wenn jeden Augenblick eine kosmische Intelligenz auf unkontrollierbare Weise Energien in die Welt hineinwirft?", so hatte Pfister schon 1903 gefragt. Heftig kritisiert er diejenigen Philosophen und Theologen, die meinen, Ethik und Religion gegen das allmächtige Kausalitätsprinzip der Wissenschaft zu verteidigen, wenn sie dem Menschen bzw. Gott an irgendeiner Stelle eine absolute Freiheit einräumen. Die inkonsequente Annahme einer solchen "göttlichen" Funktion im Menschen beginnt schon mit Kants Idee der transzendentalen Freiheit. Ein solches "intelligibles Männlein" hinter der empirischen Welt ist für Pfister intellektuell, ethisch und religiös unerträglich. Freiheit ist (prospektiv gesehen) Freiheit vom Zwang, aber nicht (retrospektiv gesehen) Freiheit von Ursachen. Dies würde Willkürlichkeit und Zufälligkeit bedeuten. Dem berechtigten Interesse, Glauben und Wissen, religiöse und wissenschaftliche Erfahrung zu versöhnen, kann man nicht dadurch dienen, daß man die Reichweite der wissenschaftlichen Erklärungs- und Verstehungsversuche a priori einschränkt, indem man hinter ihnen oder sogar in sie hinein eine zweite, dem gesetzlichen Zusammenhang enthobene Welt aufbaut. So versucht ein ehemaliger Lehrer Pfisters, der Basler Systematiker Adolf Bolliger, im Anschluß an den Philosophen R.H. Lotze streng wissenschaftlich zu beweisen, daß die Tatsache der Wechselwirkung aller Weltelemente notwendig zu der Annahme der Existenz eines allumfassenden Wesens führe. Er versucht also eine Art Gottesbeweis auf der Basis einer spekulativen Erkenntnistheorie. Pfister läßt sich 1901/02 mit ihm in eine längere Auseinandersetzung ein6, in der ein intellektuelles und ein religiösethisches Argument die wichtigste Rolle spielen: Einmal steht Pfister im Gegensatz zu Bolliger auf dem Boden der neuesten Psychologie, wie sie vor allem durch Wilhelm Wundt repräsentiert wird. Bolliger denkt in den überholten Begriffen von Seelensubstanz und Seelenvermögen und gerät dadurch in logische Widersprüche, während Pfister von einem energetischen und dynamischen Kräftespiel der psychi-

5

Anti-Foerster 71, 108. Vgl. Foerster 1909, 344. - Die folg. Zitate Willensfreiheit 317, 144; vgl. 331, 353. 6

Bibl. Nr. 3-5

3.1. Das philosophische Vorspiel

89

sehen Strebungen ausgeht, darin im Einklang mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft. Darüber hinaus aber gilt: Selbst wenn solche Versuche noch besser gelingen könnten, hält Pfister es überhaupt für verfehlt und "scholastisch", den Glauben an Gott und die ihm korrespondierende Anthropologie auf spekulative Konstruktionen stützen zu wollen, sie quasi von vornherein in die Wissenschaftslehre einzubauen. Gott ist ein Gott der Tat und der Liebe und hat es nicht nötig, in die Lücken unseres Wissens eingebaut zu werden. Ebenso will auch das Wesen des Menschen "sich uns nicht unverhüllt, rein theoretisch, zu erkennen geben"7, sondern nur auf breitester empirischer Basis können vorsichtige Hypothesen gewagt werden. So zieht Pfister in dem Buch über die Willensfreiheit nicht nur die Psychologie ausgiebig zu Rate, sondern nahezu alle Wissenschaften vom Menschen: Geschichte, Soziologie, Physiologie, Psychopathologie, Kriminalanthropologie, sogar die "Moralstatistik" des heute zu Unrecht vergessenen Alexander von Oettingen. Ohne ein breites humanwissenschaftliches Fundament werden spekulative Annahmen, z.B. über die transzendentale Freiheit des Menschen, zum Lückenbüßer mangelhafter Menschenkenntnis.8 Eine solche Scholastik ist nicht nur intellektuell unhaltbar, sondern auch ethisch verwerflich, weil sie zur Trägheit auf der Suche nach Wahrheit führt. Sie ist überdies religiös anfechtbar, weil sie im Ergebnis die Wissenschaft und den Gottesglauben in einen Gegensatz bringt, statt gerade im unbedingten Wahrheitsstreben ein Gebot Gottes zu sehen. Damit klingt etwas von dem an, was ich Pfisters Wissenschaftsethik nennen möchte [vgl. Abschn. 3]. Sie ist, wie alle Ethik bei Pfister, religiös vermittelt. Die Wissenschaft hat nicht die Aufgabe, Einfallstore des Unbedingten zu konstruieren oder auch nur offenzulassen. Sie soll forschen, und der Theologe hat keinen Grund, sich auf die wissenschaftlichen Rätsel zu stürzen, um sie für seine Zwecke auszuschlachten. Allerdings, "alle Wissenschaft ist ein Kampf mit dem Geheimnis, und dem Geheimnis wird immer das letzte Wort gehören. Darum darf es nie das erste Wort beanspruchen und das Verbot des noli me tangere aushängen".9 In diesen Worten von 1921, zwei Jahrzehnte nach der Kontroverse mit Adolf Bolliger,

7

Syllogismen (1901), 226.

8

Willensfreiheit 142.

' Mission u. Psychoanalyse (1921), 233, vgl. Wesen der Offenbarung (1927), 19.

90

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

ist Pfisters Grundposition unverändert enthalten. Es mag in ihnen aber auch die Erfahrung mitschwingen, daß die Wissenschaft, gerade auch die psychoanalytische Wissenschaft, nach der Lösung so mancher Rätsel auf einer tieferen Ebene neue Fragen und Rätsel aufgibt. Doch die Relativierung der Möglichkeiten der Wissenschaft führt ihn nicht zur Resignation oder Spekulation, sondern wird ihm zum Ansporn, das "Geheimnis" möglichst weit auszuleuchten. Gerade so dient die Wissenschaft dem Gottesreich. Wäre er sich dessen nicht gewiß gewesen, hätte Pfister eine solch enthüllende Wissenschaft wie die Psychoanalyse niemals sich aneignen können. Was hier religiös formuliert ist, liegt auch Pfisters expliziter Erkenntnistheorie zugrunde, nämlich "die Annahme der Möglichkeit einer Korrespondenz von Denken und Sein". 10 Auf der einen Seite ist nicht bloß unsere Erkenntnisfunktion, unser Denken wirklich, das dann seine Weltwirklichkeit irgendwie aus sich heraus schaffte. Auf der anderen Seite ist aber auch der Gegenstand unserer subjektiven Erkenntnis, unseres Denkens nicht bloß ein Abbild der vorgeblich rein objektiven Wirklichkeit. Da das Wesen der Dinge und die Normen des Denkens nicht absolut auseinanderfallen, ist "Erkennen ein Denken, welches sich auf ein Wirkliches bezieht", das in einem Stück subjektiver Arbeit mehr oder weniger adäquat 'begriffen'wird. Im Anschluß an Wilhelm Wundt unterscheidet Pfister den "naiven Realismus", der die Erfahrungsinhalte einfach als gültige Aussagen über die Wirklichkeit hinnimmt, vom "kritischen Realismus", der das in der Erfahrung Gegebene kritisch bearbeitet. So ist die Erfahrung als das ursprüngliche erst die Vorstufe der (wissenschaftlichen) Erkenntis. Diesen Weg hat Pfister auch später beizubehalten versucht; sein Standardwerk "Die psychoanalytische Methode" will eine empirisch-kritische Untersuchung sein.11 Wir halten hier nur fest, daß für Pfister Möglichkeit und Sinn einer solchen Erkenntnisarbeit in der religiösen Gewißheit begründet liegen, daß Denken und Sein einander entsprechen, daß die Wissenschaft dem Gottesreiche dient. Will man hier eine analogia entis erkennen, so ist eine solche

10 11

WUlensfreiheit 226. Das folg. Zitat ebd. 260.

Auch heute noch wird der kritische Realismus als die der wissenschaftlichen Psychologie am ehesten angemessene Erkenntnistheorie bezeichnet, vgl. Oerter 1971, 400. Schon Schleiermacher wollte sich gegenüber Fichte weder den Idealismus noch die wirkliche Welt nehmen lassen (Briefe, eds. Jonas/Dilthey, Bd. IV, 55). Zur Darstellung der beiden erkenntnistheoretischen Positionen von psychologischer Seite vgl. Herzog 1979, bes. 300 f.

3.1. Das philosophische Vorspiel

91

im Werden, eine, deren Erfüllung stets vorausliegt - so wie etwa in Schleiermachers Ethik die Natur im Verlauf der Geschichte immer mehr zum Organ der Vernunft (des Geistes) wird. 12 Gott kann zuletzt nur das Beste wollen; damit ist die Welt zum Guten hin determiniert. Auf der Basis dieser Determination wird Pfister zum leidenschaftlichen Verfechter des methodischen Determinismus der modernen Wissenschaft, der auch eine Grundvoraussetzung der Psychoanalyse ist.13 ad b) Die Bejahung des Determinismus bedeutet auch die Annahme einer geschlossenen Naturkausalität. Doch wie ist dann noch die Erforschung der psychologischen Gesetze möglich, wenn letztlich doch alles von der Bewegung der Atome und Moleküle bzw. von der Reizung bestimmter Nervenzellen abhängt? Müßte die Psychologie als Neuropsychologie nicht konsequent zu einer Unterabteilung der NeuroPhysiologie werden, wie es später im extremen Behaviorismus ja tatsächlich geschah? Gewiß, diese ihre 'natürliche' Seite kann und darf die Psychologie nicht ignorieren. Zugleich aber muß sie nach der anderen Seite hin offengehalten werden, wo es um innere Erfahrungen geht, die sogar, kritisch bearbeitet, über sich selbst hinaus zur Annahme von Ideen und Werten führen. Doch wie kann dann der Zusammenhang der beiden Seiten der Psychologie begriffen werden? Pfister weist im einzelnen nach, daß alle Theorien, die von einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele/Geist ausgehen, zuletzt doch in den Materialismus umschlagen, also der Eigenständigkeit des Seelischen nicht gerecht werden können. 14 Es bleibt nur die Möglichkeit, die physischen und die psychischen Vorgänge als jeweils in sich geschlossen zu betrachten und unabhängig voneinander zu erforschen. Auf eine weithin unbekannte Weise ist jedem physischen ein psychischer Vorgang zugeordnet und vice versa. Die Psychoanalyse verzichtet vorläufig und notgedrungen auf die Erforschung der physiologischen Parallelvorgänge, wie Pfister noch 1910 schreibt. Um so leichter kann dann auch der Psychoanalytiker die Eigenart des psychischen Geschehens verteidigen. 15

12

Vgl. dazu Birkner 1964, 39 f.; Spiegel 1968, 186 ff.

13

Vgl. etwa Freud: GW X 54; Loch 1971, 45 ff.; Brenner 1972, 18 f.

14

Willensfreiheit 326 ff., vgl. PM 1. Aufl., 21 f.

15

Anti-Foerster 72 f.

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

92

Die Möglichkeit bzw. die Art dieser Zuordnung wurde damals als Leib-Seele-Problem stark diskutiert. Der psychophysische Parallelismus, für den Pfister eintritt, ist noch eher ein Vorläufer der heutigen Psychosomatik - Mitscherlich etwa spricht vom "psychosomatischen Simultangeschehen"' 6 - als die Wechselwirkungstheorien. Denn letztere neigen sehr leicht dazu, eine Seite, den Leib oder die Seele, die Materie oder den Geist, als ursprünglich anzunehmen, die andere nur als deren 'Erscheinungsform' oder ähnliches. Damit wäre ein einseitiges Kausalitätsverhältnis hergestellt. Dagegen hat sich schon Schleiermacher in seiner 'Psychologie' gewandt: Im menschlichen "Ich" sind Seele und Leib immer zusammen. Deshalb sind Psychologie und Physiologie Schwestemwissenschaften. Sie sind jeweils die ganze Anthropologie, einmal aus dem Gesichtspunkt des Geistes und einmal aus dem Gesichtspunkt des Leibes betrachtet. Nicht von der Philosophie, sondern von der Neurologie her kommt Freud am Ende des 19. Jahrhunderts zur Auffassung des Psychischen als eines "Parallelvorganges des Physiologischen". 17 Die Formulierung stammt aus dem Aufsatz "Zur Auffassung der Aphasien" von 1891, also aus einer neurologischen Arbeit. In der Folgezeit besteht Freuds theoretisches Hauptproblem darin, die neuen klinisch-psychologischen Entdeckungen über den Mechanismus der Neurosen mit der basalen physiologischen Erklärungsebene in einen Zusammenhang zu bringen. Seine Arbeit gipfelt in dem 1895 an Wilhelm R i e ß gesandten "Entwurf einer Psychologie", in dem er versucht, das Ganze der Psychologie in der Begrifflichkeit der Hirnphysiologie darzustellen. Er will den psychischen Apparat als Funktion eines Neuronensystems beschreiben, d.h. "als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile". Bekanntlich verwirft er diesen Versuch bald wieder und läßt dann im 7. Kapitel der 'Traumdeutung' das Modell des psychischen Apparates (1. Topik) an die Stelle des Neuronenapparates treten. 18 Damit findet Freud eine eigene psychoanalytische Darstellungsweise, die endlich die Möglichkeit bietet, "den Zusammenhang zwischen physiologischer und psychologischer Betrachtungsweise zu bewahren, ohne durch die Enge der Bindung die Entwicklung der Psychoanalyse zu hemmen" (E. Kris). Bekannt ist aber auch, was von der Physiologie blieb: Einmal die Auffassung vom Organfundament der Psychoanalyse. Sie "vergißt niemals, daß das Seelische auf dem Organischen ruht, wenngleich ihre Arbeit es nur bis zu dieser Grundlage und nicht darüber hinaus verfolgen kann". 19 Zum anderen die Übernahme physikalischer Begriffe ("Energie") und Modelle ("Konstanzprinzip") in die Theoriesprache der Psychoanalyse selbst, vor allem in die der Triebtheorie. Freud hat bis an sein Lebensende die Hoffnung behalten, die Sprache der Psychoanalyse, ja die analytische Therapie selbst als eine mit "psychologischen Mitteln" sei eine nur vorläufige und könne eines Tages durch die physiologische bzw. biochemische (wieder) ersetzt werden. 20

16

Mitscherlich 1949/50. - Zum Folg. (Schleiermacher) vgl. Geyer 1895, 9-12.

17

Zit. n. Anfänge 45.

18

Ebd. 305. Vgl., auch zum Folg., die Einführung von E. Kris, 45 f. - Zur 1. Topik vgl. GW II/III 541 ff. 19 20

GW VIII 101.

"Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen" (GW XVII 108). Freuds Äußerung in einem Brief an Viktor V.Weizsäcker, die Analytiker hätten zunächst zu lernen, sich auf psychologische Denkweisen zu beschränken, bildet keinen Widerspruch dazu

3.1. Das philosophische Vorspiel

93

Die Entwicklung der psychoanalytischen Theorie ist in ganz andere Richtungen gegangen. In dem Kontext, in dem Freud es gesehen hat, wird das Leib-Seele-Problem heute noch am ehesten in der Neuropsychologie verhandelt, einem Teilgebiet der Psychologie, das die biologischen Grundlagen des Verhaltens und Erlebens, also des eigentlichen Gegenstandes der Psychologie, erforschen will. Die alte Frage lautet hier: Wann ist ein biologischer Prozeß Substrat, wann Korrelat des Erlebens? Und umgekehrt: Müssen die hypothetischen Konstrukte der Psychologie jeweils eine neuro-physiologische Referenz besitzen, oder reicht es aus, wenn sie den gesicherten Ergebnissen der Physiologie nicht widersprechen? 21 Daneben darf man den Freud nicht vergessen, der seit seinen ersten klinischpsychotherapeutischen Interessen die Besonderheit des Psychischen praktisch würdigte. R i e ß ' sexuell-chemische Hypothesen über die Natur der Verdrängung konnten ihn nur so lange faszinieren, bis er ihren Anspruch erkannte, Psychologie durch Biologie zu ersetzen. 22 Theoretisch versetzte ihn wohl erst die Erkenntnis der Bedeutung der Phantasie gegenüber dem Einfluß realer infantil-sexueller Traumata ("Verführungshypothese") in die Lage, von der psychischen Realität als einer "besonderen Existenzform" gegenüber der materiellen Realität zu sprechen. 23

Pfister kam nicht wie Freud aus dem neurophysiologischen Laboratorium Brückes,24 sondern von der Beschäftigung mit der Religionsphilosophie des deutschen Idealismus her. Seine Dissertation von 1897/98 zeichnet Biedermanns Versuch einer religionsphilosophischen Synthese von Schleiermacher und Hegel nach [Abschn. 2]. Geht er darin traditionell geistesgeschichtlich vor, also ideengeschichtlich, so ist aus privaten Aufzeichnungen der gleichen Zeit zu ersehen, daß er auf der Suche nach ganz neuen Methoden war, um die geschichtliche Entwicklung der Idee zu verstehen. Es findet sich sogar der detaillierte Plan einer "Biologie und Genealogie der Ideen", einer "Ideophysiologie", die durch die Übernahme biologischer und physikalischer Theoreme die exakte Methode in den Geisteswissenschaften anwenden will.25 So waltet das Selektionsprinzip nicht nur in der Entwicklung der Arten (Darwin), sondern auch in der Entwicklung der geistigen Ideen; dann erscheint z.B. die Sühne als "ein Produkt der Selbsterhaltung der ethischen Idee". So versucht Pfister, die

(nach Wyss 1961, 158). 21

Vgl. Guttmann 1972, 8 f.

22

Vgl. GW XVI 98; Scharfenberg 1970, 76 ff.; Anfänge 41.

23

GW II/III 625. Vgl. X 55 f., Anfänge 186 f.

24

Vgl. Anfänge 25 f., Jones I, 60 ff.

25

Pensées (Bibl. Varia Nr. 7), auch zum Folg.- Auch in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Bolliger geht Pfister von einem engen Zusammenhang der physikalischen und der erkenntnistheoretischen Problemebene aus. Vgl. z.B. Wechselwirkung (1901), 182.

94

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

aktuelle Wirkungsweise von Ideen mit Hilfe eines Parallelogramms geistiger Kräfte zu beschreiben; es ist allerdings unmöglich, die Gravitation oder Kohäsion von Ideen in eine Formel zu bringen, weil eine Maßeinheit fehlt! Nicht minder problematisch erscheint es Pfister sicherlich, auch wenn sich hier keine explizite Einschränkung findet, das Prinzip der Selbsterhaltung auf die Ideengeschichte anzuwenden. Auf gewisse Grundformeln ist Pfister auch später aus, nun aber ohne den quasi naturwissenschaftlichen Exaktheitsanspruch. Im Zusammenhang der Trieblehre stellt er dem konservativen Prinzip der Selbst- und Arterhaltung das progressive der Steigerung und Durchsetzung entgegen. Es ist das (Formal-)Prinzip der Evolution ebenso wie der Entwicklung des menschlichen Individuums, das höher steigen will, "über Leichen und Elternbilder", getrieben letztlich von der Macht des Eros als umfassender Einheit der Trieborganisation.26 Und Pfister hat auch die "Formel" gefunden für dieses Prinzip: das biblische Gebot der Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe, ist die "beste Kanalisation der Libido", ja eine einzigartige "emotionale Kraftverteilung".27 Dazu gehört ein zweiter Grund-Satz, der Nichtgelingen und Hemmung erklärt: "Furcht ist nicht in der Liebe ..." (1. Joh. 4,18). Der individuelle und kollektive Geschichtsprozeß wird damit zur Geschichte der Wege und Abwege der Liebe und diese gleichsam zum Materialprinzip der Evolution. Vorab ist es erstaunlich genug, daß offensichtlich auch Pfister eine Zeitlang von einer quantitativ-exakten Geisteswissenschaft träumt, wenn auch deutlicher als Freud von einer der Naturwissenschaft bloß analogen.28 Sein Entwurf der Psychologie heißt "Ideo-logie", an der Stelle der Neuronen stehen die Ideen. Was ist davon geblieben? Wurde nach der Begegnung mit der Psychoanalyse aus der (projektierten) Physik des Geistes eine Physik der

26 PM 53, 144 f.; Br. 142, 147 f., zit. 148. - Baumgarten spricht in seiner 'Praktischen Sittenlehre' von einer Ethik der Lebenserhaltung und Lebenssteigerung, ausgehend von dem entsprechenden "Grundtrieb" (1921, 39 ff., 44). 27

AS 25, Anwendungen 78. Zum Verhältnis von Furcht/Angst und Liebe s. Kap. 11.4

u. 5. 28

Etwa: "Wir müssen so weit gelangen, daß wir die Existenz einer unbewußten Vorstellung ebenso sicher demonstrieren und charakterisieren wie die Existenz der ungesehenen Ceres" (Pensées, Notiz von 1898). Noch in der 'Willensfreiheit' sieht Pfister die psychische analog zur geschlossenen Naturkausalität.

3.1. Das philosophische Vorspiel

95

Triebe? Davon kann keine Rede sein. Zwar hat Pfister im wesentlichen nur die frühen, quantitativ anmutenden Konzepte aus der Freudschen Theoriesprache übernommen und beibehalten, wie vor allem den Begriff der Libidostauung aus der Theorie der Aktualneurosen. Aber er verwendet sie metaphorisch in einem bestimmten, später zu erläuternden Sinn [7.5] und nicht etwa als Grundlage einer Psychologie, die die Mengenverhältnisse der psychischen Energie quantitativ erfassen will. Im Gegenteil, versucht man Pfisters analytische Theoriesprache nach Freuds drei metapsychologischen Aspekten zu differenzieren, so gelingt das für den topischen und den dynamischen Aspekt eher als für den ökonomischen. 29 Die Verteilung der psychischen Energie im einzelnen scheint Pfister nicht zu interessieren. Ihm geht es in seiner "Mathematik des Unbewußten" um die "dichtende, formende Geistesarbeit" unter der Bewußtseinsschwelle, also um das Schicksal der Vorstellungen, nicht um ihren Affektbetrag, um den Sinn, nicht um die Kraft (P. Ricoeur). 30 Dies vor allem, weil die Gesetze der psychischen Kausalität von denen der physischen ziemlich verschieden sind. Pfister nennt vor allem den Vorrang der qualitativen Verknüpfung gegenüber der quantitativen. An die Stelle der energetisch verstandenen Äquivalenz von Ursache und Wirkung treten andere "Gesetze", z.B. das Prinzip der schöpferischen Synthese (W. Wundt). Diese Ansätze gilt es auszubauen. Grundlegend bleibt das Prinzip: Psychisches ist nur aus Psychischem zu erklären. 31 Pfister läßt keinen Zweifel daran, daß er dies "nicht als metaphysische Doktrin, sondern als heuristisches Prinzip" auffaßt. In einem Brief aus dem Jahre 1938 spricht er sogar vom psychophysischen Parallelismus als von falscher Metaphysik, da es doch Wechselwirkungen gebe. Aber er sei eben eine glänzende Arbeitsregel. 32 Denn auf seiner Grundlage können sich Psychologie (und Theologie) ihrem eigentlichen Gegenstand, dem Wollen, Denken und Fühlen der empirischen Persönlichkeit, zuwenden und dessen "Determinanten" erforschen. Um dieses Interesse zu verdeutlichen, kann Pfister sogar von einer "Kausalität des Willens" sprechen und die Psychoanalyse später als

29

Vgl. GW X 281, Kap. 6.2 u. 3.

30

PM 38, vgl. Ricoeur 1969, 159.

31

Willensfreiheit 299, vgl. 293. Das folg. Zitat PM 1. Aufl., 21.

32

An H.Syz, New York, 7.2.1938 (unveröffentlicht).

96

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

voluntaristisch orientierte Psychologie bezeichnen.33 Jedoch ist damit gerade das Gegenteil einer Substanzialisierung des Willens gemeint. Die Untersuchung über die Willensfreiheit legt ja gerade besonderes Gewicht auf die Vielfalt der inneren und äußeren Determinanten. Nur geht deren Wirkung immer durch das Medium der Persönlichkeit "als gestaltender Einheit" ("organischer Determinismus").34 Frei handelt derjenige, der in seinem bewußten Wollen seinen Charakter zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne ist der Neurotiker unfrei, weil er die Herrschaft über sich selbst verloren hat. So steckt Pfister schon vor seiner Begegnung mit der Psychoanalyse das Feld ab für eine sinnvolle psychologische und theologische Forschung. Es ist nicht Aufgabe der Erkenntnis, ihren Gegenstand nachzubilden oder im Sinne Hegels mit der Vernunft zu begreifen. Reine Vernunfterkenntnis ist ebenso unmöglich wie reine Erfahrung - und reine Analyse, wie er später hinzufügt.35 Pfisters Erkenntnisbegriff hat seinen Schwerpunkt im "ethischen Ideal der praktischen Zuverlässigkeit". Das Erkenntnisobjekt ist die empirische Persönlichkeit in ihren "Verhaltensweisen und Kräften". Dies nennt Pfister seinen "aktuellen" Erkenntnisbegriff gegenüber dem dinglichen Kants und dem logischen Hegels.36 Damit trägt er dem dynamischen Charakter alles Psychischen Rechnung gegenüber jeder statischen Auffassung von Seelenvermögen. Gegen sie hatte sich schon Schleiermacher gewandt, als er die Seele als "Agilität" fassen wollte, die sich in verschiedenen Funktionen des "Ich" äußert.37 Bei Freud findet sich das gleiche Interesse zum ersten Mal, als er gegen die sogenannte Lokalisationstheorie, die Denken und Sprechen bestimmten Hirnpartien direkt, in "Punkten", zuweisen wollte, einwandte, sie unterschätze die Dynamik und das Kräftespiel der

33

PM X, vgl. Willensfreiheit 142.

34

Willensfreiheit 138.

35

Rezension Lipsius (1905), 198; Philosophisches Denken (1923), 73; PsaW 35; Illusion 115; Br. 122, 137 u.ö., PE 147, NZ 66 f., NTPsa 433 u.ö. - Vgl. Kap. 14.2. 36 Willensfreiheit 266. Gewissen Parallelen zu dem gleichzeitig in den U S A aufkommenden Pragmatismus sind nicht zu übersehen. - Wilhelm Wundt versteht Seele als "stetigen Zusammenhang des psychischen Geschehens". Sein Seelenbegriff ist nicht substantiell, sondern aktuell ("Aktualitätsprinzip"), nicht intellektualistisch, sondern voluntaristisch und evolutionistisch (Wundt 1911, 7; vgl. Glockner 1960, 1004). Hier sucht Pfister Anschluß. 37 Zu Schleiermacher s. Geyer 1895, 64; vgl. auch Pfister: Biedermann 67. - Diese Auffassung des Seelischen entspricht einer kritischen Strömung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vgl. die Zusammenfassung bei Börner (1912, 8 f.).

3.1. Das philosophische Vorspiel

97

beiteiligten Funktionen. Es geht um das Verständnis bzw. die Rekonstruktion eines komplexen Vorgangs, nicht um die direkte Ableitung mittels einer Ortsbestimmung.38 Nach 'unten' zur Physiologie hin klar abgegrenzt, ist bei Pfister das Feld nach 'oben', zur Welt der Ideale und Normen hin offen. Denn "alle Erfahrungsaussagen haben Erkenntniswert, wenn auch zuerst nur sehr bedingten und vorläufigen"39, - also auch religiöse Gefühle und Vorstellungen und ethische Gewißheiten. Wie bei den mathematischen Symbolen oder bei den zeitbedingten Hilfsbegriffen der Naturwissenschaften (Äther, Atom, Materie u.ä.) kommt es auch bei "metaphysischen Zeichen und Bildern" auf die richtige Verwendung an. Man muß sie "eben richtig verstehen als eine in Anbetracht der Natur unseres Denkens notwendige und berechtigte Ergänzung des Erfahrungsbestandes durch bestimmte auf Analogie beruhende Einheitsideen, die solange in Kraft bestehen, als nicht infolge vermehrter Erfahrung das Bedürfnis nach umfassenderen oder auf bessere Analogien gegründeten Einheitsideen auftritt".40 Anders gesagt: Auf der analytischen Verstandestätigkeit baut die synthetische Vernunfttätigkeit auf. Mir scheint, daß Pfister damit das Bedürfnis nach "identitätssichemden Deutungssystemen" (Habermas)41 als anthropologische Konstante betrachtet. In der Regel handelt es sich dabei um Symbolsysteme. Wie immer man den methodischen Umgang damit bezeichnen will, als Philosophie, Theologie, Weltanschauungslehre oder ähnliches, er steht in Kontinuität mit der Erfahrungswissenschaft. Die Denkfigur, mit der Pfister den Zusammenhang hier andeutet, Analyse und Synthese, wird später grundlegend für die Bestimmung der Funktion der Psychoanalyse in der Seelsorge [14.1], Ich habe versucht, den erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Rahmen zu erläutern, in den Pfister die "Psychoanalyse als psychologische Methode" stellt, nicht anders als die "Wissenschaft vom christlichen 38

Vgl. Anfänge 23, Scharfenberg 1970, 79 f.

39

Willensfreiheit 266.

40

Rezension Lipsius (1905), 198. - Dagegen betont Freud (GW XIV 84 f.), gerade für die "intellektuelle Systembildung" in den Gmieswissenschaften seien "klare Grundbegriffe und scharf umrissene Definitionen" nötig. In den Atoarwissenschaften, zu denen er die Psychologie ohne Umschweife zählt, ist solche Klarheit überflüssig, ja unmöglich, denn sie lebt von einem anderen als dem begrifflichen Zugriff auf die Wirklichkeit. Darum darf sich die Psychoanalyse solche unscharfen Oberbegriffe wie Libido und Trieb leisten! 41

Habermas 1974, bes. 69.

98

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

Glauben". 42 Damit liegt eine vorläufige Antwort bereit auf die Frage, warum er sich sowohl "gegen das Organfundament wie gegen den metapsychologischen Überbau der Analyse etwas sträube", wie Freud eher "amüsiert" feststellt. 43 Pfister hat die Psychoanalyse in die Grundlinien seiner Lebensanschauung und ihre wissenschaftliche Ausgestaltung ohne größeren Bruch integrieren können. Er erlebte keine katastrophale kognitive Dissonanz (L. Festinger), sondern eine große Bereicherung und Vertiefung nicht nur seiner praktischen Arbeit, sondern auch seiner theoretischen Ansätze.

2.

Schleiermacher und Hegel, Schweizer und Biedermann

Für Pfister ist die menschliche Religiosität - und jede einheitliche Lebensund Weltanschauung ist religiös vermittelt - primär im Gefühl verankert, wenn auch Denken und Handeln stets und notwendig dazugehören. Daß das religiöse Erleben primär vom Gefühl bestimmt wird, ist zunächst eine Erfahrungsaussage, besitzt also, entsprechend Pfisters erkenntnistheoretischem Ansatz, nur vorläufigen und begrenzten Erkenntniswert. Erst die kritische wissenschaftliche Bearbeitung führt zu allgemeingültiger Erkenntnis. Allerdings muß sie auch wirklich von den Primärerfahrungen ausgehen, mit Pfisters Worten: vom Erleben und Leben des Glaubens, von der tatsächlichen, lebendigen Frömmigkeit. Dies aber vermißt er bei der zeitgenössischen Glaubenswissenschaft. Darum kämpft er lebenslang gegen das, was er den intellektualistischen Sündenfall der Theologie nennt [11.3]. Den Ausdruck Gefühl finden wir bei Pfister relativ selten, wahrscheinlich deshalb, weil er ihm vom Pietismus her im Sinne von Gefühligkeit vorbelastet erscheint. Doch mit der Verankerung der Religion im Gefühl knüpft Pfister ohne Zweifel beim Pietismus seiner Mutter an [4.5], Und dies geschieht im Sinne des Kirchenvaters des 19. Jahrhunderts, Schleiermachers also, der selbst aus dem Pietismus herkam und sich als Herrnhuter höherer Ordnung bezeichnete. Mit den Erörterungen über Gefühl,

42

Vgl. bes. die zusammenfassende Schrift von 1923, Bibl. Nr. 101. Zur Psychoanalyse s. den gleichlautenden Beitrag in Pfisters Sammelband "Zum Kampf um die Psychoanalyse" (1920). 43

An Pfister, 11.5.1924, Br. 98 f.

3.2. Schleiermacher u. Hegel, Schweizer u. Biedermann

99

Intellekt und Handeln befinden wir uns mitten in Schleiermachers Trias von Gefühl, Wissen und Tun, wie er sie in § 3 der Glaubenslehre als elementare psychische Funktionen herausarbeitet.44 Und der Bezug auf Schleiermachers nähere Bestimmung des Wesens der Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (§ 4) findet sich wörtlich in dem persönlich wie sachlich so bedeutsamen Aufsatz Pfisters über die Schockphantasien an der Schwelle zum Tode [4.6]. Im Blick auf seine theologische Verankerung im 19. Jahrhundert ist Pfister zweifellos am ehesten als Schleiermacherianer zu bezeichnen. Er würdigt Schleiermacher immer wieder als grandiosen Inaugurator der Religionspsychologie, der als erster den Fundamentalgedanken faßte, daß die Religion in den Tiefen des menschlichen Seelenlebens zu finden sei.45 Pfisters erste Veröffentlichung, seine philosophische Dissertation über "Die Genesis der Religionsphilosophie A.E. Biedermanns, untersucht nach Seiten ihres psychologischen Ausbaus" erschien 1898 in Zürich. Sie beschäftigt sich mit dem Gegensatz von Schleiermacher und Hegel als dem "verkörperten Gegensatz des Gefühls und des Intellekts".46 Der Züricher Systematiker Biedermann steht eher in der Nachfolge Hegels. Im Vorwort weist Pfister ausdrücklich darauf hin, er habe den Anstoß zu dieser Abhandlung erhalten durch den "tiefen Eindruck, den das ächt christlich-evangelische Wahrheitsstreben und die sittliche Energie Biedermanns auf den Verfasser trotz seiner

44

Pfister verwendet die Trias, hier im Verein mit der zeitgenössischen Poimenik [2.8], immer wieder als Ausgangspunkt seiner Argumentation. Vgl. u.a. Religionspsychologie 368; Behandlung 37 ff.; Religionswissenschaft u. Psychoanalyse (1927), 21 f. (als Einteilungsgesichtspunkt); Aufgabe 8; SD 5; LK 44. Die Trias begegnet uns auch in WuS, wenn Pfister nacheinander die ästhetischen, intellektuellen und ethischen Werte in der psychoanalytischen Arbeit herausstellt. - Vor Schleiermacher spricht schon Kant in der "Kritik der Urteilskraft" von Verstand, Gefühl und Willen als den drei Grundkräften höherer Menschlichkeit. Es handelt sich um ein Allgemeingut in Philosophie, Psychologie und Pädagogik, zumal in der klassisch-idealistischen Traditionslinie von Piatos 'Wahrem, Guten, Schönen' her. 45 46

Z.B. Religionspsychologie 368, 399. Vgl. Biedermann 73.

Biedermann 3. - Das folg. Zitat aus dem Vorwort (ohne Seitenzahl). A.E. Biedermann (1819 - 1885) war in seinen letzten Lebensjahren einer der wichtigsten Lehrer von Lou Andreas-Salomé, der später berühmten Literatin und Psychoanalytikerin, zugleich ein väterlicher Freund und Förderer (Andreas-Salomé 1974, 83, vgl. 238 f.). Auf dem Gruppenfoto vom Weimarer Internationalen Psychoanalytischen Kongreß im September 1911 steht Pfister nahe bei der "Lou" (Jones II, nach S. 112; s. Abb. 2). Ob die beiden jemals über den ihnen gemeinsamen Bezug auf Biedermann gesprochen haben?

100

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

völlig anders gearteten, mehr zu Schleiermacher/ Schweizer hinneigenden Geistesart ausübte". Alexander Schweizer gehört nach Pfister zu denen, die Schleiermachers Religionstheorie im Sinne einer harmonistischen Psychologie erweiterten. Er suchte die Härten von Schleiermachers Religionsbegriff zu mildern, indem er in das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit ein Vorstellungsmoment und damit ein Moment relativer Freiheit hineinnahm.47 Ansätze zu einer solchen Interpretation lassen sich auch schon bei Schleiermacher selbst finden. Von der anderen Seite, von Hegel her kommt Biedermann. Ebenso wie Schweizer sucht er die Härten seines Meisters zu mildern, die Gegensätze zu harmonisieren. Die Darstellung Pfisters im ganzen bietet den Anblick einer Synthese von Schleiermacher und Hegel, wie er sie am genialsten im System Biedermanns findet. Dieser studierte Schleiermacher und Hegel von Anfang an in friedlichem Nebeneinander und meinte, erst, indem man beide großen Denker frei auffasse, sei der volle Religionsbegriff zu gewinnen.48 Auch Pfister meint, daß erst die extrembildende Macht der Geschichte den Unterschied der beiden Denker zum Gegensatz steigerte. So dankbar man für die fruchtbaren Einseitigkeiten sein muß, die damit einhergehen - der Volksmund nannte Schleichermacher und Hegel "Salz und Pfeffer" -, so wichtig ist die endliche Vermählung der Gegensätze, die Biedermanns Religionspsychologie durch eine tiefere Erfassung ihres Gegenstandes erreicht.49 Pfister nennt sie "eine Konzeption des vorwiegend durch Schleiermacher bedingten christlichen Geistes auf dem Boden des Hegelismus". Um das zu erreichen, knüpft Biedermann an die Kultustheorie in Hegels Religionsphilosophie an.50 Hier findet sich die Möglichkeit, die praktische, subjektive Seite der Religion (Glaube, Gefühl) aus der Randstellung zu befreien, die Hegel ihr in den Verlegenheiten seiner "aprioristischen Weltkonstruktion der Begriffsdialektik" zuweist. Nach Pfister ist die gesamte Religionsphilosophie Biedermanns "nichts anderes als die wissenschaftlich vertiefte Bearbeitung und der systematische Ausbau der Hegelschen Kultustheorie". Unter Beihilfe Schleiermachers führt das zu einer

47

Ebd. 68-70.

48

Ebd. 60 f., vgl. 19.

49

Ebd. 14 f., das Folg. 74.

50

Ebd. 35 ff., die folg. Zitate 41, 40, 66.

3.2. Schleiermacher u. Hegel, Schweizer u. Biedermann

101

Auffassung der Religion als einem einheitlichen und tiefgreifenden psychischen Vorgang, einem "Ergriffensein der ganzen Persönlichkeit in ihrem innersten Wesen". Es ist also niemand schon deshalb religiös, weil er das kirchliche Lehrsystem als Metaphysik für wahr hält - so könnte man Hegel scholastsich mißverstehen. Ebensowenig kann sich aber derjenige für religiös halten, der in seinem verworrenen frommen Gefühl der Abhängigkeit völlig absieht vom Denken und vom Wollen, die doch auch in den Personkern hinabreichen - so könnte man Schleiermacher agnostisch mißverstehen. Positiv gewendet, Gott ist nicht nur im Gefühl, sondern auch im Denken und Tun erfahrbar. Nehmen wir hinzu, daß für Pfister das Gefühl eher passiv, das Denken eher aktiv erscheint51, so wird noch einmal deutlich, warum er über Schleiermachers vermeintliche Verabsolutierung des Gefühls als Organ der Religion hinausgehen will. Das Gefühl neigt dazu, in kindlicher Passivität gegenüber Gott zu verharren, so wie Pfister die pietistische Frömmigkeit in seiner Kindheit erlebte. Darin ist die Gestalt seiner Mutter zentral [4.5]. Über das weibliche, passive Gefühl will die Religion aber hinaus, um zu einer aktiven, männlichen Haltung zur Welt zu gelangen. Pfister kritisiert Schleiermacher also nicht nur mit Hegel, bei dem er die Aktivität des Denkens, des Begreifen-Wollens hervorhebt, sondern darüber hinaus mit einem Verständnis von Religion, in dem die Ethik, das aktiv umgestaltende Handeln von vornherein mitgesetzt ist.52 Um die Ganzheit der Person geht es Pfister also schon in seiner religionsphilosophischen Arbeit am Ende des letzten Jahrhunderts, ebenso wie er später in der Auseinandersetzung mit Freuds Triebtheorie ein mosaikartiges Menschenbild befürchtet und dagegen den "organischen Gesichtspunkt" betont.53 Schon Schleiermacher hat ja verschiedene

51

Ebd. 13, auch zum Folg.

52

Bereits in den frühen Schriften Pfisters finden wir immer wieder das Problem des ehtischen Handelns erörtert, vor allem als Problem des Willens, etwa in der Auseinandersetzung mit Nietzsche. In Pfisters größter philosophischer Arbeit, der Untersuchung über die Willensfreiheit von 1904, dürfen wir in gewisser Weise eine Fortsetzung der Arbeit über Biedermann sehen. An deren Schluß (75 f.) kündigt er einen zweiten Teil an, der die erkenntnistheoretischen Grundlagen und metaphysischen Konsequenzen der Theologie Biedermanns behandeln soll. Eine solche Abhandlung ist aber nie erschienen. 53 Z.B. PM 158, in der 1. Aufl. mit Bezug auf C.G. Jung. - Zur Anknüpfung an Schleiermacher vgl. Biedermann 67.

102

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

Seelen vermögen im aristotelischen Sinne abgelehnt. An ihre Stelle treten verschiedene psychische Funktionen, womit erst die Vorstellung einer einheitlichen Person ermöglicht wird [Abschn. 1], War schon für Schleiermacher die Einheit der Persönlichkeit nichts viertes neben den drei psychischen Grundfunktionen, sondern eben das Wesen des Subjekts selbst54, so ist auch für Pfister die ganzheitliche Persönlichkeit Organ und Medium der Religion. Zwischen Gott und die Einzelseele darf primär nichts gestellt werden, weder Kirche noch Dogma noch Ritus. Deshalb ist die Religionspsychologie und nicht die Dogmatik oder die Ekklesiologie die Grundwissenschaft der Glaubenslehre, wie Pfister später immer wieder anführt. Sein Interesse an der Persönlichkeit, an ihrer organisch gegliederten Ganzheit, die auch die Tiefen der Seele mit umschließt, ist eng verknüpft mit dem 'romantischen' Protest gegen alles, was sie an ihrer Entfaltung und Entwicklung hindern könnte. Darin sieht er auch die Gemeinsamkeit von Schleiermacher und Hegel. Sie sind beide Romantiker, der eine des Gefühls, der andere der Reflexion.55 Ihr Protest richtet sich gegen den seichten Rationalismus und gegen den Moralismus (Kant) der Aufklärung ebenso wie gegen die supranaturale Metyphysik der Orthodoxie. Diese Negativ-Folie hat sich auch an der Wende zum 20. Jahrhundert für Pfister nicht grundsätzlich verändert. Jetzt geht es gegen die Ausläufer einer lebensfernen spekulativen Dogmatik wie gegen das "ungeheure Netz von Definitionen und Einteilungen, scharfsinnigen Beschreibungen und Unterscheidungen", in das die aufsteigende Wissenschaft der Psychologie vorerst verstrickt blieb.56 Und es geht, wie damals gegen den Moralismus, gegen die Sexualabwehr des zeitgenössischen Bürgertums; denn natürlich gehört die Geschlechtlichkeit zu den zentralen Determinanten der Persönlichkeit. Durch die Tabuisierung der Sexualität entsteht eine schwüle, latent sexuell aufgeladene Atmosphäre, die die Not, vor allem die der Jugend, nur steigert. Ohne ihn damit auf die gleiche Ebene zu stellen, können wir Pfister im Anschluß an seine eigene Charakterisierung von Schleiermacher und Hegel

54

Schleiermacher: Der christliche Glaube, § 3, Abs. 3.

55

Biedermann 3.

56

SD 4. Vgl. Kap. 11.2.

3.3. Der Wissenschaftler und das Reich Gottes

103

als Romantiker des Willens bezeichnen.57 Freilich nicht des menschlichen Willens zur Macht, zur Leistung oder ähnlichem, sondern des universalen göttlichen Liebeswillens, der die Entwicklung des Kosmos ebenso determiniert wie die Tiefen des menschlichen Seelenlebens. Dem kann auf Seiten des Menschen nur die leidenschaftliche Hingabe an und der begeisterte Einsatz für große Ziele entsprechen. Und das höchste Ziel ist eben die Bestimmung des Menschen und der Welt zur Liebe. Der göttliche Liebeswille ist keine einengende Norm, die drückt, sondern ein befreiendes Ideal, das mitreißt. Damit hat es die Religion zu tun; am ehesten real verkörpert ist das religiöse Ideal in den großen religiösen Persönlichkeiten.

3.

Der Wissenschaftler und das Reich Gottes oder Anthropologische und religiöse Vermittlung der Wissenschaft

Das Einzelleben, auch das der großen Persönlichkeit, bleibt immer eingespannt in das "objektive Gesamtleben", wie Pfister den größeren Lebenszusammenhang des Menschen gern nennt. Darin hat die Wissenschaft einen bedeutenden Platz. Doch gerade so bleibt sie immer etwas Sekundäres, durch den Gesamtzusammenhang Vermitteltes. Ich will versuchen, die Art dieser Vermittlung als anthropologische (a) und als religiöse (b) zu verstehen. ad a) Die anthropologische Vermittlung der Wissenschaft ist sozusagen die nach rückwärts, zu den Bedürfnissen des Menschen. So etwa entspringt das "philosophische Bedürfnis" dem "Unendlichkeitsdrang des menschlichen Geistes", eine erklärende Psychologie befriedigt das "Kausalbedürfnis" des Menschen, der "Erkenntnistrieb" nötigt zur Metaphysik.58 Damit will Pfister nicht 'objektive' Wissenschaft auf 'subjektive', psychische Motive reduzieren, sondern die wissenschaftliche Arbeit vermitteln mit den lebensbestimmenden Faktoren und den lebenspraktischen Bedürfnissen derer, die sie tun.

57

Thomas Bonhoeffer (1973, 440 f.) weist auf die romantisch inspirierte Kritik Pfisters an der Aufklärung hin. Vgl. Kap. 13.3. 58

Die Rolle des Unbewußten im philosophischen Denken (1949), 266/269 f.; S D 14; PM 393, Anm. 3; PsaW 32, vgl. 78.

104

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

So wird der Tatsache Rechnung getragen, daß es Menschen sind, die Wissenschaft betreiben. Ihre häufig unbewußten Motive und Konflikte gehen in die wissenschaftliche Arbeit mit ein. Während bei den Naturwissenschaften die subjektiven Motive eher im Vorfeld, z.B. in dem Entschluß für ein bestimmtes Gebiet, etwa die Mathematik, liegen, schießt bei den traditionellen Geisteswissenschaften, zumal bei Philosophie59 und Theologie, in die wissenschaftlichen Inhalte selbst ein hohes Maß an subjektiven Interessen, an unbewußten, also oft irrationalen Motiven mit ein. Unter diesem Aspekt stehen die wissenschaftlichen Produktionen tendenziell in einer Reihe mit den anderen Produktionen des menschlichen Geistes, den künstlerischen, religiösen, politischen - und den neurotischen Symptomen. Also können auch wissenschaftliche Werke und Wissenschaftler entsprechend analysiert werden. Dies ist der Ansatz der Wissenschaftspsychologie ebenso wie der Kunstpsychologie, der Religionspsychologie und so weiter. Auf dem Wege über die konfliktuöse Lebensgeschichte des Wissenschaftlers, des Künstlers, des Frommen usw. hat das "Leben" einen enormen Einfluß auf diese Bereiche geistiger Produktion. Möglich ist ein solch breiter Ansatz angewandter Psychoanalyse natürlich nur, wenn man von anthropologischen Grundkonflikten ausgeht. Da deren Kenntnis durch die Psychologie bzw. durch die Psychoanalyse bereitgestellt wird, avanciert diese zu einer Art Grundlagenwissenschaft, jedenfalls für den Bereich der Geisteswissenschaften. Deshalb hatte Freud ja "strenggenommen" auch nur zwei Wissenschaften gelten lassen, Naturwissenschaft und Psychologie, reine und angewandte. Dabei ist die angewandte Psychologie für den Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften zuständig. Gegen solchen "Psychologismus"60 ist Pfister immer entschieden angetreten, weil er in seiner Sicht keinen Raum mehr läßt für die wissenschaftliche Untersuchung der kulturellen Produktionen. In der relativen Eigenständigkeit, die sie besitzen, können sie auch relativ eigenständig nach Wert und Gültigkeit untersucht werden. So ist Pfisters Plädoyer für die klassischen alten Wissenschaften Meta-Physik und Ethik zu verstehen [14.2].

59 60

Weitgehend ausgenommen bleiben nur Logik und Erkenntnistheorie, vgl. PsaW 20.

So Pfister über die Auffassung der Philosophie, die der Psychoanalytiker Sändor Ferenczi vertrat, vgl. PsaW 20. - Freuds Äußerung GW XV 194. - Dieser Psychologismus ist längst überholt. Nach David Rapaport, dem großen Theoretiker der Psychoanalyse, macht die psychologische Erkenntnis der Genese von Wissen philosophische Erkenntnistheorie nicht überflüssig, sondern erst recht notwendig (nach Gedo 1976, 322 f.).

3.3. Der Wissenschaftler und das Reich Gottes

105

In seiner Struktur ist es immer das gleiche Argument, das Pfister an dieser Stelle vorbringt. Auf die Beurteilung philosophischer Aussagen bezogen und gegen Ferenczis Diktum gewandt, die Psychologie sei Gesetzgeberin des Philosophierens, lautet es so: Ferenczi verwechselt psychologische Gesetze und Denknormen. "Wenn ich die psychologische Gesetzmäßigkeit einer Aussage nachweise, so ist über die Gültigkeit des ausgesagten Inhaltes nichts ausgemacht. Falsche und richtige Behauptungen sind ohne Zweifel mit psychologischer Notwendigkeit zustande gekommen; in psychologischer Hinsicht sind sie genau gleich notwendig. Damit, daß ich weiß, welche Gestze bei ihrer Bildung mitwirkten, ist für das Urteil über ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit nicht das Geringste gewonnen".61 Das sind starke Worte, deren exklusiver Ton sich wohl aus der Polemik gegen den Psychoanalytiker-Kollegen Ferenczi erklärt. So zugespitzt bedürfte die Argumentation, auch im Hinblick auf andere Äußerungen Pfisters, in doppelter Hinsicht einer Korrektur: in der Einschätzung der Psychoanalyse als Naturwissenschaft (psychologische "Gesetze", vgl. Abschn. 1) und in der Behauptung, die psychologische Wahrheit über die Entstehungsbedingung eines Inhaltes sei völlig zu trennen (oder nur zu unterscheiden?) von der philosophischen Wahrheit im Sinne von Gültigkeit und Wert, die einem Inhalt beigelegt werden [13.3]. Die Frage, was denn der anthropologische Rückbezug auf die Grundbedürfnisse des Menschen, auf seine Triebnatur, für die Wissenschaft selbst bedeutet, begleitet den wissenschaftlichen Theologen Pfister lebenslang. Auch in seinen späteren Jahren hat er die Polarisierung von Archäologie und Teleologie des Subjekts und der Gestalten des Geistes (um mit Ricoeur zu sprechen)62, von kritisch-aufdeckender und konstruktiver Sinnfindung ("Synthese") scharf herausgearbeitet. Naturgemäß stellt sich ihm das Problem in der Glaubenswissenschaft am brennendsten. Das Schlußkapitel seines opus magnum von 1944 "Das Christentum und die Angst" beginnt mit dem Trompetenstoß: "Alle Glaubenswissenschaft ist Rationalistik"63 - um dann

61

PsaW 19. - Zur Definition von Metaphysik und Ethik vgl. PsaW 9.

62

Ricoeur 1969, vgl. bes. 470 ff.

63 CA 476. Ähnlich schon 1927: Religionswissenschaft u. Psychoanalyse, 26. - Die Überschrift des Abschnittes in CA spricht von Rationalisierung; es ist also auch ein Zusammenhang hergestellt zu dem ja gerade unter Theologen so verbreiteten Abwehrmecha-

106

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

die Grundzüge einer christlichen Glaubenswissenschaft zu entwickeln, gleichbedeutend mit einem Neuentwurf der Theologie im Ganzen. Wie ist das möglich? Pfister wiederholt in aller Deutlichkeit seine Argumentation gegen jede reduktionistische Hermeneutik, und zwar nach beiden Seiten: sowohl gegen die Theologen, die die unbewußten, irrationalen Wurzeln aller Glaubensaussagen und damit auch aller theologischen Systeme leugnen, als auch gegen die "Psychologen (besser: Psychologisten), die glauben, mit dem Nachweis einzelner unterschwelliger Glaubensquellen sei die Ungültigkeit des ganzen Gedankenbaues klargestellt". 64 Pfister verweist hier auf seine Auseinandersetzung mit Freud über "Die Zukunft einer Illusion", in der er denen einen "negativen Dogmatismus" bescheinigte, die aus dem Nachweis unbewußter Wurzeln auf den illusorischen Charakter der Religion überhaupt schließen. Seine eigene Lösung deutet er als ein Implikationsmodell an in dem gesperrt gedruckten Satz: Wir billigen zu, "daß das sogenannte Irrationale sehr viel Rationales in sich birgt, wie das sogenannte Rationale sehr viel Irrationales". Damit erweisen sich beide gegnerischen Positionen, die rationalistischen Theologen und die irrationalistischen (Tiefen-)Psychologen, als falsche Polarisierungen. Doch dabei bleibt Pfister stehen. Der Schluß dieses Abschnittes erweckt den Eindruck einer gewissen Unsicherheit und Ambivalenz. 65 Hier fehlt ein inhaltliches Kriterium, nach dem unter-schieden werden kann, ohne in falsche Polarisierungen zu verfallen. Seine Antwort faßt Pfister erst in dem nachfolgenden Schlußkapitel "Die christliche Glaubenswissenschaft als Liebeslehre" pointiert zusammen. Hier schlägt sein Herz, hier zieht er

nismus der intellektuellen Rationalisierung gegenüber tieferliegenden Gefühlen bzw. triebhaften Impulsen. Schon 1905, also in voranalytischer Zeit, bezeichnet Pfister die Glaubenslehre als Rationalistik, die immer gleich begreifen will, statt zunächst einmal zu verstehen (Das Elend unserer Glaubenslehre, 210). Das Be-Greifen-Wollen führt nur zu einem "fingierten, rationalistisch-unpsychologischen Schema". Ich denke, hier ist der Abwehraspekt schon angedeutet. Der Weg des Verstehens dagegen kann nur ein empirischerfahrungswissenschaftlicher sein. Er führt über die Untersuchung der religiösen Persönlichkeit (ebd. 209, 212). 64 65

CA 476, das Folg. 476 f.

Das gilt besonders für den abschließenden Satz: "Wenn wir die Glaubenslehre unverhohlen [!] als Rationalistik erklären, so soll dies ihren Gültigkeitsanspruch und Wahrheitsgehalt somit [?] keineswegs [!] unbedingt [!] in Zweifel ziehen". Das "somit" kann sich nicht auf den vorhergehenden Satz beziehen, der eher gegenteilig argumentiert.

3.3. Der Wissenschaftler und das Reich Gottes

107

programmatisch aus seiner Hermeneutik des Unbewußten die Konsequenzen für die Theologie. Nach Pfisters eigener These wäre dieser Entwurf nun selbst "Rationalisierung". Darauf geht er jedoch nicht mehr ein. Zu stark ist sein persönliches Interesse an der "Liebeslehre", zu sehr ist er von der Notwendigkeit überzeugt, "mit Hilfe einer wissenschaftlichen und angewandten Hygiene, die ein starkes christliches Liebesleben, nicht nur eine Theorie von ihm, als eigentliche Sinnvollendung pflegt, ... die großen Persönlichkeits- und Kulturprobleme, von deren Lösung das Heil der Menschen abhängt", anzugehen.66 Gerade der aktive Zug und das praktische Erkenntnisinteresse der christlichen Glaubenswissenschaft als Liebeswissenschaft erforderten eigentlich den Einbau von Selbstreflexion als methodischem Prinzip, um die "Rationalistik" immer wieder transparent und korrigierbar zu machen. Nun ist für Pfister die Psychoanalyse, vor allem in Form der Neurosenlehre, elementarer Bestandteil der Liebeswissenschaft; die Liebesschicksale von Individuen und Kollektiven sind, als Libido- oder Triebschicksale, schließlich zentraler Gegenstand der Psychoanalyse. Insofern hat Pfister die Psychoanalyse in das Herzstück der Theologie, in die systematische Theologie eingeführt. Sie wird damit zu einer empirisch-kritischen Disziplin. Es bleibt jedoch zweifelhaft, wie weit er damit auch kritische Selbstreflexion als methodisches Prinzip in sie eingeführt hat, gewissermaßen also die Forderung nach einer permanenten Selbstanalyse des theologischen Subjekts als Bestandteil jedes systematischen Entwurfs von Theologie. Dem steht faktisch Pfisters Liebesenthusiasmus entgegen [Abschn. 4], sein emphatisches Verständnis der Liebe, die für ihn zugleich Materialprinzip der Theologie und der Psychoanalyse ist. Sie ist Grund und Ziel des Lebens, auch des Glaubenslebens und seines wissenschaftlichen Pendants, der Glaubenslehre. Abgesehen von gewissen Fehlformen und Störungen, bedarf sie selbst keiner rationalen bzw. tiefenpsychologischen Aufklärung. Wenn ich in dieser Arbeit des öfteren Pfisters Persönlichkeit und Lebensweg zum Verständnis seines Denkens heranziehe, so tue ich etwas allgemeiner Hermeneutik Geläufiges. Wenn ich dabei auch psychoanalytisch inspirierte Interpretationen verwende, so ist das nichts weiter als der Versuch, Pfister mit Hilfe der von ihm mehrfach geforderten und ansatz-

66

Ebd. 609 f.

108

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

weise auch auf sich selbst bezogenen Wissenschaftspsychologie besser zu verstehen, als er sich selbst verstand (Schleiermacher).67 In diesem Sinn ist Wissenschaftspsychologie eigentlich WissenschaftlerPsychologie, weil sie den Einfluß der unbewußten Determinanten des Wissenschaftler-Subjekts kritisch-analytisch erhellt. Wenn Oskar Pfister so mit einem Wissenschaftler verfährt und ich dann wieder mit ihm usw., so befinden wir uns mitten im bekannten hermeneutischen Zirkel, erweitert um den Einbezug unbewußter bzw. vorbewußter Determinanten. Würde nun der eine Vorgang den anderen immer wieder aufheben, seinen Erkenntniswert auf Null reduzieren, weil ja jedes Subjekt selbst aus unbewußten, subjektiv verzerrten Motiven heraus das andere analysiert, so wäre der Kreis tatsächlich geschlossen. Demgegenüber besteht Pfister darauf, daß Wahrnehmung und Denken der Subjekte sich der 'objektiven' Wirklichkeit in progressiver Bewegung ein Stück annähern können. Im Blick darauf können wir vielleicht von einer Art idealistischer Variante der analogia entis sprechen, der auch die reduktionistische Tendenz der psychoanalytischen Hermeneutik zuletzt nur dienen kann. Durch die Psychoanalyse, sagt Pfister, werden unsere Erkenntnismöglichkeiten erweitert und gefördert; denn nach der Analyse ist umso besser zu sehen, was an gültiger Erkenntnis übrig bleibt, sei es auch noch so wenig. Nichts anderes ist gemeint, wenn die Psychoanalyse heute als kritische Theorie des Subjekts gewürdigt wird. Als solche, als allgemeine Theorie des je einzeln verzerrten Wahrnehmens und Erlebens ist sie geeignet, den genannten Zirkel ein Stück weit aufzubrechen. Betrachten wir noch einmal die hermeneutische Reihe: Pfister analysiert einen Wissenschaftler, ich analysiere Pfister ..., so scheint es angemessener, statt von einem geschlossenen von einem nach vorn hin spiralig offenen hermeneutischen Zirkel zu sprechen. So gesehen wird die scheinbar rein objektive, einschließlich des Menschen in einem geschlossenen Determinationszusammenhang stehende Wirklichkeit gleichsam nach vorn hin geöffnet. Dann erscheint sie nicht mehr bloß als unerbittliche, den Menschen nur begrenzende Realität, sondern als offener, weiter Horizont - für Pfister zugleich eine religiöse Qualifikation. So ist Wissenschaft in Pfisters Denken nicht nur nach 'rückwärts', sondern auch nach 'vorwärts' vermittelt.

67

Schleiermacher: Hermeneutik, ed. Kimmerle, 56. Vgl. SD 15.

3.3. Der Wissenschaftler und das Reich Gottes

109

ad b) Neben der bisher erörterten anthropologischen Vermittlung mit ihrer nach rückwärts gewandten Frage nach dem Woher und Warum steht die religiöse Vermittlung mit ihrer nach vorwärts gewandten Frage nach dem Ziel der Wissenschaft, nach dem Gesamtzusammenhang, in dem sie steht. Viel Neues kommt nicht hinzu, weil ja schon die anthropologische Rückfrage, wie wir gesehen haben, einen religiösen Bezug aufweist. Kann die anthropologische Vermittlung von Wissenschaft am ehesten bei den Geisteswissenschaften gezeigt werden, weil Subjektivität und Individualität des Forschers hier gleichsam zur Sache selbst gehören, so gilt die religiöse Vermittlung uneingeschränkt für alles wissenschaftliche Tun. Dessen generelle Funktion ist es, dem Leben und das heißt dem Gottesreiche zu dienen. Die Wissenschaft macht sozusagen den Spiegel immer blanker und schärfer, durch den wir jetzt noch sehen, "dann aber von Angesicht zu Angesicht" (1. Kor. 13,12). Doch das ist ein Grenzgedanke, nicht umsonst in bildhafter Form. So wenig man das Eschaton denken kann, so wenig ist absolute Bewußtheit ein sinnvolles Ziel individueller und kollektiver Heilsgeschichte. Doch (relativ) mehr Bewußtsein, mehr Erkenntnis ist ein sinnvolles Ziel.68 Der Weg wird somit selbst zum Ziel; ihn zu gehen, läßt Spuren des Reiches Gottes in uns und unter uns aufleuchten. Freilich, das Gottesreich ist viel umfassender bestimmt als nur durch Erkennen und Wissen. In einem tiefreligiösen Sinne finden wir es im "Leben selbst". Ihm, diesem "unaufhörlichen Strom", der das "objektive Gesamtleben" konstituiert, muß alle Wissenschaft dienen. Wie Jesus fühlt der Christ, "daß alles Leben nicht nur vom Gott der Liebe her strömt, sondern auch wieder zu ihm zurückflutet". 69 Vom Menschen her gesehen gilt, "daß unsere Sehnsucht überall bis ins Unendliche vorstoßen will". Wenn auch die Lebenspraxis, der schwierige Kleinkram des Alltags konservativ macht, die Praxis des Wunsches ist nicht konservativ, sondern tendenziell ohne Maß und Grenze. In einer erbaulichen

68

Vgl. PsaW 85 f. "Absolute Analysen gibt es nicht" (Mission u. Psa., 1921, 237), ebensowenig wie reine Erfahrung [Abschn. 1], Im Interesse der Fülle und Buntheit des Lebens wendet Pfister sich gegen das Ideal eines verdrängungsfreien Menschen. Vgl. Kap. 13.1 u. 3. 69 Leben u. leben helfen (1932), 6. Vorherige Zitate Aufgabe 34 (vgl. 26: Gleichsetzung von "Gesamtleben im Sinne Euckens" und "Gottesreich im Sinne des Evangelismus"); PsaW 65, 67.

110

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

Betrachtung über Psalm 42,3 deutet Pfister diese tiefe menschliche Sehnsucht als "Gottesdurst", den nur das Wasser des Lebens stillt.70 Nur in Gott selbst, der unser Herz immer schon kennt (Ps. 139,2) ist der "Zirkel" unseres menschlichen Lebens und Verstehens gleichsam geschlossen. Untersucht man den Begriff des Lebens von den organischen Anfängen bis zu den höchsten ethischen und religiösen Idealen, so gelangt man zu dem Postulat eines Lebensgesetzes der Liebe. Und dieses Gesetz kann nur religiös garantiert werden, nämlich durch die Gottesvorstellung selbst.71 Es ist nicht bloß ein frommes Gefühl, das Pfister das Leben religiös qualifizieren läßt als Gottesreich der Liebe; er versucht die Evidenz und die Notwendigkeit eines solchen Lebensbegriffes auch argumentativ einzuholen. Doch zuletzt setzt er gegen Freuds "Scientismus" den "Glauben an die menschheitsbeglückende Wissenschaft", seinen "Idealismus", den Glauben an ein glücklicheres, göttliches Leben des Menschen, wie es nur die Religion vermitteln kann. "Der Mensch, wie er ist, verwirklicht nicht sein wahres Wesen", schreibt er 1944.72 Pfister setzt seine religiöse Identität gegen Freuds wissenschaftliche Identität. So als Bausteine der Identität verwandt, werden Wissenschaft und Religion zu affektiven Komplexen. Sie können besetzt und überbesetzt werden und brauchen das Realitätsprinzip als Korrektiv. C.Fr. v. Weizsäcker schreibt: "Die Wissenschaft braucht Glauben so gut wie die Religion, und beide Weisen des Glaubens unterwerfen sich, wenn sie sich selbst verstehen, der ihnen jeweils eigentümlichen Probe; der religiöse Glaube im menschlichen Leben, der wissenschaftliche im Weiterforschen."73 So versteht Pfister sich, anders als Freud, nicht in erster Linie als psychoanalytischer Forscher, sondern als psychoanalytischer Seelsorger und Erzieher. Gerade weil ihm Wissenschaft nicht Beruf ist, sondern "Gottesdienst genau wie Predigt und Unterricht"74, erscheint ihm dann eine saubere Unterscheidung und Zuordnung von wissenschaftlicher Theologie und gelebter Frömmigkeit umso wichtiger. Der Systematiker Wilhelm Herrmann begreift die Religion als "Wahrhaftigkeit des individuellen Lebens", die ihren Ursprung im

70

Gottesdurst (1933), 379, vgl. 378.

71

PsaW 76, 82-84. Vgl. Illusion 113 f. sowie Zinzendorf 115: Gott "als Garant des Lebens in freier, universeller Liebe". Zum Lebensbegriff s. Kap. 11.1. 72

CA 485, vgl. Illusion 124 ff.

73

C.F.v.Weizsäcker 1964, 115.

74

So Pfister auf Seite 3 seiner "Biographischen Notizen", einer vierseitigen handschriftlichen und undatierten Zusammenstellung. Vgl. SD 14. - Zur Bedeutung von Wissenschaft und Therapie bei Freud und Pfister s. Kap. 7.1.

3.4. Exkurs: "Leben" und "Liebe"

111

Glauben Jesu hat.75 Diese innere Erfahrung des einzelnen Frommen könne aus nichts allgemein Gültigem abgeleitet werden, deshalb sei es auch gänzlich verfehlt, ein irgendwie logisches System ihrer Glaubenslehre zu entwerfen. Gegen die These Herrmanns, daß "eine wahrhaft religiöse Theologie auf ein System ihrer Gedanken verzichten muß", erhebt Pfister leidenschaftlichen Einspruch: Die Religion ist auch etwas allgemein Gültiges, nicht bloß eine der allgemeinen Wissenschaft, also auch der Theologie unzugängliche innere Erfahrung. Religiöse Theologie ist ein hölzernes Eisen. "Eine Wissenschaft hat nur wahr zu sein, nicht fromm. Man kann Gott auch durch strenge Wissenschaftlichkeit dienen." Der Protestant weiß, daß man auch mit diesem "weltlichen Werk" Gottes Willen erfüllen kann. Es gehört freilich nicht, wie in Luthers Zwei-Reiche-Lehre, in das Reich zur Linken, sondern in die eine Lebenswelt des Menschen, die für den Christen zugleich das werdende Gottesreich ist.

Das unbedingte wissenschaftliche Wahrheitsstreben ist gerade vom christlichen Glauben her geboten, denn eine neue wissenschaftliche Erkenntnis kann ebenso zum Element der Ausbreitung des Gottesreiches werden, wie etwa ein Kunstwerk oder eine Tat der Liebe. Die Wissenschaft als Faktor des werdenden Gottesreiches bedeutet zwar keine prästabilierte Harmonie zwischen Erkennen und Leben, zwischen Denken und Sein, doch "als ethische Persönlichkeit darf jeder Gelehrte sich der Hoffnung hingeben, durch die Förderung der Erkenntnis das Gute auf Erden zu fördern. Als Christ wird er gewiß sein, daß Gott ehrliches Wahrheitsstreben von uns fordert und seinen Segen darauf gibt".76

4.

"Leben" und "Liebe". Unwissenschaftlicher Exkurs zur Hermeneutik Pfisters

Mit den Begriffssymbolen Leben und Liebe befinden wir uns im Zentrum Pfisterschen Denkens und Fühlens. Von hier aus lassen sich die Linien nach allen Seiten ausziehen. Das ist der Vorteil, aber zugleich auch die Schwierigkeit des 'Hermeneuten', der versucht, die Gedankengänge Pfisters einfühlend nachzuvollziehen. Denn diese Symbole sind, wie bei guten Symbolen üblich,

75 76

Aufgabe 28, auch die folg. Zitate. Vgl. die parallele Kritik an Paul Wernle, Kap. 4.1.

Sundar Singh 14 f. (1926). Zur christologischen Zuspitzung von Pfisters Wahrheitsbzw. Wissenschaftsverständnis und zum Zusammenhang von Wahrheit und Liebe in der analytischen Seelsorge s. Kap. 14, bes. Abschn. 4 u. 5.

112

Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

nicht nur mehrfach, sondern mannigfaltig determiniert. Sie gehören ebenso der wissenschaftlichen wie der alltäglichen Sprache an, dazu auch der Sprache des Glaubens. Diese Tatsache bedeutet für die Popularisierung der Wissenschaft natürlich eine große Chance; doch liegt in der Tendenz zur (vorschnellen) Harmonisierung aller möglichen Ebenen der Argumentation, der physiologischen, sexuellen, biologischen, soziologischen, philosophischen, religiösen usw., auch die Gefahr, daß die Begriffe ganz unscharf werden, daß die Symbole alles und damit nichts mehr bedeuten. Dann bliebe ihnen die Funktion, uns gleichsam einzudecken mit dem in ihnen dynamisch wirksamen "Drang". In einer vereinzelten Anmerkung im Buch "Die psychoanalytische Methode" bemängelt Pfister verwundert, in der psychoanalytischen Literatur zur Analerotik würden "ausschließlich die konstipierten, sich nach außen stark abschließenden Typen berücksichtigt, die entgegengesetzten, zur Diarrhoe und überschwenglicher Liebesabgabe geneigten jedoch nicht". 77 Diese verirrte Bemerkung zur psychoanalytischen Charakterologie ist zweifellos auf die eigene Person gemünzt. Die damit angesprochenen Persönlichkeitszüge Pfisters und ihre Verknüpfung mit Theorie und Praxis der analytischen Seelsorge werden uns in dieser Arbeit immer wieder beschäftigen. Als überströmende "Liebesabgabe" erscheint auch seine von Freud ambivalent bewunderte "Polypragmasia" in Wort, Tat und Schrift in einem eigenen Lichte. 78 Überall fließt und strömt es, wenn wir uns dem Manne Pfister und seinem Werk zuwenden. Wie im vorigen Abschnitt zitiert: "Das Leben ist ein unaufhörlicher Strom". 79 Und als dringliche Fragen bleiben nur noch: Wie kanalisieren oder gar systematisieren? Wo sich festmachen? Denn was wie in einem Sog mit wegströmt, sind die Erfahrung antagonistischer Widersprüche, die Ansätze zu Distinktionen und Trennungen, zu Alternativbildungen und Polarisierungen.

77

PM 181, Anm. 2; vgl. Kapitalismus (1923), 57, Anm. 2.

78

Vgl. Freud, an Pfister, 9.5.1920, Br. 79.

79

PsaW 65. Vgl. dazu Bittner 1974,96. - In seinem faszinierenden Buch "Männerphantasien", das zweibändig auf weit über 1000 Seiten dahinströmt, widmet Klaus Theweleit den Fluten und Strömen mehrere hundert Seiten (vgl. bes. Bd. 1, 1977, 314 ff.: Was da fließt...): Fließende Ströme sind viel weniger repressiv und viel lebendiger als Trockenheit und feste Dämme. Zum Zusammenhang mit dem Sublimierungskonzept vgl. Kap. 7.8.

3.4. Exkurs: "Leben" und "Liebe"

113

Freud mahnt, Pfister wolle eine Synthese ohne vorherige Analyse.80 Günther Bittner hat schon recht, wenn er meint, Pfisters Synthese sei vorwiegend eine Sache des Gefühls. Er besitzt eine zweifelhafte Meisterschaft der pexößacrvq el!ö.se/i Besetzungen verdankt. Danach würde die Größe und Unerreichbarkeit eines Ideals aus der ursprünglichen primärnarzißtischen Größenphantasie stammen, während die Dynamik des Überichs (Stichworte Rivalität, Kastrationsdrohung, Schuldgefühl, Identifizierung) zu einer Dominanz der primärnarzißtischaggressiv besetzten Repräsentanzen führte. Von daher fällt ein Licht auf Herkunft und Funktion der Religion, denn sie vertritt ja üblicherweise beides: die hochfliegenden Bestrebungen des Menschen und die kontrollierenden, einschränkenden Normierungen. Freud meint, es sei "leicht zu zeigen, daß das

123

Argelander 1971, 371. Zum Folg. vgl. WuS 74 ff., 78.

124

Vgl. Kohut 1973, 141. Zum Folg. Argelander 1971, 369, 371.

268

Der Fall Dietrich

Ideal allen Ansprüchen genügt, die an das höhere Wesen im Menschen gestellt werden". Und bezüglich des Überichs, das alles weiß, beobachtet und kontrolliert, verweist er auf den "bekannten Ausspruch Kants, der das Gewissen in uns mit dem gestirnten Himmel zusammenbringt .,."125 So hat also das Überich/Ichideal-System "seine grandiosen Wurzeln in der infantilen Zeitperiode, in der die primärnarzißtisch verzeichneten Objekte noch nicht durch die Realität korrigiert wurden bzw. die sekundärnarzißtische Entwicklung noch nicht eigenständige Werte (z.B. die Religion) schaffen konnte ... Dieser infantile Hintergrund kann die sekundärnarzißtisch geschaffenen kulturellen Strukturen durchbrechen". Davon können wir bei Frau A. so nicht sprechen; sie bleibt überwiegend innerhalb dieser Strukturen. Allerdings, deren infantiler Hintergrund und grandiose Wurzeln bleiben uns doch sehr augenfällig, sowohl in den Naturszenerien und Sphärenträumen als auch in der Art der Christus- und Gottesbeziehung, zu der sie findet. Doch es kommt eben nicht zu regelrechten primämarzißtischen Durchbrüchen; letztere Möglichkeit sieht Argelander nur gegeben bei einem unzureichenden Abbau der primämarzißtischen Phantasien. (Genauer müßten wir wohl von unzureichender Transformation und Integration sprechen). Er nennt als klassisches Beispiel die Depression. Wir können aber auch, gewissermaßen als Positiv dessen, an das oben geschilderte Erlebnis des jungen Churchill denken. Von der Unterscheidung zwischen libidinöser und aggressiver Dominanz her fällt ein weiteres Licht auch auf Pfister und seinen therapeutischen Umgang mit Dietrich und Frau A. Beide Klienten werden von ihm des öfteren regelrecht zur Idealisierung ermuntert. Zumal Frau A.s Streben nach oben, nach dem "Höheren" [9.6] bekräftigt er, wenn auch in modifizierter, symbolkritischer Weise, immer wieder. Dagegen bezeichnet er die eher aggressiven Szenen in ihren Träumen zu Beginn der Beratung [9.2] kurzerhand als "verworren und häßlich", sie zeigen noch ungelöste Konflikte an. Wagt sich einmal eine solche "Regression" (so Pfister selbst!) zwischen "imposanten Sublimierungsleistungen" hervor, bringt ihn das zu dem Ausruf: "Welch ein ethischer und ästhetischer Rückfall!" 126 Nun handelt es sich ja, wie wir wissen, weder bei Frau A. noch bei Dietrich um tiefe narzißtisch-regressive Durchbrüche, schon gar nicht nach der aggressiven Seite hin. Doch bereits in milder Ausprägung möchte Pfister diese Seite am liebsten schnell überspielen. Hier muß etwas ziemlich massiv abgewehrt werden, eine Gefahr, die, wenn sie sich noch stärker und drängender meldete, wohl zum blinden Heck für ihn würde, m.a.W. der Verdrängung verfiele und unbewußt bliebe. Dies gilt bezeichnenderweise nicht für die andere Gefahr, die narzißtische Regression nach der libidinösen Seite hin. Dieser Gefahr ist Pfister sich sehr bewußt, zumal bei sich selbst [10.3], Die Versuchung, in einer Welt absoluter Liebe zu versinken, wie er es nennt, bearbeitet er auf seine Weise, wobei sich die Gegenüberstellung des ästhetisch-'regressiven' Pharao Echnaton und des ethisch-'progressiven' Jesus von Nazareth wie ein roter Faden durch sein Lebenswerk zieht. In diesem Zusammenhang darf nicht verschwiegen werden, daß Pfister in Richtung Frau A. immerhin die Frage stellt, "ob das Programm, alle Lebenserfahrungen, sogar die schweren Erlebnisse der Kinderzeit, von dieser idealen Höhe aus zu verstehen, durchgeführt werden kann". Er scheint die Frage in diesem Stadium der Beratung skeptisch zu verneinen,

125

GW XIII 265, XV 67.

12e

WuS 44, 55.

7.9. Exkurs: Narzißmus und Regression

269

jedenfalls "wenn die Wünsche des Analytikers maßgebend wären".127 Wir müssen aber festhalten, daß eine Arbeit in Richtung von wohlverstanden gesunden und reifen, symbolisch vermittelten Idealisierungen mindestens ebenso deutlich sein Programm ist wie das der Frau A. und Die Arbeit mit ihr imponiert uns in besonderer Weise als IchidtA-Therapie demgemäß \Sbexkh-Pathologie. So wird die zum Überich gehörige aggressive Dynamik weniger integriert als irgendwie aufgelöst oder doch wenigstens harmonisierend umgepolt. Auf diese Tendenz bei Pfister stoßen wir in dieser Arbeit immer wieder; sie bezeichnet Möglichkeiten und Grenzen seiner Persönlichkeit und seiner Seelsorge. Auf andere Weise könnten wir diese Tendenz auch beschreiben als den Weg vom Schreckensbild des strafenden, sadistischen Gottes zum - es sei jetzt mit allem Vorbehalt [13.2] einmal so gesagt - Wunschbild des liebenden Vatergottes, der nur das Beste der Menschen wollen kann. Gilt hier nicht doch Otto Haendlers Kritik, auch wenn er sie nur mit Pfisters Herkunft aus der liberalen Theologie verknüpft: Seine Liebestheologie läßt "das Verständnis vermissen für die Tatsache, daß die 'Dogmen' von Sünde, Zorn Gottes, Kreuz Christi usw. ... hintergründiger Ausdruck einer irrationalen Wahrheit und Kraft der Erlösung sind und eben als solche in ihrer herben und hellen Tiefe nicht erweicht werden dürfen"? 128

127

Ebd. 51.

128

Haendler 1952, 20.

Kapitel 8 Die Methodik im Falle Dietrich 1.

Symptomorientierte, positive Deutungen

Pfisters Interventionen gehen von den hziAsnssymptomen Dietrichs aus und bleiben an ihnen orientiert. Der Klient bietet eine 'Krankheit' an, gewissermaßen sein bewußtes Angebot im Unterschied zum unbewußten in der aktuellen Szene. Der Seelsorger nimmt das Angebot an und ernst.1 Die im Laufe der Beratung auftauchenden biographischen Szenen wie auch die aktuellen Lebensumstände Dietrichs werden nur insoweit aufgenommen, als sie, auch für Dietrich einsichtig, zur Erklärung der Symptomatik dienen. Wenn die Symptome verschwunden oder gelindert sind, ist für Pfister die 'eigentlich' analytische Arbeit beendet. Damit knüpft er direkt an die kathartische Methode an, die Freud ausdrücklich als symptomatisches psychotherapeutisches Verfahren bezeichnet. Was noch folgt, gilt der Stabilisierung des Erreichten im Zusammenhang mit neuen ethischen Verhaltensmöglichkeiten.2 In der Superversion bei C.G. Jung nach dem Erstgespräch mit Dietrich erhält Pfister den Rat, nach den Familienverhältnissen des Klienten zu fragen. Auch Freud meint am Beginn der Krankengeschichte Doras, vor allem anderen interessiere er sich für die Familienverhältnisse der Kranken. Diese wie andere Behandlungen beginne er mit der Aufforderung, ihm die ganze Lebens- und Krankheitsgeschichte zu erzählen. Er setzt also noch etwas breiter und grundsätzlicher an als Pfister, der die Erinnerungen Dietrichs an Vater und Mutter, diese "ganze Kette von Traumata", noch in der gleichen Sitzung in einen inneren Zusammenhang mit seinem Leidenssymptom bringt.3 Es wäre in der Tat nicht nur zu früh, sondern auch zu pauschalisierend, wenn Pfister sich wie Freud zum praktischen Ziel der Behandlung gesetzt 1

Vgl. Balint 1965, 38 [5.3],

2

Zur Relativierung dieser Zweiteilung bei Pfister s. Abschn. 7 und Kap. 14.1. - Freud: GW I 260 (Studien über Hysterie, 1895). 1924 meint Freud (XIII 409), die kathartische Methode, der unmittelbare Vorläufer der Psychoanalyse, sei "immer noch als Kern in ihr enthalten". 3 Dietrich 139, 141. Freud: GW V 176, 173. - Leider erfahren wir nicht mehr über den tatsächlichen Verlauf der ersten Sitzung(en) mit Dora. "Zur Einleitung der Behandlung" als technischem Problem hat er sich zusammenfassend erst 1913 geäußert (GW VIII 454 ff.).

8.1. Symptomorientierte, positive Deutungen

271

hätte, "alle möglichen Symptome aufzuheben und durch bewußte Gedanken zu ersetzen".4 Davon kann keine Rede sein, selbst wenn Pfisters Darstellung hier und da diesen Eindruck zu erwecken scheint. Manchmal spricht er von den verschiedenen "Komplexen", "Traumata" und "Zwangsvorstellungen" Dietrichs so, als könnten sie alle hübsch nacheinander abreagiert werden. Faktisch jedoch konzentriert sich die Beratung auf die Bearbeitung des Symptoms, das den Klienten in so starken Leidensdruck versetzt, daß er zur Beratung kommt. Das Symptom, bei Dietrich der Zwangskatholizismus, wird auf einen zentralen Konflikt bezogen, es wird "fokussiert" (s.u.). Vieles andere kann dafür vernachlässigt werden. Zu seiner Deutung des ersten Traumes fügt Pfister unmißverständlich hinzu: "Den unendlich vielen Wurzelfasern und Verschlingungen der Traummotive nachzugehen, ist für unseren Zweck überflüssig". Und als Dietrich am Schluß der siebten und letzten Sitzung die gestische Symptomhandlung noch einmal wiederholt, die eigentlich schon früher erklärt und damit "abreagiert" war, wiederholt Pfister diese Erklärung einfach und fährt ungerührt fort, "im übrigen" wisse Dietrich sich von der Symptomhandlung völlig frei.5 Viel wäre ja noch zu ergründen, meint er abschließend, doch legt er uns zugleich die Vermutung nahe, dies diente eher der theoretischen "Neugierde" des Psychoanalytikers als dem praktischen Heilungsziel des seelsorgerlichen Beraters. Seine "Erklärungen" bzw. Deutungen formuliert Pfister durchweg positiv. In heutiger Fachterminologie gesprochen, sie sind eher impuls- als abwehrzentriert, eher beziehungs- als trieborientiert. Sie gehen von den "natürlichen" Wünschen und Bedürfnissen Dietrichs aus und schildern ihr "schmerzliches" Schicksal, das ebenso "natürlich und notwendig" zu Dietrichs Leiden führt.6

4

Freud: GW V 175. Dem entspricht hier das theoretische Ziel, "alle Gedächtnisschäden des Kranken zu heilen", also Erinnerungstäuschungen zu korrigieren und Erinnerungslücken auszufüllen, so daß er sich endlich sein eigenes Leben (wieder) aneignen kann. s

Dietrich 143, 180, 184. - Im klaren Eingrenzen der Not des Klienten und im strengen Fokussieren sieht auch Stollberg (1978, 60) ein zentrales Merkmal der analytischen Seelsorge, die Pfister "erfunden" habe. 6

Ebd. 144, 146. - Beck (1974, 33 ff.) benutzt diese Begrifflichkeit zwar genau umgekehrt, es geht ihm aber wie Pfister um eine größere Nähe zum faktischen oder möglichen Realitätserleben des Klienten (vgl. ebd. 35): Gerade in einer impulszentrierten Reizdeutung ist die Triebgefahr enthalten, während eine abwehrzentrierte Deutung auf die Triebabwehr-Formation des Klienten Rücksicht nimmt, z.B. auf seine hohen Ich-IdealAnforderungen. Bei Dietrich ist dem insofern Rechnung getragen, als Pfister als Impuls

272

Die Methodik im Falle Dietrich

In dem breiten Votum am Schluß der zweiten Sitzung formuliert Pfister als Fokus der Beratung die "verunglückte" Liebe zu den Eltern.1 Abwehrzentriert bzw. negativ formuliert würde der Fokus, bezogen auf die Liebe zur Mutter, ganz anders aussehen, etwa so: "Sie müssen Ihre sexuellen Wünsche abwehren und die Freundin zur Madonna machen, weil sie eigentlich die Mutter begehren." Von dieser Art sind viele Formulierungen Freuds in der Arbeit mit Dora, vor allem bei der Traumdeutung [7.7], Die Arbeit Pfisters mit den beiden Träumen Dietrichs ist ausgesprochen selektiv. Die Methode Pfisters, Reizworte vorzugeben, macht es möglich, Dietrichs Einfällen eine gewisse Richtung zu geben, ohne daß seine Selbsttätigkeit ausgeschlossen wird. Der 1. Traum-. Dietrich steht auf einem Zürichsee-Dampfschiff, das aber nicht auf diesem See fährt. Ein junges Fräulein mit schwarzen Augen steigt ein. Bei einer Station geht das Fräulein nicht an Land, sondern springt an Dietrich vorbei durch das geöffnete Tor in den See. Sie hält sich allein, ohne des Träumers Hilfe über Wasser, steigt wieder in das Schiff und ist sofort ganz trocken. Als Dietrich sie näher betrachtet, kommt sie ihm "immer älter vor, dann wieder jung, dann wieder häßlich, bald wieder schön und so noch einige Male hin und her". In Dietrichs nachfolgenden Einfällen oszilliert das Mädchen mit der Gestalt der Madonna. Auch früher schon gerieten ihm Porträtzeichnungen der fernen Freundin unter der Hand immer wieder zu einer Madonna. 8 Die "Ähnlichkeit" der beiden im Traum findet Dietrich selbst, so wie er auch das selbst formuliert, was Pfister als die eigentliche Deutung des Traumes festhält: daß er sich die Beziehung zur Freundin aufgelöst wünscht, weil ein näheres Verhältnis ja "unmöglich" wäre. Am Schluß der Sitzung ergänzt Pfister: Weil man ja eine Madonna/Mutter nicht heiraten kann. Und später, 1944, deutlicher in Richtung neurotische Wunscherfüllung: Weil ja die Freundin nicht so vollkommen ist wie die Madonna. 9 Im Prinzip verharrt

nicht einen 'gefährlichen' und darum abzuwehrenden Triebwunsch formuliert, sondern einen Beziehungswunsch, eben die zwar konfliktuöse, aber vergleichsweise 'harmlose' Liebe zu den Eltern. 7

Ebd. 144, 180 f., vgl. 182. - Natürlich kommt der Begriff Fokus bei Pfister nicht vor. Erst 1958 führte T.M. French ihn in die Theorie der analytischen Technik ein (nach Thomä 1980, 595). 8 9

Vgl. die ebd. 143 abgebildete Zeichnung, Traumtext 142.

Ebd. 146, CA 278. Aber auch 1944 spricht er vorsichtig von einem Orientierungstraum, der nicht nur Wunscherfüllung enthalte.

8.1. Symptomorientierte, positive Deutungen

273

Pfister also auf seiner eigenen Deutungsebene. Auch 35 Jahre später und in einem rein literarischen Zusammenhang geht er nicht auf Freuds sexualsymbolische Deutungsvorschläge ein. [7.6], Ähnlich beim zweiten Traum. Die Deutung bewegt sich ganz im Bereich der aktuellen Lebenssituation Dietrichs und der aktuellen Szene in der Beratungssituation. Der 2. Traum: Ein junger Ritter (Dietrich) liebt ein Fräulein (die Freundin), das aber von seinem Vater, dem Schloßherrn, in ein Kloster gesteckt wird. Er besucht das Mädchen jeden Abend. Sein elterliches Schloß ist verzaubert, nämlich so, daß die Eltern alle Worte des Jünglings anders verstehen, als er sie meint. So hören sie auch einmal seinen Wunsch, zum Klosterfräulein zu gehen, als Vorhaben, die Burg zu verraten. Dafür wirft ihn der Vater ins Burgverlies. Das darob unwissende und nunmehr einsame Klosterfräulein tötet aus Gram sich selbst und so auch etwas später auf ihrem Grab der wieder freigekommene junge Ritter. Anders als die vorhergehende Handlung kann Dietrich die beiden Selbstmorde in seinen Einfällen überhaupt nicht verstehen. An dieser Stelle ist das suggestiv Mitreißende in Pfisters Interventionen besonders stark zu spüren. Mit Macht soll der positive Umschwung bei Dietrich unterstützt werden. Pfister deutet den Suizid des Mädchens als die Auflösung einer Truggestalt, "das illusorische Gebilde hört von selbst zu bestehen auf". Parallel dazu bedeutet der Selbstmord des jungen Ritters, daß der Romantiker in Dietrich, der ein Phantasiegebilde anschwärmt, ein Ende findet: "Die krankhafte Illusion hört auf, der von dunkeln Mächten in seinem Unterbewußtsein irregeleitete Träumer ist nicht mehr vorhanden; an seine Stelle tritt ein Mann, der im realen Leben Vorzügliches leistet und mit Begeisterung aufgenommen wird".10 Mit dem letzten Satz bezieht Pfister sich auf die hellere Rahmenhandlung des düsteren Traumes. Dort vertritt Dietrich einen Pfarrer in der Kinderlehre und erzählt den Kleinen mangels anderer Einfälle ein selbsterfundenes Märchen, eben die ritterliche Liebestragödie. Sie wird von den Kindern "begeistert" aufgenommen. Dietrich erzählt den ganzen Traum auf die Frage Pfisters hin, wie er jetzt zur protestantischen Konfession stehe.11 Deutlich ist also die Identifizierung Dietrichs mit dem Pfarrer Pfister als einer guten Gestalt, zugleich die

10

Ebd. 176, Traumtext 175.

11

Ebd. 149. zum Folg. vgl. 140, 176 f.

Die Methodik im Falle Dietrich

274

überbietende Entmächtigung der bösen (Vater-)Gestalten seiner Kindheit, vor allem des uns bereits bekannten Religionslehrers. Und diese Identifizierung Dietrichs hängt ja nicht in der Luft; denn Pfister führt diese Beratung in der Tat mit Begeisterung, "in froher Spannung", durch, wie er selbst schreibt. Er ist es auch, der Dietrich immer wieder eine begeisternde Perspektive für sein weiteres Leben vor Augen hält, wenn er nur seine "Komplexe" fahren lasse. So steckt auch etwas Suggestives in Pfisters Interventionen, das Dietrich jedoch weniger als drängend, eher als einladend erleben muß. Konzentriert sich Pfister also in dieser zweiten Traumdeutung ganz auf den Umschwung von der Phantasie zur Realität, so ist dies nicht die nackte Realität von Dietrichs Triebwünschen, sondern eine Realität symbolisch vermittelter Beziehungen [Abschn. 7]. Dietrich findet sich nicht mit seinen elementaren Triebimpulsen selbst konfrontiert, den sexuellen und den aggressiven, sondern mit seiner Sehnsucht nach Liebe in aller Mehrdimensionalität, mit seinem mehr oder weniger berechtigten "Groll" und mit der Zumutung, sich zu trennen von irrealen Illusionen und Truggestalten. Darin schwingt später auch die Zumutung mit, sich vom Seelsorger zu trennen. Doch bleibt auch diese Realitäts-Zumutung relativ milde. Denn in der Beziehung zu ihm war und ist Dietrich nicht über die Maßen tief regrediert. Aus der vergleichsweise leichten "Irrealität" seiner Übertragungsbeziehung zum Seelsorger herauszufinden, wird Dietrich auch dadurch erleichtert, daß jener eine symbolische Sinnwelt repräsentiert, deren Realität unabhängig von seiner Person ist. Technisch gesehen arbeitet die Traumdeutung zwar einen Wunsch heraus, wie Pfister es von Freud gelernt hat. Doch streng genommen ist der Wunsch Dietrichs, die Illusion möge aufhören und einer neuen, begeisternden Realität Platz machen, kein unbewußtes, sondern ein bewußtes Motiv. Es ist eigentlich der Heilungswunsch selbst, und so sieht Pfister auch die Heilung Dietrichs durch den "hübschen Traum" in recht erfreulicher Weise bestätigt. Eine solche Technik der Traumdeutung gehört theoretisch sicher in den weiteren Bereich der sogenannten prospektiv-finalen Konzeption, wie sie später vor allem von H. Silberer und A. Maeder im Anschluß an Alfred Adler und C.G. Jung entwickelt wurde. In Bezug auf den Selbstmord im Traum bemerkt Pfister selbst gegenüber Dietrich (und dem Leser!), er "habe von Dr. Jung gehört, daß der Tod eines Menschen oft auf den Tod eines Komplexes hinweist".12 Dahinter steht die Annahme von prospektiven Tendenzen im

12

Ebd. 176. Zur historischen Entwicklung dieser Konzeption vgl. Maeder 1968.

8.1. Symptomorientierte, positive Deutungen

275

nichtbewußten Seelenleben, die den Weg der Heilung bereits darstellen, bevor das bewußte Ich so weit ist. Obwohl Pfister in den folgenden Jahren diese Konzeption eines "hell sehenden Unbewußten" und die damit gegebene Bechränkung der analytischen Deutungsarbeit auf die "Subjektstufe" (Jung), auf rein "autosymbolische" Deutungen mehrfach scharf kritisiert [6.3], bleiben Anteile davon bei ihm selbst unverkennbar erhalten. So erscheint es nicht abwegig, manche Elemente, die mit dem "Abfall" von Jung und Adler aus der Freudschen Psychoanalyse verdrängt wurden, mit Pfisters Werk dort weiterhin, gleichsam inoffiziell, repräsentiert zu sehen. 13 Dazu zählt in erster Linie ein konstruktiv-kritisches Verhältnis zur Religion, doch eben auch unorthodoxe Wege in der Traumanalyse. Beides kehrt in der neueren Narzißmusdebatte in überraschender Weise wieder. Die Verlagerung des Interesses vom Objekt zum Subjekt, vom Trieb- zum Selbstschicksal bringt es mit sich, daß so manche Traumdeutung bei Kohut an Pfisters Methode erinnert. Doch über die Sensibilität für die Narzißmusproblematik hinaus gilt es festzuhalten, daß die prospektive Traumdeutung und entsprechende ähnliche Interventionen nicht im Zentrum der Arbeit mit Dietrich stehen. Indem Pfister im Blick auf den Fokus nach den verursachenden "Traumata" sucht, ist die Arbeit primär kausal und nicht final orientiert. Erst im Fortgang der Beratung finden sich solche prospektiv-finalen ("anagogischen" 14 ) Elemente, nämlich um die Besserung Dietrichs, seine Neueinstellung, wie Pfister sagen würde, gezielt zu unterstützen.

Die in dem Traummaterial, besonders in den beiden Selbstmorden enthaltene Aggressivität nimmt Pfister zunächst nicht auf, obgleich ihm Dietrichs Suizidtendenzen klar sein müssen. Hatte er doch bereits nach dem Erstgespräch eine "erhebliche Gemütsstörung mit Selbstgefährlichkeit" diagnostiziert.15 Aber die Aggression gehört offensichüich nicht zum Fokus

13 Bittner (1973, 476) will diese Pfisterschen Kompromißbildungen nach Art eines neurotischen Symptoms verstehen, bezogen auf die grHppen-neurotische Situation der Psychoanalyse um 1910. Denken wir an Pfisters Situation zwischen Freud und Jung in dieser Zeit, so erscheint Bittners These durchaus plausibel [4.2 u. 3, 6.4] und für uns im Blick auf Pfisters Umgang mit Frau A.s Träumen und Phantasien auch besonders anschaulich. Doch darüber hinaus ist hier die narzißtische Dimension für das Verständnis entscheidend. "Weil Phantasien stets Manifestationen von Selbstbewußtsein sind, stellen sie auch stets ein narzißtisches Phänomen dar", so Herms (1979, 43, Anm. 4) kurz und bündig und unter Bezug auf Kohut. Vgl. auch dessen (1973, 110) Bemerkungen über die Traumdeutung im narzißtischen Kontext, in der finale Elemente anklingen. 14

1922 erwidert Pfister auf kritische Bemerkungen Freuds über anagogische Tendenzen, entscheidend sei die "Katagogik", also die Hinführung zu den Abgründen des Menschen (Br. 89 f.). Im übrigen bezieht auch Freud die anagogische Traumdeutung mit ein, vgl. GW II/III 350, 507 ff., 528 f.; VIII 350 ff. Zu Pfisters Auffassung der Traumdeutung s. PM 308 ff. Für ihn war Freuds Schrift "Über den Traum" (II/III 645 ff.) die erste psychoanalytische Lektüre. - Ein treffendes Beispiel für den Widersinn, neben eine "kausale" Traumdeutung eine angeblich sachnähere "teleologische" Deutung zu stellen, berichtet Pfister 1920 (Rezension Berguer. 292 f.). 15

Dietrich 139, das folg. Zitat 179. Zum Umgang mit der Aggression vgl. Abschn. 6.

276

Die Methodik im Falle Dietrich

"verunglückte Liebe", sondern stellt für Pfister eine der Folgeerscheinungen des fokalen Konfliktes dar. Von daher gewinnt die aggressive Problematik ihren Stellenwert in den folgenden Gesprächen. Das Thema wird durchaus nicht beiseite gedrängt, die Gespräche kreisen mehrfach um Selbstmord und Todeswünsche, doch immer unter dem Vorzeichen, daß diese Wünsche, jetzt, nach Aushebung der Komplexe, eigentlich entmächtigt sind: "Sie [sc. Dietrich] dachten, wie traurig es wäre, wenn Sie oder der arme, unter Komplexen leidende Vater im Selbstmord geendigt hätten". In welcher Tiefe die Konfliktbearbeitung stattfindet, ist eben von den jeweiligen Verhältnissen abhängig. "Oft muß man sich mit oberflächlichen Deutungen begnügen", so Pfister einige Jahre später in der 'Psychoanalytischen Methode'. Das ist nicht abwertend zu verstehen, sondern einfach als realistischer Ansatz für die analytische Arbeit unter seinen spezifischen Bedingungen. Hier kann es sich eben nicht darum handeln, "alle Verdrängungen aufzuheben, ... möglichst viel Unbewußtes ... zu bearbeiten", sondern nur das, was schädlich ist.16 In solchen Sätzen finden wir in nuce den Beginn einer Theoriebildung der psychoanalytischen Beratung und Fokal therapie.

2.

Ödipaler und narzißtischer Schlüssel

Pfisters wichtigste Intervention gehen nicht auf Sexualität, sondern auf Liebe. Die Sexualität im engeren Sinne ist nicht ausgeblendet, aber auch nicht besonders betont. Sie wird nur einbezogen, wenn es unmittelbar angezeigt erscheint, das heißt, wenn der Klient selbst darauf zu sprechen kommt [Abschn. 3]. Zwar schreibt Pfister in einer Anmerkung und mit Bezug auf Freuds "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" von 1905, das sexuelle Trauma löse die übrigen Komplexe aus und mache sie wichtig.17 Doch das Trauma, das Pfister hier meint, ist nicht, wie wir erwarten würden, ein Verführungsver-

16

PM 320, 400. Ohnehin ist möglichst viel Bewußtheit für Pfister kein durchgängig anzustrebendes Ziel, vgl. bes. Kap. 13.3. 17

Ebd. 178, Anm. 2. Vgl. Freud: GW V 33 ff.

8.2. Ödipaler und narzißtischer Schlüssel

277

such oder das Erleben einer verführungsähnlichen Situation, sondern es ist ein "Angriff auf das sexuelle Ehrgefühl". Es handelt sich um jene Szene, in der die Mutter dem 16jährigen Dietrich nach seiner ersten Pollution (wie er angibt) ein Buch hinlegt, in dem eine Stelle über Onanie aufgeschlagen ist. Dietrichs Reaktion: "Ich wurde zornig, weil sie mich für sittlich verwahrlost hielt". 18 Im Zentrum steht nicht der Konflikt zwischen einem sexuellen Wunsch und einer verbietenden Instanz, der als Es-Überich-Konflikt damals praktisch der einzige hermeneutische Schlüssel für die Neurosen war. Zu dem moralischen Urteil über die Masturbation ("sittlich verwahrlost") nimmt Pfister nicht Stellung. Diese Einschätzung liegt völlig auf der Linie der Zeit; so ist und bleibt sie auch zwischen Dietrich und seiner Mutter wie selbstverständlich in Geltung. Es ist etwas anderes, das zwischen den beiden aus dem Lot geraten ist. Der Zorn über die Mutter und ihre Entwertung - Dietrich spricht davon, daß er sie "innerlich verlor" - werden erst verständlich als Reaktion auf eine narzißtische Kränkung. Er erlebte es offenbar als schwere Enttäuschung, daß die (idealisierte) Mutter so schlecht von ihm denken konnte. Damit erscheint ihm das Einverständnis "getrübt" ("sie versteht mich nicht"), das für die Entwicklung seines Selbstgefühls, für sein narzißtisches Regulationssystem so wichtig ist. Erinnern wir uns, der zweite Traum [Abschn. 1] lebt von der Empörung und der traurigen Wut darüber, daß die Eltern ihn regelmäßig nicht verstehen, ja ihm etwas gänzlich anderes unterstellen, als er vorhat, nämlich daß er die Burg verraten wolle, also die Eltern, die Familie, die moralischen Normen usw. Seine Rache im Traum ist der Selbstmord, und so reagiert er auch im wirklichen Leben nicht nur mit Zorn auf die Kränkung, sondern aus seinem labilen Selbstwertgefühl heraus auch mit immer wiederkehrenden Selbstmordgedanken und der qualvollen Zwangsvorstellung, sein Leben sei nutzlos.

18 Ebd. 149, das Folg. 111, 141, 149. - Alice Miller (1979, 149) spricht von der großen Sensibilität, derer sie als Analytikerin bedürfe, wenn sie Fallbeispiele ausführlich beschreibe. Sonst "komme ich in Gefahr, die verborgene, versteckte Tragik eines Menschen der Öffentlichkeit preiszugeben. Ich würde damit (nicht in der Intention, aber doch real) die Respektlosigkeit der Mutter wiederholen, die z.B. das Kind beim Onanieren entdeckte und beschämte." Im Blick auf den ödipalen Konflikt meint sie (ebd. 114), hier komme es zur Demütigung des Kindes weniger durch die Triebversagung als durch die Verachtung seiner Triebwünsche.

278

D i e Methodik im Falle Dietrich

Wie nicht anders zu erwarten, ist der Vorfall mit der Mutter nur der Endpunkt einer langen Geschichte. Dietrich hatte schon in der Sitzung vorher berichtet, seine Beziehungen zur Mutter seien etwa ab dem 13. Lebensjahr schlechter geworden. Ihre Vorhaltungen, aus ihm werde nichts, er habe einen schlechten Kern, kränkten ihn "etwas", wie er, noch abwehrend, erzählt. Mit Beginn der Pubertät scheint es zu einer Neuauflage der Konflikte zwischen Eltern und Kind gekommen zu sein. Denn bereits als Dietrich vier Jahre alt war, reagierte die Mutter mit ähnlich harten Worten über seinen schlechten Kern, als der Junge ihr einmal eine Nadel ins Polster gesteckt hatte. Diese Worte setzten sich bei Dietrich fest, während er den Vorfall selbst vergaß. Seine Erinnerungen an die spätere Zeit, die Latenzzeit, haben eine andere Tönung. Als er acht oder neun Jahre alt war, nahm ihn die Mutter in Schutz, wenn er vom Vater "gezüchtigt" wurde. "Damals hatte ich sie lieb und war gegen sie zutraulich". Wenn wir noch die schwierige Beziehung zum Vater hinzunehmen, können wir sehr vieles aus Dietrichs Vorgeschichte auch mit dem ödipalen Konflikt als hermeneutischem Schlüssel verstehen. Dazu gehört auch das typische Phänomen, daß Mutter und Sohn mit dem Beginn der Pubertät, also mit der genitalen Reifung des Sohnes, sich einander entfremden. Ein inniges, auch erotisch getöntes Einverständnis ist nun nicht mehr möglich. Das macht der "Fleck" aus der Pollution oder Masturbation unübersehbar deutlich. Daß die Mutter so irritiert reagiert, hängt natürlich mit ihrer eigenen abwehrenden Einstellung zur Sexualität zusammen, die jedoch nur der allgemeinen entspricht. So ist es kein Wunder, daß die Sexualität gewissermaßen zum Auslöser dafür wird, daß das leidlich ausgependelte Familiensystem gestört wird. In der Pubertätszeit wird Dietrichs Beziehung zum Vater wie zu VaterVertretern aggressiver als früher, was sicher zum Teil auf Gegenseitigkeit beruht (s.u.). Trotz der Ergiebigkeit auch des ödipalen Schlüssels erscheint es mir, aufs Ganze gesehen, offensichtlich, daß Dietrichs aktuelle Konflikte nur auf dem Unterbau einer narzißtischen Störung zu verstehen sind. Ganz allgemein kommt es in der Adoleszenz zu einer Intensivierung des Narzißmus: "Tatsächlich durchläuft der Adoleszente, wenn er sich von den infantilen Liebesobjekten zurückzieht, ein verlängertes Stadium übermäßigen Engagements für narzißtische Zielsetzungen und

8.2. Ödipaler und narzißtischer Schlüssel

279

Beschäftigungen, zeitweise auf Kosten wirklich objektgerichteter Ziele." 19 Anders gesagt, die 'normalen 1 objektlibidinösen Beziehungen, auch im ödipalen Drama, erhalten bei Dietrich eine starke narzißtische Tönung, weil sie vorrangig eine Funktion für die Regulation des Selbstgefühls erfüllen. Eben darauf ist ein Großteil der Interventionen Pfisters ausgerichtet; sie gehen gleichsam durch die Objektbeziehungen hindurch. Sprachlich und symbolisch zusammengehalten werden seine Interventionen durch das fokale Stichwort "Liebe", das ebenso die narzißtische wie die objektlibidinöse Konfliktebene umgreift [Abschn. 3]. Pfisters Erklärung am Schluß der dritten Sitzung ist ganz korrekt: "Die tiefste Triebfeder Ihres Grimmes läßt sich nur entwicklungsgeschichtlich verstehen: In der Pubertätszeit findet normalerweise eine gewisse Ablösung des kindlichen Liebeslebens von der Mutter statt. Diese Ablösung wurde durch Ihren Unwillen über den vermeintlichen Verdacht der Mutter für Sie zu einer plötzlich hereinbrechenden Katastrophe". Der "Grimm" und das Erleben eines tiefen Einbruchs zeigen zunächst ein Stück Befreiung von der übermächtigen Mutter an, aber eben mitbestimmt durch die Enttäuschung über die narzißtisch idealisierte Mutter. Dafür spricht auch Dietrichs prompte Entwertung alles Weiblichen. In der nächsten Sitzung erweckt der Madonnenkopf "kein bißchen Gefühlserregung" in ihm; er steht gleichgültig zur Freundin und hat sich vorgenommen, überhaupt nicht zu heiraten. In der sechsten Sitzung bezeichnet er seine Freundin als dumm, wie er überhaupt "in der letzten Zeit den Weibern mit Verachtung" entgegentrete. In dem Brief am Anfang des Jahres 1909 äußert er sich empört über die "Vergnügungslöcher" der Züricher Altstadt. Für die Frauen bieten nun aber die Männer reichen Ersatz, zu denen Dietrich in idealisierender Identifikation umschwenkt. Das läuft natürlich über die Schiene der positiven Übertragung auf Pfister. Die Frauenverachtung weist auf die homoerotische Komponente hin; Pfister spricht denn auch von einer "noch immer starken Komplexbedingtheit bei Einstellung auf mich". Die Homosexualität markiert ja den Übergang zum Narzißmus: Man

" Edith Jacobsen 1978, 189. Die folg. Zitate Dietrich 177 f.. 179-183.

280

Die Methodik im Falle Dietrich

liebt ein gleichgeschlechtliches Spiegelbild bzw. identifiziert sich mit ihm.20 Pfister nimmt diese homosexuell-narzißtische Übertragung an, versucht aber beharrlich, darin irgendwie über sich selbst hinauszuweisen. So handelt es sich um eine Teilverschmelzung in Form wechselseitiger Empathie. Immerhin bleibt Dietrich dabei so selbständig, daß er am Schluß der Beratung sich weniger für den von Pfister geradezu empfohlenen Jesus begeistert als für Goethe. Er liest in den Weihnachtsferien 12 Bände dieses Dichterfürsten und schreibt bezüglich der bestandenen Versuchung der Vergnügungslöcher an Pfister: "Ich weiß nicht, wem ich mehr danken soll, Ihnen oder Goethe". Mit 'Goethe' ist ein Stück eigenständige passagère Idealbildung bezeichnet, ähnlich vielleicht der kleinen narzißtischen Differenz im 2. Traum: Dietrich vertritt zwar einen Pfarrer, aber ein Gebet oder eine biblische Geschichte fällt ihm nicht ein, stattdessen die mittelalterliche Rittertragödie! 'Goethe' ist für den abdoleszenten Dietrich wahrscheinlich auch männlicher als 'Jesus', zumal letzterer via Pfister sowieso präsent ist. Nicht ohne Realitätsbezug mag Dietrich den Dichter als einen großen männlichen Heros erleben, als richtigen Frauenhelden, der gerade so von den Frauen zuletzt unabhängig bleibt. Indem er sich immer wieder von der einzig Geliebten trennt, dient er seinem Genius. - In tieferen Schichten bleibt gewiß auch der Bezug auf Goethe dem "ewig Weiblichen" verhaftet. Bekanntermaßen war der Dichter nicht nur ein Frauenliebling, sondern auch ein großer Marienverehrer. Immerhin, das Weibliche zieht nicht hinab, sondern "hinan" und verbindet sich mit mütterlicher "Frohnatur". 21

Dem Umkippen von Idealisierung in Verachtung und Entwertung der Frauen (und der schwachen Männer!) versucht Pfister entgegenzuwirken, indem er auf die Realitäten in Dietrichs Beziehungsfeld verweist, zumal auf die reale Freundin, und die Gewichte der Verantwortung für das, was falsch gelaufen ist, sorgsam verteilt. Spielen dabei auch entwicklungsbedingte Notwendigkeiten eine gewichtige Rolle, so mutet Pfister Dietrich doch schon am Schluß der dritten Sitzung zu, seinen eigenen Anteil an der Entwicklung zu sehen, d.h. ein Stück Verantwortung dafür zu übernehmen: "Jetzt darf ich Sie ruhig darauf hinweisen, daß auch Ihr eigenes Unrecht die Krankheit verschuldete."

20

Freud weist auf den narzißtischen Ursprung der homosexuellen Objektwahl hin, die gewissermaßen zur Identifikation mit der Mutter regrediert (GW X 243, vgl. auch XI 442). Zur passiv-homosexuellen Tendenz vgl. Eissler 1966, 862. 21

Pfister meint einmal, die neue Ethik verbinde harte Männlichkeit mit ewiger Weiblichkeit (PM 574 f.). Seinerseits beschäftigt er sich eingehend mit Goethes Mutter- und Schwesterfixierung (LE 167-172) und verweist dabei auch auf den entsprechenden Abschnitt in Otto Ranks Werk über "das Inzestmotiv in Dichtung und Sage" (Leipzig/Wien 1912,501518), später auch auf Theodor Reiks Studie "Warum verließ Goethe Friederike?" (Berlin 1930, vgl. CA 94, Anm. 82).

8.2. Ödipaler und narzißtischer Schlüssel

281

In den folgenden Sätzen wird die Mutter vollständig entlastet, für den zornigen Pfarrer (als Vatervertreter) bleibt es bei einem teils-teils. Pfister will ihn nicht von aller Schuld freisprechen, wirbt aber doch um viel menschliches "Verständnis" für ihn. Ähnliche Worte hören wir in den beiden folgenden Sitzungen auch über Dietrichs Vater selbst. Dabei ist ein Unterton ödipalen Triumphes über den "armen" Vater nicht zu überhören. 22 Wie ist diese verschiedene Behandlung von Vater und Mutter zu erklären? Zunächst müssen wir hier ein Stück Gegenübertragung Pfisters vermuten, die aus seiner Lebensgeschichte verständlich wird [4.1]. Im "Verständnis" für den Vater äußert sich ein Stück Einsicht in die Realität, aber zugleich doch auch ein Kleinmachen und Überbieten des ödipalen Rivalen, bei Dietrich mit Hilfe Pfisters und der Psychoanalyse. Offensichtlich ist ja Dietrichs Wut auf den Vater weniger als bei der Mutter eine (narzißtische) Enttäuschungsreaktion als vielmehr von der klassischen ödipalen Dreieckssituation bestimmt. Nach Aussage der Mutter war der Vater sehr liebenswürdig gegenüber seinen Jungen, solange sie noch klein waren. Später wurde er zu einem "wohlgesinnten, aber strengen Prügelpädagogen", wie Pfister nicht ohne Understatement im Rückblick von 1944 schreibt. 23 So hängt Pfisters unterschiedliche Sichtweise von Vater und Mutter sicher auch mit Dietrichs realem ödipalen Schicksal zusammen. Was können wir auf dieser Ebene an Veränderungen bei Dietrich beobachten? Die Stellung zum Vater wird positiver; es bleibt eine gewisse realistische Ambivalenz. Die "Sehnsucht nach dem Vater", der Wunsch nach Identifikation und Idealisierung, war bisher nur in der etwas exotischen Gestalt des Großvaters bzw. in der Gestalt des Bischofs aus der Prozession aufgehoben. Diese Seite wird nun auf der Linie Pfister und die Psychoanalyse - Jesus Goethe erheblich verstärkt. Dem entspricht auf der anderen Seite der Abbau der Sehnsucht nach der Mutter. Der "Mutterkomplex" war ja dynamisch viel wirksamer gewesen als der Vaterkomplex und hatte zur Symptombildung und zum Seelsorger geführt. In der Liebe zur Madonna fielen narzißtische und objektlibidinöse Strebungen zusammen. Darum ist die Entwicklung auf dieser Seite bedeutsamer.

22

Dietrich 177-179, 181 [Abschn. 6],

23

CA 276, vgl. Dietrich 181. Zum Folg. 144, 146, 149, 179.

282

Die Methodik im Falle Dietrich

Dietrichs Einstellung zur Mutter wird realistischer, wenn auch anscheinend nicht so realistisch wie zum Vater. Die Geringschätzung der anderen Frauen, vor allem der Freundin, mag u.a. darauf hindeuten, daß Dietrich sich noch immer nicht ganz vom Bild der madonnen- oder engelgleichen Mutter gelöst hat. Weil darin Sexualität ausgeschlossen ist, braucht er sich auch mit seiner eigenen Sexualität nicht auseinanderzusetzen. Doch für den guten Ausgang seines in der Adoleszenz wiederbelebten ödipalen Konfliktes braucht Dietrich sicher noch Zeit: ganz auf die Mutter zu verzichten und 'wie der Vater', aber zugleich auch gegen ihn bzw. über ihn hinaus so nach anderen Frauen zu streben, daß auch die Sexualität ihren angemessenen Stellenwert erhält. Vorerst ist wohl Pfisters Perspektive realistischer. Als Dietrich sich geringschätzig über die Freundin äußert, mahnt er ihn zur Ritterlichkeit. Die junge Dame sei unschuldig daran, daß er sie mit der Madonna verwechsele. Und dann holt Pfister weiter aus: "Bisher sahen Sie in einem Mädchen die Madonna; fortan sollen Sie als edler, ritterlicher Mann jedem weiblichen Wesen ohne Überschwenglichkeit und feminine Romantik eine Madonna, eine Trägerin der Gottesliebe erblicken." 24 Es ist bemerkenswert, daß sogar noch im Bild vom Ritter, das Pfister aus Dietrichs zweitem Traum aufnimmt, die Dissoziation von hoher, edler, unerfüllter Liebe (die "frouwe" des Ritters) und niedriger, gemeiner Sexualität mitschwingt. Andererseits ist ja jedes weibliche Wesen gemeint, so daß die Hochstilisierung der einen Frau unmöglich wird. Wie Dietrich nun mit den vielen umgeht, bleibt ihm selbst überlassen. Immerhin meint er in der nächsten, der letzten Sitzung über die Freundin, sie sei, wenn auch keine Madonna, so doch "ein anständiges, nettes, schönes Mädchen". Pfisters Kommentar dazu lautet: "Ich ... freue mich über die Zuneigung zu dem in der Ferne [!] weilenden Mädchen, da hierdurch die immer noch nicht völlig

24 Ebd. 182, das folg. Zitat 184. Die Männerphantasien über die Frau als Strom und Fluß sind nach Theweleit (I, 1977, 360) immer noch eine Abwehrformation, nämlich gegen die einzelne, leibhaftige, individuelle Frau mit einem bestimmten Namen, gegen die Frau als 'normales' menschliches Gegenüber, das wirklich liebt und geliebt wird. Es steckt noch zu viel Marienkult darin, ein säkularer gewissermaßen. - Diese bedenkenswerte These unterschätzt freilich die Notwendigkeit, die Liebe zu symbolisieren.

8.3. Madonna, Domröschen, Jesus

283

"Ich ... freue mich über die Zuneigung zu dem in der Ferne [!] weilenden Mädchen, da hierdurch die immer noch nicht völlig überwundene Gefahr niedriger [!] Kompensation stark verringert und die Sublimierung der ausgehobenen [!] Komplexe erleichtert wird." 3.

Narzißtische Sublimierung als Symbolisierung: Madonna, Dornröschen, Jesus

Pfister arbeitet auf einen neuen Realismus in Dietrichs wichtigen Beziehungen hin, so auch auf eine neue, realistische Sicht der Freundin, wie wir gerade sehen. Doch das, was die Madonna für Dietrich repräsentiert, kann damit nur sehr anfangsweise entmächtigt oder ersetzt werden. Pfister weiß das, deshalb verknüpft er den Hinweis auf die Freundin mit einer symbolisierenden Verallgemeinerung. Allen Frauen einschließlich der Freundin wird gezielt ein Merkmal der Madonna beigelegt, nämlich "Trägerin der Gottesliebe" zu sein. Auf diese Weise stellt Pfister die Zumutung eines neuen Realismus für Dietrich in einen symbolischen Horizont, der seinerseits an die so machtvolle symbolische Dynamik der Madonna angebunden bleibt. Dieser Kunstgriff erscheint auch bitter nötig. Denn hinter der Gestalt der Maria/Madonna taucht riesig der Archetypus der Großen Mutter auf. Da wäre es mit bloßen Anti-Gestalten, womöglich rein männlichen, nicht getan. Etwas vom Urweiblichen würde bleiben und müßte auch bleiben. Dafür kaum eine angemessene symbolische Repräsentanz zu haben, ist ein konstitutives Problem des Protestantismus. Pfister ist sich dessen umso klarer, als er es in dieser Zeit auffallend häufig mit meist jüngeren Klienten zu tun hat, deren Leiden wie bei Dietrich in einer unwiderstehlichen Anziehung durch den Katholizismus und in einem "hysterischen Madonnenkultus" seinen typischen Ausdruck findet. 1917 spricht Pfister gar von "Hunderten" ähnlicher Erfahrungen, und 1944 faßt er die psychologische Funktion des Marienkultus bündig zusammen: Maria ist einerseits die ideale Jungfrau, andererseits die vollkommene Mutter und bietet überdies zureichenden Ersatz für den überstrengen, verständnislosen Vater.25

25

CA 285; NZ 47, 92. In der Regel stammen die katholisierenden jungen Männer wie Dietrich aus gutem liberal-protestantischem Hause: die drei Jünglinge (Dietrich 185 f.), der Holländer (Hysterischer Madonnenkultus. 1911. vgl. CA 283 ff.), Robert (NZ 15 ff., vgl. AS 91 ff.), Jakob (ebd. 42 ff.; vgl. CA 280 ff. sowie Kampf 93 ff.: Ein Fall von

284

Die Methodik im Falle Dietrich

Dies alles trifft auch bei Dietrich zu. Mit der Jungfräulichkeit kann die eigene Sexualität verleugnet werden. Die Idealmutter enttäuscht den Sohn niemals, ihre Liebe ist eine nie versiegende Quelle von Hilfe, Trost und Bewunderung. Gibt es daher nichts Schöneres als Kind bei ihr zu sein und zu bleiben (passiv), so kann man sich doch auch (aktiv) in ihrer herrlichen Schönheit spiegeln. So wird die Sixtinische Madonna zu Dietrichs Bibel und Raffael zu seinem Pfarrer; Pfister weist uns nebenher darauf hin, daß Raffael sich seine eigene früh verlorene Mutter in seinen Madonnenbildern wiedererschuf. Ähnlich auch Dietrich: "Maria ... drückte auf manchen Bildern ihr Jesuskind liebend an ihr Herz, sie stand auf andern [sc. Bildern] unter dem Kreuz und nahm als schmerzensreiche Mutter an den Leiden ihres Sohnes teil, sie beweinte ihn in der pietà und wahrte ihm so die Treue über den Tod hinaus. Zu ihr flehten die Gläubigen, ihrer Liebe gewiß und sie wieder liebend. Er [sc. Dietrich] selbst aber, infolge seiner inneren Absage an die Eltern Leidende, ging leer aus, er war der Unverstandene, Liebesarme, Einsame."26 Aus dieser Qual erlöst ihn die Gottesmutter und bietet zugleich einen Vaterersatz: "Sie ist die milde, gütige Vertreterin überirdischer Liebe; sie stimmt den gestrengen Vater im Himmel gütig. Von ihr geliebt, braucht man dem gefürchteten Gott nicht mehr unter die Augen zu treten." Es ist dieses Syndrom des "Zwangskatholizismus", das Dietrich so irritiert und zum Seelsorger führt, und nicht eine manifest sexuelle Problematik. Aber natürlich ist diese in jenem enthalten, denken wir nur an die Szene mit der Mutter (Onanie-Verdacht). Auf die innere Fährte, die von dem Problem sexueller "Befleckung" zur Madonna führt, werden wir bzw. Pfister von

'Dietrich' (186) bezeichnet Pfister es als sehr interessante Frage, "ob es überhaupt religiös begründete Übertritte vom Protestantismus zum Katholizismus ohne sexuelle Neurose gibt". 26

CA 277, das folg. Zitat 285. - Zu den Konsequenzen daraus, daß im Protestantismus der Marienkult fehlt, vgl. Theweleit I, 360, 475 ff., bes. 477. Er verweist auch darauf, daß die Hinlenkung der Inzestphantasien auf die Gestalt der Schwester bis heute unterschätzt wird. Bei Pfister finden wir mehrere Fallbeispiele dafür, angefangen bei seiner ersten psychoanalytischen Veröffentlichung: Wahnvorstellung und Schülerselbstmord, 1909, vgl. Kap. 6.4. - Des öfteren weist Pfister auf mütterliche Züge Jahwes, des "himmlischen Vaters" der Evangelien und auch Jesu selbst hin. Zum Thema Mütterlichkeit vgl. Kap. 14.5.

8.3. Madonna, Dornröschen, Jesus

285

Freud selbst hingewiesen, nämlich ihre jungfräuliche Geburt bzw. ihre ihre "unbefleckte Empfängnis". In seinem brieflichen Kommentar zu Dietrichs erstem Traum, den wir bereits kennen, interpretiert Freud das Schwanken am Ende des Traumes, wer das "Fräulein" nun ist und wie sie aussieht, als Zweifel des Träumers an der betreffenden katholischen Lehre.27 Damit ist aber zugleich seine Unsicherheit über den Beitrag des Mannes zum Kinderkriegen ausgedrückt, m.a.W. die bohrende Frage nach seiner eigenen, männlichen Sexualität. Erinnern wir uns, die pubertäre Befleckungs-Szene mit der Mutter steht auch für die endgültige Befleckung von Dietrichs irdischem Mutterideal. So schafft er sich ein himmlisches Mutterideal in Gestalt der Madonna. In ihrem Schoß - im Dunkel der Kapelle, im Schoß der katholischen Kirche - kann er sich bergen. Zugleich kann er ihre strahlende Schönheit bewundern und sich spiegeln im Glanz ihrer Augen, weil die der Mutter stumpf geblieben sind. Bei der göttlichen Jungfrau und Mutter gibt es keine Befleckung, weder durch Sexualität noch durch kränkende Entwertung noch auch durch väterliche Strenge. Bei ihr kann der junge Mann getrost zum (präödipalen) Kind regredieren. So sind in der Gestalt der Maria/Madonna für Dietrich beide Spannungspole der Liebe enthalten, der aktive und der passive, und ebenso beide Qualitäten der Liebe, die objektgerichtete und die narzißtische. Allerdings ist seine Liebe überwiegend passiv-narzißtisch bestimmt. Die primäre Liebe des Säuglings ist ja ein Geliebt-werden-wollen, später dann das bleibende Bedürfnis nach Nähe, Wärme und Annahme, aber auch, narzißtisch, nach Bestätigung, Bewunderung, "Spiegelung". Der aktive Pol der Liebe, bei Dietrich spezifisch unterentwickelt, äußert sich in dem Bedürfnis, das Liebesobjekt zu besetzen und zu besitzen, es für sich zu haben, später dann um es zu kämpfen und es zu erobern, aber auch, narzißtisch, in dem Wunsch, es zu idealisieren, um zuletzt mit ihm als grandiosem "Objekt" zu verschmelzen, ja einszusein.28

27

Br. 17 f., vgl. Kap. 7.6. - Freud teilt hier ein populäres und leicht nachvollziehbares Mißverständnis. Danach wird das katholische Dogma von der unbefleckten Empfängnis Marias einfach auf ihre Rolle als jungfräuliche Jesusgebärin bezogen statt auf ihre eigene Empfängnis durch ihre Mutter (Anna). 28 "Zuletzt" meint hier im Rückgriff auf "zuerst", also auf die primärnarzißtische Entwicklungsphase vor der klaren Differenzierung in Selbst und Objekt und damit auch in Aktivität und Passivität. - Nach Freud (GW X 232) ist der Gegensatz von Aktivität und

286

Die Methodik im Falle Dietrich

Um zu zeigen, wie diese verschiedenen Spielarten der Liebe auch in Pfisters Interventionen anklingen, zitiere ich einige Sätze aus seinem Votum am Ende der zweiten Sitzung. Darin erscheint die Oszillation zwischen aktiver und passiver Liebe besonders bemerkenswert: 29 "So schufen Sie nun auch der Mutter ein Ebenbild ..., der liebreichen Mutter Ihrer Kinderjahre. Ihre objektlos gewordene Sehnsucht nach Liebe zur Mutter mußten Sie verdrängen. Als Sie nun in der herrlichen Gestalt der Maria die vollkommene, göttlich erhabene Mutterliebe sahen, da brach der gehemmte Strom mit riesiger Macht hervor. Der Mutterkomplex ... konnte sich in idealer Weise befreien, indem sich die Sehnsucht nach Liebe an die Gottesmutter anklammerte. Daher Ihre Seligkeit, Ihr Schwelgen in Maria." Und was wird nun daraus? "Ihr Leben sei verklärt vom Glanz eines seligen ... Liebesglaubens", so schreibt Pfister im Dornröschenbrief an Dietrich (s.u.). Die enorme Dynamik von 'Madonna' soll nun aufgehoben sein in der universalen 'Gottesliebe', als solche gewiß kein Begriff mehr wie vielleicht noch die Liebe allein, sondern mindestens ein Begriffs-Symbol, das einen weiten und großartigen Horizont eröffnet. Schon Pfisters Konkretisierungen: liebender himmlischer Vater und tröstender Heiland, weisen einerseits auf die männliche Orientierung hin, für Dietrich ja ein notwendiger Reifungsschritt, und beziehen andererseits doch weiblich-mütterliche Züge mit ein. Diese Inklusivität gilt bei Pfister schon für das Grundwort Liebe; noch ohne alle Zusätze ist es für ihn das größte und höchste Symbol überhaupt und in seiner Verkörperung durch Jesus von Nazareth der zentrale Inhalt der christlichen Religion. In der Liebe ist nicht nur der Gegensatz von männlich und weiblich zugleich enthalten und aufgehoben, sondern ebenso der von der Regression und Progression, von aktiv und passiv, von Selbst und Objekt. Das gilt auch für den Gegensatz von Natur und Kultur, denn natürlich gehört zur Liebe die Sexualität, und die beginnt nicht mit kultivierter Erotik, sondern mit den elementaren Gegebenheiten der menschlichen Triebnatur. Damit direkt zu

Passivität einer der drei großen die Liebe und das Seelenleben überhaupt beherrschenden Polaritäten. 29

Dietrich 145 f. - Oszillation ist ein wichtiger Begriff in Schleiermachers Psychologie und Ethik, verwandt mit den Begriffen Wechselbeziehung und gegenseitiger Austausch, zuletzt "ja die allgemeine Form alles endlichen Daseins" (Brief an F.H. Jacobi vom 30.3.1818, zit. n. Birkner 1974, 35). Vgl. Spiegel 1968, 39 f.

8.3. Madonna, Domröschen, Jesus

287

konfrontieren, ist allerdings in den Gesprächen mit Dietrich nicht Pfisters Ziel. Die Gründe dafür kennen wir aus den beiden vorigen Abschnitten. In seinen Interventionen bleibt die Sexualität immer eingebunden in die Liebe und damit sowohl in den genannten symbolischen Horizont als auch zugleich in das Schicksal von Dietrichs konkreten Liebtsbeziehungen. Damit hat 'Liebe' eine integrale Funktion für Dietrich und für den Verlauf der Gespräche. Dem entspricht der von Pfister gewählte Fokus der Beratung: verunglückte Elternliebe. So ist es möglich, der Abwehr der Sexualität bzw. ihrer Aufspaltung in niedere und höhere Liebe entgegenzuwirken. Wenn Pfister die Beflekkungsszene mit der Mutter gegenüber Dietrich bezeichnet als ein "Erlebnis, an welchem Ihre Sexualität beteiligt war", so ist damit die gleichsam nackte Sexualität wie von selbst mit dem psychischen und sozialen Leben verknüpft. 'An sich' ist die Masturbation wohl die beziehungsloseste Lebensform der Sexualität. Allerdings könnten die begleitenden Phantasien wichtige Aufschlüsse geben über geheime sexuelle Wünsche und Beziehungswünsche. Angeblich kennt Dietrich die Masturbation nicht, doch auch für Pfister bleibt es eine offene Frage, ob hier nicht eine pathologische Verdrängung stattgefunden hat, ob also, wie wir ergänzen dürfen, die Szene mit der Mutter für Dietrich nicht auch eine sogenannte Deckerinnerung darstellt, die den Zugang zum eigentlich wunden Punkt gerade verdecken soll. Doch, so Pfister weiter, "ich unterlasse die Exploration, weil ich es vermeide, mehr als irgend nötig auf sexuelle Themata mit meinen Pfleglingen einzutreten".30 Diese so merkwürdig dezidierte Begründung ist sicher von der Rücksicht auf den Zeitgeist und auf den Ort der Veröffentlichung, eine praktisch-theologische Zeitschrift, mitbestimmt. Aus solch taktischer Vorsicht allein möchte Freud gern die für ihn offensichtlichen Mängel dieses Fallberichtes verstanden wissen.31 Doch diese dem jungen Neu-Analytiker wohlwollende Unterstellung scheint mir nur die halbe Wahrheit. Pfister hat, so meine ich, durchaus bewußt die weitere Exploration des Masturbations-Themas unterlassen, weil sie ihm die Arbeit am Fokalziel, die verunglückte Liebe in geglückte zu verwandeln, nicht nötig erschien. Für diese Auffassung spricht auch die Tatsache, daß er in der auf die Veröffentlichung von 'Dietrich' folgenden Auseinandersetzung mit Friedrich Wilhelm Foerster mehrere Fallbeispiele referiert, in denen es anders aussieht. Dort arbeitet er in der Beratung direkt an Symptomen, die mit dem heiklen Problem der Masturbation bzw. mit deren Verbot und Verdrängung zusammenhängen. Wenn die Symptomatik unmittelbar auf Sexualgewohnheiten zurückweist, muß natürlich eingehender darüber

30

Ebd. 177, 184, auch im Orig. gesp. Zum Begriff Deckerinnerung vgl. Freud: GW I 531 ff. - Später schreibt Pfister (PM 482): "Früher erteilte ich den Rat. so zu analysieren, als gäbe es keine Sexualität, und einfach zu warten, bis der Analysand den Feind der Sexualverdrängung selbst erkenne und aus freien Stücken bekannt gäbe. Ich bin heute weniger ängstlich". 31

Br, 16, vgl. Kap. 7.6. Zum Folg. Anti-Foerster 104-106.

288

Die Methodik im Falle Dietrich

gesprochen werden; ich erinnere an den Grundsatz der Fokaltherapie, den Fokus auf das Symptom zu beziehen [5.3]. Immerhin, auch in den Gesprächen mit Dietrich ist das sexuelle Thema ja nicht ausgeklammert, sondern hat seinen Platz als Teilelement in einem größeren Zusammenhang. Wörter und Begriffe aus der Sexualsphäre werden ausgesprochen, Dietrich selbst benennt seine Pollution als solche. 32 Nehmen wir noch die Kommunikation des Autors mit dem (theologischen!) Leser hinzu, in der öfter vom sexuellen Trauma und von Masturbation die Rede ist, so geht auch dieser Fallbericht zumindest tendenziell in die Richtung, die Freud in der Einleitung zu 'Dora' so markiert: "In dieser ... Krankengeschichte ... werden nun sexuelle Beziehungen mit aller Freimütigkeit erörtert, die Organe und Funktionen des Geschlechtslebens bei ihren richtigen Namen genannt, und der keusche Leser kann sich aus meiner Darstellung die Überzeugung holen, daß ich mich nicht gescheut habe, mit einer jugendlichen weiblichen Person über solche Themata in solcher Sprache zu verhandeln. Ich ... erkläre es als ein Anzeichen einer perversen und fremdartigen Lüsternheit, wenn jemand vermuten sollte, solche Gespräche seien ein gutes Mittel zur Aufreizung oder zur Befriedigung sexueller Gelüste." Freud hatte Grund zu solch zornigen Worten, und die Verhältnisse im k.u.k. Wien werden sich von denen im großbürgerlichen Zürich nicht sonderlich unterschieden haben. Unter solchen Umständen ist schon das schlichte Faktum höchst bedeutsam, daß in einem seelsorgerlichen Gespräch zwischen einem jungen, religiös eingestellten Mann und seinem Pastor sexuelle Probleme als solche benannt und ruhig besprochen werden. Diese Erfahrung allein dürfte auf Dietrich entlastend und entängstigend wirken und damit zuletzt auch aufklärend.

Diese Seite der Beratung bleibt also eingebettet in die Arbeit in und mit Symbolen. Als ein zentrales und für Pfister sehr typisches Beispiel greife ich den Brief heraus, in dem Pfister die im Ur-Symbol Madonna wirksame Dynamik aufgreift und in einen neuen Symbol-Horizont zu stellen versucht. Damit ist Dietrich eine Lösungsperspektive angeboten. Auf den für die Interaktionsdynamik zwischen Dietrich und Pfister signifikanten Zusammenhang, in dem dieser Brief steht, gehe ich in Abschnitt 6 ein. Auch sonst wird dieser Brief, fortan Dornröschenbrief genannt, noch öfter zitiert, doch jetzt geht es uns nur um die Symbol-Dynamik.

32 Dietrich 149. Das folg. Freudzitat GW V 165 f., vgl. auch 208 f. (J'apelle un chat un chat" und noch mehr auf Französisch!). - Der klinische Fachausdruck bei Dietrich läßt vermuten, daß er sich sein Wissen über Sexualität aus Büchern holte. Für damals mag es noch weniger als für heute erschreckend erscheinen, wie wenige Eltern und Erzieher den Mut haben, dieses Thema persönlich anzusprechen. Übrigens tauchen auch bei der Behandlung Doras Bilder auf, deren "symbolische Sexualgeographie" Freud auf verbotene Lektüre schließen läßt, "der gewöhnlichen Zuflucht der von sexueller Neugierde verzehrten Jugend" (ebd. 262, vgl. 263-265).

8.3. Madonna, Dornröschen, Jesus

289

Pfister ermuntert Dietrich, mit seiner neu entbundenen Kraft um einen geistigen Lebensinhalt zu kämpfen, gleichbedeutend mit voller Gesundheit, und fährt fort: "Aber nicht dumpf grübeln, sondern frisch und fröhlich mit beiden Füßen auf das Land der Freiheit und der ewigen Liebe hinüberspringen, über dem die Sonne nicht untergeht! Weiß Gott, Sie sind näher besehen ein Glückskind erster Güte! In Ihnen schläft ein Dornröschen. Möge Jesus der Held sein, der es wachküßt! - Und nun Gott befohlen! Sie werden einst staunen, was für ein glücklicher, liebenswürdiger, tatenfroher Vollmensch in Ihnen steckt! Beten Sie! Im Gebet atmen Sie Höhenluft. Ihre überschüssige Kraft muß irgendwo hin; nicht in Hypochondrie, greisenhaften Weltschmerz, Kopfweh, sondern ins Reich des Ideals und der Freude!"33 Wie nun? Dietrich als Dornröschen, Jesus als Märchenprinz und Pfister als Märchenonkel? Befördert dies nicht die Regression in eine infantile Wunschwelt, aus der Dietrich doch gerade herausfinden soll? Nein, das Märchen entspricht vielmehr der psychischen Realität Dietrichs. Er sitzt doch gleichsam im Schoß der Madonna, geborgen im Dunkel der Kapelle, im Schoß der katholischen Kirche, introvertiert, abgeschirmt wie Dornröschen in ihrem Schlaf hinter der unüberwindbaren Hecke. Eben dort aber soll er abgeholt werden und gerade durch den, der selbst einmal im Schoß der Madonna war, durch Jesus! Im Zuge solch signifikanter Umkehrung wird aus dem zum Kind regredierten Jugendlichen der junge Held, der Heros, der das Widerwärtige überwindet und Großes bewirkt. So wird aus dem

33

Ebd. 147. - Gegen den Einwand, daß ich den Dornröschenbrief überinterpretiere, zitiere ich den Psychoanalytiker L.S. Kubie (1966, 31, Hervorhebung von mir): "In dem Erwachsenen, der nicht durch bewußte oder unbewußte Angst- oder Schuldgefühle gelähmt ist, benutzen vorbewußte Prozesse freizügig Analogie und Allegorie ... Dadurch wird Erfahrung umgruppiert und jene hochgradige Verdichtung erreicht, ohne die Kreativität gänzlich unmöglich wäre. Im vorbewußten Gebrauch von Methaphorik und Allegorie werden viele Erfahrungen zu einer einzigen Hieroglyphe verdichte!, die dann in einem Symbol mehr aussagt als eine langsam und genau herausgesagte Wortreihe auf der vollbewußten Stufe. Deshalb sind die vorbewußten Vorgänge die Siebenmeilen-Stiefel der intuitiven schöpferischen Funktion."

290

Die Methodik im Falle Dietrich

schlafenden Dornröschen ein "glücklicher, liebenswürdiger, tatenfroher Vollmensch".34 Doch warum ausgerechnet Dornröschen, wo es doch so viele männliche Pubertätsmärchen gibt? Einmal, Dornröschen ist nichts ohne den Prinzen bzw. Jesus, den religiösen Heros, und mit beiden Gestalten soll Dietrich sich schließlich identifizieren. Ferner lesen wir die Märchen, so meine ich mit Bruno Bettelheim, zu sehr mit den Augen derer, die sich an die Stereotypisierung der Geschlechtsrollen gewöhnt haben. "Selbst wenn ein Mädchen so geschildert wird, daß es sich in seinem Ringen, sich selbst zu finden, nach innen wendet, und ein Junge sich aggressiv mit der Außenwelt auseinandersetzt, so symbolisieren doch beide zusammen die zwei Arten, wie man zum Selbst hinfindet: dadurch, daß man sein Inneres wie auch die Außenwelt verstehen und meistern lernt. In diesem Sinn sind die männlichen und die weiblichen Helden wiederum Projektionen zweier künstlich voneinander getrennter Aspekte von ein und demselben Prozeß, den jeder beim Heranwachsen durchzumachen hat, auf zwei verschiedene Personen."35 Anders als die meisten Erwachsenen wissen die Kinder das intuitiv und beziehen das Märchen ohne große Umschweife auf ihre eigenen Probleme, ganz unabhängig vom Geschlecht des Helden. So repräsentieren 'Dornröschen' und 'Jesus' zwei innere Möglichkeiten Dietrichs, Dornröschen eher als Ausdruck seiner aktuellen Situation, Jesus als das, was "einst" daraus zutagetreten wird. Die Zwischenzeit als Dornröschenschlaf, das bedeutet doch, daß sie notwendig ist, aber eben mit einer verheißungsvollen Perspektive versehen. Das tröstet und mahnt zur Geduld. Die Zeit des Rückzugs von der Realität, der ausschließlichen Orientierung nach innen wird mit Sicherheit ein Ende haben. Die Zeit der Alpträume und der nur erträumten, illusorischen Befreiung geht vorüber. Gewiß, etwas von dem Dornröschen-Dietrich wird bleiben, es soll nicht einfach durch Jesus ersetzt, sondern bloß erweckt und verändert werden. Was da in ihm noch schlummert, ist seine sexuelle Identität als Mann; denn

34

Hier stellen sich mehrere Assoziationen fast von selbst ein, von "Hans im Glück" und "Marienkind" bis hin zum Drachentöter und zum alten Vatersturz-Mythos. - Schmidt-Rost (1989, 35 f.) zitiert den Dornröschenbrief als Beispiel für das Konzept einer Gesundung von innen her, ja für die "Naturalisierung des Zentralwertes" der Seelsorge. Das ist mindestens ein Mißverständnis. Wie hieße im übrigen der Gegenpol zur Naturalisierung? 33

Bettelheim 1977, 215. Er weist bes. auf "Amor und Psyche" hin. Vgl. auch R.M. Rosenkötter 1980, bes. 195.

8.3. Madonna, Dornröschen, Jesus

291

noch ist er nicht so weit, als männlicher Held eine Frau zur Frau machen zu können. Und welchem Ziel er entgegenschläft, das ist die integrierte männlich-weibliche Erwachsenheit, eben der "Vollmensch". Nehmen wir hinzu, daß Pfister die jetzige Zwischenzeit als eine Zeit des Kampfes und des Gebetes bezeichnet, so dürfen wir sogar von einem im Vergleich zum Dornröschenschlaf erheblich aktiveren Moratorium sprechen. Noch einmal: Warum gerade Domröschen! In diesem Märchen finden überraschend viele Einzelzüge von Dietrichs Pubertätskrise und seiner aktuellen Konfliktsituation ihren verdichteten Ausdruck. Daher sind wir zu dem Umkehrschluß berechtigt, daß es sich in der Tat um ein Pubertätsmärchen handelt. Die Signifikanz der Sexualsymbolik ist nicht zu verkennen: Wendeltreppe, Tür und Schlüssel, Turmzimmer, Spindel, Blut - die erste Menstruation, beim Jungen die erste Pollution mit dem ersten Orgasmus. Für beide Geschlechter taucht dahinter die Möglichkeit des masturbatorischen Orgasmus auf. Domröschen ist 15 Jahre alt, Dietrich gibt sein Alter zur Zeit der Befleckungsszene mit 16 an. Dies alles, sagt das Märchen, kommt bestimmt, auch wenn die Erwachsenen, vor allem die Eltern, es innerlich ablehen, nicht wahrhaben wollen oder sogar aktiv zu verhindern suchen. Dornröschens Vater, der König, verhält sich hier nicht prinzipiell anders als Dietrichs Eltern, seine Mutter zumal (also jeweils der gegengeschlechtliche Elternteil!). Die Zeit ist noch nicht reif, Dornröschen verfällt in den Tiefschlaf des Unbewußten, d.h. das Erlebnis bzw. das eben aufgeblitzte Wissen wird verdrängt. In seinem Buch "Virginität in der Ehe" berichtet L.J. Friedman 100 Fälle "nicht vollzogener Ehe", die er untersuchte. 36 Dabei stellte sich bei den meisten der betreffenden Frauen ein sog. Dornröschen-Syndrom heraus, gekennzeichnet vor allem durch die Genitalien, z.B. die Furcht vor Verletzung beim Koitus. Die Sexualität dieser Frauen "schläft" gewissermaßen, sie verbleiben in einer vollständig infantilen und passiven Einstellung dazu, die sie jedes erwachsene Wissen darüber verleugnen läßt. Dietrichs Abwehrmechanismus scheint eher die Isolierung zu sein. Er reduziert sein Erlebnis auf einen losgelösten Vorgang, dem er den richügen lateinischen Namen gibt, und verleugnet damit einen tieferen Einfluß auf sein sexuelles Selbsterleben. Viel intensiver erlebt er die narzißtische Kränkung durch das Verhalten der Mutter,37 eine Ebene, die man im Märchen höchstens in dem Fluch der bösen Fee angedeutet sehen könnte. Die Dornenhecke, die elterlichen, zumal mütterlichen Verbote, Berührungs-, Wahrnehmungs-, Denkverbote schützen irgendwie vor unzeitiger, nicht zu verarbeitender Erfahrung. Doch zugleich isolieren sie auch, bis hin zu Stillstand und ungelebtem Leben. So kommt der Prinz genau zur rechten Zeit und überwindet die Hecke. Der Kuß ist natürlich das erste bewußte sexuelle Erlebnis, doch darüber hinaus erwacht die bzw. der Geküßte zur reifen Wechselseitigkeit in den geschlechtlichen Beziehungen und damit zur

36 37

Friedman 1963, bes. 50 f.

Als Leiden am Nicht-Vertehen bzw. -Verstandenwerden bleibt diese Kränkung und die mit ihr verbundene narzißtische Enttäuschung und Wut ein Stück weit bestehen. Im Rittertraum gegen Ende der Beratung [Abschn. 1] bleibt das elterliche Schloß verzaubert, umgeben von einem tiefen Graben des Unverständnisses.

292

Die Methodik im Falle Dietrich

Beziehungsfähigkeit und Erwachsenheit überhaupt.38 "Und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende" - wie so viele Märchen endet auch dieses mit dem Ausblick auf eine lange und befriedigende Ehegemeinschaft. Leiden, Einsamkeit, Nichtverstehen und Nichtverstandenwerden, alles hat zuletzt einen Sinn und eine tiefere Notwendigkeit. Der Ruch der bösen Fee erweist sich als ein versteckter Segen, das traumatische Ereignis führt zu guter Letzt ins Glück. Dieses Glück kann nicht nur in der Zweisamkeit bestehen. Denn mit Dornröschen erwacht zugleich ihre (Um-)Welt; die Eltern, das Schloßpersonal, alles wird wieder lebendig für sie. Sie verschläft die Welt nicht mehr. Für Dornröschen/Dietrich gilt es nun, alles in neuem Lichte wahrzunehmen. Diese Perspektive ist mit Sicherheit bei Dietrich dynamisch wirksam. Noch im Verlauf der Beratung erprobt er neue Verhaltensweisen im Umgang mit den Eltern, der Freundin und den Kameraden. Sein Schwanken zwischen Liebe und Haß, zwischen grandioser Idealisierung und enttäuschter Entwertung ist nicht mehr so extrem. Pfister erkundigt sich immer wieder nach neuen Plänen, Einstellungen und Verhaltensweisen Dietrichs; jede Andeutung von neuem Realismus unterstützt und verstärkt er.

In all dem verweist Pfister auf einen anderen, der Dietrichs große, noch schlummernde Möglichkeiten, ja seinen eigentlichen Kern "wachküssen" soll: Jesus als junger Held. Damit sind neue Perspektiven eröffnet, einerseits von nüchternem Realismus, andererseits von grandioser Weite der assoziierten Symbole. Denn der mitreißend-begeisternde Schwung, das ist ja die Grundstimmung des Dornröschenbriefes. In seiner Rolle als Märchenprinz ist Jesus zunächst weniger Identifikations- als Liebesobjekt für Dietrich,39 der von ihm zum erwachsenen Mann-Sein erweckt werden soll. Das entspricht ja seiner Ausgangssituation, denn noch ist er nicht so weit, selbst, wie der Prinz das Dornröschen, ein Mädchen zur Frau zu machen. Aber später wird es dahin kommen, daß Dietrich eine Frau als Gegenüber lieben kann, wie der Vater, wie der Märchenprinz - wie Jesus? Dies zu verneinen, wäre pschodynamisch gesehen sicher falsch, denn warum nicht auch eine Identifikation mit Jesus als Mann. Nur, daß sie, im Dornröschenbrief und anderswo, über die Brücke der Gleichgeschlechtlichkeit gleichsam eingebettet bleibt in die narzißtische Thematik.

38

Zu den Frühformen und Hintergründen des Motivs der "sleeping beauty" vgl. Bettelheim 1977, 216 ff. - In einer alten Fassung wacht Talia/Dornröschen erst auf, als eines ihrer beiden Kinder statt an der Brust an ihrem verletzten Finger saugt. Hier wird das Erwachen zur vollen Weiblichkeit nicht schon in der Vereinigung mit dem Mann gesehen, sondern erst im Mutter-Sein. Die Schwängerung durch einen fremden König, ja sogar die Geburt der daraus erwachsenen Zwillinge erlebt das Mädchen in tiefstem Schlaf! Diese unbemerkte Empfängnis hat sie mit der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria gemeinsam, die ja für Dietrich eine so bedeutsame Rolle spielt. 39 Die gelungene Verbindung dieser beiden elementaren Strebungen sieht Freud als die "höhere Sittlichkeit" im Anspruch des Christentums (GW XIII 151, vgl. Kap. 9.4).

8.3. Madonna, Dornröschen, Jesus

293

Damit aber kommt der Seelsorger wieder ins Spiel. Denn zunächst ist er es ja, der die narzißtische Zufuhr spendet. Er schreibt den Dornröschenbrief, er führt die Gespräche. So verbleibt er einerseits als freundlicher Berater und Begleiter des "erwachenden" Dietrich in einem realistischen Gegenüber zu ihm. Doch in den zentralen Übertragungsfunktionen, Retter zu sein sowie Objekt von Identifikation und Idealisierung, will er über kurz oder lang gleichsam hinter Jesus zurücktreten, die Übertragung auf ihn "überleiten", wie man damals sagte. Wohlgemerkt, damit ist der optimale Ausgang der seelsorgerlichen Beratung beschrieben. In der Regel ist die Mitderfunktion des Analytikers [Abschn. 8], mit Pfisters bevorzugtem Bild: Brücke zu sein zu neuerschlossener sozialer wie symbolischer Realität, keineswegs eine so verschwindende, wie der Sprachgebrauch vielleicht nahelegt. Auf der Ebene der klassischen Übertragung steht der Dornröschenbrief im Mittelpunkt einer bewegten Beziehungsdynamik [Abschn. 6], Und auf der narzißtischen Ebene erlebt Dietrich womöglich weniger ein Zurücktreten Pfisters hinter Jesus als vielmehr eine partielle Verschmelzung beider Gestalten. Von Jesus als gewissermaßen äußerem Glaubensgegenstand ist in der gesamten Beratung von seiten Dietrichs keinmal, von Seiten Pfisters nur noch einmal kurz die Rede. Das ist auch nicht nötig, wenn unsere Annahme stimmt, daß 'Jesus' die narzißtische Qualität der Beziehung zwischen Dietrich und Pfister widerspiegelt, nämlich als Ausdruck des grandiosen Selbst (Jesus als IdealSelbst) wie als Ausdruck der idealisierten Eltern-Imagines (Jesus als IdealIch). Ferner können wir annehmen, daß die narzißtische Qualität von Beziehungen, ist sie stark ausgeprägt und soll dennoch nicht zerstörerisch werden, dringend einer Symbolisierung bedarf und daß religiöse Symbole hierzu in besonderer Weise geeignet sind. Sehen wir auf Dietrich und seine Beziehung zu Pfister, so steht es 'Jesus' viel besser als dem Seelsorger an, Dietrichs Größenphantasien und Idealisierungswünsche aufzunehmen, also narzißtisches Selbstobjekt für ihn zu sein. Daß Pfister so hinter Jesus verschwinden bzw. mit ihm verschmelzen kann, wird sicher durch seine eigene Identifikation mit Jesus gefördert; für Dietrich wohl auch durch die symbolisch aufgeladene Berufsrolle des Pastors und vielleicht sogar durch solche äußeren Parallelen wie das gemeinsame Alter: beide sind Anfang 30. Wir können den Vorgang auch unter dem Aspekt der Trennung sehen [vgl. Abschn. 6]. Der gelingende Trauerprozeß während oder nach einer Trennung kann ja weitgehend beschrieben werden als ein Prozeß der fortschreitenden Verinnerlichung, des Aufbaus innerer

294

Die Methodik im Falle Dietrich

Repräsentanzen für das verlorene äußere Objekt. Je "sachlicher" dieser Prozeß verläuft, umso ich- bzw. selbstnäher wird das Ergebnis sein. Wird z.B. eine fertige Mutter-Imago introjiziert, die Mutter also einfach 'übergeschluckt', können die sie repräsentierenden Anteile dem Ich kaum bereichernd und zur freien Verfügung anverwandelt werden. Je "symbolischer" es in diesem Prozeß der Verinnerlichung und Anverwandlung zugeht, umso flexibler und sozialer wird das Ergebnis sein. Gute Symbole sind öffentlicher Kommunikation zugänglich. So kommt es gewissermaßen zu einem wechselseitigen interpretativen Dialog von intemalisierten und externalisierten Anteilen, denn die neue Repräsentanz (z.B. Jesus) des aufgegebenen Objektes (z.B. der Mutter) ist ja wie dieses selbst beiderorten, drinnen und draußen.

Da es sich bei Jesus ja nicht um eine reguläre Subjekt-Objekt-Beziehung handelt, sprechen wir statt von Selbst-Objekt besser von Jesus als Symbol des Selbst. Dies wird bei Frau A. noch plausibler sein als jetzt bei Dietrich. In diesem Selbst-Symbol sind und bleiben Dietrich und Pfister untereinander als in einem Dritten verbunden. Zugleich weist 'Jesus' in sich selbst noch einmal über sich selbst hinaus auf den himmlischen Vater bzw., wie Pfister es verstehen würde, auf dessen Wesensmerkmal: die universale göttliche Liebe, die höchste und tiefste symbolische Realität überhaupt, die alle menschlichen Gegensätze und Widersprüche in sich begreift. Vor der Hand halten wir fest: Dietrich muß heraus aus dem regressiven Sog der Madonna, aus dem Schoß der eigenen Kindheit. Seine Entwicklung muß gehen von einer eher infantilen, passiv-weiblichen zu einer eher aktivmännlichen Orientierung, in der zugleich statt der passiv-narzißtischen Tönung die aktiv-narzißtische überwiegt. Dieser notwendige Reifungsschritt spiegelt sich wider in der Spannung zwischen den beiden Bildern vom Jesuskind im Schoß der Madonna und von Jesus als jungem Helden, der in eine Bewegung hineinnimmt.

4.

Narzißtische Zufuhr

"Bewundere soviel du kannst, die meisten Menschen bewundern zu wenig", schreibt van Gogh einmal an seinen Bruder Theo. Im narzißtischen Kontext ist die Bewunderung hergleitet von jenem "Glanz im Auge der Mutter", der die lustvolle Selbstdarbietung des Säuglings widerspiegelt.40 Auch beim Erwachsenen bleibt die Bewunderung eine der wirksamsten Formen direkter narzißtischer Zufuhr. In Pfisters Interventionen finden wir eine Fülle davon.

40

Kohut 1973, 141.

8.4. Narzißtische Zufuhr

295

Über die fundamentale Annahme hinaus bestätigt er Dietrich, hebt seine verborgenen Möglichkeiten und Talente hervor, bewundert seine bisherige Arbeit und so fort. Solche narzißtische Speise erhält der junge Mann besonders dann, wenn ihm ansonsten viel zugemutet wird. Diese Eigenart der Pfisterschen Interventionen habe ich schon des öfteren herausgestellt. Erinnert sei besonders an die nur scheinbaren Ermahnungen am Schluß der ersten Sitzung [7.3]. Auch in den folgenden Sitzungen sagt Pfister mehrfach, "in Wirklichkeit" steckte in ihm, Dietrich, ein guter Kern; viele schöne Eigenschaften und originelle Begabungen warteten nur darauf, sich endlich frei entwickeln und betätigen zu können. So heißt es in dem breiten Votum am Ende der zweiten Sitzung über Dietrichs Zwangsvorstellung, er sei geistig abnorm: Darin steckte "ein kleines, aber harmloses Körnlein Wahrheit. Sie waren wirklich in dieser und jener Hinsicht ein klein wenig anders als die Übrigen. Allein dies ist ja an und für sich ein Vorzug! Sie hatten früh eigenartige Erlebnisse; Sie waren gewiß von Hause aus nicht ein bloßer Nachtreter, sondern eine originelle, schöpferische Natur mit eignen Anschauungen und Kräften. Danken Sie Gott für Ihre prächtige wissenschaftliche, poetische und künstlerische Begabung, und seien Sie völlig überzeugt, daß keinerlei Grund zu Befürchtungen wegen erblicher Belastung vorhanden ist! Sie werden sehen, daß die Zwangsvorstellung verschwunden ist, sowie Sie sich das eben Gesagte klar gemacht haben." 41 Wir dürfen es geradezu als Kunstgriff Pfisters bezeichnen, wie er ein Leidenssymptom Dietrichs zum Zeichen eines besonderen Vorzuges macht. Er sagt ihm, paraphrasiert, etwa folgendes: Nur ungewöhnliche Menschen bilden eine Neurose aus. Sie müssen leiden, weil sie anders sind als die anderen. Wer mehr leidet, ist auch differenzierter und schöpferischer als die große Masse. Ein schlichter therapeutischer Trick ohne Realitätsbezug ist das sicher nicht, auch wenn suggestive Elemente eine solche Vermutung nahelegen mögen. Schließlich hat Dietrich tatsächlich ausgeprägte künstlerische und literarische Interessen. Doch für wichtiger halte ich den entwicklungspsychologischen Aspekt. Das noch instabile Selbstwertgefühl des Adoleszenten schwankt stark zwischen den Polen Selbstverachtung und Selbstüberschätzung, sozusagen zwischen ganz klein und ganz groß, winzig und riesig.

41

Dietrich 145, vgl. 144.

296

Die Methodik im Falle Dietrich

In Dietrichs Fall schlägt das Pendel stärker zum negativen Pols aus; dieser ist jedenfalls eher bewußt. So betont Pfister erst einmal den anderen Pol, er gibt gleichsam eine bestimmte Dosis Größe zum Ausgleich eines Defizits. Nun kann es aber nicht das Ziel sein, Depression einfach durch Grandiosität zu ersetzen. Es gilt vielmehr, den Klienten auf der Suche nach seinem "wahren Selbst" (Alice Miller) zu unterstützen, ihm also eine ausgeglichenere, realitätsbezogenere Balance seines Selbstgefühles zu ermöglichen. Am Schluß des zitierten Pfisterschen Votums heißt es: "Daß Sie als gescheiter Mann dies nicht merkten, wundert mich nicht. Von seinen Komplexen läßt sich auch der Intelligenteste beständig narren." 42 Es bleibt bei der Größe, aber sie ist immerhin nicht so beschaffen, daß die "Komplexe" ihr nichts anhaben könnten. Und als "seine" Komplexe gehören sie zu Dietrich selbst, auch wenn er sich gleichsam von fremden Mächten "genant" fühlt. Nach dieser Sitzung schreibt Pfister den überschwenglichen Dornröschenbrief, den wir aus dem vorigen Abschnitt kennen. Darin setzt er die Linie der spiegelnden Bewunderung Dietrichs fort und legt ihm gleichzeitig, wie er es ausdrückt, die Pflicht ans Herz, "die entbundene Kraft in den Dienst hoher ethischer Zwecke und in das Licht der ewigen Liebe zu stellen". So, im Gestus der Einladung, wird Dietrich 'zugemutet', das Ziel (und zuletzt auch den Ursprung?) seiner Grandiosität nicht in sich selbst zu sehen, sondern gewissermaßen außerhalb und vorne. Die symbolische Verdichtung des narzißtischen Potentials, wie am Schluß des vorigen Abschnitts erläutert, finden wir außer im Dornröschenbrief deutlich auch in der fünften Sitzung. Dietrich beklagt sich, er sei gemütsarm geworden, seine Kunstbegeisterung habe abgenommen, seine Phantasie sei verödet. Pfister entgegenet, jener Kunstenthusiasmus sei damals ganz sinnvoll gewesen, doch ruhte er "auf krankhafter Basis und war darum engherzig und einseitig. Von jetzt an ist Ihre Kunstfreude nicht mehr an Madonna und ihre nächste Umgebung gebunden, sondern frei und weit, gesund und fröhlich wie das Evangelium. Aber gönnen Sie sich vorerst Ruhe!

42 Ebd. 146, das Folg. 147. Vgl. A. Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, Frankfurt 1979, bes. 57 ff.

8.4. Narzißtische Zufuhr

297

Ihr Geist hat in den letzten Wochen Riesiges geleistet, indem er ganze Revolutionen vollzog". 43 Wieder finden wir eine bestätigende und bewundernde Äußerung verbunden mit der Öffnung eines größeren symbolischen Raumes, formuliert in einem imperativischen Indikativ ("Von jetzt an ist ..."). Damit verschmelzen Forderung und Gabe ähnlich wie in dem früheren Imperativ, Dietrich solle sich Ruhe "gönnen", ohne daß das suggestive Element zu stark wird. Als Dietrich noch einmal seine Gemütsarmut betont, antwortet Pfister: "Wie, wer aus unglücklicher Liebe zu den Eltern so schwer gelitten hat, könnte wenig Gemüt haben?! Ihr Gemüt war nur noch nicht frei und konnte sich darum nicht nach allen Richtungen entfalten. Jetzt werden Sie alles hübsch nachholen. Damit Sie rasch beruhigt seien, wollen wir morgen wieder zusammenkommen." Sehr deutlich verbindet Pfister die Formulierung des fokalen Konfliktes mit narzißtischer Zufuhr: 'Wenn Sie nicht ein so sensibler Mensch wären, wäre es gar nicht zum Konflikt gekommen!' Zugleich ist die Zumutung progressiver psychischer Anpassungsarbeit, die in dem "Nachholen" liegt, verknüpft mit der Gabe eines sehr raschen neuen Termines. Dietrich reagiert positiv, seine Besorgnis wegen der geistigen Öde ist bis zum nächsten Tag stark zurückgetreten - so der erste Satz des Berichtes über diese, die sechste Sitzung. Diese Sitzung ist es auch, in der sich Dietrichs Geringschätzung der Frauen am deutlichsten äußert. Wir erkennen ihn damit in einem Durchgangsstadium auf dem Wege zu gelingender männlicher Identifizierung, was natürlich auch mit der guten Beziehung zu Pfister zusammenhängt. Es leuchtet ein, daß die homoerotisch-narzißtische Tönung dieser Beziehung ungedeutet bleibt. Der Narzißmus (als die gleichsam natürliche Brücke zwischen Hetero- und Homosexualität) bildet das Ferment der therapeutischen Beziehung und fördert entscheidend die Arbeits- und Lernbereitschaft Dietrichs.44

43 44

Ebd. 181, das Folg. 182.

Auch bei Balint bildet die latent homosexuelle Übertragung des Herrn Baker allerdings, anders als bei Dietrich, auf einer zwanghaft-paranoiden Grundlage - eine wichtige Stütze für die gute, ja fast freundschaftliche Arbeitsbeziehung (1973, bes. 35, 40, 104 f.). Hier wie auch in dem Dreieck Dietrich-Pfister-Jesus kann dieses Öl im Getriebe der therapeutischen Beziehung natürlich viel besser wirken als zwischen Freud und Dora!

298

Die Methodik im Falle Dietrich

In dieser sechsten Sitzung gibt Dietrich selbst eine indirekte Antwort auf die Frage, die wir in unserer Analyse des Erstgespräches als eine unbewußte Anfrage herausgearbeitet haben [7.3]: Was vermögen, gegenüber der Faszination der Madonna, Männer mir zu geben, für mich zu sein - und darin die Frage: Was vermag ich selbst als Mann zu geben, zu sein? Dietrich erzählt, seit der Konfirmation sei er zwar oft in der Messe, aber nie in einem protestantischen Gottesdienst gewesen. Er sei zur Konversion fest entschlossen gewesen, "dann hätte ich die Hostie genommen. Jetzt kommt es mir fast einfältig vor." Stattdessen teilt er Pfister seinen Vorsatz mit, zu Weihnachten das Abendmahl zu nehmen - das ein Pfarrer reicht, wie Pfister einer ist und wie Dietrich selbst im Traum einer war: im zweiten Traum vertritt er einen Pfarrer! 45 Im Abendmahl feiert Jesus mit seinen Jüngern, seinen Freunden Gemeinschaft und Abschied (es ist Dietrichs vorletzte Sitzung). Er läßt ihnen etwas von sich, ja selbst in anderer Gestalt zurück. Also: Von Männern kann Stärkendes und Bewahrendes kommen, man kann es auch in sich hineinnehmen, um selber so zu werden! Auch der nachweihnachtliche Brief mit dem Dank an Goethe und Pfister sowie der Verlauf der siebten und letzten Sitzung Anfang Januar bestätigen, daß die narzißtische Zufuhr bei Dietrich 'angekommen' ist. Er hat in der Beziehung zum Seelsorger neu gelernt, sich als wertvoller Mensch zu fühlen, ohne daß dieses Gefühl auf Dauer an die Beziehung geknüpft bleiben muß. Das erleichtert die notwendige Trennung [Abschn. 6]. In einem Brief an Pfister faßt der norwegische Psychologe Harald Schjelderup dessen besonderen Behandlungsstil zusammen. Dieses Urteil von 1927 erscheint mir immer noch treffend, auch wenn es natürlich stark persönlich gefärbt ist. Denn Schjelderup war, bevor er bei Pfister in wenigen Wochen seine qualvolle Migrände loswurde, monatelang "erfolglos" bei einem Wiener Analytiker in klassischer Behandlung. Pointiert weist er auf die Unterschiede hin: Pfister ist aktiver, er deutet viel mehr und zwar auch auf bestimmte Konfliktsituationen bezogen. "Es war an der ganzen Analyse in Wien etwas Unbefriedigendes und auch für das Selbstgefühl sehr Erniedrigendes... Sie aber legten ein Hauptgewicht auf die eigene Stellungnahme und auf die Einbeziehung. Erst damit scheint die Möglichkeit gegeben, mit den unzweckmäßigen Einstellungen wirklich fertig zu werden. Durch die Anregung der eigenen Aktivität bekommt man auch den Eindruck einer wirklichen Zusammenarbeit zwischen dem Analytiker und dem

45

Dietrich 183, 175. Zum Traum s. Abschn. 1.

8.4. Narzißtische Zufuhr

299

Analysanden. Das Demütigende verschwindet dadurch zum großen Teil, und eine gesundere Übertragung wird ermöglicht." 46 Diese Rückmeldung gibt Pfister an Freud weiter, der ihm in seiner prompten Antwort weit entgegenkommt. Zwar habe Pfister als Seelsorger natürlich das Recht, alle verfügbaren Hilfstruppen heranzuziehen, während "wir als Analytiker" um der zu gewinnenden Selbständigkeit des Patienten willen zurückhaltender sein müßten. Ansonsten aber seien sie beide nicht so weit auseinander, wie er, Pfister, meine. Freud weist auf die Übereifrigkeit mancher seiner Schüler hin. Die Wirkung der Analyse könne durchaus verdorben werden, wenn man verdrossene Indifferenz für einen Bestandteil der analytischen Passivitätsregel halte. Eine herzliche menschliche Beziehung dürfe, ja solle nach Abschluß der Analyse bleiben. 47 In Schjelderups Brief klingt durch, daß Pfister mehr als die Wiener das Selbstgefühl beachtet. "Erniedrigendes" und "Demütigendes" sucht er zu vermeiden. Hier ist Pfister in der Tat schon früh besonders sensibel. Häufig betont er die Gefährlichkeit von Entwertung und Kränkung (die wirklich krank machen kann!) und die zentrale Bedeutung von Selbst(wert)gefühl und Selbstachtung. 48 Damit ist die narzißtische Dimension angesprochen. Pfisters Argument gegen das klassische analytische setring ist allerdings schief: Auf der Couch fühlten sich die meisten "in eine unterwürfige, hilflose Lage versetzt, die sexuellen Phantasien werden leicht geschürt ...'"" Gerade dies soll ja ermöglicht und gefördert werden, nämlich neben Konzentration und Phantasieren die tiefere Regression zur infantilen Situation. Für die analytische Beratung freilich, Pfisters hauptsächliches Arbeitsfeld, ist diese Tiefe nicht regelmäßig angezeigt. Dafür ist bis heute die "natürliche Gesprächshaltung", wie er es nennt, das adäquate setting. Im übrigen verdeckt auch Freuds persönliche Begründung für das Liegen des Analysanden den Kernpunkt: damit vermeide man das "lästige Angestarrtwerden" ... Auch als Berater, vielleicht gerade als pastoralem Berater, gelang es Pfister offensichtlich, bei seinen Klienten ein Stück Regression zu ermöglichen. Dies geschah durch Aktivierung des narzißtischen Potentials. In ihm begegnete der Ratsuchende einem Menschen, mit dem er damals noch weniger als heute rechnen konnte: dem freundlichen Analytiker [9.7].

46 Von Pfister zitiert in einem Brief an Freud, 21.10.1927, Br. 118 f. Auch Läpple hebt diesen Brief besonders hervor (1979, 26 f)- Zu den Gebrüdern Schjelderup vgl. Kap. 11.2. - Sieben Monate bei einem Dr. H. in Wien, symptomfrei nach fünf Wochen in Zürich bei Pfarrer Pfister, dann gemeinsam mit ihm zu einem wissenschaftlichen Kongreß nach Locamo und nach Zermatt in die Berge - in dieser Sequenz steckt viel Pfister-Typisches! 47 An Pfister, 22.10.1927, Br. 120 f. Zu Freuds eigener 'Unorthodoxie' in dieser Hinsicht vgl. Kap. 7.1. 48 Z.B. PE 44. Er kennt auch die Zusammenhänge von Kleinheits- und Größenphantasien, z.B. ebd. 93. 49

PM 390, auch zum Folg. Zur Regression vgl. Kap. 9.6.

300 5.

Die Methodik im Falle Dietrich

Übertragung und Widerstand

Übertragung und Widerstand werden nicht ausdrücklich gedeutet. Das heißt, die Widerspiegelung von Dietrichs Konflikten in der seelsorgerlichen Beziehung spielt reflex keine wichtige Rolle. Manches spricht allerdings dafür, daß Pfister sich bestimmter Momente der unbewußten Beziehungsdynamik bewußt ist50 und sie in seinen Interventionen, manchmal mehr intuitiv, berücksichtigt. Erinnert sei z.B. an seine Äußerung über Dietrichs "starke Komplexbedingtheit bei Einstellung auf mich". Sie bleibt zwar im Zusammenhang etwas dunkel, soll aber offensichtlich auf ein Übertragungsmoment hindeuten. Doch arbeitet Pfister nicht mit Übertragungsdeutungen, sondern an der Klärung des Symptoms bzw. der tieferliegenden "Störung", des "Komplexes". So geschieht diese Arbeit gewissermaßen mit dem Klienten gemeinsam; manchmal entsteht der Eindruck, beide Gesprächspartner arbeiteten an etwas Drittem, an einer gemeinsamen Aufgabe. In einer Beratung ist die Realität der therapeutischen Beziehung als einer Aröe/ttbeziehung für den Klienten weniger leicht zu verleugnen als in einer großen Analyse. Darum ist eine gute emotionale Grundlage dieser Arbeitsbeziehung besonders wichtig [7.3]. Sie soll die Arbeit fördern und nicht hemmen. Qua Person und qua Amt ruft Pfister anscheinend rasch und intensiv die Übertragung positiver Anteile der Eltern - (gute Mutter, guter Vater) oder der Geschwister-Imagines hervor. Nicht zuletzt aufgrund seiner narzißtischen Ausstrahlung gelingt es ihm offensichtlich, anhaltend innerhalb des Rahmens dieser Gestalten zu bleiben. Auf diese Weise wird die emotionale Grundbefindlichkeit und die Arbeitsmotivation des Klienten erheblich gefördert. Auf der anderen Seite sind damit auch bestimmte Grenzen der Beratungsarbeit angezeigt, markiert durch die Stichworte negative Übertragung und Widerstand. Ich meine das Erleben von Haß und Wut auf den Berater innerhalb der aktuellen Beziehung, also die Konfrontation mit der eigenen Aggressivität nicht nur 'draußen', sondern 'drinnen'.

50 Bis zu welchem Grade, ist für uns nicht eindeutig festzustellen. Das gilt auch für einige vergleichbare 'Unterstellungen' in dieser Arbeit. Ähnlich spricht übrigens Argelander (1976, 667) über seine Studien zu therapeutischen Gesprächen Freuds.

301

8.5. Übertragung und Widerstand

Z u m W i d e r s t a n d ( g e g e n p r o g r e s s i v e Selbsterkenntnis) kann s o w o h l d i e n e g a t i v e w i e d i e p o s i t i v e Übertragung werden, d i e n e g a t i v e z . B . g e g e n das B e w u ß t w e r d e n tieferliegender A b h ä n g i g k e i t s w ü n s c h e , d i e p o s i t i v e z . B . g e g e n t i e f e r l i e g e n d e a g g r e s s i v e Impulse. N u n ist e s aber d i e Frage, w i e w e i t in der Beratung

direkte Übertragungsdeutungen, vor a l l e m i m S i n n e v o n D e u t u n g e n

des Übertragungswiderstandes,

angebracht sind. E s gilt j a i m A u g e

behalten, d a ß der Beratungsarbeit zeitlich und inhaltlich e n g e

zu

Grenzen

g e s e t z t sind. Z w a r ist d i e Übertragung ein ubiquitäres P h ä n o m e n ; sie e n t w i c k e l t sich a u c h in einer zeitlich sehr begrenzten B e z i e h u n g . D o c h k ö n n e n hier w i c h t i g e Facetten f e h l e n , und, das ist der g e w i c h t i g s t e E i n w a n d , e s fehlt d i e Zeit, d i e u n b e w u ß t e B e d e u t u n g tiefer Übertragungsanteile gründlich durchzuarbeiten. S o läßt der Berater sie e i n f a c h bestehen, a u s g e s p r o c h e n oder u n a u s g e s p r o c h e n , u n d arbeitet mit s e i n e n Interventionen g l e i c h s a m auf ihr aufruhend, n e b e n ihr o d e r durch sie hindurch ( s o wäre Pfisters Stil w o h l a m e h e s t e n zu charakterisieren). Oder e s k o m m t zu Übertragungsdeutungen, d i e selektiv nur d i e A n t e i l e herausgreifen, d i e sich mit d e m F o k u s verbinden lassen. In der Theorie von Beratung und Kurztherapie gibt es bis heute sehr verschiedene Meinungen zu der Frage, ob und wie mit Übertragun¿»ideutungen zu arbeiten sei. Allerdings scheint ein Konsensus zu bestehen über den guten Sinn von so etwas wie Beziehungsdeutungen, konfrontierenden Rückmeldungen in Bezug auf die aktuelle Interaktion zwischen Klient und Berater. Etwa so: Sehen Sie, das machen/erleben Sie hier und jetzt mit mir, machen/erleben Sie das nicht auch mit anderen? Oder, stärker als auf die aktuelle Lebenssituation auf die infantile Szene des Klienten bezogen, damit auch näher an einer Übertragungsdeutung: Haben Sie das nicht früher auch so gemacht/erlebt? Doch damit eilen wir der von uns fokussierten Zeit weit voraus. Die Sicht des therapeutischen settings als einer (auch) realen51 und wechselseitigen Beziehung ist erst in den letzten Jahrzehnten aufgekommen. Jedenfalls hat sie erst dann ihren theoretischen Niederschlag gefunden, unter anderem mit Hilfe der Kommunikationstheorie. Vorher standen nur die Konzepte Übertragung und Widerstand zur Verfügung, und auch die zu Beginn des Jahrhunderts erst im Ansatz. Wir haben ja bereits gehört, daß Freud die enorme Bedeutung der Übertragung erst während der nachträglichen Reflexion über den Fall Dora aufgegangen ist; in der therapeutischen Arbeit selbst ist sie noch kaum berücksichtigt. Als Pfister die Psychoanalyse kennenlernt, ist das schon anders. Wir wissen bereits, daß Freud seine Ansicht, Pfister brauche wahrscheinlich die strenge Widerstandstechnik nicht, mit dem Hinweis auf seine spezifischen Arbeitsbedingungen begründet: Er treibe "ja

51

Üblicherweise unterscheidet man zwischen rationalen, relativ 'gesunden' und irrationalen, neurotischen Anteilen in der therapeutischen Beziehung (vgl. Beck, 1974, 46). Diese Differenz entspricht der Unterscheidung von 'realen' und Übertragungs-Anteilen. Zum Konzept der Konfrontation in der Beratungstheorie und zum Unterschied von Beziehungs- und Übertragungsdeutung vgl. Lüders 1974, 113 ff.

302

Die Methodik im Falle Dietrich

Psychoanalyse im Dienste der Seelsorge an jugendlichen, von dem Ernst der Erotik meist noch entfernten Personen". 52 Freud meint wohl, bei weniger ernster erotischer Problematik sei auch der Widerstand gegen deren Bearbeitung geringer bzw. für die Arbeit nicht so wichtig. Diese Ansicht erscheint zumindest einseitig, denn Pfisters bisherige Klienten waren, wie Freud wußte, keineswegs Kinder, sondern Jugendliche in der mittleren und späteren Abdoleszenz. Sie waren also in bestimmter Weise sehr ernst mit der Erotik konfrontiert, wir brauchen nur an Dietrich und Dora zu denken. Doch abgesehen von dieser mißverständlichen Begründung - vielleicht hat das Wort Seelsorge in der zitierten Briefstelle von 1910 auch ein eigenständiges Gewicht - stimmt die Meinung Freuds ja mit Pfisters analytischer Praxis überein.

Wenn Pfister auch nicht explizit mit Übertragung und Widerstand arbeitet, so sind diese Phänomene in seiner Arbeit natürlich virulent. Wie also geht er mit ihnen um? Zunächst und vor allem: Die positive Übertragung ist gleichsam selbstverständlich anwesend, so wie Freud es scherzhaft an Pfister schreibt: "Es ist wie mit der Allgegenwart des göttlichen Wesens. Anwesend Herr X und Frau Y, außerdem sieht noch der liebe Gott zu, der ist aber selbstverständlich und darum wird von ihm nicht gesprochen."53 Als Widerstand bleibt ihm dann noch die negative Übertragung, feindselige Gefühle gegenüber dem Analytiker und/oder der Analyse. In der Bemerkung Dietrichs zu Beginn des Erstgespräches, es falle ihm sehr schwer, sich auszusprechen, nimmt Pfister "den bekannten Widerstand der verdrängten Komplexe gegen ihre Auffindung wahr". Können wir darin eine Tendenz Pfisters sich ankündigen sehen, den Widerstand von seiner (Dietrichs!) Person weg auf die "Komplexe", auf das "Unbewußte" zu verschieben? Damit wäre er selbst gleichsam festgehalten in der positiven Übertragung und in ihren realen Anteilen. Dem würde auch der durchgängige Eindruck

52 53

An Pfister, 5.6.1910, Br. 38.

An Pfister, 19.7.1910, Br. 40; das Folg. Dietrich 110 f. - Bei Pfister haben wir es hier freilich mit Herrn X und Herrn Y (Dietrich) zu tun! Davon, vom lieben Gott wie der ebenso allgegenwärtigen Übertragung, kann jedoch, ja soll manchmal sogar gesprochen werden, und nicht erst, wenn das Phänomen negativ wird, wie der Briefpartner meint (ebd.). So etwa können wir Pfister hier imaginär antworten lassen. Denn für ihn hat die anscheinend selbstverständliche Allgegenwart der Übertragungsliebe in der Tat etwas zu tun mit der Universalität der Liebe Gottes. Diese Liebe braucht aber einen Mittler, darum sieht Pfister das Mittleramt Christi in Analogie zur Mittlerfunktion des Analytikers in der Übertragungssituation (NTPsa 434 ff., dazu Kap. 8.8). - Freud sieht die positive Übertragung am Beginn der Behandlung sich fast "von selbst" herstellen (GW VIII 474).

8.6. Die schwierige Aggression

303

bei der Lektüre der Fallgeschichte entsprechen, daß beide, Klient und Berater mit etwas Drittem kämpfen, in Dietrich ("verdrängte Komplexe", "Besessenheit") bzw. außerhalb seiner ("schmerzlichen Erlebnisse"). Je schneller, desto lieber will Pfister über die "Enge der Übertragung" hinaus, wie er es einmal nennt.54 Beide Seiten der Übertragung verweisen über sich selbst hinaus, die negative eher zurück auf die 'bösen' Komplexe, die positive eher nach vorn auf eine symbolische Sinnwelt. Die positive Übertragung kann leicht auf Ethik und Religion sublimiert werden, wie Freud Pfisters Vorgehen des öfteren kommentiert, die negative birgt eher die Gefahr der Desublimierung in sich, die Möglichkeit "minderwertiger Kompensationen". Beide Seiten der Übertragung schwingen mit in dem "Kampf' der Werte und Ideale, in dem Pfister sich selbst in einer über den engen Raum der Übertragung hinausweisenden Gemeinsamkeit mit Dietrich stehen sieht. So spielt der Widerstandscharakter der Übertragung, der eher beiläufig erscheinenden negativen ebenso wie der bei Pfister so auffälligen positiven Übertragung, im Verlauf der Beratung kaum eine Rolle. Und doch holt ihn der Widerstand ein, auf eine eher für ihn selbst als für Dietrich typische Weise.

6.

Die schwierige Aggression

Es ist Dietrich, der Pfister dazu nötigt, das Thema Widerstand wenigstens einmal explizit aufzunehmen. Die zweite Sitzung mit den Kindheitserlebnissen Dietrichs, dem Züricher-See-Traum und den ausführlichen Erklärungen am Schluß scheint Pfister ein "gewaltiger Fortschritt", war doch auch Dietrichs "innerer Jammer" weitgehend verschwunden. Aus Gründen der Zeitersparnis setzt er die nächste Sitzung drei Wochen später an und fordert den jungen Mann gleichzeitig auf, "das zurückgebliebene Material selbst und zwar schriftlich auszuladen". Pfister schreibt dies in einem Brief eine Woche nach der zweiten Sitzung; der Brief steht also in gewisser Weise für die

54 PM 470. Zum Folg. Dietrich 180, Br. 38. - Zu Pfisters zwiespältiger Einstellung zur "Übertragungsnot" vgl. auch PE 131, WuS 69. Selbstkritisch meint er später, er habe früher einzelne Symptome suggestiv überrennen wollen. So seien manche raschen Heilungen bloß "unter dem suggestiven Einfluß einer starken positiven Übertragung zustande gekommen" (LK 361). Vgl. Kap. 7.3.

304

Die Methodik im Falle Dietrich

dritte Sitzung (zwischen der ersten und der zweiten Sitzung lag auch eine Woche). Es ist dies der gleiche Brief, dessen enthusiastische Fortsetzung wir als Dornröschenbrief bereits kennen. Was aber geschieht? "Wer einfach ausblieb, war Dietrich! Und ich hatte ihn doch sorgfältig vor dem üblichen Widerwillen, der sich gegen den Psychoanalytiker erhebt, von vornherein gewarnt und damit die Gefahr zu überwinden gehofft!"55 Einen Tag später trifft ein Rechtfertigungsbrief Dietrichs ein, geschrieben wahrscheinlich am Vortage, also am Termin der von Pfister festgelegten Sitzung, doch zu spät, um ihn nicht umsonst warten zu lassen! Die Kernsätze des Briefes lauten: "Ich habe es nicht über mich gebracht, über meine Eltern zu richten. Ich wäre trotzdem gerne wieder gekommen. Jedoch die Eltern sehen es ungern (...) Ich ... werde versuchen, die Sache für mich weiter zu verfolgen. Wie es mit mir noch kommen mag, wissen die Götter! Also ich bitte Sie, lassen Sie die Angelegenheit meinen Eltern zuliebe ruhen." Pfister faßt seine Reaktion in einem einzigen Satz zusammen: "Natürlich verlangte ich nun unter Hinweisung auf die noch immer ernste Gefahr und die Unmöglichkeit eignen Abreagierens in diesem Falle eine Besprechung." Die kommt denn auch eine Woche später, also im gewohnten Turnus, zustande. Pfister beginnt den Bericht darüber mit der Feststellung, Dietrichs Ergehen sei seit der letzten Sitzung anhaltend wie umgewandelt ... Halten wir im Blick auf den vorigen Abschnitt zunächst fest: Pfister geht explizit und spezifisch nicht auf Dietrichs agierten Widersland ein, sondern benennt ihn nur als in der psychoanalytischen Arbeit übliches Phänomen. In selbstverständlicher Autorität als Fachmann, sei es nun der Seelsorger oder der Therapeut, besteht er auf dem äußeren Arrangement und seinen Regeln, obwohl oder gerade weil diese soviel weniger festliegen als in der Arzt-Patient-Situation. Pfister läßt Dietrich nicht die vermeintliche Freiheit zu gehen, anders als Freud, der auf Doras einsamen Entschluß, heute sei die letzte Sitzung, antwortet: "Sie wissen, daß Sie die Freiheit auszutreten, immer haben. Heute wollen wir aber noch arbeiten. Wann haben Sie den Entschluß gefaßt?"56

35 56

Dietrich 147, vgl. 111. Die folg. Zitate 147 f.

GW V 268, das folg. Zitat VIII 387. - Pfister ist wohl auch nicht so in das Beziehungsgefüge Dietrichs verwickelt wie Freud in das Doras [7.7].

8.6. Die schwierige Aggression

305

Deutlicher als Freud bleibt Pfister Anwalt der klaren äußeren Realität (der Beratung) gegenüber der verwirrenden inneren Realität (der Eltern-Imagines) Dietrichs, damit auch, wenn man so will, wie in der ersten Sitzung ein Anwalt seiner Ich-Funktionen. Als Dietrich nun seine innere Auseinandersetzung mit den Eltern in dem Pendeln zwischen ihnen und Pfister auch nach außen kehrt, versteht Pfister es offensichtlich, sich da nicht hineinziehen zu lassen, sondern ruhig in seiner Rolle zu bleiben. Jedenfalls hören wir nichts von irgendwelchen Kontakten mit den Eltern. Das ist nicht selbstverständlich, läßt sich doch das seelsorgerliche setting noch weniger nach außen abdichten als das ärztliche. Was die Behandlung der "Angehörigen" betreffe, schreibt Freud 1912, so gestehe er seine völlige Ratlosigkeit ein.

Geht die Beratung nun einfach so weiter oder ist das irgendwie berücksichtigt, was in dem Briefabtausch verdichtet aufbricht? Vergegenwärtigen wir uns den Ablauf, wie ich ihn geschildert habe, so springt zunächst ins Auge: einer läßt den anderen hängen! In seiner hohen narzißtischen Empfindlichkeit mag Dietrich es als Herabsetzung erleben, daß der Pfarrer auf seine Kosten Zeit spart und ihn Gott anbefiehlt. Muß Dietrich Pfisters Verweis auf die Welt hoher Ideale und ewiger Liebe nicht auch als ein Abspeisen empfinden? Statt Pfister selbst soll Jesus ihn "wachküssen"! Auch wenn Dietrich die große Nähe von Jesus und Pfister realisiert, so könnte er den begeisterten Brief doch eher als ein ersatzweises Eindecken mit den von einem Pfarrer gewohnten Vorräten erleben denn als Einladung zu eigenem Glück. Plötzlich soll er allein weiterarbeiten und weiterkämpfen, wo doch der Seelsorger so viel selbst übernahm und ihm dabei auch so viel gab - denken wir nur an das dreiseitige Votum, mit dem die zweite Sitzung abschloß! Wir dürfen hier, im Anschluß an unsere früher entwickelte Hermeneutik Pfisters [3.4], einen wenig bearbeiteten Gegenübertragungsanteil vermuten: Abwehr eigener negativer, aggressiver Impulse (Haß) durch Verleugnung bzw. Forcierung der gegenteiligen Strebungen (Liebe). Pfister selbst weist uns ja auf die Neigung bestimmter "Typen" zu "überschwänglicher Liebesabgabe" hin!57 Doch das Verleugnete bringt sich auf andere Weise zur Geltung. Es setzt sich 'in Szene' in dem brieflich-terminlichen Gerangel, also verdichtet in der aktuellen beraterischen Situation. Hier agieren beide, Pfister und Dietrich, zugleich einen je eigenen unbewußten Anteil ihrer

57 PM 181, Anm. 2, Und er kennt auch "Liebe als Reaktion auf verdrängten Haß" (CA 449), womit er auf die Reaktionsbildung als einen der klassischen Abwehrmechanismen anspielt. Vgl. dazu Anna Freud o.J., 36 (zuerst 1936).

306

Die Methodik im Falle Dietrich

Beziehung, statt ihn zu verstehen - welche Feststellung von uns aus gesehen natürlich recht wohlfeil ist. Auf sehen Pfisters führt dies u.a. zu einem technischen Fehler. Seine "Maßregel" ist falsch plaziert und kommt zu früh. Das spürt er auch selbst, denn im Rückblick meint er über sie, "durch den gewaltigen Fortschritt [der zweiten Sitzung] ein wenig übermütig geworden", habe er beinahe die Vollendung des Werkes vereitelt. Auch die breiten Erklärungen am Schluß der zweiten Sitzung hält er im nachhinein für "vielleicht ein bißchen waghalsig früh". 58 Eine weitere Determinante für Dietrichs Verhalten finden wir in seiner problematischen Elternbeziehung. Es fällt ja auf, daß er es in seinem Entschuldigungsbrief in der Schwebe läßt, ob er nun auf Veranlassung seiner Eltern oder aus eigenem Antrieb wegbleibt. Jedenfalls soll Pfister die Angelegenheit ihnen "zuliebe" ruhen lassen. Dies deutet darauf hin, wie innig verbunden mit den Eltern sich Dietrich weiterhin empfindet. Schon die innere Distanzierung, die darin liegt, von den schmerzlichen Erfahrungen mit den Eltern zu erzählen, sowie den Ansatz von Kritik, der in einer realistischeren Sicht der Eltern liegt, erlebt Dietrich so, als werde über die Eltern "gerichtet". Hängt von der Wertschätzung der Eltern (durch andere) das eigene Selbstgefühl ab, so finden wir neben der auf elterliche, besonders väterliche Ersatzfiguren verschobenen Wut bezüglich der Eltern selbst ein intensives Schamgefühl, weil Kritik an ihnen so entsetzlich kränkend und beschämend ist. In ihrem Aufsatz "Probleme der Idealisierung" schreibt Margarete Mitscherlich: "Wut und Scham sind offenbar benachbarte Erregungen, denn oft wechseln die Verhaltensweisen eines in seinem Selbstwertgefühl gestörten Menschen zwischen Wut- und Schamreaktionen.'

38

Dietrich 147, 143, zum Folg. vgl. 147 f.

" M. Mitscherlich 1973,1109. Sie fährt fort: "Der Ursprung der Schamgefühle läßt sich meist auf Kränkungen exhibitionistischer Wünsche zurückführen, etwa wenn man sich selber oder jemand anderen, mit dem man identifiziert ist, im Zentrum der Aufmerksamkeit erlebt und von seiner Umwelt Lob, Liebe und Begeisterung erwartet, dies aber ausbleibt, oder man sich gar der Kritik, Ablehnung oder Lächerlichkeit ausgesetzt sieht." Dazu sei daran erinnert, daß Dietrich in der Zeit der größten Konflikte mit den Eltern gegen ihren Willen Künstler, Maler werden wollte. In der 5. Sitzung überreicht er Pfister eine Zeichnung der Madonna/ Freundin (180, Reproduktion 148, vgl. 141).

8.6. Die schwierige Aggression

307

Etwas von der Wut bekommt Pfister, trotz aller narzißtischen Gabe, indirekt zu spüren, indem er einfach sitzengelassen wird. Sicher bedeuten die beiden bisherigen Sitzungen für Dietrich auch, daß sein mühsam kontrolliertes Selbstgefühl erheblich durcheinander gebracht ist. Außerdem zieht Pfister auch einen Übertragungsanteil der auf väterliche Ersatzpersonen wie den Religionslehrer verschobenen ödipalen Aggression auf sich. Wie er damit umgeht, haben wir gesehen, nämlich daß er nicht ausdrücklich darauf eingeht. Bemerkenswert bleibt jedoch, daß Pfister Dietrich am Beginn der folgenden Sitzung eine "möglichst unheimliche Stelle" aus Kleists Werken aufsuchen und vorlesen läßt. Dietrich wählt die Szenerie eines Leichenzuges aus der "Familie Schreckenstein" (für "Schroffenstein"!).60 Im Hintergrund stehen eine Familientragödie und Kleists Selbstmord. Als Pfister in einer späteren Sitzung den Leichenzug wieder aufnimmt, assoziiert Dietrich sofort dazu die für ihn so wichtige Prozession. Sie wird ja von dem Bischof angeführt, einer guten Vatergestalt mit Zügen des geliebten Großvaters. Aber wer könnte die Leiche sein? Nach anfänglichem Widerstand meint Dietrich selbst: "Als Leiche könnte ich im Leichenzug jenen Pfarrer gewünscht haben, den ich mit dem Vater identifizierte". Er gibt also selbst einen Todeswunsch gegenüber dem Vater zu, doch gebunden an das Bild der Leichen-Prozession, in dem beide Seiten der ödipalen Ambivalenz zusammengehalten und aufgehoben sind. Etwas später in der gleichen Sitzung reagiert Dietrich auf Pfisters Vorgabe "freundlich" mit dem Satz: "Ich stellte mir gestern Abend das freundliche Gesicht meines Vates vor". Natürlich ist es jetzt das freundliche Gesicht Pfisters, das er vor sich sieht. Daß die zeitweise große Offenheit Dietrichs und seine enormen Fortschritte nicht nur auf die Arbeit mit Szenen und Bildern zurückzuführen sind, sondern auch stark an der Übertragung hängen, ahnt Pfister selbst. Denn er schließt seine Bemerkung von der "noch immer starken Komplexbedingtheit bei Einstellung auf mich" direkt an Dietrichs Satz über das freundliche Gesicht des Vaters an. Als Pfisters Idealziel können wir annehmen, beide Bilder in dem Symbol des freundlichen Vaters im Himmel zu relativieren und aufzuheben.

So, im Zusammenhang der ödipalen Ambivalenz, ist das Thema Aggression immerhin aufgenommen und in eine gewisse Nähe zum Fokus gebracht. Diese Nähe wird im Fortgang noch deutlicher, denn nun geht es um die positiven Gefühle gegenüber den Eltern, auf dem Hintergrund der negativen. Dann folgt der zweite, der Ritter-Traum mit der früher erläuterten "positiven" Deutung des darin enthaltenen Doppelselbstmordes [Abschn. 1], Es handelt sich ja um Dietrichs eigene "Familientragödie". Immerhin kann er zum "Verdacht" der Traum-Eltern jetzt assoziieren:

60

Dietrich 148, das Folg. 176-181.

308

Die Methodik im Falle Dietrich

"Die Eltern wollten mich nicht zu Ihnen gehen lassen. Es handelte sich darum, ihre Fehler anzuzeigen." Damit sieht Dietrich ganz richtig, daß in manchen Äußerungen Pfisters in der voraufgegangenen Sitzung durchaus Kritik an seinen Eltern, vor allem an dem Vater mitschwang [Abschn. 2]. Spürt Dietrich das zunächst deutlicher als Pfister selbst sich zugeben mag? Immerhin sieht dieser jetzt den Zeitpunkt gekommen, Dietrich auf seinen eigenen Anteil an seiner Krankheit hinzuweisen. Denn es soll ja nicht so ausgehen, daß alle Schuld am Vater hängenbleibt, daß er allein für den ganzen Jammer mit Dietrichs Madonnenliebe verantwortlich gemacht wird. So nämlich deutet Dietrich es noch in einem Einfall zum zweiten Traum an. Ohne innere Distanz und Neueinstellung zum Vater erscheint Pfister eine reife Lösung nicht möglich. Diese "Zumutung"61 wird gleichsam versüßt mit einer Andeutung von ödipalem Triumph über den "armen, unter Komplexen leidenden Vater". (Vielleicht will Pfister diesen Triumph gewissermaßen gleichgewichtig verteilen mit der redaktionellen Bemerkung, der Vater wisse jetzt ziemlich viel von der überstandenen Krankheit seines Sohnes!) In der Sichtweise des Vaters als Problemfall, als 'Patient' ist die ödipale Aggression kanalisiert. Eine wirklich konstruktive Möglichkeit steckt jedoch erst in Pfisters Frage, ob nicht auch der Vater ein "Opfer schrecklicher Erinnerungen" sei, nämlich so wie Dietrich selbst. Auch der Vater war einmal Sohn und hatte es schwer - in diesem Identifikationsangebot ist tendenziell die Überwindung der mörderischen Anteile des ewigen Konfliktes enthalten, daß jede Generation ihr Lebensrecht gegen die vorhergehende erkämpfen muß und dann doch selbst unsterblich sein will. Pfisters Zusammenfassung 35 Jahre später vermeldet bündig und trocken: "Mit dem Vater söhnte er sich aus, da er dessen Fehler als neurotisch und den eigenen Charaktermängeln verwandt erkannt hatte." 62 In den Voten an Dietrich selbst klingt diese Schicksalsgemeinschaft von Vater und Sohn immer wieder an. Beide haben ihren eigenen, auch

61 Vgl. PM 496-498 wo allerdings zunächst die Zumutung von Leistungen der Therapie gemeint ist. Zur Neueinstellung vgl. Dietrich 180. 62

CA 280, die folg. Zitate Dietrich 178 f., 148.

außerhalb

8.6. Die schwierige Aggression

309

schuldhaften Anteil an der Zuspitzung von Dietrichs Krankheit, ebenso der Pfarrer im Religionsunterricht, unter dem Dietrich so zu leiden hatte. Die Wut über die durch ihn erlittene Kränkung erweist sich als so hartnäckig, daß Pfister einwendet: "Ihren Pfarrer beurteilen Sie zu schroff. Nicht daß ich ihn von aller Schuld freisprechen wollte! Allein sein Zorn war doch menschlich begreiflich ... Die Gefahr, in der Sie schwebten, konnte er unmöglich kennen." Indem Pfister die Eltern und ihre Vertreter ein Stück weit entlastet, verweist er Dietrich auf sich selbst, auf seine Schuld und Verantwortlichkeit und darin auf seine eigene Aggressivität. Diesen Vorgang interpretiert Pfister immer wieder als Erlösung und Befreiung, und selten fehlt eine Zukunftsperspektive, etwa so: Ich möchte "Sie dringend einladen, ihre frei werdenden Kräfte sofort richtig zu betätigen. Beschäftigen Sie sich mit großen ehtischen und religiösen Problemen und üben Sie sich in der Zucht des mathematischen Denkens!" Pfister verbindet also die positive Wertung der Triebkräfte, auch der aggressiven, mit dem Angebot ihrer Sublimierung. Der Eindruck, das Gefährliche ist segensreich, wenn man nur richtig damit umgeht, entsteht auch dadurch, daß bestimmte Szenen und Bilder die gesamte Beratung hindurch im Mittelpunkt bleiben und immer wieder neu beleuchtet und gedeutet werden. So können wir, in Pfisters Worten, den "Umschwung" bei Dietrich selbst beobachten, etwa anhand der Szene von der Prozession, die zwischendurch zum Leichenzug wird. Manchmal erscheint Pfisters Arbeit so, als würden böse Dämonen entmächtigt bzw. in den Dienst eines Höheren gestellt. "Leben heißt, dem Bösen nicht glauben", so schreibt Pfister einmal Mitte der 20er Jahre.63 Diese Wendung, ursprünglich gegen das "radikal Böse" Kants formuliert, bleibt bezeichnend unbestimmt. Wir können daraus hören, daß es gilt, das Böse wahr- und ernstzunehmen, ohne an den endlichen Sieg der Mächte der Zerstörung zu glauben. Vom Ende an den Anfang gerückt: Das Böse liegt nicht auf dem Grund der Dinge. Damit ist ein Wort Freuds aufgegriffen (s.u.), der dies freilich umgekehrt

63

Wesen der Offenbarung (1927), 23 f.

310

Die Methodik im Falle Dietrich

von der Liebe sagt. Er bestreitet ihre Priorität und Dominanz, was für Pfister der Ausgangspunkt seines Denkens ist. Ungewöhnlich dezidiert stellt er einfach fest: "Aller Haß entstammt einer Hemmung des Liebeswillens ... Nur die Liebe ist primär." 64 Freud dagegen hält eher den Haß für primär, auch wenn er an Adlers "Weltsystem ohne Liebe" die Rache der beleidigten Göttin Libido vollzieht.65 Hier sind und bleiben die beiden Männer klare Antipoden. Schon 1910 stellt Freud den Gegensatz deutlich heraus, wenn er an Pfister schreibt: "Ich habe, wie Sie zugeben, viel für die Liebe getan, aber daß sie auf dem Grund aller Dinge ruht, kann ich nach meiner Erfahrung nicht bestätigen, es sei denn, man rechnete, was psychologisch richtig ist, den Haß dazu. Dann sieht aber die Welt gleich viel trübseliger aus." Für Pfister erscheint die Welt immer noch trübselig genug, wenn man den Haß bloß als Folgewirkung mißlungener Liebe sieht. Der Tendenz, dem Bösen kein eigenes Wesen zuzugestehen, entspricht ein Zug bei Pfister, den ich schon öfter kritisch beleuchtet habe. Von daher können wir in der Formulierung vom Nichtglauben an das Böse auch hören, es 'weglieben' oder vorschnell durch Ideale verdrängen zu wollen. Jedenfalls steht Pfister manchmal in der Gefahr (die er auch selbst kennt), über die Abgründe des Daseins und die bruta facta der menschlichen Triebnatur mit dem optimistischen Schwung seines "Liebesglaubens" hinwegzugehen. Demgegenüber weist Freud darauf hin, daß die Identifizierung von Anfang an ambivalent ist. Im Rückgriff auf die orale Phase haben wir jemanden zum Fressen gern, im ödipalen Dreieck ist die Identifikation zugleich ein Beseitigen-Wollen usw. 66 Von dieser negativen Seite der Identifizierung sieht Pfister allein die narzißtisch bestimmte Idealfunktion, als "Selbsterhöhung" 67 , als bewundernde Vergrößerung anderer u.ä. Die Liebe ist Anfang und Ende der Wege Gottes. Wie sie allem zugrunde liegt, so ist sie auch die eschatologisch bestimmende Macht: "Gott als absolute Liebe kann nicht seine eigenen Kinder umbringen, dem griechischen Kronos gleich." 68

64 PM 293, vgl. 152 f., 436 f. Darum sind für ihn, anders als für Freud (vgl. Jones II, 521), zuletzt keine tieferen Konflikte zwischen Wahrheit und Liebe möglich [14.4 u. 5]. Im übrigen bestehen hier bemerkenswerte Parallelen zum Liebeskonzept von Michael Balint, vgl. bes. 1966, 160 f. (aus dem Jahre 1951). 65

An Pfister, 26.2.1911, Br. 47, vgl. GW X 102. Zum primären Haß vgl. VIII 451, X 231, XVII 152. - Das folg. Zitat Br. 33 f. 66

Z.B. GW XIII 115 f.

67

Vgl. CA 98 f.

68

Ebd. 489. - Der Titan (Saturn) Kronos ist in der griechischen Mythologie so etwas wie eine unheimliche, kinderfressende Großvaterfigur. Nachdem er seinen Vater Uranos mit einer Sichel entmannt hatte, sagte ihm dieser den Sturz seiner Herrschaft durch einen seiner

8.6. Die schwierige Aggression

311

So bleibt es bei der kategorischen Feststellung: "Das Christentum schneidet dem sadistischen Destruktionstrieb die Wurzeln ab".69 Darum sind auch in der Übertragungssituation die Haßregungen analytisch zu "entfernen", während es die Liebe lediglich zu läutern und umzuwandeln gilt. Diese einseitig-abwehrende Tendenz Pfisters kann mitunter gerade das verdunkeln, was der Theologe Friedrich Delekat schon 1930 als das große Plus der Psychoanalyse hervorhebt: daß mit ihrer Hilfe das Böse eben nicht durch das Ideale verdrängt, sondern aus dem Unbewußtsein hervorgeholt wird.

Werfen wir von daher einen Blick auf den Schluß der Beratung. Am Beginn der letzten Sitzung greift Pfister bewußt noch einmal den Selbstmord einer jungen Tante Dietrichs auf; davon hatte dieser schon in der vierten Sitzung erzählt. Die Tante ertränkte sich vor drei Jahren in der Limmat; sie war damals 19 Jahre alt, so alt, wie Dietrich jetzt. Im Hintergrund stand eine "unglückliche Liebe" (vgl. die Nähe zur Fokusformulierung!). Ähnlich wie Dietrich hatte auch die Tante die Furcht, "düster" zu werden. Dies hatte sie wohl ihrem Bräutigam mitgeteilt, der sich am Tag vor ihrem Selbstmord erschoß. Wie im zweiten Traum haben wir es wieder mit einem Doppelselbstmord zu tun [Abschn. 1], und wahrscheinlich knüpft Dietrich mit dem geträumten Suizid von Burgfräulein/Freundin und Ritter/Dietrich an dieses reale Erlebnis drei Jahre zuvor an. Hatte Pfister den Traum von seiner hellen Rahmenhandlung her als Tod von Dietrichs Madonnenkomplex gedeutet, so geht es jetzt direkter um Dietrichs unglückliches Lebensgefühl. Darum hebt Pfister noch einmal die heilende Kraft der Psychoanalyse hervor, durch die diesen unglücklichen Personen ebenso wie Dietrich und seinem Vater "unsägliches Herzeleid" hätte erspart werden können. 70 Folgerichtig kommt die Rede nun auf Dietrichs eigene Selbstmordimpulse. Schon seit Jahren, seit dem Suizid eines befreundeten Klassenkameraden, hat er phasenweise den sehnlichen Wunsch zu sterben. Seit einem Jahr gibt es den ernstlichen Vorsatz des Selbstmordes, "bald stärker, bald

Söhne voraus. Darum verschlang Kronos alle seine Kinder bis auf Zeus, den die Mutter versteckte und der ihn schließlich bezwang. 69 70

Ebd. 503. Das Folg. WuS 136, Delekat 1930, 582.

Dietrich 183, das folg. Zitat 184, Hervorhebungen von mir. - Zu dem suggestiven Schwung, mit dem Pfister die gehäuften Selbstmorde und schrecklichen Szenen positiv interpretiert, vgl. Abschnitt 1. Zunächst wirkt es schon befremdlich, wenn er zu der düsteren Rittertragödie meint, der "hübsche Traum" bestätige "in recht erfreulicher Weise" Dietrichs Heilungstendenz (ebd. 176).

312

Die Methodik im Falle Dietrich

schwächer, bis ich zu Ihnen kann" (d.i. zu Pfister). Vorher hatte er sich noch gesagt: "Es hat keinen Wert, als unglücklicher Tropf weiter zu vegetieren und in der Irrenanstalt zu enden." Pfister geht wohl davon aus, daß diese Worte für sich selbst bzw. für die seelsorgerliche Arbeit sprechen. In der folgenden Passage lenkt er Dietrichs Aufmerksamkeit noch einmal auf die inzwischen realistischer gewordene Zuneigung zu der fernen Freundin. Neben einem Rest unaufgearbeiteter narzißtischer und ödipaler Wut Dietrichs auf die Eltern und ihre Vertreter ist die Aggressionsdynamik natürlich virulent im Ambivalenzkonflikt der anstehenden Trennung. Insofern entspricht das so hartnäckige Suizidthema der inneren und äußeren Situation so, als sagte Dietrich mit dem "Bis ich zu Ihnen kam" auch: 'Wenn ich mich jetzt auch wieder trennen muß, so wie vorher wird es nicht wieder werden. Denn bei Ihnen habe ich meinen Wert kennengelernt. Deshalb kann ich jetzt ohne Groll gehen, nicht in den Tod wie die vielen anderen, sondern in neuerlebte Beziehungen hinein, zu den Eltern und vor allem auch zur Freundin.' Damit ist jedenfalls die gefährliche Wendung der aggressiven Impulse nach innen und gegen die eigene Person beendet und der Weg eröffnet für ihre mehr oder weniger sublimierte Betätigung. Halten wir also fest, die aggressive Dynamik wird zum Schluß nicht ausgeblendet, sondern adäquat aufgenommen, zumal nach ihrer narzißtischen Seite. Offensichtlich vertraut Pfister darauf, daß für Dietrich der Maßstab seines Wertes weitgehend unabhängig von der Person des Seelsorgers geworden ist. Die günstige Katamnese scheint ihm recht zu geben. Zu einem Dritten über die Zweipersonenbeziehung hinaus hatte er im Verlauf der Gespräche ja auch immer wieder eingeladen.

7.

Die einladende Grundhaltung

Ein eröffnender, einladender Gestus Pfisters durchzieht die Atmosphäre der gesamten Beratung. Wir gewinnen manchmal den Eindruck, im Mittelpunkt stehe weniger das Bemühen, alte problematische Vorstellungen und Verhaltensweisen abzubauen, als vielmehr der Wunsch, neue zu gewinnen. Sie liegen ja schon bereit, in Dietrich selbst, in seinem eigenen Potential. Recht eigentlich aktualisiert wird dieses Potential jedoch erst im Medium der religiös-sittlichen Vorstellungen und Ideale, die gewissermaßen außerhalb seiner und vor ihm sich befinden.

8.7. Die einladende Grundhaltung

313

Wir dürfen davon ausgehen, daß Pfister zunächst einmal zur Identifikation mit sich selbst einlädt und zwar einfach durch sein im Grundtenor so 'positives' Verhalten. Hinzu kommt, der Pfarrer Pfister ist ein Mann von 35 Jahren, recht gut aussehend [Abb. 1, S. V], jung und doch bereits erfahren in seinem Beruf. Darin hat er seit einem halben Jahr endlich die Möglichkeit sinnerfüllter Arbeit gefunden, nach der er so lange gesucht hatte. Wir können uns leicht vorstellen, daß vieles an der Erscheinung Pfisters den 20jährigen Dietrich anziehen muß, nicht zuletzt die Begeisterung, mit der er sich in die mit der psychoanalytischen Methode neu eröffneten Arbeitsmöglichkeiten stürzt. Die Hochstimmung, die Gewißheit, Hilfe schaffen zu können, mag Dietrich 'suggestiv' beeinflußt haben. Ich meine nicht nur verstärkende Formulierungen Pfisters wie "... der bereits analysierten und - nicht wahr? - abreagierten Zwangsvorstellungen ...", sondern auch direkte Heilungsversprechen. So leitet er das breite Votum am Schluß der zweiten Sitzung mit dem Satz ein: "Die Entstehungsgeschichte Ihrer Leiden liegt nun in den Hauptzügen so klar vor mir, daß ich hoffe, Ihnen in allernächster Zeit zur völligen Genesung gratulieren zu dürfen." 71 Im weiteren Verlauf der Beratung sind es weniger Pfister und die Methode als Dietrichs eigene Möglichkeiten, die Aussicht auf Heilung eröffnen. Vorerst jedoch benutzt er sie noch "engherzig und einseitig", kompensativ wie seine künstlerische Begabung, oder sie ruhen noch als gänzlich unerkannte und ungehobene Schätze in ihm. So verbindet Pfister das Heilungsversprechen mit narzißtischer Zufuhr. Dies geschieht eher bewundernd wie im Dornröschenbrief: "Sie werden einst staunen, was für ein glücklicher, liebenswürdiger, tatenfroher Vollmensch in Ihnen steckt!" Oder es geschieht eher auffordernd und anspornend: Pfister verspricht Dietrich einen "herrlichen Siegespreis", wenn er sich nun als "freier Mann" der hohen Sache widmet, die er als seine Pflicht erkannt hat. Oder es geschieht so ermunternd, daß der Aufforderungscharakter fast verschwindet und der Imperativ wie von selbst zum Indikativ wird:

71

Ebd. 144, vgl. 145. Die folg. Zitate 147, 178, 181 f.

314

D i e Methodik im Falle Dietrich

"Freuen Sie sich, denn eine schöne Zeit des Bauens und Suchens, steht Ihnen bevor! Lassen Sie sich ruhig Zeit! Oder wollten Sie, Sie wären noch immer von den verdrängten Komplexen besessen?" Je länger, je mehr im Verlauf der Beratung werden die neuen Möglichkeiten, die in Dietrich ruhen und auf Befreiung warten, bezogen auf Möglichkeiten, die außerhalb seiner liegen, auch außerhalb der "Enge der Übertragung". Es gilt, sie zu ergreifen bzw. sich mit ihnen zu identifizieren. Pfister versucht, den Horizont einer symbolischen Sinnwelt für Dietrich zu eröffnen. Das geschieht kaum einmal im direkten Imperativ ("Beschäftigen Sie sich mit großen ethischen und religiösen Problemen!"), viel öfter in einladender, Perspektiven eröffnender Art, so, als gelte es, auf selbstverständliche Realitäten zu verweisen. So etwa an der schon öfter herangezogenen Stelle, an der Dietrich besorgt meint, seine Phantasie und Kunstbegeisterung veröde immer mehr. Pfister reagiert zunächst mit dem stützendermunternden "Seien Sie ganz unbesorgt!" und der Selbstwert stärkenden Erklärung, der frühere Kunstenthusiasmus sei ja, um den Komplexen zu entgehen, durchaus sinnvoll gewesen. Aus dem gleichen Grunde allerdings, so fügt er hinzu, sei die Kunstfreude auch "engherzig und einseitig" gewesen, darum sei sie von jetzt ab "nicht mehr an Madonna und ihre nächste Umgebung gebunden, sondern frei und weit, gesund und fröhlich wie das Evangelium." Dieser Satz könnte auch ohne Bezug auf das Evangelium gesagt sein, doch gewinnt er dadurch eine besondere Qualität. Indem er die angestrebten Ziele mit dem Evangelium vergleicht, lädt er Dietrich ein, sich selbst und seinen Weg im Lichte dieses Begriffs zu sehen, der hier symbolische Funktion hat. Das Evangelium gilt nicht nur für ihn selbst, auch nicht nur für die Beziehung zwischen ihm und dem Pfarrer Pfister, sondern es weist darüber hinaus auf einen größeren Zusammenhang. Zuletzt zielt die frohe Botschaft (vgl. "fröhlich") auf die Erlösung aller Menschen, sie ist nicht gebunden an das Verhalten einzelner. Als solche transzendiert sie Individualität, obgleich sie inhaltlich gerade darauf abzielt - jedenfalls in Pfisters (liberaler) Interpretation. Diese Verschränkung von individuellem Ausdruck und allgemeiner Geltung gilt mutatis mutandis auch für die Kunst. Doch hat Dietrich seine persönliche "Kunstfreude" vom allgemeinen Verstehen gleichsam abgekoppelt und für seine Zwecke privatisiert. Seine darin ausgedrückte Individuali-

8.7. Die einladende Grundhaltung

315

tät ist nicht frei und kommunikabel, sondern gebunden und getrieben, "komplexbedingt", wie Pfister sagen würde. Sie ist, als Negativfolie zur Bedeutung von "Evangelium" gesehen, unfrei und eng, krank und trauriggrüblerisch. Diese Negativseite bleibt mit "Madonna und ihrer nächsten Umgebung" verknüpft. Fast erscheint es so, als stelle Pfister eine symbolische Gegenwelt hin. Doch steht das Evangelium ja nicht antithetisch zur Madonna, sondern aufhebend, synthetisch. Auch sie wird erlöst. Doch der Verkündiger und der Inhalt des Evangeliums, Jesus, behält natürlich die Funktion, eine Art Gegenfigur zur Madonna zu sein. Jesus ist die viel höhere, ja die höchste Verkörperung der Gottesliebe. Zuletzt also verweist auch Jesus über sich selbst hinaus auf die alles einigende Gottesliebe. Dieses Höchste überhaupt verbleibt in großartiger Unbestimmtheit. Im Dornröschenbrief lädt Pfister Dietrich ein in das "Land der Freiheit und der ewigen Liebe", in das "Reich des Ideals und der Freude". Sein Leben soll verklärt sein "vom Glanz eines seligen Lebensglaubens oder Gottesglaubens oder Liebesglaubens - es ist alles dasselbe!" Was uns wohl als eine inflationäre Ansammlung von höchsten Werten erscheinen mag, als ein etwas tönernes sursum corda, das bezeichnet doch für Pfister und Dietrich die Richtung des Strebens (dreimal "Glauben"), die Eröffnung einer Perspektive, die ihnen beiden gemeinsam ist, aber nicht nur ihnen, sondern vielen Menschen: "Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, um die Weltanschauung ist für Sie und jeden Menschen [also auch für mich, Oskar Pfister!] der Kampf um die volle Gesundheit." 72 Bedeutet das nicht eine Einladung zur wechselseitigen Identifizierung, doch in etwas Drittem, im externalisierten Ichideal, analog dem Vorgang, den Freud in "Massenpsychologie und Ich-Analyse" beschrieben hat? Nur ist das gemeinsame Objekt, das hier an die Stelle des Ichideals tritt, nicht ein Führer, sondern eine (abgesehen von Jesus) eher abstrakte Ideenwelt, wenn auch nicht ohne Bezug auf Dietrichs frühere Ideale.73 Doch offenbar kommt es weniger auf die Inhalte an als auf die Bewegung, die ihnen gemeinsam ist: in die Weite, in die Höhe, nach vom. 72

Ebd. 147, vgl. Br. 15. Mit der Formulierung vom "Kampf um einen geistigen Lebensinhalt" übernimmt Pfister einfach den Titel eines 1907 erschienenen Buches des damals sehr populären Philosophen Rudolf Eucken. 73

Vgl. Freud: GW XIII 73 ff., bes. 115 ff. u. 125-128.

316

Die Methodik im Falle Dietrich

Im Blick auf Dietrichs Situation heißt das: Nicht länger in verhaltener Scham oder Wut die Augen niederschlagen, sondern aufrecht gehen und ebenso nach vorn (Kampf) wie nach oben (Glaube) sehen. Von oben kamen ja auch die großen schwarzen Augen der Madonna, doch deren Macht mußte er sich unterwerfen, von ihr hat er sich bloß passiv ergreifen lassen. Dem "Reich des Ideals" dagegen muß er sich nicht unterwerfen, sondern kann in seine Bewegung gleichsam einsteigen, seine vor ihm liegende Möglichkeiten aktiv ergreifen. Und so geht es im Dornröschenbrief ganz persönlich weiter: "Weiß Gott, Sie sind näher besehen ein Glückskind erster Güte! ... - Und nun Gott befohlen!" 74 Wir sehen, Pfister empfiehlt Dietrich geradezu jenem "Dritten", das hier durch Gott als den Inbegriff der Ideale bezeichnet ist. In seinem Licht kann man ruhig hinsehen, da stößt man nicht, wie die Mutter, auf einen schlechten Kern, da braucht er sich nicht schamvoll bloßgestellt zu fühlen als abnormer Winzling oder voller schmutziger Triebwünsche. Nein, "näher besehen" also nach dem Maßstab des neuen Ichideals (die in Jesus verkörperte Ideenwelt) und dem Urteil des Überich (Gott)75 - ist Dietrich ein Glückskind und sogar eines erster Güte. Von der dritten Sitzung an gehen viele Interventionen Pfisters auf eine neue, realistische Sicht der wichtigsten Bezugspersonen Dietrichs: Eltern und Freundin, Pfarrer und Kameraden. Doch bleibt die Einladung zu einem neuen Realismus, heraus aus den "komplexbedingten Personenverwechslungen", immer verknüpft mit dem Horizont einer symbolischen Sinnwelt. Erst in deren Licht kann Dietrich seine Beziehungen wieder realistisch gestalten. Es ist also nicht die Realität gleichsam nackter, sondern eben symbolisch vermittelter Beziehungen, zu denen Pfister Dietrich einlädt. Dabei spielt das fokale Stichwort Liebe die entscheidende Rolle. Gewiß, zunächst müssen die Realitäten zurechtgerückt werden. Für Dietrich war der Gedanke einer Heirat (der Freundin) unerträglich, denn, so macht Pfister ihm klar, 74 Dietrich 147, das Folg. 141,114. - Dietrich nimmt Pfisters Formulierungen in seinem Antwortbrief direkt, wenn auch in typisch ambivalentem Zögern, auf: "Wie es mit mir noch kommen mag, wissen die Götter!" Von Gott zu den Göttern, immerhin eine weniger starke Verschiebung als von Jesus zu Goethe (ebd. 148, vgl. 183). 75

Vgl. Henseler 1973, 61.

8.7. Die einladende Grundhaltung

317

"man kann doch eine Madonna nicht heiraten, zumal, wenn hinter ihr die eigene Mutter steckt!"76 Doch damit ist die Dynamik der Madonnenliebe nicht reduktinistisch erledigt. Wir erinnern uns daran, daß Pfister Dietrich ermuntert, von nun an in jedem weiblichen Wesen "eine Madonna, eine Trägerin der Gottesliebe zu sehen". Damit werden leibhaftige Beziehungen nicht wegsublimiert, gleichsam ideel verflüchtigt - dagegen steht schon Pfisters ganzheitliches Verständnis von Liebe. Auch die Mutter wird in den neuen Realismus einbezogen. Dietrich spricht davon, seine Stellung zur Mutter sei jetzt "ganz anders". Etwas später meint er, er sei fröhlich, weil er sie liebe. Pfister ist sichtlich darauf bedacht, daß auch in Dietrichs neuer Einstellung zum Vater das fokale Stichwort Liebe eine wichtige Rolle spielt. Dietrich bemerkt einmal, der Vater sei kürzlich nett, aber wortkarg zu ihm gewesen, er, Dietrich, habe ihn jetzt gern, ja lieb. Letztere Ergänzung geschieht auf Pfisters Vorgabe hin. In der nächsten Sitzung gibt er "bösartig" vor, worauf Dietrich reagiert: "Der böse Vater ist artig geworden. Ich sehe sein Wesen ganz verändert." Pfister liegt daran, daß Dietrich seine realen Beziehungen leidlich in Ordnung bringt. Unterstützend wirkt dabei, daß nun die Gewichte der Verantwortung für Dietrichs Misere sorgfältig auf die beteiligten Personen verteilt werden. Wie wir im vorigen Abschnitt sahen, rückt Pfister Dietrich dabei in eine Art Schicksalsgemeinschaft mit seinem Vater. Er bietet ihm also wie mit dem Seelsorger, so auch mit dem Vater die Möglichkeit wechselseitiger Identifizierung an. Das Dritte, Verbindende allerdings ist hier zunächst nicht die ideale Perspektive, sondern die Gemeinschaft der Sünder, in der beide, Vater und Sohn, stehen. Und darin besteht ja wohl der christliche Ansatz zur Meisterung des menschlichen Aggressionspotentials, nicht zuletzt auch der ödipalen Aggression. Wir kehren zum fokalen Stichwort zurück, indem wir die christliche Wahrheit hinzufügen, daß Gott in seiner unermeßlichen Liebe die Gemeinschaft der Sünder als die Gemeinschaft der Heiligen ansieht. Zu dem neuen Realismus, zu dem Pfister Dietrich einlädt, gehören offenbar auch kleinere "Projekte", nämlich "aus Erkenntnissen und Einsichten konstruierte Verhaltensentwürfe", wie Wolfram Lüders sie definiert hat.77 Etwa: In der vierten Sitzung äußert

76

Dietrich 146, das Folg. 149, 177, 181-183.

77

Lüders, 1974, 123.

318

Die Methodik im Falle Dietrich

Dietrich den Plan, den Pfarrer und Religionslehrer, unter dem er früher so zu leiden hatte, am nächsten Sonntag im Gottesdienst zu hören. Vorausgegangen war in der dritten Sitzung ein ausgleichendes Votum Pfisters über die Schuld dieses von Dietrich so lange gehaßten Mannes. Aufgrund einer "dringenden Abhaltung" wird allerdings nichts aus dem Plan, wie es im Bericht über die fünfte Sitzung kurz heißt. Immerhin, dieses Projekt ist zwischen Pfister und Dietrich offensichtlich zur Sprache gekommen, wie z.B. auch Dietrichs Plan, am Weihnachtsfest das Abendmahl zunehmen. Wir wissen auch schon von seiner Teilnahme an Tanz Vergnügungen nach der Gewohnheit der "Altersgenossen". Dietrich steht zunächst sehr ambivalent zu diesen Vergnügungen, die Pfister als "Kompensationserscheinungen" erklärt, ebenso wie Dietrichs plötzliche Freude an protestantischen Kinderliedern, in denen das Wort Engel vorkommt. 78 In dem Brief nach Weihnachten, der Pfister und Goethe Dank erstattet, finden wir dann eine eindeutige negative moralische Bewertung der "Vergnügungslöcher". Offensichtlich liegt dieses Projekt für Dietrich noch zu früh, es fehlt ihm ein Stück innere Freiheit. Aus mancherlei kleinen Hinweisen, naturgemäß vor allem aus der zweiten Hälfte der Beratung, dürfen wir auf weitere Projekte schließen, vor allem Begegnungen und klärende Gespräche mit Vater und Mutter. Sie kommen wohl auch in den Sitzungen zur Sprache, doch finden wir in dem für die zweite Hälfte wesentlich kürzeren Bericht Pfisters nur Andeutungen.

Auch bei den Projekten bleibt der Seelsorger die Brücke zur vollen, nicht mehr neurotisch eingeengten Wirklichkeit, oder, wie Pfister es später sicher nicht ohne Bezug auf 'Dietrich' ausdrückt, er bleibt "der Ritter, der das erwachende Dornröschen verhindert, sich in noch tieferen Burggemächern zu verstecken, und der es in die Welt hinausführt".79 Anders als im Märchen müssen die beiden sich dann allerdings trennen. In typischer Weise erläutert Pfister später diese Brückenfunktion so: Auf der Basis einer "menschlich schöne[n], auf Vertrauen und Dankbarkeit gegründete[n] Beziehung" vermag der analytische Seelsorger "am besten die Brücke ins Land der Freiheit und Menschenliebe zu bilden und sich sobald als möglich überflüssig zu machen."

78 Dietrich 178-183, das Folg. 183. - Engel sind geschlechtsneutral und erinnern an die frühe Kindheit und den Kinderglauben (vgl. ebd. 179). Gegenüber diesem eher regressiven Projekt ist der Besuch der Tanzsäle ein eher progressives. Doch hier fürchtet Pfister nicht ohne Grund eine Überforderung Dietrichs. Vorerst scheint er noch 'sublimiertere' progressive Projekte zu favorisieren, etwa den Briefwechsel mit der fernen Freundin [Abschn. 2], Zur Unterscheidung von regressiven und progressiven Projekten vgl. Lüders 1974, 126-128. - Es ist interessant, daß Pfister die "Kompensationserscheinungen" weiter nicht wertet. Offenbar geht es ihm nur um den inneren Bezug zu Dietrichs Madonnenkultus. Beide Projekte sind noch nicht frei davon zustandegekommen und können darum nicht für sich gesehen und eingeschätzt werden. 79

PM 438. Das folg. Zitat PsaS 93, dazu Abschn. 8.

8.7. Die einladende Grundhaltung

319

Der analytische Seelsorger will die Brücke zur neu verstandenen inneren und zur neu gelebten äußeren Realität des Klienten sein. Beide Funktionen enthalten eine über sich selbst hinausweisende Bewegung und kommen zusammen in der zwischen innen und außen oszillierenden symbolischen Sinnwelt, die an der zitierten Stelle mit den Worten Freiheit und Menschenliebe bezeichnet ist. Es ist diese Symbolwelt, durch die die analytische Arbeit Pfisters von Anfang an vermittelt ist. Seine freundlich einladende analytische Grundhaltung soll transparent werden auf die Symbole einer religiös-sittlichen 0 Sinnwelt hin.* Damit soll dem Klienten aber kein fremdes Deutungs- oder Heilungsschema übergestülpt werden, zumal die Symbole schon innerhalb seiner Konfliktdynamik eine bedeutsame Rolle spielen, wie wir vor allem am Dornröschenbrief sahen [Abschn. 3], Diese Arbeit in, mit und unter einer christlich verstandenen Symbolwelt, deren Horizont das Feld der Analyse zugleich begrenzt und erweitert, scheint mir zum proprium der analytischen Seelsorge Pfisters zu gehören. Er selbst versucht damals, das Spezifische seiner Seelsorge vor allem gegenüber der des Nervenarztes bzw. des ärztlichen Analytikers herauszustellen. Dabei spielt das Stichwort Ethik eine entscheidende Rolle. "Sittliche Selbstbestimmung", so bezeichnet er einige Jahre nach 'Dietrich' das andere Ufer, zu dem er für den Klienten die Brücke sein will.81 Nach der vierten Sitzung mit Dietrich sieht er kaum noch "eigentlich krankhafte Symptome". Doch dürfe der Seelsorger die Behandlung an dieser Stelle noch nicht beenden, wie möglicherweise mancher Nervenarzt. Zwar zeige der Jüngling "sehr schöne ethische Wünsche und Pläne", vor allem eine neue Sicht der Mutter, des Vaters und des langgehaßten Pfarrers.

80

Die waren damals freilich selbstverständlicher bekannt und in Geltung [12.6], Darum gehen die heutigen, Pfister verwandten Konzepte weniger von den symbolischen Inhalten als von der Kommunikationsdynamik in der therapeutischen Beziehung und ihrer Symbolisierung aus. Kodalle etwa schreibt (1978, 95): "Die Annahme, der Therapieprozeß brauche nur sozialisationsgeschichtliche Barrieren fortzuräumen, um die Gesundheit des Patienten wiederherzustellen, beruht auf einer Illusion; zur Reintegration der Persönlichkeit ist gerade ein Kommunikationsverhalten notwendig, das Orientierung für den'Wiederaufbau' der Person vermittelt und das die 'leere' Persönlichkeit nicht aus sich selbst herausspinnen kann. 'Sinn' ist nicht Ergebnis subjektiver Setzung. Die Beseitigung der Kommunikationsund Verhaltensstörungen durch den Therapeuten muß selbst von einer Motivation und Dynamik getragen sein, die die psychoanalytische Technik einer transsubjektiven Sinnorientierung unterstellt." Ähnlich Herms 1978, dazu Abschn. 8. 81

WuS 136, das Folg. Dietrich 180.

320

Die Methodik im Falle Dietrich

"Allein noch waren die erlösten sittlichen Energien wenig ethisch bewährt. Die Möglichkeit minderwertiger Kompensationen stund offen. Deshalb ordnete ich Fortsetzung der seelsorgerlichen Behandlung an." Ganz deutlich markiert Pfister für den Leser einen Einschnitt im Beratungsverlauf. Der jetzt folgende zweite Teil stellt die besondere Aufgabe des Seelsorgers dar, gewissermaßen sein plus ultra, nämlich die Hilfe zur ethischen Bewährung der "erlösten sittlichen Energien". Die Rede von freiwerdenden und darum neu zu bindenden bzw. zu verwertenden Energien entspricht dem damals in der Psychoanalyse gängigen Denkmodell. Dieses psychodynamische Energiemodell, an dem Pfister auf seine Weise immer festhielt, kann in der Tat der Sichtweise eines Nacheinander von 'eigentlich' analytischer und hinzugefügter seelsorgerlicher Arbeit kräftig Vorschub leisten.82 Doch schauen wir uns nun die restlichen drei Sitzungen daraufhin an, so können wir nichts wirklich Neues entdecken. Wir stellen nur fest, daß die Arbeit an Dietrichs Einstellung zu seinen wichtigsten Bezugspersonen verstärkt fortgesetzt wird. Dies ist aber kein Spezifikum von Seelsorge, sondern von Beratung und Kurztherapie überhaupt: daß nämlich die äußere Realität des Klienten in ihrem Eigengewicht stärker im Blick bleibt und damit auch die Rückwirkungen der im Verlauf der Beratung sich verändernden inneren Konfliktkonstellationen auf die Lebenspraxis des Klienten. Mit anderen Worten, der intrapsychische Konflikt (Dietrichs pubertärer Triebschub als Es-Überich-Konflikt, narzißtische Kränkung und Wut) und der /«/er-psychische Konflikt zwischen innerer und äußerer Realität, zwischen Subjekt und Umwelt (Dietrichs gestörte Beziehung zu den Eltern usw., Flucht in die Phantasie, Suizidtendenz) werden in der Beratung als die zwei Ebenen des aktuellen Konflikts des Klienten verstanden und in der Fokusformulierung versuchsweise miteinander verbunden. Wenn Pfister als Fokus "unglückliche Liebe zu den Eltern" formuliert, dann bedeutet das auch, daß sie in bestimmter Weise wieder glücklich werden soll, daß also in der Beziehung zu den Eltern und, damit zusammenhängend, zum Pfarrer, zur Freundin usw. neue Möglichkeiten auftauchen, analog den Veränderungen in seiner 'Beziehung' zur Madonna. Das heißt doch, der Klient muß nicht alle konkreten Lösungen allein finden, womöglich nach Beendigung der Beratung, sondern diese Arbeit gehört, jedenfalls im Ansatz, in die Beratung selbst hinein. In dieser Weise, so meine ich, können wir viele der verstärkenden und zum Teil direkt bewertenden Interventionen Pfisters verstehen. Doch solche 'Ratschläge' sind kein verbindliches Machtwort, sondern ein freies Angebot oder eine dringende Einladung, wie Pfister es ausdrückt. 83 Sie ergehen auf dem Hintergrund vertiefter Einsicht in die

82

Pfister meint einmal (PM 452), die "Verlötungsstelle" von Analyse und Synthese sei die Abreaktion durch Aussprache. Für seine eigene pastoralpsychologische Arbeit sieht er diese Zweiteilung jedoch deutlich relativiert (z.B. ebd. 439). Zu diesem Problem s. Kap. 14.3. 83 Dietrich 178. Vgl. Müller-Pozzi 1975 a, 36, 42. - In diesem Aufsatz versucht MüllerPozzi eine Rehabilitierung des Ratschlags als beraterischer Intervenüon: Als stellvertretende Ichleistung des Beraters ist der Ratschlag "also gegenüber der Deutung ein hochverdichtetes und komplexes Gebilde, das nicht der Aufdeckung des Unbewußten, sondern der Lösung des aktuellen Konfliktes dient ... Im Ratschlag werden die früheren Konflikte mitberücksichtigt, aber nicht angesprochen" (ebd. 44).

8.7. Die einladende Grundhaltung

321

Konfliktdynamik des Klienten; darin ist ja der Berater als Hilfs-Ich dem immer noch ichschwachen Klienten ein Stück voraus. Bedenken wir, daß es damals Beratung und Kurztherapie als Konzept nicht gab, so wird klar, daß Pfister das Spezifische seiner Arbeit nur als das für den Seelsorger (an anderer Stelle auch für den Pädagogen) Typische explizit machen kann. Doch seine Darstellung der besonderen seelsorgerlichen Aufgabe als eines zweiten Schrittes, eines ethischen plus ultra bleibt, so müssen wir feststellen, dem faktischen Verlauf der Beratung äußerlich. Denn von einer Art Zweiteilung in einen 'analytischen' und einen seelsorgerlichen, 'synthetischen' Teil kann keine Rede sein. Schon vor dem Einschnitt finden wir Dietrichs reale Lebenspraxis mit einbezogen, also das Feld seiner "ethischen Bewährung". Ebenso finden wir schon früh den selbstverständlichen Bezug auf die symbolische Sinnwelt, die auch ethische Ideale umfaßt. Allerdings können wir in den letzten Sitzungen, wie oben gezeigt, eine gewisse Verstärkung dieser Tendenz feststellen, ganz im Sinne von Pfisters späterem Konzept der "Einbeziehung des Unbewußten in den normalen Bewußtseinsverlauf', diesem letzten Ziel der Analyse. Dadurch sollen bisher brachliegende positive Impulse in Triebkräfte umgewandelt werden und bisher neurotisch agierte Triebkräfte in positive Impulse. 84 Es geht Pfister offensichtlich darum, daß der Klient zu bestimmten, bisher unbewußt-verdrängt gebliebenen Strebungen bewußt Stellung nimmt, sie wahr- und annehmen lernt, wie wir heute sagen, um sie dann, womöglich konflikthaft, in seine gegenwärtige Lebenspraxis zu integrieren. Dies dürfte im übrigen ein Ziel aller Formen analytischer Beratung und Kurztherapie sein. Pfister ist einer ihrer Pioniere. Nach dem bisher Gesagten ergibt es sich fast von selbst, daß wir natürlich auch nach dem Einschnitt die vorherige analytische Arbeit fortgesetzt finden, also etwa die Vorgabe von bestimmten Wörtern und die nachfolgende Deutung von Dietrichs Einfällen dazu. Es wird allerdings an der Art bestimmter Vorgaben und an manchen dezidierten Interventionen ("Das dürfen Sie nicht") deutlich, wie sehr Pfister daran liegt, daß besonders beunruhigende Vorstellungskomplexe (mit Bezug auf das labile Selbstwertgefühl, die Wut über die Kränkungen, die Frauenverachtung als Umkehrung der Madonnen-Sehnsucht usw.) und besonders konfliktuöse Beziehungen Dietrichs (vor allem die zum Vater) in Ordnung gebracht werden. Mit besonderen Worten, es geht ihm um die Versöhnung von psychischer und äußerer Realität bei Dietrich. 85 So können wir festhalten: Die Gesprächsreihe verläuft nicht bis zum Einschnitt wie die eines "Nervenarztes", auf die dann ein spezifisch seelsorgerlicher Anhang folgt, sondern sie ist insgesamt etwas anderes als die zeitgenössische analytische Therapie und die zeitgenössische Seelsorge: eben, wie Pfister den Fall Dietrich betitelt, "psychoanalytische Seelsorge und Seelenheilung", die Vorform heutiger pastoralpsychologischer Beratung."6 Warum dann aber die scheinbare Zweiteilung, wie wir sie jetzt als zumindest partielles Selbstmißverständnis Pfisters erkennen? Für ihn gilt es in diesen ersten Jahren, die "neue Methode" vor oberflächlicher Vereinnahmung zu sichern und klar abzugrenzen, wenn er

84

PM 454 f., vgl. auch Br. 118. Zur "Einbeziehung" s. Kap. 12.2.

85

Dietrich 182.

86

In seiner Nachbemerkung zu 'Dietrich' (188, Anm. 1) bezeichnet Pfister "eine pädagogische und pastorale Psychiatrie mit besonderer Berücksichtigung der psychoanalytischen Methoden" als dringendes Desiderat. In der 'Analytischen Seelsorge' (1927, 131, Anm. 11) fordert er eine neue "Pastoralpsychologie" für den Theologen.

322

Die Methodik im Falle Dietrich

auch schon damals gelegentlich gleichsam umgekehrt argumentiert: eigentlich sei sie doch nichts anderes als "eine moderne Form von Seelsorge" (oder, 20 Jahre später, "Seelsorge im weitesten Sinne"). 87 So empfiehlt Pfister die Psychoanalyse am Schluß von 'Dietrich' seinen Amtsbrüdern, denn für die einstweilen noch so befremdliche Neuerung will er sie ja gewinnen. In einer bewegten Anrede stellt er ihnen die "gewaltigen Perspektiven" der neuen Forschung vor Augen. Doch je länger, je mehr scheint die Werbungsabsicht von dem Rechtfertigungsdruck eingeholt zu werden, wirklich Seelsorge und nichts als Seelsorge getrieben zu haben. Das zeigt sich, noch vor der scharfen Auseinandersetzung mit Foerster, bereits in den Nachbemerkungen zum Fallbericht selbst: "Nie habe ich Dietrich etwas anderes als Seelsorge angedeihen lassen. Sein religiös-sittliches Wohl war mein vornehmstes Ziel... und wenn alle Nervenärzte und Theologen mich tadeln wollten, daß ich die Schranken meines Berufes überschritten habe ..." Unter diesem Aspekt wird es noch einmal verständlich, daß Pfister der 'eigentlichen' analytischen Arbeit eine spezifisch seelsorgerliche Komponente hinzufügen will, die überdies im vertrauten Rahmen ethischer Verhaltensnormierung angesiedelt ist. Wir spüren darin nicht nur einen vertrauten Unterton von Überbieten-Wollen, sondern auch und vor allem die einleuchtende Absicht, die heiß umstrittene Neuerung Psychoanalyse irgendwie in den vertrauten (und womöglich größeren!) Rahmen der Seelsorge einzuspannen.

Allen will Pfister den Segen der neuen Entdeckung "gönnen". So bleibt der Gestus der Einladung durchgängig erhalten. Sie ergeht an Dietrich und alle ähnlich Leidenden, an die Amtsbrüder und Leser bis hin zu Nachgeborenen - und an den Einladenden selbst, weil ja das Evangelium alle einlädt.

8.

Exkurs: Menschlicher und göttlicher Mittler

Die Mutter ist die erste Umwelt des Kindes. Darum ist sie es, die von Anfang an "jede Wahrnehmung, jede Handlung, jede Einsicht, jedes Wissen vermittelt" (René A. Spitz88). Und darum können psychische Störungen später nur in einer intensiven Beziehung aufgearbeitet werden. Eine solche ist die therapeutische Zweiersituation. In der Dynamik von Regression und Übertragung wird der Analytiker zum Mittler von einst und jetzt, von innen und außen, von Realität und Phantasie.

87 Dietrich 188, PsaS 91. Das Folg. Dietrich 188 f., Zitat 186. Zur Einbeziehung in die pastorale Praxis s. Kap. 14.3. 88

Spitz 1972, 114, vgl. 118 f.

8.8. Exkurs: Menschlicher und göttlicher Mittler

323

Daß die Übertragungssituation nicht nur die neurotisch verzerrte Realität des Klienten zum Ausdruck bringt, sondern ihrerseits eine konkrete soziale Realität darstellt, das hat Pfister immer wieder hervorgehoben. Für ihn ist die Analyse von Anfang an ein soziales Verfahren, vom Klienten her formuliert: "Ohne die Geselligkeitsabsicht behielte man seine Sachen für sich." 89 Der Neurotiker als ein "isolierter Mensch, der sich mit einem Teil seines Wesens von der Umwelt trennte", braucht die Übertragungssituation, um sich selbst wieder näher zu kommen und eine neue Einstellung zu sich und seiner Welt zu gewinnen. Mit dem Analytiker als "Angehörigem der Menschheit" ragt "ein Stück Wirklichkeit" in die verzerrte und oftmals in sich abgeschlossene Phantasiewelt des Neurotikers hinein, von daher bezeichnet Pfister den Analytiker gem als Brücke zu oder Mittler von neu erschlossener Realität. 90 Dies ist keine schematische Funktion, es ist nicht beliebig, wer sie ausübt. Vielmehr ist es der Analytiker als dieser bestimmte Mensch, der zeitweise eine "enorme Gewalt" über den Analysanden hat und für seine neue Einstellung von "ungeheurer Bedeutung" ist.91 Wie reflektiert und analysiert auch immer, der Analytiker übt einen Einfluß aus als diese konkrete Persönlichkeit mit allem, was zu ihm gehört. Dazu zählen auch seine tieferen Überzeugungen und Wertvorstellungen, also seine "Weltanschauung", und die ihr korrespondierende menschlich-therapeutische Grundhaltung. Für Freud haben wir das in der Interaktion mit Dora gesehen.

89 WuS 23. Das Folg. ebd. sowie PE 137, 121. "Schon die Aussprache der intimen Geheimnisse setzt den starken Willen voraus, zu einem anderen Menschen in geistige Gemeinschaft zu treten ... Das Geständnis [!] ist femer ein Übergang von der Passivität des Verdrängens zur Aktivität und eine stillschweigende Verpflichtung, als soziales Wesen zu sinnen und, wenn nötig, zu handeln" (WuS 23). 90 91

Z.B. PE 137, PM 438, S D 44, NTPsa 437.

PSM 38, PE 121, vgl. PE 12, Br. 119 f. Dies gilt noch einmal verstärkt bei Jugendlichen, vgl. bes. PsaW 42, 91; CA 99 f. Diese realistische Sicht der therapeutischen Beziehung und ihrer 'Gewaltverhältnisse' macht natürlich die Forderung noch dringlicher, der Analytiker müsse seine Gegenübertragung kennen und kontrollieren (z.B. PE 139). Gerade wegen der Relevanz des "eigenen Wesens" des Analytikers (WuS 138) sieht der Theologe Fr. Delekat die spezifische Gefahr der Psychoanalyse nicht in ihrer theoretisch und praktisch tiefgründigen Methode, sondern in der auf die reine Analyse folgenden, personbestimmten Synthese (bei Abderhalden 1928, 84). Dies ist eine positivere Wendung der frühen Kritik von J.H. Schultz, nicht die - unwirksame oder schädliche - Technik der Analyse bewirke ihren Erfolg, sondern die Persönlichkeit des Analytikers [1.4], Danach dürften eigentlich nur Christen die psychoanalytische Therapie ausüben!

Die Methodik im Falle Dietrich

324

Zwar wird eine weltanschauliche bzw. ethische Stellungnahme während der therapeutischen Arbeit von der psychoanalytischen Theorie durchgängig entschieden abgelehnt. Doch wie offen und fast selbstverständlich anscheinend gerade der alte Freud im Gespräch mit Analysanden seine Lebens- und Weltanschauung zum Ausdruck brachte, zeigt etwa der Bericht von Smiley Blanton über seine Analyse bei ihm. Dies mag auch dann gelten, wenn hier, aus einem lehranalytischen Meister-Schüler-Verhältnis heraus von Seiten Blantons das Bedürfnis mitspielte, bedeutende Worte Freuds der Nachwelt zu überliefern. 92 Den theoretisch scheinbar so selbstverständlichen Grundsatz der wellanschaulichen Neutralität des Analytikers hat Eilert Herms kritisiert. Er geht aus von der therapeutischen Situation als einer sozialen, denn psychische Reife ist notwendig das Resultat einer Außenbeziehung des Ich. "Der Anstoß zur Erfassung seiner Wahrheit kommt jedem Ich von außen", 93 in diesem Fall vermittels des Hilfs-Ich des Therapeuten. In, mit und unter der Bearbeitung der Übertragungsbeziehung "vermag das schwache Ich des Analysanden ein Stück des dem Therapeuten eignenden Realismus zu übernehmen". Heißt nun aber Realismus: "Orientierung in der Weltwirklichkeit anhand und im Lichte von zutreffenden Annahmen über deren Verfassung", wird also "in der Übertragung letztendlich das die Selbstwahrnehmung des Ich leitende Realitätsverständnis kommuniziert", so muß es "auf eine praktisch wirksame Weise programmatisch in die Beziehung mit" hineingebracht werden, statt es als private Weltanschauung, als persönlichen Glauben des Therapeuten programmatisch auszuklammern bzw. als 'unvermeidliche' persönliche Variable halbkontrolliert mitlaufen lassen. In diesem Zusammenhang bezeichnet Herms die Forderung Freuds nach weltanschaulicher Indifferenz der Psychoanalyse 94 rundweg als "verhängnisvoll undifferenziert". Denn gerade die Einsichten der psychoanalytischen Forschung besagen, daß für die psychoanalytische Praxis als sachgemäßen Umgang mit der Übertragung "weltanschauliche Indifferenz weder behauptet noch gefordert werden kann". Für den Therapeuten heißt das, nach den Übertragungsbeziehungen zu fragen, in denen sein 'starkes' Ich selber zu der seinen Realismus begründenden ontologischen Einsicht befördert wurde. (Wir erinnern uns an Pfisters beharrliches Pochen auf der Notwendigkeit von Philosophie, zumal Metaphysik und Ethik, ohne deren jeweils persönliche, unbewußte Determinanten zu unterschätzen.) "Das aber heißt offenbar: Bedingung von Übertragungsbeziehungen, in denen ontologische Wahrheit kommuniziert werden soll, ist ein umfassender, sozialer Zusammenhang der Kommunikation dieser Wahrheit, der das psychische Leben des Analysanden und des Therapeuten zumal umfaßt". Für den analytischen Seelsorger Pfister ist dieser Kommunikationszusammenhang natürlich das Symbolsystem der christlichen Religion, in deren Zentrum die Gestalt Jesus steht. Doch auch in der nichttherapeutischen, wenngleich nicht völlig übertragungsfreien Beziehung zwischen Freud und Pfister zeigt sich ein hintergründiges Einverständnis über die großen Ziele Wahrheit und Liebe [14.4].

92 Vgl. Blanton 1976. Zu Freuds Freiheit im Umgang mit der Übertragungssituation s. Kap. 7.1. 93 Heims 1978, 197. Die folg. Zitate ebd. sowie 196 mit Anm. 164. Vgl. auch 178 mit Anm. 65 f. (= Freud-Belegstellen). 94

GW XIV 123; XV 171, 197; Br. 13 u.ö.

8.8. Exkurs: Menschlicher und göttlicher Mittler

325

Was bedeutet es für den analytischen Mittler Pfister, wenn der Mittler Christus im Zentrum seines Glaubenslebens steht? Wie bestimmt Pfister selbst das Verhältnis von religiöser und analytischer Mittlerschaft? "Der Analytiker wird sozusagen zum ersten Balken, der über den Abgrund ans andere Ufer, ins Land des vollbewußten Lebens führt. Darum hat es auch Jesus nicht verschmäht, sehr viel Übertragung anzunehmen. Aber er sorgte auch zugleich für ihre zweckmäßige Nutzbarmachung, indem er über sich hinaus zu Gott, den Brüdern und dem eigenen Ich führte." So auch der Analytiker, können wir den letzten Satz sinngemäß ergänzen. Nach Pfister handelt es sich aber nicht bloß um Analogien, sondern um "erstaunlich enge verwandtschaftliche Beziehungen".95 Diese im einzelnen aufzuzeigen, hat er in dem großangelegten Aufsatz "Neutestamentliche Seelsorge und psychoanalytische Therapie" unternommen, der aus einem Vortrag auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Luzern 1934 entstand. Wenn es aber im Vergleich von religiöser und analytischer Mittlerschaft nicht bloß um Analogien und historische Vorläufer geht, dann liegt der Schluß nahe, daß die religiöse Mittlerschaft (Jesu) die therapeutische (des Analytikers) zumindest unterstützen, wenn nicht gar ablösen oder ersetzen bzw. von vornherein unnötig machen kann. Bei Dietrich und noch mehr bei Frau A. sehen wir ja, daß Pfister die Übertragung nicht nur wie Jesus über sich hinaus führen will (s.o.), sondern sie auch auf diesen Jesus selbst hinlenkt. Jesus wird dann zum idealisierten narzißtischen Liebesobjekt, zum "Helden", wie Pfister im Dornröschenbrief an Dietrich schreibt. Dieses Element finden wir auch bei Frau A., bei ihr überwiegt jedoch die Identifikation mit dem leidenden Christus (als SelbstObjekt). Darin, im Kreuz also, finden wir die eigentliche Gebrochenheit der auf Jesus 'transformierten' Übertragung. Er ist einer, der sein Kreuz auf sich nimmt und darin auch unseres. An dieser Stelle gelingt es Pfister denn auch am wenigsten, die Analogie zwischen Jesus und dem Analytiker als Mittler überzeugend herauszuarbeiten: "Wie in den synoptischen Evangelien Jesus hinter Gott und den Menschen zurücktritt und direkt an Gott und die Brüder bindet, um

95 NTPsa 443, vorhergehendes Zitat PE 121. In dieser 'triangulierten' Form begegnet uns das sog. Doppelgebot der Liebe bei Pfister immer wieder (vgl. Lk. 10,27 bzw. Lev. 19,18 und Dt. 6,5).

326

Die Methodik im Falle Dietrich

so höchste autonome Freiheit zu verschaffen, so will auch der Analytiker sich selbst überflüssig machen, da ihm seines Klienten Unabhängigkeit über alles geht. Daß dabei Dankbarkeit und freundliche Gesinnung gegen ihn fortbestehen dürfen, scheint mir selbstverständlich. Zwar ist hier die Autonomie des 'Klienten' das tertium comparationis, doch die bleibende, auch und gerade im Zeichen des Kreuzes bleibende Beziehung zu Jesus ist denn doch etwas anderes als das bleibende Dankbarkeitsgefühl des Klienten nach der Ablösung vom Analytiker. Denn bleibt nicht die "höchste autonome Freiheit", die Jesus verschaffen will, an ihn als Symbol das Selbst gebunden? Vor der Hand zitiert Pfister aus dem vierten Evangelisten nur das Wort "Ich bin der Weg (Joh. 14,6), nicht aber das andere "Ich und der Vater sind eins" (Joh. 10,30; dies folgt später im Zusammenhang mit Jesu Autonomie als einer Autonomie freier Sohnschaft gegenüber dem gütigen Vatergott). Hier will er nämlich bei Johannes den "vorübergehenden Charakter" der Übertragung auf Jesus hervorheben, "wie ja auch in der authentischen Verkündigung des Evangeliums stets die Übertragung auf Gott als eigentliches und bleibendes Ziel der Seelsorge erscheint. Die übrigen Schriften des N.T. dagegen halten meistens die Übertragung auf den Mittler fest". Übertragung auf Gott, das kann doch hier nur heißen: Liebe zu Gott. Und kann dies anders geschehen als im Rückgriff auf die archaische narzißtische Einheit von Lieben und Geliebtwerden, in der Selbst und Gott noch untrennbar verbunden sind, in der also Gottesliebe und Selbstliebe zusammenfallen? Wenn wir hinsichtlich der Gottesliebe überhaupt von dem Bilde Jesu absehen können, in dem Gott uns liebt, so mögen wir sie mit Spinoza als amor dei intellectualis verstehen, die "ein Teil der unendlichen Liebe [ist], womit Gott sich selbst liebt".97 Hieraus folgt, sofern der göttliche Geist durch den menschlichen ausgedrückt werden kann, "daß Gott, sofern er sich selbst liebt, die Menschen liebt, und folglich, daß die Liebe Gottes zu den Menschen und die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott eins und dasselbe sind".

96 97

Ebd. 437, die folg. Zitate 431, 435.

Spinoza: Ethik V, 36. Lehrsatz; das folg. Zitat ebd., Zusatz zum 36. Lehrsatz, Vgl. Lehrsätze 32 ff.

8.8. Exkurs: Menschlicher und göttlicher Mittler

327

Hier geht es nicht um Verschiedenheit oder gar Wechselseitigkeit von Gott und Mensch, sondern um ihre Vereinigung, ja Einheit. Gott wird nicht als ein Gegenüber, sondern als das Umgreifende gedacht. "Die Verbundenheit, mit der Spinoza den Menschen in Gottes umgreifender Existenz geborgen sein läßt, ist psychologisch doch ganz analog zu der Weise primärnarzißtischer Verschränkung zwischen 'innen' und 'außen', zwischen dem Selbst und der Welt gebildet", so Heim brock, der Spinozas Ethik auf narzißmustheoretischer Grundlage interpretiert.' 8 Für Spinoza fällt die Erkenntnis des Ewigen mit der Teilhabe an ihm (Liebe) zusammen. Doch weil "keine andere Liebe ewig ist als die intellektuelle Liebe", steht der gesamte Akt in der Gefahr pathogener narzißtischer Regression, die vor den "Affekten" flieht, denen der "Körper" unterworfen ist, solange er dauert. Bei Spinoza besteht die Tendenz, aus der Welt der Affekte, der immer nur relativ zu befriedigenden Strebungen und Wünsche, der immer nur relational, in Beziehungen sich aktualisierenden "Leidenschaften", ja aus der raumzeitlichen Verfaßtheit unserer menschlichen Existenz überhaupt zu entfliehen in die erhabene Majestät ewiger Notwendigkeit und Freiheit zugleich. Darum hat seine Beschreibung dieses Aktes als Liebe einen so "intellektuellen" Zug. Der "Geist" oder die "Vernunft", mit der sie identisch ist, erscheint eher starr als fließend. Auch Pflster kennt jenen Impuls, der Welt der schmerzlichen Gegensätze, der Relationen und Relativitäten zu entfliehen, um sich "in eine Welt absoluter Liebe versenken zu können"." Ja, er kennt jene gefährliche Sehnsucht so gut, daß er sich ein Stück weit vor ihr absichert mit kategorischen Behauptungen wie dieser: "Objektlose Liebe gibt es nicht." Den Objekten unserer Liebe, narzißtischen oder nicht, schulden wir Dank, "denn ohne sie versänken wir in Nacht". Pfisters Liebeskonzept hängt sehr stark an dem, was Spinoza als Affekte bezeichnet und gegenüber dem Geist bzw. der vernünftigen Einsicht in die "adäquaten Ideen" abwertet. Und da es Affekte, Triebimpulse eben nicht an sich, ohne Objekte gibt, behält Pfisters Liebeskonzept einen fließenden, oszillierenden Zug. Die Liebe ist 'auf etwas aus'. Auch jenseits der klassischen Objektliebe, etwa als mystische Versenkung, behält sie ein relationales Moment. Als ihre Urform würde Pfister eher Balints "primäre Liebe" als Kohuts primären Narzißmus ansehen. Impliziert schon die archaische Liebe ein Beziehungsmoment, so wird dies erst recht und als personale Konfiguration deutlich in ihrem höchsten Symbol, der göttlichen (Vater-)Liebe. zumal wir sie als Christen im Spiegel der Liebe Jesu Christi sehen.

Übertragung auf Gott, das kann doch, auf die therapeutische Situation übertragen, nichts anderes heißen, als sich selbst in seiner Tiefe immer mehr zu erkennen und zu lieben, gleichsam durch den Therapeuten hindurch und zuletzt unabhängig von ihm. Diese Unabhängigkeit basiert aber darauf, daß der Klient Elemente der therapeutischen Beziehung internalisiert, sich

98

Heimbrock 1977, 85. Die folg. Zitate Spinoza: Ethik V. 34. Lehrsatz mit Zusatz.

" LE 1, s. dazu vor allem Kap. 10.3. - Die folg. Zitate CA 17: PE 137: Spinoza: Ethik III, 1. Lehrsalz; Balint 1973 a, 79 ff.

328

Die Methodik im Falle Dietrich

anverwandelt; Kohut spricht von umwandelnder Verinnerlichung. 100 Also brauchen wir Menschen den Mittler. Daß die Trennung vom therapeutischen Mittler in und nach der Analyse deutlicher ausfällt, zumindest von außen gesehen, als die Trennung vom Mittler Jesus im religiösen Erleben, hängt wohl damit zusammen, daß im religiösen Symbolsystem Anteile der menschlichen Wünsche und des menschlichen Selbst-Konzeptes externalisiert bleiben, die auf Dauer gar nicht introjizierbar bzw. internalisierbar sind [13.2], Bei bestimmten narzißtischen Störungen erhält der Analytiker offensichtlich eine ähnliche Funktion wie 'Jesus' oder 'Gott', dann sieht das Trennungsproblem entsprechend aus. So gesehen könnte die Transformation der Übertragung vom Analytiker auf Jesus in bestimmten Fällen geradezu therapeutisch indiziert sein - ein neues Licht auf das Dreieck Pfister-Dietrich bzw. Frau A.-Jesus? In dem genannten Aufsatz von 1934 will Pfister unter religionspsychologischem Vorzeichen nicht weniger als die therapeutische und psychohygienische Funktion einer recht, nämlich als "neutestamentliche Seelsorge" verstandenen christlichen Religion aufzeigen. 101 Die umgekehrte Intention, religiöse Funktionen der analytischen Therapie und Theorie aufzuzeigen, macht Pfister nicht explizit, sie ist aber implizit in seiner Argumentation enthalten. Heute sind manche Analytiker auch für diese Sichtweise offen geworden und sehen etwa, wie Eberhard Haas, mit der neueren Narzißmustheorie ein Stück religiöse Sehnsucht in die psychoanalytische Theorie einbrechen. Dabei findet, wie er mit Recht feststellt, so etwas wie ein Synkretismus zwischen analytischer Theorie und Theologie statt. 102 Ebenso "synkretistisch" führt Pfister seine These vom Mittler-Analytiker weiter aus, bis hin zum Ansatz einer religionspsychologisch fundierten Dogmatik, zentriert in der Christologie. Im Bestreben, die heilsame Funktion der Jesusbeziehung aufzuzeigen, schreibt er: In der positiven Übertragung wird

100

Kohut 1973, 193. Zum Folg. vgl. Meerwein 1971, 352 f.

"" Vgl. NTPsa 434. Dies ist auch die Tendenz seines opus magnum: Das Christentum und die Angst (1944). Vgl. auch die charakteristischen Aufsatztitel: Religion und Geisteshygiene (1931), Religionshygiene. Die psychohygienische Aufgabe des theologischen Seelsorgers (1943), Gesundheit und Religion (1955, letzte Veröffentlichung Pfisters!). 102

Haas 1980, 400, 406. Vgl. dazu bes. NTPsa 436 f., 443, zum Problem Kap. 13.3.

8.8. Exkurs: Menschlicher und göttlicher Mittler

329

"der Mittler (Analytiker) einerseits als autoritativer Vertreter und Ausdruck der höchsten Instanz (Gott, Ich-Ideal), andererseits aber auch als Repräsentant der Menschheit, zu welcher der Klient in ein normales Verhältnis zu treten hat, anerkannt ... Das christliche Dogma von der Gottmenschheit Christi enthält somit in metaphysischer Formulierung ein Postulat der psychoanalytischen Therapie, dem auch der Analytiker sich in gewissem Sinne nicht entziehen kann, sofern auch er einerseits autoritative Verkörperung der im Ich-Ideal gesetzten höchsten Richterinstanz, andererseits Vertretung der menschlichen Gesellschaft, von der sich der schuldbeladene Neurotiker getrennt fühlt, für seine Analysanden werden muß". Die notwendig gleichsam metaphysische Bewertung des Therapeuten wird im Neuen Testament begründet, "indem Jesus zum Propheten, Gesalbten und sogar Sohn Gottes gemacht wird ... Der Analytiker muß gegenüber dem kategorischen Imperativ, dem strengen, mit Krankheit heimsuchenden unbewußten, aber bewußt gemachten Richter dieselbe Autorität besitzen und sie im Geiste der helfenden Güte zur Geltung bringen. Damit wird er zum Träger und Offenbarer einer den Menschen an Würde und Macht absolut überragenden geistigen Ordnung und zum Vermittler der Aussöhnung zwischen Ich-Ideal und Es." Darum wird der Analytiker idealisiert, ja vergottet, so wie einst das Kind den Vater vergottete; hier verweist Pfister auf Freud und Pierre Bovet. "Die starke Betonung der nicht nur religiös, sondern auch mehr und mehr metaphysisch ausgedachten Gottessohnschaft, ja Göttlichkeit in der neutestamentlichen Seelsorge ist daher ein seelenhygienisches Postulat. Gleichzeitig rationalisiert sie das Erleben, daß Christus und sein Gebot dem gebietenden und zürnenden Gott an Würde ebenbürtig sei ,.."103 Durch die Begegnungen mit dem Mittler-Analytiker und die Übertragung auf ihn erlebt der Klient eine Veränderung im Überich/Ichideal-System, "wobei ... durch eine Sinnesänderung der Konflikt zwischen Norm und Ich aufgehoben werden muß". Diese "Sinnesänderung im Geist der Liebe" entspricht Jesu Bußruf pexavoeixe. Analytisch gesehen bedeutet sie eine Relativierung der Überich-Drohungen und der Ichideal-Forderungen; durch deren ichsyntonere Gestaltung führt sie zu einer Stärkung des Ich.

103

N T P s a 4 3 4 , 4 3 6 (Hervorhebung von Pfister), das Folg. 4 3 7 , 4 3 2 .

330

Die Methodik im Falle Dietrich

Die Symbolgestalt dafür ist Jesus. Er konnte wirklich 'ich' sagen vor Gott.104 Pfister weist immer wieder darauf hin, daß Jesus die Emanzipation von den irdischen Eltern gefordert und selbst vorgelebt hat. Sein "Ich aber sage euch" (Mt. 5,22 ff.) tritt mit vollmächtiger Autorität auf. Er will aber nicht die Heteronomie, sondern die Autonomie des zur Freiheit und mündigen Sohnschaft Berufenen (wie Paulus interpretiert: Gal. 4,1 ff.; 5,1 ff.). Darum geschieht seine Forderung nicht etwa aus einem neuen Bindungsanspruch heraus, sondern aus der Autorität jener Freiheit, die in der unmittelbaren Beziehung zum Vater im Himmel gelebt wird. Vom Gott der Liebe her kann die ethische Forderung nicht mehr gesetzlich, nicht mehr als Imperativ verstanden werden: "Wer merkte nicht die feine Ironie, mit welcher der Inhalt, das Lieben, als nur frei zu vollziehende Leistung, den Gesetzescharakter aufhebt?"105 Die in Freiheit sich vollziehende Liebe ist gleichsam in einen Indikativ eingebettet, nämlich die Anteilhabe an einem großen, narzißtisch geliebten Ideal. So interpretiert H. Giltay 1931, Pfister sehr verwandt und sich direkt an ihn anschließend, die 'Forderung' Jesu "Seid vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" (Mt. 5,48). Nicht das Gesetz, sondern die Vollkommenheit des göttlichen Vaters selbst "blieb das in diesem Leben unerreichbare Ideal, dessen Glanz aber dieses ganze Leben überstrahlte. Und die 'Gemeinschaft' in Christo, im göttlichen Sohne, führte eine gegenseitige Identifizierung der 'Brüder' herbei, welche einen großartigen Aufschwung der sozialen Gefühle zur Folge hatte".106 Dazu kann es nach Pfister aber nur kommen, weil der Mittler-Analytiker nicht nur göttlich, sondern auch menschlich ist: "Durch Sünde und Neurose wird der Mensch von der Sozietät geschieden und geächtet. In Jesus wie im Analytiker tritt dem relativ vereinsamten Klienten vergebende Menschlichkeit, je die vergebende Menschheit entgegen, die den vom Zwiespalt mit der Strafinstanz Befreiten liebevoll behandelt und so die Brücke zur menschlichen Gesellschaft bildet."

104

Vgl. D. Solle 1968, 61 ff., zum Ganzen Kap. 12.5 u. 6.

105

Illusion 107. Vgl. auch NTPsa 431 f.

106

Giltay 1931, 165 f., vgl. 164.

8.8. Exkurs: Menschlicher und göttlicher Mittler

331

Er beschließt diesen Gedankengang mit Sätzen, die an D. Sölles Theologie der Stellvertretung erinnern: "So steht im N.T. Jesus Christus als Prophet, d.h. Vertreter und Mund Gottes vor dem Menschen, wie als Priester, d.h. Vertreter und Sprecher der Menschen vor Gott."107 Das dritte Amt Christi, das königliche, der Prophet und der Priester müßten in durch den transzendenten Charakter Selbstisolierung des Sünders postuliert

finden wir in dem Nachsatz wieder, der Erhöhung gesehen werden, "die der höchsten Autorität und die wird".

"Ganz ebenso aber vertritt der Analytiker, der sich der Metaphysik enthält, in den Augen seines Patienten ein rein weltliches Gottmenschtum." Wir sehen besonders bei Frau A., wie der analytische Seelsorger Pfister für sie über sein "rein weltliches Gottmenschtum" hinaus auf Jesus, den Menschen Gottes verweist. Eine Unstimmigkeit bleibt noch zu klären. Wie wir sahen, stellt Pfister den MittlerAnalytiker als Repräsentanten der "vergebenden Menschheit" und damit als "Brücke zur menschlichen Gesellschaft" dar, zugleich aber auch als Vermittler der "Aussöhnung zwischen Ich-Ideal und Es". Was hätte das Es mit der menschlichen Gesellschaft zu tun? Ich denke, hier ist in der für Pfister typischen, mit kühnem Schwung harmonisierenden Weise ein denkerischer Zwischenschritt nicht klar zum Ausdruck gekommen. Ich füge ihn hilfsweise ein: Es verbindet alle Menschen, daß sie 'allzumal Sünder' sind, so wie sie allzumal Triebwesen sind (das Es als Reservoir der allgemeinen menschlichen Triebwünsche). Diese menschliche Natur wird ohne Vorbedingungen über den Analytiker im Ichideal akzeptiert bzw. über den Mittler Jesus bei Gott gnädig angenommen (und damit zugleich ausgeweitet und "veredelt", zu Pfisters Konzept der "Vollversittlichung" vgl. Kap. 7.8). Auf dieser Basis entsteht wechselseitige Identifikation, mitmenschliche Solidarität als Voraussetzung der "Sozietät". Sie ermöglicht allererst die evangelische Forderung, nicht zu richten, sondern zu vergeben (vgl. Mt. 7,1). So hängen also das Es und die vergebende Menschheit, Biologisches und Gesellschaftliches zusammen. Gerade dieser Zusammenhang macht die menschliche Natur aus. Auf ihrem Grund sieht Pfister die Liebe, wie sie mit den Triebimpulsen und ihrer sozialen Akzeptierung als anthropologischem Grunddatum beginnt. Die Liebe aber offenbart sich auch als "das innerste Wesen jener geheimnisvollen, im göttlichen Willen oder Ich-Ideal kundgegeben (sittlichen) Ordnung". So vereinfacht sich also, "gehen wir von der Seelsorge aus", das für die dogmatische Christologie unlösbare Problem der Zweinaturenlehre, nämlich "die göttliche und die menschliche Repräsentanz im Mittler religionsmetaphysisch widerspruchslos und religiös befriedigend auszudrucken". An sich würde die Lehre von den

107

NTPsa 437, die folg. Zitate 436-438. Vgl. Solle 1965, bes. 142 ff., 175 ff.

332

Die Methodik im Falle Dietrich

beiden unvermischten Naturen und Willen Christi die Einheit der Erlöserperson sprengen. Weil aber die Liebe göttlich und menschlich zugleich ist, "vereinigen sich in der höchsten Liebe göttliches und menschliches Wesen, das höchste Ich-Ideal und die biologische Natur des Es".

Kapitel 9 Triebkonflikte und Narzißmus im Fall der Frau A.

Das Kernstück von Pfisters 1918 erschienenem Büchlein "Wahrheit und Schönheit in der Psychoanalyse" bildet eine Falldarstellung. Ich greife sie auf, um nach 'Dietrich' ein weiteres Beispiel für Pfisters seelsorgerliche Arbeitsweise vorzustellen. Es erscheint mir geeignet, die Ergebnisse unserer Arbeit an 'Dietrich' teils zu bestätigen, teils zu ergänzen und zu differenzieren. Auch Pfister selbst will mit diesem "Schulbeispiel" dem Leser angeben, wie er Analyse treibt.1 Der Bericht ist ähnlich ausführlich wie 'Dietrich', der Klient jedoch kein junger Mann, sondern eine 50jährige Frau, die wir Frau A. nennen wollen. Auch sonst finden wir erhebliche Unterschiede gegenüber 'Dietrich' auf den verschiedenen Ebenen der seelsorgerlichen Arbeit wie ihrer literarischen Darstellung. Meine Untersuchung von 'Frau A.' zielt auf dem Hintergrund der narzißtischen Dynamik insbesondere auf die Funktion der zentralen christlichen Symbole in der Seelsorge und im seelischen Haushalt überhaupt.

1.

Der Anlaß und das "Angebot"

Frau A. kommt zu Pfister mit "ethischen Schwierigkeiten". Er hebt hervor, es handle sich um einen klassischen Seelsorgefall; die "Pastorandin" leidet weder an körperlichen Beschwerden noch an erheblichen Einschränkungen ihrer äußeren Lebensführung. Im traditionell medizinischen Sinne ist sie also gesund, und die Analyse eines Gesunden, so Pfister, sei in der Literatur noch nicht dargestellt. Die Beratung erstreckt sich von April bis Dezember, es finden etwa 20 Sitzungen statt. Die Klientin, "früher ein milder und geduldiger Mensch, fällt... seit längerer Zeit auch gegenüber ihrem Gatten häufig in derartige Gereiztheit, Ungeduld und zornige Aufwallung, daß sie die Herrschaft über sich selbst verliert und sich anklagt, von den einst innegehabten Höhen ihrer sittlichen Kultur herabgefallen zu sein. In religiöser Hinsicht

1

WuS 26 f., 111; der eigentliche Fallbericht findet sich 26-92.

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

334

fühlt sie sich völlig arm, sehnt sich aber innig nach Gottes- und Menschenliebe".2 In der ersten Sitzung der "von ihr gewünschten Analyse" überreicht sie dem Seelsorger einen schriftlich niedergelegten Traum. Damit ist bereits ein wesentliches Kennzeichen dieser Beratung genannt. Sie besteht zum überwiegenden Teil in der Arbeit an einer Folge von meist schriftlich dokumentierten Träumen, zu denen Einfälle eingeholt werden, bis dann Traum und Einfälle in einer möglichst einfachen Deutung zusammengefaßt werden. Traumtexte und Einfälle zeichnen sich durch eine Fülle von Bildern und Symbolen aus, sie strotzen geradezu von Motiven aus Mythologie, Literatur, bildender Kunst und Musik. Wahrscheinlich bewundert Pfister diese Art von Kreativität und sieht sich selbst darin im Spiegel. Dies wäre zugleich eine Art direkte narzißtische Zufuhr für Frau A. Jedenfalls lobt er einmal Frau A.s schönes Träumen, während sie selbst es herunterspielt. Pfister spricht von der "außergewöhnlich ausgeprägten Sublimierungssehnsucht und -fähigkeit" der "feingebildeten Dame". Er hat dieses Fallbeispiel ja bewußt gewählt, um die Wahrheit und Schönheit in der Psychoanalyse nach mehreren Richtungen besonders deutlich hervortreten zu lassen. So wendet sich die Schrift auch nicht speziell an die pastorale oder kirchliche Öffentlichkeit, sondern an das gebildete Bürgertum.3 Ihm soll die Schönheit nahegebracht werden, die auch im Verlauf der als Hervorzerren des HäßlichTriebhaften gebrandmarkten psychoanalytischen Arbeit zutage treten kann. Arbeitssitzungen, an denen dies nicht verdeutlicht werden kann, faßt Pfister nur kurz zusammen. Dabei handelt es sich gewöhnlich um die Beseitigung der "Übertragungsnot", d.h. der mehr oder weniger durchsichtigen erotischen Gefühle, die Frau A. auf den Seelsorger richtet. Sobald die Übertragungsneigung jedoch weniger in der unmittelbaren Beziehung als in größeren symbolischen Zusammenhängen von Phantasien und Träumen auftaucht, erfährt sie eine ausführlichere Darstellung. Dieses Vorgehen scheint nicht nur für Pfisters Wiedergabe, sondern auch für die Arbeit selbst charakteristisch zu sein. Wir werden darauf zurückkommen.

2 3

Ebd. 27. Zum Folg. vgl. 32, 60, 91.

Der Klappentext der Reihe "Schweizer Schriften für allgemeines Wissen", in der das Büchlein erscheint, wendet sich an das "allgemeine Interesse in breiteren Schichten der Gebildeten". Hier veröffentlichen u.a. auch C.G. Jung und Alphonse Maeder allgemein verständliche Schriften. - Zum Folg. vgl. bes. WuS 69 f.

9.1. Der Anlaß und das "Angebot"

335

Weiterhin auffällig ist eine Art Arbeitsgemeinschaft mit einer Freundin von Frau A., Nina genannt. Diese mütterliche Freundin ist gewissermaßen die Dritte im Bunde.4 Manchmal arbeitet sie Pfisters Deutungen vor, indem sie bereits Einfälle zu einem Traum ihrer Freundin sammelt und offensichtlich gemeinsam mit dem Traumtext an Pfister schickt. Dieses Vorgehen wählt übrigens auch Frau A. selbst bisweilen. Überhaupt gehen viele Briefe hin und her. Alles Gewicht liegt so auf dem Inhalt dessen, was Frau A. "produziert"; die realen Beziehungen sind so gut wie ausgeklammert. Nina wie auch Pfister sind in den Texten Frau A.s präsenter als in den realen Beziehungen. Hier empfindet Frau A. beide schlicht als "hilfsbereite Freunde", während sie in ihrer inneren Szenerie weitaus facettenreicher erscheinen. Die unbewußte szenische Bedeutung dieser Dreieckssituation dürfte ein miteinander harmonierendes und kooperierendes Elternpaar sein, das sich um einen guten Weg für sein Kind bemüht. Dies wäre eine Kontrasterfahrung für Frau A., denn in ihrer Kindheit hat sie ihre Eltern ständig im Streit erlebt. Den Vater schildert sie als "maßlos heftig und jähzornig", so daß sich Mutter und Tochter vor ihm fürchteten. Doch auch im Zusammenhang mit der Mutter ist von Unordentlichkeit und Unpünktlichkeit die Rede, und im ersten Traum erscheint sie als häßliches, zänkisches, keifendes Wesen. Das ist aber zugleich Frau A.s eigenes Wesen, die in ihr fortlebende Mutter, wie Pfister deutet. Unter anderem wegen solcher Regungen gegenüber ihrem Mann kommt sie ja zum Seelsorger. Damit stehen wir bei dem "Angebot" der Klientin. Ohne Zweifel ist es zunächst ihre gesteigerte Aggressivität, die sie selbst ratlos macht und die natürlich unter das eindeutige Verdikt ihres Überich fällt. (Frau A. ist etwa Jahrgang 1865!) Die Szenerie des zur ersten Sitzung mitgebrachten Traumes lebt vom Gegensatz eines hell singenden Kanarienvogels, einer räudigen Katze und eines fahlen, schlampigen "Weibes".5 Sowohl im Traumtext wie in den Einfällen fällt die offene Aggressivität der so vornehm und gebildeten Dame auf. "Wutentbrannt" wirft sie die "Person" zu Boden und trampelt auf ihr herum usw. In einem späteren Traum schleudert sie der Mutter die Hand ins Gesicht.

4

Ebd. 62 f. Zum Folg. vgl. 28, 70, 47, 57, 27, 59, 36.

5

1. Traum: 27-29, vgl. 35, 52.

336

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

Aber auch die erotische Problematik ist bereits im "Angebot" des ersten Traumes deutlich, nämlich im ambivalenten Verhalten der Träumerin zu der Katze: Einerseits der Impuls, sie aus dem Fenster zu werfen, andererseits der Wunsch, sie, die sich ihr an die Füße schmiegt, trotz Ekels zu streicheln. Die libidinöse Seite von Frau A.s Triebnatur bestimmt den Inhalt des zweiten dokumentierten Traumes aus den ersten Wochen der Beratung. Seine Szenerie: Eine "schneeweiße, fleckenlose Kuh" auf einer eingezäunten Wiese, bewegungsunfähig an einen Baum angebunden. Dazu ein ebenfalls weißer Stier, der auf die in Angst geratene Träumerin losstürzt. Sie befürchtet, aufgespießt zu werden. Doch plötzlich wird der Stier sanft und schleckt aus ihrer Hand, die sich mit Milch aufgefüllt hat, während sie ihn streichelt. Die Kuh steht jetzt auf zwei Beinen, mitten entzweigeschnitten, mit ausgehöhlten Eingeweiden. Die Sexualsymbolik dieses Traumes spricht für sich selbst. Deutlich ist Frau A.s Ambivalenz gegenüber ihrer Sexualität: die "reine Kuh, die Angst/ der Wunsch, aufgespießt zu werden, die Umwandlung der phallischen Angriffsszene in eine zärtliche Fütterung wie zwischen Mutter und Säugling. Zum Stier äußert Frau A. neben dem Einfall "Zeus und Europa": "Es tat mir im Traume leid, daß diese prächtigen Tiere sich nicht fortpflanzen. Ich finde es auch bei meinem Mann und mir schade, daß wir keine Kinder bekommen; infolge einer schweren Operation, die ich durchmachen mußte, ist es unmöglich." Genaueres über Anlaß und Zeitpunkt der Unterleibsoperation erfahren wir nicht. Es ist immerhin möglich, daß sie aufgrund (natürlich nicht als solcher erkannter und benannter) psychogener Beschwerden vorgenommen wurde. Solche 'Radikalkuren' waren damals nicht unüblich.6

6 2. Traum: 38 f. - Zum weiblichen Klimakterium aus psychoanalytischer Sicht vgl. Radebold 1973, 140 f., 151. Im redaktionellen Vorwort zu einer Rezension der Pfisterschen Zinzendorf-Monographie bemerkt der Schriftleiter der Schweizerischen Theologischen Zeitschrift (28,1911,141): Nun forschen einige Vertreter der ehemals rein materialistischen Wissenschaft (Psychiatrie) "den Wandlungen, Qualen, Wünschen und Hemmungen der menschlichen Seele in den psychischen Vorgängen und nirgends anders mehr nach, erklären für glaubhaft, daß statt Eierstockgeschwulst u. dgl. wahrhaftig seelische Erlebnisse und Notlagen zur Hysterie usw. führen - und jetzt sind die Theologen wieder nicht zufrieden und möchten ihre Ideale bewahrt wissen vor dieser Untersuchung!"

9.2. Aktuelle und historische Szene

337

Wie auch immer, die Träumerin, so kommentiert Pfister, "weiß sich der Fortplanzungsorgane beraubt, verstümmelt und daher dem Verderben geweiht". Die Operation wird bei Frau A. die Konflikte des Klimakteriums verstärkt und zugespitzt haben. Ihre weibliche Identität steht radikal auf dem Spiel und muß irgendwie neu gefunden werden. Dabei bietet die Mutterrolle, jedenfalls eigenen Kindern gegenüber, keine Hilfe und keinen Ausweg. Hinzu kommt die Konfrontation mit der Realität des beginnenden Alters; wir dürfen ja die damals im Gegensatz zu heute geringere Lebenserwartung nicht vergessen. Nach der Situation der Pubertät fordert das Klimakterium zum zweiten Mal im Leben einer Frau zur prinzipiellen Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und damit auch Identität auf. Diese intrapsychische Auseinandersetzung ist weitgehend davon bestimmt, daß frühere Einstellungen und Befürchtungen, Abwehr- und Bewältigungsmechanismen reaktiviert werden. Bereits in der Pubertät finden wir ja die Muster wiederbelebt, die das Erleben und die Lösung des ödipalen Konflikts in der Kindheit bestimmt haben.

2.

Aktuelle und historische Szene

Bei Frau A. imponiert, wohl als Folge ödipaler Fixierung (s.u.), eine massive Sexualabwehr. In seiner Paraphrase zu dem zuletzt geschilderten Traum meint Pfister, die anfängliche Angst der Träumerin vor der Zumutung des Mannes (des Stieres) weiche der Einsicht, "daß sie nichts zu fürchten hat, da ihr Mann sich mit Zärtlichkeit zufrieden gibt". In seinem Kommentar zum ersten Traum spricht Pfister schon deutlicher von Frau A.s "vorläufig noch direkt ablehnender Haltung gegen die natürliche Seite der Ehe". Und bei der summarischen Schilderung der Sitzungen im Mittelteil der Beratung, die der Beseitigung der "Übertragungsnot" dienen, heißt es dann klipp und klar: "Zum ersten Mal in ihrem Leben sieht sie sich genötigt, die Sexualität mit klarem Bewußtsein zu betrachten, während sie sich bisher durch bloße Verdrängung und Ablehnung über dieses Gebiet hinweggesetzt hatte, sogar in bald zwanzigjähriger Ehe."7

7

WuS 69 f., vgl. 35, 39. Das Folg. 36 f. (engzeilig), 30, 58.

338

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

Dies wird verständlicher, wenn wir die Vorgeschichte der Ehe betrachten. In der zweiten Sitzung läßt Pfister sich Frau A.s Kindheit beschreiben und vernimmt u.a. folgendes: Trotz des väterlichen Jähzorns und des Streitens der Eltern wußten beide "durch Zärtlichkeit die Zuneigung ihres Kindes zu erwerben. Mit etwa 16 Jahren erlebte die Analysandin eine leidenschaftliche Zuneigung zu einem etwa neun Jahre älteren Herrn, der mit ihrem Vater Ähnlichkeit hatte. Drei bis vier Jahre später verlor sie den Vater. Mehrere Bewerbungen schlug sie aus, da sie innerlich an ihr Vatersurrogat gebunden war. (...) Als Fünfundzwanzigjährige trat sie wegen nervöser Erscheinungen in das Sanatorium eines Nervenarztes ein, da sie an Schlaflosigkeit litt, im Zimmer ringsherum Körbe voll Schlangen hängen sah und auch sonst sehr erschöpft war. Der Arzt ordnete nach alter Väter Sitte eine Mastkur an, die aber nicht anschlug, indem unsere Leidende in zwei Monaten sieben Pfund an Gewicht einbüßte. Sie trat daher ungebessert aus. Die Symptome klangen hierauf nachträglich langsam ab, doch blieb der Hysterika eine pathologische Angst vor wirklichen und gemalten Schlangen. Mit 32 Jahren entschloß sie sich aus Neigung zu einer Heirat mit einem ebenfalls neun Jahre älteren hochintelligenten Manne, der sie liebte, ihre Fähigkeiten hoch schätzte und ihr eine hervorragende Lebensstellung bot, aber von einem gewissen eheherrlichen Egoismus vielleicht nicht ganz freigesprochen werden kann. Er verlangte, daß seine Frau ganz nur für ihn lebe, und nahm auf ihre geistigen und gemütlichen Bedürfnisse wenig Rücksicht. Trotzdem liebte sie ihn aufrichtig und innig, wiewohl sie sich unverstanden fühlte. Seit einigen Monaten sind ihr die sittlichen und religiösen Werte versunken, so daß sie sich sehr unglücklich fühlt und nach Seelsorge sehnt." Diese Geschichte spricht für sich. Der inneren Bindung an den Vater entspricht die tiefgestörte Einstellung zur eigenen Sexualität. Die schwarzen Zöpfe des schmutzigen Weibes im ersten Traum erinnern Frau A. an Schlangen. Sie ekelt sich, obgleich sie sonst lange, schöne Haare liebt. "Wie gern bewunderte, wusch und kämmte ich stets die wundervollen Haare der Freundin [Nina]!" In unverdächtiger, homoerotisch sublimierter Form ist Sexualität schön, als gewissermaßen unverschleierte Triebhaftigkeit ist sie häßlich und gefährlich. Diese Seite ist in der Mutter-Imago verkörpert; das entspricht dem in der Pubertät wiederauflebenden ödipalen Haß auf die mütterliche Nebenbuhlerin. Dieser Haß äußert sich in Frau A.s erstem Traum so unverblümt, daß Pfister sich zu der völlig isoliert dastehenden Bemerkung veranlaßt sieht, neben dem Haß sei aber auch Liebe zur Mutter vorhanden.

9.2. Aktuelle und historische Szene

339

Die Szene mit der Freundin Nina entspricht der in der Adoleszenz notwendigen gleichgeschlechtlichen Indentifizierung, mit deren Hilfe die junge Frau sich von den Eltern lösen und zur eigenen Geschlechtsidentität finden kann. 8 Als mütterliche Freundin repräsentiert Nina aber auch die 'gute Mutter'. Sicher wird dies dadurch erleichtert, daß sie, nach glücklicher Ehe, Witwe geworden ist. Bei einer anderen glücklichen Familie, die Frau A. idealisiert, ist ebenfalls der Mann, "ein reizender Mann", gestorben. Dagegen sind Beziehungen zu Frauen mit Männern schwieriger, weil Frau A. dann offensichtlich dazu neigt, ihre ödipale Fixierung zu agieren, indem sie Dreiecksbeziehungen konstelliert und jedenfalls die realen Beziehungen nach diesem Muster erlebt. 9 Auch zu Ninas Mann hatte sie, sich selbst unbewußt, "eine starke Neigung" gefaßt, worauf Nina sie selbst hinweist. Und in der Zeit der "Übertragungsnot" werden ihre Träume "durchsichtig erotisch, eine Reihe von Liebeserlebnissen kehrte in ihre Erinnerung zurück. Stets waren es verheiratete Männer gewesen, die mit ungestümen, unerlaubten Liebesgeständnissen die Analysandin bestürmt hatten, und regelmäßig war Abscheu vor der Sinnlichkeit bei der feinfühlig und gewissenhaft denkenden Dame zurückgeblieben." So kann sie dem Vater, dessen eigene Verheiratung ignorierend, die Treue halten, die zugleich Nichterfüllung und Verurteilung der "Sinnlichkeit" bedeutet. In der projektiven Abwehr - die Männer sind es, die etwas wollen steckt zugleich ein Stück Verleugnung der eigenen Wünsche. In der Übertragungssituation kann Frau A. jedoch nicht mehr leugnen, in "heftige Gefühle" zu geraten, "die mit Vernunft und Gewissen in Zwietracht kamen und daher große innere Unruhe hervorbrachten". Vor 20 Jahren hat Frau A. diesen Konflikt 'gelöst', indem sie, nach einer langen Zeit psychischer und psychosomatischer Symptombildungen, einen Vatervertreter heiratete. Wir dürfen vermuten, daß die Mutter

8 Vgl. die jungmädchenhaft schwärmerische Anrede in einem Brief an Nina (ebd. 64): "O liebe, liebe Freundin, wenn ich Dich jetzt nur bei mir hätte, so ganz für mich, so ganz nah, um Dir sagen zu können, was ich Wunderbares erlebt habe! (...) Und doch drängt es mich. Dir alles zu sagen. Dir, die Du ja ein Teil meines besseren Selbst bist, so innig liebe ich Dich". 9

Am Beginn der "Kette der Übertragungsträume" sagt sie: "Unglücklich war ich gestern, sehnte mich, eine Predigt von Ihnen zu hören und mußte meines Mannes wegen zu Hause bleiben" (43f„ vgl. 42, 71, 80). Die folg. Zitate 69.

340

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

weiterhin 'dazwischen' blieb,10 so wie es offensichtlich auch im Verlauf der Beratung geschieht: Als Frau A. sich im Alpenurlaub in "höhere Sphären" träumt, genügt "ein unfreundlicher und ungerecht anklagender Brief der Mutter ... vollständig, unsere Analysandin von ihren Höhen herabzureißen". Frau A. rächt sich prompt mit dem nächsten Traum, in dem sie die "brutal alle Selbstbestimmung vernichtende Mutter" (so Pfister in der Besprechung des Traumes) wütend ins Gesicht schlägt. "Ich erteilte brieflich Aufschluß über die Veranlassung des Rückfalls und den psychologischen Charakter der Regression, worauf die Analysandin der Mutter verzieh und sich zu einer imposanten Sublimierungsleistung aufschwang", nämlich einen weiteren Höhen-Traum mit "Sphärenmusik". Darin erscheint Pfister als Verkünder eines neuen Lebens und Nina als mütterlich-zärtliche Freundin. Doch die Mutter tritt ein zweites Mal dazwischen, diesmal aber nicht real, sondern im Traum. Es ist ja die früh erworbene Mutter-Imago, die Frau A. viel mehr zu schaffen macht als die jetzt noch lebende Mutter. Oder mit Pfisters Worten: "Die Mutter ist selbstverständlich nicht nur die historische Mutter der Träumerin, sondern auch und vielmehr deren Mutterähnlichkeit, die dem Mann schon viel Leid bereitete." Die Mutter-Imago ist also weitgehend zu einer extrem ambivalent besetzten Selbst-Imago geworden. Das spricht Frau A. in ihren Traumeinfällen selbst aus. "Es ist mir oft, wie wenn sie mich zwänge, so schlecht zu werden, wie sich mich schildert. Oft erlag ich dieser unheilvollen Macht und bin dann unendlich beschämt und unglücklich. Einer der nachfolgenden Träume handelt von Frau A.s mühevollen und oft erfolglosen Versuchen, ihre innere Einstellung und damit ihre Beziehung zu ihrem Mann zu verbessern.

10 Das war, neben der Sexualabwehr, für Frau A. vielleicht auch deshalb wichtig, um sich zu vergewissern, daß die Rivalin nicht vernichtet war. Wäre sie mit dem M a n n / V a t e r endlich allein, wären auch ihre aggressiven Wünsche verwirklicht, und das darf und kann natürlich nicht sein. Erst in der neuen Situation des Klimakteriums funktioniert diese Form der Kontrolle der Aggressivität nicht mehr recht. Zum Folg. s. 45, 52, 55-57, 62 f.

9.2. Aktuelle und historische Szene

341

"Da erscheint die Mutter und bietet ihre Hilfe an, die ruhig abgelehnt wird. Die Mutter rächt sich, indem sie Analyse und Religion [!] verhöhnt. Darauf schreitet die Träumerin durch lange Gänge, die mit schwarzen Tüchern verhängt sind, und erwacht mit der Empfindung, alles Schöne, Liebe und Erhabene in ihrem Leben sei zu Grabe getragen." Der Seelsorger stellt also das Gegengewicht zur 'bösen Mutter' dar. Auf ihn wird der 'gute Vater' und wohl auch Anteile einer 'guten Mutter' übertragen. Das gleiche gilt von der Freundin Nina. Beiden steht die Mutter als 'böse' gegenüber und irgendwo auch der Ehemann, von dem sie sich ähnlich unverstanden fühlt wie von der Mutter." Es fällt auf, daß der Mann im Gegensatz zu dem anfänglichen Traumbild vom Stier eher schwach erscheint. Seine sowohl materielle und gefühlsmäßige Sparsamkeit erlebt Frau A. als übertrieben ängstlich. (Pfister bemerkt dazu verständnisvoll, daß Liebe eben allezeit verschwende, was eher in sein Selbstbild paßt, vgl. Kap. 3.4.) Die Frau zieht ihren Mann auf einem Schlitten; er ist im Traum und in Wirklichkeit leidend. Es mag sein, daß die in der Angst vor dem Stier abgewehrten, zensierten sexuellen Wünsche in der Tat nicht gut in Frau A.s Eherealität hineinpassen; ihr Mann ist immerhin fast 60 Jahre alt. Ende Juni, also noch im ersten Drittel der Beratung, spricht Pfister im Anschluß an Frau A.s eigene Einfälle fast rührend von ihrem "Vorsatz, dem kranken Mann eine, wenn auch nicht eigentlich brennend liebende, so doch mitleidig stützende Helferin zu sein". In diesem Vorsatz steckt sicher, wie in jedem auffälligen Helfer-Willen, ein Stück verleugneter Aggressivität. Im Hintergrund steht wohl der Wunsch, sich zu rächen für die vielfachen Abhängigkeiten durch den "eheherrlichen Egoismus" des Mannes, wie Pfister es nennt.12 Die aggressive Symptomatik bietet Frau A. ja als Hauptproblem an; auch Pfister hält sie am Schluß der ersten Sitzung für im Augenblick dringlicher als die sexuelle Problematik. Doch in Bezug auf Frau A.s gute Vorsätze für ihre Ehe, in der ja beide Triebkonflikte miteinander verflochten sind, spricht Pfister bereits in den ersten Wochen der Beratung von ihrer "leisen Ahnung, daß hierbei keine

11 Für unsere Zwecke erscheint es nicht nötig, streng zwischen inneren und äußeren Objekten zu unterscheiden. - Zum Folg. vgl. 48, 63, 53, 55. 12 Ebd. 37, vgl. 35, 40. - Zum sog. Helfersyndrom vgl. Freud: GW XIV 290; Hans March 1951, 75 ff., bes. 108 ff. (Herrschen durch Helfen); Scharfenberg 1972, 81-84; Schmidbauer 1977 (Die hilflosen Helfer); Stollberg 1978, 25 f. (Lit!).

342

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

Aussicht auf Ruhe und Vervollkommung winke".13 Freilich scheint es, daß sich die Ehebeziehung gegen Ende der Beratung wirklich verbessert hat. Frau A. spricht von einer auf ihren Mann gerichteten "Liebessehnsucht". Obgleich er sich nicht prinzipiell geändert hat, kann sie wieder mehr Positives in ihm und in seinem Charakter sehen. Beide Eheleute scheinen toleranter geworden zu sein, vor allem gegenüber ihren eigenen Wutanfällen. Frau A. erkennt stärker als früher, was sie an ihrem Mann hat, und ist daher eher bereit zurückzustecken. Zugleich scheint ein Stück insgeheimer Idealisierung des Mannes aufgehoben zu sein; sie muß nicht mehr "unendlich traurig" werden, wenn er gegen sie heftig war, und dann ihrerseits aufbrausen. Allerdings, wenn wir den Beratungsprozeß insgesamt überblicken, dann ist er weniger ein Weg der Beziehungserklärung als der Selbst-Klärung. Mit ihr selbst ist etwas Wichtiges vorgegangen, und das wird sich hoffentlich auf ihre Ehe auswirken. In ihren eigenen Worten: "Da ich mich nun innerlich frei fühle, ist es doch möglich, daß unser Verhältnis immer schöner werde." Diese innere Freiheit erläutert Pfister so: "Der Einklang des Bewußten mit dem Unbewußten ist gefunden. Das Bewußtsein muß nicht mehr ringen gegen unbewußte Gegenstrebungen." Ohne Zweifel sind die Gegenstrebungen zunächst einmal verdrängte, abgewehrte, unverarbeitete Triebwünsche, wie sie in den genannten Beziehungsreihen aufbrechen, am deutlichsten in der starken positiven Übertragung auf den Seelsorger. Pfister sucht Frau A. den illusorischen Charakter der Liebesflut "zu enthüllen". Er verweist auf die hohen ethischen Werte, die hinter der "scheinbar rein verwerflichen Gefühlsäußerung" liegen. Ebenso wird, so Pfister, die "Ambivalenz der Übertragung" deutlich, denn Frau A. rächt sich für die Ablehnung ihrer Gefühlsflut mit einer nächtlichen Phantasie vom Seelsorger als einem Mann, der sie mit weit ausgebreiteten Armen von Gott abhält. In diesem Bild finden wir einerseits die uns schon bekannte Tendenz der Träumerin, ihre Wünsche durch Projektion auf andere

13 Ebd. 55. Nach einem Vierteljahr aber reagiert Frau A., nach kurzer Fassungslosigkeit, mit Humor auf eine spöttische Äußerung ihres Mannes (47), eine bemerkenswerte Ichleistung. - Das Folg. 89 f., 87, 70, 72.

9.3. Der narzißtische Konflikt

343

abzuwehren und damit die Wünsche wie auch die anderen Menschen zu entwerten. Andererseits erkennen wir darin auch eine maßlose Überschätzung Pfisters, "als Gegenstück zur Unterschätzung", indem sie ihn mit dem gekreuzigten Christus gleichsetzt [10.2],

3.

Der narzißtische Konflikt

In solcher Arbeit werden Frau A.s eigene konfliktuöse Triebwünsche zweifellos ein Stück weit bewußtgemacht, anerkannt, integriert. Dies geschieht in sehr sublimer Weise; die Sublimierung entsprechend den eigenen Möglichkeiten der Klientin bleibt ja Pfisters Hauptziel in dieser Beratung. "Wenn wir in der skizzierten Analyse wenig mit Sexualität im engeren Sinn zu tun hatten, so liegt dies einerseits an der Vornehmheit der Analysandin, die eine außergewöhnlich ausgeprägte Sublimierungssehnsucht und -fähigkeit besitzt, andererseits an der relativen Untiefe ihrer Konflikte." Was Pfister nicht sagt und damals so nicht sagen konnte, ist die Tatsache, daß Frau A.s Probleme offensichtlich auf einem narzißtischen Konflikt aufruhen, in dem es um ihr Selbst und ihr Selbst-Bild geht. Wie die Triebkonflikte ist auch der narzißtische Konflikt von ihrer lebensgeschichtlichen Situation, dem Klimakterium und der hinter ihr liegenden Operation, nicht zu trennen. Inwieweit Frau A.s spezifisches Konflikterleben durch diese Umstände erst hervorgerufen wurde und inwieweit sie möglicherweise durch eine schon vorher bestehende narzißtische Persönlichkeitsstruktur zu gerade dieser Form disponiert war, können und brauchen wir nicht zu entscheiden. Auf inneren Zusammenhang von Trieb- und Selbstkonflikten im Klimakterium, weist uns das folgende Zitat eines zeitgenössischen Psychoanalytikers hin. Es beschreibt die zwei von den vielen Reaktionsmöglichkeiten der Frau auf die Krise Klimakterium, die wir bei Frau A. besonders deutlich sehen: "Viele Frauen beantworten die Kränkung über den 'Wegfall des einzigen, was man den Männern voraushat', mit Hadern, Vorwürfen gegenüber sich selbst und der Umwelt. - Andere Frauen

14

Ebd. 91. Zur Sublimierung bei Frau A. s. bes. Kap. 10.3. allgemein Kap. 7.8.

344

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

reagieren auf das Gefühl der 'Inhaltslosigkeit' und des angeblichen Verlustes der sexuellen Aktivität und der damit verbundenen Entwertung als Frau mit schweren Ängsten und Beunruhigungen (besonders wenn die libidinösen Wünsche, wie oft zu beobachten, noch ansteigen)." 15 Der Umgang mit der Krise Klimakterium, d.h. wie und wie sehr eine Frau diese "Kränkung" empfindet, hängt also zumindest auch mit ihrer narzißtischen Balance zusammen, mit dem Zustand ihres narzißtischen Regulationssystems [7.9], Sehen wir noch einmal auf Pfisters im vorigen Abschnitt zitiertes abschließendes Resümee über den Einklang des Bewußten mit dem Unbewußten und die Integration der unbewußten Gegenstrebungen. Bisher sahen wir diese Gegenstrebungen als Triebkräfte, jetzt können wir noch andere Kräfte am Werke sehen. Pfisters Bemerkungen schließen unmittelbar an einen vorher wiedergegebenen Traum Frau A.s an. Nach seiner Meinung zeigt dieser Traum so durchsichtig und deutlich Frau A.s innere Entwicklung, daß er kommentarlos wiedergegeben werden kann. Der Tenor des Traumes ist die Bitte des Vaterunser "Dein Wille geschehe". An dieser Stelle bleibt die Träumerin stecken, als sie in der Kirche auf eine Bitte Pfisters hin das Vaterunser singt, während er sie an der Orgel begleitet. Sie kann diese Worte nur immer und immer wiederholen, sinkt in tiefster Beschämung auf die Knie und hält Zwiesprache mit Gott.: "... Was ist meine Bestimmung? Warum muß ich so elend sein ...?" Sie bittet um das Geschenk der göttlichen Gnade für sich selbst und für ihr Wirken im Sinne der Menschenliebe. Und dann will sie hinter andere zurücktreten, die vielleicht eher als sie selbst zu Werkzeugen Gottes "auserwählt" sind. Sie will sich "in Demut bescheiden" und zufrieden und glücklich sein, wenn nur etwas von all dem "Schönen, Großen, Heiligen, was Du Deinen Auserwählten gibst ..., auf mich zurückstrahlt. Dein Wille geschehe!" 16 Ich denke, hier drückt sich ein Verzicht aus, ein Abschied von einem grandiosen Selbstbild. Er wird möglich durch die Ergebung in einen größeren Willen, doch nicht im Sinne einer passiv-masochistischen Unterwerfung, sondern im Sinne einer "bescheidenen", also realistischen

15

Radebold 1973, 141. Im Buch steht statt "reagieren" das Wort "resignieren". Der Druckfehler ist nicht ohne Sinn, sind doch "depressive Verstimmungen" (ebd. 140) das häufigste und von der Umwelt am deutlichsten wahrgenommene Symptom der Wechseljahre. 16

WuS 86 f., vgl. dazu 83 f.

9.3. Der narzißtische Konflikt

345

Anteilhabe am Größeren. Hier wird auch nicht einfach ein Größenselbst durch ein großartiges Objekt ersetzt, eher schon eine Art Balance zwischen beidem hergestellt. Denn Christus ist als Sohn des Höchsten der, der in Gethsemane auf den Knien mit Gott kämpft, betend und klagend, und dann doch den Kelch annimmt. Mit diesem Christus identifiziert sich Frau A., die Traumszene ist der Szene von Gethsemane nachempfunden. Doch wir wollen nicht vorgreifen. Bisher scheint mir soviel deutlich, daß hier die Ebene der Trieb- und Beziehungskonflikte überlagert ist von der Ebene des Strukturkonfliktes. Gewiß, Frau A. sinkt zunächst vor Pfister hin, gibt sich ihm hin. Doch dann löst sich der Mann gleichsam im Orgelspiel auf und sie ist mit "Gott und der Seele" (Augustin) allein. Wir können auch sagen, die Beziehung zum irdischen Mann und Vater geht in die Beziehung zum himmlischen Vater über, der der Vater aller ist. Die Hingabe an den Seelsorger, die Ergebung in seinen Willen dient gerade der Ablösung von ihm, weil er von sich wegweist auf Größeres und Wichtigeres, im Bild des vorhergehenden Traumes: auf seinen "Himmelsgarten". Sicher habe nicht nur ich Schwierigkeiten mit dieser gehobenen, plerophoren Bildersprache aus Religion und Literatur, wie sie Frau A. und zum Gutteil auch Pfister ungebrochen benutzen. Über Bedeutung und Gültigkeit der symbolischen Bild- und Wertwelt besteht zwischen den beiden eine selbstverständlich erscheinende Übereinstimmung. Es wird sich aber in erster Linie um den common sense des damaligen gebildeten Bürgertums handeln, das von der radikalen Kulturkritik noch nicht eingeholt war. Die Schatten des 1. Weltkrieges sind noch zu kurz. Die christlichen Symbole sind in die kulturellen funktional eingebunden. Es ist aber kein Zufall, daß hier der einzige Dissens zwischen Frau A. und Pfister besteht, nämlich im Verständnis des Kreuzes Christi. Diesen Dissens wertet Pfister als Defizit, j a fast als Symptom bei seiner Klientin, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden. Zumal bei Frau A. erlebe ich diese Sprache in ihrer Blumigkeit teils überladen und hohl, teils unangemessen kindlich. Es spricht aber doch sehr vieles dagegen, daß wir Heutigen uns durch diesen schönen Schein täuschen lassen könnten, d.h. daß er bereits damals in dem Sinne Schein war, daß er nichts als gewissermaßen den Überbau über einen klassischen hysterischen Konflikt bildet. Das fremde Sprachspiel läßt uns wohl manchmal lächeln, vielleicht auch die prosaische Sprache der Freudschen Sexualtheorie herbeiwünschen. Doch gilt es zu bedenken, daß viele der angeführten Bilder und Motive für die Damaligen noch lebenskräftiger und echter als geistige Realitäten erlebt wurden, als wir Heutigen es uns nach den Umwälzungen des Jahrhunderts vorstellen können. (Wir sagen lieber Identität als Seligkeit.) Zweifellos gibt es Züge in Frau A.s Persönlichkeit, die auf eine hysterische Struktur verweisen. So spricht auch Pfister nebenher wie selbstverständlich von Frau A. als "Hysterika". 17 Zu denken ist vor allem an die enorme Vaterbindung, die wiederholte

17

Ebd. 37, vgl. 68, 70.

346

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

Konstellation von Dreiecksbeziehungen, die Sexualablehnung bei gleichzeitig deutlich sexuellen Phantasien (die Schlangenphobie!) und solche Symptome wie "plötzliche Ohnmächten, die ihr seit der Kinderzeit sehr häufig zustießen". Letzteres geschieht auch während der Beratung, nämlich in den Tagen nach der Phantasie von Pfister als Mann mit weit ausgebreiteten Armen ... Und doch muß das Hinsinken vor dem Seelsorger und dann vor Gott, wie gerade in der Szene 'Dein Wille geschehe' wiedergegeben, noch einmal von der Hingabe an den Mann unterschieden werden. Insgesamt erscheinen die hysterischen Züge Frau A.s zu unspezifisch und zu wenig dominant (so auch Pfister), um frühere narzißtische Störungen wirklich kompensieren zu können. 18 So können wir das Jenseits der Beziehungskonflikte, also das Jenseits der Objektbeziehungen in manchen von Frau A.s Träumen und Phantasien nicht einfach als hysterische Scheinwelt, als Theater auffassen, sondern müssen es als Erleben im Bereich narzißtisch getönter Vorstellungen ernstnehmen. Ein weiteres starkes Argument für diese Sicht ist die Art der Übertragungsbeziehung zu Pfister, die Frau A. herstellt. Auch sie ist, bei aller direkten Verliebtheit, stark narzißtisch bestimmt, wenn denn narzißtische Objektbeziehungen mit idealisierender Identifikation verbunden sind." So kann Frau A. den Seelsorger auch als Seelenführer zu einem höheren Lebensziel annehmen. Eine klassische Hysterika würde sich durch das, was sie vom Analytiker erhält, nicht bereichert, sondern beengt fühlen. Sie würde das von ihm Übernommene wieder zu verdrängen suchen, also ihre (sexuelle und narzißtische) Bedürftigkeit verleugnen. Frau A. jedoch kommt schon mit der Sehnsucht nach Liebe in die Beratung hinein und wünscht sich im weiteren Verlauf mehrfach, Liebe sowohl erhalten wie geben zu können. Diese Wünsche werden teils verwirklicht, teils sublimiert, was gewisse poetisch verklärte Verzichtsleistungen einschließt. A u c h n o c h in F r a u A . s Z w i e s p r a c h e mit G o t t finden wir Stellen, die sich d u r c h a u s s e x u a l s y m b o l i s c h verstehen lassen, z . B . wenn sie v o n i h r e m "kleinen, heißen F l ä m m c h e n der L i e b e " für G o t t spricht. 2 0 D o c h ist e s n i c h t g a n z natürlich, d a ß a u c h die A u s d r u c k s f o r m e n für die G o t t e s - und Selbstliebe

erotisch

eingefärbt

Gleichgewicht,

sind?

Denn

auch das

Ringen

um

das

innere

u m die B a l a n c e v o n riesig und winzig, a l l m ä c h t i g

und

o h n m ä c h t i g , großartig und b e s c h ä m e n d in der I c h - S e l b s t - F o r m a t i o n g e s c h i e h t in inniger

Verknüpfung

m i t den

Triebimpulsen

und kann d a r u m

auch

s e k u n d ä r libidinös besetzt werden. N u r verändern dabei die B e s e t z u n g e n g e w i s s e r m a ß e n ihre Qualität und Funktion. D i e s e Sicht läßt sich sehr gut m i t der von

Pfister

immer

wieder,

so

auch

hier

geäußerten

Überzeugung

zusammenbringen, " d a ß bei j e d e r tieferen A n a l y s e selbstverständlich sexuelle Spuren auftreten m ü s s e n , d a d e r geistige O r g a n i s m u s bis hinauf in seine

18

Ebd. 79. Über diesen Zusammenhang bei Dora vgl. Marty et al. 1979, 921.

19

Vgl. Henseler 1973, 64 f. Typische Beispiele dafür WuS 27, 39, 63, 71, 77 ff., 89.

20

WuS 87, die folg. Zitate 91, 84, 73, 35, 69.

9.3. Der narzißtische Konflikt

347

höchsten Regionen die primitiven Energien aufnehmen muß. Aber es wäre grundfalsch, nur diesen veredelten oder verwilderten Abkömmlingen der Elementartriebe Bedeutung beizulegen." Das heißt doch, die "höchste Stufe der Sublimierung", die Frau A. erklommen hat, läßt sich eben nicht mit einem schlichten 'nichts als' auf ihre elementaren Triebkonflikte reduzieren. Nur, daß eben das Andere, das Überschießende auch nicht bloß in den höchsten Sphären und Regionen des Geistes beheimatet ist - hier denkt Pfister noch in den Bahnen des 19. Jahrhunderts -, sondern durchaus auf der elementaren Ebene der Ich- und Selbstwerdung, wo es um die psychische Geburt des Menschen und um seine narzißtische Balance geht. Eben darauf, auf den Weg zu einem inneren "Gleichgewicht" fokussiert Pfister in der Arbeit mit und an Frau A.s Träumen. Das Ergebnis der Traumdeutung faßt Pfister zusammen als inneren Konflikt, als "innere Zerrissenheit" zwischen Ideal und Unordentlichkeit (Aggression) sowie zwischen Ablehnung und vorsichtiger Bejahung des Triebhaften (Sexualität). Das ideale Streben von Frau A„ ihre starke Tendenz zur Idealisierung und ihr hoher ethischer Standard also, werden nicht in Frage gestellt, sondern als Grundlage der gemeinsamen Arbeit akzeptiert und in deren Verlauf, allerdings in modifizierter Form, bestätigt. Als Grund für ihre große "innere Unruhe", wie Pfister es später nennt, erscheint das Erschrecken zunächst über ihre Ungeduld und Gereiztheit, dann auch über ihre erotischen Wünsche, insgesamt also über mangelnde Selbst-Kontrolle. Pfister nimmt dieses 'Angebot' an, läßt also das in dem ethischen Standard implizierte Stück Triebabwehr (zunächst) unangetastet. Man tut sich gewissermaßen zusammen, um das "Gleichgewicht der Seele", die innere Harmonie wiederherzustellen, und das geht nicht einfach funktional, sondern nur mit einem großen, einem idealen Inhalt. Frau A. hatte ja schon im ersten Gespräch geäußert, in religiöser Hinsicht fühle sie sich völlig arm, sehne sich aber innig nach Gottes- und Menschenliebe. Und in der zweiten Sitzung meinte sie, seit einigen Monaten seien ihr die sittlichen und religiösen Werte versunken, so daß sie sich sehr unglücklich fühle und nach Seelsorge sehne. Die Leere, die Frau A. zu schaffen macht, geht offensichtlich über das Gefühl der "Inhaltslosigkeit" nach ihrer Operation hinaus. Entsprechend ist das, was sie von Pfister erhält, nicht nur die Zuwendung eines (jüngeren) Mannes, sondern auch die narzißtische

348

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

Zufuhr, die in der verständnisvollen Überich/Ichideal-Systems liegt.

Zuwendung eines Vertreters des

Dieser innere Beistand ist für Frau A. in der Krise ihrer Lebenssituation verloren gegangen. Auffallend häufig im Fortgang der Beratung spricht sie davon, daß sie sich unverstanden und ungeliebt fühlt, fast immer bezogen auf den Ehemann (als Vatervertreter) und auf die Mutter.21 Zurückweisung und Unverständnis von Seiten der zugleich ja hochidealisierten Eltern bedeuten für das Kind eine erhebliche Erschütterung seiner narzißtischen Balance bzw. des Weges dorthin, den es sich erst erarbeiten muß. Des öfteren während der Beratungsarbeit fühlt Frau A. sich in ihre Kinderzeit versetzt; dabei kommen auch Erlebnisweisen zur Sprache, die unsere Sicht unterstützen: "Damals stritten die Eltern oft, die Mutter war überstreng und hart gegen mich, gelegentlich war sich auch liebevoll, aber ich konnte es dann nicht erwidern." Als Kind konnte sie sich also gleichmäßiger Liebe und Zuwendung nicht sicher sein. Doch in der aktuellen Szene des Beratungsprozesses erfährt sie in kontinuierlicher Weise Verständnis und Liebe in der 'idealen' Rollenverteilung des Elternpaares Pfister und Nina. In der aktuellen Übertragungsszene kann sie auf neue Weise Kind sein; darin sind Elemente ihres "Kindheitsleides" aufgehoben. So können wir so manche Infantilismen bei Frau A. besser verstehen, und nicht mehr so verwunderlich erscheint nun Pfisters gelegentliche Klage, die Analysandin sei im Gespräch (über ihre Übertragungen!) außerordentlich schwer zu bewegen gewesen, "in ihre Vergangenheit hinabzusteigen und dort die Ketten der Vergangenheit zu lösen."

4.

Die narzißtisch-idealisierende Übertragung

Der Seelsorger bedeutet für Frau A. mehr als der Mann und der verständnisvolle Begleiter und Anleiter zu mehr Selbsterkenntnis. Im Traum hält er ihr einen "schönsten Schmuck" freundlich lächelnd entgegen, später verstanden als das "Juwel des Glaubens", das sie lange beiseite gelegt hatte, wie um es nicht zu verlieren.22 In einem weiteren Traum erscheint der Analytiker, jedenfalls in der Paraphrase, als "Vertreter des Hohen und Verkündiger der Wiedergeburt zu einem Leben in ewiger Schönheit". Doch er entfernt sich

21 22

Vgl. ebd. 37, 40, 46 f., 57 f., 63. Die folg. Zitate 68, 52, 70.

Ebd. 46, 50. Die folg. Zitate 61 f. 65-67. - Durch seine übertriebene Angst vor Verlust oder Diebstahl hatte ihr Mann ihr die ursprüngliche Freude am Schmuck verdorben. Den Edelstein, den sie jetzt im Traum von Pfister erhält, hatte ihr früher einmal der Ehemann geschenkt. Durch Pfisters Deutung wird die so konstellierte Dreieckssituation, die er selbst andeutet, harmonisiert: Der Ehemann steht zwar der Analyse unfreundlich, der Religion aber freundlich gegenüber (46-51).

9.4. Die narzißtische-idealisierende Übertragung

349

wieder, ebenso wie die ihm nachfolgende Freundin Nina, und hinterläßt nur die Aufforderung zur "mutigen Menschenliebe und Frömmigkeit". In einem anderen Traum sieht sie "Herrn Pastor" auf einer steilen, breiten Straße höher steigen und immer mehr ihren Augen entschwinden. Sie kann ihm nicht folgen, in größer Verzweiflung sinkt sie in die Knie und bittet Gott "um Kraft, weiter und aufwärts schreiten zu können". Am Abend darauf hat sie ein halluzinatorisches Bekehrungserlebnis: "Ich stöhnte auf unter meiner Last, und plötzlich ersteht vor meiner Seele das Bild des gekreuzigten Erlösers." Die neugewonnene innere Ruhe, beschrieben als beglückendes Gefühl der Gottesnähe und Gottesgewißheit, ist offensichtlich noch immer durch die Person Pfisters vermittelt: "Es ist mir, wie wenn eine liebende Gestalt hinter mir stünde, ich fühle einen sanften beruhigenden Druck, wie von zwei liebenden Händen, auf meinen Schultern. Eine wunderbare Ruhe kommt über mich. Frau A. schreibt dies alles in einem Brief an die Freundin. Pfister zitiert daraus. Er selbst erhält erst zwei Wochen später einen "inhaltsschweren" Brief über ihr Erlebnis: "Sie wünscht, daß ich auch ferner ihr Führer bleibe. Andererseits liebt sie die Stille und Zurückgezogenheit, um die beseligende Liebe Gottes in immer gleicher Stärke ungestört genießen zu können." An dieser Stelle werden die beiden Linien besonders deutlich, die sich durch die gesamte Beratung ziehen. Auf der einen Seite steht die Übertragungsbeziehung zu Pfister, auf der anderen Seite die narzißtische Sublimierung dieser Beziehung, bis hin zu dem Wunsch, mit Gott bzw. in seiner Liebe allein zu sein. Die Dynamik der Übertragung ist mit Frau A.s "religiöser Umwandlung", wie Pfister es nennt, keineswegs verschwunden.23 Im Gegenteil, in

23

Ebd. 67. "Man darf solchen Erlebnissen [Bekehrung] keine allzu große Bedeutung beilegen. Wo die Verklemmung tief steckt, sind Rückfälle unvermeidlich." Dieser trockene Kommentar Pfisters aus späterer Sicht (AS 107) scheint Frau A.s Rückfall durchaus in seiner inneren Notwendigkeit zu sehen. Er kündigt sich ja bereits in ihrer Empfindung einer hinter ihr stehenden liebenden Gestalt an (s.o.) und ist damit fest mit dem Bekehrungserleb-

350

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

einer Art Rückfall kommt es in den Wochen danach - Frau A. ist aus den Alpen-Ferien zurückgekehrt - zu einem solch starken Aufbrechen der "Übertragungsnot", daß Pfister sich genötigt sieht, die Zahl der Sitzungen über den wöchentlichen Turnus hinaus zu vermehren. Diese offenbar recht dramatische Arbeitsphase mündet aus in die uns bereits bekannte Phantasie Frau A.s von Pfister als Mann, der sie mit weit ausgebreiteten Armen von Gott abhält. In dem Wunsch, er möge ihr Führer bleiben, steckt neben dem Anteil klassischer Übertragung sicher auch ein Stück idealisierende Überhöhung des Seelsorgers. Diese Tendenz durchzieht mit zunehmender Stärke den gesamten Beratungsverlauf. Sie transzendiert die Ebene der 'realen' Objektbzw. Übertragungsbeziehung und führt je länger, je mehr zu partiellen Verschmelzungen mit dem idealisierten Objekt. Mit der idealisierenden Vergrößerung geht auch eine gewisse Entindividualisierung, ja Entpersonifizierung Pfisters durch Frau A. einher. Sie geht allerdings nie so weit, den Seelsorger in der Weise zu vergöttlichen, daß er selbst zum höchsten Ideal würde. Immer bleibt er der Mittler und Vermittler, eben der "Führer" zum Höheren, das für Frau A. wie für Pfister selbst im Symbol der Gottesliebe sich ausdrückt.24 So erscheint es ganz natürlich, daß sie Pfister mit Christus, kurzfristig auch mit Parsifal identifiziert. Doch auch in dieser Funktion des göttlichen Mittlers tritt der Seelsorger immer mehr hinter den wahren Mittler, hinter Christus selbst zurück. Frau A. findet zu einer eigenen Christusbeziehung, die natürlich stark von idealisierender Identifikation geprägt ist. Wir können also sagen, daß die Beziehung zu Pfister zwar zum "Ideal" führt, aber eben nicht dieses selbst darstellt. Die Verschmelzung mit dem (überpersönlichen) Ideal bedeutet natürlich auch und zugleich eine bestimmte Verbindung mit Pfister, der ebenso wie Frau A. daran Anteil hat bzw. damit verschmolzen ist. Es ist aber keine enge personale Bindung mehr, sondern eine Ver-Bindung in etwas Drittem. Frau A. sagt in der Schlußsitzung, seit

nis verbunden. Bald darauf gerät sie in "heftige Gefühle" für den Analytiker, doch "was äußerlich als Verschlimmerung der Sachlage aussieht, ist in Wirklichkeit ein großer und für die vollständige Heilung nötiger Fortschritt" (WuS 69 f.). 24

In dem Traumgedicht, mit dem die Beratung abschließt, erscheint der Seelsorger als "des Gottesboten lichtumflossene Gestalt" (ebd. 88). Die Botschaft und ihr Urheber bleiben unterschieden. Die Vergoltung des Therapeuten geht nicht so weit wie in jenem Klientenbrief, der beginnt: "Lieber Gott, alias Doktor!" (bei J.H. Ross 1977, 198 f.). Seine idealisierende Vergrößerung bleibt immer relativiert, das Ideal selbst gleichsam sachlicher.

9.4. Die narzißtische-idealisierende Übertragung

351

dem letzten Traum fühle sie sich "von den Übertragungsempfindungen völlig befreit". Dazu meint Pfister, "daß wirklich keine Bindung an den Analytiker mehr vorhanden ist, wenn er auch noch immer maßlos überschätzt wird."25 Je länger, je mehr finden wir in Frau A.s Träumen und Phantasien einen Ton des Verzichts auf die nahe, persönliche Beziehung zum Seelsorger und sogar zur Freundin Nina. Darin spiegelt sich der Trennungsprozeß gegen Ende der Beratung wider; auf die Dauer müßte dieser Verzicht sich auch auf die Idealisierung des Seelsorgers erstrecken, d.h. die Möglichkeit eröffnen, ihn, in gegenläufiger Bewegung, realistischer zu sehen. Das scheint der Klientin ja in der Beziehung zu ihrem Mann schon teilweise zu gelingen. Die gleichwohl bleibende Überschätzung des analytischen Seelsorgers hält Pfister offenbar schon jetzt nicht mehr für pathogen. Anscheinend traut er der Dynamik der christlichen Symbole, die die Beratungsgespräche immer mehr bestimmen, auch zu, die idealisierende Vergrößerung des Seelsorgers zuletzt auf realistische menschlich Konturen zurückzubringen. Die vorerst bleibende Überschätzung mag aus beiden Quellen stammen, die Freud angibt, der unerfüllten, schwärmerischen Liebe, die eher zu einer Ich-Verarmung führt, und der narzißtischen, also idealisierenden Identifikation, die, gerade in Verbindung mit einer Trennung, zu einer Veränderung und Bereicherung des Ich beitragen kann. 26 Pfister knüpft sicher nicht zufällig an Freuds Begriff der Überschätzung des Sexualobjektes an. Diese entstammt dem ursprünglichen Narzißmus des Kindes und tritt regelmäßig in dem milden Wahnzustand auf. den wir als Verliebtheit kennen. Mit ihr ist eine Idealisierung, d.h. eine Vergrößerung und psychische Erhöhung des Liebesobjektes verbunden. Der narzißtische Charakter der Idealbildung erhellt aus ihrer Entstehung. Was der Mensch "als sein Ideal vor sich hinprojiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war." Dabei handelt es sich wirklich um den Zustand eines "primären Narzißmus", denn in dem von ihm abgeleiteten späteren Zustand der extremen Verliebtheit "droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen .... behauptet der Verlieble, daß Ich und Du Eines seien, und ist bereit, sich, als ob es so wäre, zu benehmen". Auch Frau A. benimmt sich zeitweise so, wobei sie es allerdings mit Pfister und Christus zu tun hat. Wenn sie gegen Schluß der Beratung den Seelsorger weiterhin überschätzt, so liebt sie ihn ein Stück weit immer noch als ihr Ideal, während diese Stelle

25 Ebd. 90. - Zur Parsifal-Identifikation vgl. 78, zur größeren Distanz auch zur Freundin Nina 63. 26

423.

Freud: GW XIII 124 f. Zum Folg. vgl. V 49 f.; X 154. 161 f.: XIII 128. 150: XIV

352

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

inzwischen doch ganz von Christus eingenommen sein sollte, jedenfalls in Freuds Sicht der spezifischen Identifizierungsvorgänge unter Christen: Christus als geliebter Führer, also gewissermaßen anstelle des Ichideals, das wäre auch die beste Anregung zur Sublimierung der Triebwünsche. Für Pfister bliebe dann von Seiten Frau A.s nur eine Ich-Identifizierung übrig; die beiden bildeten gleichsam eine "primäre Masse" mit Christus als gemeinsamem Führer (Ichideal). Doch sie "soll überdies sich mit Christus identifizieren und die anderen Christen lieben, wie Christus sie geliebt hat",27 so beschreibt Freud scharfsinnig die zusätzliche Komplizierung der Verhältnisse in der "künstlichen Masse" Kirche im Unterschied zum Heer. Dort würde es lächerlich wirken, wenn der einfache Soldat sich mit dem Feldherrn identifizieren wollte. Doch in bezug auf die Kirche fährt Freud fort: "Die Identifizierung soll dort hinzukommen, wo die Objektwahl stattgefunden hat, und die Objektliebe dort, wo die Identifizierung besteht." Er hält diesen christlichen Anspruch einer "höheren Sittlichkeit" für eine glatte Überforderung der Masse. Bedenken wir aber, wie eng Christus und Pfister für Frau A. zeitweise zusammengehören, ferner, daß sowohl Identifizierung (im Ich) wie Liebe (zum Ideal) sich narzißtischer Potenzen bedienen, dann sieht die Sache für Frau A. schon besser aus. Und auch wir anderen überforderten Christen ahnen jetzt vielleicht mit Freud etwas von der Chance, den "Triumph" zu empfinden, "wenn etwas im Ich mit dem Ichideal zusammenfällt". Umgekehrt, "als Ausdruck der Spannung zwischen Ich und Ideal kann ... das Schuldgefühl (und Minderwertigkeitsgefühl) verstanden werden". Diese Spannung ist für Frau A. vielleicht zu Beginn der Beratung in dem ungleichen Paar Mutter (unzulängliches Ich) - Nina (hohes Ichideal) verkörpert. Warum sollte die bleibende Überschätzung Pfisters durch Frau A. nicht auch einen narzißtischen Triumph andeuten? Die zeitweise Idealisierung, ja Vergöttlichung des Analytikers als Mittler ist auch nach Pfisters theoretischem Ansatz allemal notwendig [8.8]. Er scheint darauf zu vertrauen, daß Frau A. noch mehr Idealisierung bzw. Überschätzung von ihm selbst auf Christus als das Urbild des Mittlers transformieren kann, daß sie sich also mit Christus nicht nur wie bisher nach seiner Menschheit identifiziert (nach seinem Leiden), sondern immer mehr auch nach seiner Gottheit. In diesem Symbolverständnis bliebe sie ja nicht nur mit Pfister verbunden, sondern überdies mit einem Großteil der Christenheit und einem nicht unbeträchtlichen Teil der menschlichen Gesellschaft. Im Falle der Christusbeziehung geht die "Hingabe", die nach Freud aus der Überschätzung folgt, weder an eine geliebte Person noch an eine abstrakte Idee, sondern an eine Symbolgestalt. Der Ausweitung dieser Gestalt ins Riesenhafte, der Verzerrung ihrer personalen Konfiguration steht das Kreuz entgegen. Der Gekreuzigte lädt weniger zur

27 XIII 150 f. Das Folg. ebd. 151, vgl. auch 147, 125 sowie Ricoeur 1969, 225. - Die Konzepte Idealisierung, Identifizierung und Sublimierung und ihr innerer Zusammenhang bleiben bei Freud vielschichtig und zuletzt metapsychologisch ungeklärt. Das hat, noch ohne die neuere Narzißmustheorie, Paul Ricoeur überzeugend herausgearbeitet (1969, bes. 223 ff., 490 ff.).

9.5. Die narzißtisch-sublimierte Befriedigung

353

Faszination ein (die zur Überschätzung gehört) als zur Identifikation mit seinem Selbst-Sein und seiner Selbsthingabe.

5.

Die narzißtisch-sublimierte Befriedigung

Die Idealisierung des Seelsorgers ist die entscheidende Brücke zwischen den beiden Hauptlinien des Beratungsprozesses, der Übertragungsdynamik und der narzißtischen Sublimierung. Letztere ist charakterisiert durch Frau A.s Wunsch nach dem zurückgezogenen, ungestörten Genuß der immer gleichstarken Gottesliebe, wie sie es in dem im vorigen Abschnitt zitierten Brief ausdrückt. Es ist dies der Wunsch nach einer an die Mystik erinnernden fruitio dei. Für Frau A. ist sie verbunden mit Zurückgezogenheit und Stille, mit (teils literarisch vermittelten) überwältigenden Naturerlebnissen, mit Licht und Musik und mit einer Ausweitung des Raumes, der sie über die irdischen Realitäten sich erheben und in höhere Sphären gelangen läßt. Solche Szenerien bestimmen mit zunehmender Tendenz Frau A.s Träume während der Beratung. Es beginnt damit, daß sie unmittelbar nach der Arbeit an dem Traum von Kuh und Stier [Abschn. 1] einen "Sublimierungstraum" träumt, wie Pfister ihn nennt, "der uns verrät, wie ernstlich sie ihren in Hinsicht auf die Ehe ungestillten Lebenshunger in Menschenliebe und Religion überzuleiten versucht": Aus unendlicher Sehnsucht nach Liebe verschenkt sie armen Menschen all ihre Kleider und allen Schmuck. Danach verteilt sie "ohne Gewissensbisse" alles Geld aus der Kassette ihre Mannes und alle Goldstücke aus dem Sekretär ihrer Mutter. Die Leute küssen ihr die Füße, doch sie hat nichts mehr zu verteilen und sagt "schmerzlich berührt": "'Ich habe alles gegeben, aber die Liebe könnt ihr mir doch nicht geben.' Im Raum fühle ich meine Seele sich loslösen, ausbreiten, und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, doch nicht nach Haus, sondern ins Dunkle, Ungewisse". 28 Daß sie ausgerechnet die Schätze des Ehemannes und der Mutter verteilt und daß in ihren Einfällen zum Traum die armen Menschen sie an Judith in Hebbels Tragödie erinnern, die in geheuchelter Liebe zu Holofernes geht, um sich für ihr Volk zu opfern - dies weist uns auf die Verwurzelung des

28

WuS 39 f., auch zum Folg. - Im letzten Satz klingt ein Eichendorff-Gedicht an.

354

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

Traumes in Frau A.s Trieb- und Beziehungskonflikten hin. Deutlich ist auch die infantile Regression; die Traumszene erinnert an Märchenmotive und ist auch im Märchenstil erzählt. Doch weist der Schluß des Traums nicht darauf hin, daß es für Frau A. nicht einfach um eine Rückkehr ins kindliche Zuhause geht, wo die Eltern (Mutter, Ehemann) nähren und schützen, daß sie nicht bloß die Liebe in der Form oraler Gabe meint (als Umkehrung der analen Abgabe)? Bedeutet ihre Sehnsucht nach einem Gleichgewicht von Liebe geben und Liebe nehmen nicht in erster Linie den Wunsch nach einer narzißtischen Balance, d.h. nach einem festen Selbstbild und einem ausgeglichenen Selbstwertgefühl? Es bleibt ihr ein "Heimwehgefühl nach einem festen Ort, nach Halt, nach Ruhe", aber das "Haus", das sie sucht, liegt nicht in der Enge infantiler Befriedigung, sondern in einer Weite, die vorläufig dunkel und ungewiß bleibt. Gewiß steckt darin, in dem "Flug in die Ewigkeit, Unendlichkeit" auch ein regressiver Zug. Denn natürlich sind es infantile Größenphantasien, die hier mit aktiviert werden. Doch geschieht dies gerade nicht zum Zwecke halluzinatorischer Triebbefriedigung, sondern um das Selbstbild neu zu konfigurieren. Was soll die Anknüpfung an den Beginn der Entwicklung, bevor die menschliche Konfiguration und ihre Bedingungen (Subjekt-Objekt, Raum und Zeit usw.) allererst hergestellt sind, sonst bedeuten? Wäre es nur "maligne" narzißtischer Regression [Abschn. 6], so wäre das Glücksgefühl betäubender, wäre die Weite nicht dunkel und ungewiß, wäre auch die aktuelle Realität stärker abgespalten. So aber verdichtet sich das "Dunkle, Ungewisse" für Frau A. im Vorgang der analytischen Beratung: "Die Träumerin hielt die Analyse, also auch den Analytiker, zuerst für etwas Unheimliches, dann für großartig schön, aber gefährlich, wie das Fliegen ...", so Pfister zu einem der nächsten Träume. 29 Die von einem gewissen "thrill" getönten Empfindungen von Grandiosität, die Wünsche, in großartige Erhabenheit einzutauchen, sich in Sphärenmusik zu wiegen, sie verbinden sich für Frau A. immer mehr mit der Person und mit der "Botschaft" Pfisters. Sie werden zu Erwartungen daran, werden darauf "projiziert", wie Pfister selbst schreibt. Im Traum wird der Seelsorger zum Adler, seine Flügel rauschen melodisch wie Sphärenmusik. Er bringt der Träumerin eine

29

Ebd. 60. Vgl. 43, 45, 56, auch zum Folg. - Nach Balint (1972, 20 f.) ist die "Mischung von Furcht, Wonne und zuversichtlicher Hoffnung angesichts einer äußeren Gefahr ... das Grundelement aller Angstlust (thrill)".

9.5. Die narzißtisch-sublimierte Befriedigung

355

Botschaft auf einer goldenen Tafel und verschwindet wieder; die Träumerin mag sich eben noch "an seines Geistes Schwingen" festhalten. Der Traum gehört in die Reihe der "Übertragungsträume", deren Dynamik im vorigen Abschnitt erörtert wurde. Ihre narzißtische Komponente können wir jetzt noch deutlicher sehen, schon im ersten dieser Träume: "Ich bin sehr bedrückt, beängstigt, gehe zum Analytiker und sage es ihm. Ich bitte ihn, durch seine Kunst (Klavierspiel) diesen Bann zu lösen. Er schüttelt den Kopf und sagt: 'Tun Sie's selbst'. Ich sage: 'Mein Können ist nur Stückwerk, alle meine Talente sind zersplittert', und bitte ihn nochmals inständig: 'Spielen Sie!' Er schüttelt wieder den Kopf, ich fasse seine Hände, umklammere sie und sage: 'Und wenn Sie mir nicht die Kunst geben, so geben Sie mir etwas Göttliches, Erhabenes.' Er löst meine Hände sanft los, mich von sich weghaltend, und sagt: 'Das finden Sie in sich selbst.' - Bitterlich enttäuscht bin ich aufgewacht ,.."30

In feiner Weise wird hier Frau A.'s Problem aufgenommen, daß sie kinderlos ist, sich innerlich leer und, zumal nach ihrer Unterleibsoperation, verstümmelt fühlt. Der Traum versichert ihr das Gegenteil, nämlich daß in ihr selbst Kunstvolles und Göttlich-Erhabenes zu finden sei. Sie braucht es also nicht immer wieder bei anderen zu suchen, in den Beziehungen, wie sie sich hier in der primären Übertragungsbeziehung zu Pfister verdichten. Im vorausgehenden Traum, in dem sie alles verschenkt (s.o.), vermißt sie die "Gegenliebe" der anderen. Vielleicht dürfen wir sogar in der Art, wie Frau A. ihr zerstörtes Selbstvertrauen zum Ausdruck bringt ("Stückwerk", "zersplittert") einen Hinweis sehen auf eine noch tiefergehende Fragmentierung ihres SelbstBildes? Jedenfalls erwartet sie von der analytischen Arbeit etwas "Rundes", wie der schon nächste Traum zeigt. Wiederholt weist Pfister Frau A. darauf hin, sie müsse "die Sublimierungswerte ... selbst zu gewinnen trachten, damit sie Eigenwerte seien". Er meint, wieviel ihr dies zu schaffen mache, zeige der eben erzählte Traum, der seine Zurückhaltung übertreibe. Das heißt doch, "in Wirklichkeit" ist er so abstinent gar nicht, sondern gibt durchaus einmal etwas und, was noch wichtiger ist, nimmt ihre Idealisierungen erst einmal an. Angemessener erscheint die beraterische Wirklichkeit also in dem Traum ausgedrückt, in

30

EM. 43, das Folg. 41, 44 f., 61, 70.

356

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

dem der Analytiker die Königin der Instrumente meisterhaft spielt, während sie dazu das Vaterunser singt [Abschn. 3]. Wenn auch ihre "Liebesflut" natürlich nicht erwidert werden kann, so qualifiziert er sie doch nicht ab, sondern verweist die Klientin auf die dahinterliegenden "hohen ethischen Werte". Dieser Sublimierungsweg funktioniert, narzißtisch vermittelt, so gut, daß der Analytiker in seiner menschlichen Konfiguration immer mehr verblaßt. Zum höheren Wesen verklärt, wird er wirklich immer 'ätherischer', d.h. er eignet sich nicht mehr als handfestes Übertragungsobjekt für Frau A. Zuletzt verschmilzt der Bote mit dem Vermittelten. Die Sublimierung ist gleichsam sachlich geworden. Ihr letztes Ziel freilich, das Sein in der Liebe Gottes, bleibt personal vermittelt, nämlich als Sein in Christus. So von Ziel und Ende her gesehen mag sogar Frau A.s Wunsch, Pfister möge weiterhin ihr "Führer" bleiben, weniger die Zähigkeit ihrer Übertragungsliebe kennzeichnen als vielmehr ein Stück neugewonnenen Realismus. Schließlich ist die Beratung noch nicht zu Ende, und der Seelsorger bleibt ja ihr Anleiter und Helfer zur Selbstfindung. Dieser Wunsch steht, wie wir aus dem vorigen Abschnitt wissen, neben Frau A.s Bestreben, sich zurückzuziehen, "um die beseligende Liebe Gottes in immer gleicher Stärke ungestört genießen zu können". Gleichstarker, gleichbleibender Genuß, damit ist die narzißtische Befriedigung gemeint. Im Gegensatz zur Triebbefriedigung, die auf die Abfuhr von Triebspannung nach dem Prototyp der Sättigung hinausläuft, läßt sie sich als Wohlbefinden in Form eines "spannungsfreien Ichzustandes" beschreiben.31 Die narzißtische Befriedigung dient unserem affektiven Gleichgewicht, darum erleben wir sie als ruhiges, stilles Wohlbehagen, als Gefühl innerer und äußerer Harmonie, anknüpfend an jene harmonische Verschränkung von Subjekt und Objekt, von Ich und Umwelt, die nach Balint am Anfang unseres Lebens steht und darum die späteren narzißtischen Erlebnisweisen bestimmt. 32 Wir können etwa an das laue Behagen in einer

31

Henseler 1973, 54 (nach Joffe/Sandler 1967). Vgl. WuS 67, zum Ganzen auch Kap.

7.9. 32 "Ein schönes Bild dieser harmonischen, einander durchdringenden Verschränkung ist der Fisch im Meer (eines der archaischsten und verbreitesten Symbole) - es ist sinnlos zu fragen, ob das Wasser in den Kiemen oder im Maul Teil des Meeres oder Teil des Fisches sei, und genau das trifft auf den Fötus und die amniotische Flüssigkeit zu. In der Placenta verschränken sich Fötus und Umwelt-Mutter auf eine ... komplizierte und sich gegenseitig durchdringende Weise" (Balint 1973 a, 81 f.). Das gleiche gilt für das Element, aus dem wir zwar nicht kommen, in dem wir aber jede Minute leben, die Luft. Auch zu ihr ist unsere Beziehung ohne scharfe Grenzen. - Zum "lauen Behagen" vgl. Freud: GW XIV 434; Balint

9.5. Die narzißtisch-sublimierte Befriedigung

357

wohltemperierten Badewanne denken. In kleiner, alltäglicher Münze ist etwas darin von jener partiellen Auflösung der sonst klar konfluierten Grenzen der Selbstrepräsentanz, die manche Zustände im Rausch oder in meditativ-mystischer Versenkung kennzeichnet. Die tiefe Regression, die mit solchen Zuständen gewissermaßen schwerelosen Glücks verbunden ist, kann angstfrei erlebt werden, wenn sie auf einem klaren Selbstgefühl und einem sicheren Selbstvertrauen aufruht. Bei schweren narzißtischen Störungen freilich wird solches Erleben wie eine Droge gebraucht, um die narzißtische Balance aufrechtzuerhalten.

Charakteristisch für die narzißtische Befriedigung ist die Verschmelzung mit großen Objekten und Idealen, bis hin zu dem grandiosen Gefühl, einszusein mit den Elementen.33 In Frau A.s Träumen und Phantasien finden wir viele großartige Szenerien. Ihre Grandiosität wird freilich meist durch ein moderates Schönheitsempfinden begrenzt, das das musikalische und oft auch das Naturerleben nach kulturellen Vorbildern stilisiert. Auffällig ist eine Art von idiosynkratischem Empfinden; Frau A. erlebt Sinneseindrücke, vor allem visuelle und auditive, miteinander vermischt. Da ist etwa die ganze Luft mit Musik erfüllt, dies mit Bezug auf das "Waldesweben" in Wagners "Siegfried", immerhin ja ein Gesamtkunstwerk. Interessanterweise ist es auch Wagner-Musik, die für einen Adoleszenten aus unserer Zeit, einen Patienten Klausmeiers, zum Medium benigner narzißtischer Regression wird. Es ist vor allem der "schwimmende" Charakter und die "unendliche Melodie" dieser Musik 34 , die den jungen Mann anziehen und seine Ängste (vor Kastration/Trennung/Tod) mildern. Im Verein mit der analytischen Arbeit kommt es allmählich wieder zu einer progressiven Entwicklung, vom Hören zum Sehen usw. Für Freud war die Musik eine fremde Welt, nach eigenem Eingeständnis blieb er hier fast genußunfähig. Die Musik hat eine Sonderstellung innerhalb der Künste, wie die Philosophin S.K. Langer tiefschürfend gezeigt hat.35 Weil sie in ihren reinsten Formen nichts außer sich selbst darstellt, keinen eigentlichen Inhalt, sondern nur "rein tonale Strukturen", um nicht zu sagen, weil sie nur Form und nicht Materie ist, kann man sich in ihr dem Geheimnis der Kunst und des Künstlers am ehesten nähem. Die Musik ist gleichsam ihre eigene Sprache, 36 hat ihre eigene Grammatik und Logik. Wir können hier Langers faszinierende Ausführungen nicht weiter verfolgen. Sie gipfeln in der These ihres Lehrers Ernst Cassirer, die Musik sei der Mythos unseres inneren Lebens. Als solcher drückt sie die menschlichen Gefühle in sehr eigener Weise aus, und dazu gehört, bei aller Präzison

1973 a, 86. 33

Vgl. Balint 1973 a 81 ff.; Argelander 1971, 368-371; ders. 1972, 24-26.

34

Klausmeier 1976, 1128, 1130 f. Frau A.s Bezug auf Wagner: WuS 42.

35

Langer 1965, 204 ff., zum Folg. bes. 208, 240. - Zu Freuds und Pfisters Verhältnis zur Musik vgl. Kap. 4.6. 36 Dies ist auch, vereinfacht, der cantus firmus in Wolfgang Hildesheimers Mozartbuch (1977, bes. 43, 92 f.) wie auch in Theodor W. Adornos Musikphilosophie, die hier zur negativen Theologie wird (etwa 1963, 11).

358

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

(Takt!), eine vorobjektale, narzißtische Dimension. Etwas außerhalb von uns bringt etwas in uns zum Schweigen, die Musik ist also gleichzeitig drinnen und draußen. Ihre 'Materie', die Töne, kommen zu uns als für uns unsichtbare spezifische Schwingungen des Elementes, mit dem wir in der Regel in harmonischer Verschränkung leben: der Luft. Das wichtigste Wahrnehmungsorgan für die Musik ist das Ohr. Das Hören ist der unsinnlichste Sinn. Nicht zuletzt diesem Ruf 'vergeistigter' Sinnlichkeit verdankt die Musik im Protestantismus vermutlich ihre außerordentliche Beliebtheit und Verbreitung - neben der Verwandtschaft mit dem Hören des Wortes natürlich (fides ex auditu). Im Gegensatz zu Bildern sind Orgeln so gut wie nie gestürmt worden. 37 In der alten Kirche entstand die Legende von der Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr, nämlich indem der Atem des Heiligen Geistes dort hineindrang. Nach Ernest Jones liegt der Legende das Bestreben zugrunde, "die reinste und unsinnlichste aller erdenkbaren Zeugungsarten darzustellen", nämlich "durch das zur Aufnahme von Musik bestimmte Organ ..., eine Öffnung, die aller Sinnlichkeit viel ferner steht als jede andere des Körpers". 38 Und über dieses traditionell-triebpsychologische Verständnis hinaus ist es gerade das Unsinnliche, Ungreifbare an der Musik, das sie auch unbegrenzt macht, allgegenwärtig, nicht zu verorten, auch nicht eindeutig 'draussen' oder 'drinnen'. Diese traditionellen Prädikate des Göttlichen verweisen uns auf die Verankerung des Musikerlebens in einer archaischen primärnarzißtischen Dimension. Psychologisch gesehen ist die Musik also nicht nur ein außerordentlich progressives Phänomen, sondern auch und zugleich ein sehr regressives. Denken wir nur an die rhythmischen Schläge der Beatmusik, die als raumfüllender Klang an den intrauterin erlebten Herzschlag der Mutter erinnern könnten. Dabei sind innerer und äußerer Raum nicht zu unterscheiden. Die enormen Vibrationen bei dieser Musik können zu einem regressiven narzißtischen Wohlbefinden führen, bei dem die Wahrnehmung des eigenen Selbst zeitweise nur noch durch diffuse Hautempfindungen geschieht.39 Vor allem in den Konflikten der Pubertät kann die Musik ein wichtiges Mittel benigner (Balint) Regression sein. Der Schonraum des umfassenden Hörens im Musik-Erleben verhindert, daß das Selbst völlig auseinanderfällt. Die Pubertätskrise bzw. die Adoleszenz ist die Zeit forcierter Selbstfindung (Identität); Peter Bios hat das Selbst das Erbe der Pubertät genannt. Ruth G. Klausmeier illustriert ihre Untersuchungen über das Musik-Erleben mit dem ausführlichen Fallbeispiel eines Jugendlichen, der in der Vorpubertät seine Konflikte mit Hilfe von Beatmusik, in der Pubertät dann mit Wagner-Musik (s.o.) zu bewältigen suchte.40

Der Musik stand Pfister schon immer nahe, aber auch für solche speziellen Phänomene wie die "Synästhesien" hat er sich schon früh

37 Zu Wort und Ton als den zentralen Medien protestantischer Religiosität vgl. Wilhelm Dilthey 1957, 194 f., 206-209. 38

Jones 1970, 39 ff., zit. 126. - Die psychoanalytischen Arbeiten über die Musik bis zum Ende der 50er Jahre sind bei Sterba (1965) zusammengefaßt. 39

Klausmeier 1973, 653, zum Folg. vgl. bes. 643.

40

Dies. 1973, 648 ff.; 1976, 1117 ff.

9.5. Die narzißtisch-sublimierte Befriedigung

359

interessiert. 41 So muß ihn auch Frau A.s Orgeltraum gegen Schluß der Beratung [10.4] fasziniert haben: In seiner dunklen Kirche spielt, der Analytiker, von goldenem Licht beschienen, leise auf der Orgel. Diese "fängt langsam an zu glühen. Je voller die Töne werden, desto mehr glüht sie, wie eine aufgehende Sonne. Hinter der Orgel ist tiefe Nacht, aber etwas Glänzendes darin. Die Wand ist weg, es ist, wie wenn man ins Unendliche blickte, aber tiefdunkel. - Auf einmal schwebt über der Orgel oder der aufgehenden Sonne eine Frauengestalt mit goldenem Füllhorn, aus dem sie über die Orgel etwas wie einen goldenen Perlenregen gießt, aber in Tönen, die sich mit dem Licht verweben, unbeschreiblich schön. Die Töne kamen abwärts, andere stiegen aufwärts und wurden zu Licht. Das ergab eine wunderbare Harmonie." Als das Orgelspiel aufhört, geht auch der Strahlenglanz zurück, aber nun leuchtet die ganze Kirche. - Das Ineinander-Verschwimmen unserer gewohnten Wahrnehmungskategorien, wen erinnerte es nicht an das himmlische Jerusalem, vielleicht auch an die himmlische Speise? So folgt denn auch in diesem Traum eine Abendmahlsszene, in der der Pfarrer Pfister die Gabe austeilt. Die teilweise Verschmelzung mit ihm macht es Frau A. möglich, aus dem himmlischen "Füllhorn" zu leben und auch selbst daraus weiterzugeben; es ist ihr Wunsch, ihren Mann "zum Genossen ihrer Freude" zu machen. Die Erfahrung himmlischer Harmonie relativiert die menschlichen Möglichkeiten und Beziehungen, etwa zum Ehemann und zum Analytiker. Ihre überhöhten Erwartungen an manche Menschen kann Frau A. herunterschrauben, ohne sie gleich aggressiv entwerten zu müssen oder sich von ihnen verlassen zu fühlen. Mit ihrem inneren Schatz kann sie auch besser allein sein, ohne den anderen zu grollen. "Nie mehr dies Licht kann untergeh'n!", so endet das Gedicht, das am Schluß der Beratung steht.42 Neben und in Verbindung mit den idiosynkratischen Elementen sind Frau A.s Szenerien voll von Licht- und Glanz-, Luft- und Tonphänomenen. Typisch ist der folgende Abschnitt aus einem "hochpoetischen Traum"

41 Vgl. den Aufsatz von 1912: Die Ursache der Farbenbegleitung bei akustischen Wahrnehmungen und das Wesen anderer Synästhesien (1912). - Der folg. Orgeltraum WuS 79 f. 42 WuS 79 f.. 89. Daß andrängende Empfindungen zu Versen werden, kennen wir auch bei Pfister selbst!

360

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

(Pflster), den sie in der ersten Nacht ihrer Ferien in einer schönen Alpenlandschaft träumt. "Mir war, als würde ich auf tönenden Schwingen in höhere Sphären emporgehoben. Schöne weiße Wolken zogen unter mir dahin, von Himmelsbläue wundersam umwoben. Ich hatte ein köstlich befreiendes Gefühl und war erstaunt, daß mich in dem haltlosen Äther kein Angstgefühl überkam. Je höher ich schwebte, um so wunderbarer ertönten die Harmonien unter mir. - Plötzlich wurde der ganze Himmelsraum von einem zartvioletten Licht überflutet, und auf mich herab fiel lautlos ein Sprühregen von violetten Strahlen mit Silberfäden durchzogen." 43 Zu diesem Sphärentraum meint Frau A., sie habe eine "unendliche Sehnsucht, in die Höhe zu kommen". Einen bestimmten Alpengipfel ihrer Feriengegend möchte sie gerne erklimmen. "Auf seinen Höhen würde ich reiner und besser", so ihre typische Verbindung von räumlichem und ethischem Höhenflug (dazu der folg. Exkurs). Zu dem hell, "wie flüssiges Edelmetall" glänzenden Luftschiff in einem weiteren Sphärenraum fällt ihr die Wonne des Fliegens in den Kindheitsträumen ein. Im Himmelsgarten ist alles "durchglüht von goldenem Licht und zarten Farben". Im abschließenden (Traum-)Gedicht "glühen" die Gedanken der Träumerin vor Liebessehnsucht. "Des Gottesboten lichtumflossene Gestalt" erscheint, predigt und entschwindet wieder. Was bleibt, ist nicht das Dunkel, sondern die Erfahrung, daß alles "glüht und sprüht: In hellem Leuchten prangt die ganze Welt". Der neue Glanz läßt "viel blaue Blüten" in den Händen der Träumerin sprießen, "lichte Gottgedanken". Glanz, Licht, Farbe, Luft, Ton - all dies wird sowohl draußen in der Welt als auch drinnen im "tiefsten Sein" empfunden. Wie besonders Balint herausgearbeitet hat, deutet diese Gleichzeitigkeit darauf hin, daß Frau A. auf ein Entwicklungsstadium zurückgreift, in dem nicht nur Subjekt (bzw. Selbst) und Objekt, sondern auch Innenwelt und Außenwelt noch harmonisch miteinander verschränkt sind.44 Innere und äußere Reize werden, nach dem Modell der pränatalen Symbiose von Mutter und Kind, noch in einem undifferenzierten Miteinander erlebt. In ihrer narzißtischen Regression erlebt Frau A. zeitweise diesen harmonischen Primärzustand, freilich in sublimen Formen.

43

Ebd. 45 f., das Folg. 47, 57, 85, 88 f.

44

Balint 1972, 53 u.ö. Vgl. auch Henseler 1973, 55.

9.6. Exkurs: Höhenflüge und Neubeginn

6.

361

Exkurs: Höhenflüge und Neubeginn. Regression und Progression in Traum und Therapie

Ein wesentliches Element der primärnarzißtischen Erlebnisqualität, nach der auch der durchschnittliche Erwachsene immer wieder strebt, kann so angedeutet werden: "Ein Gefühl, das man haben mag, wenn man einen Berggipfel mühevoll erstiegen hat und nun eine unbegrenzte, farbige Aussicht auf Berggipfel und Täler mit Blicken überfliegt, ein Gefühl der Ergriffenheit bei schöner Musik oder dem Anblick eines vollkommenen Kunstwerks ..."45 Der primärnarzißtische Charakter vieler Träume und Phantasien Frau A.s steht außer Frage. Der Orgeltraum und noch mehr die beiden Sphärenträume tendieren sogar zu jenen von Argelander so benannten "reinen" Phantasien des primären Narzißmus: zum Schweben in der Luft oder über den Wolken. Frau A.s typische Verknüpfung von räumlichem und ethischem Höhenflug finden wir erklärt in Argelanders These, "daß die Größe und Unerreichbarkeit eines Ideals aus der ursprünglichen primärnarzißtischen Größenphantasie stammt." So sind Frau A.s Höhen- und Flugszenerien ein gutes Beispiel für das Miteinander von Triebkonflikten und narzißtischer Dynamik und ebenso für die Dialektik von Regression und Progression. Aus "zitternder Besorgnis um den Verbleib des Höheren im Menschen" wurde die Psychoanalyse immer wieder angeklagt. Was Freud so ironisch kommentiert, ist der Vorwurf, die höchsten Werte und Ideale des Menschen schnöde auf eine psychische Instanz, das Ichideal, zurückzuführen, hinter der zuletzt die eigenen Eltern auftauchen. Genauer repräsentiert das Ichideal jenen Anteil unserer infantilen Elternbeziehung, der sie uns als "höhere Wesen" erleben ließ. Seine Hauptinhalte sind darum Religion, Moral und soziales Empfinden. So weit, so klar für Freud.46 Über diese Herleitung hinaus hegt er eine tiefe Abneigung gegen jeden Bezug auf Höheres, zumal

45

Köhler 1978, 1014. Das folg. Zitat Argelander 1971, 369, vgl. 368, zum Ganzen Kap.

7.9. 46

GW XIII 264 f. "Wissenschaft und Kunst sind hier beiseite gelassen" (ebd. 265, Anm. 1) - im übrigen stehen sie ihm auch näher!

362

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

auf "jenes höhere Wesen, das wir verehren". Diese Wendung aus einer Satire Heinrich Bolls beleuchtet mit einem Schlag den ideologisierenden Mißbrauch, den bürgerlich-humanistisch-christliche, dann auch faschistische Geister mit dem Idealismus bzw. mit den Idealisierungswünschen des Menschen getrieben haben. Gerade dem christlichen Theologen bleibt die listige Ironie nachdenkenswert, mit der Freud in seinem letzten Lebensjahr schreibt: "Wie beneidenswert erscheinen uns, den Armen im Glauben, jene Forscher, die von der Existenz eines höchsten Wesens überzeugt sind!" 47 Freilich, das Problem der Idealisierung ist mit dem entmythologisierenden Hinweis auf die Entstehung der Ideale keineswegs gelöst. Die Tendenz zur Symbolisierung der Ideale bleibt ebenso bestehen. Auch Freud weiß, daß es mit der Entthronung des Ichideals nicht getan ist, wie Pfister ihm 1930 schreibt. Geläutert muß es werden, um einen Lieblingsbegriff Pfisters aufzugreifen, d.h. es muß in seiner psychischen und metaphysischen Funktion verstanden und kritisch bereinigt werden. Ein Mensch mit hohen Idealen wie Frau A. muß nicht unbedingt in einen regressiven psychischen Sog geraten, der krank macht. In ihren Höhenflügen zeigt sich vielmehr eine Verschränkung von psychischer Regression und Progression, das eine jeweils um des anderen willen. So etwa verbindet sich für sie die Sehnsucht, in die Höhe zu kommen, mit einem "schmerzlichen Heimwehgefühl". Bei den "schönen weißen Wolken" des Sphärentraums ist ihr "wie in der Kindheit, wo ich auf den Estrich eilte, um mein bedrängtes, zum Zerspringen volles Herz durch lautes Stöhnen und unbändiges Schreien von der Last zu befreien". Zugleich mit diesem Einfall ruft sie aus: "Wenn ich nur wieder singen könnte!" Gegenüber dem Stöhnen und Schreien wäre das Singen eine bemerkenswert progressive Ichleistung, etwa so wie das artikulierte Gebet gegenüber seinen impulsiveren Vorformen. 48

47

GW XVI 230. H. Bolls Satire "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen". Zum Folg.: Pfister an Freud, 5.9.1930, Br. 148. 48 WuS 47. - Zum Gebet vgl. Luther im Großen Katechismus (BSLK 668): "Wo aber ein recht Gebete sein soll, da muß ein Ernst sein, daß man seine Not fühle und solche Not, die uns drücket und treibet zu rufen und zu schreien."

9.6. Exkurs: Höhenflüge und Neubeginn

363

In Balints Konzept des Neubeginns bedeutet die Verbindung von Regression und Progression die Rückkehr zu etwas "Primitivem" und die gleichzeitige Entdeckung eines neuen, besseren Weges. 49 Wir finden beides in Frau A.s Traumempfinden, befreit und ohne Angst im "haltlosen Äther" zu schweben, umwoben von wunderbaren Harmonien. Dies erst recht, wenn wir bedenken, daß damit ein Muster aus ihren Kindheitsträumen korrigiert wird, nämlich aus großer Höhe plötzlich herunterzufallen und dabei schweißgebadet aufzuwachen. Aus furchterregenden Leerräumen, durch die man hindurchfällt, sind die Himmelssphären für sie nunmehr zu freundlichen Weiten geworden, wie Balint es nennt. In ihnen schwebt man, so paraphrasiert Pfister den Sphärentraum, "frei von Schranken und Angst, allein, und doch von lauter Herrlichkeit umgeben ... der Vollkommenheit entgegen ..." Der Andere, der da plötzlich aus den freundlichen Weiten auftaucht, ist kein womöglich tückisches, bedrohliches Objekt, mit dem man sich auseinandersetzen muß (Balint), sondern der Seelsorger, der ihr ihren eigenen kostbaren Schmuck freundlich lächelnd entgegenhält. 50 Und so endet der Traum auch in einer Höhe, in der Frau A. sich inmitten funkelnder Sterne befindet. Im zweiten Sphärentraum ist es allein der Seelsorger, der als "wundervoller Vogel" mit dem Rauschen seiner Hügel die Sphären erfüllt, während die Träumerin auf einer Alpwiese mit herrlichem Rundblick sitzt. Die idealisierende Identifikation Frau A.s mit Pfister ist unübersehbar. Beide können sie in höheren Sphären schweben, doch er kann nicht herabstürzen, was ihr häufig in ihren Kinderträumen geschah. Nicht zufällig fallen ihr diese frühen Alpträume während der Assoziationen zum zweiten Sphärentraum ein. Hier schwebt nur Pfister, während sie die "Wonne" des Fliegenkönnens für sich herbeisehnt. So bleibt die Idealisierung des Analytikers für sie ungebrochener als die Identifikation mit ihm. Pfister seinerseits bezieht das "Fallen" auf das ambivalente Empfinden der Träumerin, Analyse und Analytiker seien zwar wie das Fliegen "großartig schön", aber auch gefährlich, so daß sie zu Fall kommen könnte. Erinnert sei auch daran, daß er etwas später Frau A.s symptomatisches Gefühl, in ein Loch zu fallen, unter anderem zurückführt auf "den'ver-

49 Balint 1973 a, 160 f., 165 ff., 210 ff., vgl. 1972. 72 ff. - Das Folg. WuS 45, 57, 49, vgl. Balint 1972, 28, 30. 50

WuS 46, der 2. Sphärentraum ebd. 55 ff.

364

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

drängten ... Wunsch nach moralischem Fall".51 Wir befinden uns ja innerhalb der Kette der Übertragungsträume, die auf die heftige "Übertragungsnot" zuläuft [Abschn. 4], Dabei geht es, wie wir wissen, in erster Linie um Frau A.s erotische Wünsche; auf dieser Ebene ginge die Idealisierung Pfisters von der verliebten Frau aus. Doch wie wäre das Fliegen selber zu verstehen? Der Zusammenhang mit der Narzißmusthematik ist ja ganz offensichtlich. Unsere Kronzeugen der Narzißmustheorie, neben Balint Kohut und Argelander, haben Flieger mit narzißtischem Charakter oder narzißtischen Störungen behandelt. Und auch bei Pfister bleibt das Thema nicht auf Frau A. beschränkt. So führt er in einem "Der Narzißmus" betitelten Abschnitt eines anderen Buches einen jungen Flieger an, "der leidenschaftlich erregt in ekstatischen Wonnen durch die Lüfte sauste". Liebe in Beziehungen war ihm versagt, dafür litt er beständig an Angst, "die ihn aber sofort verließ, wenn er seine Flugmaschine bestiegen hatte". In diesem Zusammenhang spricht Pfister sogar von Größenphantasien, ein auch sprachlicher Anklang an die neuere Narzißmustheorie. 52 Es ist in erster Linie Balint, der auf die Unzulänglichkeit des Freudschen Zugangs zu den "Flugträumen" hinweist. Freud führt sie auf die kindlichen Bewegungsspiele zurück. Das Klettern, Schaukeln oder Wippen ist häufig mit ersten sexuellen Lustgefühlen verbunden. 53 So geht das Fliegen und Schweben, aber auch das Fallen im Traum meist mit Erektionen, manchmal auch mit Pollutionen einher (bzw. den entsprechenden weiblichen Sensatio-

51

Ebd. 6 0 , 6 8 f. Arno Schmidt würde hier "Phall" schreiben. In Freuds 'Traumdeutung' bedeutet Fallen häufig, zumal bei Frauen, die "Nachgiebigkeit gegen eine erotische Versuchung" (GW II/III 400). 52

LK 156. Auch das für narzißtische Störungen typische Pendeln zwischen Grandiosität und Depression hat Pfister klinisch-phänomenologisch durchaus im Blick. In solchen Zusammenhängen spricht er von "Größenillusionen" und "Schwankungen" des Selbstgefühls (vgl. bes. PE 93). Kohut behandelte einen "tüchtigen Segelflieger" (1973, 280). In seinem eindrucksvollen Buch "Der Rieger" führt Argelander uns die psychoanalytische Behandlung einer narzißtischen Persönlichkeit von der ersten bis zur letzten Sitzung vor, damit auch die Entstehung und Entwicklung eines narzißtischen Charakters. 53 GW II/III, 279, 398. Vgl. Balint 1972, 60 ff. Die Flugträume sind eine Gruppe von "typischen Träumen" (GW II/III 246 ff., 335 ff.), vgl. auch Argelander 1971, 362-365. - In der Tat ist es mehr als auffällig, daß Freud bei diesem Thema genau wie bei der Diskussion des ozeanischen Gefühls [7.8] seine mangelnde persönliche Erfahrung bekennt, so daß er "für diese Reihe von typischen Träumen eine volle Aufklärung nicht erbringen kann" (ebd. 279). Balint (ebd. 61) macht auch aufmerksam auf das signifikante Verdopplungsphänomen in der Positionierung der relativ kurzen Passagen über das Fliegen in den verschiedenen Auflagen der 'Traumdeutung'. Anscheinend wußte Freud nicht recht, wohin damit! (vgl. ebd. 278 ff., 398 ff., bes. 399, Anm. 1).

9.6. Exkurs: Höhenflüge und Neubeginn

365

nen 54 ). Das merkwürdige Phänomen der Erektion imponiert der menschlichen Phantasie als Aufhebung der Schwerkraft. Über Freud hinaus möchte Baiini lieber von "Schwebeträumen" als von Flugträumen sprechen. Diese Träume (wie übrigens auch das ozeanische Gefühl) müssen "als Wiederholung entweder der frühesten Mutter-Kind-Beziehung oder der noch früheren intrauterinen Existenz betrachtet werden ..., während welcher wir wirklich eins mit unserem Universum waren und in der Amnion-Flüssigkeit wirklich, ohne daß wir praktisch ein Gewicht zu tragen hatten, schwebten". Wohl gilt es Freuds Warnung zu beachten, solche Träume erforderten die verschiedensten Deutungen, ja sie bedeuteten "in jedem Falle etwas anderes". 55 Doch festhalten wollen wir, daß die Flugträume nicht selten ein Indikator narzißtischer Regression sind. D a s T h e m a Regression

behandelt Pfister für s e i n e Zeit relativ d i f f e r e n -

ziert und i n s g e s a m t w e n i g e r ambivalent, als Balint e s für Freuds Z u g a n g zu d i e s e m K o n z e p t n a c h g e w i e s e n hat. 5 6 Pfister betont die N o t w e n d i g k e i t und " b i o l o g i s c h e B e d e u t u n g " der R e g r e s s i o n : "Unsere Kinderzeit enthält d i e D e p o s i t e n , d i e wir abheben, w e n n d i e G e g e n w a r t u n s bedrängt", a u c h w e n n d i e K i n d h e i t "kein Garten E d e n [ist], d e m nur h o l d e B l u m e n und w ü r z i g e Früchte entsprießen", sondern "in Wirklichkeit z u m guten T e i l d a s Paradies d e s n o c h unbestraften Ferkelchens". "Die R e g r e s s i o n ist ein n o t w e n d i g e r N e u e n t w i c k l u n g e n anzubahnen."

Durchgangspunkt,

um

54

... die Freud nicht erwähnt! (ebd. 400). Die "bestechende Vermutung", daß viele Flugträume Erektionsträume sind, anschaulich in den geflügelten Phallen der Antike, übernimmt er von Paul Federn (399). - So tauchen in Freuds Überlegungen, wie auch Balint feststellt (1972, 63), viele Wörter und Andeutungen auf, die die narzißtische Thematik anzeigen: nicht nur die Schwerkraft, auch das Schweben (fast auf jeder Seite), das Schwindelgefühl (278, 398; vgl. Balint 1972,20), der phallisch-narzißtische Stolz (399; ich ergänze: sich über andere erheben = etwas ganz Besonderes sein) und sogar das "Behagen" beim Fliegen (278) und beim Schwimmen (400). Und doch bleibt Freud damit auf der rein triebpsychologischen Ebene (vgl. VIII, 197 f.) und der ihr entsprechenden Ebene der kindlichen Objektbeziehung. 55 56

Ebd. 398, vgl. 399; Balint 1972, 63, vgl. 61.

S.o. zu den Flugträumen sowie Balint 1973 a, 145 ff., 182 ff., bes. 189. Zu Pfister s. bes. PM 206 ff.

366

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

Ein Rückschritt ist sie nur bei denen, die in ihr stecken bleiben.57 In der neutestamentlichen wie in der analytischen Seelsorge ereignet sich eine "Regression vom gestrengen zum schlechthin gütigen Vater und zur grenzenlos liebenden Mutter". "Während Jesus die Umkehr zum Kleinkind fordert [Mt. 18,3], begegnet uns bei seinen die Schuldbeziehung nicht durch instinktive Analyse und Rückgriff auf den gnädigen Gott überwindenden apostolischen und kirchlichen Nachfolgern häufig die Regression in den Mutterleib mit nachfolgender Wiedergeburt [vgl. Joh. 3,3: Nikodemus] ... Neutestamentliche Seelsorge und Psychoanalyse bedienen sich des Prinzips der Wiederanknüpfung und Umschaltung (Weichenumstellung)." 58 Pfister meint die Anknüpfung der Weiterentwicklung an die "gesunde Kindheitsstrecke" und gibt typischerweise der Regression auf Stadien der frühen Kindheit den Vorzug vor der (noch tieferen) Phantasie, in den Mutterleib oder in die Muttererde zurückzukehren. Diese Sehnsucht erscheint ihm zu gefährlich, womöglich werde die Regression eine absolute. Dann wolle man nicht zur Mutter zurück, um von da aus neu geboren zu werden, sondern "um da zu bleiben". Die Mutterleibsphantasie scheint Pfister zuletzt unheimlich zu sein, vermutlich, weil sich in seiner Vorstellung hier die menschlichen Konturen auflösen und die letzten Reste einer Subjekt-Objekt-Beziehung verschwinden. Es ist der präödipale Vater, der vor dem gefährlichen Sog der Mutter schützt [4.5]. Angezeigt ist also die "Regression zur Vatervorstellung, wie sie vor Eintritt der Ödipuseinstellung und ihrer Verdrängung bestund", d.h. "zum Vater der frühesten Kindheit, in der es noch kein Verbieten, Strafen und Zürnen gab".59 Die vorhin zitierte Regression zur "grenzenlos liebenden Mutter" bleibt im weiteren Text Pfisters verschwunden, wahrscheinlich gerade wegen ihrer gefährlichen Grenzenlosigkeit. Doch besteht das Hauptmerkmal des Vaters der "prämoralischen Phase" in "milder Güte", so daß wir annehmen dürfen, 57

PM 216 f., 219; NTPsa 432.

58

NTPsa 431, 438. Das Folg. AS 22, PE 123.

59

NTPsa 438, 440, das Folg. 431 f., 440. - Will Pfister hier bis ins erste Lebensjahr zurückgehen?

9.7. Exkurs: Der freundliche Analytiker

367

daß in dieser "infantilen Elternimago" auch die Mutter repräsentiert ist. So hebt Pfister denn auch eigens hervor, "daß der Gott Jesu, ob er auch 'Vater' heißt, gleichzeitig mit Mutterzügen ausgestattet ist, wie es übrigens schon beim Volk Israel vor der Erstarrung zur Orthodoxie der Fall war" und verweist auf Textstellen wie Jes. 49,15 oder 66,13. 60 Die Regression soll zwar nicht, wie in Hypnose und katholischer Beichte, dahin führen, daß der Klient "in unbedingter Liebeshingabe die Rolle des restlos gehorchenden, Verstand und Eigenwillen opfernden kleinen Kindes übernimmt". Sie muß aber doch tief genug sein, um wirklich hinter alle Erscheinungen von Angst, Schuld und Zwang zurückzuführen. Letztere geraten sonst unter Pfisters Verdikt einer nur unvollständig geglückten analytischen Regression, wie wir sie z.B. in der Entwicklung des Urchristentums verfolgen können. Nur die frühen infantilen Elternimagines erlauben unambivalente Idealbildungen, etwa, so Freud, "der allmächtige, gerechte Gott und die gütige Natur ... als großartige Sublimierungen von Vater und Mutter". Pfister zitiert dies zustimmend als Beispiel für eine "symbolisierende Regression ..., welche statt der infantilen Elternimago eine symbolische Vertretung derselben einsetzte". 61 Das ist eben seine Sprache für eine auf dem kindlichen Narzißmus aufbauende analytische Religionspsychologie. Eine gewisse 'Idealisierung' der präödipalen Kindheitsstrecke läßt sich dabei nicht leugnen. Sie erklärt sich aus der Dominanz des Narzißmus in der symbolisierenden Regression [7.9, 8.3]. Pfister kannte aber durchaus präödipale Konflikte. Im übrigen hat erst die neuere psychoanalytische Forschung die dramatischen Ängste und die archaische Wut, die tiefen Bedrohungen und einschneidenden Trennungen herausgearbeitet, die die psychische Geburt des Menschen, der Selbstwerdungsprozeß des Kleinkindes mit sich bringt.

7.

Exkurs: Der freundliche Analytiker

Bisher ging es uns primär um die intrapsychische Regression. Ihr Paradebeispiel in der psychoanalytischen Literatur ist die mit der kreativen künstlerischen Sublimierungsleistung verbundene Regression. Sie bleibt aber im

60

PM 214, das Folg. NTPsa 432, 434.

61

PM 214, vgl. Freud: GW VIII 195.

368

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

Bereich der Ein-Personen-Psychologie, wie Balint es nennt. Er stellt ihr den Bereich der Zwei-Personen-Psychologie gegenüber, also die Objektbeziehung, in der Therapie die (wechselseitige!) Interaktion zwischen Klient und Therapeut. Die Regression in diesem Bereich wurde nicht nur von Freud, sondern nach ihm auch vom "Zentralmassiv der klassischen Psychoanalyse" vernachlässigt, ja "in stillschweigender Übereinkunft" zum gefährlichen Symptom erklärt. Dies geschah zumal nach dem großen und peinlichen Schock, den Sandor Ferenczis kühne technische Neuerungen, gipfelnd im "Relaxationsprinzip", und die damit verbundene tragische Entfremdung von Freud ausgelöst hatten. 62 Im Bereich der Ein-Personen-Psychologie, bei seinen Untersuchungen zur künstlerischen Kreativität, formulierte Ernst Kris bereits 1935 zum ersten Mal sein Konzept von der "Regression im Dienste des Ich". Dem möchte Balint nun endlich das Konzept einer "Regression auf Geheiß eines Objekts" an die Seite gestellt wissen. 63 Nur so könnte man nicht nur die intrapsychischen, sondern auch die zwischenmenschlichen Prozesse beschreiben und erklären, angefangen mit dem, was in der therapeutischen Situation geschieht. Es erscheint mir gesichert, daß Pfister die Regression in der therapeutischen Zweierbeziehung gekannt und mit ihr gearbeitet hat. Er hat sie hier bloß seltener als in dem angeführten religionspsychologischen Kontext auch als solche benannt. Aus den unzähligen Fallskizzen in seinen Schriften könnte eine Fülle von Beispielen und Indizien dafür zusammengetragen werden. Ich kann hier nur Andeutungen geben. Auf Frau A.s primärnarzißtisch dominierte Phantasien geht Pfister offensichlich in einer Weise ein, die ihr eine Verbindung von Regression und Progression und damit einen inneren Fortschritt im Sinne des Balintschen Neubeginns erlaubt. Ihr "Sehnen und Verlangen" beantwortet er nicht unkritisch und undifferenziert positiv. 64 Gemäß Balints Unterscheidung haben wir es also nicht mit maligner Regression mit dem Ziel der Befriedi-

62

Balint 1973 a, 184-189, 196 f. Zum "Relaxationsprinzip" vgl. Ferenczi 1930/1972, 257 ff., zum Ganzen auch Kap. 7.3. 63 64

Ebd. 187 f., nach Knapp 1959, damals noch ohne nennenswertes Echo.

Vgl. ebd. 196 f., 205. Die folg. Zitate ebd. 177, vgl. 202 f., 126 ff. - Zu Balints Unterscheidung von gutartigen und bösartigen Formen der Regression vgl. ebd. 169 ff., bes. 178 f. Als (primär-)narzißtisches Objekt ist der Analytiker immer für den Patienten vorhanden, unzerstörbar wie die Elemente Wasser und Erde (vgl. 203).

9.7. Exkurs: Der freundliche Analytiker

369

gung zu tun, sondern mit benigner Regression mit dem Ziel des Erkanntwerdens. Letztere "setzt eine Umgebung voraus, die den Patienten annimmt und bereit ist, ihn zu stützen und zu tragen, wie die Erde oder das Wasser einen Menschen trägt, der sich mit seinem Gewicht ihnen anvertraut." Dabei darf der Analytiker zuzeiten nicht alles als Übertragung deuten. Er sollte auch "nicht auf starren Grenzen bestehen, sondern muß die Entwicklung einer Art von Vermischung zwischen ihm und dem Patienten zulassen". Der Behandlungserfolg hängt manchmal davon ab, ob der Analytiker ein bestimmtes Phänomen als ein Streben nach Triebbefriedigung oder als das Bedürfnis nach einer besonderen Form der Objektbeziehung sieht, eben der narzißtischen. Bestimmte Ausprägungen der narzißtischen Objektbeziehung können uns durchaus naiver oder 'primitiver' erscheinen als die gewöhnlichen Umgangsformen zwischen Erwachsenen. Narzißtisch dominierte Objektbeziehungen sind oft mit einem Hochgefühl verbunden, weil via Identifizierung und vor allem Idealisierung die Aggression so gut wie ausgeschlossen ist.65 In Pfisters therapeutischer Praxis ist derartiges ohne Zweifel konstelliert. Ich meine Haltungen und Verhaltensweisen, die ich als Annahme von Idealisierungen und als Verschmelzungstendenzen, als Spenden narzißtischer Gabe und Rücksicht auf narzißtische Empfindlichkeit, als Mittlerschaft des Analytikers u.ä. herausgearbeitet habe. Ich erinnere auch an den Eindruck 'unreifer' Kindlichkeit, den mancher Traumtext von Frau A. hervorruft und manche Interaktion zwischen ihr und Pfister. Beide sind gewissermaßen naiv genug ... Obgleich Pfisters strahlende Kindlichkeit - Freud führt den Reiz des Kindes zum Gutteil auf dessen entwicklungsbedingten Narzißmus zurück: ein Säuglingscharme also - tief in seiner Charakterstruktur verankert war, scheint er sich ihrer doch bis zu einem gewissen Grade bewußt gewesen zu sein. Wie hätte er sonst einmal an Freud schreiben können: "Ihre Moral, lieber Herr Professor, machte mir tiefen Eindruck; ich sage es, obwohl ich weiß, daß Sie über diesen Satz zu lachen Anlaß hätten, weil es gar so moralisch-bieder und kindlich klingt".66

Im Zusammenhang seiner Behandlungstheorie spricht Pfister von der "Neueinstellung" des Klienten nach dem Prinzip der Einbeziehung. Trotz 65

Vgl. Henseler 1973, 65; Balint 1973 a, 196 f. - Balint unterscheidet drei Formen narzißtischer Objektbeziehungen: primäre Liebe, Oknophilie und Philobatismus (ebd. 8 8 , 9 0 , 200 u.ö). 66

An Freud, 5.9.1930, Br. 148. Vgl. Freud: GW X 155. - Das folg. Zitat PsaW 42.

370

Triebkonflikte und Narzißmus bei Frau A

aller Selbstverantwortlichkeit des Klienten und trotz sorgfältiger Übertragungsbehandlung übt der Analytiker einen "gewaltigen Einfluß auf die Richtung der aus ihrer Gruft auferstehenden Liebes- und Lebenstriebe aus". Hier besteht durchaus eine Verwandtschaft mit Balints Konzept des Neubeginns. Die Neueinstellung geschieht in der Übertragung, also innerhalb einer Objektbeziehung, in der der "unaufdringliche Analytiker" zuzeiten regressiv als primäre Substanz oder primäres Objekt in harmonischer Verschränkung erlebt wird. Dies kann sich auch in weniger tief regressiver Form abspielen, nämlich daß er als milder, freundlicher Seelsorger erscheint, der nicht fordert oder beunruhigt, sondern "tröstet, aufrichtet, ermutigt schon von der ersten Stunde an".67 Nicht neutral, teilnahmslos, gefühlsarm verhält sich dieser Seelsorger, das wäre eine "künstliche Eiszapfigkeit des Analytikers", wie Pfister im 80. Lebensjahr an René Laforgue schreibt.68 Vielmehr flicht er in eine "beruhigende und versöhnende Besprechung" gelegentlich "ermunternde" und erläuternde Bemerkungen ein, und auch "etwas vom intellektuellen Genuß des Entdeckens soll jedem Zögling gegönnt werden".69 Mit einem schwer angsthysterischen Mädchen, das gegenüber niemand seine erotischen Geheimnisse aussprechen durfte, erlaubt er sich "von Anfang an sehr viel... zu reden und gelegentlich auch zu lachen" - und erzielt prompt eine starke Besserung. "Ist der Freund, der Geliebte, der Arzt, der Pädanalytiker [Reihenfolge!] ein gütiger, aufrichtiger Mensch, der dem Übertragenden wertvolle, sittlich förderliche Dienste geleistet hat, so wäre es sicher ungebührlich, die ihm entgegengebrachte Liebe als Tücke einer unterschwelligen Personenverwechslung hinzustellen. Darum wird eine noch so gründliche Analyse solche echten Werte, die für den Analysanden eine kostbare Lebensbereicherung bilden, höchstens läutern, nie aber zerstören." Spätestens, wenn der Klient den Übertragungsanteil selbst durchschaut, muß man ihm helfend entgegenkommen und sein Schamgefühl schonen. In einer pädagogischen Schrift wagt Pfister sogar die Bemerkung, an der Freund-

67

PE 138, grammatisch leicht verändert. Vgl. PSM 38: Rat, Förderung, Trost. - Zu Balints Konzept des Neubeginns vgl. 1973 a, 160 f., 165 ff., bes. 167, 210 ff. 68

15.12.1952, unveröffentlicht. Vgl. auch PM 444.

69

PM 133, 482, PSM 24. Die folg. Zitate PM 437, 475.

9.7. Exkurs: Der freundliche Analytiker

371

schaft des Analytikers könne der Analysand wachsen.70 Auf jeden Fall gilt, daß der Klient ein "starkes Maß von Sympathie" bei seinem Berater annehmen muß. Und "wer könnte auch ohne innere Anteilnahme eine lange und schwierige Analyse durchführen?"

70

PE 121, strenger dagegen PM 443, vgl. auch 482. Das folg. Zitat ebd. 444.

Kapitel 10 Der Umgang mit den christlichen Symbolen in der analytischen Seelsorge (Frau A.) In diesem Kapitel untersuchen wir noch einmal gesondert vier große Szenen bzw. Träume der Frau A., die von christlichen Symbolen leben.1 Warum? In jedem ernsthaften therapeutischen Prozeß muß eine enorme Differenzierungs- und Trennungsarbeit geleistet werden. Diese oft schmerzliche Arbeit ist immer symbolisch vermittelt. Schon das Kleinkind benutzt ein weiches Stofftier oder einen anderen weichen Gegenstand, den man liebkosen kann, um sich besser aus der symbiotischen Beziehung zur Mutter zu lösen. Ein solches Übergangsobjekt (nach Winnicott) als Symbol der Mutter-Kind-Einheit hilft dem Kind, seine Angst vor dem Alleinsein zu bewältigen und allmählich innere, symbolische Repräsentanzen des Liebesobjektes aufzubauen. So kann dessen kürzere oder längere Abwesenheit gleichsam überbrückt werden. Beim völligen Verlust des Liebesobjekts, wie wir ihn später durch Trennung oder Tod erleben, ist dieser Internalisierungsvorgang natürlich komplizierter, bleibt aber das entscheidende Element gelingender Trauerarbeit. Das großartige Ideal, das der adoleszente Jugendliche oft braucht (Dietrich!), können wir als eine Art geistiges Übergangsobjekt verstehen.2 Es dient dazu, sich von der kindlichen Bindung an die Eltern zu lösen und Wertvorstellungen, Beziehungen und Gefühle zu erweitern. Diese Funktion der Ich- und Selbsterweiterung in einer Lebenskrise bleibt natürlich nicht auf

1 Die Bedeutung dieser Szenen zeigt sich auch darin, daß Pfister sie 1927 noch einmal zusammenfassend darstellt und kommentiert (AS 106-109). Noch stärker als im Originalbericht legt Pfister in dieser Auswahl das Hauptgewicht auf das "tiefere Verständnis des Kreuzes Christi" (109), zu dem Frau A. im Laufe der seelsorgerlichen Beratung findet. Diese vereinfachende Zuspitzung erklärt sich nicht zuletzt aus Pfisters Werbungsabsicht bei seinen Berufskollegen (ebd. 3, vgl. Kap. 14.3). Wir finden den Bericht über Frau A. in dem Kapitel "Religiöse Schäden" und hier innerhalb des Abschnittes 14, "Beschränkter und völliger Unglaube". Pfister will also die Möglichkeit herausstellen, daß der Glaube durch analytische Seelsorge gereinigt und geläutert werden kann, auch im Sinne eines tieferen, also 'richtigeren' Verständnisses seiner Symbole, ja, daß der Glaube auf diese Weise sogar neu gewonnen werden kann. 2 Vgl. M. Mitscherlich 1973,1115, zum Begriff Übergangsobjekt D.W. Winnicott 1969, zur Notwendigkeit einer "großen Idee" Erikson 1977, 28. Zur Diskussion des Problems bei Dietrich vgl. bes. Kap. 8.3.

10.1. Das Bekehrungserlebnis

373

Kindheit und Adoleszenz beschränkt. Wir können auch Frau A.s Problematik unter dem Aspekt der Trennung und ihrer symbolischen Verarbeitung sehen. Das Klimakterium erlebt sie als eine Zeit krisenhaften Umbruchs. In Krisen wird ja immer auch auf frühere Bewältigungsmechanismen zurückgegriffen (regrediert). In der Beratung selbst steht u.a. der Verzicht auf Größenphantasien an und die notwendige Trennung vom Berater. Frau A.s Selbstfindungsprozeß ist, wie wir wissen, in massiver Weise symbolisch vermittelt. Im Fortgang der Beratung gelangen ihre Bilder und Szenen ins Zentrum der christlichen Symbolwelt. Anscheinend steht diese der Problematik von Verzicht und Trennung besonders nahe. Außerdem kennen wir ja Frau A.s narzißtischen Grundkonflikt, im dem es um ihr Selbst-Bild und ihren Selbst-Wert geht. Diese Dimension ist in den großen christlichen Symbolen enthalten. C.G. Jung bezeichnet Christus sogar als den Archetypus des Selbst. Schon bei 'Dietrich', zumal im Umkreis des Dornröschenbriefes, haben wir einen engen Zusammenhang von religiöser Symbolik und narzißtischer Thematik gefunden. 3 Zuletzt: Das Symbolsystem des christlichen Glaubens hat, zu Pfisters Zeiten noch deutlicher als heute, den unschätzbaren Vorteil, weithin öffentlich kommunikabel zu sein. In seinem gleichsam privaten Umgang mit bestimmten Symboldimensionen bleibt der Neurotiker doch tendenziell an einen allgemeinen Interpretationszusammenhang angeschlossen. Das macht es ihm schwerer, in seiner neurotischen Privatwelt zu verharren.

1.

Das Bekehrungserlebnis

Frau A.s Bekehrungserlebnis haben wir bereits kennengelernt [9.4], Für sie bedeutet es auch, daß ihr "aufrührerisches Herz" sich in Demut beugt; sie fühlt, "daß alles so sein mußte, wie es ist". Doch wogegen hat sie denn aufbegehrt? Einmal gegen Gott, zum anderen gegen den Seelsorger, genauer gegen sein "Entschwinden", wie sie es im vorhergehenden Traum erlebte. Durch das Bild des gekreuzigten Erlösers, das sie vor sich sieht, wird Frau A. tief erschüttert:

3 Vgl. auch Kap. 7.8 u. 9. Zu Christus als Archetypus des Selbst s. C.G. Jung 1973, 469, 498-500 (Symbole der Wandlung); 1952, 57, 121 ff. (Antwort auf Hiob).

374

Umgang mit den christlichen Symbolen

"Der Schmerz löst sich in einem Tränenstrom, ohne das empörende Gefühl, welches ich meistens empfand, daß Gott diesen Tod zugelassen hat." Als junge Frau litt sie unter eifrigen Versuchen, sie zu einer pietistischorthodoxen Frömmigkeit zu bekehren.4 Besonders zu schaffen machte ihr die Frage, wie Christus und Gott-Vater sich zueinander verhalten. Die traditionelle Sühnopfertheorie lehnte sie empört ab. Die Passionspredigten beunruhigten sie, der Karfreitag versetzte sie in schwere innere Nöte. Sollte Gott der Qual und dem Selbstopfer Christi einfach zugesehen haben? Nicht als Gottwesen mit übermenschlichen Kräften, aber als "besten, höchsten, hingehendsten Menschen" liebte sie Christus von jeher. "Daß ein Unschuldiger so schwer leiden müsse, vertrug sich nicht mir ihrer Forderung eines liebreichen Gottes." So entstand für Frau A. die Kluft zwischen Gott und Christus, weil deren Beziehung für sie nur als sadistisch-masochistisches Wechselspiel zwischen Vater und Sohn, Eltern und Kind vorstellbar war. Daher wurde ihr die Meinung, man könne nur durch Christus zu Gott kommen, zum unübersteigbaren Glaubenshindernis. Erst jetzt ist das bisher Unmögliche geschehen. Um das zu verstehen, müssen wir auf eine biographische Schlüsselszene zurückgreifen oder besser vorgreifen, denn sie wird Frau A. erst gegen Schluß der Beratung bewußt. Beim Nachdenken über die Melodie des Orgeltraumes fällt ihr die Liedstrophe vom unschuldig geschlachteten Lamm Gottes ein, "immer treu erfunden, wiewohl du warst verachtet".5 Als sie zehn Jahre alt war, wurde das Lied einmal in der Kirche gesungen. Vor allem das Wort "geschlachtet" erschreckte sie furchtbar und rief eine anhaltende, ambivalente Beschäftigung des Kindes mit dem Lied hervor. Schon vorher hatte sich das Mädchen über die Todesschreie von geschlachteten Tieren entsetzt und war nur "mit Widerwillen, ja seelischer Qual" in eine Schlächterei gegangen. Dies alles sei auch in späteren Jahren für sie grauenhaft geblieben, berichtet sie. Heute sei es der Ruf Jesu, in dem die ganze Gottverlassenheit sich ausdrückt, der sie am meisten erschüttere,

4 WuS 37, 66 (= Bekehrungserlebnis), 70-72, vgl. AS 106 - eine von mehreren Parallelen zum Lebensschicksal Pfisters! 5

Ebd. 81, die folg. Zitate 81-84. Zum Orgeltraum s. Abschn. 4 und Kap. 9.5.

10.1. Das Bekehrungserlebnis

375

"denn gerade unter dem Gefühl der Verlassenheit litt ich selbst so lang und schwer". Was er dazu "analytisch ausfindig machen" konnte, gibt Pfister so wieder: "In den ersten Lebensjahren sehnte sich unsere Träumerin oft nach dem abwesenden Vater. Dann versteckte sie sich in seinem Kleiderschrank und küßte seinen Überzieher und war untröstlich im Gefühl, vom Vater verlassen zu sein. Diese Kindernot denkt sie jetzt in Jesus hinein". Wir dürfen annehmen, daß das Kind nicht nur "untröstlich" war, sondern daß es sich im dunklen Kleiderschrank auch Phantasien über den abwesenden Vater bildete, die ihn zu übermenschlicher Größe erhoben. Dieses Vaterbild muß auch das Gottesbild der Tochter mitgeprägt haben. Einen Eindruck davon erhalten wir aus einer früheren Schilderung Frau A.s; zugleich wird darin das ödipale Dreieck deutlich, im dem sie gefangen ist. In der Kindheit stellte sie sich Gott immer gern hinter den Abendwolken vor: "Wie oft meinte ich in übergroßer Sehnsucht, die Wolke müsse sich teilen und mir den alliebenden göttlichen Vater in seiner Herrlichkeit enthüllen! Dann riß mich plötzlich eine brutale Hand aus den süßen Träumen heraus ins öde Leben, und aus meiner Verträumtheit wurden mir Vorwürfe gemacht, ohne daß ein Mensch mich liebend gefragt hätte, woran ich eigentlich denke. Freilich, meiner Mutter, die sich am meisten über meine Versonnenheit ärgerte, hätte ich es auch nie sagen können."6 Freilich, die Idealisierung des Vaters, mit der entsprechenden Distanz zur Mutter, kann nur die eine Seite der Medaille sein. Die Phantasien über den abwesenden Vater müssen auch von tiefer Enttäuschung und Wut bestimmt gewesen sein: Er geht einfach willkürlich fort, kümmert sich nicht um das Kind, schützt es nicht vor dem Zugriff der verständnislosen Mutter, läßt sie mit seinem Überzieher allein, den sie in einer demütigenden, verzweifelten Ersatzhandlung küßt. Nur die Verlassenheitsangst wird bewußt, damals wie heute, nicht aber die Kränkung, die die väterliche Eigenständigkeit für das

6 Ebd. 57 f. Dieser kindliche Traum liest sich wie eine schöne Illustration der Religionstheorie Freuds, jedenfalls ihrer Hauptlinie [7.8], der Ableitung der religiösen Bedürfnisse "von der infantilen Hilflosigkeit und der durch sie geweckten Vatersehnsucht" (GW XIV 430). Als Ersatzbildung für die Vatersehnsucht enthält das Ichideal "den Keim, aus dem sich alle Religionen gebildet haben" (XIII 265).

376

Umgang mit den christlichen Symbolen

Kind bedeutet, und auch nicht die ohnmächtige Wut, die daraus entsteht.7 Das zehnjährige Mädchen fühlt sich von dem Bild des geschlachteten Gotteslamms auf eine zutiefst ambivalente Weise angezogen, denn darin ist ja nicht nur das unschuldige Leiden des Kindes verdichtet, sondern auch die Gefühllosigkeit des Vaters, der dieses Opfer will oder zumindest duldet.8 Hinter der bewußten, rationalen Ablehnung der Sühnopfertheorie durch Frau A. steht also auch die Verdrängung eines negativen Vaterbildes, zugleich wohl der unausweichlichen Schuldgefühle dafür. "Mit deiner Schuld beladen" stirbt Jesus am Kreuz, so erinnert sie das Lied. Darin muß doch eine Ahnung enthalten sein, daß das kindliche Lämmchen so unschuldig und rein nicht ist, sondern eine enorme Schuldangst hat wegen seiner maßlosen Wut auf den Vater (und später auch wegen der verbotenen Liebe). Sollte die Erinnerung an das kindliche Erleben des Vaters besonders deshalb mit dem Symbol des Opferlammes verknüpft sein, weil die Schuld darin zugleich abgebüßt ist? Jedenfalls muß Schuld hineinspielen. Frau A. weist die dogmatische Zumutung eines grausamen Vater-Gottes "empört" zurück, um das Bild eines "liebreichen Gottes" bzw. Vaters und eines ebenso "liebreichen" Menschen Jesus bzw. Menschenkindes aufrechtzuerhalten.9 Scheinbar kann sie damit sowohl dem Trennungsproblem als auch dem ödipalen Konflikt entgehen. Doch sind nicht in eben dieser Empörung auch Zorn und Wut über den eigenen Vater enthalten, die Sühne fordern? Ebenfalls in diese Richtung weist eine Seite im Vater-Bild Frau A.s, die der Vatersehnsucht scheinbar völlig widerspricht. In ihrer Kindheit erlebte sie den Vater als so "maßlos heftig und jähzornig", daß sie sich gemeinsam

7

"Das liegt daran, daß die Enttäuschungen am narzißtischen Objekt nicht nur ärgerlich sind, sondern darüber hinaus als Kränkungen erlebt werden. Und auf Kränkungen reagiert der Mensch mit blinder, ja ohnmächtiger Wut. Ohnmächtige Wut gilt aber als Gipfel an aggressiver Reaktion, zu der ein Mensch fähig ist" (Henseler 1973, 66). Zur narzißtischen Wut vgl. Kohut 1973 a, bes. 553 f. 8 C.G. Jung schreibt in seiner "Antwort auf Hiob" (1952, 67): Man mutet der Gottheit ein schlimmes Unrecht zu, "wenn man annimmt, daß es, nur um den Zorn des Vaters zu beschwichtigen, nötig sei, den Sohn am Kreuz zu martern. Was ist das für ein Vater, der lieber seinen Sohn abschlachtet, als daß er seinen übelberatenen und von seinem Satan verführten Geschöpfen großmütig verzeiht? Was soll mit diesem grausamen und archaischen Sohnesopfer demonstriert werden? Etwa die Liebe Gottes? Oder seine Unversöhnlichkeit?"

' WuS 83, 72, das Folg. 36. - Frau A. tendiert also in Richtung der antinomistischen Häresie. Doch einen Ausflug in die Dogmen- und Ketzergeschichte versagen wir uns.

10.1. Das Bekehrungserlebnis

377

mit der Mutter vor ihm fürchtete. Wieviel Realität sich in dieser Erinnerung widerspiegelt, können wir nicht wissen. Entscheidend ist das Erleben des Kindes. Von daher sind Haß, ja Todeswünsche gegenüber dem so geliebten und jähzornigen Vater durchaus möglich. Da sie aber nicht sein dürfen, werden sie auf den himmlischen Vater projiziert und in Gestalt der Sühnopfertheorie "empört" abgelehnt. Immerhin ist ja die Empörung gegen den Vater, nämlich gegen den, der ausschließlich im kodifizierten Gesetz Beziehung zu seinen Kindern aufnimmt, eine der Dimensionen des Weges Jesu. Dazu gehören die Assonanzen Sohnestrotz und Rebellion. Das haben, auf je verschiedene Weise, vor allem die Psychoanalytiker Theodor Reik und Erich Fromm in den 20er Jahren herausgearbeitet. Später hat der Neutestamentier Kurt Niederwimmer diesen Faden wieder aufgegriffen. 10 Die mythologischen und religionspsychologischen Hintergründe können hier nicht vertieft werden. Das kindliche Erleben des väterlichen Zorns hätte immerhin einen gewissen Anhalt am Ablauf des ödipalen Dramas. Es ist ja zunächst der Vater (Laios), der den Sohn (Ödipus) töten bzw. loswerden will. Mit dem Thema des Impulses zur Kindstötung und der kindsmörderischen Phantasien hat sich vor allem David Bakan auseinandergesetzt." Innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition ist hier natürlich als erste die Geschichte von Abraham und Isaak (Gen. 22) zu nennen, mit der sich Kierkegaard aus seiner quälend drepressiven Vaterbeziehung heraus so intensiv beschäftigt hat. Bakan geht von der allgemeinmenschlichen Problematik aus, "daß jede Generation ein Bindeglied zwischen zwei Generationen ist, und jede selbst unsterblich sein will". Von daher interpretiert auch der amerikanische Sänger Leonard Cohen die "Story of Isaac", so der Titel seines eindrucksvollen Liedes. - Hierher gehört auch der religiöse Begriff des Opfers, von Isaaks Opferung und dem Opfer im Buche Hiob bis hin zum Sühnopfer Christi. Das Opfer steht am Schluß der Phantasieschöpfungen der Miss Miller in C.G. Jungs "Symbole der Wandlung". 12 Auch in Frau A.s Entwicklung spielt der Gedanke des Selbstopfers im Zusammenhang mit der Christus-Identifikation eine wichtige Rolle.

Daß Frau A. durchaus mit ihren eigenen Aggressionen zu kämpfen hat, zeigt schon eines ihrer bewußten Motive für den Gang zum Seelsorger, daß sie nämlich so gereizt und zornig ihrem Mann gegenüber ist. Außerdem erinnern wir uns an ihre enorme Wut auf die Mutter, die gleich im ersten Traum deutlich wird [9.1]. Ihre aggressiven Impulse, die jetzt im Klimakterium wieder hervorbrechen, scheint Frau A. spätestens seit der Adoleszenz erfolgreich verdrängt zu haben. Die anhaltende Fixierung auf den idealisierten Vater weist auf den ungelösten ödipalen Konflikt zurück.

10 Reik 1927/1973, bes. 44 ff.; Fromm 1930/1965, bes. 41 ff.; Niederwimmer 1968, bes. 53 ff., vgl. 1962/1977, 283 f. 11 Bakan 1966/1976, 181 ff.; auf das Buch Hiob bezogen ders. 1972. daraus das folg. Zitat, 166. 12

C.G. Jung 1973, 501 ff.

378

Umgang mit den christlichen Symbolen

Was hat dies alles nun mit Frau A.s Beziehung zu Pfister zu tun? Im Orgeltraum ist er es, der die Melodien spielt, die letztlich zu der Wiedererinnerung an die schrecklichen Szenen aus der Kindheit führen (Gotteslamm, Verlassenheit). Wir befinden uns in den letzten Wochen der Beratung, Trennung steht an. Empfindet Frau A. wiederum, verlassen zu werden, so wie damals vom Vater? Mindestens hat wohl der drohende Abschluß der Gespräche die Erinnerungen an ihre "Kindernot", wie Pfister es nennt, befördert. Und sie mag auch kurzzeitig einmal empfinden, von ihm abgelehnt zu werden.13 Daß wir auf ihre "Empörung" darüber keine Hinweise finden, scheint weniger auf Abwehr zu deuten als darauf, daß die Verlassenheit diesmal nicht so tief geht und insgesamt anders erlebt wird. Pfister entfernt sich nicht aus sadistischer Willkür, wie das ohnmächtige Kind das Weggehen des Vaters erlebte, sondern aus höherer Notwendigkeit, die die erwachsene Frau ein Stück weit einsehen kann. Damals küßte das Kind den Überzieher des Vaters, ein Teilobjekt als Ersatz. Heute küßt sie im Traum die Wunden Christi und geht mit ihm durch das Feuer [Abschn. 3], ein eher ganzheitlicher, personaler 'Ersatz' für die Beziehung zu Pfister. Frau A.s Christusbeziehung wird zur Identifikation mit seinem Leiden. In beidem, Beziehung wie Identifikation, bleibt sie ja auf bestimmte Weise mit Pfister verbunden. Er arbeitet ja auch mit "am großen Erlösungswerk" Jesu, wie sie es für sich selbst empfindet. Der Wille Gottes, in den sie sich wie im Bekehrungserlebnis, so auch in einem ihrer letzten Träume "in Demut" ergibt wie Jesus in Gethsemane [9.3], er ist in gewisser Weise auch der Wille Pfisters. Denn als Bote Gottes verweist er sie ja gerade auf Jesus und darin von sich selbst weg. Hat er ihr so auf sublime Weise doch seinen Willen aufgezwungen? Oder hat er ihr wirklich .etwas gegeben, eine (narzißtische) Speise, von und mit der sie nun leben kann? Müssen wir das von ihren Beziehungswünschen her als Abspeisung bezeichnen? Und was wäre das für ein Trennungsmodus? Direkter noch als am Schluß der Beratung bleibt die "Demut" in Frau A.s Bekehrungserlebnis mit der Person Pfisters vermittelt. Wir erinnern uns, das neue, beglückende Gefühl der Gottesnähe verbindet sich für sie mit der

13

WuS 84. Dem Leser gegenüber spricht Pfister von der "Ablehnung" der Übertragung und vom "Abschneiden" der mit ihr verbundenen Gefühlsabgabe (69 f.)! - Das Folg. ebd. 82, 86 f., 88 f., 66 f.

10.2. Der Mann mit den ausgebreiteten Armen

379

Empfindung einer liebenden Gestalt, die hinter ihr steht und ihr mit einem sanften, beruhigenden Druck die Hände auf die Schultern legt. Der, der vorher nach oben entschwand, steht nun, wo sie Christus vor sich sieht, hinter ihr! Es erscheint fast, als befänden sich beide Gestalten in einem ständigen Kampf um ihre Stellung und Funktion in Frau A.s innerer Welt. Pfister kommentiert ihr Erlebnis allzu bündig, so, als sei der Kampf schon entschieden: "Auf sich selbst angewiesen, findet sie in der religiösen Sublimierung Erlösung." Einige Sätze weiter sieht er gleichwohl bei ihr die innige Verschränkung von religiöser Sublimierung (fruitio dei) und Übertragungsbeziehung (der Seelsorger soll ihr Führer bleiben, s. 9.4). Diese Verschränkung ist noch keineswegs harmonisch, sondern gleicht eher einem inneren Zwiespalt. Frau A. selbst schreibt über ihre Bekehrung, manchmal wolle sie "ein fast unheimliches Gefühl" über ihren ganz veränderten Seelenzustand beschleichen. Sie bittet Gott im Gebet, die höhere Kraft möge sie bewahren "vor allem Schrecklichen der menschlichen Natur". Das Unheimliche, das sich da ankündigt, ist das allemal Bekannte, nämlich eine Intensivierung der Übertragungsliebe.14

2.

Der Mann mit den ausgebreiteten Armen

Der Sturm bricht einige Wochen nach dem Bekehrungserlebnis los, und es braucht immerhin drei Sitzungen, bis sich die "Übertragungsnot" etwas gelegt hat. Frau A. wird mit ihrer Sexualität konfrontiert und mit Pfisters Bemühen, "den illusorischen Charakter der Liebesflut zu enthüllen", die jedoch an sich keineswegs verwerflich sei. Und nun kommt wieder Christus ins Spiel: "Die Übertragung und ihre Ablehnung bewirkten ein merkwürdiges Erlebnis: Die Analysandin suchte mit heißer Inbrunst Gott. Da phantasierte sie mich in einer Nacht plötzlich als Mann, der sie mit weit ausgebreiteten Armen von Gott abhalte." 14 Ebd. 66. - "Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich (...) Das Unheimliche ist ... das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe 'un' an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung" (Freud: Das Unheimliche, GW XII 229 ff., Zitat 237/259).

380

Umgang mit den christlichen Symbolen

Einige Tage später fällt ihr dazu "wie eine heiße Welle" der Opfertod Christi am Kreuz ein. 15 Im Vergleich zur Bekehrung hat das Bild sich gewandelt. In ihrem inneren Kampf hat wieder die andere Seite das Übergewicht erhalten. In der Bekehrungsszene stand Pfister hinter ihr und Christus vor ihr, jetzt steht Pfister vor ihr und verdunkelt Gott. Die Begründung, er halte sie von Gott ab wie einst der gekreuzigte Christus, erscheint zunächst wie eine äußere Assoziation. Denn natürlich ist es ihr Liebeswunsch, der hier hervorbricht. Die "weit ausgebreiteten Arme" sollen sie umarmen; in den folgenden Tagen erleidet sie "plötzliche Ohnmächten". Sie wird nicht zornig, weil Pfister ihr den Weg versperrt. Christus dagegen hatte sie früher nicht als Geliebter von Gott ferngehalten, sondern weil ihr sein Sühnopfertod ein unerträglicher Gedanke war. Dennoch blieb ihre Beziehung zu ihm ambivalent, denn sie verehrte ihn ja auch. Zu Recht schreibt Pfister, in der Gleichsetzung des Seelsorgers mit Christus spiegele sich die Ambivalenz der Übertragung deutlich wider. Frau A.s Phantasie ist szenisch enorm verdichtet [9.2]. Die Geste der ausgebreiteten Arme will Pfister weder allein erotisch noch allein religiös verstehen, sondern in ihrer Vielschichtigkeit belassen (abhalten, umarmen, gekreuzigt sein usw.). "Der Analytiker hält von Gott ab, indem er alle [so auch die ursprünglich religiöse] Liebe auf sich konzentriert", das heißt, in dieser Liebe wirken erotische und religiöse Sehnsucht als eine Stivocpiq so zusammen, daß sie auch in der natürlich angestrebten Sublimierung nicht einfach aufgeteilt werden können. Die Ambivalenz bleibt auszuhalten. Die Wunscherfüllung in der Szene, nämlich von Gott getrennt allein noch dem Analytiker gegenüber zu stehen (so Pfister ein Jahrzehnt später), wird doch dadurch konterkariert, daß eine Vereinigung mit ihm als Christus ja unmöglich ist. Das in der Szene enthaltene Moment der Rache für die Ablehnung der Übertragungsliebe bringt Pfister fast nebenher ins Spiel: Der Analytiker "gleicht auch darin dem Gekreuzigten, daß er (als Seelsorger) eigentlich Führer zu Gott sein sollte, aber die umgekehrte Wirkung ausübt. Ein wenig Rache mag in dem Vergleich mitspielen ..." Außerdem ist die Kreuzigung eine grausame Hinrichtungsart!

Das Kreuzessymbol gibt noch mehr zu denken. Pfister spricht von einem "merkwürdigen Erlebnis". Was bedeutet es denn, wenn Frau A. auf die Unmöglichkeit einer Liebesbeziehung zu ihm gleichsam damit reagiert, daß sie ihn mit dem gekreuzigten Christus identifiziert? Sind beide nicht Mittler, die im Interesse eines Größeren sterben müssen? Und weiter: 'Christus' bedeutet mehr als nur eine Art Ersatz für Pfister. Er ist eben nicht

15 Ebd. 70. Zum Folg.: Die Szene mit Vorgeschichte und Aufarbeitung ebd. 69-73, vgl. auch AS 108.

10.2. Der Mann mit den ausgebreiteten Armen

381

nur Liebes-, sondern auch Identifikationsobjekt. Mußte nicht auch der Gekreuzigte auf so vieles, ja auf alles verzichten? Doch einer in diesem Sinne tieferen Christus-Identifikation steht vorläufig noch die anstößige Sühnopfertheorie im Weg. Dieser Weg der Versöhnung von Vater und Sohn (bzw. Tochter!) ist für Frau A. noch nicht gangbar. Sie erkennt jedoch an, daß die Kreuzigung im Sinne eines Opfers, eines Verzichts notwendig ist. So gelangt sie immerhin zur Ruhe, "wenn auch noch nicht zur Freude". An dieser Stelle müssen wir eine Zwischenüberlegung zu Pfisters beraterischer Strategie einschalten. Auch er sieht den fortbestehenden Übertragungsanteil in Frau A.s unbewußter Gleichsetzung von Seelsorger und Christus. Er denkt aber nicht daran, diese Übertragung direkt zu bearbeiten, etwa das dazugehörige Moment der Rache für die Abweisung durch den Seelsorger (bzw. den Vater) oder die Idealisierung des Seelsorgers (bzw. des Vaters), die ihn in die Nähe Gottes hebt. Pfister erwähnt dies zwar alles, doch die damit gestellte Aufgabe liegt für ihn in der Bearbeitung des religiösen Problems selbst, also der Beziehung Frau A.s zum Kreuz Christi. In solcher Sublimierungsarbeit an einem idealen Ziel werde ja der Analytiker von unzukömmlichen Gefühlen entlastet, so daß die Gewissensanklagen verstummen können. Soviel ist klar, Pfister möchte von der Übertragungsbeziehung gleichsam wegsublimieren. Positiver gewendet, statt die Übertragungsbeziehung durch direkt konfrontierende Deutungsarbeit allmählich aufzulösen, vertraut er offensichtlich darauf, daß die wichtigsten Anteile der Übertragung, in, mit und unter der Arbeit am Symbol des Kreuzes Christi zu klären bzw. zu sublimieren sind. Dabei geht er zunächst ganz pädagogisch vor. Es erscheint fast so, als hole er den "rechten Religionsunterricht" nach, in dessen Genuß Frau A. nie gekommen war. "Es galt nun, die Sublimierung durch eine Klärung der Vorstellung vom Sinn des Kreuzestodes Jesu zu verstärken, was durch die Besprechung des Dürerschen Rruzifixus gelang." Diese Intervention bezeichnet Pfister ein Jahrzehnt später als technischen Fehler, er hätte besser mehr Einfälle einholen sollen.16 Das Erklären darf nicht vor dem eigenen Finden und Erleben der Klientin stehen. Doch schon durch die Erklärung des Opfertodes kommt es zu einer Besserung des Gesamtzustandes, wie Pfister schreibt.

16 AS 108, WuS 73, vgl. 82. Etwas früher merkt Pfister an, daß diese Analyse unabgeschlossen blieb. - Das Folg. WuS 73 sowie Br. 38 (Freud an Pfister, 5.6.1910).

382

Umgang mit den christlichen Symbolen

"Das Gleichgewicht der Seele fand sich wieder, doch blieb immer noch ziemlich viel positive Übertragung. Gelegentlich kam es auch zu Depressionen ..." So glatt gelingt der Versuch doch nicht, die Übertragungsliebe "auf Religion und Ethik [zu] sublimieren", wie Freud es dem Seelsorger Pfister 1910 zugesteht. Aber durch die Aktivierung des narzißtischen Potentials gelingt es zuletzt doch. Nur eine gewisse Idealisierung des Seelsorgers bleibt auch am Schluß der Beratung bestehen, das ist der Tribut eines solchen Arbeitsstils. Doch auch hier würde die Dynamik des in Rede stehenden Symbols selbst weitere Klärung bringen, so haben wir früher bereits vermutet [9.4],

Über seine 'Religionsstunde' mit Frau A. hören wir von Pfister nichts weiter. Gleich danach folgt aber Frau A.s Christustraum, das spricht für sich. Darin erkennen wir (mit Pfister und Frau A. selbst) auch Einzelheiten aus Pfisters Intervention wieder, etwa das weiße Tuch des Dürerschen Kruzifixus. Frau A.s Worte über die Größe und Erhabenheit des Kreuze, dieses "Weltzeichen der erlösenden Liebe", könnte Pfister ebensogut formuliert haben. Es ist ihm auch klar, daß seine Worte ihren Erlebnissen vorarbeiten.17 Wir werden ein wenig an eine Schülerin erinnert, die ihre Hausaufgaben übereifrig erledigt, weil sie den Lehrer so gern mag. Doch abgesehen davon, daß auch dies eine legitime Weise des Lernens ist - es soll ja dahin kommen, daß der Lerninhalt die Art des Lernens, ja sogar das Selbstverständnis der Lernenden verändert. In welche Richtung? Das Ziel ist natürlich eine (idealisierende) Beziehung zu Christus, und der Christustraum zeigt Frau A. auf dem Weg dahin [Abschn. 3]. Doch darüber hinaus soll sie zur vollen Identifikation mit dem Gekreuzigten gelangen, der sich um des höheren Zieles der Liebe willen selbst dahingibt. In seinem Resümee am Schluß des Fallberichts schreibt Pfister, nach langen inneren Kämpfen erlebe Frau A. erst jetzt, was er ihr anhand des Dürerbildes damals schon, viel zu früh, als Kern des Kreuzestodes zu erklären versucht habe: den Tod Jesu mitzumachen, paulinisch gesagt, sich mit Christus kreuzigen zu lassen. Nach Pfisters Überzeugung mußte das Kreuz Christi nicht aus Gründen der Gerechtigkeit (Gottes) aufgerichtet werden, sondern um den Menschen die "Tragik der Sünde" und die "Größe der ... Liebe" zu zeigen. Mag diese Auffassung auch das Skandalon und den Fluch des Kreuzes mit heroischer Geste überspielen, nicht zufällig mit Worten aus der ästhetisch-dramatischen

17

WuS 82, vgl. 76. Das Folg. 83 f.

10.2. Der Mann mit den ausgebreiteten Armen

383

Sphäre18, so nimmt sie doch andererseits den einzelnen Menschen in das Geschehen hinein. Jeder endliche Mensch steht im Raum dieses Dramas von Größe und Tragik der Liebe und ist aufgerufen, in der imitatio Christi sein eigenes Kreuz zu erkennen und auf sich zu nehmen. In dieser Weise wird Pfister mit Frau A. gesprochen haben. Auf dieses Ziel hin wird er ihr die weit ausgebreiteten Arme in ihrer Traumphantasie und beim Dürerschen Kruzifixus "erklärt" haben. In eine solche Christusbeziehung soll sie ihre Übertragungsliebe sublimieren. Darin wäre ihre Bindung an Pfister im dreifachen Sinne aufgehoben: beendet, aufbewahrt, verändert. Freilich, so weit ist es noch nicht, auch nicht mit dem nachfolgenden Christustraum. Kann es denn überhaupt so weit kommen, ist dies Ziel nicht irgendwie zu schön, um auch wahr zu sein? Kann ein Symbol wirklich so funktionieren? Oder nimmt Frau A. dies alles allein Pfister zuliebe auf, weil sie nämlich spürt, was er möchte, und um jeden Preis mit ihm verbunden bleiben will? Den Einwand "Nur ihm zuliebe!" habe ich besonders massiv in einer kleinen psychoanalytischen Arbeitsgruppe gehört, in der ich vor Jahren einen Ausschnitt aus dem Fall "Frau A . " vorstellte. In hartnäckiger Skepsis wurde vor allem meine Auffassung von Bedeutung und Wert der Arbeit mit Symbolen hinterfragt. In diesem Kapitel 10 befinde ich mich in einem fortwährenden inneren Dialog mit meinen damaligen Gesprächspartnerinnen und -partnern.

Solch berechtigter Skepsis will ich hier nur begegnen, indem ich wiederholt auf das hinweise, worauf Frau A. sich, womöglich auch ihm zuliebe, schließlich einläßt: das Kreuz Christi. Wird es ernstgenommen, so ist in ihm jedes 'zuliebe' und jede Liebe relativiert, ja aufgehoben. Sogar die Liebe zu Christus selbst wird zur Teilhabe an seinem Leiden, an seiner Selbstentäußerung, und verweist somit zurück auf das eigene Selbst und sein Kreuz. Erst dadurch und darin öffnet sich der weite Raum der Liebe Gottes. Frau A. scheint dafür offen. Auf die double-bind-ähnliche Zumutung der Doppelbewegung: Pfister zuliebe von ihm weg zu Christus, reagieret sie nicht mit verzweifeltem Festhalten oder mit schizoider Aufspaltung, sondern mit einer Aktivierung ihres narzißtischen Potentials. In grandiosen Szenerien verschmelzen beide Bewegungen in einem größeren Raum, der als Weite der Liebe gedeutet werden kann. Das ist nicht sehr ferne von Pfisters Vor-

18 C A 208. Pfister kann sogar vom "titanischen Drama des Erlösungswerkes" sprechen ( P M 557).

384

Umgang mit den christlichen Symbolen

Stellung, sie möge ein "ideales, die ganze Persönlichkeit hebendes [sie!] Ziel der Neigung" gewinnen.19 Doch die Neigung selbst bleibt vorerst zwiespältig und doppelsinnig.

3.

Der Christustraum

Zunächst zum Traumtext: Die Träumerin läßt sich von der Freundin Nina in ihren Brautschleier einhüllen. Sie geht eine sanft ansteigende Zypressenallee hinauf. An ihrem Ende ragt aus einem mit Moos bedeckten Felsen gewaltig das Kreuz mit Christus heraus. Dahinter lodert ein mächtiges Feuer. "Ich gehe schnell, von einer großen Sehnsucht getrieben, über den glühenden Sand die Allee entlang den Hügel hinauf und sinke, den Kreuzesstamm umklammernd, nieder. Plötzlich fühle ich, wie das hohe Kreuz in den Felsen versinkt, während ich es in die Arme schließe, bis die Füße des Heilands mit dem Nagel meine Stirne berühren. Der Nagel steht mit erschreckender Deutlichkeit vor meinen Augen, und in einem raschen Impuls erfasse ich ihn und ziehe ihn aus den Füßen. Ich küsse die Wunde, die plötzlich verschwindet. Ich erhebe mich in freudigem Schrecken über dieses Wunder und ziehe auch den Nagel aus den Händen des Heilands. Hierauf nehme ich in tiefer Ehrfurcht das gesenkte Haupt in meine Hände und küsse andächtig die geschlossenen Augenlider. Da steht plötzlich Christus in einem weiten, weichen Mantel vor mir und sagt: 'Die tief und rein geliebt haben, denen wird viel vergeben werden; nun gehen wir durch das große heilige Feuer ein zur Gottseligkeit'. Er umhüllte mich mit seinem Mantel, und wir gehen durch das Feuer des großen Altars der aufgehenden Sonne entgegen". Völlig deutlich ist in diesem Traum die objektlibidinöse Wunscherfüllung. Als Braut Christi vereinigt sich Frau A. mit Christus (und mittelbar auch mit Pfister).20 Die Sexualsymbolik der Szene ist derart offensichtlich, daß mir

19

WuS 73. - "In der Neigung liegt stets eine Tendenz zur Angleichung" (PM 439), d.h. die Objektbeziehung schließt immer auch Identifizierung ein. 20

Traumtext WuS 73-75.- Pfister schreibt, nach dem Christustraum werde aus der Identifikation des Analytikers mit Christus eine solche mit Parsifal (ebd. 78). Also muß er sich im Traum als Christus repräsentiert sehen. Etwas später spricht er von ihrer ParsifalIdentifikation (83), während doch vorher klar war, daß sie nicht sich selbst, sondern ihn statt mit Christus mit Parsifal gleichsetzt. Diese Unstimmigkeit könnte ein Indiz sein für partielle

10.3. Der Christustraum

385

die einzelne Erläuterung überflüssig erscheint. Erwähnt sei nur der ragende Kreuzesstamm, das lodernde Feuer (der Liebessehnsucht), das Herausziehen der Nägel, das Küssen der Augenlider.21 Die Träumerin umklammert den ragenden Kreuzesstamm, doch muß das Umklammern des Phallus nicht bloß den schlichten Koituswunsch ausdrücken. Wenn Odysseus sich an den Mast binden läßt, dann ist es der väterliche Phallus als Haltepunkt, um nicht den regressiven Sirenenklängen zu erliegen. Die neuere psychoanalytische Forschung weist auf die schützende und damit progressive Funktion des präödipalen Vaters für die psychische Geburt des Kindes hin, wenn es sich im zweiten Lebensjahr in der Krise der Separation von der so tief ambivalent erlebten Mutter befindet. Auf die Bedeutung des Dritten, des Vaters, in der Wiederannährungsphase des Kindes zielt das Konzept der Triangulierung von Michael Rotmann (1978). - Wenn wir an das denken, was wir über Frau A.s Mutter-Beziehung wissen, können wir uns durchaus vorstellen, daß sie den Vater bzw. den Mann jetzt als etwas zu erleben vermag, woran sie sich halten kann. Früher war sie ja dem Kreuz gegenüber tief abgeneigt. Pfister weiß, daß das Kreuz wie jedes große Symbol bedeutungs-geladen ist, es "kann gleichzeitig verschiedene Gedanken ausdrücken". 22 Auf die Multidimensionalität und -determination dieses Symbols weist auch S.K. Langer nachdrücklich hin. Die Bedeutungen erweitern sich noch, wenn wir den Corpus hinzunehmen, von Leiden und Ohnmacht bis hin zur Bereitschaft zu liebevoller Umarmung und zur Segenshaltung (ohne Nägel). Das Schlußwort des Traum-Christus beginnt mit einem nahezu wörtlichen Zitat von Lukas 7,47. Dort spricht Christus gegenüber der "Sünderin", die ihm die Füße gesalbt hat, von dem innigen Zusammenhang von viel Sünde, viel Vergebung und viel Liebe. In Frau A.s Traum wird das Dirnenmotiv offen aufgenommen, zugleich aber dadurch modifiziert, daß Christus der einzige ist, dem die Hingabe gilt und so natürlich nur eine bestimmte Art von Hingabe. - Eine Vorform dieses Motivs finden wir in einem früheren Traumeinfall der Frau A. Sie sieht sich als (Hebbels) Judith, die zu Holofernes geht, um sich für ihr Volk zu opfern; zu diesem Zweck heuchelt sie sogar Liebe.23 In diesem Einfall liegt die verschleiernde Zensur nicht in der Erhabenheit des Geliebten (Christus), sondern in der Zweckhaftigkeit der Liebe. Im Dienste eines höheren Zweckes wird sie nur geheuchelt. Beide Male verhindert die Zensur eine wirkliche Liebesbegegnung. Darum strotzen Traum und Einfälle geradezu von "Sehnsucht". - Der von der Zensur eingeführte höhere Zweck Liebe zum Volk statt zum Mann - kann nur über die Tötung bzw. Kastration des nunmehr feindlichen Mannes erreicht werden. Begegnen wir hier wieder Frau A.s massiver Aggressivität, die sie ja zum Seelsorger führte? Haben wir es womöglich mit der Rache für

scharf konturiertes Objekt für Frau A. zu sein (i.S. von Balints Regressionstheorie, vgl. Kap. 9.7). 21 Als ich diesen Traumtext einmal in einer pastoralpsychologischen Arbeitsgemeinschaft vorlas, wurden die Augenlider zu Augtngliedern, was gar nicht allen Zuhörern auffiel. In der wörtlichen Wiedergabe des Textes in der 'Analytischen Seelsorge' (108) entdecken wir, kaum noch überrascht, die Variante Augenlieder, eine Art Kompromißbildung aus den beiden anderen Schreibweisen. 22

PM 253, vgl. 247. Zum Folg. vgl. Langer 1965, 279 f., Kodalle 1978, 100 f.

23

WuS 40.

386

Umgang mit den christlichen Symbolen

die Kastration (Operation) zu tun, die ihr ja von Männern angetan wurde? Was bedeutet in diesem Zusammenhang das Herausziehen der Nägel des Kruzifixus? Deutlich sind die Anklänge an das Motiv der (himmlischen) Hochzeit. Auf ein liebendes Paar, das nach Überwindung vieler Widerstände - Pfister spricht vom Läuterungsfeuer - endlich gemeinsam ins Heiligtum einzieht, d.h. sich endlich vereinigen darf, deutet sowohl der Traumtext, dessen Ende an den Schluß der 'Zauberflöte' erinnert, als auch der Kontext des für Frau A. relevanten Parsifal-Motivs: der Held erkennt schließlich das wahre Sehnen der Kundry ... 24 - Ich werde unwillkürlich an Motive auf Briefmarken und politischen Plakaten erinnert. Diese Klischees - ein junges Paar geht Hand in Hand der aufgehenden Sonne entgegen - wollen meist den Wiederaufbau nach einem (womöglich verlorenen) Krieg befördern. Dienen sie damit einerseits als Zeichen der Hoffnung, so verschleiern sie doch andererseits die miese Gegenwart. Damit erschweren sie die notwendige Trennungs- und Trauerarbeit. Frau A. geht offenbar auch durch dieses Wegstück

hindurch.

Pfister sieht in der Auslegung des Traumes keinerlei Schwierigkeiten. Dies gilt aber nur, weil er sich noch mehr als sonst auf eine ordnende Paraphrase der manifesten Traumgedanken beschränkt. Er geht nicht hinter die Zensur auf Frau A.s Wünsche zurück. Er deutet sie aber an, wenn er etwa Frau A. gegenüber von der "inbrünstigen" Liebe spricht, mit der sie das Kreuz umarmt. Doch warum ruft hier die Andeutung nicht nach Deutung? 25 Müßte es für Pfister nicht eigentlich an der Grenze des Erträglichen sein, dieses In- und Miteinander von Gottessehnsucht und Liebessehnen, "wenn dein Arm mich gewaltig umschließt", wie einer von Frau A.s Einfällen dazu lautet? Hat er nicht in den Jahren zuvor die durch Verdrängung der Primärerotik bedingte Sexualisierung der Frömmigkeit gründlich analysiert und scharf kritisiert? So beim Grafen von Zinzendorf, bei der Mystikerin Magaretha Ebner, bei der heiligen Elisabeth von Thüringen, um nur die wichtigsten Beispiele aus der Kirchengeschichte zu nennen. Hielt er dabei nicht beides für mißhandelt, Sexualität und Frömmigkeit? Und Frau A.? Warum läßt Pfister jetzt ihre etwas mildere Form schwüler Frömmigkeit im wesentlichen ungedeutet? Läßt er sie vielleicht auch sich selber 'durchgehen'? Denken wir nur an seine sehr schwierige Ehesituation in diesen Jahren [4.2], Außerdem die vielen Anfeindungen der vorhergehenden Jahre wegen "Sexualisierung" - haben sie doch ihre Spuren hinterlassen? Dazu kommt der ihn persönlich so belastende Bruch zwischen

24

Ebd. 78, vgl. 42. - Diese Seherin aus Wagners 'Parsifal' spielt interessanterweise auch bei Klausmeiers adoleszentem Patienten eine Rolle (1976, 1122, vgl. Kap. 9.5). 23 Vgl. AS 14. In Pfisters Traumparaphrase ist es eigentlich das "Symbol des Kreuzes", das Frau A. umarmt (WuS 77). - Zum Folg. s. Bibl. Nr. 31, 36 (Elisabeth), vgl. PM 554 ff.

10.3. Der Christustraum

387

Freud und Jung, der in ihrer konträren Auffassung der Libidotheorie seinen Auslöser fand. Nach äußeren und inneren Kämpfen ist Pfister um 1914/15 im Prinzip für Freud entschieden und steht damit in Zürich für einige Zeit allein. In einem dieser einsamen Jahre, spätestens 1916, findet die Arbeit mit Frau A. statt.26 Mit der Veröffentlichung des Falles 1918 will Pfister nun freilich bewußt und einseitig auf die Schönheit in der Psychoanalyse hinweisen. Die mannigfache Schönheit und Signifikanz der psychischen Motive, der "Seelengemälde" herauszuarbeiten, in nicht enden wollenden Amplifikationen vornehmlich mythologischer Art, und damit die Ebene des Triebhaft-'Häßlichen' und der entsprechenden 'Objekt'-Wünsche zu relativieren und zu verdinglichen - das kennzeichnet aber gerade Jung gegenüber Freud. So gesehen ist dieser Fallbericht eines der ersten Beispiele für die bleibende Repräsentanz eines gewissen Jungschen Stils in der Freudschen Bewegung. Ein beeindruckendes Beispiel für diesen Stil ist Jungs großes Werk "Symbole der Wandlung". Hier untersucht er die Phantasieproduktionen einer Patientin Théodore Flournoys, die er selbst nie gesehen hat. In seiner breitesten Fassung umfaßt das Werk rund 800 Seiten mit 300 Illustrationen (4. Aufl. 1952). Als "Wandlungen und Symbole der Libido" stand seine erste Fassung 1911/12 bekanntlich am Beginn der Entfremdung von Freud und Jung.

Ferner ist Frau A. kein literarischer, sondern ein 'wirklicher' Fall. Ihre religiösen Träume und Phantasien sind aus der therapeutischen Situation erwachsen und erheben keinen Anspruch auf weitergehende, allgemeine Bedeutung, wie etwa beim Grafen Zinzendorf. Der will ja nicht nur etwas über sich selbst, sondern auch über Christus aussagen, das die Gläubigen erbauen und weiterbringen soll. Einem solchen Anspruch gegenüber ist Pfisters Kritik viel schärfer und seine Analyse unbestechlicher. Ein Jahrzehnt nach den Kämpfen um das Zinzendorf-Buch hat Pfister eine harte, jahrelange Fehde mit Friedrich Heiler um dessen Begeisterung für den indischen Evangelisten und Wundertäter Sadhu Sundar Singh. Wohl bemüht Pfister sich in seinem 1926 erschienenen Buch "Die Legende Sundar Singhs" durchaus, dem Sadhu als christlichem und religiösem Menschen gerecht zu werden, ja, ihn zu würdigen, was Freud ziemlich geärgert hat.27 Doch wehrt er sich eindringlich gegen den Uberindividuellen Wahrheitsanspruch, den der angebliche Heilige mit seinen Mirakeln beglaubigen will, und gegen den Missionseifer und abergläubischen Rummel seiner eifernden Verehrer. Dagegen setzt Pfister die Waffen der historischen und der psychologischen Kritik ein, und er weiß sie glänzend zu handhaben.

26 Trotz seiner schon ziemlich gekärten Stellung zu Jung (Kap. 6.4, vgl. auch das Statement PE 3 von 1917) sieht Freud ihn immer noch auf dem Wege, wenn er 1915 an Karl Abraham schreibt: "Pfister nähert sich uns sehr ..." (Freud/Abraham 203). 27 Vgl. Br. 108 f., zur Fehde mit Heiler Bibl. 1924-1928, neuerdings die gründliche Untersuchung von Michael Biehl (1990).

Umgang mit den christlichen Symbolen

388

Solch kritische Schärfe ist bei Frau A. nicht vonnöten, auch deshalb nicht, weil sie kein schwerer Fall ist [9.1]. Überblicken wir das Gesamt ihrer Träume und Phantasien, so werden ihre primären Triebwünsche darin eher sublimiert als "eleviert". Den Terminus Elevation schlägt Pfister für kraß sexuell bzw. aggressiv getönte Ersatzbildungen vor, zum ersten Mal in der 1911 erschienenen Untersuchung über Margaretha Ebner. Wenn diese "ihre Brunst in ihren Phantasien an der Gestalt des Heilands stillt, oder wenn Zinzendorf seine Sexualgelüste, seinen Sadismus, seine Homosexualität an der Gestalt des deutlich mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen ausgestatteten himmlischen Ehemannes austobt, zu welchem Zweck er sich selbst in seinen tollen Phantasien in ein Weib, das Eheweib Jesu, verwandelt", so handelt es sich um "unveredelte, ungereinigte Erotik, die in ihrer Glut religiösen Phantasien von außerordentlicher Gefühlsintensität die Zügel überläßt." 28 Heute würden wir von religiöser Ersatzbefriedigung sprechen. Sie verfehlt, so Pfister, den Standard echter Sublimierung, nämlich daß anstelle einer primären Triebfunktion "eine Leistung auf geistigem Niveau eintrete, und ferner, daß diese Betätigung als erhabene, ethisch hochwertige anerkannt werde", kurz die "Transformation der Libido in ethisch produktive, soziale und kulturelle Leistungen." 29 In Richtung solcher Leistungen interpretiert Pfister viele Träume Frau A.s. Dazu gehört auch ihr wachsender Drang zu sozialer und humanitärer Betätigung, der sich im Traum und im Leben zeigt.

28 PM 271 f.; vgl. M. Ebner (1911), bes. 483 = Kampf 239. Zur Elevation vgl. auch PM 557 (Bezug auf den Islam), Primäre Gefühle (1922) 52. - Was bedeutet es im übrigen, daß der Begriff ja wohl aus der Liturgik stammt und das Erheben von Hostie und Kelch während der Messe meint? 29

Kampf 239, PM 271. - Der sprachliche Anklang an Kohuts Konzept der Transformation des Narzißmus (bes. 1966) deutet auf eine inhaltliche Kontinuität: Die Libido kann eben nur unter Mitwirkung des narzißtischen Potentials transformiert bzw. sublimiert werden [7.8, 9.4 u. 5]. Doch schon für das traditionelle Sublimierungskonzept mit den Elementen Desexualisierung und kulturell-soziale Gratifikation zeigt ein Beispiel, das sinngemäß von Freud selbst stammt, den Zusammenhang mit der narzißtischen Dynamik: Wenn ein Künstler berühmt ist, wird er bewundert, was in der Regel narzißtische Befriedigung bedeutet. Darüber hinaus fallen ihm nun die Frauenherzen zu, und er kann die erotischen Erfolgserlebnisse genießen, wegen deren innerer und äußerer Unmöglichkeit er früher einmal künstlerisch zu sublimieren begann!

389

10.3. Der Christustraum

W a s Frau A . die Sublimierung wesentlich erleichtert, ist natürlich ihr ausgeprägtes narzißtisches Potential. W i r wissen, das konnte damals noch nicht zureichend konzeptualisiert werden. Dieser Mangel ist der Hauptgrund dafür, daß das Sublimierungskonzept in der klassischen

Psychoanalyse

theoretisch so unbefriedigend blieb. Bei Pfister, zumal im Fall der Frau A., finden wir die narzißtische Komponente der Sublimierung

häufig

im

ästhetischen Sprachgewand wieder: das Schöne in Literatur, Kunst und Religion [Kap. 13]. Die Produkte gelungener Sublimierung erleben wir in der Regel als schön, während die Elevationen, Ausdruck Sublimierung, uns eher häßlich

mißlungener

erscheinen.30

Irgendwo dazwischen steht der Christustraum, auch wenn Pfister ihn als hochpoetisch bezeichnet. Frau A.s 'englische' Hochzeit mit Christus kann ihre irdischen Wünsche doch nur recht mangelhaft verkleiden. Immerhin geht es hier zarter und maßvoller zu, weniger pervers und mehr auf Beziehung

ausgerichtet

als

bei

jener

"autistischen

Liebesraserei"

in

mittelalterlichen Nonnenklöstern und pietistischen Zirkeln. Außerdem ist Pfisters Einschätzung des Christustraumes mit Sicherheit davon beeinflußt, daß die Art der Christusbeziehung, zu der Frau

A.

allmählich findet, seiner eigenen ähnlich ist. Auch Pfisters Frömmigkeit kennt jenes Heroische, Schwärmerische, leicht Überhitzte, das wir in dem Traum finden. Darum ist, wie er selbst weiß, ein Korrektiv nötig: "Soll die Gottesliebe nicht zu fanatischer Überhitzung mit deutlich sexuellem Charakter führen, so muß sie, wie es im Prinzip Jesu geschieht, von Menschen- und Selbstliebe begleitet sein." V o r einer Sexualisierung der Frömmigkeit schützt ihr sozialer und sozialethischer Charakter (s.u.). Dies ist gültig ausgedrückt in dem biblischen Dreieck von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe, das uns bei Pfister immer wieder begegnet. Gott und Christus können im strengen Sinn nicht als Liebesobjekte besetzt werden. Darum ist die isolierte Liebe zu ihnen mangels Realitätsbezug

und

Wünschen

Realitätskorrektur

häufig

und Phantasien verbunden

Wunschmaschine

ist.

Daraus

entsteht

mit einer

Inflation

von

- wenn denn der Mensch

eine

dann

inneren

projektiv

jenes

"System

30 Für eine der "schönsten Ausnahmen" von dieser Regel hält Pfister Mechthild v. Magdeburg ( P M 272, vgl. 555 f.). - Die folg. Zitate P M 272, 557.

390

Umgang mit den christlichen Symbolen

unsittlicher religiöser Phantasieorgien", das zum schlechten Ersatz sowohl für gestaltete Sexualität als auch für reife Frömmigkeit wird. Jetzt wird es auch klarer, warum Pfister ausgerechnet die mystische Frömmigkeit so stark mit dem Risiko sexueller Ersatzbefriedigung behaftet sieht. Bei der Mystik als der Versenkung in den Grund des Selbst, um dort Gott zu finden, fehlt der primäre Beziehungsmodus. Nur in wie auch immer gearteten Objektbeziehungen ist ein gewisses notwendiges, beim einzelnen je verschiedenes Maß an primärer Triebbefriedigung möglich und darüber hinaus auch wirkliche Sublimierung. Denn zu ihr gehört ja definitionsgemäß der soziale Bezug. Fehlt dieser Bezug, so haben wir es nach Pfister mit einem psychologischen Phänomen zu tun, dem das genuine Christentum, im Gegensatz etwa zum Buddhismus, entschieden abgeneigt ist. Pfister hat viele Namen dafür; neben Mystik stehen Introversion, Autismus, Solipsismus, ästhetischer Passivismus, sogar Psychose. Wir können auch an Luthers homo incurvatus in se ipsum denken, der auf das extra me angewiesen ist.31 Es ist allein die im Vollsinn verstandene Liebe, die den Menschen davor schützt, in der egozentrischen Verkrümmung zu verharren. Nun weiß auch Pfister, daß die Beziehung zu Christus keine einfache Objektbeziehung sein kann: "Es ist ein Zusammenfließen des Frommen mit Christus, bei welchem bald das religiöse Objekt ins Subjekt einbezogen, bald das Subjekt im Objekt aufgehoben wird."32

31 Als Ausdruck einer neurotischen Verkrümmung in sich selbst malt Pfisters Klient "Robert" einen in sich eingeringelten Molch, ein Mischgebilde aus Kröte und Schlange. Für Pfister ist dieses Bild (wiedergegeben AS 97, vgl. NZ 31) ein Symptom sehr starker "Einwicklung" bzw. Introversion. 32

CA 195, das folg. Zitat 203. Zum "Sein in Christo" (dazu A. Schweitzer 1954, 123 ff.), zur Christusmystik vgl. WuS 83 f. - Im Anschluß an Freuds "Massenpsychologie und Ichanalyse" bezeichnet Pfister den Vorgang des "Zusammenfließens" als, in der Regel partielle, Identifikation. Es handelt sich um "Angleichungen, Objektintrojektionen und Selbstprojektionen in das Objekt" (CA 195 f.), also um die (freilich gesündere) Ausprägung des von Kernberg so beschriebenen Beziehungsmodus (1977, 53): "Es ist ... festzuhalten, daß innerhalb dieser ... Beziehung des mit einem Objekt identifizierten Selbst... zu einem mit dem Selbst identifizierten Objekt... immer noch eine Objektbeziehung besteht, nämlich eine Beziehung zwischen Selbst und Objekt sowohl intrapsychisch als auch in äußeren Interaktionen".

10.3. Der Christustraum

391

Pfister bezieht sich hier auf die paulinische Christusmystik, zumal auf Gal. 2,20: "Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir." Darauf will er auch mit Frau A. hinaus. Das Sein in Christo ist eben keine Introversionsmystik in der Form der Gottes- oder gar der Naturmystik, "die in dem Numen aufgehen will wie ein Tropfen im Ozean, sondern Liebesmystik, somit, psychologisch ausgedrückt: Übertragungsmystik, und muß ... die Objekt-Subjektbeziehung festhalten, um die Liebe festhalten zu können". Oder umgekehrt, weil sie auf Liebe beruht, schließt sie immer eine SubjektObjekt-Beziehung sein. Zum völligen Einswerden von Subjekt und Objekt kommt es nur momenthaft, in ekstatischen Augenblicken, "doch tritt die Dualität sogleich wieder ins Bewußtsein".33 Weil die Liebe Christi (im mehrfachen Sinn!) im Zentrum der christlichen Frömmigkeit steht, ist sie gegen die Gefahren der Beziehungslosigkeit gefeit, das Versinken in pathogene narzißtische Regression. Mit dieser Liebe ist die Beziehungsstruktur gesetzt, mag sie noch so narzißtisch bestimmt sein. Zudem verweist ja die Christusbeziehung in sich selbst auf den Mitmenschen (Nächstenliebe) und auf mich selbst (Selbstliebe). Der Fromme, der zunächst vielleicht allein mit Jesus gehen will, findet sich an den Mitmenschen gewiesen. Der Weg Jesu selbst ist ein Weg zu dem anderen und erst darin zu Gott, dafür zeugen die vielen Situationen in den Evangelien, in denen Jesus die Menschen seiner Umgebung in Wort und Tat trifft. Nach Pfister schufen die großen Jahwe-Propheten "die erste konsequent soziale Religion"; in Jesus sieht er ihre Vollendung. Pfister spricht sogar von sozialethischer Gesinnung und einer entsprechenden "Verwertung" der Liebe.34 Wollen wir mit Ricoeur einen ethischen und einen ästhetischen Aspekt der Sublimierung unterscheiden, so fallen in Christus als dem Urbild

33

CA 195. Beim momenthaften Einswerden von Subjekt und Objekt sind die beiden äußersten Möglichkeiten völlige "Depersonalisation, bei welcher das Ich schwindet, und Derealisation, die durch Negation des äußeren Objektes (Christus) gekennzeichnet ist" (ebd.). Zu den von mir hervorgehobenen Begriffen vgl. auch Bibl. Nr. 254, S. 255 ff. Wenn man will, kann man hier schon Entwicklungslinien der modernen Narzißmustheorie sehen (Größenselbst - allmächtiges Objekt). 34

PM 557. Zum Folg. vgl. Ricoeur 1969, 500. - "Das echte Christentum als Sichausleben im höchsten Sinne des Wortes liegt... ausgedrückt im Worte Joh.14, V.9: 'Ich lebe und ihr sollt auch leben!" (PM 556).

392

Umgang mit den christlichen Symbolen

der Liebe beide Aspekte zusammen: die Umwandlung der Libido und der symbolische Ausdruck dieses Vorgangs. Wir sind jetzt in der Lage, Pfisters Kommentar zu Frau A.s Christustraum besser zu verstehen. Es ist ja zunächst mehr als verwunderlich, daß er den "gewaltigen Fortschritt" dieses Traumes darin sieht, "daß die Träumerin zur frommen Tat und Überwindung des rein Ästhetischen übergegangen ist". Gemeint ist aber wohl ihr entschlossener Weg zu Christus und vor allem das Herausziehen der Nägel und Heilen der Wunden. Pfister sieht darin offensichtlich einen Zug ethischer Aktivität gegenüber rein anschauender 'ästhetischer' Passivität in früheren Träumen. Im übrigen ist damit auch eine Umkehr der libidinösen Richtung angedeutet. Früher wollte sie nur geliebt werden, etwas Schönes empfangen, die Leute küßten ihr die Füße usw.35 Im nächsten Satz stellt er befriedigt fest: "Wirklich suchte und fand sie gemeinnützige Arbeit, die ihr große Befriedigung gewährte". Er möchte damit herausstellen, daß die (durchaus auch libidinös getönte) Art der Christusbeziehung Frau A.s nicht sein kann ohne die Öffnung zum Mitmenschen, ohne ihr soziales Engagement. Dies sieht Pfister auch im folgenden, im Orgeltraum bestätigt. Die Träumerin will "Andacht und Liebesarbeit verbinden"; sie will "werktätige Frömmigkeit" leben, indem sie ihren Mann und andere Menschen an ihrem seligen Versinken in religiöser Freude und im Genuß der Musik teilnehmen läßt. Für Pfister ist diese Verbindung von frommer Anschauung und frommer Tat, von schöner, mystischer Versenkung und liebender Objektbeziehung, bis hinein in ein heroisches soziales Engagement, konstitutiv für das Prinzip Liebe, am höchsten verkörpert im Bilde Jesu Christi. Während Frau A. früher das Kreuz bzw. den Kruzifixus selbst ablehnte, kann sie sich ihm nun aktiv hingeben. Freilich besteht diese Hingabe hier erst einmal darin, daß "sofort die Marterhaltung von der Träumerin durch Ausziehen der Nägel beseitigt wird", wie Pfister selbst kritisch bemerkt. Frau A. möchte mit einem Christus verbunden sein, an dem die Zeichen des Leidens fehlen. Sie will gewissermaßen den Tod am Kreuz ungeschehen machen, mit Christus auferstehen (Traumschluß!), ohne mit ihm zu leiden und zu sterben.

35

WuS 78, 39, 51, das Folg. 77-80, AS 109.

393

10.3. Der Chrislustraum

D o c h dürfen wir darüber nicht den F o r t g a n g v e r g e s s e n , den e s für F r a u A.

bedeutet,

überhaupt

von

sich

aus eine B e z i e h u n g

zu C h r i s t u s

auf-

z u n e h m e n . H a t t e sie in d e r Schlüsselszene ihrer Kindheit in v e r z w e i f e l t e r S e h n s u c h t den Ü b e r z i e h e r ihres V a t e r geküßt [ A b s c h n . 1], so küßt sie j e t z t " e h r f ü r c h t i g " und hingebungsvoll d a s Haupt Christi. B e d e u t e t d a s nicht e i n e u m d e u t e n d e , aktive B e a r b e i t u n g d e r angstbesetzten K i n d e r v o r s t e l l u n g v o m g e s c h l a c h t e t e n L a m m , in d e r sich die Erfahrung des verlassenen K i n d e s und d e r G e f ü h l s s t u r m aus o h n m ä c h t i g e r W u t , T o d e s w ü n s c h e n und B e s t r a f u n g s phantasien d a m a l s v e r d i c h t e t e n ? Indem e r auf die W e n d u n g v o m P a s s i v e n z u m A k t i v e n fokussiert, bezieht Pfister F r a u A . s Erlebnishorizont mit ein: d a s O p f e r ihrer Unterleibsoperation und den V e r z i c h t a u f die Ü b e r t r a g u n g s liebe. D a ß sie damit, g e s e h e n im Spiegel ihrer Christusbeziehung, n o c h nicht z u m Ziel g e k o m m e n ist, sagt Pfister selbst. W a s nach d e r H i n g a b e an a n d e r e n o c h aussteht, ist die D a h i n g a b e d e s eigenen Ich, d a s Selbst-Opfer. N a c h d e r H i n g a b e an Christus fehlt noch die v o l l e identifikatorische T e i l h a b e

an

s e i n e m L e i d e n , an seiner S e l b s t - A u f g a b e . An dieser Stelle müssen wir uns in Erinnerung rufen, daß Pfister selbst seine Schwierigkeiten hat mit dem Verständnis des Todes Christi, vor allem mit dem Zug des ohnmächtigen Ausgeliefertseins, des passiven Leidens, der darin liegt. Schon als junger Mann sieht er "Blumen an der via dolorosa". Nicht zufällig kommentiert er Frau A.s endliches Erleben des Kreuzestodes damit, der Martertod werde ihr "aus einem grausigen Schicksal eine selbstgewählte Liebestat zum Wohl der Menschen." 36 Damit kehrt Pfister die aktive Seite des Leidens hervor. Statt grausam und vielleicht sinnlos hingerichtet zu werden, nimmt Christus sein Leiden bewußt auf sich. Als Liebestat für andere findet es seinen Sinn im größeren Zusammenhang der Gottes- und der Nächstenliebe. Im heroischen Einsatz dafür verschwindet das Kreuz als Marterpfahl und Fluchholz (Gal. 3,13), so wie es in Frau A.s Traum versinkt. Sie meint dazu, nicht mehr Qual und Entsetzen, sondern nurmehr das Große und Erhabene, das es bedeute, erfülle ihr Herz. So wird das Kreuz für sie zum "Weltzeichen der erlösenden Liebe, durch das alles Leid auf Erden leichter zu tragen ist und dem kein Kreuz auf Erden gleichkommt". Damit ist auch Pfisters Auffassung wiedergegeben. Seine Abneigung gegen alle 'Passivität' auch in der Frömmigkeit rührt nicht zuletzt aus seiner einseitig-pietistischen Erziehung her [4.5 und 6]. Doch die aktive, männlichphallische Glaubenshaltung, die er dagegen setzt, erschöpft sich keineswegs in einem

36 WuS 84. Das voranstehende Zitat ist ein Predigttitel aus den Pensées (Notiz von 1903). Kurz danach finden wir "Die Wunderblume in Gethsemane" und "Wie die Dornenkrone zu blühen beginnt".

Umgang mit den christlichen Symbolen

394

ehthischen Aktivismus. Dafür lebt er selbst zu sehr von der Schönheit in Natur und Kunst, die ja nur anschauend erlebt und genossen werden kann. Und ebenso dürfte inzwischen deutlich herausgearbeitet sein, daß sein Liebeskonzept viel weiter und tiefer verankert ist als bloß in einem sozialethischen Altruismus. Pfister konnte sich durchaus in Gott und "in eine Welt absoluter Liebe versenken". Ja, zeitweise verspürte er den Wunsch danach so stark, daß ihn nur die massive Realität von menschlicher Not und menschlichem Leid um ihn herum davor bewahrte, den mystischen Weg als einen Fluchtweg zu gehen. Zuletzt ist es das Kreuz, das ihn zurückhält. In ihm verdichtet sich der ganze Zwiespalt des menschlichen Lebens. So erzählt Pfister es uns in jenem eindrücklichen Bericht über sein Erlebnis im Gebirge im Juli des Jahres 1917, der sein Buch "Die Liebe vor der Ehe" von 1925 einleitet: Beim Wandern im "Gottesfrieden" der Berge gerät Pfister in ein Manöver schweizerischer Soldaten hinein. Abrupt wird er aus seiner Versenkung in eine Welt höchster Ideale und absoluter Liebe herausgerissen. Im Kriegsgeschehen - nicht weit entfernt tobt ja seit drei Jahren der Weltkrieg - verdichtet sich die Realität menschlicher "Grausamkeit, Hilflosigkeit, Angst, Torheit". Der Wanderer flieht in die Stille einer Bergkapelle. Doch der Trost, den er dort findet, ist nicht selige Abgeschiedenheit, sondern das Kreuz Christi, das ihn plötzlich tief ergreift und zu einem anderen Weg bekehrt. Er verläuft diesseits der Flucht aus dem Alltag der Welt, aus dem konfliktreichen Getümmel sozialer Beziehungen und der Not "menschlicher Unmenschlichkeit". Der Weg zu Christus und seiner Liebe führt nicht davon weg, sondern gerade durch Zwiespalt, Unfrieden und Leid hindurch. Denn im Kreuz ist beides verkörpert, "die Weltnot und ihre Überwindung. Alle Höllengeister toben um das Kreuz, alle Menschlichkeitsnot sendet ihre Vertreter, um ihr Zerstörungswerk am entscheidenden Ort zu vollziehen. Und doch ragt das Kreuz, das Denkmal der erlösenden Liebe, in seiner weltüberragenden Hoheit über die Jahrhunderte und Jahrtausende". 37 Diese biographische Szene kommt, wie ich meine, der Wahrheit des Kreuzes noch näher als manche Interpretation während der Beratung der Frau A. Im Fortgang wird die Bekehrung zur Berufung und zwar, Ironie der Geschichte, in einer Weise, die an Zinzendorfs Bekehrungserlebnis erinnert: "Kinder hatten Blumen auf den Altar gelegt. Was kann ich darbringen? Was mit schwachen Kräften beitragen zum Sieg der Liebe? ... So sinnend wurde ich blitzartig durchzuckt von dem Gedanken: Du sollst durch wissenschaftliche Untersuchung der Liebe in ihrer ganzen Ausdehnung dein Scherflein anbieten!" 38

37

LE 1 f. Dieser Passus ist im übrigen eine Illustration der phallisch-narzißtischen Tönung des Pfisterschen Liebeskonzepts: Das Kreuz ragt über Jahrtausende und hoch "ins Unendliche" (ebd. 2). Andererseits können wir festhalten, daß auch in Pfisters aktivethischer Frömmigkeit wesentliche Elemente einer aktiven vita passiva enthalten sind. Wir wollen dabei mit Erikson (1970 a, 230) annehmen, "daß der Unterschied zwischen den alten Formen 'passivus' und 'aktivus' dem von 'erleben' und 'handeln' entspricht." In schöner Weise zieht Erikson diese Linie aus bis zu Luthers und Paulus' Verständnis der Passion Christi und der "Torheit des Kreuzes" als Weisheit. 38 Ebd. 2. Zu Recht stellt Scharfenberg (1985, 40-43) mit dieser Szene den "ganzen Pfister" vor.

10.3. Der Christustraum

395

Im Christustraum finden wir neben den Beziehungswünschen auch die Tendenz zur Indifikation. Dabei ist die heroische Größe des Erlösers überbetont gegenüber seiner Verlassenheit und seinem Leiden. Doch auch diese Seite kündigt sich an: Zu Beginn des Traumes salbt die Freundin Nina ihre Füße. Frau A.s Brautschleier und ihr Gefühl, sterben zu müssen, verweisen auf das Motiv des Liebestodes. Unverkennbar ist auch der Bezug auf die Geschichte von Jesu Salbung in Bethanien; Frau A. stellt ihn in ihren nachfolgenden Assoziationen selbst her. Doch sagt sie auch, sie selbst leide oft an Brennen der Füße. Heißt das nicht, ihr werden nicht bloß die Füße gesalbt, um den Weg zur Vereinigung mit Christus besser gehen zu können, sondern die Handlung geschieht mit ihr wie mit Christus, der wie sie auf den Tod zugeht? Dann wäre die Maria Magdalena ihrer Assoziationen, die Christus mit Liebe überschüttet, nicht sie selbst, sondern ihre Freundin Nina, mit der sie eine etwas schwärmerische, aber wohl auch innige, wechselseitige Liebe verbindet. 39 Frau A.s Größenphantasien gipfeln in der Schlußszene des Traums, dem Weg zur himmlischen Hochzeit. Freilich, die Freudianer hätten seinerzeit 'nichts als' einen Koitus darin gesehen, die Jungianer, etwas ätherischer, eine himmlische Vereinigung, aus der womöglich ein göttliches Kind, sprich ein neues Selbst, hervorgehen wird. Doch ist in der Szene darüber hinaus nicht enthalten, daß beide, die Träumerin und Christus, an etwas Drittem Anteil haben (Feuer) bzw. mit ihm verschmelzen (Sonne)? Ist dies nicht die Größe des gemeinsamen Ideals, die Weite der göttlichen Vaterliebe? Wir fassen zusammen: Der Christustraum zeigt Frau A. auf dem Wege der Identifikation mit dem Erlöser. Dennoch bleibt der Charakter einer narzißtisch getönten Objektbeziehung erhalten. Christus wird IdentifikationsObjekt. Die Christusbeziehung schützt Frau A. qua Beziehungscharakter und qua impliziter Sozialität, ja Selbstaufhebung vor pathogener und narzißtischer Regression und vor sexualisierter Frömmigkeit als Ersatzbefriedigung. In der therapeutischen Situation weist Frau A.s (und Pfisters!) Christusbeziehung über die "Enge der Übertragung" hinaus in die Weite eines überindividuellen, symbolischen Zusammenhangs. Die wechselseitige Verkettung der Wünsche in der Situation von Übertragung und Gegenüber-

39

Zur Salbung in Bethanien vgl. Joh. 12,1 ff. Parr. (bes. 12,7 f.). Zu Lk. 7,36 ff. s.o. die Bemerkungen nach dem Text des Christustraums.

396

Umgang mit den christlichen Symbolen

tragung wird gewissermaßen auf einer höheren Ebene aufgehoben, in die wechselseitige Identifizierung im Ich-Ideal. Tendiert 'Gott' als der "Inbegriff und Realgrund der Ideale" eher zu einem apersonalen philosophischen Prinzip, so bleibt doch via 'Christus' die personale Konfiguration enthalten.40 Das noch ausstehende Ziel der inneren Entwicklung Frau A.s, das Selbst-Opfer, fokussiert Pfister als Defizit in der Aneignung des Kreuzessymbols. Auf dessen "richtiges" Verständnis kommt es ihm an, genauer, auf seine heilsame Funktion für Frau A.s innere Konflikte.

4.

Der Orgeltraum und sein Nachspiel

Der Orgeltraum ist der erste einer ganzen Serie von Träumen, die auf den Christustraum folgen. In allen empfinden wir verstärkt eine primärnarzißtische Atmosphäre, zumeist vermittelt durch großartige Naturszenerien.41 Je näher das Ende der Gespräche rückt, desto weiter öffnet sich für Frau A. ein heller Raum, nach innen und nach außen, gleichsam durch die Gestalt Pfisters und sogar Christi hindurch. In den Traumtexten finden wir keinen direkten Bezug auf Christus mehr. Dies könnte hinweisen auf eine vertiefte Identifikation mit dem Erlöser, die seinen Auftritt als Traumgestalt zuletzt überflüssig macht. Pfister hält diese Träume für so harmonisch, daß er sie fast kommentarlos wiedergibt. Eine Ausnahme macht nur der Orgeltraum, der sechs Wochen nach dem Christustraum eintrifft. Er markiert einen letzten Höhe- und Wendepunkt der Beratung; einige Wochen später wird sie abgeschlossen. In der Nachgeschichte des Traumes kommt auch Frau A.s Christusbeziehung zum Ziel. Doch zunächst die Szenerie selbst, deren erster Teil uns bereits bekannt ist [9.5]. Darin sind jene mannigfachen musikalischen, farblichen und sphärischen Empfindungen ausgemalt, die die Träumerin in "wunderbarer Harmonie" empfindet, während sie dem Orgelspiel des Seelsorgers in seiner Kirche zuhört. Sie ist furchtbar schmerzlich berührt, daß ihr neben anderen

40 41

Vgl. PM 470, 557.

Der "Himmelsgarten", "Dein Wille geschehe" [9.3], das abschließende Traumgedicht [9.5], Zu Pfisters Kommentar vgl. WuS 84.

10.4. Der Orgeltraum und sein Nachspiel

397

Menschen ebenfalls anwesender Mann gar nichts von der Musik hört. Und weiter: "Nach einiger Zeit hörten Sie auf zu spielen. Die Töne verklangen langsam zart, der Strahlenglanz ging zurück. Aber nun leuchtete die ganze Kirche. Ich stehe auf, fasse meinen Mann bei der Hand und führe ihn zum Taufstein. Dort liegt ein gesticktes Tuch, das ich einmal fertigte, und mein Fruchtkorb steht mitten auf dem Taufstein, der wie bei einem Abendmahl hergerichtet ist. Mein Mann spricht: Ich habe Durst, gib mir von diesen schönen Früchten! Plötzlich stehen Sie hinter mir, ich reiche Ihnen den Korb mit den Worten: Nur der Pfarrer ist berechtigt, die Früchte zu verteilen. Sie nehmen mir den Korb lächelnd ab, und ich erwache." 42 Wie bei den früheren Träumen liegt die Ebene der sexuellen und der Beziehungswünsche für uns recht klar zutage. Es ist ihr "Fruchtkorb", den sie Pfister übergibt. Ihre Weiblichkeit ist durchaus nicht leer (Operation!), sondern voller "schöner Früchte". Darüber soll nur der Pfarrer verfügen, und erst durch ihn kann ihr Mann daran Anteil haben. Wie beim Genuß der Musik möchte sie ihn zwar einbeziehen, es gelingt aber nur sehr ansatzweise. Wir übertreiben nicht, wenn wir darin eine Variante der (ödipalen) Dreieckssituation sehen, die Frau A. immer wieder gern konstelliert [9.2], diesmal nicht als Rivalität zweier Frauen um einen Mann, sondern zweier Männer um eine Frau. Die innige Verbindung mit Pfister zeigt sich auch sehr schön darin, daß ja nur Pfister von Amts wegen die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl spenden darf. Nun verkörpert die Träumerin ja selbst gleichsam die Materie, das elementum des Sakraments, also soll nur Pfister ihr nahekommen dürfen. Dies geschieht andeutungsweise in der Form, die wir bereits aus ihrem Bekehrungserlebnis kennen: Er steht hinter ihr [Abschn. 1], Schwingt nicht schon hier etwas anderes mit als nur der Wunsch nach Nähe und Vereinigung? Steht Frau A. nicht gleichsam in Pfisters leuchtender Aura, im "Strahlenglanz" seiner Kirche, und empfängt darin narzißtische Gabe von ihm? Freilich, die eigentliche Sakramentsgabe ist Christus selbst. Doch eben diese Gabe hat sie ja im Laufe der Beratung von Pfister erhalten. Mit ihr, mit dem Selbst-Objekt Christus ist sie sich selbst nähergekommen.

42 WuS 80. - In dem Brief an Pfister über 'Dietrich' stellt Freud die Wörter Fruchtbehälter und Genitale unmittelbar nebeneinander (Br. 17, s. Kap. 7.6).

398

Umgang mit den christlichen Symbolen

In Taufe und Abendmahl ist u.a. die Symbolik von Ende und Anfang, Trennung und Vereinigung, Selbständigkeit und Abhängigkeit virulent. Diese Ambivalenzkonflikte auf dem Wege zu sich selbst erlebt Frau A. verdichtet in der notwendigen Trennung von dem Seelsorger als Mittler. Als Täufling wird sie (wie Jesus) vom himmlischen Vater adoptiert. Für den neuen Menschen sind die natürlichen Bindungen und alten Abhängigkeiten zwar nicht verschwunden, doch als Gottes Kind kann er in neuer, großartiger Freiheit damit umgehen. Am Schluß der Gespräche erzählt Frau A. von einer schweren Probe, auf die sie in einem Streit mit ihrem Mann gestellt worden sei; ihr "alter Adam" habe aber nicht gesiegt. 43 Im Abendmahl gibt sich Jesus (wie sie) als eine Gabe für viele. Es bedeutet ebenso die Trennung von der bisherigen Bezugsgruppe bzw. Bezugsperson wie die Vereinigung mit ihr (Inkorporation) in einer neubestimmten Gegenwart. Dahin ist aber nur zu gelangen durch das Sterben des alten Selbst oder, mit Pfisters Worten, die Dahingabe des eigenen Ich. Pfisters direkter Kommentar zum Orgeltraum ist kurz. Er hebt lediglich darauf ab, daß Frau A. religiös-ästhetischen Genuß mit sozialethischen Impulsen verbinden will. Das war ihm auch schon beim Christustraum wichtig. Dann wendet er sich entschlossen der Darstellung des TraumNachspiels zu; denn in ihm verschärft und präzisiert sich das Motiv, etwas für andere zu geben, wie es ja bereits im Abendmahl enthalten ist. Nachspiel ist jetzt wörtlich gemeint, denn aus Variationen der im Traum gehörten Orgelmelodien ergibt sich für die Träumerin in den nachfolgenden Tagen eine Kette von Erinnerungen aus der Kinderzeit. Sie führt über das Lied von dem geschlachteten Lamm Gottes auf Golgatha und das Entsetzen des Kindes über alles, was mit dem Schlachten von Tieren zusammenhängt, bis hin zu der Schlüsselszene der Verlassenheit im Kleiderschrank des Vaters. Wir haben diese Erinnerungen in biographischer Abfolge bereits im ersten Abschnitt kennengelernt. Pfister kommentiert ihre Erinnerungen unter Bezug auf ihre früheren Träume: "Sie konnte andern Liebesdienste erweisen ..., aber sich selbst zu opfern war sie nicht imstande. Weil sie dieses höchste Opfer nicht darzubringen vermochte, konnte sie den Gekreuzigten nicht ganz annehmen. Weil sie das eigene Ich nicht dahingehen wollte, sah sie

43

Ebd. 90, das Folg. 80 ff., bes. Pfisters Kommentar und Resümee 83 f.

10.4. Der Orgeltraum und sein Nachspiel

399

im Gekreuzigten nur das Grauenvolle. Ebenso richtig, genetisch sogar noch richtiger ist die umgekehrte Deutung: Weil ihr der Gekreuzigte als geschlachtetes Lamm Entsetzen einflößte und sie sich an eine klare gedanklich Bearbeitung dieser Vorstellung daher nicht heranwagte, blieb ihr die tiefe Idee des absoluten Liebesopfers in Gestalt des Lebensopfers vorenthalten." Pfister weist uns hier deutlich auf den innigen, wechselseitigen Zusammenhang von Selbst-Schicksal und Symbolverständnis bei Frau A. hin. In ihrer Geschichte mit diesem Symbol verdichten sich ihre zentralen inneren Konflikte, und zwar in einer zeitlich gegenläufigen Bewegung von Beratungsprozeß und Lebensgeschichte. Pfister sieht diese Konflikte in bestimmten Szenen verdichtet, am bündigsten in der in seiner Wiedergabe unmittelbar folgenden Szene der kindlichen Verlassenheit im Kleiderschrank, die in der Erschütterung des Kindes über die Situation des gottverlassenen Jesus am Kreuz symbolisch aufgehoben ist. Frau A.s Umgang mit diesem Symbol ist vor allem durch Abwehrmechanismen wie Rationalisierung, Isolierung und Vergessen bzw. Verdrängung gekennzeichnet, zuletzt aber durch eine Neuinterpretation also eine Resymbolisierung der zum Klischee erstarrten Vorstellung. Damit wird die Klientin auch wieder stärker an die öffentliche Kommunikation angeschlossen. So würde Alfred Lorenzer die Entwicklung beschreiben, die sie in, mit und unter dem Erleben des Kreuzessymbols durchmacht: weg von ihrem "privaten", symptomatischen Umgang damit, hin zu einer seiner "öffentlichen", allgemein-gültigen BeDeutungen.44 Die verschiedenen Bedeutungen auf der Ebene der Trieb- und Beziehungskonflikte waren in den früheren Träumen wichtig, doch jetzt gegen Ende der Gespräche fokussiert Pfister ganz auf den Strukturkonflikt, die Entwicklung von Frau A.s Selbstkonzept im Bilde des Gekreuzigten.

All die konfliktuösen Erinnerungen Frau A.s stellen sich gleichsam gegenläufig ein aus jener wunderbaren, sphärischen Harmonie des Orgeltraumes heraus. Das heißt doch, sie werden erst möglich auf der Basis eines narzißtischen Erlebens. Frau A.s innerer Fortschritt, ihre Christus-Identifikation, bleibt zwar irgendwie vermittelt durch die Ausstrahlung Pfisters. Doch "nun leuchtet die ganze Kirche", ja, "alles glüht und sprüht" - die narzißtische Beziehung tendiert mit innerer Notwendigkeit zu einer Ausweitung der (mit-)menschlichen Konfiguration, zu ihrer Transformation ins Grandiose. Dabei kommt es entscheidend darauf an, daß nicht alles narzißtische Besetzungspotential gewissermaßen zum Selbst zurückkehrt, um es aufzublähen oder zu erdrücken. Es muß etwas Drittes gefunden werden, eine

44

Vgl. Lorenzer 1970, 1970 a.

400

Umgang mit den christlichen Symbolen

große Idee, ein großes Symbol, bei Frau A. das "große Erlösungswerk" Jesu. Es ist dies allerdings eine Vorstellung, deren Größe durch das Kreuz in sich selbst relativiert ist. Damit wird eine ausgewogene Balance des Selbstkonzeptes zwischen klein und groß, nichts und alles, ohnmächtig und allmächtig erleichtert, wenn wir das einmal so funktional sehen dürfen. Frau A. erinnert sich an ihre vierzig Jahre zurückliegenden Erlebnisse mit großer Erschütterung. Die Erinnerung ruft einen "Tränenstrom" hervor, dann aber auch so etwas wie ein Aha-Erlebnis. "Hier steckt eigentlich dein Problem", sagt sie sich und zwei Tage später: "Das Opfer Christi verliert sein Grauen, wenn man es nicht nur künstlerisch verklären will, sondern sich hineinversenkt und es miterlebt. Je mehr ich diese Selbsthingabe innerlich mitmachte, desto mehr kam über mich ein freudiges Empfinden. Mir war, als arbeite ich mit am großen Erlösungswerk, und ich empfing Kraft, mein eigenes Leiden, das demjenigen Jesu gegenüber ja nur Kinderspiel ist, ruhig zu tragen." Mit diesem Zitat beschließt Pfister seine Kurzdarstellung des Falles in der 'Analytischen Seelsorge'; die Worte Frau A.s bedeuten für ihn offensichtlich einen Zielpunkt der Arbeit mit ihr. Es ist die erlebte Identifikation mit dem gekreuzigten Christus und der Trost, der in dem Blick auf sein größeres Leiden liegt. 45 Ist damit neurotisches Elend einfach in religiös verklärtes verwandelt worden - statt in gemeines Unglück, dem als Schicksal standzuhalten ist (wie Freud fordert46)? Die Frage zu bejahen, hieße, den Wert der Religion als Konfliktbearbeitung eigener Art systematisch zu übersehen. Ferner hieße es, die von der Linie Hegel-Feuerbach-Marx her vulgarisierte These, als nicht-verklärtes bzw. nicht-symbolisiertes sei das Elend leichter zu verändern, undifferenziert zu übernehmen, was heute auf keinen Fall möglich ist. Im übrigen: Mit dem neurotischen Elend verschwindet manchmal auch das gemeine Unglück!

45

WuS 82, vgl. AS 109. - Frau A. findet Trost, der klassische Ausdruck für das, was wir heute eher als Erleben von Sinn beschreiben. Frau A. war ja so unglücklich, weil ihr die "Werte", also der Lebenssinn "versunken" waren (WuS 37). Auf diesen Begriffswandel hat F. Wintzer aufmerksam gemacht (1974, 213, Anm. 8). 46

GW I 311 f.

10.5. Schluß: Frau A.s Weg

5.

401

Schluß: Frau A.s Weg

Wohin ist Frau A. nun zum Schluß ihrer analytisch-seelsorgerlichen Gespräche gelangt? Ihr Blick auf das Schicksal Jesu wird ihr immer mehr zum "Sein in Christo", analytisch gesehen zu einer narzißtischen Beziehung zum Selbst-Objekt Christus. Im Spiegel dessen, der in der Selbstentäußerung sich selbst findet, kann auch sie ihr altes Selbst hingeben, die schmerzliche Desillusionierung der Selbsterkenntnis ertragen, das Kreuz ihrer Realität tragen.47 Das Kreuz Christi ist nicht aus dem Sadismus eines mächtigen, despotischen Vaters heraus errichtet, sondern es ist die letzte Konsequenz des Sohnes auf dem Weg der Liebe, die der Vater ist. Als solche Liebe zeigt er den Vater und ist darin mit ihm eins. Die Liebe ist also nicht allmächtig in der Welt, sondern ohnmächtig und gebrochen. Doch gerade darin zeigt und bewährt sie sich als Liebe, wie es uns im Schicksal Jesu, des Sohnes, ein für allemal vor Augen gestellt ist. Indem ich mich mit ihm identifiziere, habe ich an ihr Anteil. Anders denn als Gekreuzigter ist Christus nicht zu haben. Sich mit ihm zu identifizieren, bedeutet strenggenommen, auf ihn als Liebesobjekt, auch als ersatzweises, zu verzichten. Was bleibt, ist Christus als identifikatorisches Selbst-Objekt, aber eines, dessen Größe in sich aufgehoben ist (SelbstOpfer). Diesen Christus zu lieben, hieße dann, sich selbst in realistischer Selbsterkenntnis und Selbstbegrenzung (Kreuz) in seinem Spiegel zu lieben, gleichwie er geliebt ist, in dem nun allerdings doch 'erhebenden' Bewußtsein, gerade so im größeren Raum der göttlichen Liebe zu stehen (Auferstehung). Als Person der Weltgeschichte, als religiöser Heros verweist Christus von sich weg auf die anderen (Sozialethik). Als Nicht-Person, als Symbol des Selbst hebt er sich selbst am Kreuz auf in die Liebe des Vaters hinein. 47 "Das Kreuz oder was der Held immer als schwere Last trägt, ist er selber oder, genauer gesagt, sein Selbst..." (C.G. Jung 1973, 390). Dies Tragen geschieht aber im Bilde des gekreuzigten Erlösers. Dazu sei erinnert an Frau A.s Unterleibsoperation und ihre Bedeutung für ihre weibliche Identität. Gehen wir zu weit, wenn wir Frau A . s diesbezügliches Traumbild von der ausgehöhlten, nur noch auf zwei Beinen stehenden Kuh [9.1] jetzt auch im Bilde des Gekreuzigten aufgenommen und 'aufgehoben' sehen? Damals dachte sie erschreckt: "Mit der Kuh [sc. mit mir als Frau] ist es aus". Jetzt identifiziert sie sich mit einem, mit dem es ebenfalls aus ist, der aber gerade so und gerade darin von Gott bestätigt und angenommen wird.

402

Umgang mit den christlichen Symbolen

Gerade so aber bleibt er das Symbol des Selbst, das sich von der Illusion seiner Allmacht und Unsterblichkeit trennen muß, um das Leben zu gewinnen. So finde ich, durch die Identität und Nichtidentität von Kreuz und Auferstehung hindurch, mein neues, realeres Selbst, dessen ich mich im Bilde Jesu, des lebendigen Erlösers, immer mehr vergewissern kann und muß. Insofern "habe" ich als Christ meine Identität nicht, ich jage ihr aber nach (vgl. Phil. 3,12 ff.). 48 Mit den letzten Sätzen bin ich ebenso wie Pfister an mancher Stelle über das hinausgegangen, was unmittelbar dem Verständnis der Konfliktsituation Frau A.s dient. Ich meine, dieser Vorgang zeigt, wie persönlich zwingend trotz allgemeiner Gültigkeit das Angebot der Identifikation mit Christus sein kann. Wir hören noch einmal im Zusammenhang Pfisters Resümee über Frau A.; im einzelnen sind diese Worte schon interpretiert: "Nun endlich 'macht sie den Tod Jesu mit', sie läßt sich, um mit Paulus (Gal 2,19) zu sprechen, mit Christus kreuzigen, sie wird mit Christusmystik erfüllt und identifiziert sich mit ihm. Der Martertod wird ihr aus einem grausigen Schicksal eine selbstgewählte Liebestat zum Wohl der Menschen. Sie selbst hat in diesem gefühlsmächtigen Erlebnis die höchste Stufe der Sublimierung erklommen." Welches Kreuz hat Frau A. im Bilde Christi zu tragen? Was hat sie "hinzugeben" an Wünschen und Illusionen, was anzunehmen in realistischer Selbsterkenntnis und auf der Basis eines ausgewogenen narzißtischen

48

Vgl. die Parallele zur analytischen Arbeit WuS 91 f.! Das folg. Zitat WuS 83 f. - Zu Phil. 3,7-9 im Zusammenhang der Frage nach der (christlichen) Identität vgl. erhellend Gremmels 1974. Den Ansatz, der 'neue' Mensch sei "durch die in re-interpretativer Aneignung sich vollziehende Annahme des 'alten' Menschen bestimmt", nicht einfach durch das 'Abstoßen' älterer Identifikationen (ebd. 57), führt Pfister bereits 1920 in seiner Untersuchung über die "Entwicklung des Apostels Paulus" überzeugend durch. Die Christusfrömmigkeit des Paulus ist zwar eine schöpferische Neubildung (ebd. 289), aber aus dem Bedürfnis nach "beziehender Konfrontation" heraus (PM 428) muß sie mit der alten Frömmigkeit vermittelt werden. Pfister bezeichnet diesen allgemeinmenschlichen Vorgang als Umdichtung früherer analoger Vorstellungen gemäß dem "allgemeinen psychologischen Beziehungsgesetz" (ebd.). Es dient hier der Identitätsvergewisserung, wie wir heute sagen würden. Vgl. Paulus 279 ff., PM 424 ff. (zu Paulus 427). - Eine solche Sichtweise erscheint mir im übrigen realistischer, als unter der Hand die Auferstehung mit Identität und das Kreuz mit Nichtidentität gleichzusetzen, wie es in Jürgen Moltmanns Kreuzestheologie geschieht (1972, vgl. bes. 20, 118, 149, 187, 310).

10.5. Schluß: Frau A.s Weg

403

Gleichgewichtes? Ich fasse das Wichtigste zusammen und zwar in einem idealtypischen Indikativ, der gleichwohl von der Wirklichkeit ein Stück weit eingeholt ist. Frau A. verzichtet auf wichtige Elemente ihrer weiblichen Identität, wie sie mit den Stichworten Unterleibsoperation, Kinderlosigkeit und Klimakterium angesprochen sind. Und doch muß sie damit ihre Identität als Frau nicht verlieren, sondern kann sie gerade im Anerkennen und Durcharbeiten dieser Verluste bzw. Verzichte neu gewinnen. Frau A. relativiert die Größenphantasien über den abwesenden Vater und über seine Allmacht, sei sie nun herrlich oder grausam. Sie sublimiert die ewige kindliche Sehnsucht nach ihm in die Sehnsucht nach dem himmlischen Vater. So kann sie sich von dem idealisierten irdischen Vater bzw. von dessen psychischer Imago wirklich trennen. Schmerz und Wut des verlassenen Kindes werden umgewandelt in die realistische Trauer des Erwachsenen über die begrenzten menschlichen Möglichkeiten.49 So kann Frau A. ihren Ehemann, ihr vornehmstes Vatersurrogat, jetzt realistischer sehen. Sie akzeptiert seine menschlichen, auch seine körperlichen Schwächen und nimmt ihre gefühlsmäßige Bindung an ihn auch nach ihrer positiven Seite wahr. Sie lernt ihn schätzen.50 Frau A. relativiert ihr eigenes Größenselbst und kann so ihre Möglichkeiten und Grenzen besser sehen und annehmen. Die irgendwo hinter ihren subtilen Selbstvorwürfen verborgene Illusion des eigenen "guten", "reinen", "idealen" Selbst wird aufgedeckt. Durch diese Ent-Täuschung kann sie ihre "bösen", "schmutzigen", "niedrigen" Triebe jedenfalls ein Stück weit erkennen und anerkennen. Sie bittet Gott nicht mehr wie früher, davor bewahrt zu werden; schließlich ist Christus selbst "niedergefahren zur Hölle". Sie bittet vielmehr um einen bescheidenen, ihr angemessenen Platz in der menschlichen und christlichen Gesellschaft. So kann Frau A. ihre Triebnatur, also ihre sexuellen und aggressiven Wünsche, und ihr Triebschicksal, also ihre persönliche Geschichte damit, etwas besser integrieren. In der Übertragungssituation lernt sie, ihre Sexualität "mit klarem Bewußtsein" zu betrachten. Von ihrer mit ödipalem Haß und wohl auch mit narzißtischer Wut bedachten Mutter kann sie

49

Pfister nennt einmal zusammenfassend "die unvermeidlichen Lebenskonflikte, die Natur der sozialen Zusammenhänge und die Kindesnatur" und meinl, schon deshalb sei immer für Anlässe zu Verdrängungen gesorgt (PM 278). 50

Vgl. WuS 89, zum Folg. 66, 87, 70, 84 f.

404

Umgang mit den christlichen Symbolen

sich in einem ihrer letzten Träume "ruhig" trennen, allerdings im Blick auf den vor ihr liegenden "Himmelsgarten" (des Analytikers). Das Aggressionsproblem, Anlaß der Beratung, bleibt etwas heikel. In narzißtischen Beziehungen ist die Aggression ja ausgeschlossen. Damit ist nicht nur Pfisters, sondern eine allgemein christliche Schwachstelle bezeichnet. Pfister sieht denn auch hier das größte Risiko für Frau A. Sie müsse sich vorsehen, "um nicht in Zorn und Gram zurückzufallen". Aber sie habe ja, so fährt er fort, einen "gewaltigen Kräftezuschuß" erlangt. In zukünftigen Kämpfen werde sie zu siegen wissen.

Alles Bisherige - Verzicht und Integration, mehr Selbsterkenntnis und Selbstannahme - geschieht für Frau A. im größeren Raum und im größeren Licht der göttlichen Liebe. Sich in Gottes (via Pfisters) Willen zu ergeben, heißt zugleich, sich in das göttliche Licht zu stellen, dessen Leuchten die ganze Welt erfüllt. Auch der Seelsorger steht darin, gerade wenn seine "lichtumflossene Gestalt ... entschwindet".51 Als Bote ist er nicht die Botschaft. Er hinterläßt aber Licht, das nun mit seinem Glanz alles erleuchtet, die Außenwelt und den inneren Raum. So geschieht zuletzt auch die Ablösung vom Seelsorger im Medium einer gestalteten narzißtischen Religiosität. Ihre Symbolwelt erinnert nicht zufällig an biblische Auferstehungszeugnisse. Im Bewußtsein ihrer Rückbindung an das Kreuz der Frau A. und des Jesus von Nazareth wollen wir sie ernstnehmen.

51 Ebd. 88 f. Zu diesem Trennungsmodus fand ich eine verblüffende Parallele in einem Patiententraum, den Tobias Brocher als ein Beispiel dafür erzählt, daß Patienten sozusagen durch den (sie annehmenden) Therapeuten hindurch etwas zu erkennen vermögen. Die Person des Therapeuten wird gleichsam durchsichtig auf etwas dahinter, das für das Leben viel wichtiger ist: Der Patient "sagt, er habe mich auf dem Sessel sitzen sehen; plötzlich sei ich aber durchsichtig geworden, und hinter mir sei ein ganz helles Licht erkennbar gewesen, was auf ihn eingestrahlt hätte, eine Sonne, und ich sei plötzlich weggewesen" (bei Zahrnt 1972, 170). Vgl. auch die beiden Fallbeispiele einer Identifikation mit dem gekreuzigten Christus, die Wiesenhütter berichtet (ebd. 85-89).

DRITTER TEIL KONSEQUENZEN DER ANALYTISCHEN SEELSORGE (WAHRHEIT UND LIEBE)

Kapitel 11 Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse als Praxistheorien 1.

Lebendige Wissenschaft

Mindestens dreimal in seinem Leben sah Pfister sich mit der realistischen Möglichkeit einer alternativen Berufsrolle konfrontiert. So oft nämlich hat er Angebote, Hochschullehrer zu werden, abgelehnt. Das erste Mal war es besonders dramatisch. Im Frühjahr 1908 lehnte er, "nach langen inneren Kämpfen", eine ordentliche Professur für systematische und praktische Theologie in Zürich ab. Wenige Wochen später, im Juni 1908, hörte er erstmals den Namen Sigmund Freud. In diesem Nacheinander verdichtet sich für Pfister ein Gegensatz von tiefer, lebenslanger Bedeutung. 1920 wurde ihm ein Ordinariat für Philosophie bzw. Tiefenpsychologie in Riga angeboten, 1930 in Chicago eine Professur für Religionspsychologie. Voranfragen und Erkundigungen gab es noch öfter.1 Was läßt den wissenschaftlich ausgewiesenen Theologen solchen Verlockungen widerstehen? Er konnte sich nicht von seiner Gemeinde trennen, so sagt er selbst im Rückblick auf das Entscheidungsjahr 1908. Gemeinde, das bedeutet vielfältige Kommunikationssituationen, es bedeutet die Möglichkeit zur Hilfestellung in Seelsorgegesprächen ebenso wie die, Religion nicht nur zu lehren, sondern zu ihrem Leben anzuleiten. Um diese Verknüpfung geht es Pfister ja immer wieder. Wissenschaft und Leben dürfen nicht voneinander abgekoppelt werden. Wissenschaftliche Forschung und dann auch Lehre abseits der Fülle gelebten Lebens verkommen zu abstrakter Bücherweisheit und papiernem Traditionalismus. Reines "Dozie1

SD 8 f., LR 19, vgl. Aufgabe 40, CA XV. Die folg. Zitate SD 8, 15. - Für Riga weicht SD 9 (Philosophie) von LR 19 (Tiefenpsychologie) ab; hier ist auch noch von Pädagogik die Rede. Dieses Angebot ist wohl im Zusammenhang mit der Berufung des Freundes Ernst Schneider dorthin zu sehen, die ebenfalls in das Jahr 1920 fiel [4.2], "In alter Waffenbrüderschaft" widmet Pfister ihm 1924 die 3. Auflage der 'Psychoanalytischen Methode'.

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

406

ren", praxis- und damit forschungsfern, darin sieht Pfister die Gefahr der Wissenschaft im Universitätsbetrieb: "Ich hatte die Süßigkeit des rein abstrakten Betriebes allzu reichlich geschlürft, um diese Gefahr verkennen zu können." Ohne sein Gemeindepfarramt wäre er der papiernen Theologie verfallen und ein "Kathederprofessor" geworden. Gewiß schwingen in diesen Sätzen auch die bitteren Erfahrungen mit, die der Freud-Anhänger mit der etablierten akademischen Wissenschaft machen mußte. Doch als These bleibt bestehen, daß ertragreiche theologischpsychologische Forschung an der Universität nur schwer möglich ist. Dem Lebensraum Wissenschaft fehlt die breite empirische Basis. Denn der Gegenstand oder mindestens das Kontrollinstrument der religionspsychologischen bzw. theologischen Forschung sind die "lebenden Menschen".2 Freilich, auch die Studenten im Hörsaal sind höchst lebendig, doch eben in einer spezifisch eingeschränkten Lebenswelt. Wenn die Glaubenswissenschaft, das Herzstück der Theologie, das Glaubensleben erforschen soll, dann muß sie bei dem einzelnen Gläubigen ansetzen. Diese Forschung kann und soll aber nicht unter künstlich isolierten Laboratoriumsbedingungen stattfinden, sondern in der natürlichen Welt und Umwelt des religiösen Lebens, wie sie die Lebensvollzüge einer Kirchengemeinde bereitstellen. Dazu gehört dann auch die spezifische Situation des seelsorgerlichen Zweiergesprächs. Der Forschungsgegenstand christlicher Glaube bedarf eines interessierten, ja liebenden Zugangs, wie er sich nur in konkreten Lebenssituationen herstellen läßt. Was Erikson über die klinische Arbeit schreibt, nämlich daß sie einen Kern disziplinierter Subjektivität enthalte, das gilt entsprechend für die pastoralpsychologische Forschung und Praxis. Das Prinzip der klinischen Wissenschaft faßt Erikson so zusammen:

2

SD 9, CA XV u.ö. - Anton T. Boisen (1876-1965), der amerikanische Erzvater der Pastoralpsychologie, spricht von der Entdeckung der "living human documents", nachdem sich die Theologie lange Zeit einseitig mit den schriftlich tradierten Dokumenten des Glaubens beschäftigt hat. In diesem Ausdruck Boisens ist m.E. auch schon das pastoralpsychologische Desiderat eines gemeinsamen hermeneutischen Schlüssels für Texte und Menschen enthalten [1.3] - oder für Wissenschaft und Leben, wie Pfister sagt [3.3]. In Stollbergs Referat der Theologie und Pastoralpsychologie Boisens (1969, 29, 163 ff., vgl. Riess 1973, 191 ff.) finde ich geradezu verblüffende Parallelen zu Pfister, so daß ich mitunter eine amerikanische Doublette vor mir zu haben meine!

11.1. Lebendige Wissenschaft

407

"Man kann das Wesen der Dinge untersuchen, indem man ihnen etwas antut, aber etwas über die eigentliche Natur lebender Wesen, kann man nur lernen, wenn man etwas mit ihnen oder für sie tut." 3 Verstehen wir "antun" hier als isoliertes, rein wissenschaftliches Be-greifenWollen, dann könnte dieser Satz das Motto des Pfisterschen Weges vom philosophischen zum praktischen Theologen und Pastoralpsychologen sein. In seiner "Selbstdarstellung" resümiert er: "Es war also das Mitgefühl, das meinem wissenschaftlichen Denken die Wendung auf das unmittelbare Lebensbedürfnis gab." Darin steckt zunächst das uns bereits bekannte Motiv, aus Miüeid helfen zu wollen. Hilfe tut not wegen der Lebensnot der Massen, sowohl der sozialen wie der seelischen Not. Über deren Zusammenhang war Pfister sich klar, zu studieren war er nur im sozialen Feld selbst. Die Methoden solcher Forschung würden wir heute wohl als Methoden der Feldforschung und der teilnehmenden Beobachtung bezeichnen; analog dazu könnten wir bei Pfister von "teilnehmender Hilfe" sprechen. Was ist es anderes, wenn ihm im Konfirmandenunterricht ein Schüler durch symptomatisches Verhalten auffällt, er den Schüler im Anschluß an die Stunde anspricht und sich daraus ein ein- oder mehrstündiger seelsorgerlicher Kontakt ergibt? Vielleicht ist ja jener Schüler beim Vorlesen eines Bibeltextes immer wieder an der gleichen Stelle ins Stocken gekommen, so daß sich ein Konflikt hier symptomatisch anzeigt. Dann wäre die seelsorgerliche Hilfe zugleich religionspsychologische bzw. glaubenswissenschaftliche Forschung, wenn man so will: ein Stück Auslegungsgeschichte des Textes. Wenn Pfister also von Mitgefühl spricht, das seinem wissenschaftlichen Denken die Richtung gegeben habe, so können wir das jetzt in einem weiteren Sinne auffassen, nämlich als mitten darin stehen, miteinander sein, in Beziehung stehen. Nur in wissenschaftlichen settings, die das erlauben, hat Pfisters Sehnsucht eine Chance, "durch Wissenschaft dem Leben zu dienen, durch das Leben der Wissenschaft die Aufgaben zu stellen". Freilich, das Leben erschöpft sich nicht im Sozialen. Den Lebensbegriff Pfisters haben wir früher schon erörtert und ihn im Zusammenhang der

3

Erikson 1971, 202 vgl. 42 f. - Die folg. Zitate SD 14 f., vgl. Kap. 4.1 u. 2.

408

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

Wissenschaftstheorie und der Hermeneutik für signifikant schillernd befunden [3.3 u. 4], Jetzt fassen wir positiv zusammen, was Pfister unter dem "Leben" versteht, aus dem heraus und auf das hin Wissenschaft allein geschehen soll. Leben ist nicht bloß die soziale Existenz des Menschen, sein In-Beziehung-Stehen. Leben ist auch nicht allein seine materielle Existenz, so daß die Lebensnot die materielle Existenznot des Menschen wäre. Leben läßt sich aber auch nicht reduzieren auf seine biologische Existenz, indem man etwa die Natur des Menschen definiert durch die Grundtriebe Selbstund Arterhaltung. Das erscheint Pfister als ein "würdiges Gegenstück zum konservativen Staatsbegriff behäbiger Spießbürger." 4 Nein, Leben ist mehr. Im qualifizierten Sinne bedeutet es für den einzelnen wie für Kollektive, einen großen Lebensinhalt zu haben. "Leben heißt: Für etwas Großes leben." Die tiefste Not seiner Zeit sieht Pfister im Fehlen von Lebenszielen, wir dürfen ruhig sagen, von kollektiven Idealen. Wir erinnern uns, schon vor dem ersten Weltkrieg schrieb er dem jungen Dietrich, der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt sei für ihn und für jeden Menschen der Kampf um die volle Gesundheit. Der einzelne steht nicht allein mit seiner seelischen Not, die Lebensnot ist allgemein, damit ist sie auch kulturelle und politische Not. "Religion und Gesellschaft stehen in wechselseitigen Beziehungen. Aber das Christentum darf nicht vor dem oberflächlichen Gerede von der (absoluten) Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft oder gar der Politik die Waffen strecken. Sozialprogramme kann es nicht liefern; aber es kann die Angst überwinden, die auch im Sozialleben so viel Unheil anstiftet, und Lichter anzünden, die den Sehenden zur

4

PsaW 65, das folg. Zitat Gottesdurst (1933), 378. - Zwar geht jeder Triebimpuls von einem empfundenen Mangel aus, dessen Überwindung er anstiebt. Doch schon dadurch "setzt er andere Funktionen in Tätigkeit, so daß der Lebenskreis sich erweitert" (PsaW 65, G.W. Allport spricht von der funktionellen Autonomie der Motive!). Pfister vermißt also nicht den Gegenpol im Triebkonzept, Destruktions- oder Todestrieb, sondern die Elemente Differenzierung, Erweiterung, Steigerung in dem einen Grundtrieb. Wie der Freudsche "Eros" will der Pfistersche "Lebensdrang" (PM 53) über bloße Erhaltung hinaus. Entsprechend dem absoluten Primat der Liebe gegenüber dem Haß [8.6] sieht Pfister auch im Todestrieb nur ein "Nachlassen der 'Lebenskraft'" (Br. 142). Zu seiner Kritik an Freuds "Konservativismus" s. Kap. 13.2.

11.1. Lebendige Wissenschaft

409

Freiheit, zur starken, weil stark liebenden Persönlichkeit und mit Wohlfahrt gesegneten Gesellschaft führen." 5 Diese Worte von 1944 zeigen keinen blauäugigen Idealismus, sondern eine umfassende Wertorientierung, deren gesellschaftliche Vermitteltheit nicht ausgeblendet ist. Heute, gegen Ende des Jahrhunderts, erscheint eine solche kollektiv-ideale Perspektive notwendiger denn je, sollen nicht die christlich vermittelten Grundwerte vollends technologisch und warenökonomisch umgewertet und vereinnahmt werden. Pfister findet den "Schrei nach Leben" schon in der Kultur des 19. Jahrhunderts ausgeprägt, vor allem in der zweiten Hälfte. Die Lebensnot verschärft sich im 20. Jahrhundert, als im Feuer des ersten Weltkrieges die meist schon vorher angesengten kollektiven Sinn- und Wertgebungen vollends verbrennen. In der Einleitung seiner 1918/19 verfaßten Schrift "Psychoanalyse und Weltanschauung" beruft Pfister sich unter anderem auf die Lebensphilosophie Henri Bergsons ("elan vital") und meint, es sei sicher kein Zufall, daß gleichzeitig mit dessen Kampf gegen den Intellektualismus die Auflehnung gegen Industrialismus und Kapitalismus beginne, "dieser praktische Kreuzzug zur Eroberung von Leben". Denn in Kultur und Politik handele es sich "um dieselbe Not, die Knebelung der Gemütsansprüche". 6 Der Begriff Leben hat für Pfister einen stark emotionalen Zug. Es geht ihm um das Recht des Gemütes gegenüber dem Intellekt, also tief im Menschen verankerter Gefühle und Wünsche gegenüber der Lebenseinschränkung durch Technisierung und Maschinisierung und eben auch gegenüber intellektualistischer Verwissenschaftlichung. Naturgemäß läßt sich Pfisters Konzept vom Leben nicht de-finieren in starrer Begrifflichkeit. Am angemessensten bleiben Metaphern wie die vom Leben als unaufhörlichem Strom [3.3], der, näher besehen, ein Liebesstrom ist. Pfisters Freund Albert Schweitzer nimmt das Beispiel des unerklärlichen Phänomens zu Hilfe, daß der heiße Golfstrom im kalten Ozean fließt. "So ist der Gott der Liebe in dem Gott der Weltkräfte, eins mit ihm und doch so ganz anders als er. Von diesem Strome lassen wir uns ergreifen und dahintragen."7 Nach Pfister liebt der Mensch sich zum größeren Leben hin, es gibt ein

5

CA 504, zweiter Satz im Orig. kursiv. (" Dornröschenbrief').

- Zum Brief an Dietrich vgl. Kap. 8.3

6

PsaW 7.

7

Schweitzer 1924, 55. Das Folg. PM 398, PsaW 76.

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

410

Lebensgesetz der Liebe. Durch das Christentum wird der Lebensbegriff neu qualifiziert (Joh. 14,19).8 Die Funktion des Lebensbegriffs bei Pfister kann auch im Zusammenhang der zeitgenössischen Lebensphilosophie gesehen werden. Deren Vertreter führt er z.T. selbst an, etwa James, Eucken, Bergson, Rickert, Simmel.9 Georg Simmeis 1918 veröffentlichte "Lebensanschauung" gipfelt in der Erkenntnis: Leben ist Mehr-Leben und Mehr-als-Leben zugleich. 10 Pfisters eigener Entwurf einer "idealistischen Lebenslehre" fügt sich, cum grano salis, in eine geistig-kulturelle Strömung der damaligen Zeit ein, die man als (antipositivistische, antinaturalistische, antirationalistische) Lebensphilosophie im Sinne Nietzsches und Diltheys bezeichnen könnte. Über Dilthey sind auch Rückbezüge auf Schleiermacher eingeschlossen. Mit Nietzsche hat Pfister sich in seinen frühen Jahren intensiv auseinandergesetzt und zitiert ihn in seinen Schriften fast ausschließlich in positiver Verwendung. In der zeitgenössischen (natur-)philosophischen Kontroverse über Mechanismus und Vitalismus stünde Pfister mit Sicherheit auf Seiten des Vitalismus.11 Diese Verortung darf jedoch nicht im strengen Sinne einer naturphilosophischen Lehre verstanden werden, wie z.B. bei Hans Driesch, auch nicht im Sinne der Lehre des sog. Psychovitalismus. Dagegen spricht schon Pfisters frühe Ablehnung der spekulativen Kategorienlehre Eduard v. Hartmanns, in dessen apriorischen, unbewußten "Intellektualfunktionen" er nur ein mythologisches Gebilde erblicken kann. Trotz einiger Sympathien zumal für v. Hartmanns Methode wirft er ihm doch zu rasche Synthese vor.12 Damit nimmt er ironischerweise einen Einwand vorweg, den er sich selbst später von Freud vorhalten lassen muß. 13 Gewiß bezieht Pfister selbstkritisch eigene verwandte Anteile mit ein, wenn er zu v. Hartmanns spekulativen Konstruktionen meint: "Wie wundervoll sind gegenüber solchen Phantasien

8 Vgl. Kap. 14.5. - Hier ist eine bemerkenswerte Verwandtschaft mit dem so anders gearteten Wilhelm Reich zu entdecken. Dieser kämpft gegen die Kräfte und Mächte, die den Charakterpanzer des Menschen zustandebringen, anstatt den bioenergetischen Strom (früher Libido) frei im Körper fluten und sich mit dem großen Strom der kosmischen Lebensenergie (Orgon) verbinden zu lassen. Christus ist der Mensch, in dem diese Verbindung am deutlichsten und reinsten zum Ausdruck kommt, darum wurde er verfolgt und getötet - so Reich in seinem Buch "Christusmord" (1953/1978, bes. 66, 79, 180 f., vgl. dazu Kodalle 1978, 52 ff.). Über W. Reich und die Seelsorge vgl. Eidam 1983. 9 PsaW 65-87, auch Religionspsychologie 399, NTPsa 433. - Vgl. Bergson/Rickert: Die Philosophie des Lebens, 1920, bes. 178 ff.; Glockner 1960, 1018 ff.; aus heutiger protestantischer Sicht Koller 1976, bes. 242 ff. 10

Nach Glockner 1960, 1084. - Das folg. Zitat PsaW 84.

11

Eine Zusammenfassung der damaligen Diskussion, zumal unter den Vertretern des Vitalismus, bietet das von Eberhard Dennert herausgegebene, 1940 bei Martin Warneck in Berlin in 3., erweiterter Auflage erschienene Buch "Die Natur - das Wunder Gottes". Hier finden wir sogar Beiträge von Max Planck und Werner Heisenberg. Zum Gegensatz von Mechanismus und Vitalismus, der sich mit dem von Monismus und Dualismus überschneidet, vor allem Gustav Wolff, ebd. 98 ff. Vgl. auch Maeder 1968, 50 f. 12 13

Willensfreiheit 251-253, vgl. Kap. 6.3. Zu Driesch vgl. Br. 122.

Z.B. Br. 63. - Das folg. Zitat Willensfreiheit 254. Zu Wundt und v. Hartmann vgl. Glockner 1960, 1000 ff.

11.1. Lebendige Wissenschaft

411

Wundts exakte Untersuchungen ..." Es ist der gleiche enthusiastische Ton wie später über Freuds erfahrungswissenschaftlichen Durchbruch zum "festen Boden der seelischen Tatsachen". Dies zeichnet Freud gerade vor den metaphysischen Psychologen aus, allen voran C.G. Jung, die zwar wagemutig in den Nebelregionen der Transzendenz umhersegeln, aber eben, weil abgehoben, keine klare Sicht und kein deutliches Wissen ermöglichen. 14 Aber nur auf diese Weise, so bekennt Pfister gegenüber Freud, führe ihn dessen Lebenswerk und Persönlichkeit "zu den tiefen Lebensquellen. Und ich kann an ihrem Ufer nicht nur forschen, ich muß trinken und Lebenskräfte schöpfen".' 5 Dazu Freuds Widerspiel einige Jahre zuvor: "Um ganz wahrhaftig sein zu können, darf man ja nicht so lebensfreudig sein wie Sie. Etwas Erbauung ... wollen Sie ja doch dabei herausschlagen."

Neben den materiellen, biologischen und sozialen sind also die emotionalen Grundbedürfnisse für Pfister ein anthropologisches Grunddatum. Sie sind Bestandteil des "objektiven Gesamtlebens", in das jeder einzelne in dialektischer Weise eingegliedert ist.16 In diesem Sinne geht für Pfister auch die Psychoanalyse aus dem "Lebenshunger" hervor und dient der "Lebenssteigerung". Denn "es war nicht der affektlose Seelenforscher, sondern der ärztliche Samaritergeist, der sie ins Leben rief". So wird die Psychoanalyse in Pfisters Sicht zum Paradigma für eine Wissenschaft, die sich nicht verselbständigt, sondern rückgekoppelt bleibt an die lebenspraktischen Bedürfnisse. Sie weiß um ihre Grenzen und um ihre Funktion im Dienste des Lebens. "Freud weiß so gut wie Byron, daß der Baum des Wissens noch nicht Baum des Lebens ist, aber es ist auch gewiß, daß die Edelzweige des Wissens dem Lebensbaum aufgepropft werden müssen, um gesunde Früchte zu gewinnen."17 Nicht zufällig erläutert Pfister hier das Verhältnis von Wissenschaft und Leben in einem Naturbilde aus der Zeit der Romantik. Der "Lebensbaum"

14

PsaW 11. Zu Freuds "Positivismus" vgl. Kap. 14.2 u. 4.

15

An Freud, 3.2. 1929, Br. 138. Das folg. Zitat: An Pfister, 6.4.1922, Br. 89.

16

PsaW 65 ff., bes. 67. Die folg. Zitate ebd. 7 f. - Wilhelm Wundt spricht vom "geistigen Gesamtleben der Menschheit" (nach Willensfreiheit 183). 17 Ebd. 8. - Es stellen sich Assoziationen zur biblischen Paradiesgeschichte und vor allem zu den "Lebensbäumen" aus der Zeit der französischen Revolution ein.

412

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

ist zunächst etwas Organisches, Natürliches. Doch ohne wissenschaftliche Veredelung bringt das Leben selbst kranke Früchte hervor. In ihrer dienenden, "hygienischen" Funktion ist die Wissenschaft für das Leben unentbehrlich. Gleichsam von selbst kommt nichts Wahres und Förderliches aus dem Untergrund des Lebens hervor, weder des Instinktlebens noch des Volkslebens, weder der Einzel- noch der Volksseele. Gerade in den 20er Jahren segelten viele Anti-Aufklärer im Dunstkreis solcher Anschauungen und fanden sich schließlich im faschistischen Umfeld wieder. Dagegen ist Pfister auch im engeren Bereich der Tiefenpsychologie nie der Versuchung erlegen, das Unbewußte, eine der Quellen des Lebensstromes, auch als eine Quelle existentieller oder wissenschaftlicher Wahrheit zu proklamieren [6.3]. 1927 schreibt Pfister an Freud, er übe die Anlayse innerhalb eines Lebensplanes aus, "den Sie mit gütiger Nachsicht als Servitut meines Berufes gelten lassen".18 Freud möchte in Pfisters Lebensplan nur so etwas wie eine Mitgift des Pastorenberufes sehen. Pfister freilich ordnet Pastorenberuf, Psychoanalyse und Wissenschaft in einen größeren Zusammenhang ein, seine persönlich tief verwurzelte, aber auch theologisch-philosophisch abgeklärte Lebensanschauung. Diese fußt zuletzt auf nichts anderem als auf der religiösen Gewißheit, daß das Einzelleben ebenso wie das Gesamtleben in die Dynamik des Geschichtsprozesses hineingehört, in dem der Christ die Spuren des Gottesreiches der Liebe erkennt. Ein gutes Beispiel für den Referenzrahmen, in dem Pfister die wissenschaftliche Psychoanalyse rezipiert und darstellt, ist das 1918 erschienene Buch "Wahrheit und Schönheit in der Psychoanalyse". Sein Kernstück, der uns vertraute Fallbericht über Frau A., wird eingerahmt von einer Kurzdarstellung der psychoanalytischen Theorie und Methode sowie einer ausführlichen Darlegung der ästhetischen, intellektuellen und ethischen Werte in der psychoanalytischen Arbeit. Davon sind unsere folgenden Kapitel 12 und 13 wesentlich angeregt; in ihrem Verlauf komme ich immer wieder auf dieses Büchlein zurück. Pfister will zeigen, inwiefern in der psychoanalytischen Arbeit Schillers Traum in Erfüllung gehen kann, "daß die Schönheit in der Wahrheit gefunden wird". Denn es sind beides Strahlen, "in die das eine Licht des Lebensideals sich auseinanderlegt". 19 Er will das

18 19

Br. 124 f.

WuS 24, 8. Nehmen wir das Gute hinzu, so haben wir die platonische Trias vom Wahren, Guten, Schönen [3.2.], nach der die Schrift ja aufgebaut ist. Vgl. Philosophisches Denken (1923), 86. Auf den platonischen Hintergrund kann ich nicht eingehen, ebensowenig auf die Bezüge zur deutschen Klassik und zur idealistischen Philosophie, die sich daran anschließen. Pfister beruft sich mit Vorliege auf Goethe und Schiller, z.B. WuS 96 f., 143, LK 4. Am Schluß des Büchleins (WuS 141 f.) zitiert er breit aus Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Mannes. Von daher bestimmt Pfister als 'schön' die als

11.2. Psychoanalytische Methode: Wider die herkömmliche Psychologie

413

gebildete Bürgertum und die Geisteswissenschaftler davon überzeugen, daß das Wahrheitspathos der Psychoanalyse weder nackt noch zerstörerisch ist. Zuletzt will er den Leser durch ein persönliches Zeugnis zu näherem Umgang mit der Psychoanalyse ermuntern. Nach dem Paulus nachempfundenen Bekenntnis "Ich aber schäme mich der Psychoanalyse nicht" beschließt er das Buch etwas später mit dem Satz: "Wer dank seiner Begabung und sorgfältiger Studien, besonders auch, weil er sich selbst analysieren ließ, selbst als Forscher und Freund der Gebundenen analytisch arbeitet, sei gewiß, daß ihm unendlich viel Schönheit und Wahrheit begegnen wird." 20 Nicht um Wahrheit im Sinne der wissenschaftlichen Richtigkeit soll es hier in erster Linie gehen, sondern um ihre lebenspraktische Bedeutung für den ganzen Menschen, also um ihre "Gültigkeit sowohl für den denkenden als auch für den fühlenden und wollenden Menschen". Eine solche Wahrheit soll auch anziehend sein und Wohlgefallen erregen, ja sie soll den Lebensgenuß fördern. Pfister zitiert Pestalozzi: "Warum sucht er [der Mensch] nicht die Wahrheit, die ihn in seinem Innersten befriedigt, die seine Kräfte entwickelt, seine Tage erheitert und seine Jahre befestigt?"

2.

Psychoanalytische Methode: Wider die herkömmliche Psychologie und Religionspsychologie

Lebendige Wissenschaft kommt aus dem Leben, arbeitet innerhalb der Lebenswirklichkeit und dient dem Leben. Vor anderen Lebensvollzügen, etwa der Kunst, zeichnet sich die Wissenschaft dadurch aus, daß man von ihr möglichst wenig Wunschdenken und eine weitgehende Anpassung an die Realität erwartet. Vor der "öden Formalistik und unfruchtbaren Lebensfeme des neurotischen Grüblers" kann sich der Forscher dadurch schützen, daß er als freier Mensch auch seine wissenschaftliche Arbeit dem "idealen Gesamtleben" unterordnet.21

befriedigend und sogar lustvoll erlebte Angemessenheit und harmonische Entsprechung von Gegenstand und Ich, von Objekt und Subjekt (ebd. 93 f., 115, 125, 128 u.ö.). Auch die psychoanalytische Seelenbeobachtung ist schön, weil sie "der Natur des Geistes angemessen ist" (ebd. 125, s. Abschn. 2). Im Hintergrund scheint die analogia entis auf, deren christlichfrommes Fundament uns bei Pfister ja immer wieder begegnet [3.3], 20

Ebd. 143, die folg. Zitate 7 f.

21

PsaW 86, vgl. WuS 116. Ähnliche Äußerungen Freuds VIII 67, XIV 377 f.

414

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

Die vom Realitätsprinzip geforderte Anpassung hält Pfister also nur dann für unschädlich, wenn sie sich zugleich als Einpassung in einen größeren Zusammenhang versteht. Wir können an jene Forscher denken, die auf ihrem engen Fachgebiet in genialer Einseitigkeit Großartiges leisten, dies aber so selbstvergessen und isoliert betreiben wie ein großer Junge seine Bastelarbeit im Hobbykeller. Die (häufig neurotisch bedingte) Abspaltung macht es unmöglich, die eigene Arbeit in einen allgemeineren Zusammenhang zu integrieren, etwa den des eigenen Lebens oder den größeren Forschungszusammenhang, vom gesamtgesellschaftlichen ganz zu schweigen. Gerade für den Gelehrten, meint Pfister, müßte eigentlich das Ideal möglichst weitgehender "Durchleuchtung der Seele", also möglichst großer Bewußtheit gelten. Denn sie ist es ja, die ihn die gewaltige Dynamik seiner irrational-emotionalen Anteile erkennen läßt und ihn so schützt vor dem "dürren Intellektualismus, der aus Verdrängung des Gefühlslebens hervorgeht".22 Nunmehr kann er einen gewissen Anteil seiner Gefühlsdynamik in einer "Höherwendung" gleichsam in die wissenschaftliche Arbeit hineinnehmen. Das wird ihr einen "lebendigeren" Charakter verleihen. Damit formuliert Pfister eine Art inneres Realitätsprinzip, zugespitzt auf die typische Problematik des Gelehrten. Die Forderung nach einer Vermittlung von Wissenschaft und (gesellschaftlichem, christlichem) Leben wie von Verstand und Gefühl gilt mutatis mutandis auch für den heutigen Wissenschaftsbetrieb.

Auch die damals neu aufgekommene Psychologie wollte eine solche lebendige Wissenschaft sein, exakt und lebensnah zugleich. Doch betrachten wir mit Pfister ihre bisherige Arbeit, so scheint uns jeder gute Roman die Schulpsychologie um Bergeshöhen an Seelenkenntnis zu überragen. Beklagt werden muß nicht nur ihre öde Begriffsklauberei, sondern auch ihre fatale Neigung, die Forschungsmethoden der experimentellen Naturwissenschaft zu übernehmen. Das ist ihrem Gegenstand und ihrer Aufgabe unangemessen [3.1]. Bitterböse schreibt Pfister 1918: "Nie haben die berufenen Vertreter einer Wissenschaft ihre eigenüiche Aufgabe so bedenklich verkannt und ihr Heiligstes derart mit Füßen getreten wie die akademischen Psychologen. Das Geistverlassenste der universitas literarum ist die angebliche Wissenschaft vom Geist, die Psychologie."

22 Ebd. Die folg. Zitate WuS 117 f. 125, 115, 140. - Zu Intellektualisierung und Rationalisierung im Zusammenhang mit der Theologie als Wissenschaft s. Abschn. 3 und Kap. 3.3.

11.2. Psychoanalytische Methode: Wider die herkömmliche Psychologie

415

Demgegenüber arbeite die Psychoanalyse gegenstandsadäquat. Mit ihrer "Angemessenheit für Subjekt und Objekt", nämlich für die "Forderungen des Gegenstandes und diejenigen des menschlichen Denkens" genügt sie nicht nur wissenschaftlichen, sondern sogar ästhetischen Ansprüchen. Pfister kann von ihrer intellektuellen Schönheit sprechen und ist dabei um Metaphern und Bilder nicht verlegen: Die Psychoanalyse dringt tief ins Zentrum der Persönlichkeit ein, "belauscht" den Geist in seiner schöpferischen Eigenart und "durchwandert freudig" den ganzen Umfang des psychischen Lebens und Erlebens einschließlich des Unbewußten. Damit wird sie, bei richtiger Anwendung, dem "organischen Zusammenhang alles seelischen Geschehens" gerecht. Statt die "Fülle der Psyche" auf ein paar dürftige Formeln zu reduzieren, rückt sie ihren ungeheuren Reichtum erst recht in die gebührende Beleuchtung. Geht die Schulpsychologie wirklich einmal, über das reine Begriffsklopfen hinaus, zu der Beobachtung am lebenden Menschen über, dann geschieht es in der künstlichen Situation des Laboratoriums bzw. des psychologischen Versuchs. Hier werden in erster Linie die psychischen Elementarprozesse, namentlich die Wahrnehmung, untersucht. Für das Verständnis der höheren Geistesfunktionen, zumal einer so "zusammengesetzten" wie der Religion, springt dabei fast nichts heraus. Die Schulpsychologie läßt die "Gesamtpersönlichkeit" außer acht, ihr Grundfehler ist ihre isolierende und atomisierende Tendenz: "Das Resultat ist ein beständiges Mückensieben und Kameleverschlucken, das unzählige mit ehrlichem Verlangen nach Erkenntnis des Seelenlebens, zum Studium der Psychologie Hingeeilte mit Widerwillen erfüllt. Für die Pädagogik, Kriminalistik, Ästhetik, Theologie und andere Wissenschaften, die Seelenkenntnis voraussetzen, leistet die heutige Psychologie soviel wie nichts."23 Diese bitteren Worte von 1918 haben bis heute wenig an Aktualität verloren. Ihr Selbstbewußtsein eignet dem, der das bessere Teil erwählt hat, ihr Ärger einem Enttäuschten, hat Pfister doch selbst von der Psychologie viel erwartet und bereits 1903 die "Unterlassungssünden der Theologie gegenüber der modernen Psychologie" beklagt. Und auch später als Psychoanalytiker hat er sich immer wieder um eine Vermittlung der neuen Wissenschaft mit der

23

WuS 118. vgl. ebd. 122, PsaW 11.

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

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Schulpsychologie bemüht,24 zumindest deren Terminologie und Konzepte zur Erläuterung analytisch gewonnener Zusammenhänge zu verwerten gesucht. Es gab freilich recht wenig zu verwerten. Für Pfister ist es jetzt nicht mehr zu leugnen, daß die Experimentalpsychologie "einer umfassenden Erforschung des Menschen weit mehr schadet als nützt".25 Diesem Verdikt unterliegt für ihren Forschungsbereich auch die Religionspsychologie. Im Zuge ihrer allmählichen Ablösung von der Religionsphilosophie eiferte sie zunehmend der Schulpsychologie nach. Prompt landete sie in den gleichen Sackgassen wie ihre große Schwester, allerdings mit noch weniger Substanz im Gepäck als jene. Selbst einer ihrer fleißigsten Vertreter, Gustav Vorbrodt, gibt 1923 Pfister eingeschränkt recht, wenn er die junge Wissenschaft in einer Krisis sieht.26 Dies geschieht ein Jahr zuvor in dem großangelegten Imago-Aufsatz "Die Religionspsychologie am Scheidewege", in dem Pfister eine glänzende Bestandsaufnahme und mitunter persönlich eingefärbte Abrechnung unternimmt. Mit spürbarem Behagen macht er sich lustig über den Regen deutscher religionspsychologischer Programmschriften, der in den letzten Jahrzehnten auf das Publikum herniederprasselte. Für den Zeitraum von 1894 bis 1920 sind es fast dreißig, also jedes Jahr eine. "Scharenweise kamen sie gelaufen

24

Vgl. bes. das Kapitel "Die Psychoanalyse als psychologische Methode" in Kampf (1920). Schon früh beschäftigte Pfister sich mit dem, was man heute die Frage nach dem wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse nennt, vgl. bes. den Abschnitt zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in PM, 1. Aufl., sowie PM 25 ff. die Differenzierungen zum Konzept des Unbewußten. Ein Schüler Pfisters, Harald K. Schjelderup, veröffentlichte 1927 das erste psychoanalytisch orientierte Lehrbuch der Psychologie (s.u.). In diesem Verständnis der Psychoanalyse besteht Übereinstimmung mit Freud, der sie lebenslang als primär psychologische Disziplin ansehen wollte (vgl. Reik 1976, 41). Dabei ging es ihm freilich in erster Linie um ihren wissenschaftlichen Anspruch gegenüber ihrer medizinisch-therapeutischen Verwertbarkeit [7.1]. Außerdem meint Freud mit Psychologie Naturwissenschaft (etwa GW XIV 84, XVII 143), Pfister eher historisch-verstehende Geisteswissenschaft. Die Zuordnung der Psychoanalyse bei Freud ist signifikant unklar und nicht zu systematisieren. Sie ist Teilstück (Einleitung zu Bullitts Wilson-Studie, 31; GW XVII 142), Ergänzung (XIV 96), Unterbau, ja Fundament (XIV 289) der Psychologie. 25 PM 18, vgl. WuS 119. Nur die primitivsten Vorgänge des Empfindungslebens und des Intellektes ließen sich einigermaßen auf die "Folter des Experimentes" spannen (PsaW 11). - Vor einigen Jahren wollte Gerhard Besier (1980) die von Pfister so beklagten Sackgassen der akademischen Psychologie, ihre spezifische Eingeschränktheit, gerade zum Defizit bzw. Desiderat der Pastoralpsychologie erklären und sie entsprechend umgestalten. 26

Vorbrodt 1923, Sp. 118. Das Folg. Religionspsychologie 369.

11.2. Psychoanalytische Methode: Wider die herkömmliche Psychologie

417

und verkündigten mit magistraler Gebärde: 'So müßt ihr Religionspsychologie betreiben!'" Das war dann (fast) alles. Wie konnte es zu diesem Fiasko kommen? Der Gegenstand der Religionspsychologie, die religiöse Persönlichkeit, ist strenggenommen kein Objekt, sondern ein Subjekt, somit ein Individuum, ein unteilbares Ganzes. Sein religiöses Erleben isoliert und objektivierend erfassen zu wollen, ist daher ein sehr problematisches Unterfangen. Höchstens kann der religiöse Akt, wie es damals hieß, logisch nach verschiedenen Momenten bzw. psycho-logisch nach verschiedenen Funktionen differenziert werden. 27 Und was ist nun bei dieser hauptsächlich begrifflichen Arbeit bisher herausgekommen? In rührender Einhelligkeit nichts anderes, als was, nach Schleiermachers Vorgang, heute jeder fähige Konfirmand weiß, nämlich "daß in der Religion, wie bei jedem anderen psychischen Akte, Intellekt, Gefühl und Wille gemeinsam sich betätigen". Die Enttäuschung des jungen Gelehrten über die Psychologie der Jahrhundertwende klingt deutlich nach, wenn er 30 Jahre später von der Banalität dieser Binsenwahrheit spricht, bei der nicht nur sein eigener Forschungsdrang, sondern tröstlicherweise auch die religions-psychologischen Lastwagen eines Pfleiderer und Lipsius zum Stillstand gezwungen waren. 28 Wenn Pfister hier auch mit verständlichem Sarkasmus urteilt, so verkennt er doch nicht, daß im 19. Jahrhundert entscheidende Fragen der Religion verhandelt wurden. Es ist schon ein Unterschied, ob die Religion mit Schleiermacher beim Gefühl oder mit Hegel beim Denken primär festgemacht wird. Doch die sich anschließende Religionspsychologie vermochte ihren Gegenstand nicht zureichend zu erfassen. Spekulative Begriffs-Arbeit, auch in der Variante ideengeschichtlicher Herleitung (die Methode der Dissertation über Biedermann 29 ), muß letztlich in die Sackgasse gegenstandsfremder Begriffsraster oder banaler Alltagsweisheit führen.

27

Biedermann 66 f. Das folg. Zitat SD 5, vgl. Aufgabe 8.

28

S D 5, vgl. Religionspsychologie 368. In diesem Aufsatz finden wir auch eine saftige Satire über das Chaos der Gefühlstheorien (385 f.), dieses selbstgebaute Labyrinth der Psychologen, in dem sie ihre Begriffsvögelchen umherflattern lassen, natürlich "exakt"! Pfister scheint dieser Abschnitt aus der Feder zu fließen, im Gefühl der Wehmut über seine vor einem Vierteljahrhundert begonnenen psychologischen Studien. 29

Vgl. Kap. 3.2. Später bezeichnet Pfister diese Methode selbst als öde (Paulus 269).

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

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Dem Forschungsgegenstand adäquat kann nur eine Methode sein, die die Entstehung der Religion am religiösen Individuum selbst verfolgt bzw. nachverfolgt, wenn man so will, am lebenden Objekt. Freilich geschieht das in einer zwar spezifisch eingeschränkten, aber grundsätzlich doch typischen Lebenssituation selbst. Daher kann auch das forschende Subjekt nicht außerhalb der Situation stehen, sondern wird selbst zum Objekt, so wie umgekehrt das vermeintliche Objekt zum Subjekt wird, nämlich der (Re-)Konstruktion seiner Lebensgeschichte. Diese vollzieht sich also im Medium der gemeinsamen Subjekt-Objekt-Geschichte. Gemeint ist natürlich die psychoanalytische Zweiersituation als Paradigma. So gesehen ist die ihr entsprechende psychoanalytische Theorie tatsächlich eine systematisch verallgemeinerte Historie (J. Habermas). 30 Für ein solches Verständnis der Psychoanalyse bietet Pfister gute Anhaltspunkte, wenn er etwa schreibt: "Die entwicklungsgeschichtliche Forschung der Psychoanalyse ... verhilft zur Kenntnis religiöser Entwicklungsgesetze, ohne in die Grundfehler der naturwissenschaftlichen Psychologie zu fallen, sie wird dem Historisch-Individuellen wie dem Formalen, Abstrakten gerecht. Sie arbeitet innerhalb der Lebenswirklichkeit und dient dem Leben." In ihrem wissenschaftlichen Zuverlässigkeitsgrad läßt sie sich am ehesten mit der Geschichtswissenschaft vergleichen. Die Stichworte sind hier einerseits Einfühlung, andererseits historisch-kritisches Vorgehen. Die Öffnung der Theologie für die historisch-kritische Methode, mit deren Hilfe die Geschichte so reichlich erforscht wurde, muß nun weitergeführt werden durch eine ähnlich rigorose Öffnung für die psychoanalytische Methode, die der Erforschung der Seelen-Geschichte angemessen ist.31 Als psychoanalytisch orientierte läßt die Religionspsychologie die spekulative oder zwanghafte Begriffsklauberei der bisherigen Religionsphilosophie ebenso hinter sich wie die atomisierenden Tendenzen der beginnenden experimentellen Religionspsychologie.

30

Habermas 1968, 316, 321. Das folg. Zitat Religionspsychologie 399. - Zur SubjektObjekt-Dialektik in der menschlichen Beziehungsdynamik vgl. Stierlin 1971 [13.4], 31

So Pfister in einem Brief an Emil Brunner, 20.9.1927, unveröffentlicht. Vgl. auch WuS 17, 121, Aufgabe 22.

11.2. Psychoanalytische Methode: Wider die herkömmliche Psychologie

419

Neben der Unteilbarkeit gehört die Einmaligkeit, ja Einzigartigkeit des Individuums zum Credo des religiösen Liberalismus, wie es in Adolf von Harnacks klassischem Wort vom unendlichen Wert der Menschenseele anklingt. 32 Der Individualismus läßt sich zuletzt nur religiös begründen. Auch die romantische Rede von historisch gewachsenen Formen und Organismen bezieht diese auf den Schöpfer: Wie jeder Mensch so ist auch jede Epoche unmittelbar zu Gott. Die individualisierende Tendenz gehört auch zur Psychoanalyse, gewissermaßen als der Geschichtswissenschaft der gegenwärtigen Wirklichkeit des Ich. 33 Das psychoanalytische Verfahren dient ja dem Sinnverständnis der individuellen Lebensgeschichte. Das hat Pfister schon zu Beginn des Jahrhunderts deutlich gesehen, wenn er die Notwendigkeit einer theologischen Rezeption der Psychologie damit begründet, neben der generellen müsse die individuelle Heilsgeschichte mit ähnlich zureichenden Mitteln thematisiert werden. Dann könne auch für sie das geleistet werden, was die Methoden der Geschichtswissenschaft für die generelle Heilsgeschichte leisten: Aufdeckung der Entwicklungsgesetze und Rekonstruktion des Entwicklungsverlaufs. 34 Mit der endlich gefundenen psychoanalytischen Methode war dann völlig klar, daß zugleich auch viel für das "praktische Einzelleben", für "Menschenkenntnis und Menschenbehandlung" herausspringt. Bei aller Individualisierung und therapeutischen Abzweckung hat Pfister immer an der Notwendigkeit festgehalten, die individuelle Frömmigkeit kausalgenetisch zu erforschen und allgemeinere Gesetzmäßigkeiten darin zu entdecken. Das ist sozusagen die Art und Weise, wie das Allgemeine im Besonderen und Einzelnen wirkt. Ohne solche Ursachenforschung könnte es keine wissenschaftliche Religionspsychologie geben, die nicht nur einzelne religiöse Phänomene beschreiben und verstehen, sondern bis zu einem gewissen Grade auch erklären will. Gerade mit diesem Anspruch, obgleich meist in "religionshygienischer" Absicht vorgetragen, hat Pfister ja immer wieder Entrüstung und Unverständnis hervorgerufen. Besonders heftig fiel das Kopfschütteln deshalb aus, weil seine Erklärungsansätze von bestimmten psychoanalytischen Grundkonzepten ja nicht zu trennen waren: Abhängigkeit der religiösen Vorstellungen von der Elternbeziehung, unbewußte, gar sexuelle Motive in der Frömmigkeit u.ä.. Doch damit ist zugleich der allmähliche Paradigmenwechsel der

32

A.v. Harnack 1900/1950, 38.

33

Frei nach R.St. Lee, der das Christentum als eine "Geschichtsreligion, auch der gegenwärtigen Wirklichkeit des Ich" bezeichnet (Thomas 1953/1977. 232). 34

Unterlassungssünden (1903). 132, das Folg. Kampf 15, SD 17.

420

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

Religionspsychologie bezeichnet, die bisher im wesentlichen mit der Schleiermacherschen Trias und mit dem Gegensatz von Vorstellung und Affekt gearbeitet hatte. Immerhin hat auch Pfister noch Ansätze einer psychoanalytisch orientierten Religionspsychologie erleben können, die über den Kreis der psychoanalytischen Bewegung i.e.S. hinausreichten. Zu nennen sind vor allem die Norweger Harald und Kristian Schjelderup. Im Zuge eines längeren Mitteleuropa-Aufenthalts waren die Brüder 1927 bei Pfister in Zürich, zeitweise als Klienten, zeitweise als Wissenschaftler. Nach eigener Aussage absolvierten beide eine Analyse, teils in der Schweiz (drei Monate), teils über einen längeren Zeitraum in Norwegen. 35 Den älteren, Harald Krabbe Schjelderup, kennen wir bereits durch seinen Brief über den besonderen Behandlungsstil Pfisters, den er im Sommer 1927 in Zürich erlebt hatte [8.4], Er war Philosophie- und Psychologieprofessor. In eben diesem Jahr 1927 veröffentlichte er das erste psychoanalytisch orientierte Lehrbuch der Psychologie (deutsch 1928, Neubearbeitung 1957) und blieb auch weiterhin mit der Psychoanalyse befaßt. Der jüngere, Kristian Schjelderup, war Theologe. Sein bewegter Lebenslauf zeigt mehrere tiefe Einschnitte in seiner kirchlichen Karriere und in seinen Lebensumständen, die deutlich auf seine eigene Psychodynamik zurückweisen. Neben dem Hinweis auf diese persönliche Problematik attestiert Pfister ihm eine enorme Begabung und weist mehrfach auf sein "schönes" Buch über die Askese hin.36 Nach Informationen aus damaligen Psychoanalytikerkreisen haben ihm seine kirchlichen Vorgesetzten wegen seiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse die Ausübung des Seelsorgerberufes untersagt. Nach neueren Forschungen 37 ist zu vermuten, daß diese zeitweiligen Schwierigkeiten noch grundsätzlicher mit seinem kämpferischen und eigenwilligen Liberalismus zusammenhingen. Obwohl er später sogar Bischof wurde, blieb sein Bekenntnisstand in der norwegischen Staatskirche umstritten. Neben anderen bedeutsamen Arbeiten legten die Schjelderups 1931 eine eindrucksvolle Untersuchung über "Drei Haupttypen der religiösen Erlebnisformen und ihre psychologische Grundlage" vor. Auf der Basis ausführlicher Fallberichte aus (eigenen) psychoanalytischen Behandlungen unterscheiden sie die Typen einer Vater-, einer Mutter- und einer Selbstreligion. Über das bei Freud einseitig vorherrschende Vatermotiv wollen sie das Muttermotiv und das (narzißtische!) Selbstmotiv in die Religionspsychologie einführen. Dazu verweisen sie, neben Analytikern wie E. Jones, E. Fromm und F. Alexander auch ausdrücklich auf Pfister. 38 Eine klare Parallele zu diesem Entwurf finden wir erst wieder bei Erik H. Erikson. In seinem Lutherbuch beschreibt er die drei großen menschlichen Sehnsüchte, deren Symbole der Hauptgegenstand der Religion sind. Ansonsten ist in der Religionspsychologie das Dreierschema geläufiger, das, ohne den Narzißmus, anknüpft an Freuds Phasen der Triebentwicklung bzw. Eriksons Weiterentwicklung derselben: oraler.

35

Br. 117-119, Schjelderup/Schjelderup 1932, 25.

36

Br. 119, 116, PDE 90, Bibl. Rez. Nr. 34. - Das Folg. nach: Die psychoanalytische Bewegung 3, 1931, 69. 37 Heling 1992, 48 (Kurzbiographie), vgl. auch 33. - Bibliographische Hinweise bei Nase/Scharfenberg 1977, 430 f., zu Harald Schjelderup bei Malan 1972, 360. 38 Schjelderup/Schjelderup 1931, deutsch 1932, 107, zu den drei Typen 24, 57-60, 98 f. Pfister selbst unterscheidet gelegentlich zwischen einer Vater- und einer Mutterreligion (CA 431).

11.3. Freies Christentum: Wider theologisch-kirchliche Zwänge

421

analer, ödipaler Konflikt.39 Der fruchtbare Ansatz der Schjelderups wurde damals wenig beachtet, wie so vieles, was nach 1933 einfach überrollt oder vergessen und erst in den 60er und 70er Jahren wieder erinnert und aufgegriffen wurde.

3.

Freies Christentum: Wider die Zwänge in Theologie und Kirche "Die heutige Glaubenslehre ist antiquarisch, abstrakt, scholastisch, unwissenschaftlich, desorientiert; sie ist auf metaphysisch-spekulative Abwege geraten, sie befaßt sich nicht mit der ganzen, lebendigen Persönlichkeit, sie knüpft nicht an das Phänomen der einzelnen Glaubenstatsachen an und weiß sie nicht wissenschaftlich exakt zu bearbeiten, sie hat den Sinn für das Persönliche, Geniale, Prophetische zerstört."

In diesen Worten gipfelt bereits 1905 Pfisters Anklage gegen die herrschende Theologie. In der Selbstdarstellung von 1927 tauchen sie unverändert wieder auf. Und 1946 (also nach "Das Christentum und die Angst") meint Pfister, kein Mensch habe seinen Aufsatz damals beachtet, und auch er selbst sei nicht zum ersehnten Ziel einer wirklichen Glaubenswissenschaft gekommen, wenigstens zu keiner wissenschaftlich formulierten.40 Zu Beginn des Jahrhunderts geht die Stoßrichtung hautpsächlich gegen die rationalisierende und formalisierende Tendenz der Glaubenslehre. In den folgenden Jahrzehnten richtet Pfister seine Kritik verstärkt gegen die Orthodoxie, ja überhaupt gegen die "Kirchlichkeit" der Glaubenswissenschaft. Sogar der sonst so geschätzte Schleiermacher muß sich in diesem Punkt herbe Kritik gefallen lassen. In seiner Konzeption der Dogmatik und in seinem Ideal des theologischen Wissenschaftlers, der zugleich Kirchenmann oder doch jedenfalls von kirchlichem "Interesse" bestimmt sein soll, findet Pfister eine Absage an die wissenschaftliche Autonomie der Glaubenswissenschaft. Damit habe der Kirchenmann den gelehrten und Philosophen in ihm verschlungen. Und in Bezug auf ihre Entwürfe der Praktischen Theologie müssen sich Schleiermacher, Achelis und sogar der erzliberale Niebergall "Kircheninteresse" vorwerfen lassen - letzterer, weil

39 40

Z.B. Heije Faber 1973, bes. 72 f., 112, 118 ff. - Erikson 1958/1970 a, 291 f.

Brief an Prof. Dr. Adolf Keller, Genf, 27.12.1946, unveröffentlicht. Mit den zitierten Worten faßt Pfister in SD (7) die wichtigsten Thesen aus dem Aufsatz von 1905 zusammen: Das Elend unserer wissenschaftlichen Glaubenslehre. Vgl. CA XIV f.

422

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

er seine Praktische Theologie versteht als "Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung".41 Wie kommt es zu dieser eigentümlichen Abgrenzung des Pfarres Pfister gegen die Kirche? Hat er nicht selbst sein Berufsleben lang in der Gemeindearbeit gestanden? Der auffällige Affekt gegen alles Kirchliche hängt biographisch mit seiner höchst ambivalenten Einstellung zur eigenen Mutter und zur Mutter Kirche zusammen [4.5]. Von der Sache her formuliert Pfister ein doppeltes Interesse, das ihn immer wieder die Gefahr einer kirchlichen Engführung beschwören läßt: das Interesse an der Freiheit und an der Sachgemäßheit der Glaubenswissenschaft. Die Freiheit der Glaubenswissenschaft - und darin ist die Freiheit des Glaubens eingeschlossen - ist nur möglich ohne institutionelle Vorgegebenheiten (Kirche) und normative Voraussetzungen (Dogma). Pfister spricht vom ekklesiastischen Sündenfall der Glaubenswissenschaft. Ihren zweiten Sündenfall nennt er den intellektualistischen. Denn sachgemäß kann die Glaubenswissenschaft nur sein, wenn sie sich dem eigentlichen Glaubenssubjekt zuwendet, und das ist die lebendige religiöse Persönlichkeit, die sich "von Gott im Innersten erfaßt" fühlt.42 "Christlicher Glaube ist doch offenbar jede lebendige Beziehung auf Christus, alles Leben in Christus und alles Leben Christi im einzelnen Menschen." Auch in dieser christologischen Präzisierung bleibt das eigentliche Objekt der Glaubenswissenschaft die konkrete Frömmigkeit, die unmittelbaren Lebensäußerungen des Glaubens. Sie sind primär im Gefühl und Erleben verankert, also im emotionalen Bereich, doch kommen sie natürlich auch in religiösen Gedanken und Vorstellungskomplexen, in Kultushandlungen usw. zum Ausdruck. Darum gilt es den intellektualistischen Grundirrtum zu vermeiden, als sei allein die religiöse Vorstellungswelt wissenschaftlich zu bearbeiten, d.h. auf ein Lehrsystem hin zu ordnen. Pfister denkt an den Weg von der Vorstellung über den Begriff zur Lehre. Selbst so freie Geister wie Heinrich Lang und A.E. Biedermann verfielen in der Nachfolge Hegels

41

Aufgabe 10, 43 = Die Aufgabe der Wissenschaft vom christlichen Glauben in der Gegenwart. Vortrag auf der Jahresversammlung 1922 des Schweizerischen Vereins für freies Christentum, Zürich 1923. 42

Ebd. 8 f., 13, 47, 28, das folg. Zitat 8.

11.3. Freies Christentum: Wider theologisch-kirchliche Zwänge

423

dieser intellektualistischen Engführung, indem sie wie die alte Orthodoxie Glaubenslehre und Dogmatik gleichsetzten. "Und weil diese Dogmatik sich nur mit Lehren der Bibel und der Kirche befaßt, wird sie aus einer Wissenschaft vom lebendigen Glauben eine Lehre über Lehren statt über Leben."43 Nach Pfisters Überzeugung hat diese "rationalistische Kardinalsünde" ungeheuer viel Unglück über die Menschheit gebracht. Denn zwangsläufig traten statt der primär emotionalen Liebe, die Jesus in dem Dreifachgebot der Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe als den Sinn des Lebens erkannte, ihre intellektuellen Niederschläge, die rationalen Glaubenssätze, in den Vordergrund. Sachgemäß kann die Wissenschaft vom Glauben aber nur sein, wenn sie ihn in seiner konkreten Dynamik erforscht, d.h. wenn sie Liebeswissenschaft wird. So zielt Pfister über die Reflexion seiner analytisch-seelsorgerlichen Arbeit hinaus auf einen Neuentwurf von Theologie im ganzen, wie er in "Das Christentum und die Angst" postuliert und anfangsweise auch konzeptualisiert ist.44 Die beiden Engführungen, die intellektualistische und die ekklesiastische, sind deutlich aufeinander bezogen. Bestimmt man den Intellekt zum Ort oder doch zum Medium der Religion, so wird das Be-greifen zur entscheidenden religiösen Äußerungsform. Das De-finieren dient der Abgrenzung von anderem. Zur Selbst-Definition einer Kirche oder Konfession ist eben ein "Gemeingefühl" viel schlechter geeignet als ein gemeinsames Begriffssystem (die rechte Lehre, die Orthodoxie). Auf ein gemeinsames Gefühl kann man die Mitglieder einer Gruppe kaum verpflichten, wohl aber auf die gemeinsame Anerkennung von Glaubenssätzen. So dient die Dogmatik als System von Glaubenssätzen der Selbst-Definition von Kirchen und Konfessionen. Sie kontrolliert den Glaubensstand der Mitglieder und übt damit Macht über sie aus - wie Pfister in konsequenter Einäugigkeit diese Linie auszieht. Die intellektualistische Verengung der Glaubenswissenschaft gehört also eng zusammen mit der ekklesiastischen "Einschränkung auf die offiziell

43 44

Ebd., das folg. Zitat AS 25.

So auch Heims 1978 a. - Eigentlich sollte aber, seit dem Erlebnis im Gebirge [10.3], dieser Gesamtentwurf ein Werte über die Liebe sein, in vier Bänden, über die Liebe des Kindes, die Gattenliebe, die religiöse Liebe und die Menschenliebe. Erschienen sind nur die beiden ersten Bände (= LK und LE).

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

424

abgestempelte Lehre, diesen kirchlich approbierten Niederschlag des Glaubens". Letztlich wird so statt des einzelnen Menschen die Kirche zum Glaubenssubjekt, und das ist die katholische Lösung. 45 Gegenüber Kirche und Dogma stellt Pfister den einzelnen und seine Frömmigkeit heraus: "Der Kirchenglaube war stets anfänglich Besitz nur einzelner". Die Religion fängt bei der Einzelpersönlichkeit an, und die Glaubenswissenschaft will "das Schöpferische und Geniale, das Irrationale und Prophetische der religiösen Inspiration und Intuition" verstehen und erklären. In ihrem normgebenden Teil erklärt die Glaubenswissenschaft "das Leben des Einzelnen im Vatergott Jesu als das Wichtigste". Im religiösen Genie haben wir das Phänomen Religion gleichsam verdichtet vor uns. Das gilt ebenso für den religiösen Neurotiker; manchmal finden wir beide nah beieinander. Nach Pfister ist alle Erkenntnis, auch die religiöse, psychologisch vermittelt. 46 Darum gehört die Religionspsychologie, natürlich als psychoanalytisch arbeitende, ins Zentrum der Glaubenswissenschaft. Ihre Methodik wurde an und in der Analyse der einzelnen Persönlichkeit gewonnen. Sie nähert sich dem eigentlichen Kern der Religion, indem sie den Zusammenhang vorrationaler Motive und unbewußter Triebkonflikte mit den religiösen Vorstellungen und Handlungen untersucht. Eine solche Glaubenswissenschaft kann, ungeachtet ihrer Autonomie, die praktische Theologie enorm befruchten. Deren Ziel, das Ziel also "des seelsorgerlichen [!] Wirkens in Predigt, Jugendunterricht und Einzelseelsorge" sieht Pfister dann in der "Beihilfe zu einer gesunden Frömmigkeit". Und das kann nur heißen, "daß die einzelnen Menschen mit dem Geiste Jesu Christi erfüllt werden ... Ob ein schön geregeltes, stramm ausgebautes Kirchenwesen erwachse, ist ihr [der praktischen Theologie] weit weniger bedeutsam." Die lebendige Frömmigkeit, die Pfister einem durch starren Buchstabenglauben und hierarchische Organisation bestimmten Kirchenwesen immer wieder gegenüberstellt, ist streng christologisch bestimmt. Die Teilhabe an der "ecclesia invisibilis aller derer, die von Christus lebendig erfaßt sind",

45

A u f g a b e 9 , 12. Pfister nimmt hier zustimmend Wilhelm Herrmann auf. - Die folg.

Zitate ebd. 15, 38, 44. 46

S o wörtlich in dem Abschn. 2 zitierten Brief an Emil Brunner vom 2 0 . 9 . 1 9 2 7 . - Zum

Folg. vgl. A u f g a b e 17 ff., Zitate 9, 4 3 f.

11.3. Freies Christentum: Wider theologisch-kirchliche Zwänge

425

der "ecclesia invisibilis aller derer, die von Christus lebendig erfaßt sind", bedeutet zugleich die Freiheit von jedem Dogma, Gesetz und Kirchentum. Damit wird aber die Kirche als soziale Institution "nur Mittel zum Zwecke christlicher Lebensentfaltung". In ihrer dienenden Funktion, als Förderung der "sozialen Frömmigkeit", die zum Christentum gehört, erkennt Pfister die vorfindliche Kirche an. Ohne Gemeinschaft kann keine christliche Frömmigkeit sein, doch sieht er als Sinn und Ziel dieser Gemeinschaft "keineswegs nur die Kirche, d.h. [!] diese oder jene Organisation gleichgesinnter Frommer, sondern die ecclesia invisibilis, die communio sanctorum, die über alle Konfessionen hinausgeht, weit wie das Gottesreich, beschränkt einzig durch die Grenzen der Menschheit". Parallel zu dieser Universalisierung der Kirche kämpft Pfister gegen die Art von Wissenschaft, die der Kirche als begrenzter Organisation entspricht; das kann nur Kirchenlehre, Dogmatik sein. Wahre Glaubenswissenschaft dagegen - Pfister kann hier nicht anders als antithetisch denken - ist nur eine solche Theorie von Glaube und Frömmigkeit, die sich den Normen der allgemeinen Wissenschaftslehre einfügt und so als freie Forschung der universitas literarum zugehört. 47 Wir könnten, analog zur Kirche, geradezu von einer Universalisierung der Glaubenswissenschaft sprechen. Damit geht eine Schwerpunktverlagerung von der systematischen zur praktischen Theologie einher, wie sie heute mit dem Einbezug der Humanwissenschaften in die theologische Arbeit zumindest tendenziell verwirklicht ist. (Mit der Psychoanalyse hapert es freilich noch.) Beide Ausweitungen, die der Kirche und die der Wissenschaft, sollen aber nicht zu abstrakter Spiritualisierung führen, sondern zu konkreter Verantwortung des einzelnen, der im freien Glauben und im freien Forschen vor Gott steht. Gegenüber allem 'dazwischen' war Pister tief abgeneigt. Er empfand es als starr, als einengend und festhaltend. So verstehen wir noch einmal besser, daß seine mehrfache Entscheidung gegen die Institution Universität nicht eine für die Institution Kirche war, sondern wirklich eine Entscheidung für das 'Leben'. Kirchliche Lehre war ihm ebenso fremd wie wissenschaftliche Lehre. Pfister hat keine Schule gebildet und hatte auch sonst wenig Schüler im engeren Sinne. Und doch scheint mir bei und mit Pfister ein bestimmter, recht seltener Typ von Theologie angedeutet. Für ihn gehören freies Glauben und freie

47

Aufgabe 12. Zur Universalisierungstendenz vgl. kritisch Kap. 3.4.

426

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

Glaubenswissenschaft zusammen wie Liebe und Wahrheit. Sein freies Christentum ist eingespannt zwischen den Konzepten der religiösen Persönlichkeit und der universalen Weite des Reiches Gottes (ecclesia invisibilis). Das freie Chrsitentum muß sich nicht nur behaupten gegenüber der Dogmatik als Kirchenlehre, sondern auch gegenüber der Institution Kirche selbst - es ist deren andere Seite, wie wir gut protestantisch, aber auch im Blick auf andere Liberalismen ergänzen dürfen. Denn ohne das institutionelle Widerspiel ist liberale Existenz nicht sinnvoll denkbar. Natürlich erkennt auch Pfister die Einsicht voll an, die bereits in Schleiermachers Glaubenslehre klassisch formuliert ist: "Das fromme Selbstbewußtsein wird wie jedes wesentliche Element der menschlichen Natur in seiner Entwicklung notwendig auch Gemeinschaft, und zwar einerseits ungleichmäßige fließende, andererseits bestimmt begrenzte, d.h. Kirche." 48 Gemeinschaft gehört zur Religion, weil sie zum Menschen gehört. Pfister hat sich immer wieder mit den Problemen menschlicher Gemeinschaftsbildung auseinandergesetzt. In "Das Christentum und die Angst" stellt er das Ideal einer starken, "vermassungsfreien" Gemeinschaft auf, in der die gemeinsame Gestaltungsidee die höchste Autorität genießt. Auch hier ist Führerschaft notwendig, doch erlangt der Führer niemals dieselbe Bedeutung und Macht wie in der Masse. (Im übrigen unterscheidet Pfister zwischen primitiver "Tiefmasse" und kulturell und organisatorisch differenzierterer "Hochmasse".) Der Massenführer stellt ein ambivalent besetztes Vatersurrogat dar, während im Gemeinschaftsverband als "Familienderivat" neben Vater und Mutter auch die Brüder und Schwestern eine wichtige Rolle spielen. Diese Gemeinschaft verbindet ein Minimum notwendiger sozialer Organisation mit einem Maximum persönlicher Freiheit und individueller Eigenart der einzelnen Mitglieder. 49 Die Kirche als christliche Gemeinschaft hat sich diesem Ideal zu fügen, ja es gehört zum Wesen des vollentwickelten Protestantismus. Unbefangen

48 49

Schleiermacher: Der christliche Glaube, § 6, Leitsatz.

CA 111 ff., bes. 112, 114. Zu Tief- und Hochmasse vgl. ebd. 89 ff. Dem ja nicht unbelasteten Begriff Gemeinschaft ist Masse gegenübergestellt, nicht Gesellschaft, wie klassisch bei Ferdinand Tönnies (1887). Hier muß man sich vor falschen Schubladen hüten. - Als sozialpsychologische Beiträge Pfisters s. etwa Bibl. Nr. 58 f., 100, 122, 146 f., 256.

11.3. Freies Christentum: Wider theologisch-kirchliche Zwänge

427

spricht Pfister auch 1944 von Jesus Christus als dem Führer der christlichen Glaubensgemeinschaften, insofern er den göttlichen Liebeswillen verkörpert und verwirklicht. Gemeint ist eine geistige Führerschaft, die den einzelnen nicht bindet, sondern befreit "durch Liebe und Duldsamkeit". 50 Freilich ist es, um bei Schleiermacher zu bleiben, zunächst eher die Gemeinschaft als "ungleichmäßige, fließende" denn als "bestimmt begrenzte", die Pfister hier vor Augen steht. Er denkt einerseits an das "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind ..."", andererseits an eine ökumenische Gemeinschaft aller Christen. Die überkonfessionellen Einigungsversuche der Christenheit sind eine notwendige Konsequenz aus der Katholizität der Liebe Christi. Aber auch hier ist weniger die soziale Gestalt wichtig als die gemeinsame Idee bzw. der gemeinsame Bezug auf die Liebe Christi. In einem seiner letzten Aufsätze geht Pfister so weit, die kirchliche Ökumene als eher statistische gegen die im Lebenswerk des Freundes Albert Schweitzer repräsentierte Ökumenizität der christlichen Liebe auszuspielen. In dem ekklesiologischen Abschnitt des Werkes von 1944 kommen "Kirche und Glaubensgemeinschaft" (Titel) als soziale Institutionen positiv nicht vor, sondern nur in negativer Abgrenzung von den "Zwangskirchen". 52 Pfister bleibt zutiefst skeptisch gegenüber jeder 'festeren' sozialen Organisation, weil sie die Individualität des Einzelnen tendenziell ebenso bedroht wie die Universalität der Idee: "Nicht mehr die Masse als Ganzes, die magisierte Zwangskirche, sondern die in Liebe nicht nur mit den Glaubensbrüdern, sondern mit allen Menschen verbundenen Einzelnen sind die eigentlichen Träger des Christentums." Daraus ergibt sich für Pfister die Notwendigkeit einer demokratischen Gemeindeverfassung, wie er sie schon für die älteste christliche Urgemeinde

50

Ebd. 506, vgl. 507-509.

51

"Zwei genügen bereits ... Wo zwei in Christi Liebesglauben oder Glaubensliebe beisammen sind, da ist bereits christliche Kirche" (ebd. 507). Die Zweierbeziehung ist auch die soziale Grundform von Seelsorge und Psychotherapie! 52 Ebd. 504 ff., das folg. Zitat 506. - Ähnlich wie Schweitzers Lebenswerk (A. Schweitzer u. die ökumenische Bewegung, 1955, 217 f.) beurteilt Pfister auch die geistigkulturelle Arbeit in der Mission, wohingegen die statistische Darstellung der Missionserfolge die Gefahr der Veräußerlichung mit sich bringe (Bibl. Nr. 65, S. 4).

428

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

reklamiert. Erst danach entstand das monarchische Prinzip der Kirchenleitung. Was nun aber aus dieser einzigartigen Vorrangstellung der religiösen Individuen und aus dem (nicht sehr klar damit verknüpften) Primat der Demokratie folgt, erörtert Pfister nicht weiter. Was die einzelnen Glaubenden miteinander verbindet, mag auch in je verschiedenen Sozialformen Gestalt gewinnen und wird dann als eine Art notwendiges Übel betrachtet. Gemeinde und Kirche als rechtlich verfaßte soziale Gebilde sieht Pfister so gut wie nur via negativa, in den Formen ihrer Entartung, wozu die Kirchengeschichte natürlich reiches Anschauungsmaterial liefert. Auf diese Weise kommt er nicht zu einer wirklich kritischen Auseinandersetzung mit den Problemen von Macht und Verfügungsgewalt, von Abhängigkeit und Freiheit in der Gruppe, die ja mit dem Problem Kirche unweigerlich gegeben sind. Kritisch kann die Auseinandersetzung nur sein, wenn das Gegebene und das Aufgegebene gegeneinander gehalten und aufeinander bezogen werden. Stattdessen stellt Pfister nur die negativen Wirklichkeiten und Möglichkeiten der Kirche dar, um dagegen fast antithetisch das protestantische Gemeinschaftsideal zu setzen.53 So bleibt uns hier der Eindruck, daß ein wichtiger Bereich der Wirklichkeit, die Strukturen von Macht und Recht, pauschal behandelt, zum Teil souverän ignoriert wird. Eine gewisse Tendenz zur Spiritualisierung ist nicht von der Hand zu weisen. Sie scheint Pfister aber nicht bewußt zu sein. Seine Lebensumstände nötigen ihn an dieser Stelle nicht zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung. Es gelang ihm, sich mit seiner Kirche ohne Identitätsverlust zu arrangieren. Unterscheiden wir im Kirchenbegriff einen institulio- und einen congregalio-Aspekt, so ist es die Kirche als institutio, als Stiftung, die Pfister links liegenläßt, um eilig eine ideale congregatio zu konstruieren. Die Institutionalität von Kirche bleibt theologisch unbegriffen, allgemein eine Schwachstelle des Kulturprotestantismus. Als Stiftung aber existiert die Kirche nur im Rahmen des unabänderlichen Stifterwillens und von dem durch ihn bereitgestellten Stiftungskapital; darum ist sie ein historisch-soziologisches Gebilde mit einer Verfassung, mit Ämtern usw. Als reine congregatio beruhte die Kirche auf dem gemeinsamen Willen oder dem "Gemeingeist" derer, die ihr zugehören. Sie wäre, mit

53 So die Kopfleiste CA 507. Die Definition des kritischen Verfahrens frei nach Schleiermacher, KD § 32, vgl. § 23. In diesem Sinne ideologiekritisch geht Pfister nur im zweiten, historischen Teil von "Das Christentum und die Angst" vor. Hier nimmt er nicht nur die Theologie, sondern auch das Leben der großen Gestalten der Christentumsgeschichte samt seiner gesellschaftlichen Determinanten in den Blick und hält beides gegeneinander.

11.4. Liebe gegen Angst und Zwang

429

Schleiermacher, wirklich nur als das "Zusammentreten der einzelnen Wiedergeborenen" zu verstehen. 54 Zum Verständnis Pfisters ist der Bezug auf Schleichermacher meistens erhellend. Für ihn ist Religion höchste Individualität und zugleich Einheit mit dem Universum. "Wo diese Dialektik gelebt wird, da ist die Kirche" (W.-D. Marsch55) - so hat später auch das freie Christentum versucht, sein Kirchenverständnis gegenüber Konfessions- und Staatskirche herauszustellen. In der vierten seiner "Reden über die Religion" entwickelt Schleiermacher daraus die Sozialform der "freien Geselligkeit". Damit könnte die Sozialform Kirche so etwas verkörpern wie einen Raum permanenter Kommunikation in einer organischen, tendenziell herrschaftsfreien Gemeinschaft. Selbst ein Bestandteil der Gesellschaft, nimmt sie doch ein Stück weit eine ideale Gesellschaft vorweg, als utopisches Leitbild nämlich einer societas christiana Semper reformanda. Dies wäre, mit der christlichen Liebe als Norm und Kriterium, Pfister aus dem Herzen gesprochen.

4.

Liebe gegen Angst und Zwang

Pfisters Interesse an einem universalistischen Verständnis von Kirche ist das Interesse, gegen alles Vorgegebene und damit Ein- und Abgegrenzte die schlechthinnige Universalität der Idee zu setzen. Da die universale Idee für ihn material durch das Liebesprinzip bestimmt ist, gerät ihm alle Institutionalisierung schnell unter den psychologischen Verdacht zwanghafter Absicherung durch formale, willkürliche Grenzen sowie unter den ethischen Verdacht illegitimer, schädlicher Machtausübung. An dieser Stelle ist liberales und psychoanalytisches Pathos bei Pfister unlösbar miteinander verbunden. Denn seine tiefe Abneigung gegen die kollektiven Institutionen verbindet sich mit dem täglichen Kampf des analytischen Seelsorgers gegen die individuelle Zwangsneurose. Die Abwehrformation des Zwangsneurotikers, in gewisser Weise seine individuelle "Institution", ist es, auf die der Seelsorger dauernd stößt. Neben dem hysterischen war der zwangsneurotische Formenkreis der Bereich psychischer Störungen, der zu Pfisters Zeit am ausführlichsten beschrieben und am besten erklärt war. Als Praktiker ging Pfister von der Symptomatik aus und bevorzugte einfache Einteilungsgesichtspunkte. So lautet seine bei weitem häufigste Diagnose Angst- und Zwangsneurose

54 Schleiermacher: Der christliche Glaube, § 115, Leitsatz. Vgl. O. Weber II, 566 f.; Marsch 1970, 190 f. 55

Marsch 1970, 31 f., zum Folg. vgl. 32 ff., bes. 37.

430

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

(daneben noch pathologische Introversion). 56 Die Berechtigung, Angst und Zwang zusammenzunehmen, ist bei ihm nicht weiter genetisch hergeleitet; er geht zunächst einfach von der Erfahrung aus, daß Ängste und Zwänge die häufigsten und deutlichsten Symptome in der seelsorgerlichen Praxis sind. Aber auch, wenn wir den zwangsneurotischen Konflikt genetisch und strukturell sehen, stellen wir fest, daß die Angst eine wichtige Rolle spielt. Durch verinnerlichte Verbote und Angst vor Strafe entsteht eine tiefe Abwehr gegen libidinöse und aggressive Triebimpulse. Die unbewußt als enorm gefährlich erlebten Triebkräfte können nur gebannt werden durch ein "System", durch bestimmte Rituale oder Regeln. So muß sich das Ich durch einen Waschzwang hundertmal am Tag der Reinheit versichern. So versucht man, den Konflikt zwischen verschiedenen Triebwünschen in einem denkerischen System einzufangen und mühevoll auszugleichen: die Intellektualisierung als bevorzugte Versuchung für Theologen. Natürlich gelingt die Verdrängung nicht vollständig, das Verdrängte setzt sich oft hinterrücks durch." Heraus kommen Menschen, die in ihren Ich-Möglichkeiten eingeschränkt und verarmt sind, weil ihr Ich seine relative Freiheit nur leben kann, wenn es sich selbst mit Hilfe eines Kontroll- und Zwangssystems dauernd versichert, daß alles "in Ordnung" ist. Solche Menschen müssen sich ständig absichern, abgrenzen, kontrollieren, ihre selbstgesetzten Regeln einhalten. In Beziehungen legen sie es oft auf einen Machtkampf an und versuchen, andere in ihr System zu zwingen. Diese Menschen hat Pfister zuerst im Blick, wenn er von Angst- und Zwangsneurose spricht. Die Angst ist bei ihnen ins Zwangssystem verbannt, dort gewissermaßen verdichtet und zugleich femgehalten. Manifest tritt die Angst nur auf, wenn das Abwehrsystem einmal unerwartet gestört ist: Die Unmöglichkeit, sich zu waschen oder den Schreibtisch in dem Zustand zu belassen, in dem er immer war und immer sein wird ... Überfallartige Glaubenszweifel bzw. Zweifel am "System", die zu endlosem Grübeln führen. Die Angst bei plötzlichen, als chaotisch erlebten Triebdutchbrüchen usw. Die Angst des Zwangsneurotikers ist nur eine der mannigfaltigen Formen neurotischer Angst. Bei fast jeder neurotischen Störung, nicht nur bei der klassischen Angstneurose mit ihrem Sonderfall Phobie, kommt Angst zum Ausdruck. Doch bleibt die liebes- und damit lebenseinschränkende Blockade des Zwangsneurotikers, seine "ängstliche" Fixierung auf System, auf Tradition und Normen, für Pfister das bevorzugte Paradigma der neurotischen Liebeshemmung. Wir dürfen sagen, die Zwangsneurose war sein Wunschgegner und der Zwangsneurotiker sein idealer Klient. Dieser Klient kann selbst wenig Liebe geben, er muß "sparsam" damit sein. Auch

56 Diese drei Typen finden sich z.B. nebeneinander in Bibl. Nr. 59, S. 148 f., hier bezogen auf kranke Frömmigkeit.

In der Religionspsychologie ist es immer noch Theodor Reik, der diese Dynamik am brillantesten herausgearbeitet hat. Vgl. vor allem: Der eigene und der fremde Gott, 1923; Dogma und Zwangsidee, 1927, darin als typischen Abschnitt "Zweifel und Hohn in der Dogmenbildung", 55 ff. 57

11.4. Liebe gegen Angst und Zwang

431

sonst ist er sparsam und pünktlich, sauber und ordentlich. Darauf und auf seine moralische Strenge ist er stolz. Er bevorzugt eher starre Formen und Regeln, auch in seinen Beziehungen. Er bleibt gebunden an den toten Buchstaben statt an den lebendigen Geist (der Liebe). Er kann nichts wegwerfen, auch das älteste Zeug muß noch "verwertet" werden. Er sammelt und hortet alles, angeblich aus vernünftiger Vorsorge, in Wirklichkeit aus Angst vor dem Verhungern bzw. als Kompensation lebendiger Beziehungen. Er konserviert gern tote Produkte und versucht, sie auf magische Weise zu verlebendigen - ein Leben aus zweiter Hand. Dagegen neigt Pfister selbst eher zum anderen Extrem. Er strahlt Wärme aus, einmal jünglingshaft schwärmerisch, ein anderes Mal mit der freundlichhumorvollen Gelassenheit eines älteren Herrn. Er idealisiert gern und schnell, er ist rasch begeistert und versteht es, andere zu begeistern und mitzureißen. Er würde sich eher in Liebe verströmen, als zu sparsam damit zu sein. Daß auch der Drang nach "überschwänglicher Liebesgabe" noch in den analen Bereich gehört, gewissermaßen als Durchfall statt Verstopfung, hat er selbst gesehen. 58 Aber seine sympathischere Variante des analen Charakters ist nicht die gewöhnliche Form der Transformation analer Fixierung in eine Symptomoder Charakterneurose. Zu Pfisters Zeiten jedenfalls - das Realitätsprinzip, das die Herausbildung spezifischer Neuroseformen und Charaktertypen entscheidend prägt, hat ja selbst eine geschichtliche Dimension 59 - dominierte die klassische Form der Zwangsneurose und des Zwangscharakters. An einem Punkt können wir immerhin eine Parallele ziehen. Der gewöhnliche Zwangsneurotiker ist fixiert aufs Festhalten, Eingrenzen, Kontrollieren, zuletzt auf die Struktur von Macht und Herrschaft. Nun dienen Pfisters Liebesenthusiasmus und sein idealistischer Schwung zwar nicht dem analen Machtkampf, aber tendenziell können sie doch dazu führen, das Gegenüber einzudecken und zu vereinnahmen. Denken wir etwa an die Umstände des Pfisterschen "Dornröschenbriefs" an Dietrich [8.6]. Allerdings ist dies eine andere Form der Machtausübung als die "scheißfreundliche" Manipulation

58 PM 181, Anm. 2 [3.4], - Die fixierte Situation des Zwangsneurotikers ist der Machtkampf des Kindes mit den Eltern während des sog. Sauberkeitstrainings (anale Phase). Zur heutigen Sicht der Zwangsneurose bzw. der zwangsneurotisch dominierten Kommunikation vgl. Junker 1973, 43 ff. Zur Angstneurose und zur Phobie als Sonderfall ebd. 51 ff. 59

Vgl. Berndt/Reiche 1968.

432

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

des durchschnittlichen Zwangsneurotikers, zumal sie bei Pfister ein narzißtisches Unterfutter erhält. Der Gegensatz von Angst und Liebe tritt im Laufe seines Lebens immer deutlicher als die Grundfigur des Pfisterschen Denkens hervor. Die Herkunft des Konzeptes der Angst aufgrund von Liebesstauungen aus dem frühen Neurosenmodell der Libidostauung bei der Aktualneurose haben wir bereits erarbeitet [7.5], Dabei hielten wir besonders fest, daß Pfister offensichtlich an den äußeren (gesellschaftlichen, lebensweltlichen) Determinanten neurotischer Störungen und an deren "quantitativen" Verhältnissen gelegen ist. Fundamental bleibt für ihn immer das Konzept einer Stauung oder Hemmung der Liebesmöglichkeiten, durch die, über verschiedene Zwischenschritte, Angst entsteht. Das Angstsymptom ist das sicherste Signal für eine Störung der Liebe. Doch über ihre Funktion als vernünftige, ja lebensnotwendige Signalangst (i.S. Freuds) hinaus erlangt die Angst bei Pfister den Rang des neurotischen Grundübels par excellence. Übermäßige oder festsitzende Angst läßt der Liebe im weitesten Sinne keine Chance mehr. Die gesunde, relativ angstfreie Persönlichkeit dagegen läßt ihre Libidoströme frei fließen und oszillieren zwischen einer primären und einer sekundären Schicht: zwischen den weitgehend unbewußten Affekten als Äußerungen des Lebens- oder Liebesdranges und den Ich-Anteilen, die das bewußte, rationale Ich repräsentieren und die Beziehung zur Umwelt herstellen. "Vollversittlichung" nennt Pfister die rationale Steuerung und Prägung der elementaren Schicht durch die zweite, sublimierte Schicht. Die Liebe selbst allerdings ist unteilbar. Sie reicht, bildlich gesprochen, von ganz unten bis ganz oben, von der Sexualität über die Liebe zum Nächsten oder zur Mathematik bis zur Gottesliebe. 60 Das läßt sich nicht säuberlich in Schichten auseinanderdividieren. Pfister denkt eher ganzheitspsychologisch als in den Bahnen des alten Schichtenmodells der Persönlichkeit. Eine primäre Angst kennt er nicht. Die Angst ist also auch kein Existential wie bei Heidegger und den Existenztheologen. 61 Sie ist vielmehr

60 61

Vgl. Br. 149, CA 80 (Vollversittlichung), zum Ganzen Kapitel 7.8.

Darum wird Pfister von der Kritik Fritz Buris (1945), aber auch Kurt Niederwimme^s (1962) wenig getroffen. Immerhin will auch Niederwimmer (ebd. 286) nicht leugnen, daß Pfister mit dem Gegensatz von Liebe und Angst bzw. Furcht (l.Joh. 4,18) den Schlüssel zur analytischen Deutung des Evangeliums in der Hand hat. Aber es geht Pfister in der Tat auch um Mengenverhältnisse, um mehr oder weniger Angst, womit Niederwimmer die Dialektik

11.4. Liebe gegen Angst und Zwang

433

ein bestimmter Affekt, d.h. eine gefühlsbestimmte Handlungsdisposition gegenüber der Umwelt, in der die Subjekt-Objekt-Differenz im Sinne einer Beziehungsstruktur, eines dynamischen Wechselverhältnisses von vornherein mitgesetzt ist. Dies läßt sich untersuchen und verändern und zwar in Richtung der Liebe als der optimalen Form dieser Beziehungsstruktur (die zugleich noch einmal über sich selbst hinausweist). Dabei korrespondiert das freie Fließen der Liebesströme zwischen den Menschen mit dem freien Fließen der Libidoströme zwischen den psychischen Instanzen. Es kann freilich nur dann angstfrei erlebt werden, wenn die Funktionen der Innenwelt nicht diffus ineinander übergehen, sondern relativ stabil gegeneinander abgegrenzt sind. Ebenso können auch die zwischenmenschlichen Beziehungen nur dann in relativ angstfreier Wechselseitigkeit erlebt werden, wenn deutlich konturierte Ich- und Selbstrepräsentanzen symbiotische Verkettungen verhindern. Pfister kann dieses Ideal umso leichter aufstellen, als es bei ihm selbst verwirklicht ist. Sein gestalteter Narzißmus läßt ihn aus der Verwobenheit mit einem größeren Ganzen heraus leben [4.6], Und gerade diese primärnarzißtische Grundierung und Tönung trägt wesentlich dazu bei, die innerpsychische und die zwischenmenschliche Dynamik von den Gefahren diffuser Strukturschwäche und symbiotischer Verschlingungen zu entlasten. Warum sonst spricht Pfister vom Gebot absoluter Liebe zu Gott, aber nur relativer zum Nächsten und zu sich selbst?62 In dem biblischen Doppel- bzw. Dreifachgebot: Du sollst Gott von ganzem Herzen lieben und deinen Nächsten wie dich selbst, sieht Pfister das optimale Funktionieren der Liebe ein für alle Mal gültig zusammengefaßt. Er wird nicht müde, auf die "einzigartige emotionale Kraftverteilung" in dieser Trias hinzuweisen. 63 Als Anwalt der christlichen Liebe will er die Bedingungen für die "bestmögliche Liebesverwirklichung" herstellen helfen. Ob dazu nicht auch die vollkommene Verhütung bzw. Ausrottung der Angst gehören müßte, wird immerhin ernsthaft erwogen. Pfister bleibt dann aber dabei, entscheidend für den Christen sei ein solcher Umgang mit der Angst,

der christlichen Existenz preisgegeben sieht (ebd. 287 f.). 62 63

Calvins Eingreifen (1947), 153.

AS 25, vgl. auch PM 554 ff., CA 452 ff. Zum Formelcharakter dieser biblischen Zentralstelle wie der beiden folgenden aus dem 1. Johannesbrief vgl. Kap. 3.1.

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

434

der die L i e b e "möglichst w e n i g beeinträchtigt oder sie sogar b e s t m ö g l i c h fördert". 64 Furcht kann zur Ehrfurcht sublimiert werden. So kann etwa in der von Liebe bestimmten Gottesbeziehung ein "Angstfaktor" bleiben, wie ihn der altehrwürdige Begriff der Gottesfurcht anzeigt. - Überhaupt sei ihm das köstlichste Wort des Neuen Testaments gar nicht 1. Johannes 4,18: Furcht ist nicht in der Liebe .... schreibt Pfister 1946. Als Parole der Angstbekämpfung sei es wohl sehr wichtig, doch eher würde er /. Johannes 4,16 als das größte Symbolum des Christentums bezeichnen.65 An dieser Stelle ist von der amor preaeveniens Gottes in Christus die Rede, die der Christ erkennt und auf die er glaubend antwortet. Auch von daher greift der Vorwurf ethischer Einseitigkeit in Pfisters Auffassung der christlichen Liebe viel zu kurz. N i c h t Liebe und Haß, sondern Liebe und Angst, das wurde zu Pfisters L e b e n s t h e m a . A n g s t k o m m t aus d e m lateinischen angustia = Enge, das hatte er bei seiner ängstlichen, überfürsorglichen Mutter erlebt [4.5]. Ü b e r m ä ß i g e A n g s t schnürt die Brust ein, lähmt und macht starr. Sie führt in passiv erlebte Ohnmacht. D a g e g e n führt die Liebe in die W e i t e aktiv erlebter Lebensgestaltung und großer Ziele. Angst "bindet", Liebe "löst" (erlöst, befreit). N i c h t zufällig benutzt Pfister damit die alten Worte, mit denen im Matthäusevangelium

dem

Petrus

und den

anderen

Jüngern

bzw.

der

G e m e i n d e die V o l l m a c h t zur Sündenvergebung zugesprochen wird. D e n n nicht A n g s t überhaupt, sondern die Schuldangst

erkennt Pfister i m m e r

deutlicher als d a s Hauptgefühl. 6 6 Es ist die G e w i s s e n s a n g s t , die A n g s t d e s Ich vor e i n e m strafenden und rächenden, ja sadistischen Überich.

64

CA 447-449, auch das folg. Zitat. - "Man übersehe ja nicht, daß die durch keine Verdrängungen und keine Angst geschützte [sie!] Liebesethik der Gefahr der Verflachung ausgesetzt ist und leicht in spießbürgerliches, 'leben und leben lassen' ausartet!" (CA 492, ähnlich 116,465 f., 510). Die umgekehrte Gefahr ist neurotische Überhitzung. Zwischen ihr und "verdrängungsfreier Erkaltung" müssen Glaube und Ethik immer wieder einen Weg suchen. 65 Brief an Adolf Keller, Genf, 27.12.46, unveröffentlicht. Zum Verständnis von LJoh. 4,16 ist der Kontext unerläßlich, vgl. bes. V. 9f. und 19. l.Joh. 4,18 ist bereits für Schleiermacher eine wichtige Stelle (Glaubenslehre § 8, Zusatz 1), wie denn die Idee der Liebe in seiner Theologie (vgl. Schultz 1957,79 ff.) deutliche Parallelen zu Pfister aufweist. Fr. Niebergall (1923, 588) läßt uns die narzißtische Dimension dieses Textes ahnen, wenn er von dem hier angestrebten richtigen Gleichgewichtszustand der Seele spricht, der sich aus dem an Gottes Liebe gestillten Gewissen ergibt. Hier gehe es um die Regelung des Selbstgefühles und um Glücksempfinden. 66

Zuerst ausdrücklich in Thesen zum psychoanalytischen Kongreß in Wiesbaden 1932, unveröffentlicht. Vgl. auch NTPsa 425, CA 448. - Vgl. Mt. 16,19 und 18,18 sowie den Aufsatz von 1940: Lösung und Bindung von Angst und Zwang in der israelitischchristlichen Religionsgeschichte, ebenfalls ein Kongreßreferat.

11.4. Liebe gegen Angst und Zwang

435

Der zerstörerischen Macht dieser Instanz kann zumeist nur mit einer ebenso zwingenden Autorität begegnet werden. Dies freilich so, daß dann eine Art innere Umpolung vorgenommen wird, gleichsam eine Operation im Über-Ich, die das Macht-Syndrom selbst tendenziell aufhebt. Die p e r k u t o r i sche Funktion des "Überich-Hammers"67 wird ersetzt durch eine gleichsam hygienische und helfend begleitende. Es soll das Ich stützen und ihm Angebote machen, statt es unter Druck zu setzen: "Du darfst" statt "Du sollst". Pfister spricht auch von der Wendung vom Alten zum Neuen Testament oder von der Ersetzung des juristischen durch den ärztlichen Standpunkt. Auf der religiösen Ebene haben wir es mit der Entmachtung des zürnenden, strafenden Richter-Gottes zugunsten des vergebenden, liebevollgütigen Vatergottes zu tun. Viele Menschen können diesen entscheidenden Schritt nur mit seelsorgerlich-therapeutischer Hilfe vollziehen. Er geht notwendig einher mit einer passageren Idealisierung des therapeutischen Mittlers [8.8]. Der Schritt vom sadistischen zum liebevollen Überich - für Pfister zugleich der Weg von der kranken zur gesunden Religion - ist häufig auch der Schritt vom Primat des Uberich zu dem des Ichideals. Auch als gemäßigtes wäre das Überich noch zu mächtig. In seiner starren, traditionsgeleiteten Art, Liebe als Lohn für 'richtiges' und Liebesentzug als Strafe für 'falsches' Verhalten zu gewähren, bleibt es zu ichfremd. Das Ichideal ist die ichnähere Substruktur des Überich. Es wird vom Ich eher geliebt als gefürchtet, weil es seine hochfliegenden Wünsche und weitausgreifenden Ziele vertritt statt die Einschränkungen in Geboten bzw. Verboten. Das Ichideal repräsentiert den narzißtischen Weg zur Bildung des Uberichs. Als Erbe des kindlichen Narzißmus stellt es ein Vorbild dar, dem das Subjekt sich anzugleichen sucht.68 Als Ideal-Ich ist es auch der Erbe der kindlichen Größenvorstellungen und Allmachtsphantasien. Es vertritt Werte und Zielvorstellungen: So will ich einmal sein - sonst schäme ich mich. Das Überich hingegen droht: So mußt du sein bzw. so darfst du sein sonst machst du dich schuldig und wirst bestraft. Erik H. Erikson schlägt vor, Moral anzusehen als auf der Furcht vor Drohungen beruhend, Ethik dagegen als auf Idealen beruhend. Soll ein hohes

67 So, im Anschluß an ein Lutherwort über das Gesetz, Pfisters Zeitgenosse H. Giltay (1931/1977, 166). - Zum Folg. vgl. CA 87 f., PM 397, PsaW 73. 68

Vgl. Laplanche/Pontalis I, 203.

436

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

Ichideal das Ich nicht über Gebühr 'deprimieren', so muß es aufgehoben sein in einer Ordnung der Liebe, die primär nicht fordert, sondern gibt und vergibt. 69

5.

Idealismus gegen Konservativismus (Angstbildung und Angstlösung in Religion und Gesellschaft)

Pfisters Wendung gegen das strenge Überich entspricht seiner Kritik an der Institution Kirche. Er stattet das Überich selbst - also auch das Motiv der Verdrängung, nicht nur ihr Ergebnis, das Symptom - mit quasi zwangsneurotischen Zügen aus: eine vergangenheitsorientierte, kontrollierende und einengende Institution.70 Entsprechend sieht er Kirche als Institution und kirchliche Lehre einseitig unter dem Aspekt einer primitiven ÜberichInstanz: ein machtbetontes, lebens- und liebeseinschränkendes Kontrollsystem. Tendenziell verhindert die Kirche eher wirklich religiöses Leben, als daß sie es fördert. Zuvor sind Überich und Kirche auch Instanzen sittlicher und sozialer Ordnung, doch diese Ordnung liegt im wesentlichen in der Zukunft. Sie hat die Realität eines Ideals, das aus den Existenzbedingungen heraus mit als evident erlebter Notwendigkeit postuliert wird. Damit stehen wir wieder bei der Idealisierungsfunktion. Es entsprechen sich also Ichideal und ideale Kirche (das "protestantische Gemeinschaftsideal", Abschn. 3) ebenso wie Überich und reale Kirche. Über das Analogieverhältnis hinaus besteht aber zwischen der psychischen Instanz Überich und den gesellschaftlichen Institutionen eine inhaltliche Kontinuität. Denn via Überich-Bildung wird der einzelne sozialisiert, wird aus dem Triebwesen ein Kulturwesen. Nehmen wir das Überich in seiner einseitig normativen, triebeinschränkenden Funktion, so

69 70

Vgl. Kap. 12.5. Erikson 1971, 195.

Der Psychoanalytiker H. Lincke stellt 1970 die nicht blank rhetorisch gemeinte Frage "Das Überich - eine gefährliche Krankheit?", die er freilich sehr differenziert beantwortet. Sieht er in dem Versuch, den Konflikt zwischen Ich und Überich auf dem Wege der Identifizierung (mit dem Aggressor!) zu lösen, den eigentlichen Kern der christlichcn Religion (ebd. 382), so wird uns von daher die Pfistersche Variante umso deutlicher (und lieber!).

11.5. Idealismus gegen Konservativismus

437

sind es dieselben Konstellationen, die den einzelnen in die Neurose treiben und die Gesellschaft zur Errichtung von Institutionen bewegen: "Denn die Neurosen selbst enthüllten sich als Versuche, die Probleme der Wunschkompensation individuell zu lösen, welche durch die Institutionen sozial gelöst werden sollen." (Freud) 71 Unter diesem gewiß einseitigen Aspekt sind die gesellschaftlichen Institutionen nichts anderes als kollektive Überich-Instanzen. Sie lösen die aufgegebenen Probleme natürlich nicht nur durch einfache Unterdrückung der Triebwünsche ihrer Mitglieder, sondern auch durch ihre Veränderung, durch Ersatz und Entschädigung. Es ist all der mannigfaltige Trost der kulturellen "Illusionen", den Freud den seelischen Besitz der Kultur genannt hat. Ihr institutioneller Rahmen besteht freilich doch aus "zwingenden Normen, die sprachlich interpretierte Bedürfnisse nicht nur lizensieren, sondern auch umlenken, transformieren und unterdrücken" (Habermas). Zu den gesellschaftlichen Institutionen gehören bestimmte Rollenangebote, die sie dem einzelnen machen. Im Sozialisationsprozeß des Kindes, zumal bei der Überich-Bildung, ist das Rollenlernen von entscheidender Bedeutung. Es ist der Prozeß, in dem die Rolle als institutionalisierte Wertorientierung zum Motiv als internalisiertem Wert wird. Der Mechanismus des Rollenlernens ist der der Identifizierung im Sinne des von Freud erkannten typischen Ablaufs: Objektwahl und -besetzung. Introjektion (nach Verlust des Liebesobjekts), Identifikation ('Nachahmung' des Verhaltens). Es wird also die Rolle internalisiert, und das heißt die normativen Erwartungen eines anderen Subjekts. (Wir können Rolle als Bündel von Verhaltenserwartungen definieren.) 72

Das Überich entsteht durch Identifikationen. Wie wir jetzt wissen, handelt es sich nicht einfach um die identifizierende Nachahmung der Eltern und anderer Sozialisationsagenten. Vielmehr besteht die Pointe des Vorgangs gerade darin, daß das Kind nicht das faktische Verhalten der Eltern internalisiert, sondern die Normen und Werte der Elterninstanz. Das Rollenlernen des Kindes vollzieht sich also als ein Lernen von integrierten Verhaltensmustern und Verhaltenserwartungen der Vorbildpersonen, mithin

71 GW VIII 416, vgl. IX 91 f. Die folg. Zitate XIV 331; Habermas 1968, 338. Letzterer hat schon früh (ebd. 335 ff.) auf den Zusammenhang von Neurose und Institution in der Sicht Freuds hingewiesen - zum Zwecke der kritischen Weiterführung des soziologischen Ansatzes von Marx. 72

Vgl. Habermas 1973, 122, 126. - Zum Konzept des Identifikationsiemens - im Gegensatz zum Lernen durch Konditionierung sprechen die Psychologen hier von Modellernen, populär: sozialem Lernen - vgl. Bandura/Walters: Social Learning and Personal Development, New York 1963.

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

438

als ein Lernen von Interpretationen von Verhaltensweisen. Diese Interpretationen nennen wir üblicherweise Normen und Werte oder kurz: Tradition. Diesen konservativen Zug des Überichs meint Freud, wenn er schreibt: "So wird das Über-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen forgepflanzt haben."73 Wenn wir das Rückwärtsgewandte, Traditionalistische dieses Vorganges bedenken, könnten wir geradezu von einer sozialen Vererbung durch das Überich sprechen. Nun gehören 'Pastor' und 'Kirche' sicherlich zu den kollektiven Überich-Instanzen. Fällt von daher nicht ein Licht auf so manche anachronistische Rollenerwartung gegenüber dem Pastor, auf so manche starre Einstellung zur Institution Kirche, die von der gesellschaftlichen Entwicklung schon lange überholt scheint? Ein Licht fällt jedenfalls auf die Frage, warum Pfister das Ichideal so favorisiert. Gegenüber dem rückwärts orientierten Wiederholungszwang des Überichs vertritt das Ichideal für ihn die vorwärts strebenden seelischen Kräfte, die Neues möglich erscheinen lassen. Im Zusammenhang einer Diskussion über Identifikation, Idealisierung und Ichideal stellt Pfister Freuds "konservativer" Tendenz seine eigene "progressivistische" gegenüber: Das Kind will sich den Eltern nicht nur angleichen, sondern sie überbieten. Der Knabe introjiziert sich den idealisierten Vater; dadurch erhält aber das Geistesleben einen anderen, dynamischeren Aspekt.74 Von daher wendet Pfister sich gegen eine konservative Entwertung des Ichideals als "Nachäffung" der Eltern. Seine positive Rolle im psychischen Gesamthaushalt darf nicht unterschätzt und unterbewertet werden. Auch im gesellschaftlichen Zusammenhang spielen die Ideale eine wichtige, progressive Rolle. Pfisters Ansätze zur Sozial- und Kulturethik haben immer einen idealistischen Zug behalten. Große Ideale, gesamtgesellschaftliche Perspektiven, vermittelt mit realistischer Einsicht in die gegenwärtigen

73

GW XV 73. In der Unterschätzung dieses Faktors sündigen die sog. materialistischen Geschichtsauffassungen, wie Freud richtig sieht (ebd., vgl. XVII 69, 137 f.). 74 Br. 142, 147, das folg. Zitat 148. - Vgl. auch AS 23, PM 260 f.; Ricoeur 1969, 530. Zum ganzen Problem Kap. 13.2.

11.5. Idealismus gegen Konservativismus

439

Konflikte, können die kollektive Angst und Ohnmacht wirksam und nichtrepressiv bekämpfen. Eine Gesellschaft in Angst wird immer in Passivität und Abhängigkeit verharren, was regelmäßig die jeweils bestehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen stabilisiert. Angst nützt also den "Strukturkonservativen" und ihrer vom Machtinteresse bestimmten Interpretation der gesellschaftlichen Normen und Werte. 75 Die Angst freilich, die angesichts tiefer gesellschaftlicher Krisen und drohender weltweiter Katastrophen entsteht - heute sind die Stichworte Umwelt, Nord-Süd, Atom -, ist ja weitgehend real und rational. Diese Angst kollektiv-neurotisch zu verdrängen, dazu dürfen die großen Ideale und Perspektiven nicht mißbraucht werden, gerade auch die religiösen nicht. Vielmehr sollen sie hier der kollektiven Angst dazu verhelfen, zum Ausdruck zu kommen und als angemessene Signalangst zu verändernden Aktionen zu treiben, die die Angstursachen bekämpfen. Ob heilsame gesellschaftliche Veränderungen, ob kreativ-konstruktive Arbeit an der jeweiligen Umwelt des Individuums ohne große, ja utopische Perspektiven überhaupt möglich sind, muß bezweifelt werden. Christliche Religion und Kirche sind besonders hier nach ihrem Beitrag gefragt. Pfisters Idealismus will begeistern und mitreißen. So ist auch in manchen Passagen seines großen Buches über die Angst eher der begeisterte Prediger und leidenschaftliche Anwalt der christlichen Liebe zu spüren als der nüchterne Wissenschaftler. Das hat er selbst gesehen und angemessen bedauert, zuletzt in gelassener Selbsterkenntnis akzeptiert. Im ersten, psychologischen Teil von "Das Christentum und die Angst" (1944) entfaltet Pfister die Theorie der Angst. Im zweiten, historischen Teil, dem Kernstück des Buches, schildert er Angstlösung und Angstbildung in der israelitisch-christlichen Religionsgeschichte als eine ständige Wellenbewegung. Einem - wenn auch nie völlig ungemischten Durchbruch angstlösender Motive (Jesus, die Reformation, die Aufklärung) folgt jedesmal die finstere Reaktion. So sind es, nach einem Aufsatztitel von 1946, überwiegend "Passions-, Krankheits- und Irrwege", die das Schicksal der christlichen Liebe ausmachen. Und doch gleicht Pfisters Geschichtsbild eher einer Spirale als einem Kreisprozeß [3.3]. Es bleibt etwas Vorwärtsdrängendes darin, eine Bewegung auf das Reich Gottes hin. Der dritte, "religionshygienische" Teil ist der grundsätzlichen Lösung des Angstproblems durch das Christentum gewidmet. Der zweite, historische, und der dritte, systematische Teil verhalten sich zueinander wie Wirklichkeit und Möglichkeit. Des Doppelsinns von Religionshygiene ist sich Pfister durchaus bewußt: daß Religion

75 In Anlehnung an Erhard Epplers Unterscheidung von Struktur- und Wertkonservativen (1975, 28 ff.).

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

440

Angsthygiene ist und daß sie selbst der Hygiene bedarf, z.B. durch psychoanalytische Aufklärung. 76 1945 läßt der Berner (Existenz-)Theologe Fritz Buri eine Gegenschrift zu Pfister unter dem Titel "Die religiöse Überwindung der Angst" erscheinen und schickt sich auch C.G. Jung zu. In dessen zustimmendem Dankesbrief tritt eine radikale Gegenposition hervor, die Pfisters Auffassung via negationis noch einmal hell beleuchtet: Angst ist notwendig und immer sinnvoll. Nimmt man den Hysterikern die Angst, so betrügt man sie um ihren einzigen Lebenssinn, der eben in ihrer Neurose steckt. "Wer immer Angst hat, hat Grund dazu. Es gibt nicht wenige Patienten, denen man Angst einjagen muß, weil sie aus Instinktverkümmerungen keine mehr haben." Die Angst wird vom Unbekannten = Gott = das Unbewußte über das Individuum verhängt. Dogmen und Riten können nicht als apotropäische Angstgebilde erklärt werden, und es ist ein Skandal, wenn ein Theologie solchen Ansichten huldigt. Vielmehr ist die Ableitung der Angst aus Verdrängung eine "neurotische Spekulation, ein Apotropäismus, erfunden zugunsten aller Drückeberger ... Es grenzt ja direkt an Atheismus, die religiöse Funktion auf irgend etwas anderes als auf sie selbst reduzieren zu wollen." 71 Die Beschwörung der Angst als Naturereignis, die insgeheime Ontologisierung biologisch-gesellschaftlich verschränkter Sachverhalte verdinglicht das Leiden des Individuums und konserviert dessen gesellschaftliche Determinanten. Von einem solchen Denken trennt Pfister ein tiefer und breiter Graben. Für ihn erscheint Menschlichkeit primär nicht in der Angst, sondern in der Liebe.

Die Religion, auch die christliche, konnte ihre primäre Aufgabe, die Bekämpfung der Angst, nicht ausreichend erfüllen, darum verfiel sie selbst einem Neurotisierungsprozeß. Darin sieht Pfister die ungeheure Tragik der christlichen Religionsgeschichte.78 Und darum bleibt die Religion immer ambivalent, muß immer wieder neu zwischen eher krankmachender und eher heilsamer Religion unterschieden werden. Können von daher die gesellschaftlichen Institutionen, zumal die religiösen, überhaupt etwas zur Bekämpfung der Angst und zur Förderung der Liebe beitragen, wo sie doch selbst zwangsneurotische, angstverstärkende Züge aufweisen?

76

CA 467 f.

77

C.G. Jung 1972, 492-494. - Freud (XIV 170, 200, vgl. XIII 286) unterscheidet drei Arten der Angst: die Angst des Ich vor dem Überich (Gewissensangst), vor dem Es (neurotische oder Triebangst) und vor drohenden Gefahren in der Außenwelt (Realangst). Die Gewissensangst, wenn auch naturgemäß in enger Koppelung mit der Triebangst, ist Pfisters zentrales Thema. Die Herkunft dieser beiden Angstformen aus der dritten, gemäß der Bewegung der psychoanalytischen Theorie von außen nach innen [12.1], beleuchtet schlagartig Freuds anstößiges Diktum, das Gewissen sei in seinem Ursprünge soziale Angst und nichts anderes (X 330, vgl. XIII 287 f., XIV 158 f. u.ö.). Gemeint ist natürlich die Kastrationsangst im ödipalen Konflikt. 78 CA 468. "Die Neurotisierung des Christentums als Ursache seiner Fehlentwicklung", so resümiert Pfister 1948 sein Hauptwerk. (Bibl. Nr. 251).

11.5. Idealismus gegen Konservativismus

441

Schauen wir dazu noch einmal auf den zwangsneurotischen Umgang mit dem Problem der Triebwünsche, denn hier hatte Pfister ja seinen exemplarischen Gegner gefunden. Die Zwänge des Zwangsneurotikers sind ja nichts anderes als der verzweifelte Versuch seines Ichs, der andrängenden Triebimpulse aus dem Es irgendwie Herr zu werden. Unter dem Verdikt seines primitiven, lustfeindlichen Überich kann er sich mit Hilfe seiner Zwänge ein zwar erheblich eingeschränktes, aber doch äußerlich relativ intaktes Ich erhalten. In dieser nur leidlich angenehmen Situation kommen ihm die gesellschaftlichen Institutionen sehr entgegen, weil sie ihn erheblich entlasten. Sie übernehmen ein Stück weit die Funktion seines individuellen Überich, nur eben weniger neurotisierend. Denn die Dynamik seines Es-ÜberichKonfliktes wird zum Teil nach außen verlagert, sei es, daß die gesellschaftlichen Institutionen seine aggressive Norm-Instanz traditionell legitimieren (der Mechanismus der moral majority), sei es, daß sie bestimmte Zwangssymptome als gesellschaftlich angepaßt erscheinen lassen (z.B. werden Reinigungszwänge durch die Waschmittelwerbung sekundär gerechtfertigt). Dabei wird der Triebdruck immer irgendwie kanalisiert und modifiziert. Auch ein teilweises Ausleben wird ermöglicht, nicht nur in Medienunterhaltung und Massenvergnügungen, sondern auch in bestimmten gesellschaftlichen Rollen: ein Polizist hat eben hart durchzugreifen, ein Folterer foltert nur aus Pflichtgefühl und höherer Notwendigkeit usw. So ist das Problem des Neurotikers nicht nur vergesellschaftet, das gefürchtete Chaos nicht nur gebannt, sondern er hat auch noch die Möglichkeit, seine eigenen verpönten Triebregungen mit Hilfe des Abwehrmechanismus der Projektion bei anderen zu bekämpfen, als Gläubiger z.B. bei den Mitgliedern anderer Kirchen oder Konfessionen. Ein solcher Glaubenskampf ermöglicht es ihm sogar, die abgelehnten Triebwünsche, zumal die aggressiven, teilweise zu befriedigen. Der "fremde" Gott, der bekämpft wird, ist allemal der abgelehnte Anteil des "eigenen" Gottes, wie Theodor Reik, der Zeitgenosse und Briefpartner Pfisters, sehr schön gezeigt hat.79 Wenn Freud in seiner Großmut, wie Pfister hervorhebt, die Religion als Neurosenschutz für den einzelnen rühmt, so ist das durchaus zwiespältig zu verstehen. Denn dieselbe psychologische Analyse führt ihn auch dazu, die

79

Reik 1923/1972. Mittels dieser projektiven Aufspaltung ist man auch das Ambivalenzproblem losgeworden, jedenfalls vorläufig.

442

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen und entsprechend die Zwangsneurose als eine individuelle Religiosität, "ein komisches, halb trauriges Zerrbild einer Privatreligion". Beides ist ja richtig, wenn denn die allgemeine Neurose die individuelle erspart oder wenigstens mildert. Dieser früheste Ansatz der Freudschen Religionspsychologie geht von der auffallenden Übereinstimmung zwischen gewissen zwangsneurotischen und religiösen "Zeremonien" aus. Er findet sich in Freuds kleinem Aufsatz "Zwangshandlungen und Religionsübungen" von 1907.80 Pfister stößt 1908 zur psychoanalytischen Bewegung, und es ist dieser Ansatz Freudscher Religionskritik, den er am gründlichsten und am wenigsten ambivalent aufnimmt. "Die Zwangsneurose ist Privatmagie, die Magie des Primitiven kollektive Zwangsneurose", so gibt er die These Freuds fast wörtlich wieder. Freilich ersetzt er Religion durch Magie, weil er den Begriff Religion ausschließlich reiferen Formen der Frömmigkeit vorbehalten will.81 Zwangsneurotisch bestimmte Frömmigkeit verdient strenggenommen nicht einmal den Namen Religion. Damit geraten aber auch alle notwendig zwanghaften Formen institutionalisierter Religion, etwa der Ritus, in den Verdacht, primitiv, unreif und tendenziell neurotisierend zu sein. Immerhin hält Pfister an dem Ziel fest, daß nicht die Neurose Religion behandelt werden soll, sondern nur die neurotische Religion, zum Nutzen der gesunden. Nun war die Religion ja Pfisters Hauptberuf. In Bezug auf die Institutionalisierungen in seinem beruflichen Leben hat er für sich eine gute Balance gefunden [4.5 u. 6], Mit Ämtern, Rollen und Normen konnte er flexibel umgehen. In Institutionen und nach Ämtern

80

GW VII 129 ff., hier 132, 139. - Zur Religion als Neurosenschutz vgl. Pfister: Illusion 137, PM 561; Freud: GW VIII 195, XIV 443 f. Daß die Religion als universales und immer kollektives Phänomen nicht so einfach klinifiziert werden kann, hat Pfister schon früh herausgestellt (z.B. Mission u. Psa. [1921], 267, RWPsa [1927], 25). Ausgehend von der universellen Konflikthaftigkeit und Symbolbedürftigkeit des Menschen, kann man den Ersparniseffekt durch Religion (individueller Neurosenschutz) heute viel positiver sehen als zu Freuds Zeiten: "Das religiöse Symbol als soziales Produkt muß den exkommunizierten individuellen Sinn vertreten können. Es erspart dem Individuum die eigene Inszenierung des abgewehrten Konfliktes in der aktuellen Situation, indem es ihm eine standardisierte, auch von anderen geteilte Szene fertig zur Verfügung stellt" (Müller-Pozzi 1975, 160). 81 Mission u. Psa. (1921), 267. Eine zweite bezeichnende Veränderung gegenüber Freud: Pfister spricht vom "Primitiven" anstatt vom Gläubigen. Die Wortwahl ist allerdings auch im Zusammenhang des Aufsatzthemas Mission zu sehen.

11.5. Idealismus gegen Konservativismus

443

hat er sich nicht gedrängt, aber er hat doch Verantwortung übernommen, wenn es notwendig war, bevorzugt freilich in Organisationen, die sich die größere Freiheit des einzelnen zum Ziel gesetzt hatten. Als ein sehr rühriges Mitglied im Züricher Verein der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse ist uns Pfister schon begegnet [4.3]. Er engagierte sich stark in der AntiAlkohol-Bewegung 82 und noch mehr, ein halbes Jahrhundert lang, in der Arbeit des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins. Dieser Verein, später OstasienMission genannt, war die einzige liberale Missionsgesellschaft in der Geschichte des Christentums. 83 Hier war Pfister jahrzehntelang, bis 1946, in Leitungspositionen tätig, eine Zeitlang auch als Präsident des Gesamtvereins. In diesen und in vielen anderen Funktionen wollte Pfister auf der sachlichen wie auf der menschlichen Ebene immer versöhnen statt spalten, zusammenführen statt trennen und abgrenzen [3.4], Dazu mußte das Eigeninteresse der jeweiligen Institution zurücktreten. Für dieses Ziel konnte er dann auch hart kämpfen und sogar seinerseits schmerzliche Trennungen durchführen: Die Schweizerische Vereinsleitung der Ostasienmission vollzog "in Tagen des Unglücks" (1933/1945) einen schroffen Bruch mit ihrer deutschen Schwesternsektion. Daraufhin zog Pfister sich von der Missionsarbeit völlig zurück, um sich dafür noch enger der Mission seines Freundes Albert Schweitzer anzuschließen, wie er schreibt. Gerade in dieser Zeit hat er auch gegen den finsteren, rigiden Asketen Calvin bzw. gegen seine Verteidiger gekämpft und für den menschenfreundlicheren Zwingli. 84

Gekämpft und missioniert hat Pfister vor allem anderen für Jesus von Nazareth und für Sigmund Freud. In seinem Leben und Denken ist ihm die erstaunliche Synthese gelungen, sich sowohl als Missionar der christlichen Liebe zu verstehen wie als getreuer Paladin Freuds. Erst im Bezug auf die beiden Urbilder Jesus und Freud war ihm Gemeinschaft auch als nichteinschränkende erschlossen. Solche Gemeinschaft kann man nicht einfach voraussetzen, sie ist nicht einfach da wie die Institutionen, sondern sie stellt

82 Vgl. Bibl. Nr. 23, 70. Wie nicht anders zu erwarten, war Pfister als Antialkoholiker nicht rigide. Zumal im Alter nahm er sich die Freiheit zu einem Glas Wein in geselliger Runde (Kienast 1973,480). Dies bestätigt uns noch einmal die flexible Überich-Formation der Pfisterschen Persönlichkeit, d.h. er verhielt sich relativ autonom und wandte gut verinnerlichte Normen reflexiv an. Nach Habermas (1973, 128 f.) ist dies eins der drei kategorialen Elemente von Ich-Identität bzw. Ich-Stärke. 83 Zum Verständnis dieser Missionsarbeit unter den hochkultivierten Völkern Ostasiens s. Bibl. Nr. 131, 187, 191. Der § 2 der Vereinsstatuten macht deutlich, wie quer zur theologischen Hauptströmung in den 20er Jahren dieser Missionsimpuls stand: "Der Zweck unserer Mission ist, christliche Religion und [!] Geisteskultur unter den nicht-christlichen Völkern auszubreiten in Anknüpfung [!] an die bei diesen schon vorhandenen Wahrheitselemente" (Eröffnungsrede 1934, 14). 84

LR 17. - Zu Zwingli vgl. CA 321 ff. In diesem Zusammenhang sei die Erinnerung gestattet, daß Calvins Hauptwerk "Institutio" heißt.

444

Glaubenswissenschaft und Psychoanalyse

sich jeweils her durch die wechselseitige Identifikation der Brüder und Schwestern, im Kampf um und im Anteil an großen Idealen.

Kapitel 12 Das ethische Problem in der Seelsorge

1.

Wider eine abstrakt-formale Ethik "Eine schöne Tat ist diejenige, die den Forderungen des Sittengebotes in hohem Maße entspricht und deswegen im Beobachter Befriedigungsgefühle hervorruft. Synonym mit 'sittlich schön' ist daher der Ausdruck 'gut'". 1

So eröffnet Pfister in "Wahrheit und Schönheit in der Psychoanalyse" das Kapitel über die ethischen Werte. Entsprechend bezieht er das Prädikat 'häßlich' auf ästhetisches wie auf ethisches Empfinden, es bedeutet also auch 'böse'. (Wir erinnern uns an die "häßlichen", aggressiven Träume Frau A.s in der Anfangsphase der Beratung.) Im Hintergrund steht wohl das klassischgriechische Ideal des KaÄ.Ö